Andrea Óhidy Lebenslanges Lernen und die europäische Bildungspolitik
Andrea Óhidy
Lebenslanges Lernen und die europä...
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Andrea Óhidy Lebenslanges Lernen und die europäische Bildungspolitik
Andrea Óhidy
Lebenslanges Lernen und die europäische Bildungspolitik Adaptation des Lifelong LearningKonzepts der Europäischen Union in Deutschland und Ungarn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Kerstin Wedekämper Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16974-3
Inhaltsverzeichnis
Vorwort (Prof. Dr. Ursula Sauer-Schiffer) ....................................................
9
1. Einleitung ..............................................................................................
11
1.1. „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union, Deutschland und Ungarn ................................................................ 11 1.2. Definitionen und terminologische Varianten ................................. 17 1.3. „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept ............... 20 1.4. Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung .......................... 33 1.5. Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit ............................ 38
2. Anlage und Methoden der Untersuchung ..........................................
41
2.1. Forschungsdesign ........................................................................... 2.1.1. Räumliche Eingrenzung der Untersuchung und Auswahl der Länder ............................................................ 2.1.2. Zeitraum und Bereich der Untersuchung ............................ 2.1.3. Thematisierung der Darstellungsperspektive ...................... 2.2. Angewandte Methoden .................................................................. 2.2.1. Verfahren zur Datenerhebung .............................................. 2.2.2. Methoden der Auswertung ................................................... 2.2.2.1. Das hermeneutisch-analytische Verfahren der Dokumentenauswertung ....................................... 2.2.2.2. Der internationale Vergleich .................................. 2.2.2.3. Komponenten des Tertium Comparationis ............
41 41 46 48 50 50 52 52 55 59
6
Inhaltsverzeichnis
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union und die Rahmenbedingungen seiner Adaptation in Deutschland und Ungarn ........................................................................................... 3.1. „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union ....................... 3.1.1. Die Europäische Union als bildungspolitischer Akteur ...... 3.1.1.1. Bildungspolitische Handlungsstrategien der EU .................................................................... 3.1.1.2. Beteiligte Organe und Institutionen ....................... 3.1.2. Das Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens 1996 .... 3.1.2.1. Das Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert ................................ 3.1.2.2. Das Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft .......................... 3.1.3. Die Lissabon-Strategie und die Offene Koordinierungsmethode 2000 .................................. 3.1.3.1. Das Memorandum über Lebenslanges Lernen ...... 3.1.3.2. Die Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen ............................. 3.1.3.3. Qualitätsindikatoren für Lebenslanges Lernen ..... 3.1.3.4. Analyse und Bewertung der Lissabon-Strategie im Fortschrittsbericht der Wim KokExpertenkommission ............................................ 3.1.4. Ausblick: Ein Neubeginn für die Lissabon-Strategie 2005 ...................................................... 3.1.4.1. Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen ............................................. 3.1.4.2. Weitere Maßnahmen zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele ................................................ 3.1.5. Zusammenfassung .............................................................. 3.2. Bildungspolitische Rahmenbedingungen der Adaptation des Konzepts in Deutschland und in Ungarn ......................................... 3.2.1. Deutschland und Ungarn in Europa .................................... 3.2.1.1. Deutschland und Ungarn im zweigeteilten Europa .............................................. 3.2.1.2. Deutschland, Ungarn und die Europäische Union ...........................................
63 63 64 67 69 72
76 78 81 85 89 91
95 97
98 101 106 110 110 111 115
Inhaltsverzeichnis
3.2.2. Bildungswesen der ausgewählten Länder ........................... 3.2.2.1. Das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland ........................................................... 3.2.2.2. Das Bildungssystem der Republik Ungarn ........... 3.2.3. Zusammenfassung und Vergleich ........................................
7 117 117 124 133
4. Lebenslanges Lernen in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996–2005: Analyse ausgewählter bildungspolitischer Dokumente ............................................................ 147 4.1. Auswahl- und Auswertungskriterien der Dokumente .................... 4.2. Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“ .......................................................... 4.2.1. Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik .................................................................... 4.2.2. A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája ....... 4.2.3. Zusammenfassung und Vergleich ........................................ 4.3. Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“ ................................................................... 4.3.1. Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ .... 4.3.2. HumanerĘforrás-fejlesztés Operatív Program ...................... 4.3.3. Zusammenfassung und Vergleich ....................................... 4.4. Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens ... 4.4.1. Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland ............................................. 4.4.2. A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról ....................................... 4.4.3. Zusammenfassung und Vergleich ........................................ 4.5. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik – Vergleich und Zusammenfassung .....................
147 151 151 164 182 187 188 199 217 221 221 234 251
256
8
Inhaltsverzeichnis
5. Resümee .................................................................................................. 273
6. Ausblick .................................................................................................. 285
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 295 Danksagung ................................................................................................... 311
Vorwort
Thema des vorliegenden Buches ist die Auseinandersetzung mit einem sehr aktuellen bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Themenbereich, dem Konzept des „Lebenslangen Lernens“ in der Europäischen Union. „Lebenslanges Lernen“ hat sich zur zentralen Leitidee der europäischen Bildungspolitik entwickelt. Allerdings werden mit dieser bildungspolitischen Programmatik zahlreiche verschiedene Konzeptvariationen sowie unterschiedliche Ansprüche und Inhalte verbunden, was unter anderem dazu führt, dass für die „Öffentlichkeit oft nicht erkennbar (ist), was lebenslanges Lernen bedeuten soll“ (S. 13). Die vorliegende Untersuchung von Andrea Óhidy orientiert sich an der Auffassung, dass das EU-Konzept des lebenslangen Lernens einerseits im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses und auch als jeweils nationale Rezeption der Leitidee verstanden werden müsse. Hier knüpft die Untersuchung an, wenn sie das Konzept des Lebenslangen Lernens auf der Ebene der Europäischen Union und auf der Ebene der Nationalstaaten Deutschland und Ungarn analysiert. Die Autorin geht von der plausiblen Grundthese aus, dass „die Mitgliedsstaaten in Wirklichkeit ihre (Bildungs-)Politik, Institutionen und Strukturen meistens nicht einfach den EU-Vorgaben anpassen, sondern sich bei der Adaptation des EU-Konzepts immer an den eigenen nationalen Interessen orientieren“ (S. 15, und S. 61). Indem die Autorin Deutschland, das den westeuropäischen Teil Europas repräsentiert sowie Ungarn als postsozialistisches osteuropäisches Land, wählt, liefert die Untersuchung interessante erhellende Beiträge und Innenansichten zur aktuellen Bildungspolitik in den beiden Ländern. Im dritten Kapitel werden das Konzept des „Lebenslangen Lernens“ der Europäischen Union als Grundlage des Vergleichs und die Rahmenbedingungen für die Adaptation in Deutschland und Ungarn vorgestellt. Hier referiert und analysiert Andrea Óhidy die wichtigsten Diskussionsstränge anhand der Leitdokumente. Es gelingt der Autorin, durch die Auswahl der Dokumente einen sehr guten Überblick über die EU-Bildungsstrategien zu geben. Auf der Analyseebene gelingt ihr eine kritische Einschätzung des Konzeptes. Der zweite Teil dieses Kapitels analysiert die gesellschaftspolitischen Hintergründe und die Bildungssysteme inklusive Bildungssteuerung und Finanzierung in Deutschland und Ungarn. Die Analyse weist die Autorin als fundierte Kennerin der jeweiligen Bildungssysteme aus.
10
Vorwort
Das vierte Kapitel nimmt Bezug auf ausgewählte bildungspolitische Dokumente, die für die Adaptation des Konzepts des Lebenslangen Lernens in der Bildungspolitik Deutschlands und Ungarns eine Rolle gespielt haben. Sehr gelungen ist hier die Darstellung der Auswahl- und Auswertungskriterien. Die teils akribisch anmutenden Beschreibungen zeigen die analytisch exakte Herangehensweise, die aufgrund des vorhandenen Materials notwendig erscheint. Die Analyse und Diskussion der Dokumente belegen, dass Óhidy eine gründliche und exakte Forscherin ist, die es versteht, die Dokumententexte zunächst adäquat und genau zu referieren, um sie anschließend kritisch in den Fachdiskurs einzuordnen. Diese Vorgehensweise liefert Interpretationsfolien und Diskussionsstränge, die für das Verständnis der Adaptation und den Vergleich erkenntnisleitend sind. Insgesamt werden jeweils drei Dokumente aus Deutschland und Ungarn vorgestellt und abschließend im Hinblick auf Gemeinsamkeiten (beispielsweise: das Konzept als Modernisierungsformel oder Konsens über ein neoliberales Finanzierungsmodell u.a.) und Unterschiede (Wahrnehmung der europäischen bildungspolitischen Konzepte zum lebenslangen Lernen u.a. S. 267f) verglichen. Im fünften Kapitel ordnet die Autorin die Ergebnisse – gemäß ihrem Forschungsziel – in die vergleichende erziehungswissenschaftliche Forschung als auch in die erwachsenenpädagogische Diskussion ein. Aus dem Blickwinkel der erwachsenenpädagogischen vergleichenden Forschung kann gesagt werden, dass es Óhidy gelungen ist, an wichtige Diskussionsstränge anzuknüpfen und hier die von ihr zu Beginn aufgezeigten Forschungslücken zu schließen. Insbesondere macht sie dies deutlich, wenn sie auf den Forschungsertrag für die vergleichende erwachsenenpädagogische Forschung hinweist: er könne „als Hilfestellungen für eine weitere Entwicklung der nationalen und europäischen Bildungspolitik dienen“ (S. 291). Andrea Óhidy hat eine gelungene Studie zur Adaptation der Leitidee des lebenslangen Lernens in Deutschland und Ungarn vorgelegt. Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit an der Universität Bielefeld, der Westfälischen Willhelms-Universität Münster in Deutschland, sowie an der Universität Szent István und der Pannon Universität in Ungarn ist sie mit den Bildungssystemen der untersuchten Länder bestens vertraut. Óhidy hat sich in den letzten Jahren als ausgewiesene Expertin in europäischer Bildungspolitik und erwachsenenpädagogischer Vergleichsforschung etabliert. Dieses fundierte Wissen eröffnet dem Leser neue Perspektiven. Prof. Dr. Ursula Sauer-Schiffer Universität Münster
1.
Einleitung
1.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union, Deutschland und Ungarn „Lebenslanges Lernen“ hat sich in Europa in den letzten Jahrzehnten zu der wichtigsten pädagogischen Leitidee entwickelt. Es ist außerdem zum Überbegriff der bildungspolitischen Reformbestrebungen der Europäischen Union geworden. Die Idee eines lebenslang andauernden Lernprozesses entstand als eine Antwort auf die von Philip H. Coombs 1967 konstatierte Weltbildungskrise, erwirkte auf der Folie der europäischen Entwicklung eine neue Fokussierung in der Bildungslandschaft und gilt seit dem 1996 von der Europäischen Kommission ausgerufenen „Europäischem Jahr lebensbegleitenden Lernens“ als die einzig mögliche Antwort auf eine sich immer schneller verändernde globalisierte Welt. In den 1970er-Jahren erarbeiteten u. a. der Europarat, die UNESCO und die OECD verschiedene Varianten des Konzepts. Nach der ersten Welle der Lifelong-Learning-Debatte kam es zu einer "Latenzphase" (vgl. Jarvis 2001) in der europäischen Diskussion. Erst in den 1990er-Jahren erhielt das Konzept wieder weltweit neue Impulse und erlangte eine sehr große Popularität. „Lebenslanges Lernen“ wurde zu einer pädagogischen Leitidee, nach der „Bildung umfassend und als lebenslanger Prozess gesehen werden muss, damit die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit [...] verwirklicht werden kann“ (Gerlach 2000, S. 89). Mit der Forderung nach „qualifizierter Bildung und Ausbildung für alle“ wurde die Entwicklung zu einer Wissensgesellschaft verlangt. Die Stichworte reichten dabei von ´Chancengleichheit´, über ´Qualität von Bildung´ bis zur ´Internationalität´ und ´Effektivität´. Die globale Sichtweise hat viel dazu beigetragen, dass „Lebenslanges Lernen“ zum wichtigsten pädagogischen Paradigma der heutigen Zeit geworden ist. Durch die Verknüpfung der Zukunft Europas erhielt „Lebenslanges Lernen“ zusätzliches Gewicht in der europäischen (bildungs)politischen Diskussion: Spätestens 1996 mit dem Ausrufen des „Europäischen Jahres lebensbegleitenden Lernens“ durch die Europäische Kommission etablierte sich die Leitidee in
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1. Einleitung
der europäischen bildungspolitischen Diskussion als Schlüsselbegriff.1 Die Europäische Union beschäftigt sich praktisch seit ihrer Gründung mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“: Schon im 1993 veröffentlichten Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert2 sah sie die Forderung nach lebenslangem Lernen als Schlüsselelement im Kontext der Auseinandersetzung mit Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. „Mit dem Postulat des Lebenslangen Lernens wird die Vollendung und politische Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes bildungsprogrammatisch flankiert“, stellt Künzel fest (Künzel 1996, S. 31). Der Begriff „Lebenslanges Lernen“ ist inzwischen in sämtlichen bildungspolitischen Beschlüssen und amtlichen Verlautbarungen der EU als zentrale Leitidee vorzufinden und ist ein nicht mehr weg zu denkendes Teil der europäischen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Die Verknüpfung der Zukunft Europas mit der Leitidee wird mit einem tief greifenden gesellschaftlichen Strukturwandel3 erklärt, der sich seit Ende des 20. Jahrhunderts in Europa vollzieht. In den Lifelong Learning-Dokumenten der EU wird dieser Wandel als Eintritt in eine Lern- bzw. Wissensgesellschaft beschrieben, die sich als eine Folge der Globalisierung bzw. des europäischen Integrationsprozesses4 entwickelt hat. Die Argumentation lautet folgendermaßen: Die Auswirkungen des Wandels lassen sich in sämtlichen Lebensbereichen nachvollziehen und erfordern von allen Beteiligten – Ländern, Organisationen und Individuen – eine permanente aktive Auseinandersetzung mit dessen Konsequenzen. Dadurch erlangt Lernen bzw. Bildung eine zentrale Bedeutung: „Lebenslanges Lernen“ soll sowohl den Einzelnen zur Anpassung an den strukturellen Wandel befähigen als auch zur aktiven Gestaltung von Wandlungsprozessen beitragen. Außerdem wird Wissen – neben Arbeit und Kapital – zunehmend zum Produktionsfaktor. „Lebenslanges Lernen“ ist also nicht nur für die (individuelle) gesellschaftliche Teilhabe, sondern auch für nationale wie übernationale Gemeinschaften überlebenswichtig.5 In die Diskussion über lebenslanges Lernen in der Europäischen Union fließen höchst unterschiedliche Standpunkte ein, wie zum Beispiel „die Sicht staatlich leerer Haushaltskassen, ökonomischer Unternehmensinteressen und pragmatischer Managementüberlegungen neben fortbestehenden bzw. wiederaufgenommenen emanzipatorischen Bildungsgedanken und Humanisierungsidealen“ 1
Mehr dazu s. Kapitel 3.1.2.3. Growth, Competitiveness and Employment: The Challenges and Ways Forward into the 21 st Century – White Paper. 3 Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Faulstich 2003. 4 Mehr dazu s. Kapitel 3.1.1.1. 5 Die Lern- und Anpassungsfähigkeit in der modernen Gesellschaftssteuerung wird in der sog. Governance-Forschung untersucht. Für eine ausführliche Auseinandersetzung vgl. Fejes/Nicoll 2008. 2
1.1 „Lebenslanges Lernen“ in der europäischen Union, Deutschland und Ungarn
13
(Angress 1999, S. 239). Ökonomische Fragen, vor allem das Thema Beschäftigungspolitik stehen dabei stets im Mittelpunkt, besonders seit der Verabschiedung der Lissabon-Strategie, die mit Hilfe bildungspolitischer Reformen die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu verbessern sucht. Außerdem soll die Leitidee helfen, eine europäische Identität in den Mitgliedsländern zu etablieren (vgl. Europäische Kommission 1995). „Lebenslanges Lernen“ erscheint in den EU-Dokumenten oft als Zauberformel, als Lösung nahezu für jedes Problem. Die Leitidee „Lebenslanges Lernen“ gehört also einerseits in die Kategorie der bildungspolitischen Programmatik, die – meistens sehr allgemein gehaltene und wenig greifbare – Zukunftsbilder und Visionen fabriziert. Oft genug handelt es sich dabei nur um Luftschlösser oder schöne Worte. Diese Sloganartigkeit haftet auch dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ an, das deswegen von vielen als „leere Worthülse“ (Gerlach 2000, S. 10) oder als „vereinfachende Substitutionsformel“ (Knoll 1997, S. 27) bezeichnet wird. „Vieles, was zum „Lebenslangen Lernen“ diskutiert, konzipiert und realisiert wird, entzieht sich dem Status entwickelter, empirisch fundierter Theorie“, stellt Peter Faulstich fest (Faulstich 2003, S. 10). Diese `Sloganartigkeit` des Begriffs „Lebenslanges Lernen“ ermöglicht, dass viele verschiedene – teilweise auch sich widersprechende – Inhalte mit dem Konzept verbunden werden können: Arbeitgeberverbände berufen sich genauso darauf, wenn sie die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit fordern, wie Gewerkschaften, wenn sie für soziale Gerechtigkeit aufrufen. Sogar in der Fachdiskussion werden damit unterschiedliche Standpunkte verbunden, wie z.B. die Argumentationen von Günther Dohmen und Ekkehard Nuissl in Bezug auf die Rolle der Bildungsinstitutionen zeigt.6 Dementsprechend ist für die breite Öffentlichkeit oft nicht erkennbar, was „Lebenslanges Lernen“ bedeuten soll. Schon deshalb nicht, weil die Tatsache, dass der Mensch lebenslang lernt, schon längst ein – in zahlreichen Sprichworten wie „Man lernt nie aus“ oder „Jó pap holtig tanul“7 verewigter – Gemeinplatz ist. Andererseits handelt es sich bei „Lebenslangem Lernen“ um konkrete (und empirisch auswertbare) bildungspolitische Konzepte, die heutzutage als Variationen eines Kernkonzepts gelten (vgl. Kraus 2001). Schon die Menge der Variationen des Konzepts zeigt, dass „Lebenslanges Lernen“ eine beachtliche „Karriere“ (ebd.) hinter sich – Dieter Nittel und Ingrid Schöll sprechen diesbezüglich von einem „Siegeszug lebenslangen Lernens“ (Nittel/Schöll 2003, S. 3) – und wahrscheinlich auch vor sich hat. 6 7
Vgl. Nuissl 1997. Ungarisches Sprichwort: „Ein guter Priester lernt lebenslang“.
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1. Einleitung
Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht das Lifelong Learning-Konzept der Europäischen Union. Das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ wird dabei einerseits im Rahmen des europäischen Integrationsprozesses, andererseits auch als ein Teil dessen betrachtet, indem hier `Europäisierung`8 als Veränderungsprozess der Logik nationalen (bildungs)politischen Handelns verstanden wird (vgl. Featherstone/Radaelli 2003).9 Bernd Dewe und Peter J. Weber bezeichnen „Lebenslanges Lernen“ als ein international-europäisches Konzept, dessen programmatische Wurzeln vor allem auf der supra- und transnationalen Ebene liegen, wobei durch die nationale Rezeption wiederum unterschiedliche nationalkulturelle Verständnisse des Konzepts entstehen (Dewe/Weber 2007, S. 95). Die vorliegende Untersuchung erforscht das Konzept genau auf diesen zwei Ebenen: auf der Ebene der Europäischen Union und auf der Ebene der ausgewählten Nationalstaaten Deutschland und Ungarn. Im Rahmen der Lissabon-Strategie10 versucht die Europäische Union, ihre Mitgliedsstaaten zur Umsetzung ihres Lifelong-Learning-Konzepts zu bewegen (vgl. Europäische Kommission 2000). Das angestrebte Ziel ist, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.11 Die Kommission hat die Relevanz des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ dabei folgendermaßen beschrieben: „Umfassende Strategien des lebenslangen Lernens zu entwickeln und sinnvollere Investitionen in Humanressourcen sind erforderlich, wenn man mit raschem Wandel und Innovationen Schritt halten will. Dieser Tatsache kommt für die Wettbewerbsfähigkeit von Firmen und die langfristige Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmern immer größere Bedeutung zu. Durch eine Erstausbildung von hoher Qualität, umfassende Schlüsselkompetenzen und kontinuierliche Investitionen in Qualifikationsmaßnahmen werden die Möglichkeiten für Unternehmen verbessert, mit dem wirtschaftlichem Wandel zurechtzukommen, und die Aussichten der Arbeitnehmer, in einer Beschäftigung zu verbleiben oder eine neue zu finden. Es besteht eine positive Korrelation zwischen einer hohen Beteiligung an Maßnahmen des lebenslangen Lernens und einer hohen Beschäftigungsquote sowie einer niedrigen (Langzeit-)Arbeitslosigkeit“ (Europäische Kommission 2007c, S. 12f.).
Obwohl die Europäische Union über keine bildungspolitischen Kompetenzen verfügt und nur im Rahmen des sog. Subsidiaritätsprinzips12 agieren kann – stark eingeschränkt durch das sog. Harmonisierungsverbot, das jegliche Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten kategorisch ausschließt (vgl. Vertrag von Maastricht 1992/1998, S. 204) – übt sie durch verschiedene Aktivitäten, wie z. B. die Einführung der Lissabon-Strategie 8
Vgl. Kapitel 1.4. Mehr dazu s. Kapitel 2.2. Ausführlich s. Kapitel 3.1.3. 11 Dieses Ziel wird voraussichtlich nicht erreicht. Mehr dazu vgl. Kapitel 3.1.4. 12 Mehr dazu vgl. Kapitel 3.1. 9
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1.1 „Lebenslanges Lernen“ in der europäischen Union, Deutschland und Ungarn
15
und der Offenen Koordinierungsmethode sowie die Sozialfondsaktivitäten etc. einen immer stärkeren Einfluss auf die Bildungspolitik der Mitgliedsstaaten aus: „Es kann […] kaum bestritten werden, dass den administrativen Organen der EU eine wachsende Fülle politischer und rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten bzw. Ermessensspielräume offen steht, die es ihnen erlauben, zentralistische Vorstellungen von einem europäischen Qualifikations- und Bildungsraum zu verwirklichen – trotz Harmonisierungsverbot, Subsidiaritätsprinzip und einem verbreiteten Misstrauen gegenüber einer ´Europäisierung von oben´“ (Künzel 1996, S. 25).
Der vorliegenden Untersuchung liegt die Annahme zu Grunde, dass die Mitgliedsstaaten in der Wirklichkeit ihre (Bildungs)Politik, Institutionen und Strukturen meistens nicht einfach den EU-Vorgaben anpassen, sondern sich bei der Adaptation des EU-Konzepts immer an den eigenen nationalen Interessen orientieren. Wie die Europäische Kommission immer wieder betont: „Veränderungen können nur in den einzelnen Mitgliedsstaaten stattfinden und müssen von den Mitgliedsstaaten ausgehen“ (Europäische Kommission 2000, S. 6). Dementsprechend wird hier davon ausgegangen, dass das Konzept in Deutschland und Ungarn aus politischen, gesellschaftlichen und historischen Gründen etc. unterschiedlich umgesetzt wird. Ganz nach dem Prinzip „Unterschiedliche Systeme, gemeinsame Ziele“ (vgl. Europäische Kommission 2002c). Bei der Verwirklichung des Konzepts steht also eine Adaptation im Vordergrund, welche die nationale Bildungsorganisation und weitere Rahmenbedingungen berücksichtigt (Budai 2000, S. 114). Der Begriff Adaptation meint dabei Anpassung und Anwendung (DUDEN 2006, S. 163), aber auch Bearbeitung (vgl. DUDEN Fremdwörterbuch 1974, S. 31). Aus diesem Grunde nutze ich hier bewusst diesen Begriff, statt den Begriff Implementation13 aus den EU-Dokumenten zu übernehmen, der den Eindruck einer unveränderten Umsetzung des EU-Konzepts in den Mitgliedsstaaten erwecken könnte. Die vorliegende Arbeit untersucht die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn, und diskutiert diese vergleichend. Die Bundesrepublik Deutschland14 wurde ausgewählt, um das `alte Europa`, also den westeuropäischen Teil mit einer demokratischen und kapitalistischen Tradition nach 1945, zu repräsentieren. Ungarn soll als postsozialistisches ost-
13 Das lateinische/englische Wort Implementation bedeutet „einführen, einsetzen, einbauen“ (DUDEN 2006, S. 525) und wird allgemein im Sinne von „Umsetzung, Durchsetzung (z. B. von UN-Resolutionen)“ (Meyers 1999, Bd. 10, S. 156) genutzt. Das lateinische Wort Implement bedeutet die Erfüllung eines Vertrages (DUDEN Fremdwörterbuch 1974, S. 317). 14 Bei der Untersuchung werden Entwicklungen in der DDR aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit der ungarischen Entwicklung außer Acht gelassen.
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1. Einleitung
(mittel)europäisches Land dagegen das `neue Europa` vertreten.15 Es wird hier davon ausgegangen, dass die Adaptation am besten an der jeweiligen nationalen bildungspolitischen Diskussion ablesbar ist. Deshalb wird die deutsche und ungarische Adaptation des „Lebenslangen Lernens“ im Bereich der Bildungspolitik untersucht. Im `Alt-EU-Land` Deutschland wird das Lifelong Learning-Konzept der EU seit 1996 – dem Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens16 – verstärkt und vor allem im Zusammenhang mit der Europäisierungsdebatte diskutiert. Wie Klaus Künzel festgestellt hat: „Vieles deutet darauf hin, dass sich Europa als pädagogisches Gesprächsthema zurückgemeldet hat“ (Künzel 1996, S. 24). Diese Diskussion verläuft kontrovers: Einerseits werden die Reformbemühungen der Union freudig aufgenommen: „die berufliche Weiterbildung [hat] heutzutage ihre europäische Dimensionen ganz überwiegend den Anstößen aus Brüssel zu verdanken“ (Künzel 1996, S. 25). Andererseits wird der wachsende Einfluss der EU misstrauisch beäugt, „der deutlich Richtung Harmonisierung geht und zugleich in gewisser Weise vom Prinzip der Subsidiarität abrückt“ (Schemmann 2007, S. 130).17 Seit 2007 umfasst die Europäische Union 27 Mitglieder. Mit der Osterweiterung18 im Jahre 2004 kamen viele Länder in die Union, die – wie das hier untersuchte Land Ungarn – zwar ebenfalls europäisch sind, aber 1945 einen von den sog. `Alt-EU-Ländern` sehr abweichenden historischen Entwicklungsweg eingeschlagen haben bzw. einschlagen mussten und eine eigenständige kulturelle Identität haben. Die Perspektive dieser `Neu-EULänder` fließt oft u. a. wegen sprachlicher Barrieren nur sehr zögerlich in die hiesige wissenschaftliche Diskussion mit ein. Die vorliegende Untersuchung versucht zwischen den zwei ausgewählten Ländern eine Brücke zu schlagen und die ungarischen Debatten zu dem `wichtigsten europäischen bildungspolitischen Konzept` (vgl. Dohmen 1996, Jarvis 2001) für die deutsche Diskussion zugänglich zu machen.
15
Mehr dazu s. Kapitel 2.2.1. Vgl. Kapitel 3.1.2.3. Mehr über die Lifelong Learning-Diskussion in Deutschland vgl. Faulstich 2003. 18 Zum Thema Osterweiterung und ihre Folgen für die EU vgl. Sturm/Pehle 2006. 16 17
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1.2 Definitionen und terminologische Varianten
1.2 Definitionen und terminologische Varianten Die vorliegende vergleichende Studie beschäftigt sich mit Phänomenen der Erziehung und Bildung in mehreren Ländern. Für die Untersuchungsgegenstände existieren in den verschiedenen Sprachen verschiedene Termini, die meistens synonym, aber auch oft genug mit unterschiedlicher Akzentsetzung verwendet werden. Aufgrund der `Herkunft` des bildungspolitischen Konzepts „Lebenslanges Lernen“ sind die Originaldokumente der verfassenden internationalen Akteure auf Englisch (aber meistens auch in deutscher und in ungarischer Übersetzung) vorhanden. Die nationalen Dokumente der an der Untersuchung beteiligten Länder sind jeweils in der eigenen Landessprache zu finden. Die folgende Tabelle veranschaulicht die wichtigsten, in dieser Studie benutzten Fachbegriffe auf Englisch, Deutsch und Ungarisch. Englisch Education (public) educational system lifelong learning lifelong education lifelong education and learning
Deutsch Bildung Erziehung Erziehung und Bildung (öffentliches) Bildungssystem Bildungswesen Lebenslanges Lernen Lebensbegleitendes Lernen
Ungarisch oktatás nevelés oktatás-nevelés (köz)oktatási rendszer élethosszig tartó tanulás (egész) életen át tartó tanulás
Tabelle 1: Terminologische Varianten der wichtigsten Begriffe auf Englisch, Deutsch und Ungarisch Erziehung und Bildung „Der Begriff der Bildung ist einer der Grundbegriffe und zugleich ein Programm der deutschen Pädagogik, wenn nicht gar der Grundbegriff und das Programm“ (Reinhold/Pollack, 1999, S. 78). Trotz fehlendem allgemein anerkanntem Bildungsbegriff, und sich ständig ändernden Bildungsinhalten, ist Bildung trotzdem eine Grundlage aller pädagogischen Überlegungen. Semantisch gesehen kann das Wort sowohl den Prozess als auch das Ergebnis beschreiben. Bildung als Prozess hat die Bedeutung von Formung, „Schöpfung, Gestaltung, Verfertigung, Verfeinerung und Bildnis“ (Schaub/Zenke 1997, S. 74). Allerdings muss man dabei beachten, dass diese nicht nur Objekte dieser Formung, sondern selber (Mit)Gestalter ihres eigenen Bildungsprozesses sind. Bildung als Ergebnis, „als Resultat, ist durch die Erfahrung und vielfältige Anstrengung erworbene individuelle Prägung im Denken, Fühlen und Handeln, die das Weltund Selbstverhältnis des Menschen bestimmt“ (Reinhold/Pollack 1999, S. 78).
18
1. Einleitung
Erziehung meint „alle bewussten und gezielten (intentionalen) Handlungen und Verhaltensweisen eines relativ erfahrenen Menschen (Erzieher, Educans), die einen jeweils weniger Erfahrenen (Zögling, Educandus) zur selbstständigen Lebensführung befähigen sollen“ (Stangl 2008, S. 1). Die auf Deutsch verwendeten Begriffe Bildung und Erziehung werden im Englischen mit dem Wort education zusammengefasst: Diese erfasst sowohl die Praxis und Theorie der Erziehung als auch die vielfältigen Bedeutungen der deutschen Erziehung und Bildung. Im Ungarischen werden Bildung und Erziehung ebenfalls mit einem Begriffspaar bezeichnet, nämlich oktatás-nevelés, das im Verständnis der deutschen Aufsplittung entspricht. Das Wort oktatás (wörtlich übersetzt `Belehrung`) weist zwar semantisch auf eine traditionelle, die Fremdbestimmtheit von Lernprozessen betonende Deutung hin, wird aber – ebenfalls wie das englische education – auch im Sinne von `Bildung` (sich bilden), also die Bedeutung der Selbstbestimmtheit miteinbeziehend, benutzt. Das Wort nevelés bedeutet wortwörtlich `Erziehung`. (Öffentliches) Bildungssystem/Bildungswesen Die englische Bezeichnung (public) educational system wird im Ungarischen mit dem Begriff (köz)oktatási rendszer ausgedrückt. Aufgrund des föderalistischen Aufbaus in Deutschland spricht man auf der Ebene der Bundesländer über Bildungssysteme (und verwendet diese Bezeichnung für die Strukturbeschreibung nicht föderalistisch organisierter Länder). Der Begriff Bildungswesen wird benutzt, wenn die nationale Ebene angesprochen wird (Allemann-Ghionda 2004, S. 50).19 Lebenslanges Lernen Zum Thema lebenslanges Lernen gibt es in der erziehungswissenschaftlichen Literatur eine Vielfalt der Begriffe. Im englischen Sprachraum werden vor allem die Terminologien lifelong learning und lifelong education20 benutzt. Obwohl unter learning meistens Veränderung durch Erfahrung, und unter education ein von außen gesteuerter Lernprozess verstanden wird, werden diese beiden Begriffe meistens als Synonyme verwendet. Außerdem werden noch die Begriffe recurrent education21 und éducation permanente22 häufig genutzt, die konkrete 19
Mehr dazu vgl. Kapitel 3.2. Der Begriff lifelong education, „vorgetragen von der UNESCO (Dave 1976) zielt […] auf die Notwendigkeit, vor allem in entwicklungsorientierten Ländern eine kulturelle und nationale Identität wiederzugewinnen und materielle Not zu bewältigen“ (Nuissl 2000, S. 132). 21 Zum Beispiel benutzt das OECD-Konzept von 1973 den Begriff recurrent education, um auf die notwendige Phasenhaftigkeit des Lernens hinzuweisen. Nach Nuissl steht dieser Begriff „für eine angelsächsische Konzeption, liberal und pragmatisch, die Gleichheit und Effizienz miteinander verbinden will“ (ebd.). 20
1.2 Definitionen und terminologische Varianten
19
Lifelong Learning-Konzepte bezeichnen, nämlich des Europarats (vgl. Lengrand 1970) und der OECD (vgl. OECD 1973). Der deutschen Übersetzung entspricht am ehesten der Begriff lifelong education and learning, der wie die am meisten benutzte deutsche Bezeichnung Lebenslanges Lernen den übergeordneten Charakter des Konzepts betont. In Deutschland wird noch der Begriff lebensbegleitendes Lernen (vgl. Brödel 1998) benutzt, um das Konzept von einem negativen Beiklang – von einigen Wissenschaftlern als lebenslängliches Lernen interpretiert – zu befreien. Allerdings blieb dieser Begriff, der nach Peter Faulstich als „zu nebensächlich“ und dem Begriff „sterbebegleitend“ zu ähnlich klingt (Faulstich 2003, S. 15), bis heute „wenig eingeführt oder diskutiert“ (Nuissl 2000, S. 131). Faulstich erwähnt noch weitere Begriffe, die in der deutschen Fachdiskussion vorkamen, wie lebensumspannendes oder lebensumfassendes Lernen, die „fast totalitäre Konnotationen“ besitzen und schlägt vor, den Begriff lebensentfaltende Bildung zu benutzen, um die aktive Gestaltung und die Erweiterung von Horizont und Handlungsmöglichkeiten der Individuen zu betonen (Faulstich 2003, S. 14f.). Allerdings blieben alle Versuche, den Begriff Lebenslanges Lernen dauerhaft zu ersetzen, bisher erfolglos. Sowohl im englischen als auch im deutschen Sprachraum werden die alliterierenden Anfangsbuchstaben für die Popularität des Begriffs mitverantwortlich gemacht. Diese existieren in der ungarischen Übersetzung nicht; hier spricht man über élethosszig tartó tanulás bzw. (egész) életen át tartó tanulás. Wortwörtlich übersetzt bedeuten diese ´lebenslang andauerndes Lernen´ oder ´über das (ganze) Leben lang andauerndes Lernen´. Die ungarischen Begriffe werden weitgehend als Synonyme benutzt. In der vorliegenden Untersuchung wird der Begriff in Anlehnung an die Fachliteratur in zweifacher Form verwendet. Erstens im Sinne einer allgemeinen Leitidee eines `von der Wiege bis zur Bahre` andauernden Lernprozesses – in diesem Fall nutze ich die Schreibform lebenslanges Lernen. Zweitens verstehe ich darunter ein bildungspolitisches Konzept mit mehreren Varianten und wende dabei die Schreibform „Lebenslanges Lernen“ an.
22 „Als éducation permanente ist das Konzept dem frankophonen Aufklärungsbestreben, Wissenschaft und Kunst für die Lebenspraxis der Bevölkerung zu erschließen, verpflichtet – in dieser Richtung hat sich der Europarat (1970) artikuliert“ (ebd.).
20
1. Einleitung
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept Im folgenden Abschnitt wird das bildungspolitische Konzept „Lebenslanges Lernen“ erörtert. Die in Kapitel 1.2 aufgezeigte Vielfalt der Begriffe steht in engem Zusammenhang mit der Entstehung und Entwicklung verschiedener, von internationalen Organisationen ausgearbeiteten bildungspolitischen Konzepten, die sowohl in der bildungspolitischen Programmatik als auch in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion als Varianten eines Konzeptes angesehen werden (vgl. Kraus 2001, Harangi 2003b, Jahn 2004). Da sowohl das heutige Verständnis des lebenslangen Lernens als auch des Lifelong Learning-Konzepts der Europäischen Union durch diese Konzepte geprägt sind, werden diese im Folgenden vorgestellt und dadurch die „Karriere der Leitidee“ (vgl. Kraus 2001) bis 1996, also bis zum Beginn des Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit nachgezeichnet. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht das Lifelong Learning-Konzept der Europäischen Union, das anschließend vorgestellt wird. Zum Abschluss werden die wichtigsten Kritikpunkte am Konzept „Lebenslanges Lernen“ erörtert.23 1) „Karriere einer Leitidee“24 bis 1996 Aufgrund des – in der bildungspolitischen und wissenschaftlichen Diskussion in vielfältigen Ansätzen, Konzepten und Modellen verdeutlichten – großen Interpretations- und Definitionspotentials des Terminus „Lebenslanges Lernen“ kann die Frage nach dem Ursprung ihrer Definition in einer graduellen und eindeutigen Darstellung nicht beantwortet werden (Gerlach 2000, S. 156). Es gibt unterschiedliche zeitliche, ideologische und pädagogische Ansätze, die als Quellen des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ angesehen werden können. Die Ursprünge der heutigen Leitidee werden im europäischen Kontext vor allem in der alteuropäischen25 und in der jüdischen Tradition gesucht. Andere Erklärungsansätze verbinden die Idee des lebenslangen Lernens mit der Aufklärungspädagogik (vgl. Nuissl 2000). Das heutige Lifelong Learning-Verständnis aber „orientiert ihre Systematik und ihre Rechtfertigung hauptsächlich an Bildungsbedürfnissen, die zunächst durch den beschleunigten Wandel der Lebensbedingungen in einer modernen, von Wissenschaft, Technologie und Organisation geprägten Welt des 20. Jahrhunderts entstanden sind“ (Gerlach 2000, S. 158).
23 Dabei handelt es sich hier um eine eher deskriptive Beschreibung. Meine eigenen kritischen Reflexionen werden in Kapitel 6 zusammengefasst. 24 Das Zitat entstammt spielt auf einen Buchtitel von Katrin Kraus (vgl. Kraus 2001) an. 25 Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Gerlach 2000, Németh 2001 und Óhidy 2008.
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept
21
Die Nutzung des Begriffs in der seit 40 Jahren andauernden Lifelong LearningDiskurs suggeriert eine Kontinuität des Konzepts, die aber erhebliche Veränderungen und Brüche aufweist. Ludwig A. Pongratz beschreibt diesen Bedeutungswandel des „Lebenslangen Lernens“ durch die Formel „Lebenslang lernen dürfen, können, sollen, müssen und schließlich wollen“ (Pongratz 2006, S. 163). In der internationalen pädagogischen Fachliteratur wird der Beginn der „Karriere der Leitidee“ meistens auf 1970 datiert, als die UNESCO das Internationale Erziehungsjahr ausgerufen hat (vgl. Gerlach 2000).26 Den weltpolitischen Hintergrund der Entstehung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ gab der Systemwettbewerb zwischen dem kapitalistischen und dem sozialistischen politischen Lager, angeführt von den USA bzw. der Sowjetunion. Die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen des Konzeptes haben die technologischen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorgegeben, die sich John Desmond Bernal zufolge mit dem Begriff „wissenschaftlich-technische Revolution“ etikettieren lassen (vgl. Meyers 1999, Bd. 25, S. 109): Seit den 1950er-Jahren wurden die Arbeits- und Produktionsprozesse immer komplexer. Es zeichnete sich eine deutliche Zunahme von regulativen Arbeiten auf Kosten der Produktion ab, die durch die Erfindung von Computern und Digitalisierung zunehmend zur Selbststeuerung von Produktionsprozessen wurden. Gesetzmäßigkeiten von Steuerung, Regelung und Rückkopplung zur Informationsübertragung und -verarbeitung in Maschinen, Organismen und Informationsverarbeitungssystemen wurden im Rahmen einer neuen Disziplin, der Kybernetik wissenschaftlich erforscht. Im Bereich der Arbeit rückte dementsprechend die Organisation von Arbeitsabläufen in den Mittelpunkt des Interesses. Diese Veränderungen erzeugten einen schnellen Wandel der sozialen und ökonomischen Strukturen, die das Lernen auf Vorrat zunehmend unmöglich machten. In den 1960er-Jahren diagnostizierte Philip H. Coombs eine weltweite Bildungskrise, deren Kernproblem er in einer „Disparität zwischen den Bildungssystemen und ihrer Umwelt“ sah (Coombs 1967, S. 18). Coombs Analyse nach waren die enorm gestiegene Bildungsnachfrage, der Ressourcenmangel sowie die Trägheit der Gesellschaft und der Bildungssysteme die Hauptursachen der weltweiten Bildungskrise. Als Lösung des Problems forderte er aufgrund einer weltweiten Bildungskonferenz 27, dass sowohl das Bildungssystem als auch die Gesellschaft, aktiver werden müssen. Das Ziel von Lernen und Bildung definierte er folgendermaßen: 26 Es gibt auch abweichende Meinungen. In der ungarischen Fachliteratur wird z. B. oft die UNESCO-Weltkonferenz über Erwachsenenbildung 1960 in Montreal als Geburtsstunde des „Lebenslangen Lernens“ angesehen (vgl. u. a. Csoma 2004, Lada 2005, Németh 2006a). 27 Die Konferenz fand 1967 in Williamsburg, Virginia (USA) mit ca. 150 Teilnehmern aus 50 Ländern statt.
22
1. Einleitung
„Es kann nicht mehr in erster Linie das Ziel sein, `Bildung` im klassischen Sinne zu vermitteln, sondern man muss vielmehr auf die Vermittlung von Lernfähigkeit überhaupt abstellen, das heißt darauf, den Einzelnen in die Lage zu versetzen, sich in effizienter Weise das ganze Leben lang auf eine sich unablässig wandelnde Umwelt einzustellen“ (ebd. 128).
Coombs Problembeschreibung und Lösungsvorschläge initiierten eine weltweite Diskussion über neue Bildungskonzepte und fanden ihren Weg auch in die internationale Bildungspolitik. Als die wichtigsten internationalen Lifelong Learning-Konzepte gelten das Konzept des Europarats über permanente Erziehung aus dem Jahre 1970, die UNESCO-Konzepte von 1972 (Faure-Bericht) und 1996 (Delors-Bericht), die OECD-Konzeptionen von 1973 (Recurrent Education) und 1996 (Lifelong Learning for All), sowie die 1994 und 1995 erschienen Weißbücher der Europäischen Union (vgl. Budai 2000, Gerlach 2000, Mihály 2002, Kraus 2001, Medel-AnoĖuevo/Ohsako/Mauch 2001, Németh 2003a, Kraiciné 2004, Schemmann 2007). Tabelle 2 fasst diese zusammen: Jahreszahl 1970 1970 1972
Verfasser UNESCO Europarat UNESCO
1973 1993
OECD Europäische Kommission
1995
Europäische Kommission
1996 1996 1996
OECD UNESCO Europäische Kommission
Bildungspolitische Aktionen/Dokumente International Year of Education Permanent Education Learning to be. The world of education today and tomorrow (Faure-Bericht) Recurrent education: a strategy for life-long learning Growth, Competitiveness and Employment – The Challenges and Ways Forward into the 21st Century Teaching and Learning – Towards the learning society Lifelong Learning for All Learning: the treasure within (Delors-Bericht) European Year of Lifelong Learning
Tabelle 2: Die wichtigsten internationalen bildungspolitischen Konzepte zum Thema „Lebenslanges Lernen“ bis 1996 Das 1970 veröffentlichte Konzept des Europarats (vgl. Council of Europe/Council of Cultural Co-Operation 1970) und der so genannte Faure-Bericht der UNESCO28 aus dem Jahre 1972 gelten in der europäischen bildungspolitischen Diskussion als „Beginn einer optimistischen Phase internationaler Bildungspolitik und -reform und auch als Beginn des Diskurses über Lifelong Learning“ 28
Die United Nations Educational Scientific and Cultural Organisation wurde 1945 in London gegründet, um die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten auf den Gebieten der Erziehung und Bildung, der Kultur, der Natur- und Sozialwissenschaften, der Information und Kommunikation sowie die Durchsetzung der Menschenrechte zu fördern (vgl. Meyers 1999, Bd. 23, S. 216). Eine zentrale philosophische Grundidee der UNESCO ist, eine globale, internationale Solidaritätsgemeinschaft mit einer übernationalen, demokratischen Weltkultur herzustellen (vgl. Gerlach 2000, S. 27).
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept
23
(Knoll 1997, S. 29). Pongratz kennzeichnete diese Konzepte durch die Formel „Lebenslang lernen können“ (Pongratz 2006, S. 165), denn hier soll „der Mensch […] nicht primär einem von außen aufgezwungenem Bildungsauftrag unterworfen werden, sondern durch Lebenslanges Lernen die Chance und die Mittel zur Persönlichkeitsentwicklung und zur Aneignung der Welt erhalten“ (Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2001, S. 22). 1973 veröffentlichte die OECD29 ihr Konzept Recurrent education: a strategy for lifelong learning (vgl. OECD 1973), das eine wirtschaftspolitische Sichtweise von Bildung vertrat. Bildung wurde hier zu einem bedeutenden ökonomischen Faktor wirtschaftlicher Expansion und Entwicklung, zum „Humankapital“. Die Fixierung des Lernens auf bestimmte Lebensphasen oder auf Bildungsinstitutionen wurde dabei durch den terminologischen Wechsel von `lifelong education` zu `lifelong learning` endgültig gelöst. Das OECD-Konzept gab den Auftakt zu der nächsten Phase, die durch die Formel „Lebenslang lernen sollen“ charakterisiert werden kann: „Gleichwohl tauchte der fortschreitende Entgrenzungsprozess das Lernen in ein zwiespältiges Licht: Zwar sollte die Steigerung von Lernzumutungen subjektiv als erweiteter `Aneignungsspielraum` zu Buche schlagen, doch lugte hinter der frohen Botschaft, ein Leben lang lernen zu können, eine neue Direktive hervor: ein Leben lang lernen zu sollen“ (Pongratz 2006, S. 165).
Hans G. Schuetze betont, dass die an den Konzepten des Europarats und der UNESCO orientierten Begriffe `lifelong education` und `education permanente` sich an einem egalitären und partizipatorischen Gesellschaftsmodell orientieren, während der Begriff `lifelong learning` auf ein marktorientiertes Gesellschaftsmodell verweist, das auf gut ausgebildete, anpassungsfähige und flexibel einsetzbare Arbeitskräfte setzt, wie dies die OECD propagierte (vgl. Schuetze 2005, S. 232f.). Diese Gegenüberstellung entspricht mehr oder weniger der Kategorisierung von Cropley, der zwischen einer maximalistischen und einer minimalistischen Dimension des Konzepts unterscheidet (vgl. Cropley 1979). Nach der maximalistischen Auffassung ist Lebenslanges Lernen eine anthropologische Notwendigkeit und damit zentrale Aufgabe der (Lern-)Gesellschaft. Als typisches Beispiel dafür können die UNESCO-Konzepte sowie das spätere OECD-Konzept „Lifelong Learning for All“ erwähnt werden. Die minimalisti29 Die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC: Eng. Abk. Organization for European Economic Cooperation) wurde 1948 auf Initiative der USA und Kanadas sowie 16 europäischer Staaten gegründet. Ihre Aufgabe war der Wiederaufbau der westeuropäischen Wirtschaft im Rahmen des Marshallplans sowie die Ausweitung und Liberalisierung des westeuropäischen Handels- und Zahlungsverkehrs (vgl. Meyers 1999, Bd. 16. S. 139). Die BRD wurde 1949 Mitglied. 1960 wurde die OEEC – um eine inhaltliche und geographische Neuorientierung zu betonen – in Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD: Eng. Abk. Organization for Economic Cooperation and Development) umbenannt.
24
1. Einleitung
sche Auffassung des lebenslangen Lernens konzentriert sich auf das institutionelle Lernen vor allem in Bereichen der Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Hier stehen Betrachtung und Entwicklung konkreter Strukturen und Institutionen des Bildungssystems im Mittelpunkt, wie z. B. Koordination, Didaktik und methodische Aspekte des Lernens. Ein Beispiel dafür ist das OECD-Konzept Recurrent Education (vgl. OECD 1973). In den 1980er-Jahren kam es zu einer "Latenzphase" in der Lifelong Learning-Diskussion (vgl. Jarvis 2001)30 und das Konzept „Lebenslanges Lernen“ erhielt erst in den 1990er-Jahren weltweit neue Impulse. Nicht zuletzt dadurch, dass die neu gegründete Europäische Union ihre Zukunft damit verknüpfte. Für Europa bedeutete die Auflösung der durch den Ost-West-Konflikt gekennzeichneten zweipoligen Weltordnung die Möglichkeit, seine Zweiteilung zu beenden und ein gemeinsames „Europa-Haus“ aufzubauen. Die Öffnung des Eisernen Vorhangs und der Abbau der Berliner Mauer symbolisierten diese Veränderungen sehr plastisch. Um dem gemeinsamen Europa-Haus ein ideologisches Fundament zu bieten, verknüpfte die Europäische Union mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ die Schaffung einer europäischen Identität.31 Auch die OECD und die UNESCO überarbeiteten ihre Lifelong-LearningKonzepte in Richtung eines umfassenden bildungspolitischen Lernverständnisses. „Lebenslanges Lernen“ wurde zu einer Leitidee, nach der „Bildung umfassend und als lebenslanger Prozess gesehen werden muss, damit die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit [...] verwirklicht werden kann“ (Gerlach 2000, S. 89): „Lebenslanges Lernen ist ein umfassendes Konzept. Es bezieht formales, non-formales und informales Lernen ein, das sich zur Erreichung der weitest möglichen Entwicklung im persönlichen, gesellschaftlichen und beruflichen Leben über die gesamte Lebensspanne eines Individuums erstreckt. Es versucht, Lernen in seiner Totalität zu begreifen und bezieht das Lernen im Elternhaus, in der Schule, in der Gemeinschaft, am Arbeitsplatz [...] ein. Lebenslanges Lernen ist nicht nur Vorbereitung auf das Leben, es ist integraler Bestandteil des Lebens“ (Giere 1996, S. 152).
Diese globale Sichtweise hat viel dazu beigetragen, dass „Lebenslanges Lernen“ zum wichtigsten pädagogischen Paradigma der heutigen Zeit geworden ist (vgl. Schemmann 2002). Das Jahr 1996 war ein „Schlüsseljahr für bildungspolitische und bildungstheoretische Innovationen“ (Gerlach 2000, S. 99): In diesem Jahr erschienen zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema lebenslanges Lernen – darunter das OECD-Konzept Lifelong Learning for All sowie der so genannte Delors-Bericht der UNESCO (vgl. UNESCO 1996) – die in der internationalen 30
Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Németh 2003. Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Punkt 3) Das Lifelong Learning-Konzept der Europäischen Union dieses Abschnitts sowie Kapitel 3.1.
31
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept
25
und nationalen Diskussion auf große Resonanz stießen. 1996 wurde „Lebenslanges Lernen“ durch die Ausrufung des Europäischen Jahres des lebensbegleitenden Lernens32 auf Initiative der Europäischen Kommission endgültig zur wichtigsten pädagogischen Leitidee im europäischen Raum. Pongratz zufolge kann die Lifelong Learning-Debatte der 1990er-Jahre einerseits durch die Formel „Lebenslang lernen müssen“ und andererseits durch „Lebenslang lernen wollen“ charakterisiert werden: „Der strukturelle Zwang, ein Leben lang lernen zu müssen, wie auch der Habitus, ein Leben lang lernen zu wollen, lösen seit den 1990er Jahren zusehends den Appell ab, ein Leben lang lernen zu sollen“ (Pongratz 2006, S. 166f.). Seit Ende der 1990er-Jahre wird das Konzept “Lebenslanges Lernen” als „the new educational reality“ und als “new educational order” (vgl. Field 2000b) bezeichnet. Es fungiert als Überbegriff für die bildungspolitische Zusammenarbeit in Europa, wobei sich zwischen der Europäischen Union und anderen internationalen Organisationen ein “global policy consensus” zur Bildungsreform (vgl. Drexel 2001) herausgebildet hat. Katrin Kraus spricht diesbezüglich von einem „bildungspolitischen Kernkonzept“ des lebenslangen Lernens, das vor allem in den pädagogischen Elementen der Einzelkonzepte zu suchen ist. Dieses Kernkonzept bildet die pädagogische Leitidee „Lebenslanges Lernen“ (Kraus 2001, S. 106). Die gemeinsamen pädagogischen Elemente der bildungspolitischen Konzepte33 fasst Tabelle 3 zusammen: Elemente des bildungspolitischen Kernkonzepts Zielsetzung: bessere Zukunft für alle Schwerpunktsetzung auf den Lernprozess Veränderte Lehrerrolle Selbstorganisation als zentrales methodisches Prinzip Lernfähigkeit als zentraler Lerninhalt Vernetzung des Bildungssystems Voraussetzung: Erwerbstätigkeit
Tabelle 3: Elemente des bildungspolitischen Kernkonzepts „Lebenslanges Lernen“ Dieses gemeinsame Kernkonzept wird von den verschiedenen Organisationen mit unterschiedlichen Argumentationen begründet. Diese Unterschiede der Konzepte zum Thema lebenslanges Lernen resultieren aus der Verschiedenheit der Grundziele der verfassenden Organisationen. Diese können in zwei Kategorien eingeordnet werden: Erstens in die Kategorie der Organisationen, die eher kulturell-politische Zielsetzungen verfolgen, und zweitens in die Kategorie der Orga32 33
Mehr dazu s. Kapitel 3.3.1.3. Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Óhidy 2008.
26
1. Einleitung
nisationen mit primär wirtschaftlichen Zielsetzungen (vgl. Gerlach 2000, Kraus 2001, Dietsche/Meyer 2004). Die eher kulturell-politisch ausgerichteten Organisationen, wie zum Beispiel die UNESCO und der Europarat, bezwecken mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ eine Veränderung der Gesellschaft. Die eher ökonomisch ausgerichteten Organisationen stellen Wirtschaftswachstum, Wettbewerb und den Arbeitsmarkt in den Vordergrund, die sozialen und kulturellen Ziele werden auch in diesem Zusammenhang erörtert. Beispielorganisationen sind die OECD oder die Europäische Union. 2) Das Lifelong Learning-Konzept der Europäischen Union Unter dem „Lifelong Learning-Konzept der EU“ werden in der vorliegenden Untersuchung die in den Beschlüssen, Empfehlungen, Weißbüchern und Pressemitteilungen der Union beschriebenen Ansätze verstanden, die sich zu einem umfassenden Gesamtkonzept zusammenfassen lassen. Das wichtigste Merkmal dieses Gesamtkonzeptes ist, dass es sich nicht auf eine bildungspolitische Dimension beschränkt. Vielmehr stellt es eine Mischung aus Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Bildungspolitik dar und beinhaltet gleichzeitig eine globale und lokale Verwirklichungsdimension. Deshalb bezeichnet Balázs Németh das Lifelong Learning-Konzept der EU als „glokales Cocktail“34 (Németh 2003b, S. 37). Die EU-Dokumente definieren „Lebenslanges Lernen“ sehr weit gefasst als „alles Lernen während des gesamten Lebens, das die Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen, bürgergesellschaftlichen, sozialen bzw. beschäftigungsbezogenen Perspektive erfolgt“ (Europäische Kommission 2001, S. 17). Das Verständnis der EU ist also einerseits durch die zeitliche Ausdehnung: „es geht ums Lernen während des gesamten Lebens“ (Europäische Kommission 2000, S. 10), und andererseits durch eine räumliche Ausdehnung zu charakterisieren, nach der „Lernen in allen Lebensbereichen und -phasen stattfinden kann“ (ebd.). Es werden dabei alle Lernformen vom formalen, nichtformalen und informellen Lernen miteinbezogen. Unter formalem Lernen wird Lernen verstanden, das „in Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen statt[findet] und […] zu anerkannten Abschlüssen und Qualifikationen [führt]“ (Europäische Kommission 2000, S. 9). Als nichtformales Lernen wird die Lernform bezeichnet, die „außerhalb der Hauptsysteme der allgemeinen und beruflichen Bildung statt[findet] und […] nicht unbedingt zum Erwerb eines formalen Abschlusses [führt]“ (ebd.). Dies kann am Arbeitsplatz, oder in verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen stattfinden. Infor34
„glokális koktél“
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept
27
melles Lernen gilt als „eine natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens“ (ebd.), das im Gegensatz zu den beiden anderen Lernformen auch nicht intentional sein kann und deswegen oft nicht als Lernen wahrgenommen wird. „Lebenslanges Lernen“ wird in der Europäischen Union inzwischen als die einzig mögliche Antwort auf die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Veränderungen der Moderne angesehen (vgl. u. a. Alheit 1994, Gerlach 2000, Kraus 2001, Mihály 2002, Dietsche/Meyer 2004, Kraiciné 2004), die vor allem durch folgende sozioökonomischen Herausforderungen charakterisiert werden, die miteinander verknüpft sind: - Globalisierung und Aufstieg von Schwellenländern mit hoher Wettbewerbsfähigkeit, - Demografie, das heißt alternde Bevölkerung und Migrationsströme in Europa, - Schneller Wandel des Arbeitsmarktes sowie - die informationstechnische Revolution (vgl. u. a. Baur 2008). Die zwei wichtigsten Zielsetzungen, die mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ verbunden werden sind erstens der Aufbau einer europäischen Identität auf Grundlage des gesellschaftlich-kulturellen Erbes Europas und der Rückbesinnung auf den Demokratiebegriff des antiken Griechenlands35, zweitens die Entwicklung von Humankapital.36 Die EU-Dokumente propagieren dabei eine Harmonie zwischen diesen widersprüchlichen Zielsetzungen sowie zwischen individuellen und kollektiven Interessen: Durch die Erweiterung der Kompetenzen der Individuen sollen einerseits ihre Chancen auf ein besseres Leben (vor allem durch die Möglichkeit der Wahl, in puncto Arbeitsplatz und Arbeitsort) gewährleistet werden. Andererseits sollen dadurch sowohl die EU als auch ihre Mitgliedsländer zu besseren Lebensorten gemacht werden. Dies soll die Grundlage der europäischen Identität werden: „Ziel ist einerseits, die Menschen zu befähigen, frei zwischen Lernumgebungen, Arbeitsstellen, Regionen und Ländern zu wählen, um ihre Kenntnisse und Kompetenzen optimal einzusetzen. Andererseits soll es die Zielvorstellungen von EU und Beitrittsländer nach mehr Wohlstand, Integration, Toleranz und Demokratie verwirklichen helfen“ (Europäische Kommission 2001, S.9).
Die mit der Leitidee des „Lebenslangen Lernens“ verbundenen paradoxen Zielsetzungen tragen einerseits den wichtigsten Merkmalen der Europäischen Union Rechnung: Marktwirtschaft und Demokratie (Kipke 2005, Sturm/Pehle 2006) und verdeutlichen auch die weltpolitische Zielsetzung der Union:
35 36
Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Óhidy 2005 und 2008a. Für eine ausführliche Beschreibung vgl. Óhidy 2006a und 2008a.
28
1. Einleitung
„Gegenüber Amerika, gegenüber Japan, gegenüber dem China von morgen muss Europa über eine wirtschaftliche, demographische und politische Masse verfügen, die ihm seine Unabhängigkeit sichern kann“ (Le Goff zitiert nach Europäische Kommission 2001, S. 8).
Dazu soll die EU zur wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wissensgesellschaft der Welt gemacht werden, wie es in den Zielsetzungen des Lissabon-Prozesses37 heißt. Andererseits resultiert die Widersprüchlichkeit der Zielsetzungen aber auch daraus, dass „die Europäische Kommission in ihren programmatischen Dokumenten die Entwicklung des Konzeptes auf internationaler Ebene integrierend berücksichtigt hat“ (Dewe/Weber 2007, S. 103) und sowohl den demokratisch-humanitären Ansatz der UNESCO als auch die primär ökonomische Zielsetzung der OECD in ihr Konzept aufgenommen hat.38 Außerdem trägt sie der historischen Entwicklung der Europaidee und des europäischen Integrationsprozesses39 Rechnung: Obwohl für den europäischen Integrationsprozess schon von Anfang an das Streben nach einer Vereinigung auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene kennzeichnend war, erwies sich eine Einigung der Mitgliedsländer auf wirtschaftliche Integrationsschritte schon vom Beginn des europäischen Integrationsprozesses an als einfacher, als im gesellschafts-politisch-kulturellen Bereich (vgl. Gehler 2002). Dementsprechend ist das Grundverständnis der EU – ebenso wie der OECD – „instrumentell und utilitaristisch insofern, als davon ausgegangen wird, dass sich mit Bildung Probleme der Beschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit oder des sozialen Zusammenhalts lösen lassen“ (Schemmann 2007, S. 131). Lebenslanges Lernen wird also „im Rahmen der Europäischen Beschäftigungsstrategie definiert als jede zielgerichtete Lerntätigkeit, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dient“ (Europäische Kommission 2000, S. 3). Diese Auffassung bedeutet eine deutlich andere Akzentuierung des Bildungsgedankens als in den 1990er-Jahren: die Zielsetzungen der Union wurden im Kontext einer umfangreichen Beschäftigungs- und Sozialpolitik verschoben, weg vom früheren, auf die europäische Integration abzielenden Grundverständnis (vgl. Linsenmann 2001, Brenk 2006). Bildung erhält in der Zielsetzung der Europäischen Union „einen veränderten Stellenwert, soll sie doch mithelfen, für den ökonomischen Prozess Ressourcen zu erschließen, in deren Folge eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse jedes Einzelnen erreicht werden könnte“ (Brenk 2006, S. 24). Das Ziel ist dabei nicht mehr Bildung, sondern die ökonomisch fundierte Zuteilung von Wissen. Bildungsprozesse werden also ausschließlich als Eigentumsoperationen mit Wissen und als Ware angesehen (Egger 2006, S. 45). 37
Vgl. Kapitel 3.1.3. Vgl. Punkt 2) dieses Abschnitts. 39 Vgl. Kapitel 3.1. 38
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept
29
Dieses veränderte Verständnis des „Lebenslangen Lernens“ trägt u. a. den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Europa Rechnung. Als der Lissabon-Prozess ins Leben gerufen wurde, erlebte die Europäische Union einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die meisten nationalen Regierungen waren sozialdemokratisch – deswegen wurde Bildung nicht nur als Wirtschaftsfaktor angesehen. Die Anfangsphase der Verwirklichung des Konzeptes nach der Jahrtausendwende ist aber schon durch stagnierendes Wirtschaftswachstum gekennzeichnet. Deswegen zeigt sich in der erweiterten Europäischen Union eine allgemeine Tendenz in Richtung neoliberale Umstrukturierung, u.a. von Bildungssystemen.40 Die aktuelle Wirtschaftskrise konterkariert diese Tendenz. Dieser Kurswechsel wird sowohl in der bildungspolitischen als auch in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion stark kritisiert: Die Zeitschrift Le monde diplomatique warf der Europäischen Union unter dem Titel „Aktiengesellschaft Europa – Neoliberale Zwangsjacke für Europa“ vor, dass sie als „Büttel des IWF“ die neoliberale Globalisierung getreulich widerspiegele, den Imperativen der Hochfinanz und der großen Unternehmen folge und sich nicht um den Willen der Bürger oder der Parlamente kümmere. 41 Die negativen Auswirkungen auf das Bildungssystem fasst Egger prägnant zusammen: „Auch wenn die Resultate im einzelnen unterschiedlich ausfallen – drei Effekte hat die weltweite neoliberalistische Umstrukturierung der Bildung in jedem Fall […]. Überall, wo sie stattfindet, sinken die Staatsausgaben für den Bildungssektor, verschärft sich die soziale Ungleichheit im Zugang zum Wissen noch einmal drastisch, und stellen Mittelschicht-Eltern fest, dass es ihnen gefällt, wenn ihre Söhne und Töchter sozial segregiert die Schulbank drücken müssen“ (Egger 2006, S. 44).
3) Kritik am Konzept „Lebenslanges Lernen“ Die extreme Popularität des „Lebenslangen Lernens“ in der internationalen und nationalen bildungspolitischen Programmatik lässt nicht nur den Eindruck entstehen, dass über die angekündigten Reformen auf allen Ebenen ein Konsens herrscht,42 sondern es verleiht ihnen auch eine gewisse Evidenz: „Die Eigendynamik, die den Reforminstrumenten (testing, ranking, controlling) innewohnt, erweckt den Eindruck, als handle es sich um geradezu naturwüchsige Prozesse“ 40 Diese hat drei Hauptmerkmale, nämlich Privatisierung (Verschiebung im Verhältnis vom Staat und Markt bezüglich der Regulation zugunsten des Marktes), Liberalisierung (Schaffung freierer Märkte für Produkte und Dienstleistungen und mehr Wettbewerb) sowie Reregulierung (Reformulierung bestehender und die Schaffung neuer Regeln zur Flankierung des Übergangs vom Monopol zum Wettbewerb). Letztere wird in der Fachliteratur oft „Deregulierung“ genannt, im Sinne von quantitativen Abbau regulativer Schranken und Hürden meistens handelt es sich aber um Reregulierung (vgl. Tenbrücken 2006). Mehr zum Thema vgl. Lassnigg/Burzlaff/Rodriguez/ Larssen 2007. 41 Ausgabe 16. 6. 2000. www.sinn-haft.at/rhizon/story_room/ag_europa.html [Stand 1. 4. 2005]. 42 Mehr zum Thema Konsens und fehlender Konsens bezüglich der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernens“ im EU-Kontext vgl. Kapitel 3.1.
30
1. Einleitung
(Pongratz 2006, S. 169). Diese Entwicklung wird vor allem in der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur stark kritisiert. Die Kritik an dem Konzept ist ebenso vielfältig wie die damit verbundenen bildungspolitischen Zielsetzungen. Im Folgenden werden einige dieser Kritikpunkte, vor allem aus der deutschen Fachliteratur wiedergegeben – allerdings ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die, auf der internationalen Ebene meistbeachtete Kritik zum Thema lebenslanges Lernen lieferten Ivan Illich´s Entschulungstheorie (vgl. Illich 1972) und das sog Cuernavaca-Manifest43 in den 1970er-Jahren. Sie sprachen vom „lebenslänglichen Lernen“, um den Zwangscharakter des Konzeptes zu betonen und wandten sich entschieden „gegen eine Entwicklung, die lebenslanges Lernen zum Zwang macht, erzwungen durch Gesetze oder durch sozialen Druck“ (vgl. Dauber/Verne 1976, S. 15).44 Die Aktualität dieser Kritik wird in der deutschen Diskussion bis heute häufig betont (vgl. u.a. Fischer/Bormann 2000, Alheit 2007 & 2009). Auch die ungarische Wissenschaftlerin Éva Széchy warf dem Konzept „Lebenslanges Lernen“45 vor, dass es „hinter dem, mit den abstrakten Slogans wie ´humanitär und demokratisch´ operierenden bürgerlichen Konzeption der permanenten Erziehung“ den grundlegenden Motivationsfaktor, nämlich „das primäre Interesse der Ökonomismus des modernen Kapitalismus“46 verbirgt (Széchy 1978, ebd. S. 199). Als die Autorin dies schrieb, lebte sie im sozialistischen Ungarn, in dem die Kritik an westlichen Konzepten beinahe obligatorisch war. Umso erstaunlicher ist, dass die aktuelle Diskussion über „Lebenslanges Lernen“ sehr ähnliche Kritikpunkte hervorhebt: Menschen werden ihrer Würde beraubt und zu Objekten gemacht, sie werden unter Nützlichkeitsaspekten zum Humankapital degradiert (vgl. u. a. Weinbrenner 1990, Künzel/ Böse 1995, Griese 1998, Achtenhagen/Lempert 2000, Herdt 2003, Egger 2006). 43
Im August 1974 trafen sich in Cuernavaca (Mexiko) im Centro Intercultural de Documentación 25 Personen aus 14 Ländern, “um Klarheit zu gewinnen über die jüngsten Vorschläge lebenslanger Erziehung“ (Dauber/Verne 1976, S. 15). Als Ergebnis der Konferenz entstand das Dokument „Der Preis lebenslanger Erziehung. Das Manifest von Cuernavaca“, das – genau wie Illich´s Entschulungstheorie, deren praktische Umsetzung das explizite Ziel des Manifests war – in der internationalen bildungspolitischen Diskussion aufgegriffen wurde und bei der weiteren Entwicklung der bildungspolitischen Konzepte zum Lebenslangen Lernen eine beachtliche Rolle spielte. 44 Diese Kritik bewirkte eine starke Umwandlung des Konzeptes: In mehreren bildungspolitischen Konzepten, zum Beispiel der UNESCO, aber auch im späteren OECD-Konzept, finden sich Forderungen, die auf die Ansätze von Illich zurückzuführen sind. Dazu gehören u. a. die Aufweichung von starren Strukturen und die Öffnung der Bildungsinstitutionen für bisher bildungsbenachteiligte Gruppen. Die aktuelle Diskussion über die Bedeutung und Anerkennung von informellen Lernprozessen weist ebenfalls Elemente der Entschulungstheorie auf. 45 Genau genommen handelt es sich um das Konzept der „Permanenten Erziehung“ des Europarats (Europarat 1970). 46 „E tömör tézisekbĘl is kiviláglik a felszínen absztrakt ´humanitárius és demokratikus´ jelszavakkal operáló polgári permanens nevelési koncepció mögött meghúzódó alapvetĘ mozgató tényezĘ: a mo-dern kapitalista ökonomizmus érdekeinek elsĘdlegessége.“
1.3 „Lebenslanges Lernen“ als bildungspolitisches Konzept
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Durch die Schwerpunktsetzung auf den (lebenslangen) Lernprozess aller Menschen, wird ein eher negatives Menschenbild propagiert: der „Mensch als Mangelwesen“ (Hoffmann/Rein 1998, S. 13). Hermann Giesecke und Jürgen Wittpoth beschreiben eine äußerst schädliche Tendenz zur Pädagogisierung der Gesellschaft, die ihrer Meinung nach nicht zuletzt der Popularität der Leitidee „Lebenslanges Lernen“ zu verdanken ist (vgl. Giesecke 1997, Wittpoth 1997). Das Konzept wird auch wegen der Überforderung des Einzelnen stark kritisiert (vgl. u.a. Kade 1997b, Arnold/Giesecke 1999, Nuissl 2000, Faulstich 2003). Diese resultiert einerseits aus der zunehmenden alleinigen Eigenverantwortung der Einzelnen: „Paradoxerweise verlagert sich die Verantwortung aus der öffentlichen Hand hin zu Einzelpersonen [...] genau in der Zeit, wo die Notwendigkeit des lebenslangen Lernens an allgemeiner Akzeptanz gewinnt“ (Giere 1996, S. 167). Andererseits tritt diese Überforderung durch das Verlangen von selbstreflexiven Fähigkeiten hinsichtlich der eigenen Lernprozesse sowie von einem metakognitiven Bewusstsein als Voraussetzung zum lebenslangen Lernen auf (Kraft 1999, S. 839): Verschiedene Untersuchungen weisen darauf hin, dass die selbstorganisierte Lernfom die bestehenden Bildungsbenachteiligungen verstärken kann (vgl. u. a. Hollenstein 1989, Weber 1998). Aus diesen Gründen sehen die Kritiker das Bild vom lebenslang und erfolgreich Lernenden eher als ein Idealbild denn Realität. „Im gegenwärtigen Mainstream verkürzt sich das Verständnis von Lebenslangem Lernen […] auf das Utilitaristische, das beruflich Verwertbare“ (Fischer 2006, S. 67): „Lebenslanges Lernen“ wird oft in Form eines moralischen Appells als Ökonomisierungsinstrument benutzt, um die Bedürfnisse der Wirtschaft nach qualifiziertem „Humankapital“ mit möglichst wenig Kosten zu befriedigen. Die als mehr oder minder explizite Voraussetzung des lebenslangen Lernens betrachtete Erwerbstätigkeit bedingt eine, oft einseitige Konzentration des Lernens auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes und die Erhaltung der employability der Individuen (vgl. u.a. Arnold/Giesecke 1999, Nuissl 2000, Faulstich 2003, Herdt 2003, Egger 2006). Frank Achtenhagen und Wolfgang Lempers bezeichnen Ökonomismus, Modernismus und Sozialdarwinismus als die drei gängigsten Fehlinterpretationen des „Lebenslangen Lernens“ (vgl. Achtenhagen/Lempert 2000). Jörg Ruhloff warnt ausdrücklich davor, (lebenslanges) Lernen als orientierenden Wertbegriff zu gebrauchen und dadurch eine Mentalität zu schaffen, die “der Unbestimmtheit zukünftiger Problemlagen, etwa im Gefolge von sozialen, politischen, ökonomischen, wirtschaftlich-technischen Veränderungen im vorhinein und pauschal mit Umstellungsbereitschaft entgegenkommt“ (Ruhloff 1998, S. 92). Diese Art von gelernter Lernfähigkeit bewertet er als ambivalent und „nicht ohne weiteres pädagogisch zu bejahen“ (ebd.). Hans Tietgens macht au-
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1. Einleitung
ßerdem noch auf die Paradoxie aufmerksam, dass „was einmal als emanzipatorischer Anspruch gescheitert ist, nun von oben als Leistungspflicht propagiert [wird]“ (Tietgens 1998, S. 10f.). Zusammenfassend lässt sich mit Rainer Brödel feststellen, dass „die Realität lebenslangen Lernens […] zwischen den hypothetischen Polen von einerseits reiner Menschenbildung und andererseits purer Betriebsschulung [changiert]“ (Brödel 1998, S. 2). Dementsprechend kann das Konzept sowohl aus einer „emanzipatorischer Steigerungsperspektive“ als auch aus einer „gesellschaftlichen Zwangsperspektive“ gedeutet werden (Kade/Seitter 1998, S. 51). Kade und Seitter haben diesen, dem Konzept zu Grunde legenden Widerspruch „zwischen Emanzipation und Obligation“ (Kade/Seitter 1998) folgendermaßen beschrieben: „Aus einer positiv-affirmativen Perspektive heraus wurden und werden die demokratisch-emanzipatorischen Potentiale des lebenslangen Lernens betont: Emanzipation wird dabei einerseits verstanden als individuelle Steigerungsmöglichkeit und Vervollkommnungsperspektive, als Verlängerung bzw. zeitgemäße Neufassung des Bildungsbegriffs, als eine zeitlich adäquate und empirisch auslegbare Verlaufsform. Mit dieser Thematisierung des lebenslangen Lernens im Anschluss an den traditionellen Bildungsdiskurs wird er zum präferierten Medium subjektiver Weltanschauung und zum Träger von Entfaltungs-, Entwicklungs- oder Steigerungsperspektiven, wie sie für das klassische Bildungskonzept charakteristisch sind“ (Kade/Seitter 1998, S. 52). „Aus einer distanziert-ablehnenden Perspektive heraus wird das lebenslange Lernen als Obligation, als gesellschaftlicher Zwang oder soziale Zumutung gedeutet. Dieser Zwangscharakter zielt zum einen auf die permanente Umstellungsbereitschaft von Individuen aufgrund ökonomisch induzierter und damit individuell unsteuerbarer Anpassungsnotwendigkeiten, womit das lebenslange Lernen in die Perspektive eines Ökonomisierungsdiskurses gestellt wird, der aus betriebswirtschaftlichen Imperativen heraus den instrumentellen Charakter von Lernleistungen und die qualifikatorische Weiterbildungspflicht der Individuen betont“ (ebd.).
Peter Faulstich resümiert die Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung des Konzepts – aus der Perspektive der lernenden Individuen – folgendermaßen: „Die Resultate des Konzepts werden also davon abhängen, in welcher Weise es implementiert wird. Es sind alternative Szenarien denkbar. Wenn ´lebenslanges Lernen´ in einer neoliberalen Konzeption lediglich Individualisierungs- und Flexibilisierungsstrategien unterworfen wird, wird es für die Lernenden eher negative Effekte haben. Wenn in einem solidarischen System ´lebensentfaltender Bildung´ Persönlichkeitsentfaltung und Identitätsentwicklung ermöglicht werden, kann es anschließen an die Diskussion um Bildung, in dem die Kontrollchancen der Lernenden über ihre eigene Lebensgestaltung erhöht werden und ihre Zeitsouveränität vergrößert wird“ (Faulstich 2003, S. 277).
Die vorliegende Untersuchung erforscht die Adaptationsdimension in Deutschland und Ungarn in der nationalen Bildungspolitik im Zeitraum 1996–2005 und gibt damit erste Eindrücke darüber, in welche Richtung die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ geht.
1.4 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
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1.4 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung Als Ausgangspunkt dieser Untersuchung dient die Feststellung, dass internationale Bildungskonzepte auf der Ebene der einzelnen Länder den nationalen Eigenschaften und Bedürfnissen entsprechend interpretiert und adaptiert werden (vgl. Mitter 1994, Fürst 1999, Horváth/Vass 2002). Es wird die Frage gestellt, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede es in der deutschen und ungarischen Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ gibt. Die vorliegende Arbeit bewegt sich also – wie die Disziplin Vergleichende Erziehungswissenschaft selbst – im „Spannungsraum zwischen dem national Besonderen und dem übernational Uniformen“ und spiegelt die Auseinandersetzungen „zwischen dem ererbten nationalen Bildungsgut und den übernational-gleichgerichteten Gegenwartsauswirkungen wider, die überall ähnliche Probleme zeitigen und daher überall zu ähnlichen Lösungen drängen“ (Berger 1976, S. 17). Die zentrale Forschungsfrage der Untersuchung lautet: Wie wird das EUKonzept „Lebenslanges Lernen“ in Deutschland und in Ungarn adaptiert? In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen relevant: Wahrnehmung: Wie weit werden die wichtigsten bildungspolitischen Konzepte der EU zum „Lebenslangen Lernen“ wahrgenommen? Interpretation: Wie werden die wichtigsten bildungspolitischen EU-Konzepte zum „Lebenslangen Lernen“ interpretiert? Adaptation: Wie weit werden die nationalen Eigenschaften der jeweiligen Bildungssysteme bei der Adaptation berücksichtigt? Welche Faktoren spielen bei der Adaptation eine Rolle: z. B. Politik, gesellschaftliche und historische Hintergründe, Aufbau und Steuerung der Bildungssysteme etc.? Durch dieses mehrstufige Analyseschema „Wahrnehmung – Interpretation – Adaptation“ können nicht nur die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in den ausgewählten Ländern, sondern auch deren beeinflussende Faktoren dargestellt und analysiert werden. Als Ergebnis der vorliegenden Untersuchung sollen Ähnlichkeiten und Unterschiede der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in Deutschland und Ungarn explizit aufgezeigt sowie gemeinsame Trends identifiziert und bewertet werden. Das Ziel der Studie lässt sich mit Robinsohn folgendermaßen darstellen: „Das Ziel der vergleichenden Analyse ist im weitesten Sinne, aus den gewonnenen Erkenntnissen Folgerungen für Theorie und Praxis von Erziehung und Bildung zu gewinnen. Im Hinblick auf diese Intention werden Probleme identifiziert und diagnostiziert, Antworten hypothetisch formuliert und durch systematische Untersuchung regelmäßiger Zusammenhänge im Felde variierender Systeme überprüft und erhärtet: so werden rationale Entscheidungen unter Berücksichtigung vorausschaubarer Konsequenzen ermöglicht“ (zit. nach Berger 1976, S. 20).
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1. Einleitung
Die Zielsetzung deckt sich also im Großen und Ganzen mit den allgemeinen Zielen der vergleichenden Erziehungswissenschaft. Die Untersuchung stellt die Frage nach nationalen, regionalen und kulturellen Unterschieden zwischen den beiden ausgewählten Ländern und will globale Zusammenhänge erkennen und erklären. Brian Holmes unterscheidet dabei zwischen zwei Funktionen der Disziplin: Grundlagenforschung und angewandte Forschung (vgl. Holmes 1981). Diese Studie beinhaltet beide Zielsetzungen, möchte also sowohl ein besseres Verständnis der Bildungspolitik beider Länder erreichen als auch durch dieses bessere Verständnis zu ihrer Verbesserung beitragen. Dazu gehört auch die Bewusstmachung des politischen Motivs des Vergleichs, nämlich die Grundannahme, dass „Erziehung und Bildung [...] nur noch sinnvoll sein [können], wenn sie Verständigung, Toleranz und Frieden fördern“ (Pöggeler 1981, S. 19). In diesem Sinne knüpft die Arbeit bewusst an die Tradition des Ost-West-Vergleichs in der deutschen vergleichenden Erziehungswissenschaft an. Sie will dazu beitragen, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Alt- und Neu-EULändern an den Beispielen Deutschlands und Ungarns transparent zu machen, um dadurch das Einander-Verstehen und das Miteinander-Leben innerhalb der Europäischen Union zu erleichtern. Dabei wird eine praktische europapolitische/ bildungspolitische Funktion u. a. im Sinne von Schneider und Hörner angestrebt: Die Kenntnis der Differenzen der verschiedenen europäischen bildungspolitischen Ansätze stellt die Voraussetzung für eine tiefere Einheit Europas dar (vgl. Schneider 1961, Hörner 1996): „Wir wollen, dass sich auf den Gebieten der Bildung die europäischen Nationen im tiefsten Wesen als Eine erkennen, aber damit sie dieses tun können, müssen sie sich vor allem ihrer besonderen Natur, ihrer Sitten, ihrer eigenen Gestalt bewusst werden. Erst wenn dieses geschehen, werden sie imstande sein, sich und ihr Wesen von dem Zufälligen zu trennen und sich in einer höheren Einheit als Glieder eines Ganzen zu erkennen, dessen Größe eben in der Mannigfaltigkeit der zur Einheit vermittelten Charaktere besteht (Thiersch zitiert nach Hilker 1962, S. 32).
Dabei werden die Grenzen der Verwirklichung dieser Zielsetzung, wie von Henze, Hörner und Schreier beschrieben, ebenso wahrgenommen. „Die Herausbildung einer internationalen Dimension in der Pädagogik war und ist eng verbunden mit dem Gedanken der Völkerverständigung und der Überwindung nationaler, rassistischer und religiöser Vorurteile. Die vergleichende Erziehungswissenschaft […] hat diese Aufgabe meistens nicht als wissenschaftsfremde Zumutung, sondern als ihrer Aufgabe innewohnende Zielsetzung aufgefasst. Trotzdem bleibt hier Skepsis angebracht. Es handelt sich bei dem erhofften Beitrag vergleichender erziehungswissenschaftlicher Studien zur internationalen Verständigung und Zusammenarbeit, letztlich zu einem universellen Friedenskonzept, um eher indirekte Wirkungen wissenschaftlicher Arbeit. Durch sachliche Aufklärungsarbeit kann die Wissenschaft zu einem solchen Ideal mehr beitragen als durch theoretische Bemühungen und eine oberflächliche Harmonisierung bestehender Gegensätze“ (Henze u. a. 1990, S. 233).
1.4 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
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Auch der Relativierungsfunktion wissenschaftlicher Komparation wird in der vorliegenden Arbeit bewusst Rechnung getragen. „Das Vergleichen ist ein unverzichtbarer Bestandteil der kritischen Vorgehensweise, die für jede Wissenschaft von konstitutiver Bedeutung ist. Vergleichen erzeugt kritische Selbsteinschätzung und weckt den Drang, Erkenntnisse dort zu suchen, wo immer sie zu finden sind – ohne Rücksicht auf irgendwelche Grenzen der Politik oder der Ideologie“ (Berger 1976, S. 20).
Die doppelte Perspektive einer vergleichenden Untersuchung, nämlich einerseits die Gemeinsamkeiten, andererseits die Unterschiede zu ergründen, „hat stets auch mit Relativieren zu tun und schützt das wissenschaftliche Vorgehen vor naiver Überschätzung des Eigenen ebenso wie vor der Verherrlichung des Fremden“ (ebd. S. 19). In diesem Sinne möchte die vorliegende Arbeit, obwohl sie sich auf ein europäisches Thema konzentriert, keineswegs einem erziehungswissenschaftlichen Eurozentrismus dienen. Die nationaltypischen Interpretationen des bildungspolitischen Konzepts „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union werden im deutschen und ungarischen Kontext sowohl im historischen Zusammenhang als auch im Spiegel der aktuellen Diskussion vorgestellt. Die Untersuchung ist aus der sozio-kulturellen Perspektive47 strukturiert: „Nicht die bloßen Fakten sind zu analysieren, sondern Ziel ist es, die historische Bedeutung der Fakten zu klären. Das Forschungsinteresse gilt nicht nur der materiellen Gestalt der Fakten, sondern auch den Diskursgemeinschaften, welche die Fakten und Phänomene beschreiben und interpretieren. Dazu ist die historische Dimension unabdingbar, wobei darunter nicht die Auflistung historischer Daten, sondern die theoriegeleitete Interpretation historischer Fakten verstanden wird“ (Allemann-Ghionda 2004, S. 187).
Als sozialwissenschaftlicher theoretischer Rahmen wird der Theorieansatz der „Europäisierung“ (vgl. Featherstone/Radaelli 2003) zu Grunde gelegt, der sich „mit Rückwirkungen der Integration auf die nationalen Politiken“ (Bieling/ Lerch 2006, S. 29) beschäftigt. „Europäisierung“ kann einerseits als de jureTransfer von Souveränität auf die EU-Ebene beschrieben werden (Lawton 1999), andererseits definiert werden als „the emergence and development at the European level of distinct structures of gouvernance, that is, of political, legal, and social institutions associated with political problem-solving that formalize interactions among the actors, and of policy-networks specializing in the creation of authoritative European rules“ (Risse/Cowles/Caporaso 2001, S. 3). 47 Der sozio-historische Ansatz gilt als „eminent europäischer Ansatz in der vergleichenden Erziehungswissenschaft“, der vor allem im deutsch- und französischsprachigen Raum Anwendung findet. Er basiert auf der Grundannahme, „dass ein historischer Zugang und ein expliziter, kohärenter theoretischer Rahmen unerlässlich sind, um vergleichende Analysen durchzuführen, die über bloße Beschreibung aktueller Fakten und Daten hinausgehen“ (vgl. Allemann-Ghionda 2004, S. 187).
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1. Einleitung
Im ersten Fall ist Europäisierung schwer abzugrenzen vom Konzept der europäischen Integration, im zweiten Fall lassen sich die beiden Konzepte voneinander unterscheiden, allerdings bleibt „Europäisierung“ zu undeutlich (vgl. Auel 2006). Robert Ladrech definierte Europäisierung als „incremental process reorienting the direction and shape of politics to the degree that EC political and economic dynamics become part of the organizational logic of national politics and policy-making“ (Ladrech 1994, S. 69). Claudio Radaelli hat seine Definition anhand Ladrechs Begriffsklärung erarbeitet und betrachtet Europäisierung als „Processes of (a) construction, (b) diffusion, and (c) institutionalization of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, ways of doing things´, and shared beliefs and norms which are first defined and consolidated in the making of EU public policy and politics and then incurporated in the logic of domestic discourse, identities, political structures, and public policies” (Radaelli 2003, S. 30).
Des Weiteren unterscheidet Radaelli zwischen vertikalen und horizontalen Impulsen. Die vertikalen Impulse bezeichnen dabei die supranationale Gesetzgebung der EU durch hierarchische, von oben kommende, „harte“ Instrumente wie Richtlinien oder Verordnungen. In den Politikfeldern, in denen die EU aufgrund fehlender Kompetenzen keine Möglichkeiten der vertikalen Einflussnahme hat – wie z. B. im hier untersuchten Bereich der Bildungspolitik – nutzt sie „weichere“ Formen, die auf einer Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten beruhen (ebd.). Radaelli nennt diese die „kognitive Dimension “ (Radaelli 1997, S. 11) der politischen Einflussnahme. Europäisierung wird in der vorliegenden Arbeit in Anlehnung an Radaelli als ein Veränderungsprozess der Logik nationalen (bildungs)politischen Handelns verstanden, in dem Entstehung und Rückwirkung europäischer Politik analytisch isoliert betrachtet werden. Als chronologisch erster Schritt ist die Entstehungsphase, also die „Entstehung, Verbreitung und Verfestigung unterschiedlicher Elemente politischen Handelns auf der europäischen Ebene“ (zitiert nach Auel 2006, S. 298). Im zweiten Schritt fließt die Logik der europäischen Politik in die politische Diskussion und das Handeln der Mitgliedsstaaten ein und verändert diese.48 In der vorliegenden Studie wird der erste Schritt, also die Entstehung und Entwicklung des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in Kapitel 3.1 darge-
48 Diese analytische Trennung wird in der Fachliteratur als künstlich kritisiert, denn in der Wirklichkeit spielen die Mitgliedsstaaten eine entscheidende Rolle bei der Entstehung europäischer (Bildungs)Politik (Auel 2006, S. 311). Andererseits erscheint sie aus methodischer Hinsicht als grundsätzlich notwenig, denn ohne diese kann die Europäisierung nur als zirkulärer Prozess beschrieben werden, bei dem keine Aussagen mehr über die Kausalitäten möglich sind (vgl. Kohler-Koch 2000).
1.4 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
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stellt.49 Der zweite Schritt, also die Adaptation der Leitidee in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Ungarn, bildet den Kern der Studie. Die Veränderung der Logik des politischen Handelns in den jeweiligen Ländern wird in der nationalen Bildungspolitik untersucht.50 Die Untersuchung wird dabei erstens auf die kognitive Dimension der politischen Einflussnahme der EU – also die Frage nach der Wirkung „relevanter Denkmuster, Informationen, Ideen und Argumente für politische Prozesse“ (Auel 2006, S. 297) auf die nationale Politikformulierung (public policies) – zweitens auf den Bereich der Bildungspolitik sowie drittens auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ begrenzt. Jürgen Helmchen kritisiert zu Recht die heutzutage festzustellende Schwerpunktverschiebung innerhalb der Sozialwissenschaften, die „die historisch-generative Sichtweise [von Gesellschaft] zugunsten von systemischen Betrachtungsweisen in den Hintergrund drängte“ (Helmchen 2003, S. 206). Seiner Meinung nach liegt diesem Perspektivenwechsel ein schwerwiegender methodologischer Fehler zugrunde, nämlich dass „der bürgerlichen Gesellschaft […] ihr eigener Zustand als der historisch letztmögliche Zustand [erscheint], da es ihr um die Aufrechterhaltung der spezifischen ökonomischen Mechanismen der Verwertung geht. Deshalb mag zwar Geschichte stattgefunden haben, aber nur bis zum Erreichen des gegenwärtigen Zustands“ (ebd. S. 204). Um diesen Fehler zu vermeiden, wird in dieser Untersuchung die historische Perspektive verstärkt in den Vordergrund gestellt. Dies zeigt sich einerseits in der Darstellung der Entstehung und Entwicklung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ und der Vorstellung der bildungspolitischen Rahmenbedingungen der Adaptation des Konzepts in den ausgewählten Ländern. Andererseits werden die ausgewählten bildungspolitischen Dokumente ebenfalls immer in ihrem besonderen historischen/gesellschaftspolitischen Kontext ausgewertet. Mit der Einbeziehung einer sowohl historischen als auch komparatistischen Dimension wird beabsichtigt, die Gegenwartsorientierung der Analysen auszugleichen, in dem diese im historischen Rückblick als eine durch konkrete geografische und gesellschaftlich-politische Kontexte geprägte Interpretationsmöglichkeit erscheinen – und nicht als die einzige Form von Wirklichkeitsbeschreibung oder Wahrheit. Die gegenwärtige Wirklichkeit ist immer ein Produkt der 49 Allerdings wird die Rolle der untersuchten Länder in dieser ersten Phase nicht explizit untersucht. Die untersuchten EU-Mitgliedsländer werden hier nur als Empfänger („takers“) europäischer Politik und nicht als aktive Gestalter („shapers“) untersucht. Damit wird analytisch nur eine Richtung innerhalb eines komplexen, in der Wirklichkeit zirkulären Prozesses (Kohler-Koch 2000, S. 20) isoliert betrachtet. Zum Thema deutsche und ungarische Einflussnahme auf die europäische (Bildungs)Politik vgl. die Beiträge von Josef Janning (Deutschland) sowie von András Inotai/Gábor Lakatos und András Drexler (Ungarn) im Jahrbuch der Europäischen Inte-gration (vgl. Weidenfeld/Wessels 2006 und 2007). 50 Mehr dazu s. Kapitel 1.4.
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1. Einleitung
Veränderungen der Vergangenheit und wirkt sich auf die Zukunft aus. Dementsprechend bieten „Historik und Komparatistik […] eine doppelte Kontingenzerfahrung und Möglichkeitserweiterung und damit auch eine Präzisierung der Gegenwartsanalyse durch historische Fundierung einerseits und angelegte Relationierung andererseits“ (Seitter 2000, S. 88). 1.5 Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit Für die vorliegende Untersuchung ist eine ergebnisoffene Herangehensweise charakteristisch. Dies bedeutet, dass vorab keine Hypothesen formuliert werden, die im Laufe der Untersuchung überprüft werden. Vielmehr wird das zugrunde liegende Material ergebnisoffen in dem dargestellten Rahmen untersucht. Die für die ausgewählten Länder erarbeiteten Befunde werden dann einer komparativen Analyse unterzogen. Es geht dabei darum, Muster der Konvergenz und der Divergenz zu identifizieren. Das konkrete Vorgehen sieht wie folgt aus: Zunächst wird das Konzept der Europäischen Union anhand maßgeblicher bildungspolitischer Dokumente eruiert. Um die Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in einem `Alt-EU-Land` und einem `Neu-EU-Land` miteinander vergleichen zu können, werden zwei nach dem most-different-Prinzip exemplarisch ausgewählte Mitgliedsstaaten der Europäischen Union untersucht: die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Ungarn. Aus dem komplexen Feld der Erziehung und Bildung wurde der Untersuchungsbereich Bildungspolitik ausgewählt. Zur Analyse der deutschen und ungarischen Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ im Bereich Bildungspolitik werden maßgebliche Dokumentenpaare ab 1996 herangezogen. Diese werden einzeln und ausführlich analysiert und dann miteinander verglichen. Die Logik der Darstellung folgt dem DreischrittVerfahren: Deskription, Interpretation, Juxtaposition (vgl. Hilker 1962, Bereday 1969)51: Nach Darstellung des Untersuchungsdesigns wird zunächst das bildungspolitische Konzept „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union als ´Gegenstand´ der Untersuchung vorgestellt. Danach werden die für die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ für bedeutsam erachteten Rahmenbedingungen in den beiden Ländern aufgezeigt. Aufgrund dieser deskriptiven Darstellungen werden die Befunde über die Adaptation in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik aus ihrem Kontext heraus interpretiert und schließlich in 51 Wolfgang Hörner, der in seiner Studie Die Umgestaltung des Bildungswesens in den neuen Bundesländern und im östlichen Europa. Analogien und Unterschiede in Transformationsprozessen selber diese Vorgehen praktiziert, nennt diese ein „klassisches“, von der modernen komparatistischen Methodologiediskussion zu Unrecht weitgehend vergessenes Modell (vgl. Hörner 1999, S. 168).
1.5 Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit
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einer Juxtaposition gegenübergestellt. Zusammenfassend ergibt sich aus diesem Vorgehen folgender Aufbau der Arbeit: Kapitel 2 ist der Darstellung der theoretischen Grundlagen und des Untersuchungsdesigns gewidmet. In Kapitel 3 werden erstens die bildungspolitischen Aktivitäten der EU dargestellt. Zweitens wird hier die Entstehung und Genese des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ anhand ausgewählter bildungspolitischer Dokumente exemplarisch nachgezeichnet. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union dient in der Untersuchung als erste Komponente des tertium comparationis. Drittens werden hier Bildungspolitik und Bildungswesen der ausgewählten Länder als Rahmenbedingungen der Adaptation als zweite Komponente des tertium comparationis vorgestellt. Die Anordnung der Vergleichsobjekte erfolgt nach einer "Rangordnung der Bekanntheit" (Mitter 1976, S. 331). Die Bekanntheit des deutschen Bildungswesens wurde vorausgesetzt. Aus diesem Grunde wird Deutschland als primum comparationis zur Grundlage des Vergleichs präsentiert (womit verglichen wird). Das ungarische Bildungssystem wird hier als eher unbekannt bzw. weniger bekannt angesehen und fungiert deswegen als secundum comparationis (was verglichen wird). In Kapitel 4 wird die Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik anhand exemplarisch ausgewählter bildungspolitischer Dokumente vorgestellt und miteinander verglichen. Kapitel 5 fasst zunächst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen. Dann sucht sie diese in den weiteren Kontext der erziehungswissenschaftlichen Diskussion einzuordnen und Anschlüsse sowie weitere Forschungsdesiderate aufzuzeigen. Insbesondere geht es um die Perspektiven für die Weiterentwicklung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ im EU-Kontext sowie in Deutschland und in Ungarn. Das abschließende Kapitel 6 zeigt die Konsequenzen der Untersuchung für die Bildungspolitik der Europäischen Union, sowie Deutschlands und Ungarns. Die vorliegende Arbeit nutzt die neue deutsche Rechtsschreibung. Buchtitel und Originalzitate wurden allerdings nicht verändert. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden im Text die weibliche und die männliche Form der Nomen benutzt. Zur besseren Nachvollziehbarkeit wurden die ungarischsprachigen Originalzitate durchgehend als Fußnoten beigefügt. Zum Verständnis der ungarischen Analysen waren an vielen Stellen auch zusätzliche Erklärungen und Erläuterungen nötig, die aber die Logik des Textflusses gestört hätten und deshalb ebenfalls als Fußnoten dabeigefügt wurden.
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Anlage und Methoden der Untersuchung
In diesem Kapitel werden das Forschungsdesign und die angewandten Methoden der vorliegenden Untersuchung aufgezeigt. 2.1 Forschungsdesign Im Folgenden wird die räumliche und zeitliche Eingrenzung der Untersuchung erläutert sowie die Auswahl der Länder begründet. Nach einer ausführlichen Vorstellung des zu analysierenden Untersuchungsfeldes wird die Darstellungsperspektive der Studie thematisiert. 2.1.1 Räumliche Eingrenzung der Untersuchung und Auswahl der Länder Die vorliegende Untersuchung bezieht sich geografisch auf `Europa`, politisch auf das Gebiet der Europäischen Union. Innerhalb der EU werden in der Bundesrepublik Deutschland und in der Republik Ungarn Phänomene der Erziehung und Bildung genauer untersucht. Der Begriff `Europa` kann aus vielen verschiedenen – geografischen, politischen, geistesgeschichtlichen – Perspektiven interpretiert werden, entzieht sich aber einer konkreten und eindeutigen Definition. „Europa als Realität ist stets ein Prozess gewesen und wird es voraussichtlich weiterhin bleiben. Seine äußeren Grenzen sind ebenso in Bewegung wie seine inneren Abgrenzungen und Spannungen zwischen Einheit und Vielfalt“, resümiert Wolfgang Mitter (Mitter 1999, S. 264). Nach Elisabeth Lichtenberger weicht die Europäische Union der grundsätzlichen Frage nach dem, was Europa ist und wo es endet, selbst aus. „Es ist der politische Pragmatismus und es sind einige wenige Prinzipien, die darüber entscheiden, was Europa – oder genauer – was die Europäische Union ist und welche Staaten dazugehören können“ (Lichtenberg 2005, S. 33).52 Die 52 Vgl. die politischen Diskussionen zum Beitritt der Türkei, Kroatiens, Serbiens und der Ukraine. Die 1993 in Kopenhagen festgelegten Kriterien definieren die EU nicht territorial, sondern auf einer politisch-ökonomischen Grundlage. Der Europäische Rat beschrieb drei Dimensionen staatlicher Strukturen als Voraussetzung einer EU-Mitgliedschaft: Erstens Demokratie und Rechtsstaatlichkeit,
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
bisherigen Definitionen und Selbstdefinitionen der EU sind sehr allgemein gehalten, bieten also viel Raum für Interpretationen und politischen Pragmatismus. Dies ist durchaus politisch gewollt, denn der Union war es seit ihrer Gründung wichtiger, den ost(mittel)europäischen `Transformationsländern` eine neue Vision für ihre zukünftige Zugehörigkeit sowie einen „Modernisierungs- und Reformanker zur Unterstützung ihrer politischen Transformation Richtung Demokratisierung und Marktwirtschaft anzubieten, als ein Korsett von Bedingungen zu kreieren oder einem dogmatischen Europabegriff nachzueifern“ (Lichtenberg 2005, S. 34). In der vorliegenden Untersuchung wird `Europa´ nach Wolfgang Hörner nicht bloß als geografischer Begriff, sondern als politisch gesteuerter Prozess verstanden, der einen gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess miteinschließt (vgl. Hörner 1997, S. 65). Isensee sieht diesen gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess als sehr erfolgreich an: „Zu den bemerkenswertesten Wirkungen der europäischen Einigung gehört ihr semantischer Erfolg: dass Europa heute durchweg identifiziert wird mit der Europäischen Union“ (Isensee 1998, zitiert nach Lichtenberg 2005, S. 23). Der dadurch bedingte Veränderungsprozess der Logik nationalen (bildungs)politischen Handelns wird hier als „Europäisierung“ bezeichnet.53 Einige Faktoren dieses Prozesses werden in zwei Mitgliedsstaaten der Union untersucht: in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn. Die Untersuchungsgrößen sind also – ebenfalls wie in den aktuellen Untersuchungen der vergleichenden Politikwissenschaft – zwei Staaten54, die hier in Anlehnung an Wolfgang Mitter im weitesten Sinne als Nationalstaaten55 bezeichnet werden. Dabei wird eine andere Erscheinungsform – wie z.B. Vielvölkerstaat – nicht ausgeschlossen und die unterschiedliche Staatsorganisation (zentralisiert, föderalistisch, dezentralisiert) außer Acht gelassen (Mitter 2006, S. 81). Die Dis-ziplin der vergleichenden Erziehungswissenschaft war von AnMenschenrechte und Schutz der Minderheiten, zweitens marktwirtschaftliche Wirtschaftsorganisation und drittens Übereinstimmung mit den Verpflichtungen einer Mitgliedschaft. 53 Mehr dazu s. Kapitel 1.4. 54 Jahn definiert Staaten als „eine empirische Erscheinungsform von politischen Systemen“, die „souveräne, unabhängige Einheiten [sind] und […] rechtliche Autorität in ihrem Geltungsbereich [besitzen]“ (vgl. Jahn 2006, S. 39). Er unterscheidet dabei zwischen interner Souveränität, die sich auf die eigenen Staatsbürger bezieht, und externer Souveränität, die die Fähigkeit beinhaltet, mit anderen souveränen Staaten verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Die Mitgliedschaft in der EU deutet er als Zurücknahme der staatlichen Souveränität in gewissen Aspekten (ebd.). Dementsprechend wird in der Globalisierungsdebatte die Bedeutung von Staaten seit einiger Zeit hinterfragt und auch in der vergleichenden Erziehungswissenschft diskutiert (Allemann-Ghionda 2005, S. 2). 55 „Der Begriff Nation kennzeichnet eine Gruppe von Menschen mit einer gemeinsamen Identität bezogen auf historische, kulturelle, sprachliche und ethnische Verbundenheiten“ (Jahn 2006, S. 41). Mehr zu dem nicht unproblematischen Begriff „Nationalstaat“ vgl. Jahn 2006.
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2.1 Forschungsdesign
fang an der Idee des Nationalstaates verpflichtet, der am anschaulichsten durch die Formel „ein Mensch – ein Volk – eine Geschichte – eine Sprache – eine Kultur – ein Territorium – ein Staat“ (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, S. 69) ausgedrückt werden kann. Diese Betrachtungsweise suggeriert eine (sprachliche, kulturelle, ethnische) Homogenität und Einheit, die in der Wirklichkeit in den meisten europäischen Staaten nie existierte. Dieser ´Mangel´ kann im Rahmen dieser Studie nicht behoben werden: Die innere Pluralität und Heterogenität der untersuchten Länder ist kein Gegenstand der Betrachtung. Der Grund dafür lässt sich in der Auswahl des Tertium Comparationis suchen: Aus der Perspektive des europäischen Integrationsprozesses (der Europäischen Union) werden die jeweiligen Mitgliedsstaaten als souveräne Einheiten betrachtet, die eine eigene kulturell-historische Identität besitzen. Die untersuchten Länder wurden nach der bekannten Methode des „mostdif-ferent-systems“-Ansatzes (Przeworski/Teune 1970, Hörner 1993) exemplarisch nach folgenden Kriterien ausgewählt (vgl. Tabelle 4): Auswahlkriterien Geografisch-politische Zugehörigkeit Dauer der Zugehörigkeit zur EU Politische Tradition nach 1945
Wirtschaftliche Tradition nach 1945 Bildungssystem
Bundesrepublik Deutschland Westeuropa Alt-EU-Land Bürgerlich-liberale Demokratie
Marktwirtschaft Föderalistisches Bildungswesen
Republik Ungarn Ost(mittel)europa Neu-EU-Land 1945–1948 Demokratische Ansätze 1948–1989 Sozialistische Gesellschaftsordnung nach 1989 Bürgerlichliberale Demokratie 1945–1989 Planwirtschaft nach 1989 Marktwirtschaft Zentralistisches Bildungssystem
Tabelle 4: Auswahlkriterien der Länder der Studie 1) Geografisch-politische Zugehörigkeit zu Ost(mittel)- versus Westeuropa In Deutschland und in den westlichen Industrieländern wird Ungarn einschlägig als zu Osteuropa gehörig bezeichnet. Wie in Kapitel 1.4 dargestellt, resultiert diese Kategorisierung weniger aus der geografischen Lage des Landes als aus seiner (früheren) Zugehörigkeit zum sog. Ostblock. Die ungarischen Historiker und Politologen dagegen bezeichnen Ungarn durchgehend als zu „Ostmittel-Europa“56 gehörig. Damit soll einerseits der geografischen Lage des Landes Rechnung getragen werden, das nach einer 800 Jahre alten spanischen Landkarte an56
Kelet-Közép Európa
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
geblich den Nabel der Dame Europa,57 also des Kontinents, darstellte (vgl. Konrád 1990). Anderseits ist das Wort ´Mittel´ auch politisch gemeint: Ungarn sieht sich als Brücke zwischen Ost und West (vgl. u. a. Lendvai 2001, Dalos 2004). Emotional wird mit dieser Bezeichnung die kulturell-politische Distanz zum Balkan und die Nähe zur westlichen europäischen Kultur sowie eine Absetzung vom (ehemaligen) Ostblockstatus angedeutet (vgl. Óhidy 2007b). Die geografisch-politische Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu Westeuropa ist dagegen sowohl in der deutschen als auch der ungarischen Fachliteratur unumstritten.58 2) Dauer der Zugehörigkeit zur Europäischen Union; Alt-EU-Land versus Neu-EU-Land Im Hinblick auf die Entwicklung der Europäischen Union werden in der Fachliteratur die Gründerstaaten als `altes Europa`, die später aufgenommenen Länder als `neues Europa` bezeichnet. Diese Neu-EU-Länder gehören zu den sog. Transformationsländern.59 Die Bundesrepublik Deutschland war Gründungsmitglied der Römischen Verträge60, der EG61 und auch der Europäischen Union. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurden die `neuen Bundesländer` der ehemaligen DDR 1990 `automatisch` Mitglied der EG und später der EU. Ungarn trat 2004 der Europäischen Union bei. 3) Politische Tradition seit 1945: bürgerlich-liberale Demokratie versus sozialistische Gesellschaftsordnung Während nach 1945 die West-Alliierten in der BRD eine Entnazifizierungs- und Demokratisierungspolitik betrieben, die längerfristig die Entstehung einer bürgerlich-liberalen Demokratie bewirkte, ließ die Sowjetunion in Ungarn – genau57 Europa war nach einer griechischen Sage die Tochter von Agenor, die von Zeus in Gestalt eines Stiers nach Kreta entführt wurde. Dort zeugte Zeus mit ihr die Söhne Rhadamathys, Minos und Sarpedon. Diese Geschichte ist ein fester Bestandteil der abendländischen Kulturgeschichte geworden (Gehler 2002, S. 6). 58 Dabei spielt das osteuropäische Pendant DDR eine nicht geringe Rolle. 59 Unter „Transformation“ versteht man in den Sozialwissenschaften im weiteren Sinne die Gesamtheit aller, den Umbruchprozess einer Gesellschaft charakterisierenden sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Erscheinungen. Im engeren Sinne bezeichnet man damit den Wandlungsprozess der ehemaligen sozialistischen Länder in Mittel- und Osteuropa und Asien (Volksrepublik China, Vietnam) sowie der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, die sich im Übergang (Transformation) von der Zentralverwaltungswirtschaft in eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung befinden (vgl. Meyers 1999, Bd. 23, S. 55). 60 1957 führten die Verträge von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). 61 1967 wurde durch Zusammenlegen der Organe der drei wirtschaftlichen Teilgemeinschaften EGKS, EWG und Euratom die Organisation der Europäischen Gemeinschaften (EG) geschaffen. Die Europäische Union wurde 1992 von den EG-Ländern gegründet.
2.1 Forschungsdesign
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so wie in der DDR – das Einparteiensystem und eine sozialistische Gesellschaftsordnung einführen.62 Erst nach dem demokratischen Systemwechsel wurde in Ungarn 1989/90 der Übergang von der sozialistischen zur bürgerlich-liberalen Demokratie vollzogen.63 Anweiler bezeichnet Ungarn – und alle anderen Transformationsländer – als „neue Demokratien“ (vgl. Anweiler 1992). 4) Wirtschaftliche Tradition seit 1945: kontinuierlich kapitalistisch versus postsozialistisch/neukapitalistisch In der BRD wurde nach 1945 von den alliierten Westmächten eine auf Marktwirtschaft basierende kapitalistische Wirtschaftsordnung unterstützt. In Ungarn wurde – ebenso wie in der DDR – eine sozialistische Planwirtschaft nach sowjetischem Muster eingeführt. Erst nach dem demokratischen Systemwechsel 1989/ 90 wurde der Wechsel von der sozialistischen Plan- zur kapitalistischen Marktwirtschaft vollzogen. Dementsprechend kann die wirtschaftliche Tradition als `postsozialistisch` oder als `neukapitalistisch` bezeichnet werden. 5) Bildungssystem: föderalistisch versus zentralistisch/einheitlich In Bezug auf die Einheitlichkeit der Bildungssteuerung kann ein Land föderalistisch oder zentralistisch organisiert sein. In den föderalistisch konzipierten Staaten, wie Deutschland oder der Schweiz, gibt es keine einheitliche Steuerung. Man kann hier über mehrere Bildungssysteme sprechen. Das Adjektiv ´zentralistisch´ kann in Bezug auf die Organisiertheit und Steuerung von Erziehung und Bildung zwei Bedeutungen haben: Im weiteren Sinne meint es das Gegenteil von föderalistisch, also dass es zentral festgelegte Vorschriften (Prüfungsordnung, Curriculum) gibt, die für das gesamte Land gelten. Aus dieser Perspektive hat Ungarn so wie z. B. Frankreich ein zentralistisches Bildungssystem. Andererseits kann Zentralisierung bedeuten, dass das gesamte Bildungssystem politisch zentral gesteuert wird. In Ungarn war dies bis 1989 der Fall. Aber seit dem demokratischen Systemwechsel kann das ungarische Bildungssystem in diesem engeren Sinne nicht mehr als zentralistisch bezeichnet werden, sondern nur im oben dargestellten weiteren Sinne.64 Zentralistisch organisierte Länder haben demnach ein Bildungssystem, föderalistisch organisierte ein Bildungswesen (Allemann-Ghionda 2004, S. 50). So wird im Rahmen dieser Arbeit konse62
Diese Gesellschaftsordnung wurde in Ungarn als `sozialistische Demokratie` bezeichnet und als „Demokratie neuen Typs“ definiert, in der durch die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln und die Auflösung der sozialen Klassen die „Volksherrschaft“ verwirklicht wurde (Fencsik 1986, S. 355356). In der Praxis ging es um ein diktatorisches System, in dem die Sowjetunion und die ungarische kommunistische Partei (USAP/MSZMP) sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik des Landes bestimmten. 63 Mehr dazu s. Kapitel 3.2.2. 64 Mehr dazu s. Kapitel 3.2.
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
quent über `das deutsche Bildungswesen` und `das ungarische Bildungssystem` gesprochen.65 Bei der Auswahl der Länder spielten persönliche Motive ebenfalls eine Rolle: Als in Deutschland lebende Ungarin verfüge ich über die nötigen Sprachkenntnisse und damit über den erforderlichen Zugang zu den Informationsquellen für die Recherche.66 2.1.2 Zeitraum und Bereich der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf den Zeitraum 1996–2005. Diese Phase kann in Anlehnung an die internationale Fachliteratur als Verwirklichungsphase des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in Europa charakterisiert werden – im Gegensatz zu der Entstehungsphase zwischen 1970–1996.67 Im untersuchten Zeitraum geht es nicht mehr um die Ausarbeitung von neuen Konzepten. Vielmehr steht die Verwirklichung des Konzepts im Mittelpunkt der europäischen Bildungspolitik (vgl. Mihály 2002), Antriebsmotor ist die Europäische Union. Das Jahr 1996 steht dabei für das Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens. Dies ist der Zeitpunkt, seit dem „Lebenslanges Lernen“ als Überbegriff für bildungspolitische Reformkonzepte in der Europäischen Union gilt. In diesem Jahr erschienen in den untersuchten Ländern die ersten bildungspolitischen Dokumente, die zeigen, dass die nationalen Regierungen in Deutschland und in Ungarn das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in ihre strategische Planung miteinbezogen haben. Seit 2000 ist die Verwirklichungsphase des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ europapolitisch eingebettet in der 2000 eingeführten Lissabon-Strategie, mit deren Hilfe bis 2010 ein europäischer Raum für Lebenslanges Lernen entstehen soll.68 Aktuelle Analysen gehen allerdings von einer längeren Entwicklungsphase aus. Im gleichen Jahr wurde das EU-Memorandums über Lebenslanges Lernen69 veröffentlicht, das erste Anhaltspunkte für die Verwirklichung anbot. Die ersten nationalen Aktionsprogramme der untersuchten Länder 65 In der Fachliteratur ist diese Unterscheidung nicht immer gegeben. Zum Beispiel nutzt das Wörterbuch Pädagogik die Begriffe Bildungssystem und Bildungswesen als Synonyme. Diese werden definiert als „umfassende Bezeichnung für die Gesamtheit aller Einrichtungen und Veranstaltungen, die der Erziehung und Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen dienen“ (Schaub/ Zenke 1997, S. 82). 66 Hörner stellt folgende Anforderungen an Fachleute eines Bildungssystems für vergleichende Untersuchungen: Kenntnis der Sprache, Geschichte und Kultur des Landes sowie seiner Bildungsprobleme und eine international-vergleichende Sichtweise (vgl. Döbert u. a. 2002, S. 4). 67 Mehr dazu s. Kapitel 1.3. 68 Mehr dazu s. Kapitel 3.1.4. 69 Vgl. Kapitel 3.1.3.
2.1 Forschungsdesign
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entstanden – in Deutschland 2001 und in Ungarn 2003 – in diesem Zusammenhang. Das Abschlussjahr des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Studie, 2005, markiert die `Halbzeit` und gleichzeitig den Neubeginn der LissabonStrategie.70 Die – von der EU schon im Memorandum eingeforderten – nationalen Strategien erschienen in Deutschland (2004) und in Ungarn (2005) quasi parallel zu diesem Neubeginn der Lissabon-Strategie. Die vorliegende Untersuchung erforscht das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ auf zwei Ebenen: auf der Ebene der Europäischen Union und auf der Ebene der ausgewählten Nationalstaaten Deutschland und Ungarn. Das Lifelong Learning-Konzept der Europäischen Union ist – wie die obigen Ausführungen deutlich gezeigt haben – eingebettet in die bildungspolitischen Aktivitäten der Union. Diese sind wiederum stark abhängig von der politischen Geschichte der EU und den aktuellen Geschehnissen der Europapolitik. Diese Zusammenhänge werden in Kapitel 3.1 ausführlich erörtert. Die Verwirklichungsdimension des EU-Konzepts in den untersuchten Mitgliedsländern hängt aber in erster Linie von den politischen Geschehnissen in diesen Ländern ab, wie z. B. der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten oder dem demokratischen Systemwechsel und dem EU-Beitritt in Ungarn. Diese Zusammenhänge werden in Kapitel 3.2 dargestellt. Die Untersuchung der Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen nationalen Bildungspolitik in Kapitel 4 verbindet diese beiden Fäden miteinander. Unter Bildungspolitik wird allgemein „die Gesamtheit aller politischen, finanziellen und organisatorischen Maßnahmen, Aktivitäten und Einflüsse staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Gruppierungen […] [verstanden], die sich auf die Einrichtung, Bewahrung, Gestaltung und Veränderungen des Erziehungs- und Bildungssystems beziehen“ (Massing 1995, S. 8). Sie ist ein Subsystem der jeweiligen Gesellschaftssysteme (Mitter 2006, S. 83), aber die wachsende politische Bedeutung von supranationalen Organisationen und Gremien führt heutzutage zur Minderung der Kompetenzbereiche der Nationalstaaten u.a. in der Bildungspolitik. Diese gilt als ein kontroverses Politikfeld, das bildungspolitische Entscheidungen in hohem Maße konsensabhängig macht. „Bildungspolitik steht in enger Verbindung mit anderen Politikfeldern, mit der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, der Jugend- und Familienpolitik oder der Finanzpolitik, um nur einige zu nennen. Chancengleichheit und Sicherstellung der für die Gesellschaft notwendigen Qualifikationen sind erklärte Ziele der Bildungspolitik in einem demokratischen Staat“ (Krüger-Potratz 2006).
Bildungspolitische Dokumente haben die Funktion, im Bereich der politischen Auseinandersetzung zur Gestaltung des Bildungswesens eine bestimmte Posi70
Vgl. Kapitel 3.1.5.
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
tion argumentativ darzustellen. Sie werden von verschiedenen Institutionen und Organisationen in Auftrag gegeben und publiziert, nicht selten mit Hilfe der (Erziehungs-)Wissenschaft. Sie haben dementsprechend eine doppelte Ausrichtung: „Einerseits müssen sie sich inhaltlich mit pädagogischen Aspekten beschäftigen, da dies die Unterscheidung der einzelnen Politikbereiche ausmacht und der Gegenstand ´Bildung´ die Bildungspolitik von der Umweltpolitik, der Verkehrspolitik oder der Wirtschaftspolitik unterscheidet. Andererseits muss Bildungspolitik als Bestandteil des politischen Systems nach politischen Funktionsprinzipien strukturiert sein, dadurch unterscheidet sie sich von Erziehungswissenschaft oder Schulunterricht. In den bildungspolitischen Dokumenten müssen sich daher sowohl politische als auch pädagogische Aspekte finden lassen“ (Kraus 2001, S. 17).
Das Untersuchungsfeld Bildungspolitik hat ihre eigene Funktion, Struktur, Handlungslogik, Sachzwänge und Zielsetzungen. Sie wird anhand exemplarisch ausgewählter Dokumente untersucht, die als Prototypen der schriftlichen Form von Diskussionsbeiträgen im Untersuchungsfeld angesehen werden können (Kraus 2001, S. 17). Die ausgewählten bildungspolitischen Dokumente 71 stehen dabei exemplarisch für den bildungspolitischen Diskurs in Deutschland und in Ungarn.72 Die Untersuchung bezieht sich dabei ausschließlich auf die Ebene der bildungspolitischen Programmatik und lässt die Frage nach der Bildungspraxis außer Acht. 2.1.3 Thematisierung der Darstellungsperspektive In der vergleichenden Erziehungswissenschaft gibt es zwei denkbare Perspektiven, um Phänomene der Erziehung und Bildung eines Landes zu untersuchen: die Analyse aus der Sicht eines ´Bildungsinländers´, der sein eigenes System aus der Innensicht beschreibt (emic-Perspektive) sowie die Perspektive eines auswärtigen Forschers (etic-Perspektive), der – mit einem besonderen Blick für die Probleme des Vergleichs ausgestattet – das fremde Bildungswesen betrachtet (vgl. Döbert u. a. 2002, S. 4). Die etic-Perspektive definiert ein Phänomen, untersucht es im Kontext der verschiedenen Kulturen und vergleicht diese dann miteinander, stellt also ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest, um die Existenz ihrer universalistischen Grundlage beweisen zu können (Gordon GyĘri 2004, S. 69). Die Außenbetrachtung wird in der vergleichenden Erziehungswissenschaft seit Jullien de Paris besonders geschätzt, weil sie einen unbefangenen und neutralen Blick erlaubt, vorausgesetzt, der Forscher verfügt über differen71
Mehr dazu s. Kapitel 4.1. An dieser Stelle soll ausdrücklich betont werden, dass mit der Fokussierung auf einzelne Dokumente nicht die Bedeutungslosigkeit der übrigen Rezeption des Themas „Lebenslanges Lernen“ behauptet werden soll, sondern die Beschränkung allein aus methodischen Gründen erfolgt. 72
2.1 Forschungsdesign
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zierte Fachkenntnisse. Die emic-Perspektive dagegen versucht die untersuchten Phänomene aus dem jeweiligen kulturellen Kontext heraus zu konstruieren, d.h. diese als kulturelle Konstruktion begrifflich aufzubauen, deren Bedeutung in diesem Kontext zu erschließen und diese Besonderheiten miteinander zu vergleichen (ebd.). Die Konferenz ´Vergleichende Bildungsforschung in der Europäischen Gemeinschaft´73 hält die Kombination von ´Innensicht´ und ´Außensicht´ konstitutiv für die Erzielung gesicherter Erkenntnisse in der Vergleichenden Erziehungswissenschaft: „Die ´Außensicht´ des Komparatisten, die auf einem ´Verfremdungseffekt´ beruhe, ermögliche es, Probleme und Zusammenhänge in anderen Ländern zu identifizieren, die für nationale Forscher gar nicht erst zum Thema würden“ (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 1992, S. 7). Die ´Innensicht´ dagegen beruhe zum einen auf dem größeren Wissensumfang in Bezug auf nationale Gegebenheiten und zum anderen auf einem „intuitiven“ Verständnis von Zusammenhängen, die nur beim Durchlaufen der Bildungseinrichtungen im eigenen Land erworben werden können, nicht aber durch noch so umfangreiche Lektüre eines Außenstehenden (ebd.). Lê Thánh Khôi dagegen betont, dass beide Perspektiven Vor- und Nachteile haben: „To conclude, I would say that neither the ´insiders´ nor the ´outsiders´ have a monopoly on truth. Each party has advantages and disadvantages in its quest for understanding and explanation which requires a wide culture constantly controlled by methods of scientific investigation“ (Lê Thánh Khôi 1992, S. 112). Oskar Anweiler hält die Kombination beider Perspektiven für Analysen über ostmitteleuropäische Bildungssysteme für optimal: „Die Transformation der ehemals staatssozialistischen Bildungssysteme im östlichen Europa und die Probleme einer geistigen Neuorientierung in der Pädagogik lassen sich wissenschaftlich am zuverlässigsten künftig in einer Kombination der Außensicht und der Innensicht behandeln“ (Anweiler 1992, S. 14). Die Kombination der aus der Innensicht und einer mehr distanzierten ´neutraleren´, mit allgemeinen Analysekategorien operierenden ´Außensicht´ (ebd.) soll eine ´Systemblindheit´ verhindern sowie ermöglichen, internationale Fragestellungen adäquater zu formulieren. Bei der vorliegenden Untersuchung ist eine Kombination der beiden Perspektiven in der Person der Autorin möglich: Durch meine Biografie verbinde ich beide Perspektiven in einer Person. In Ungarn bin ich Bildungsinländerin; dort habe ich Grund- und Mittelschule sowie zwei Hochschulen besucht. Ein Jahr lang habe ich in Budapest als Grundschullehrerin gearbeitet. In Deutsch73 Die Konferenz „Vergleichende Bildungsforschung in der Europäischen Gemeinschaft“ wurde vom Institut für Internationale Pädagogische Forschung organisiert und fand vom 4. bis 5. November 1991 in Neu-Isenburg statt.
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
land habe ich meinen Diplomstudiengang absolviert, war jahrelang im Bereich der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit tätig und arbeite an einer deutschen Universität sowie in der Erwachsenenbildung. So kann ich mich (zumindest teilweise) auch in Deutschland als Bildungsinländerin definieren. Die `teilnehmende Beobachtung`, die Erfahrungen in beiden Bildungssystemen, haben den Blick für Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede geschärft. Durch fachspezifische Studien in Ungarn (Lehramt Primarstufe und Sek. I) und in Deutschland (Diplompädagogik und Promotion) habe ich mich mit den Phänomenen Erziehung und Bildung auch aus theoretischer Sicht systematisch auseinandergesetzt. Die aus der biographischen Betroffenheit entstehende ´Gefahr´ der Subjektivität, persönliche Einstellungen und Meinungen in die Arbeit einfließen zu lassen, soll durch die Anwendung wissenschaftlicher Methoden gebannt werden. Mit dem Bewusstsein, dass diese Voreinstellungen nie ganz ausgeschaltet und neutralisiert werden können, soll durch ihre Thematisierung ein höherer Grad an Objektivität erreicht werden.74 2.2 Angewandte Methoden In der vorliegenden Untersuchung wurde folgende mehrdimensionale Herangehensweise gewählt: 1) theoretische Aufarbeitung, Analyse und Bewertung von deutscher und ungarischer Fachliteratur zum Thema, 2) hermeneutische Analyse ausgewählter deutscher und ungarischer bildungspolitischer Dokumente und erziehungswissenschaftlicher Fachzeitschriftenartikel über „Lebenslanges Lernen“, 3) illustrativer internationaler Vergleich75 der Analyseergebnisse. Im Folgenden werden diese Methoden sowie ihre Anwendung in der Untersuchung erläutert. 2.2.1 Verfahren zur Datenerhebung Internationale Literaturrecherche Die Hauptmethode der Datenerhebung war eine internationale Literaturrecherche zum Thema lebenslanges Lernen. Bibliotheksrecherchen in Ungarn wurden in Budapest in verschiedenen Filialen der Hauptstädtischen Bibliothek Szabó Ervin Könyvtár, in der Bibliothek der Wissenschaftsuniversität Eötvös Lóránd 74 75
Vgl. dazu Kapitel 2.1.3 und 2.2.2.1. Vgl. dazu Bereday 1969 sowie Kapitel 2.2.2.2 dieser Arbeit.
2.2 Angewandte Methoden
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(ELTE Egyetemi Könyvtár), in der Bibliothek des Nationalen Instituts für Erwachsenenbildung (Nemzeti FelnĘttképzési Intézet)76 sowie in der Pädagogischen Landesbibliothek und Museum (Országos Pedagógiai Könyvtár és Múzeum) durchgeführt. In Deutschland wurde vor allem in der Bibliothek der Universität Bielefeld und in der Universitäts- und Landesbibliothek in Münster, insbesondere im Europäischen Dokumentationszentrum recherchiert. Durch Internetrecherchen konnten verschiedene bildungspolitische Dokumente und Zeitschriften gefunden sowie Informationen zu den Bildungssystemen abgerufen werden. Expertenbefragung Die Expertenbefragung wurde als ergänzende Datenerhebungsmethode angewandt, um einige Forschungsergebnisse bestätigen zu lassen. Meine Auswahl der zu analysierenden bildungspolitischen Dokumente wurde in Bezug auf das Auswahlkriterium „Bedeutung der Dokumente für die Bildungspolitik des jeweiligen Landes“ in Deutschland von Dr. Heino Apel vom Deutschen Institut für Erziehungswissenschaft, (Programmträger des BLK-Programms Lebenslanges Lernen), und in Ungarn von Dr. Gábor Halász, Leiter des Landesinstituts für Volksbildung (Országos Közoktatási Intézet)77 bestätigt. Fachtagungen Viele Anregungen und Informationen über die aktuellen bildungspolitischen Entwicklungen in den ausgewählten Ländern wurden auf nationalen und internationalen Fachtagungen gesammelt: 2006 fand an der Universität Bielefeld eine deutsch-ungarische Tagung zum Bildungswesen der beiden Länder sowie über ihre Lehrerbildung statt. 78 Die Veranstaltung war Bestandteil einer ERASMUS-Kooperation zwischen den Pädagogischen Fakultäten der Universität Bielefeld und der ungarischen Universität „Szent István“ in Jászberény. Die Diskussionen wurden aufgezeichnet, transkribiert und mit weiteren Beiträgen zu einem Buch zusammengefasst. Dieses wurde auf Deutsch 2007 beim VS Verlag für Sozialwissenschaften mit dem Titel „Lehrerbild und Lehrerbildung – Praxis und Perspektiven der Lehrerausbildung in Deutschland und Ungarn“ veröffentlicht. (vgl. Óhidy/Terhart/Zsolnai 2007). Ein Jahr später erschien die ungarischsprachige Veröffentlichung mit 76 Seit 2007 Nationales Institut für berufliche Bildung und Erwachsenenbildung (Nemzeti Szakképzési és FelnĘttképzési Intézet). 77 Seit 2007 Institut für Bildungsforschung und – entwicklung (Oktatáskutató és FejlesztĘ Intézet). 78 Die Tagung trug den Titel „Lehrerbild und Lehrer(aus)bildung. Praxis und Perspektiven in Deutschland und in Ungarn“ und fand am 31. März 2006 in Bielefeld statt (vgl. http://www.zfl.unibielefeld.de/lehrerbild).
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
dem Titel „Tanárkép és tanárképzés – a tanárképzés gyakorlata és perspektívái Németországban és Magyarországon“, herausgegeben von der Pannon Universität Veszprém. Ebenfalls in Bezug auf die deutsch-ungarische vergleichende Perspektive gab die internationale Konferenz „Erziehung und Bildung im Spiegel der bildungspolitischen Veränderungen in Europa“ am 12. September 2006 an der Szent István Egyetem (Alkalmazott Bölcsésztudományi Kar) in Jászberény/Ungarn Anregungen. Hier habe ich einige Überlegungen zum internationalen Vergleich als Methode vorgetragen, die ich in Bezug auf die vorliegende Untersuchung angestellt habe (Óhidy 2007a). Vom 27. bis 29. September 2007 fand an der Universität Bremen die Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der DGfE mit dem Titel „Strukturen lebenslangen Lernens“ statt. Hier bekam ich wertvolle Inputs vor allem in Bezug auf die europäische bildungspolitische Perspektive des Konzepts. An der Fachtagung habe ich einen Vortrag mit dem Titel „Lebenslanges Lernen und die ungarische Roma-Minderheit“ gehalten, der in einem Tagungsband veröffentlicht wurde (vgl. Óhidy 2009). 2.2.2 Methoden der Auswertung Bei Auswertung und Analyse wurde im ersten Schritt ein hermeneutisch-analytisches Verfahren angewendet. Im zweiten Schritt wurden die dadurch gewonnenen Ergebnisse einem internationalen Vergleich unterzogen und aufgrund eines tertium comparationis mit drei Komponenten ausgewertet. Im Folgenden werden diese Methoden vorgestellt, um die vorliegende Untersuchung methodologisch und methodisch einzuordnen. 2.2.2.1 Das hermeneutisch-analytische Verfahren der Dokumentenauswertung Als Hauptarbeitsmethode bei der Auswertung der ausgewählten bildungspolitischen Dokumente wurde ein hermeneutisch-analytisches Vorgehen als ´verstehendes Verfahren zur Sinnvergewisserung´ (Gudjons 1995, S. 33) gewählt.79 Das hermeneutische Vorgehen – ein „Grundwerkzeug der geisteswissenschaftlichen Erziehungswissenschaft (vgl. Danner 2006) – ermöglicht, in der Analyse der bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Diskussion über „Lebenslanges Lernen“ die theoretischen Sinnzusammenhänge sowie ihre Bedeutung im speziellen gesellschaftlich-politischen Kontext zu ergründen. 79
Der Begriff „Hermeneutik“ ist auf das griechische Wort „hermƝneúein“ zurückzuführen, dessen Bedeutung „aussagen“, „auslegen“ und „erklären“ ist (Meyers 1999, Bd. 9, S. 285).
2.2 Angewandte Methoden
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„Die Frage nach dem Sinn von Texten heißt: Was meinen die Autorinnen/Autoren mit dem, was sie sagen oder schreiben? Was bedeuten Texte? Welchen Zweck verfolgen ihre Urheber in einem bestimmten sozialen und historischen Zusammenhang? Was motiviert die Verfasserinnen und Verfasser zu bestimmten Äußerungen, Formulierungen, Konstruktionsregeln der Textgestalt?“ (Rittelmeyer/Parmentier 2001, S. 1).
In der vorliegenden Untersuchung werden diese Fragen in Bezug auf die Interpretation und Adaptation der in Kapitel 3 vorgestellten EU-Konzepte zum „Lebenslangen Lernen“ gestellt und beantwortet. Es geht dabei um die Rekonstruktion des Diskursstranges „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik: Wie setzen sich die einzelnen Dokumente mit dem Thema auseinander? Welchen Stellenwert haben die EU-Dokumente über „Lebenslanges Lernen“ in der jeweiligen nationalen bildungspolitischen Diskussion? Wie werden die wichtigsten bildungspolitischen EU-Konzepte zum „Lebenslangen Lernen“ interpretiert? Wie weit werden die nationalen Eigenschaften der jeweiligen nationalen Bildungssysteme bei der Interpretation berücksichtigt? Welche Faktoren spielen bei der Adaptation eine Rolle (z. B. Politik, gesellschaftliche und historische Hintergründe, Aufbau und Steuerung der Bildungssysteme etc.)? Joachim H. Knoll bezeichnet das Lesen von internationalen Dokumenten als „leidiges Geschäft, weil das Gemeinte nicht stets und sogleich offenkundig wird“ (Knoll 1994, S. 197). Bedeutung und Sinn der ausgewählten bildungspolitischen Dokumente können durch ein hermeneutisch-analytisches Verfahren adäquat erfasst werden: Bedeutungen sind allgemein erfassbar durch das Sinnverstehen, wobei Sinn einen nicht messbaren und nicht unmittelbar beobachtbaren geistigen Zusammenhang darstellt. Er kann nur durch Auslegen und Interpretieren verstehbar gemacht werden, wobei man zwangsläufig auf den sog. „hermeneutischen Zirkel“ stößt: „Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deshalb eine kursorische Lesung, um einen Überblick des ganzen zu erhalten, der genaueren Auslegung vorausgehen. […] Dies scheint ein Zirkel […]“ (Schleiermacher 1977, S. 97).
In der vorliegenden Untersuchung soll nicht nur ein auf Einfühlung oder unhinterfragter Traditionsübernahme basierendes Sinnverstehen, sondern auch eine geschichtsbewusste ´Sinnkritik´ stattfinden. Diese Sinnkritik lässt sich durch Sprache vermitteln. Sprache wird hier als Instanz der Vergesellschaftung wahrgenommen, die zumindest partiell durch die materielle, aber auch moralische Macht der beteiligten Instanzen, wie z. B. die Europäische Union und die Akteure der nationalen Bildungspolitik, geprägt wird.
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2. Anlage und Methoden der Untersuchung
In Anlehnung an Habermas verstehe ich hier das hermeneutische Problem des Textverstehens als Sonderfall des Gesprächs (vgl. Habermas 1968 und 1971) und gehe davon aus, dass – in Bezug auf die analysierten Dokumente – es mehrere Verständigungsgemeinschaften gibt. Diese werden erstens durch die deutsche und ungarische nationalstaatliche Gemeinschaft, also durch die gemeinsame historische, kulturelle und gesellschaftspolitische Tradition begründet. Zweitens gehe ich hier auch von der Existenz einer europäischen Verständigungsgemeinschaft aus, die einerseits ebenfalls auf gemeinsamer Tradition gründet 80 und sich des Weiteren durch eine ähnliche wirtschaftliche und politische Situation, sprich die europäische Integration, charakterisieren lässt. Diese Verständigungsgemeinschaft befindet sich dementsprechend noch in einem Konstruktionsprozess. Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Verständigungsgemeinschaften aufzeigen zu können, werden die ausgewählten bildungspolitischen Dokumente hier sowohl im nationalen (deutschen oder ungarischen) als auch im europäischen Kontext betrachtet. Dadurch wird angestrebt, den historischen bzw. gesellschaftspolitischen Sinn des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in diesen verschiedenen Verständigungsgemeinschaften miteinander zu vergleichen. Das Konzept der EU fungiert dabei als tertium comparationis. Deshalb wird der Vergleich auf mehreren Ebenen gewährleistet: neben dem Vergleich der deutschen und der ungarischen Adaptationen werden auch die Gemeinsamkeiten der jeweiligen nationalen Konzepte zum EU-Konzept bzw. die Unterschiede dazu deutlich. In Bezug auf das hermeneutische Verfahren nimmt Habermas an, dass wir im Textverstehen nicht ohne weiteres den ´Sinn der Sache´ annehmen müssen. Obwohl wir in einer sprachlich strukturierten Gemeinschaft leben, kommunizieren wir dort aber als ´individuierte Einzelne´. Die realen Bedingungen der Vergesellschaftung rufen im deutenden Individuum systematisch und ´notwendig´ Bewusstseinsformen, Deutungen und Weltbilder hervor, mit deren Hilfe sich das Individuum in deren Verhältnissen zurechtfinden kann, die ihm aber zugleich die Einsicht in die tatsächlichen Strukturen verschleiern und verwehren (vgl. Habermas 1968, 1971). Zwar kann dieses Phänomen des ´notwendig falschen Bewusstseins´ auch in dieser Untersuchung nicht ausgeschaltet werden. Aber durch die Thematisierung der biografischen Zusammenhänge der Autorin81 80 Man spricht diesbezüglich über eine gemeinsame europäische Sozialgeschichte (vgl. Lichtenberg 2005). Wie José Ortega y Gasset formulierte: „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes, so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen…Vier Fünftel unseres inneren Habens sind europäisches Gemeingut“ (zitiert nach Thiede 2000, S. 9). 81 Vgl. Kapitel 2.1.3.
2.2 Angewandte Methoden
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soll dies zumindest bewusst gemacht werden. In diesem Sinne sind die Ergebnisse dieser Untersuchung immer als meine subjektive Interpretation zu verstehen, als meine – u. a. biografisch bedingte – gegenwärtige Stellungnahme zum Geltungsanspruch jenes Sinns. Um das erkenntnisleitende Forschungsinteresse bei der Auswertung der ausgewählten bildungspolitischen Dokumente nachvollziehbar zu gestalten, wurde ein Fragenkatalog als Analyseleitfaden entwickelt. Dieser Fragenkatalog hat die – für die Erziehungswissenschaft z. B. von Wolfgang Klafki ausgearbeiteten – methodischen Grundsätze hermeneutischer Interpretation weitgehend beachtet (vgl. Klafki 1971 in Rittelmeyer/Parmentier 2001, S. 132–148). 2.2.2.2 Der internationale Vergleich Der Vergleich gilt im Alltagsverständnis als eine der wichtigsten Methoden der Erkenntnisgewinnung. Als eine Verbindung zwischen „analysierenden und ordnenden Tätigkeiten“ (Berger 1976, S. 99) ist er eine wichtige geistige Operation, ein allgemein menschliches Verfahren der Orientierung. Schon das Erkennen von bekannten Phänomenen geschieht dadurch, dass das Gehirn deren Bild mit einem gespeicherten Abbild vergleicht, also auf Ähnlichkeiten und Unterschiede untersucht (analytische Tätigkeit). Neue Phänomene werden aufgrund dieses Vergleichsprozesses in verschiedene Kategorien eingeordnet. Die Kategoriebildung (ordnende Tätigkeit) geschieht ebenfalls mit Hilfe des Vergleichs, nämlich durch die Abstraktion von Ähnlichkeiten und Unterschieden. „Ist doch jede Generalisation das Ergebnis von einer Vergleichung“, stellt Dilthey fest (zitiert nach Berger 1976, S. 11). Dementsprechend nennt Jürgen Helmchen den Vergleich einen zentralen „Bestandteil des Postulats von der Universalität der Erkenntnis im Raum und in der Zeit“ (Helmchen 2003, S. 199). In systematischer und kontrollierter Form ist der Vergleich auch eine Methode wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung. Im systematischen Vergleich werden die Phänomene immer nach einem Kriterium miteinander verglichen. Dieses auf einer höheren Denkebene liegende ´tertium comparationis´ ist die Grundlage, nach der „die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit der Merkmale zweier oder mehrerer Gegenstände oder Anschauungen zu einem übergeordneten Gemeinsamen beurteilt wird“ (Berger 1976, S. 99). Die wichtigsten Merkmale des wissenschaftlichen Vergleichs sind folgende: „1. Im Vergleich werden zwei oder mehr Gegebenheiten miteinander konfrontiert in der Absicht, Unterschiede (und Übereinstimmungen) sichtbar zu machen, gegebenenfalls sie auch zu deuten und zu erklären. 2. Vergleiche geschehen stets im Hinblick auf etwas, sind gezielt.
56
2. Anlage und Methoden der Untersuchung
3. Vergleiche sehen voraus, dass die zu vergleichenden Gegebenheiten auf das Vergleichsziel hin vergleichbar sind, d. h. eine verwandte Struktur, gemeinsame Funktion oder einen gleichgerichteten ´Sinn´ haben“ (Seidenfaden 1966, S. 13).
Den Vorteil von vergleichenden Untersuchungen gegenüber nicht-vergleichenden fasst Franz Pöggeler prägnant zusammen: „Denn wo verglichen wird, relativiert man, stellt Beziehungen und Interdependenzen fest, entdeckt Funktionszusammenhänge und evaluiert ein Untersuchungsphänomen umsichtiger, als wenn man dieses isoliert betrachtet“ (Pöggeler 1981, S. 21). Seit Marc-Antoine Jullien de Paris (1775–1848) setzt auch die Erziehungswissenschaft den wissenschaftlichen Vergleich als Methode verstärkt ein und sieht dessen Aufgabe in erster Linie darin, „Tatsachen und Beobachtungen zu sammeln […] mit der Maßgabe, sie aneinander zu reihen, sie zu vergleichen, um daraus gewisse Grundsätze und bestimmte Regeln abzuleiten“ (Jullien de Paris 1817/1945, S. 15). Wolfgang Schneider unterscheidet dabei zwischen vertikalen und horizontalen Vergleichen: Erstere beschreibt er als Vergleiche von pädagogischen Sachverhalten aus verschiedenen Zeiten eines Volkes und rechnet zu dem Tätigkeitsbereich der historischen Pädagogik. Letztere dagegen liegt vor, „wenn die komparative Methode auf die Gesamtpädagogik oder irgendwelche Teilbezirke aus ihr (einschließlich der gestaltenden Faktoren) zweier oder mehrerer Völker bzw. Nationen angewandt wird“ (Schneider 1961, S. 87). Diese Art von Vergleich gehört in den Tätigkeitsbereich der vergleichenden Erziehungswissenschaft, deren Forschungsziele Robinsohn folgendermaßen beschrieb: „Das Ziel der vergleichenden Analyse ist im weitesten Sinne, aus den gewonnenen Erkenntnissen Folgerungen für Theorie und Praxis von Erziehung und Bildung zu gewinnen. Im Hinblick auf diese Intention werden Probleme identifiziert und diagnostiziert, Antworten hypothetisch formuliert und durch systematische Untersuchung regelmäßiger Zusammenhänge im Felde variierender Systeme überprüft und erhärtet: so werden rationale Entscheidungen unter Berücksichtigung vorausschaubarer Konsequenzen ermöglicht“ (zit. nach Berger 1976, S. 20).
Roselló beschreibt zwei Ebenen des erziehungswissenschaftlichen Vergleichs: die deskriptive Ebene mit der Zielsetzung der Tatsachenerkenntnis und die spekulative Ebene, in der auch die Ursachen von pädagogischen Tatbeständen untersucht werden (vgl. Schneider 1961, S. 86). Die vorliegende Untersuchung gehört in die zweite Kategorie. Die internationale Orientierung war von Anfang an und ist heute noch konstitutiv für die Disziplin vergleichende Erziehungswissenschaft. Dabei wird unter dem Begriff „international“ nicht nur ein geografisches Phänomen verstanden, vielmehr werden auch soziale, kulturelle, historische und bildungspolitische Aspekte miteinbezogen. Internationale Vergleiche in der Pädagogik haben zum Ziel, „nationale Spezifitäten herauszuarbeiten, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Problemlagen in nationalen Bildungssystemen feststel-
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2.2 Angewandte Methoden
len zu können“ (Allemann-Ghionda 2004, S. 73). Internationale Vergleiche in der Erziehungswissenschaft bezwecken, „dass man Vor- und Nachteile des eigenen Erziehungssystems erkennt und dieses durch Übernahme ausländischer Erkenntnisse und Vorbilder zu bereichern versucht“ (Pöggeler 1981, S. 17). Wenn komplexe soziale Systeme zum Untersuchungsgegenstand des Vergleichs werden, müssen strukturgleiche Phänomene in unterschiedlichen sozialen Kontexten gedeutet werden. Auf der praktischen Ebene ist das größte Problem die „Internationalisierung“ der Ergebnisse, nämlich einerseits Daten und Kategorien aus unterschiedlichen nationalen (sozialen und kulturellen) Kontexten international vergleichbar zu machen, andererseits die Kategorien des Vergleichs nicht an ethnozentrische Perspektiven zu binden, sondern international gültig zu gestalten (vgl. Gutmann/Mampel 1986).82 Bei der vorliegenden Studie wurde aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes ein sorgfältig durchgeführter illustrativer Vergleich angestrebt.83 Wolfgang Hörner unterscheidet zwischen vier Funktionen des Vergleichs, nämlich der idiografischen, der experimentellen, der evolutionistischen und der melioristischen Funktion. Diese gehen entweder von einem rein wissenschaftlichen Interesse aus, wie idiografische und experimentelle Betrachtungen, oder sie dienen praktisch-politisch motivierten Interessen, wie evolutionistische und melioristische Studien (vgl. Hörner 1996 und 2004). Die vier Funktionen lassen sich durch die Kreuzung der beiden Gegensatzpaare „theoretisches/praktisches Interesse“ und „Besonderheit/Universalität“ systematisieren (vgl. Abbildung 1). Besonderheit
Universalität
Theoretisches Interesse
idiographisch
experimentell
Praktisches Interesse
melioristisch
evolutionistisch
Abbildung 1: Funktionen des Vergleichs (vgl. Hörner 2004, S. 234)
82
In Bezug auf die vorliegende Untersuchung s. dazu noch Kapitel 1.2. Bereday unterscheidet zwischen „balanced comparison“ und „illustrative comparison“ (Bereday 1969, S. 9). Ersterer meint einen äußerst präzisen Vergleich, bei dem die untersuchten Phänomene der Länder Schritt für Schritt ständig aufeinander bezogen und dadurch „ausbalanciert“ werden. Der illustrative Vergleich gilt als weniger präzise, eignet sich aber besser für die Darstellung von Phänomenen, die komplexerer Art sind. 83
58
2. Anlage und Methoden der Untersuchung
Die idiographische Funktion lässt sich bis zu Jullien de Paris zurückverfolgen und ist damit historisch gesehen die älteste Funktion vergleichender Untersuchungen. Sie entspricht einem wissenschaftlichen Interesse, „das je Besondere, Einmalige in den untersuchten Phänomenen zu beschreiben und zu erklären“ (vgl. Kodron u. a. 1997, S. 70). Die Besonderheiten sollten dabei aus dem Kontexteinfluss des untersuchten Themas, z. B. des jeweiligen Bildungssystems erklärt werden.84 Emile Durkheim (1858–1917) propagierte – ähnlich wie bei naturwissenschaftlichen Experimenten – die Anwendung einer experimentellen Funktion internationaler Vergleiche in den Sozialwissenschaften. Der Vergleich erhält dabei die Funktion eines indirekten Experiments, nämlich die der Generierung, Überprüfung und Präzisierung von Hypothesen (vgl. Berstecher 1972). Das Vergleichsobjekt wird dabei als spezifisches Untersuchungsfeld mit einer besonderen Konstellation von Variablen betrachtet. Hörner stellt das naturwissenschaftliche Experiment (das Variablen isoliert) und diesen "quasi-experimentellen Vergleich" (der bestimmte Variablen privilegiert) gegenüber, indem er Berstechers Unterscheidung übernimmt (vgl. Hörner 1997).85 Die evolutionistische Funktion strebt aus einem bildungspolitisch motivierten Interesse heraus an, bestimmte Entwicklungstendenzen und -trends auf der internationalen Ebene aufzuzeigen. Dabei wird diesen Entwicklungen eine Eigendynamik zugeschrieben, welche die Gefahr birgt, dass der Vergleich "als bloße politische Argumentationshilfe zur Durchsetzung eigener bildungspolitischer Reformvorstellungen missbraucht wird" (Hörner 1993, S. 9). Die melioristische Funktion entstammt ebenfalls einem bildungspolitischen Interesse und dem Wunsch, aus Erfahrungen von Anderen zu lernen, um das eigene Bildungssystem bzw. die eigene Bildungspraxis zu verbessern. Dies reicht vom naiven "Borrowing" ausländischer Modelle über ein "reflektiertes Einsetzen des Auslands als ´Argument´ für die eigene Reformdiskussion [...] bis hin zur wissenschaftlichen Aufbereitung von Daten über Strukturen und Entwicklungen anderer Bildungssysteme im Hinblick auf bildungspolitische Entscheidungshilfe" (ebd.). Auch Pecherski differenziert die Funktionen und Intentionen vergleichender Untersuchungen in vier Kategorien. Er unterscheidet zwischen einer wissenschaftlichen Erkenntnisfunktion, einer Informationsfunktion, einer Inspirationsfunktion und einer bildungspolitischen Funktion (vgl. Pecherski 1986). Die wissenschaftliche Erkenntnisfunktion strebt durch die Erweiterung der empirischen 84
Hörner betont die Aktualität idiografischer Untersuchungen und hält die Gegenüberstellung von quantitativen Daten ohne ihre Einordnung in den jeweiligen sozio-kulturellen Kontext für nicht ausreichend (vgl. Hörner 1993). 85 "Daher kann mit gutem Recht behauptet werden, dass das klassische Experiment gleiche Objekte verschiedenen, isolierbaren Bedingungen aussetzt, während im internationalen Vergleich im günstigsten Falle ähnliche Objekte verschiedenen Bedingungskomplexen ausgesetzt sind, deren einzelne Bestandteile sich in der Regel nicht befriedigend isolieren lassen" (Berstecher 1970, S. 31).
2.2 Angewandte Methoden
59
Datenbasis einen Gewinn an Wissen über Regelmäßigkeiten der Entwicklung des Bildungswesens an. Die Informationsfunktion bedeutet die Eruierung von seriösen Informationen über das Funktionieren, die Wirksamkeit von Schulsystemen sowie ihrer Rahmenbedingungen und Reformprozesse. Die Inspirationsfunktion beruht auf der Gewinnung von Anregungen zur Verbesserung des eigenen Bildungssystems. Die bildungspolitische Funktion basiert auf einer Diagnose der Wirkungszusammenhänge und Faktoren zur Steigerung bzw. Hemmung der Effektivität des Bildungssystems. Bei der vorliegenden Untersuchung werden mehrere Intentionen gleichzeitig verfolgt: Die deskriptiven Beschreibungen der Arbeit, z. B. in Kapitel 3, stehen im Dienst – innerhalb der wissenschaftlichen Erkenntnisfunktion – der idiographischen Funktion. Dementsprechend wird die Frage nach den Besonderheiten der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik gestellt. Diese Frage schließt selbstverständlich auch die komplementäre Frage nach den Ähnlichkeiten mit ein. Die bildungspolitische Funktion der Studie lässt sich in ihrer europapolitischen Zielsetzung finden. Das ungarische Bildungssystem unterscheidet sich bezüglich Steuerung, Aufbau und Struktur sowie Finanzierung vom deutschen Bildungswesen. Die Beschreibung und Analyse dieser Daten dienen demzufolge der Informationsfunktion. Darüber hinaus wird auch eine evolutionistische Intention verfolgt, indem bezüglich der Entstehung und Entwicklung des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ internationale Trends und Tendenzen aufgezeigt werden. Die Inspirationsfunktion und die melioristische Funktion werden in dieser Arbeit eher kritisch betrachtet: Sowohl das Anstreben einer Verbesserung der Adaptation des Konzepts „Lebenslangen Lernen“ durch den Vergleich als auch die Übertragung von ungarischen Modellen auf deutsche Verhältnisse (oder umgekehrt) werden wegen landesspezifischer Gegebenheiten nur sehr bedingt für möglich gehalten. Die experimentelle Funktion des internationalen Vergleichs findet hier explizit keine Verwendung. 2.2.2.3 Komponenten des Tertium Comparationis Die Auswertung und Analyse erfolgt in verschiedenen Arbeitsschritten und leistet in der Ergebnisdarstellung einen systematischen Vergleich über eine Juxtaposition86 hinaus. Um der Komplexität des Forschungsthemas gerecht zu wer86
Die Juxtaposition ist nach Pecherski eine Vorstufe des Vergleichs: die Komparation, der Vergleich selbst, führt von einem reinen Faktenvergleich im Bildungswesen zur Feststellung bestimmter Regelmäßigkeiten in der Entwicklung des Bildungswesens (Pecherski 1986, S. 151). Der Vergleich
60
2. Anlage und Methoden der Untersuchung
den, wurde für die Untersuchung ein adäquates tertium comparationis mit drei Komponenten gewählt: 1) Die erste Komponente bildet das Konzept „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union. Sie dient als Grundlage des Vergleichs, d.h. die jeweiligen nationalen Deutungen werden aus der europäischen bildungspolitischen Perspektive betrachtet. Es wird davon ausgegangen, dass diese Komponente für den Großteil der Konvergenzen der deutschen und ungarischen Adaptation verantwortlich zeichnet. Dewe und Weber begründen die zunehmende Wichtigkeit des Konzepts als tertium comparationis für vergleichende Untersuchungen wie folgt: „Nicht nur das Lernen Erwachsenener, sondern Lernen generell hat eine transnationale Dimension (Hervorhebung im Original), da Güter-, Dienstleistungs-, Finanz-, Arbeits- und Telekommunikationsmärkte entweder Globalisierung vorantreiben oder selbst globalisiert werden. Der geografische und institutionelle Raum Europäische Union, ganz zu schweigen die einzelnen Nationalstaaten, ist hierbei nur ein relativ kleiner Akteur in der Welt. In der globalen Wahrnehmung erscheint es als notwendige Bedingung, Erwachsene auf den europäischen Raum vorzubereiten, was nicht nur nationalstaatlich, sondern auch supranational geschehen muss. Damit wird lebenslanges Lernen als Untersuchungs- und Vergleichsobjekt, d. h. tertium comparationis (Hervorhebung im Original) auch im internationalen Kontext immer relevanter“ (Dewe/Weber 2007, S. 94).
2) Um die Adaptation des Konzepts auf der nationalen Ebene der zwei ausgewählten Länder vorstellen zu können, wird zunächst die historische Entwicklung ihrer Bildungssysteme nach 1945 skizziert. Darauf folgt eine Beschreibung der aktuellen Lage, begrenzt auf die Aspekte Steuerung, Verwaltung und Kontrolle, Struktur und Aufbau sowie Finanzierung. Diese überblickartigen Länderstudien – basierend auf den Auswahlkriterien aufgrund des most-different-Prinzips – bilden die zweite Komponente des tertium comparationis und zeichnen für die Divergenzen der jeweiligen nationalen Adaptation des Konzepts verantwortlich. 3) Die Adaptation des Konzepts wird in drei Bereiche unterteilt: a) Zunächst wird die Frage nach der Wahrnehmung der wichtigsten bildungspolitischen Konzepte der EU zum Thema lebenslanges Lernen in der nationalen Bildungspolitik gestellt. b) Im nächsten Schritt wird untersucht, wie die wichtigsten bildungspolitischen EU-Konzepte in Deutschland und in Ungarn interpretiert werden. c) Danach werden diejenigen Faktoren aufgezeigt, die die nationale Adaptation in den beiden Ländern beeinflussen. selbst besteht aus der systematischen Analyse der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede.
2.2 Angewandte Methoden
61
Diese drei Bereiche bilden die inhaltliche Grundlage für die Dokumentenanalyse und damit auch die dritte Komponente des tertium comparationis. Die Strukturierung des Vergleichs auf der Grundlage dieser drei Komponenten soll einerseits die Beantwortung der Forschungsfragen erleichtern, andererseits soll sie die Generierung von Annahmen in Bezug auf die weitere Entwicklung der deutschen und ungarischen Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ unterstützen. Grundlegend für meine Überlegungen ist die Annahme, dass die Mitgliedsstaaten der Union ihre (Bildungs)Politik, sowie ihre Institutionen und Strukturen meistens nicht einfach den EU-Vorgaben anpassen, sondern sich bei der Adaptation des EU-Konzepts immer an den eigenen nationalen Interessen orientieren. Schriewer verweist bei der Übernahme von pädagogischen Konzepten auf der nationalen Ebene auf Filter, die die Adaptation u. a. durch strukturelle Bedingungen, Weltanschauungen, philosophische Traditionen und ideologische Systeme beeinflussen (vgl. Schriewer 2003). Auch Wolfgang Mitter betont, dass man trotz der `Unterwanderung und Abbau der Bildungssouveränität der Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union` weiterhin mit der starken Bedeutung der nationalen Komponente – durch die Bildungsbesonderheiten, aber auch durch die Betonung nationaler Bildungssouveränitäten – zu tun haben wird (vgl. Parreira do Amaral 2007, S. 297). Dementsprechend wird das Konzept in Deutschland und Ungarn aus politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Gründen etc. unterschiedlich umgesetzt. Dies ist die leitende These, die der vorliegenden Untersuchung zu Grunde liegt. Die Feststellung scheint zunächst trivial, ist aber die Grundlage jeglicher Vergleiche.
3 Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union und die Rahmenbedingungen seiner Adaptation in Deutschland und Ungarn
In diesem Kapitel werden erstens das Konzept „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union und zweitens die Rahmenbedingungen seiner Adaptation in den ausgewählten Ländern vorgestellt. Wie in Kapitel 2.2.2.3 dargelegt, geht es dabei um zwei Komponenten des tertium comparationis sowie um die zwei Seiten des Vergleichs: Der Grundannahme der Studie zufolge steht das EU-Konzept für die konvergierende, die nationalen Rahmenbedingungen stehen für die divergierende Dimension. 3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union „Lebenslanges Lernen“ fungiert heute als Überbegriff von Bildungsreformen in den Mitgliedsstaaten der Union (vgl. Field 1998 und 2000, Griffin 2001, Green 2002, Kurth 2006). Die EU beeinflusst nicht nur den Inhalt, sondern auch die Verwirklichung des Konzepts maßgeblich. Aus diesem Grunde wird sie im Folgenden als bildungspolitischer Akteur vorgestellt. Zunächst werden die bildungspolitischen Handlungsstrategien der EU aufgezeigt. Darauf folgt eine Vorstellung der EU-Organe und Institutionen und ihrer Beiträge zum Konzept „Lebenslanges Lernen“. Anschließend werden die bildungspolitischen Aktivitäten der EU vorgestellt. Um die Entwicklung im gewählten Untersuchungszeitraum 1996–2005 deutlicher darstellen zu können, werden diese Überlegungen mit einem Rückblick auf den Zeitraum 1993–1996 sowie einem Ausblick nach 2005 ergänzt. Die Darstellung erfolgt in drei Schritten: Zunächst werden die gesellschaftspolitischen Hintergründe innerhalb der Europäischen Union skizziert. Dann werden die bildungspolitischen Aktivitäten der EU, vor allem in Bezug auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ aufgezeigt. Zum Schluss werden die konkreten bildungspolitischen Dokumente87 und Aktionen der EU zur Verwirk87 Die originalen englischsprachigen Dokumente der Europäischen Union sind verfügbar unter: http: //europa.eu/documents/index_en.htm. [Stand 4. 8. 2008]. Zur deutschsprachigen Version der hier vorgestellten EU-Dokumente vgl. http://europa.eu/documents/index_de.htm oder http://erwachse-
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
lichung des Konzepts aufgelistet. Es werden dabei diejenigen Dokumente ausführlicher vorgestellt, die eine nachweisbare Wirkung auf die in Kapitel 4 untersuchten deutschen und ungarischen bildungspolitischen Dokumente hatten. Der Leitfaden für die Auswertung dieser Dokumente wurde in Anlehnung an die Untersuchung von Christiane Gerlach (Gerlach 2000) erstellt und besteht aus drei Teilen88: 1) Entstehungszusammenhänge Um das jeweilige Dokument zeitlich und inhaltlich in den Gesamtzusammenhang einzuordnen, wird im ersten Schritt dessen Auswahl begründet sowie seine Entstehungsgeschichte kurz dargestellt. 2) Aufbau und Inhalt Im zweiten Schritt erfolgt eine Beschreibung inhaltlicher und struktureller Aspekte des Dokuments. 3) Wesentliche Tendenzen Im dritten Schritt werden die Schwerpunkte und wesentlichen Tendenzen herausgestellt, die das jeweilige Dokument charakterisieren. 3.1.1 Die Europäische Union als bildungspolitischer Akteur Mit dem Vertrag von Maastricht entstand die Europäische Union als politischer und wirtschaftlicher Zusammenschluss ihrer Mitgliedsstaaten und verkündete ihren politischen Vertretungsanspruch für ganz Europa. Die Bundesrepublik Deutschland gehörte zu den zwölf Staaten89, die 1992 den Maastrichter Vertrag über die Europäische Union unterschrieben.90 Ungarn trat im Jahre 2004 mit weiteren neun Ländern91 der Europäischen Union bei. Erst mit diesem Akt der nenbildung.at/fachthemen /lebenslangeslernen/dokumente_eu.php [Stand 4. 8. 2008]. Zur ungarischsprachigen Version der hier vorgestellten EU-Dokumente vgl. http://europa.eu/ documents/ index_ hu.htm. [Stand 4. 8. 2008] und Harangi u. a. 1998 sowie Sz. Tóth 2001 und 2004. 88 Diese dreiteilige Darstellung wird auch in Kapitel 4 bei der Analyse der ausgewählten deutschen und ungarischen bildungspolitischen Dokumente angewendet. Auch die Analyse der EU-Dokumente zum Thema lebenslanges Lernen erfolgt dort nach demselben Analyseleitfaden wie hier. 89 Neben Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Dänemark, Großbritannien, Irland, Griechenland, Spanien und Portugal. Mehr zum Thema vgl. Schmuck/Schröder 1995. 90 Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Länder wurden die „neuen Bundesländer“ der ehemaligen DDR 1990 „automatisch“ Mitglied der EG und später der EU. Mehr zum Thema vgl. Schmidt 2005. 91 Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien und Zypern. Anfang 2007 wurden auch Bulgarien und Rumänien Mitglieder.
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
65
sog. Osterweiterung wurde die politische Teilung Europas entlang der Grenzen von 1945 de jure überwunden. Laut Maastrichter Vertrag ruht die Europäische Union als „übergreifender Dachverband auf drei Säulen: Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaften, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik“ (Fritzler/Unser 1998, S. 27). Zu ihren deklarierten Zielen gehören „- die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und durch Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf längere Sicht auch eine einheitliche Währung nach Maßgabe dieses Vertrages umfasst“ (Vertrag von Maastricht 1992/1998, S. 20).
Die historisch bedingte Dominanz der wirtschaftlichen Dimension ist im Gesetzestext unschwer zu erkennen. Michael Schemmann betont, dass der Verweis auf die ausgewogene Entwicklung bzw. die Schaffung gleicher oder zumindest ähnlicher Lebensbedingungen innerhalb der Union und die dadurch erhoffte Stärkung des Zusammenhalts ebenfalls eine zentrale Grundlage der EU-Politik darstellt (Schemmann 2007, S. 106). Für den bisherigen Ablauf des europäischen Integrationsprozesses war insgesamt einerseits das Streben nach einer Vereinigung auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene kennzeichnend. Andererseits war die ökonomische Dimension die einzige Ebene, auf der die beteiligten Länder bisher einen Konsens finden konnten. Der Europäisierungsprozess ist ein sehr komplexes Phänomen, bei dem Ursache und Wirkung, strukturelle Zwänge, die Wirkung von gesellschaftlichen Akteuren sowie die symbolischen und in konkreten institutionalisierten Taten und Prozessen aufzeigbaren Elemente nicht scharf voneinander getrennt und deswegen nicht eindeutig identifiziert werden können. Der Prozess der Europäisierung verbreitet sich ungleichmäßig und erreicht die verschiedenen Regionen und gesellschaftlichen Bereiche zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß. Man kann diesen Prozess sowohl als historische Entwicklung wie auch als kulturelle Wirkung beschreiben, die in institutionellen oder politischen Anpassungsprozessen nachvollzogen werden kann. Seine Auswirkungen lassen sich auch im Bereich Bildungspolitik nachvollziehen (vgl. Halász 2006). Allerdings bedeutet die Komplexität der Europäisierung auch, dass diese nicht auf eine lineare Beeinflussung der nationalen Bildungspolitik vonseiten der europäischen Gremien vereinfacht werden kann (Halász 2006, S. 13). Vielmehr findet ein Zusammenspiel zwischen nationalen und supranationalen Interessen bzw. Akteuren statt. Durch die Schwerpunktsetzung der vorliegenden Untersuchung wird die Aufmerksamkeit auf den Einfluss der europäischen Politik auf die (bildungs)politische Diskussion und das Handeln der Mitgliedsstaa-
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
ten gelenkt. Die bildungspolitischen Aktivitäten der EU vollziehen sich in einem, durch das sog. Subsidiaritätsprinzip sowie das Harmonisierungsverbot deutlich begrenzten Rahmen. Dadurch sind für diese Aktivitäten eine Spannung zwischen nationalen und gesamteuropäischen Interessen, zwischen Einheitlichkeit und Vielfältigkeit charakteristisch. Subsidiarität bedeutet den rechtlichen Grundsatz, wonach eine gesellschaftliche oder staatliche Aufgabe – soweit möglich – von der jeweils kleineren bzw. unteren Einheit wahrgenommen wird. Sie ist im Maastrichter Vertrag (Art. 5.) als allgemeine Maxime aufgenommen und im Vertrag von Amsterdam stärker betont worden, um die Verteilung der Regelungszuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedsstaaten zu bestimmen und dabei einen übertriebenen europäischen Zentralismus zu verhindern (vgl. Meyers 1999, Bd. 22, S. 51). Das Harmonisierungverbot meint den Ausschluss jeglicher Harmonisierung in Bezug auf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsländer. Dieses Prinzip wurde auf Druck Deutschlands in den Maastrichter Vertrag aufgenommen und auch im Vertrag von Amsterdam bestärkt. Die Europäische Union bildet völkerrechtlich gesehen eine „Ordnung sui generis, die zwischen der des klassischen Nationalstaates und der internationalen Ordnung des Völkerrechts loziert ist und mit dem Terminus `supranational` beschrieben werden kann“ (Heinig 2007, S. 60). Dies bedeutet, dass bestimmte europäische Rechtsakte, wie z. B. Verordnungen unmittelbar in allen Mitgliedsstaaten wirksam werden können, also keines nationalen Umsetzungsaktes mehr bedürfen. Die wichtigste Frage ist: Was passiert, wenn diese Rechte mit den nationalstaatlichen Rechten kollidieren? Im Sinne des Völkerrechtes gebührt in diesen Fällen dem Europarecht der sog. Anwendungsvorrang, weil es innerhalb der hierarchischen Ordnung des Rechts (in der sog. Normenpyramide) ganz oben an der Spitze steht.92 Dieser Vorrang des Europarechts ist aber nicht in allen Mitgliedsstaaten selbstverständlich: In Deutschland zum Beispiel gelten völkerrechtliche Verträge als einfaches Gesetzesrecht im Rang unter der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert das Prinzip des Anwendungsvorranges, nur in den Fällen in denen das Europarecht mit dem deutschen Verfassungsrecht kollidiert, beharrt es auf einer eigenen Letztentscheidungskompetenz (vgl. ebd. S. 61).93 Das Europarecht kennt neben den unmittelbar anwendbaren Verordnungen auch umsetzungsbedürftige Rechtsakte – sog. Richtlinien, die von den Mitgliedsstaaten verpflichtend umgesetzt werden müssen. In Bezug auf „Lebenslan92 Heinig zufolge strebte der Europäische Gerichtshof danach, durch die konsequente Durchsetzung dieses Prinzips in den ersten Jahrzehnten des Integrationsprozesses die Mängel an politischer Einheit und an sozio-historischer, kultureller Homogenität auszugleichen (Heinig 2007, S. 61). 93 Mehr dazu vgl. Isensee 1993.
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
67
ges Lernen“ gibt es keine verpflichtenden Rechtsakte der Union, das Konzept wird nicht durch die sog. Gemeinschaftsmethode zu verwirklichen versucht. Vielmehr folgt die Union dem Modell der Regierungszusammenarbeit außerhalb des Europarechtes. Hier geht es eher um „einen `intergouvernementalen` Kooperationszusammenhang, dessen output jeweils in den Mitgliedsstaaten umgesetzt und implementiert werden muss“ (ebd. S. 63). Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ ist dadurch ein wichtiger Teil des Europäisierungsprozesses geworden: Es ist sein Mittel und Ergebnis zugleich. 3.1.1.1 Bildungspolitische Handlungsstrategien der EU Obwohl die EU über keine eigenen bildungspolitischen Befugnisse verfügt, übt sie einen immer stärkeren Einfluss auf die Bildungspolitik ihrer Mitgliedsländer aus. Dabei stehen ihr aufgrund des Harmonisierungsverbotes – wie oben dargestellt – `harte` legislatorische Instrumente wie Verordnungen und Richtlinien94 nicht zur Verfügung. Michael Schemmann identifiziert insgesamt vier Dimensionen, in denen die EU die Bildungspolitik ihrer Mitgliedsländer beeinflusst: a) die finanzielle Dimension, b) die „peer pressure“-Methode, c) die Beratungs- sowie d) die symbolische Dimension (vgl. Schemmann 2007): a) Zu den finanziellen Mitteln der EU zählt Schemmann erstens die Sozialfondsaktivitäten der EU und zweitens – als Sonderform – die Bildungsprogramme wie z. B. Socrates und Leonardo.95 Bei Ersterem geht es ausdrücklich um die Anpassung von nationalen Politikorientierungen: „Die Unterstützung wird gewährt, wenn bestimmte Voraussetzungen und Auflagen erfüllt sind. Dies setzt jedoch wiederum eine Anpassung der nationalen bildungspolitischen Entwürfe an die internationalen Vorgaben voraus“ (Schemmann 2007, S. 241). Schemmann hat anhand der Sozialfondsaktivitäten der EU aufgezeigt, dass die geforderte Kofinanzierung vonseiten der Nationalstaaten als Vehikel zur Anpassung und Harmonisierung ihrer Politikorientierungen wirkt. Dies lässt sich in den Regierungsprogrammen, z. B. in Bezug auf das 94 Es gibt zwar einige juristische Regelungen, die in der Bildungspolitik eine eher geringere Rolle spielen. Meistens geht es dabei nicht um direkte bildungspolitische Entscheidungen, sondern um Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofes, die sich auf andere Bereiche beziehen, wie Menschenrechte, Arbeitsmarkt und Handel (vgl. Halász 2003b). 95 Seit 2007 sind alle Bildungsprogramme der EU unter dem Namen „Lebenslanges Lernen“ gebündelt. Mehr dazu vgl. Kapitel 3.1.4.2.
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Konzept „Lebenslanges Lernen“ sehr deutlich nachvollziehen.96 Gábor Halász betont auch die Rolle der strukturellen Entwicklungspolitik der Union durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, der inzwischen ebenfalls bildungspolitische Elemente enthält (vgl. Halász 2003b). Bei den Bildungsprogrammen handelt es sich um eine Sonderform der Förderung, einerseits weil die Adressaten nicht die jeweiligen Regierungen, sondern Institutionen und Einzelpersonen sind. Andererseits stehen hier die Förderung von Austausch und die Entwicklung von neuen Konzepten im Mittelpunkt (ebd.). Außerdem basiert die Teilnahme an den Bildungsprogrammen auf der freiwilligen Antragsstellung der nationalen Akteure. b) Zu den Mitteln der peer-pressure zählt Schemmann erstens die Offene Koordinierungs-Methode97, zweitens die internationalen Leistungsvergleichsstudien sowie drittens die indikatorischen Bildungsberichte. Diese stehen exemplarisch für die Größe des erzeugten Druckes. Zur stärksten Variante gehört die Methode der offenen Koordinierung, bei der das permanente gemeinsame Monitoring und die gemeinsame Verpflichtung mit anderen Staaten mit großer Plausibilität bewirken, dass die einzelnen Staaten sich an das gesteckte Ziel annähern. Die Leistungsvergleichsstudien dagegen erzeugen einen leichteren Anpassungsdruck durch die Setzung von bestimmten Normen, „wobei der Nähe oder der Distanz zu diesen Normen durch die hierarchisierte Darstellung der Ergebnisse noch besonderer Nachdruck verliehen wird“ (ebd. S. 242). Die „indikatorisierten Bildungsberichte“ (ebd.) bewirken den schwächsten Druck, da sie auf Ranking-Listen verzichten. c) Schemmann behandelt im Rahmen der Beratungsdimension keine EU-Aktivitäten. Diese spielten aber z. B. in der ungarischen Bildungspolitik im Zuge des Lissabon-Prozesses98 eine wichtige Rolle (vgl. Halász 2003b, Tóth 2005). d) Bei der symbolischen Dimension geht es um Aktivitäten, die einen symbolischen und appellativen Charakter haben und vor allem auf die Signalwirkung der Aktionen setzen. Hierhin gehört z. B. die Ausrufung des Europäischen Jahres lebensbegleitenden Lernens 1996. Schemmann hat an diesem Beispiel aufgezeigt, dass „das Ziel der Aufmerksamkeit oder der Platzierung eines Themas aus Sicht der Eigenevaluation der EU-Organe erreicht worden ist“ (ebd. S. 244). Folgende Tabelle fasst diese Dimensionen und die dazugehörigen Aktivitäten nochmals zusammen. 96
Mehr dazu vgl. Kapitel 4. Mehr dazu vgl. Kapitel 3.1.3. 98 Mehr dazu s. Kapitel 3.1.3. 97
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Dimensionen Finanzielle Dimension
„Peer pressure“ Beratungsdimension Symbolische Dimension
69
Aktivitäten - Sozialfondsaktivitäten - Regionalfondsaktivitäten - Bildungsprogramme - Open Method of Coordination - internationale Leistungsvergleichsstudien - indikatorisierte Bildungsberichte - im Rahmen des Lissabon-Prozess - Ausrufung des Jahres lebensbegleitenden Lernens 1996
Tabelle 5: Kategorisierung der bildungspolitischen Aktivitäten der EU nach Schemmann In der vorliegenden Studie werden diejenigen bildungspolitischen Aktivitäten der EU untersucht, die sich erstens explizit auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ beziehen und sich zweitens durch die Analyse bildungspolitischer Dokumente erfassen lassen. 3.1.1.2 Beteiligte Organe und Institutionen An der Ausarbeitung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ waren vor allem drei Organe der Europäischen Union in unterschiedlicher Form maßgeblich beteiligt: der Europäische Rat, die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union (Bechtel/Lattke/Nuissl 2005, S. 13ff, Dewe/Weber 2007, S. 95ff.). Um das Verfahren der Zusammenarbeit zwischen den Gremien der Union zu erläutern, wird hier auch das Europäische Parlament vorgestellt. Im Folgenden werden diese Organisationen und ihre Arbeit bei der Ausarbeitung und Etablierung des Konzepts skizziert. Europäischer Rat Der Europäische Rat ist eine intergouvernementale Institution, die sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Die Staatsund Regierungschefs der Mitgliedsländer und der Präsident der Kommission treffen sich mindestens zweimal im Jahr. De jure kann der Europäische Rat keine rechtlich bindenden Beschlüsse fassen. Wolfgang Wessels unterscheidet zwischen drei Funktionen des Europäischen Rates: Erstens hat er die Rolle eines „konstitutionellen Architekten“ (Weidenfeld/Wessels 1995, S. 184). Im Vertrag von Amsterdam wird diese Funktion folgendermaßen beschrieben: „Der Europäische Rat gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für die Entwicklung fest“ (Vertrag von Amsterdam 1997/1999, S. 21). Zweitens fungiert er als „Linienge-
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
ber“ (Weidenfeld/Wessels 1995, S. 185), verabschiedet also allgemeine Leitlinien in wirtschaftlichen, sozialpolitischen und außenpolitischen Fragen. Wessels definiert noch eine dritte – nicht vom EU-Vertrag vorgegebene – Funktion des Rates als „Entscheidungsproduzent“ (ebd.). Bezüglich des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ spielte der Europäische Rat mehrmals eine initiierende Rolle: Er hat 1993 in Kopenhagen die Europäische Kommission aufgefordert, einen mittelfristigen Plan für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu erstellen (vgl. Europäischer Rat 1993). So entstand das gleichnamige erste Weißbuch der Kommission (vgl. Europäische Kommission 1993). In einer außerordentlichen Konferenz 2000 in Lissabon hat der Europäische Rat die sog. Lissabon-Strategie beschlossen, die für die europäische Bildungspolitik sowie für das Konzept „Lebenslanges Lernen“ weit reichende Konsequenzen hatte (Europäischer Rat 2000). 2006 beschlossen der Europäische Rat und das Parlament, die bisherigen Bildungsprogramme zu einem gemeinsamen Aktionsprogramm „Lebenslanges Lernen“ zusammenzufassen. 99 Rat der Europäischen Union Der Rat der Europäischen Union (auch Ministerrat genannt) ist dem Europäischen Rat untergeordnet und bildet mit dem Parlament zusammen das zentrale Entscheidungsorgan der EU. Der Rat wird als das eigentliche Machtzentrum und damit als Hauptgrund für das oft beklagte Demokratiedefizit in der Union angesehen (Fritzler/Unser 1998, S. 51).100 Er ist mit den „jeweils die Ressorts betreffenden Fragen und Problemen beschäftigt“ (Schemmann 2007, S. 108). In Bezug auf die Entstehung des Lifelong Learning-Konzepts war der Rat der Europäischen Union Mit-Akteur: Er hat u. a. 2002 eine Entschließung zum Thema lebenslanges Lernen angenommen (Rat der Europäischen Union 2002b). Der Rat war auch bei der Ausarbeitung des Arbeitsprogramms 2010 beteiligt (vgl. Rat der Europäischen Union 2002a) und gab 2004 mit der Europäischen Kommission zusammen den Zwischenbericht Allgemeine und berufliche Bildung 99 „Ziel des Aktionsprogramms im Bereich des lebenslangen Lernens 2007–2013 ist es, Austausch, Zusammenarbeit und Mobilität zu entwickeln und zu fördern, damit die Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung gemäß der Lissabon-Strategie zu einer weltweiten Qualitätsreferenz werden. Es trägt so zur Entwicklung der Gemeinschaft zu einer fortschrittlichen wissensbasierten Gesellschaft bei, die durch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, eine quantitative und qualitative Verbesserung der Beschäftigung und einen größeren sozialen Zusammenhalt gekennzeichnet ist“ (http://europa.eu/scadplus/leg/de/cha/c11082.htm, Stand 3.11.2007) 100 Nach Heinig kann man unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht ohne Weiteres von einem Demokratiedefizit der EU sprechen. Er spricht – korrespondierend mit der Selbstbeschreibung der EU als Union von Staaten und Völkern – über ein zweigleisiges Konzept der „Mehrebenendemokratie“ in Bezug auf die demokratische Legitimation der Union: „Über das unmittelbar von den europäischen Bürgern gewählte Europäische Parlament und über die im Rat versammelten, demokratisch gewählten und von den mitgliedsstaatlichen Parlamenten kontrollierten Regierungen“ (Heinig 2007, S. 65).
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
71
2010 – Die Dringlichkeit von Reformen für den Erfolg der Lissabon-Strategie heraus (vgl. Rat der Europäischen Union 2004). Europäisches Parlament Das Europäische Parlament ist das parlamentarische Organ der EU. Es hat aber nur für bestimmte Bereiche legislative Macht. Es gilt mit 785 Abgeordneten aus 27 Nationen als das größte multinationale Parlament der Welt: Seit 2004 ist die Mitarbeit im Europäischen Parlament unvereinbar mit einem Mandat als Abgeordneter in einem nationalen Parlament (für Irland und Großbritannien gibt es aber Übergangsregelungen). Sitz des Parlaments ist Straßburg. 101 Das Parlament beteiligte sich an der Ausarbeitung des Lifelong Learning-Konzepts: Im Jahre 2005 arbeitete es mit dem Rat Empfehlungen des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen aus. 2006 beschloss das Europäische Parlament gemeinsam mit dem Europäischen Rat, dass die bisherigen Bildungsprogramme der Union ab 2007 zu einem gemeinsamen Aktionsprogramm „Lebenslanges Lernen“ zusammengefasst werden. Europäische Kommission Die Europäische Kommission nimmt de facto die Rolle einer Regierung an: Sie ist das ausführende Organ der EU. Aber nicht nur das, in der Praxis ist sie mit einer Dreifach-Funktion ausgestattet: „Sie ist an der Legislative insofern beteiligt, als sie über Initiativrecht verfügt und dem Rat sowie dem Europäischen Parlament Gesetzesakte vorschlägt, die diese wiederum beschließen. Im Bereich der Exekutive werden von der Kommission verbindliche Durchführungsbeschlüsse getroffen. Schließlich wacht sie als so genannte ´Hüterin der Verträge´ über die Anwendung des Vertragsrechtes und leitet bei Verstößen entsprechende Schritte ein“ (Schemmann 2007, S. 108).
Die Kommission hat zum Thema lebenslanges Lernen zahlreiche Dokumente, Weißbücher102, Mitteilungen103, Berichte und Empfehlungen verfasst, die sowohl 101
In Brüssel finden zudem Ausschusssitzungen und Fraktionssitzungen statt. Luxemburg ist der dritte Arbeitsort des Europäischen Parlaments. Dort befindet sich ein Teil der Parlamentsverwaltung und des Generalsekretariats. Der andere Teil des Sekretariats ist in Brüssel untergebracht. (vgl. http://www.europarl.de/parlament/ [Stand: 20.10.2007]). 102 „Weißbücher sind amtliche, von der Kommission ausgearbeitete Dokumente, die Vorschläge für ein gemeinschaftliches Vorgehen zu bestimmten Fragen, oftmals im Rahmen eines Gesamtkonzepts enthalten. Sofern das Weißbuch vom Rat gebilligt wird, kann es in ein Aktionsprogramm münden“ (Schemmann 2007, S. 113). 103 „Mit den Mitteilungen sind Dokumente erfasst, die ebenfalls von der Kommission erstellt werden und in der Regel an unterschiedliche Organe der EU zur Beratung gerichtet sind. Sie haben vorbereitenden Charakter, lassen ebenfalls Politikorientierungen in detaillierter Weise erkennen“ (Schemmann 2007, S. 113).
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
das Verständnis als auch die Verwirklichung des Konzepts in der EU maßgeblich beeinflussten. Folgende Veranschaulichungen zeigen die Beziehungsgefüge zwischen den Organen der Europäischen Union (Abbildung 2). Europäischer Rat
Europäische Kommission
Rat der EU
Europäisches Parlament
Abbildung 2: Organe der Europäischen Union (vgl. Wessels 1995, S. 335, Schemmann 2007, S. 109) 3.1.2 Das Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens 1996 Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf den Zeitraum 1996–2005, auf die Verwirklichungsphase des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. Das Jahr 1996 markiert dabei einen Höhepunkt in der Entwicklung des Konzepts: Aus der rückblickenden Perspektive betrachtet, kann man seit dem Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens über einen europaweiten Konsens in Bezug auf die Wichtigkeit eines lebenslang andauernden Lernprozesses sprechen.104 Mit dieser Aktion wurde „Lebenslanges Lernen“ auch zum Überbegriff für die bildungspolitischen Reformkonzepte der EU, vor allem in Bezug auf die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Die Verbindung der europäischen bildungspolitischen Programmatik mit der Leitidee reicht aber mehrere Jahre zurück: Der Begriff „Lebenslanges Lernen“ wurde in den EG-Dokumenten zum ersten Mal 1973 im sog. Janne-Bericht erwähnt, auf dem das erste gemeinsame bildungspolitische Aktionsprogramm First Action Programme in Education aus dem Jahre 1976 basierte. 1991 tauchte der Begriff in zwei weiteren Dokumenten der Kommission auf: im Memoran104
Böcher, Gaignat und Delacrétaz konstatieren sogar eine inflationsartige Verwendung des Begriffs als Wirkung der Aktion (Böcher/Gaignat/Delacrétaz 2006, S. 5). Vgl. dazu noch Kapitel 1.1.
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
73
dum on Higher Education in the European Community sowie im Memorandum on Open Distance Learning in the European Community (vgl. Budai 2000). Die ersten Konturen des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ zeichneten sich Mitte der 1990er-Jahre ab: Auf Grundlage des Maastrichter Vertrags105 veröffentlichte die neu gegründete Europäische Union 1993 das Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert. Zentrales Element ist die Forderung nach lebenslangem Lernen als Schlüsselelement im Kontext der Auseinandersetzung mit Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. Zwei Jahre später gab sie ein zweites Weißbuch zum Thema mit dem Titel Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft heraus und deklarierte 1996 zum `Europäischen Jahr des lebensbegleitenden Lernens`. Die bildungspolitischen Aktivitäten der Europäischen Union in den 1990erJahren lassen sich vor allem dadurch charakterisieren, dass die EU dabei die Rolle der Koordinatorin und vor allem der Impulsgeberin übernahm. Sie überließ die Konkretisierung der Verwirklichung größtenteils den Mitgliedsstaaten und agierte im Rahmen ihrer, im Maastrichter Vertrag festgelegten Kompetenzen. Die Frage `Subsidiarität versus gemeinsame Identität und Kohärenz` war von Anfang an der Dreh- und Angelpunkt des europäischen Integrationsprozesses (vgl. u.a. Green 1997, Treusch 1997, Antoni 1999, Gehler 2002, Linsenmann 2006). Dies zeigt sich im Bereich der Bildungspolitik sehr deutlich (vgl. Knoll 1994, Timmermann 1995, Fürst 1999). Die Koordinierung der Bildungspolitik war ursprünglich keine Zielsetzung der Europäischen Union. Im Maastrichter Vertrag bekam die Union mit den Artikeln 126 (allgemeine Bildung), 127 (berufliche Bildung) und 128 (Kultur) zwar explizit Kompetenzen zugewiesen: Artikel 126 formulierte z.B. die „Entwicklung einer qualitativ hoch stehenden Bildung“ neben der Berufsbildung als Gemeinschaftsaufgabe. Aber diese Kompetenzen wurden durch das Subsidiaritätsprinzip begrenzt, das auf Druck Deutschlands auch durch das Hinzufügen der Formulierung „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung“ zu den Artikeln betont wurde (vgl. Vertrag von Maastricht 1992/1998, S. 204).106 Der Vertrag blieb damit unentschieden 105
Der Maastrichter Vertrag wurde vom Europarat am 7.2.1992 unterzeichnet. Allerdings konnte er wegen einiger Hindernisse im Ratifizierungsverfahren (zweites Referendum in Dänemark, Verfassungsklage in Deutschland) erst am 1.11.1993 in Kraft treten. 106 Dieser Druck wurde in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Diskussion kontrovers diskutiert. Joachim H. Knoll stellt zum Beispiel fest: „M. E. hat der Maastrichter Vertrag vielen unkontrollierten und unhistorischen Schwärmereien ein Ende gesetzt, die, ausgehend von globalen Zuständen vor allem im politischen Zusammenleben der Völker, auch eine Vereinheitlichung in deren bildungspolitischen Zuständen herstellen wollten. Ich habe den Weg gelegentlich mit der Überschrift charakterisiert: ´Europäische Einigung – ja, Europäische Vereinheitlichung – nein´“ (Knoll 1997, S.
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
zwischen „Bildungspolitik als Unionsmaterie und der Union als ein Rahmen der intergovernementalen Zusammenarbeit im Bildungswesen“ (Janssen 1994, S. 212). Dewe und Weber sehen die Funktion der EU im Bereich Bildungspolitik als Forum für den Austausch von Ideen und best-practice-Beispielen hervor: „Ihr kommt die Aufgabe zu, eine echte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten unter Wahrung der Vorrechte jedes Mitgliedsstaats in puncto Inhalt und Gestaltung seiner Bildungs- und Berufsbildungssysteme zu fördern“ (Dewe/Weber 2007, S. 87). Auch die EU betont in den bildungspolitischen Dokumenten zum lebenslangen Lernen, dass sie nur eine koordinierende Rolle anstrebt und die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten nicht in Frage stellt. Ein gutes Beispiel dafür ist das Dokument Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft: „Das Weißbuch soll lediglich zum Nachdenken anregen und Aktionslinien vorzeigen. Ohne die Verantwortung der Mitgliedsstaaten in irgendeiner Weise antasten zu wollen, regt es die Verwirklichung von fünf allgemeinen Aktionszielen an und schlägt für jedes einzelne eine oder mehrere flankierende Maßnahmen vor, die auf Gemeinschaftsebene durchzuführen wären“ (Europäische Kommission 1995, S. 9).
Schemmann merkt dazu an, dass in dieser Zielformulierung „kein Zweifel daran gelassen [wird], dass die zentrale Kompetenz bezogen auf lebenslanges Lernen und damit auf Bildungsfragen bei den Mitgliedsstaaten liegt, das Prinzip der kulturellen Subsidiarität wird uneingeschränkt anerkannt“ (Schemmann 2007, S. 116). Im 1997 verabschiedeten Vertrag von Amsterdam finden sich keine Änderungen dieser Kompetenzverteilung: Die Artikel 126, 127 und 128 des Maastrichter Vertrages wurden unverändert als Artikel 149, 150 und 151 übernommen (vgl. Vertrag von Amsterdam 1997/1999). Auch der Artikel über das Subsidiaritätsprinzip wurde als Artikel 5 wieder aufgenommen. Der wichtigste Punkt des Vertrages aus bildungspolitischer Sicht war die Schaffung einer gemeinsamen Beschäftigungs- und Sozialpolitik und in ihrem Rahmen die Ausarbeitung von politischen Koordinierungsmitteln, die es ermöglicht haben, die gemeinsame europäische Politik in den einzelnen Mitgliedsländern zu verwirklichen. Diese beinhalteten schon von Anfang an bildungspolitische Elemente, die immer wichtiger wurden. Diese zunehmende Bedeutung symbolisiert auch das „Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens“,107 das mit dem Beschluss Nr. 34). Wolfgang Hörner dagegen resümierte das Ergebnis sehr kritisch: „Der Eindruck, dass die Ausweitung der Bildungsdimension in dem Vertragswerk zugleich ihre Festschreibung auf den Status Quo der Mitgliedsstaaten bedeutet, lässt sich nicht von der Hand zu weisen. Die ´europäische Bildungseinheit´ bleibt strikt ideeller Natur. Sie soll sozusagen durch die Verschiedenheit der partikularen Systeme hindurchscheinen“ (Hörner 1997, S. 76). 107 European Year of Lifelong Learning. In der deutschen Fassung des europäischen Beschlusses
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
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2493/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 1995 für 1996 ausgerufen wurde. Der Beschluss formuliert das Ziel der Aktion folgendermaßen: „Während des Europäischen Jahres werden Aktionen zur Information, zur Sensibilisierung und zur Werbung für Möglichkeiten des lebensbegleitenden Lernens durchgeführt. Ziel ist die Förderung der persönlichen Entwicklung und der Eigeninitiative der Bürger, ihrer Eingliederung in das Berufsleben und in die Gesellschaft, ihrer Mitwirkung am demokratischen Entscheidungsprozeß sowie ihrer Fähigkeit, sich an den wirtschaftlichen, technologischen und sozialen Wandel anzupassen“ (Amtsblatt der Europäischen Union, 26.10.1995, S. 45ff).
Zur Verwirklichung wurden in den Mitgliedsstaaten Projektstellen eingerichtet, an die die Anträge gestellt werden konnten. Zur Bekanntmachung108 wurden eine Broschüre, vier Mitteilungsblätter des Magazins Kontakt 96 sowie ein Kompendium mit den wichtigsten Themen und der Adressenliste der Projektträger bereitgestellt. Das Gesamtbudget der Aktion betrug 34 Mio. ECU, von dem 8 Mio. ECU von der EU bereitgestellt wurden. Der Rest des Betrags wurde durch die Kofinanzierung der Mitgliedsstaaten gedeckt. Schemmann wertet die Bereitstellung dieses Betrags als deutliches Zeichen für das Interesse der Mitgliedstaaten sowie für den Erfolg der Aktion (Schemmann 2007, S. 148). Dohmen konstatierte, dass die Aktion zwar bei weitem nicht die mit ihr verbundenen Hoffnungen erfüllt hat, jedoch notwendige Foren für die internationale Auseinandersetzung mit dem Thema bis hin zu innovativen Anstößen bot. Auch die Kommission selbst wertete die Aktion als erfolgreich, da diese „eine Debatte über die Fachkreise für allgemeine und berufliche Bildung hinaus einer breiteren Öffentlichkeit nahe gebracht und ihr politisches Profil geschärft hat“109 (Europäisches Parlament 2000, S. 13). Insgesamt wurden mehr als 2000 Projektanträge gestellt, von denen die Kommission 454 einzelstaatliche Projekte auswählte. Dewe und Weber stellen fest, dass durch die Aktion „die international verlaufende Diskussion in Europa auf die Ebene der Nationalstaaten übertragen werden konnte“ (Dewe/Weber 2007, S. 99).110 zum “Europäischen Jahr lebenslangen Lernens“ wird vom „lebensbegleitenden Lernen“ gesprochen, um Assoziationen zur lebenslänglichen Beschulung zu vermeiden (Dewe/Weber 2007, S. 58). Schemmann zählt die Ausrufung der `Europäischen Jahre` zu den besonderen bildungspolitischen Aktionen der EU. Diese werden meistens auf Initiative des Europäischen Rates und des Parlaments zu einem besonderen bildungspolitischen Schwerpunktthema, wie z. B. 2001 das Eu-ropäische Jahr der Sprachen, ausgerufen. vgl. Kapitel 3.1.1.1 108 Über die Bekanntmachung äußerte sich die Kommission in ihrem Abschlussbericht eher kritisch: Sie bemängelte, dass die meisten Veröffentlichungen nur auf Englisch, Deutsch und Französisch zur Verfügung standen (vgl. Europäisches Parlament 2000, S. 16). 109 Zur Überprüfung der Wirkung der Aktion wurde 1997 im Rahmen des `Eurobarometers` eine Meinungsumfrage durchgeführt (vgl. Europeans and their attitudes to Education and Training. Special Eurobarometer Report 1997). 110 Die große, auch über den europäischen Kontinent weit hinausgehende Bedeutung des „Europäi-
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Die inhaltliche Ausarbeitung des Lifelong Learning-Konzepts der EU hat aber schon vor dem Europäischen Jahr angefangen, insbesondere mit den zwei Weißbüchern Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert und Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Auch die Ausrufung des Europäischen Jahres lebensbegleitenden Lernens erfolgte vor dem Hintergrund und auf Anregung dieser Weißbücher, wie Edith Cresson, Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig für Forschung, Innovation, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend, verdeutlichte: „Das Europäische Jahr des lebensbegleitenden Lernens geht auf einen Vorschlag im Weißbuch der Kommission Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung zurück. […] Im November 1995, kurz vor Ausrufung des Europäischen Jahres, veröffentlichte die Kommission ihren Beitrag zur institutionellen Diskussion: das Weißbuch Lehren und Lernen – auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. In diesem Weißbuch haben wir eine Reihe spezifischer Ziele festgesetzt und konkrete Maßnahmen zu deren Erreichung vorgeschlagen“ (Cresson 1996 zitiert nach Kraus 2001, S. 65).
Aus diesem Grunde werden diese Weißbücher im Folgenden dargestellt – auch wenn sie zeitlich außerhalb des gewählten Untersuchungszeitraums liegen. 3.1.2.1 Das Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert 111 Nach dem Treffen des Europäischen Rates im Juni 1993 wurde die Europäische Kommission aufgefordert, einen mittelfristigen Plan für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung vorzulegen. Noch im selben Jahr veröffentlichte die Kommission unter der Leitung von Jacques Delors das Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung. Ausgangspunkt der Überlegungen war die hohe Arbeitslosigkeit in der EU. Die Argumentationsstruktur des Dokumentes ist durch das Schema Diagnose – Lösungsvorschläge geprägt: Zunächst erfolgt eine Darstellung der Problemsituation, dann die Erörterung der Empfehlungen zur Lösung des Problems. Dementsprechend beginnt das Dokument mit einer Vorstellung der aktuellen Lage der Europäischen Union, wobei die Argumentation sich auf die wirtschaftliche Dimension der Globalisierung und der wissensbasierten Ökonomie und Gesellschaft bezieht. Es wird festgestellt, dass die EU trotz der erfolgreichen Politik schen Jahres“ zeigt Ming-Lieh Wu, indem sie es als Vorbild des 1998 in Taiwan ausgerufenen „Chinesischen Jahres lebenslangen Lernens“ beschreibt (vgl. Ming-Lieh 2003, S. 267). 111 Growth, Competitiveness and Employment: The Challenges and Ways Forward into the 21 st Century – White Paper.
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
77
der letzten Jahre zur Schaffung des Binnenmarktes und deren Nachwirkungen nicht mit dem Tempo der Veränderungen der Welt Schritt halten konnte (Commission of the European Communities 1993, S 10). Die EU sieht sich zwar mit der Vollendung des Binnenmarktes gut vorbereitet auf die Zukunft, aber immer noch hinter dem Entwicklungsgrad der USA und Japans. Als Lösung des Problems setzte sich die EU das Ziel, die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und bis zur Jahrtausendwende 15 Millionen Arbeitsplätze zu schaffen (ebd. S. 11). Zur Verwirklichung dieser Zielsetzung wird angemahnt, eine neue Beschäftigungspolitik zu betreiben, die die Entstehung einer wettbewerbsfähigen, gesunden, offenen, dezentralisierten und auf Solidarität basierenden Wirtschaft bewirkt. Es werden dazu vier übergeordnete Ziele vorgeschlagen: „- Helping Europeans first to adapt to the new globalized and interdependent competitive situation. - Exploiting the competitive advantages associated with the gradual shift to a knowledge-based economy. - Promote a sustainable development of industry. - Reducing the time-lag between the pace of change in supply and the corresponding adjustments in demand” (ebd. S. 58).112
Erziehung und Bildung wird in dem Dokument eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit der Wettbewerbsfähigkeit und der sozialen Kohäsion der EU zugesprochen. Das Weißbuch prangert das – im Vergleich zu den USA und Japan – geringe Bildungsniveau der europäischen Arbeitskräfte sowie die geringe Zahl der Schul- und Hochschulabsolventen an. Zur Entwicklung des Humankapitals wird eine Verflechtung der Maßnahmen in verschiedenen Politikbereichen vorgeschlagen, wobei der Bildungspolitik eine zentrale Rolle zugedacht wird. „Lebenslanges Lernen“ wird dabei als wesentlicher Faktor dargestellt: „Lifelong education is therefore the overall objektive to which the national educational communities can make their own contributions“ (ebd. S. 12). Berufliche Bildung steht dabei im Vordergrund, ihr wird eine wichtige Katalysatorfunktion zugeschrieben: „Education and training are expected to solve the problems of the competitiveness of business, the employment crisis and the tragedy of exclusion and marginality – in a word, they are expected to help society to overcome its present difficulties and to control the profound changes which it is currently underdoing” (ebd. S. 117).
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Von diesem Dokument gibt es weder eine deutschsprachige noch eine ungarische Version. Aus diesem Grunde werden hier die originalen englischsprachigen Zitate eingefügt.
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Als wesentliche Tendenzen des Dokuments lassen sich folgende Punkte herausstellen: 1) Der Paradigmenwechsel von einer ökonomisch zentrierten Politik zu einem breiteren Verständnis der Europäischen Union, indem der Aspekt der sozialen Kohäsion ebenfalls in den Mittelpunkt gestellt wird. 2) Bildungspolitik wird zum Schlüsselfaktor der Beschäftigungspolitik, wobei das Grundverständnis von Erziehung und Bildung stark utilitaristisch und an der Humankapitaltheorie orientiert ist. Berufliche Bildung und Weiterbildung stehen dabei im Mittelpunkt. 3) Eine wichtige neue Schwerpunktsetzung ist die Miteinbeziehung des privaten Sektors: Um den Bedürfnissen der Wirtschaft im Bildungsbereich besser Rechnung tragen zu können, sollen Vertreter der Wirtschaft enger in die Weiterbildungsmaßnahmen einbezogen werden. 3.1.2.2 Das Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft113 Das zweite Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft erschien 1995 als „Umsetzung des ersten Weißbuches `Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung` (Europäische Kommission 1995, S. 4). Hier werden aufgrund der Überlegungen des ersten Weißbuches die bildungspolitischen Prioritäten der Europäischen Union ausführlicher ausgearbeitet: Wettbewerbsfähigkeit und Gesellschaftskohäsion. Die Wettbewerbsfähigkeit spielt dabei eindeutig die Hauptrolle. Die Hauptargumentationslinie ist, wie im ersten Buch, weiterhin auf Arbeitsmarkt und Ökonomie ausgerichtet, die quantitative Dominanz dieser Bereiche für die Begründung des neuen Bildungskonzepts ist nicht zu übersehen (Kraus 2001, S. 68). Die wirtschaftlichen Argumente werden mit den Prinzipien Demokratie, Fortschritt und Gleichberechtigung sowie Europäische Identität ergänzt und in Zusammenhang gestellt. Bildungspolitik und Wirtschaft werden miteinander eng verbunden. Das Weißbuch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil mit der Überschrift „Herausforderungen“ werden zunächst „drei große Umwälzungen“ aufgezeigt: a) Die Informationsgesellschaft, die neue Anforderungen an die arbeitenden Menschen stellt: Sie sollen sich den technischen Innovationen und den daraus resultierenden Wandlungen der Arbeitswelt anpassen (ebd. S. 11).
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Teaching and Learning – Towards the learning society – White Paper
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b) Die Globalisierung der Wirtschaft, die inzwischen auch den Arbeitsmarkt betrifft. Um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können, bedarf es besonderer Anstrengungen vor allem im Bereich der beruflichen Bildung. c) Die wissenschaftlich-technische Zivilisation: Der wissenschaftlichtechnische Fortschritt114 hat eine paradoxe Wirkung, er erzeugt einerseits ständig wachsendes Wissen und andererseits auch eine große Verunsicherung (ebd. S. 13). Anschließend werden auf der Folie dieses Szenarios Antworten auf die damit verbundenen Herausforderungen gegeben: die Förderung der Allgemeinbildung und die Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit. Erstere bedeutet die Schaffung einer breiten Wissensbasis im Bereich Allgemeinbildung „als Instrument zum Verstehen der Welt“ (ebd. S. 17). Es werden dabei folgende Fähigkeiten verlangt: die Fähigkeit, die Bedeutung von Dingen zu erfassen, Verstehen und Kreativität sowie Urteils- und Entscheidungsvermögen. Zur besonderen Förderung der Beschäftigungsfähigkeit sind dem Dokument zufolge Grundlagenkenntnisse, Fachkenntnisse sowie soziale Kompetenzen nötig (ebd. S. 20). Diese Kompetenzen können nicht nur in formalen Bildungsinstitutionen erworben werden, sondern auch in informellen Lernprozessen. Dementsprechend zeigt die Kommission zwei Wege auf, um Beschäftigungsfähigkeit zu erlangen: den traditionellen Weg über Zertifizierung in Bildungseinrichtungen sowie den `neueren` Weg über die Anerkennung von nicht im Bildungssystem erworbenen Fähigkeiten wie z. B. Computer- oder Fremdsprachenkenntnisse. Dabei soll es nicht zu einer Entwertung des ersten Weges kommen. Im zweiten Teil des Dokuments wurde der Aufbau einer kognitiven Gesellschaft als anvisiertes Gesellschaftsmodell des lebenslangen Lernens sowie die Aktionsleitlinien ihrer Verwirklichung in den Mittelpunkt gestellt. Das Weißbuch verfolgt das Ziel „mit der Politik der Mitgliedsstaaten im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung dazu bei[zu]tragen, dass Europa den Weg hin zur kognitiven Gesellschaft einschlägt“ (Europäische Kommission 1995, S. 12). Die wichtigsten Merkmale der kognitiven Gesellschaft sind Wissen als zentraler Vergesellschaftungsmodus, eine hohe Bedeutung von Allgemein- und beruflicher Bildung sowie Lebenslanges Lernen als gesellschaftliche Realität:
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Die Bezeichnung wurde noch zu Zeiten des Kalten Krieges als westliches Pendant zum in den sozialistischen Ländern benutzten Begriff der wissenschaftlich-technischen Revolution erschaffen (vgl. z. B. die Veröffentlichungsreihe Qualifizierung und wissenschaftlich-technischer Fortschritt am Beispiel der Sekundarschulreform in ausgewählten Industriestaaten der Projektgruppe der Marburger Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft unter der Leitung von Leonhard Froese). Der Begriff besitzt also eine ideologische Dimension, die im Dokument nicht diskutiert wird.
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„Die Einstufung jedes Einzelnen nach seinem Wissen und seiner Kompetenz wird daher künftig entscheidend sein. Diese relative Stellung, die man als kognitive Beziehung bezeichnen kann, wird die Struktur in unseren Gesellschaften immer stärker prägen“ (ebd. S. 17).
Das Dokument formuliert fünf allgemeine Ziele, die zur Verwirklichung der kognitiven Gesellschaft führen sollen: - Förderung der Aneignung neuer Kenntnisse, - Annäherung von Schule und Unternehmen, - Bekämpfung von Ausgrenzung, - Allgemeine Beherrschung von drei Gemeinschaftssprachen, - Gleichbehandlung von materiellen und berufsbildungsspezifischen Investitionen. Zu diesen allgemeinen Zielen werden einzelne Maßnahmen aufgeführt, wie z.B. zur Bekämpfung von Ausgrenzung die Einführung des freiwilligen Dienstes in Europa. Field kritisiert die unzureichenden Vorgaben zur Schaffung der kognitiven Gesellschaft: „there is little evidence that the Union has an agenda for the learning society beyond a somewhat conventional picture of lifelong learning supplemented by technology” (Field 1997, S. 92). Im Gegensatz zu den vorhergehenden konkreten Vorschlägen ist die Schlussfolgerung eher allgemein gehalten. Sie betont die Wichtigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung und beschwört die gemeinsame europäische Tradition (Europäische Kommission 1995, S. 68ff). Zum Schluss werden die Ziele des Weißbuches nochmals zusammengefasst: Erstens „im Zusammenwirken mit der Politik im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung dazu bei[zu]tragen, dass Europa den Weg zu einer kognitiven Gesellschaft einschlägt“ (ebd. S. 69), zweitens eine ausführliche Diskussion für die kommenden Jahre anzustoßen sowie drittens aufzuzeigen, dass die Zukunft Europas und sein Platz in der Welt davon abhängig ist, wie weit es gelingt, der persönlichen Entfaltung der europäischen Bürger eine ebenso große Bedeutung beizumessen wie ökonomischen Fragen. „Auf diese Weise wird Europa unter Beweis stellen, dass es nicht nur einfach eine Freihandelszone darstellt, sondern dass es ein organisiertes politisches Ganzes ist und über die Mittel verfügt, die Globalisierung nicht etwa über sich ergehen zu lassen, sondern sie zu bewältigen“ (Europäische Kommission 1995, S. 70).
Als wesentliche Tendenzen des Dokuments lassen sich folgende Punkte herausstellen: 1) Die Ergänzung der ökonomischen Dimension um die Dimension der europäischen Identität und der sozialen Kohäsion. 2) Die Vision der kognitiven Gesellschaft als Zukunftsmodell für die Union. 3) Die Schwerpunktsetzung auf den Bereich der beruflichen Weiterbildung.
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Gábor Halász zeigt die Bedeutung des Dokuments für das Konzept „Lebenslanges Lernen“ an zwei Punkten auf: Erstens hat es Europas Zukunft mit der Verwirklichung des Konzepts verbunden. Zweitens hat es viel dazu beigetragen, dass die Europäische Union – nicht nur die Entscheidungsträger, sondern auch die Bevölkerung – sich zunehmend nicht nur als wirtschaftliches, sondern auch als politisches Ganzes versteht und von anderen politischen Akteuren als solches wahrgenommen wird (vgl. Halász 2005b). János Ormándi dagegen betont, dass das Weißbuch in der EU keine besondere Wirkung hatte; die Bildungsminister hätten es diskutiert und sich höflich bei der Europäischen Kommission bedankt, dass sie mit ihrer Analyse die Arbeit der Mitgliedsländer erleichtert. Sie hätten die Kommission aber gleichzeitig daran erinnert, dass Bildungspolitik in die Zuständigkeit der Mitgliedsländer gehört. Außerdem warfen sie der Kommission vor, sich allzu sehr auf die wirtschaftlichen Gesichtspunkte der Berufsbildung zu konzentrieren und diese dadurch zu instrumentalisieren (Ormándi 2006, S. 10.) Michael Schemmann sieht im Dokument ebenfalls eine Verschiebung der Gewichtung dieser – zunächst als gleichwertig präsentierten – Lösungsansätze zugunsten der Beschäftigungsfähigkeit (Schemmann 2007, S. 120). Die Aktion Europäisches Jahr lebensbegleitenden Lernens und die beiden Weißbücher spielten eine wichtige Rolle dabei, dass in den untersuchten Ländern im Jahre 1996 veröffentlichten bildungspolitischen Dokumente das Konzept des „Lebenslangen Lernens“ in ihre strategische Planung miteinbezogen.115 3.1.3 Die Lissabon-Strategie und die Offene Koordinierungsmethode 2000 Seit der Jahrtausendwende ist eine deutliche Steigerung der Bedeutung von Erziehung und Bildung in der Politik der EU zu beobachten: Die EU fungiert zunehmend als “Motor für die Gestaltung und Unterstützung der bildungspolitischen Diskussion zum Lebenslangen Lernen in den Mitgliedsstaaten” (vgl. Dietsche/Meyer 2004).116 Diese Entwicklung kann ganz konkret an der sog. Lissabon-Strategie festgemacht werden: Mit deren Einführung schlug die EU einen Weg ein, „der deutlich Richtung Harmonisierung geht und zugleich in gewisser Weise vom Prinzip der Subsidiarität abrückt“ (Schemmann 2007, S. 130).117 115
Vgl. Kapitel 4. Dabei ist eine Zusammenarbeit mit anderen europäischen Akteuren zu beobachten, die selbst Konzepte zum Thema lebenslanges Lernen ausarbeiteten. Bei der 2000 eingerichteten Eurostat Task Force zur Messung von lebenslangem Lernen arbeitet z. B. die Europäische Kommission mit der UNESCO und der OECD zusammen (vgl. Europäische Kommission 2000, S. 37). 117 Ein konkretes Beispiel für den zunehmenden Einfluss der EU auf die nationalen Bildungssysteme zeigt sich in der Schaffung eines europäischen Hochschulraumes im Rahmen des sog. Bologna-Pro116
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Im Jahr 2000 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der – damals noch 15 – Mitgliedsländer auf einer außerordentlichen Ratssitzung in Lissabon, einen neuen Prozess zu initiieren, um die wirtschaftliche Entwicklung der Union zu dynamisieren. Das viel zitierte Zielvorhaben lautete: bis 2010 „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“ (Europäischer Rat Lissabon 2000, S. 2). Mit Hilfe von Erziehung und Bildung soll also eine effektivere Beschäftigungspolitik betrieben und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Union verbessert werden: „Es ist nicht zu übersehen, dass die […] Renaissance der Bildungspolitik eng verbunden ist mit einer gesellschaftlichen wie auch ökonomischen Notwendigkeit, die Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb ebenso wie gesellschaftliche Integration und Partizipation umschließt“, kommentierte die Zeitschrift Report diese Entwicklung (vgl. Editorial in Report 47/2001). Dewe und Weber charakterisieren diese Phase der europäischen Bildungspolitik dadurch, dass eine tiefere Zusammenarbeit aufgrund ökonomischer Überlegungen zustande kam (Dewe/Weber 2007, S. 88). Die Lissabon-Strategie konzentriert sich nicht nur auf die Bildungspolitik, sondern versucht in mehreren Politikbereichen, wie in der Beschäftigungspolitik, in der Entwicklungs- und Strukturpolitik sowie in der Steuerungspolitik mit jeweils eigenen Mitteln dasselbe Ziel zu verwirklichen.118 In einer Broschüre der EU („Europa 2006“) wird die Lissabon-Strategie mit der Beschäftigungspolitik der Union gleichgesetzt und folgendermaßen beschrieben: „Die Beschäftigungspolitik der EU (Lissabon-Strategie) ist ein Mix aus drei großen Zielen: Impulse für Wachstum und Beschäftigung, sozialer Zusammenhalt und nachhaltige Entwicklung. Umgesetzt werden diese Ziele jedoch von den Mitgliedsstaaten. Gemeinsame Erfolge der EU und der Mitgliedsstaaten auf diesem Gebiet sind der Schlüssel zu neuem Vertrauen der Bürger“ (Löffler 2006, S. 12).
Um das ehrgeizige Ziel der Lissabon-Agenda zu erreichen, wurde die koordinierende Rolle der EU in allen Bereichen, die auf die Entwicklung einer Wissensgesellschaft Einfluss haben könnten, verstärkt. Da aber die Mitgliedsstaaten die Befürchtung artikulierten, dass ihre nationale Souveränität beeinträchtigt werden könnte (vgl. Kovács 2005), wurde in Lissabon die im Bereich der Beschäftigungspolitik entwickelte Offene Koordinierungsmethode119 (OMC) als Konsens zwischen nationalen und supra-nationalen Interessen und Akteuren im zesses. Mehr dazu bzw. zu den konkreten Auswirkungen in Deutschland und in Ungarn vgl. Óhidy/Terhart/Zsolnai 2007. 118 Mehr dazu vgl. Kurth 2006. 119 Open Method of Coordination
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
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Bereich Bildungspolitik adaptiert. Auf dieser Folie wurde mit der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ begonnen. Die politische Koordination der europäischen Steuerung kann allgemein als „mehrstufige Steuerung“ beschrieben und durch eine „dynamische Machtverteilung“ der Entscheidungskompetenzen zwischen mehreren Ebenen charakterisiert werden. Im Gegensatz zu den traditionellen zwischenstaatlichen Verhältnissen erfordert die auf Konsens beruhende Entscheidungsfindung (statt Mehrheitsentscheidung) eine nicht-hierarchische Institutionalisierung von Akteuren und politischen Arenen (vgl. Kaiser/Prange 2002). Die Offene Koordinierungsmethode zeigt diese Prinzipien ebenfalls auf. Wie schon der Name sagt, wird die Methode durch das Prinzip Offenheit definiert. M. Telo analysiert, was dies bedeutet: Erstens werden die Kompetenzen und die Bildungspraxis der Nationalstaaten respektiert. Es handelt sich vor allem um ihre symbolische Verpflichtung gegenüber den Zielen der Gemeinschaft. Durch den Vergleich mit den anderen Mitgliedsländern sollen sie sich der eigenen Stärken und Schwächen bewusst werden und aus den best-practice-Beispielen der anderen lernen. Zweitens soll die Koordination nicht nur durch staatliche Organe durchgeführt werden, sondern auch durch andere gesellschaftliche Partner. Drittens sollen die einzelnen Schritte für alle Beteiligten sichtbar und nachvollziehbar ablaufen. Viertens soll die OMC den Weg zur weiteren Integration ebnen bzw. eine Alternative dafür sein (vgl. Halász 2003b, S. 511). Die Methode baut auf vier Elemente, die sich gegenseitig stärken: 1) Die Formulierung von gemeinsamen politischen Leitlinien (guidelines) auf höchster politischer Ebene (durch einen Beschluss des Europäischen Rates), 2) die Selbstverpflichtung der Mitgliedsländer, zu diesen gemeinsamen Leitlinien einen konkreten nationalen Aktionsplan zu entwickeln, 3) die gemeinsame Bewertung der nationalen Aktionspläne und 4) die Ausarbeitung von konkreten Indikatoren und Benchmarks, um die Verwirklichung zu kontrollieren (vgl. Halász 2006). Im Mittelpunkt der OMC steht Benchmarking, eine von multinationalen Unternehmen zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ausgearbeitete ManagementTechnik (Sisson et al. 2002). Anhand der Zielvorgaben (benchmarks) sollen die Mitgliedsstaaten in jährlichen Umsetzungsberichten (monitoring) ihre Fortschritte untereinander vergleichen (peer-review) und dabei gute Beispiele von anderen Mitgliedsstaaten aufgreifen (best practice). Ingo Linsenmann nennt diese neue Form der bildungspolitischen Zusammenarbeit „silent revolution“ (Linsenmann 2001, S. 142). Durch diese Bezeichnung wird deutlich,
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
„dass die Betonung der Gemeinsamkeiten anstelle der Unterschiede in der Bildungspolitik durchaus einen ´Paradigmenwechsel´ darstellt, der sich weit von den im Maastrichter Vertrag manifestierten mitgliedsstaatlichen Vorbehalten entfernt hat“ (ebd.).
Die Einführung der Lissabon-Stategie und der Open Method of Coordination bedeuteten also im Bereich der politischen Koordination einen wichtigen Meilenstein: „Mit der offenen Koordinierungsmethode verfügt die EU nunmehr über ein Instrument, das auch in sensiblen Politikbereichen wie der Bildungspolitik Koordinierung im Sinne der Harmonisierung von Zielen erlaubt, ohne dabei die Souveränität der Mitgliedsstaaten wesentlich zu begrenzen“ (Schemmann 2007, S. 138). Vor der Einführung der Lissabon-Strategie waren die programmatischen Forderungen über „Lebenslanges Lernen“ eher moralische Appelle normativer Natur und kaum überprüfbar. In Lissabon wurden die ersten Schritte sowohl in Richtung Verwirklichung als auch zur Messung der Ergebnisse getan. Bei dem Verfahren ist für die Beteiligten, d.h. für die nationalen Regierungen, meistens kein demokratisches oder legitimatorisches Problem erkennbar, da sie selbst Teil des Prozesses sind. Die nicht beteiligten Interessengruppen dagegen, wie z. B. die Bundesländer in Deutschland, nehmen die Maßnahmen als zentralistische europäische Vorgaben wahr (ebd. S. 133). Gábor Halász zufolge wurde die Veränderung von den nationalen Bildungspolitikern lange nicht wahrgenommen: „Während die beschäftigungspolitische Verwaltung sich sehr schnell europäisierte und einen großen Teil der Bildungspolitik mit sich auf diesen Weg nahm, waren diejenigen, die die Bildungspolitik steuerten, mit den traditionellen Problemen der in einem traditionellen Paradigma gefangenen, geschlossenen nationalen Bildungspolitik beschäftigt“120 (Halász 2003a, S. 2).
Die Harmonisierung der gemeinsamen Bildungspolitik hat also ohne die europäischen Bildungsminister angefangen. In Lissabon wurden sie jedoch gebeten, Ziele einer gemeinsamen Bildungspolitik auszuarbeiten, die zum Maßstab und Mittel der Koordinierung werden sollten. Das folgende Zitat von Gábor Halász verdeutlicht die nicht ganz freiwillige Rolle der Minister in diesem Prozess:
120 „Miközben a foglalkoztatási adminisztráció rohamosan ment elĘre az európaizálódás útján úgy, hogy ezen az úton magával vitte az oktatás világának egyre nagyobb szeletét is, az oktatási ágazat irányítói egy tradicionális paradigmába beleragadva a meglehetĘsen zárt nemzeti oktatási rendszerek hagyományos problémáival voltak elfoglalva“.
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
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„Zu diesem Zeitpunkt wurde den Bildungsministern klar, dass, wenn sie sich weiterhin weigerten, an den im schnellen Tempo voranschreitenden Prozessen der Politik-Koordination teilzunehmen und wenn der Bildungssektor nicht seinen eigenen Anteil selbst ausarbeitete, die Koordinierung der Bildungspolitik von anderen Akteuren vollzogen werden würde“121 (Halász 2003b, S. 513).
Schemmann resümiert nach Livingston die Veränderung der Richtung europäischer Bildungspolitik folgendermaßen: „Standen zuvor vor allen Dingen die Verabschiedung von allgemeinen Rahmenplänen im Blickpunkt, deren Ausgestaltung und Differenzierung den Mitgliedsstaaten entsprechend ihrer nationalen Besonderheiten und Bedürfnissen überlassen wurden, so sind jetzt Signale erkennbar für auf europäischer Ebene abgestimmte detaillierte Pläne sowie konkrete und gemeinsame Handlungsperspektiven“ (Schemmann 2007, S. 125).
Diese Entwicklung zeigt sich sehr deutlich in den Post-Lissabon-Dokumenten (ebd.) wie im Memorandum und in der Mitteilung „Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen“. 3.1.3.1 Das Memorandum über Lebenslanges Lernen122 Im Jahre 2000 veröffentlichte die Europäische Kommission das Memorandum über Lebenslanges Lernen. Das Dokument steht im direkten Zusammenhang mit der Lissabon-Strategie, indem es die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen” in den Mittelpunkt der europäischen Bildungspolitik stellt und die wichtigsten Leitlinien einer kohärenten und umfassenden Strategie dafür aufzeigt. Mit diesem Dokument wurde „die Bedeutung lebenslangen Lernens für Europas Zukunft […] nun auf höchster Ebene bekräftigt. Die Staats- und Regierungschefs sind sich einig, dass die EU im nächsten Jahrzehnt weltweit ein Beispiel geben sollte: Europa kann – und muss – zeigen, dass es möglich ist, ein dynamisches Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Stärkung des sozialen Zusammenhalts zu erreichen“ (Europäische Kommission 2000, S. 6).
Dementsprechend wird angestrebt, die Bildungs- und Ausbildungssysteme den (neuen) Anforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Als geeignete Maßnahmen für deren Verwirklichung werden formuliert: die Entwicklung der Qualität und der Effektivität der Bildungssysteme, die Erleichterung des Eintritts in 121
„Erre az idĘszakra az oktatási miniszterek számára világossá vált, hogy ha továbbra is elzárkóznak a gyors ütemben kibontakozó politika-koordinációs folyamatokban való részvételtĘl, és ha az oktatási szektor nem dolgozza ki a saját részvételét ezekben a folyamatokban, akkor a szektoron belüli politika-koordinációt mások fogják véghez vinni.“ 122 Memorandum on Lifelong Learning
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das Bildungssystem sowie dessen Öffnung für ein breites Publikum (Mihály 2002, S. 180). Die Implementierung des lebenslangen Lernens in den Mitgliedsländern der Union ist das langfristige Ziel des Memorandums: „Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind eindeutig zu einem breiten Konsens darüber gelangt, dass lebenslanges Lernen ein Thema von gemeinsamem Interesse ist. Eine Umsetzung in wirksame Maßnahmen blieb bislang jedoch aus. Die Zeit ist reif, dies nun in Angriff zu nehmen“ (Europäische Kommission 2000, S. 8).
Mit der Verwirklichung des Konzepts werden zwei strategische Ziele verknüpft: Erstens die Förderung der aktiven Staatsbürgerschaft und zweitens die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit. Die Europäische Kommission übernimmt die Koordinierung des Verwirklichungsprozesses123: „Mit dieser Mitteilung kommt die Kommission der Bitte der Europäischen Räte von Lissabon und Feira nach, die praktische Umsetzung des Konzepts in die Wege zu leiten. Zweck der Mitteilung ist, eine europaweite Diskussion über eine umfassende Strategie zur Implementierung lebenslangen Lernens auf individueller und institutioneller Ebene in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens in Gang zu setzen“ (Europäische Kommission 2000, S. 3).
Das kurzfristige Ziel des Dokumentes ist also, eine europaweite Diskussion über die Implementierung des Konzepts zu initiieren.124 Dafür werden sowohl die wichtigsten Eckpunkte der Verwirklichung in sechs Schlüsselbotschaften als auch die in der Diskussion zu erörternden Fragen zusammengefasst. Die Grundbotschaften sind folgende: a) Neue Basisqualifikationen für alle: Die erste Grundbotschaft definiert grundlegende Qualifikationen als „Kompetenzen, die Voraussetzung sind für eine aktive Teilhabe an der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft – am Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz, in realen und virtuellen Gemeinschaften und in der Demokratie“ (Europäische Kommission 2000, S. 13). b) Höhere Investitionen in die Humanressourcen: Hier werden die Überlegungen des Weißbuches 1995 wiederaufgenommen. c) Innovative Lehr- und Lernmethoden: Hervorgehoben werden in dieser Grundbotschaft die Lerntechniken, die auf den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien basieren.
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Dabei wird die führende Rolle der Mitgliedsstaaten immer wieder betont: „Veränderungen können nur in den einzelnen Mitgliedsstaaten stattfinden und müssen von den Mitgliedsstaaten ausgehen“ (Europäische Kommission 2000, S. 6). 124 Schemmann liest aus dieser Zielsetzung das Eingeständnis ab, dass bisherige Versuche in diese Richtung nicht erfolgreich waren (Schemmann 2007, S. 125).
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
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d) Lernbewertungen: Es geht hier um die Zertifizierung von nicht-formalen und informellen Lernprozessen. e) Umdenken in Berufsberatung und Berufsorientierung durch eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der Lernenden. Beratung bekommt hier eine zentrale Bedeutung, die Berater übernehmen dabei eine Vermittlerrolle. f) Das Lernen den Lernenden auch räumlich näher bringen: einerseits durch Mobilisierung von schon vorhandenen Möglichkeiten (z. B. lokalen und regionalen Institutionen für lebenslanges Lernen), andererseits durch die Schaffung von neuen Lernorten sowie mit Hilfe der neuen Informationsund Kommunikationstechniken. Die Wichtigkeit der Implementierung des Konzepts wird in zwei Punkten begründet: Erstens dadurch, dass das lebenslange Lernen als Schlüssel für die Schaffung einer wissensbasierten Gesellschaft in Europa dargestellt wird. Zweitens dadurch, dass das Konzept auch als Schlüssel für Lernen und Verstehen allgemein betrachtet wird. Das lebenslange Lernen wird im Dokument – wie in den UNESCO-Konzepten zuvor – sehr umfassend definiert: Es wird die „Komplementarität von formalem, nicht-formalem und informellem Lernen“ (ebd. S. 10) sowie das „lebensumspannende Kontinuum des Lernens“ (ebd. S. 9) betont. Der Lernbegriff des Memorandums schließt also alle zielgerichteten Lerntätigkeiten mit ein, die einer kontinuierlichen Verbesserung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Kompetenzen dienen. Nach der Kategorisierung von Cropley vertritt das Memorandum die maximalistische Dimension des lebenslangen Lernens. Im Anhang des Dokuments werden gut umgesetzte Beispiele für lebenslanges Lernen sowie Anregungen für die Entwicklung von Indikatoren und Benchmarks für deren Messung aufgeführt. Letztere zeigen sehr deutlich in Richtung Konkretisierung des Verwirklichungsprozesses: Die statistischen Daten werden benötigt für die Erstellung einer umfassenden und kohärenten Strategie zum „Lebenslangen Lernen“.125 Mit dem Dokument wurde ein umfassender Konsultationsprozess initiiert, an dem die Mitgliedsstaaten der EU, die Beitrittskandidatenländer sowie die Länder des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) teilnahmen. Insgesamt nahmen ca. 12.000 Personen an den verschiedenen Konferenzen und Besprechungen teil und es wurden 3.000 Einzelbeiträge eingereicht (vgl. Europäische Kommission 2001). Das Memorandum wurde „zur Referenz, aufgrund deren die gemeinsame Koordination der bildungspolitischen Faktoren der nationalen Beschäftigungspolitiken sich entfalten und vertieft werden konnte“126 (Halász 2006, S. 4). 125
Im Jahre 2000 wurde in Zusammenarbeit mit der UNESCO und der OECD zur Messung lebenslangen Lernens eine Task Force eingerichtet. 126 „A memorandum […] lett az a referencia, amelynek alapján kibontakozhatott és elmélyülhetett a
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Bertalan Komenczi hält das Memorandum – neben dem Dokument über die konkreten Zukunftsziele der Bildungssysteme – für das wichtigste bildungspolitische strategische Dokument der Europäischen Kommission „für dieses Jahrzehnt, aber auch darüber hinaus“127 (Komenczi 2001, S. 131). László Zachár betont, dass das Dokument als „die ideologische Grundlage der Aktionsprogramme der Beitrittsländer und der Beitrittskandidatenländer dient“128 (Zachár 2002, S. 375). Peter Krug weist darauf hin, dass das Memorandum in der deutschen bildungspolitischen Diskussion sehr kritisch betrachtet wurde. Er thematisiert die Problemstellungen und Bedenken, bei denen es einerseits um die Befürchtung ging, dass durch die Verwirklichung der Maßnahmen des Memorandums eine Harmonisierung der nationalen Bildungssysteme erfolgen könnte. Andererseits wurden konzeptionelle Mängel aufgezeigt, wie z.B. die Konzentration auf die Beschäftigten, die Vernachlässigung der Förderung der persönlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Partizipation sowie der Rolle der wirtschaftlichen Unternehmen und gesellschaftlicher Gruppen bei der Finanzierung. Auch die randständige Thematisierung der Förderung von Benachteiligten und die starke Angebotsorientierung des Konzepts wurde kritisiert (Krug 2001b, S. 35). Dewe und Weber fassen die Bedeutung des Memorandums folgendermaßen zusammen: „Mit dieser Mitteilung geht die Kommission den mit dem Weißbuch 1995 aufgenommenen Weg konsequent weiter, mit dem lebenslanges Lernen zum roten Faden für die Entwicklung der gemeinsamen Bildungspolitiken wurde, was dort als kohärente und umfassende Strategie für lebenslanges Lernen bezeichnet wird“ (Dewe/Weber 2007, S. 101).
Als wesentliche Tendenzen des Dokuments lassen sich folgende Punkte herausstellen: 1) Lebenslanges Lernen wird als umfassendes, alle Lebensbereiche und Altersphasen des menschlichen Lebens einschließendes Konzept begriffen. 2) Mit der Verwirklichung des Konzepts werden zwei Hauptziele angestrebt: die Förderung der aktiven Staatsbürgerschaft und der Beschäftigungsfähigkeit. 3) Die Verwirklichung steht im Fokus: Die sechs Grundbotschaften stehen für die Konkretisierung der Ziele für die Ausarbeitung von Benchmarks. Das Memorandum kann als „richtungweisendes Papier für die Arbeit in der supranationalen Behörde“ (Dewe/Weber 2007, S. 100) aber – aus der rückblickenden Perspektive – auch als vorbereitendes Papier für die Mitteilung der Europäinemzeti foglalkoztatáspolitikák oktatással kapcsolatos elemeinek közösségi koordinációja“ 127 A Memorandum […] – véleményem szerint – az Európai Bizottság erre az évtizedre szóló, de azon is túl tekintĘ […] legfontosabb oktatási stratégiai dokumentuma“. 128 “a tagállamok és a csatlakozó országok cselekvési programjainak elvi alapját adja“
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schen Kommission Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen bewertet werden (ebd.). 3.1.3.2 Die Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen129 Nach der Diskussion, die vom Memorandum gefordert und ausgelöst wurde, veröffentlichte die Europäische Kommission 2001 das Dokument Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen. Der Mitteilung ging der Europäische Rat von Feira voraus, der im Juni 2000 die Mitgliedsstaaten, die Kommission und den Rat der Europäischen Union aufgefordert hat, kohärente Strategien und praktische Maßnahmen zur Verwirklichung eines lebenslangen Lernens für alle zu erarbeiten. Das Dokument wurde durch einen umfassenden Konsultationsprozess vorbereitet, an dem alle EU-Mitgliedsstaaten, die Beitrittskandidatenländer und die EWR-Länder, sämtliche EU-Ämter, das Europäische Parlament, der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen teilgenommen haben. Des Weiteren wurden Verhandlungen mit den Sozialpartnern, mit Vertretern der Zivilgesellschaft und verschiedenen internationalen Organisationen wie Europarat, UNESCO und OECD geführt. Die Mitteilung lehnt sich inhaltlich stark an das Memorandum an. Das umfassende Verständnis des Memorandums weiterführend, stellt sie die erste Definition des lebenslangen Lernens vor: „alles Lernen während des gesamten Lebens, das der Verbesserung von Wissen, Qualifikationen und Kompetenzen dient und im Rahmen einer persönlichen bürgerschaftlichen, sozialen bzw. beschäftigungsbezogenen Perspektive erfolgt“ (Europäische Kommission 2001, S. 17).
Dies bezieht sich auf formelle, nicht-formelle und informelle Lernprozesse und beinhaltet folgende Grundprinzipien: zentrale Stellung der Lernenden, Chancengleichheit, Qualität und Relevanz von Lernangeboten (ebd.). Auch die zweifache Zielsetzung – erstens die Mobilität und die Persönlichkeitsentwicklung der europäischen Bürger und zweitens der Wunsch der EU und der Mitgliedsländer nach Wohlstand, Integration, Demokratie und Toleranz, – führt die Überlegungen des Memorandums weiter. Der Aufbau der Argumentation wird im Dokument folgendermaßen beschrieben: „Im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte stehen konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung des europäischen Raums des lebenslangen Lernens auf allen Ebenen. In Abschnitt 2 werden Bausteine kohärenter und umfassender Strategien (Hervorhebung im Original) beschrieben, die bei der Strategieentwicklung als Anhaltspunkte dienen sollen. In Abschnitt 3 werden an den 129
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Strategien ausgerichtete Aktionsschwerpunkte (Hervorhebung im Original) vorgeschlagen. In Abschnitt 4 wird erläutert, wie die Umsetzung der Agenda (Hervorhebung im Original) durch die Stärkung bestehender Prozesse, Instrumente und Programme und durch das Entwickeln von Indikatoren vorangetrieben werden kann (Hervorhebung im Original). Der letzte Abschnitt gibt einen Ausblick auf die weiteren Schritte“ (ebd. S. 18).
Die Mitteilung bildet die Grundlage zur Bewertung der nationalen Bildungspolitiken: Sie präsentiert als Orientierungshilfe die wichtigsten Bausteine und Aktionsschwerpunkte zur Verwirklichung des Konzepts. Die Bausteine sind: a) Partnerschaftliche Arbeit im gesamten Bildungswesen: „Alle relevanten Akteure – ob sie Teil der formalen Systeme sind oder nicht – müssen kooperieren, damit die `Strategien vor Ort` Wirkung zeigen“ (ebd. S. 4). b) Sammlung von Erkenntnissen über die Lernnachfrage von Lernenden und potenziellen Lernenden inkl. Organisationen, Gruppen, der ganzen Gesellschaft sowie des Arbeitsmarktes. c) Angemessene Mittelausstattung: Hier geht es um die Finanzierung allgemein sowie um die wirksame Mittelverteilung ganz konkret. d) Verbesserung des Zugangs zu den Bildungsangeboten, „so dass jeder überall und jederzeit die Möglichkeit zum Lernen hat“ (ebd.). e) Die Schaffung einer neuen Lernkultur sowie f) Das Erreichen einer möglichst hohen Qualität. Zum Letzteren werden Instrumente zur Qualitätssicherung, Bewertung und Überwachung vorgeschlagen. Die sechs Aktionsschwerpunkte sind dementsprechend: a) Grundqualifikationen, b) Zeit und Geld in Lernen investieren c) Innovative Pädagogik d) Bewertung des Lernens e) Information, Beratung und Orientierung sowie f) Lernende und Lernangebote zusammenführen (ebd. S. 16f.). Sie werden im Kontext der sechs Schlüsselbotschaften des Memorandums dargestellt und beziehen sich auf die oben vorgestellten Bausteine. Des Weiteren empfiehlt das Dokument die Entwicklung von Indikatoren für vergleichbare Daten und eine statistische Erhebung sowie die Ausarbeitung eines Arbeitsprogramms. Die wesentlichen Tendenzen des Dokuments sind dieselben wie die des Memorandums, mit dem Unterschied, dass die dort aufgeführten Bereiche hier weiter konkretisiert werden: 1) Umfassendes Verständnis des lebenslangen Lernens. 2) Die Förderung der aktiven Staatsbürgerschaft und der Beschäftigungsfähigkeit bleiben auch hier die zentralen Ziele des lebenslangen Lernens.
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3) Weitere Konkretisierung der im Memorandum aufgeführten Schlüsselbotschaften in Bausteinen und Aktionsschwerpunkten. Mit dem Memorandum und dem Dokument „Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen“ wurde „Lebenslanges Lernen“ endgültig zum zentralen bildungspolitischen Konzept in der Europäischen Union, „die sich die Stärkung der europäischen Zusammenarbeit im Hinblick auf die Umsetzung dieses Grundsatzes zur Aufgabe gemacht hat“, fasst die Eurydice-Untersuchung Lebenslanges Lernen. Der Beitrag der Bildungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Eurydice 2000) zusammen. 3.1.3.3 Qualitätsindikatoren für Lebenslanges Lernen Die auf die Post-Lissabon-Dokumente folgenden bildungspolitischen Dokumente weisen alle in Richtung weiterer Konkretisierung der Maßnahmen zur Verwirklichung des Konzepts, vor allem in Bezug auf die Festlegung von Qualitätsindikatoren für „Lebenslanges Lernen“: Die Entschließung des Rates vom 27. Juni 2002 stellt „Lebenslanges Lernen“ als „Leitprinzip für allgemeine und berufliche Bildung“ dar (Rat der Europäischen Union 2002b, S. 2). Die Mitgliedsstaaten werden ausdrücklich gebeten, „im Rahmen ihrer Verantwortung umfassende und kohärente Strategien auszuarbeiten und umzusetzen, die auf den Grundsätzen und Bausteinen beruhen, die in der Mitteilung der Kommission genannt werden und dabei alle relevanten Beteiligten, insbesondere die Sozialpartner, die Zivilgesellschaft sowie die örtlichen und regionalen Behörden einzubeziehen“ (ebd.).
Das Arbeitsprogramm 2010 (Untertitel: Detailliertes Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in Europa) wurde vom Rat und der Kommission am 14. Februar 2002 gemeinsam angenommen. Dies sei ein „konkreter Beitrag zur Umsetzung der Lissabon-Strategie“ (Baur 2008, S. 32) und enthalte „die wichtigsten Fragen, die geregelt werden müssen, wenn die vereinbarten strategischen Ziele und Teilziele […] verwirklicht werden sollen. […] Es zeigt die wichtigsten Instrumente auf, die für die Messung der Fortschritte und den Vergleich der Leistungen sowohl intern als auch mit anderen Regionen der Welt verwendet werden“ (ebd. S. 4).
Es werden dabei drei strategische Ziele benannt: 1) Erhöhung der Qualität und Wirksamkeit der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in der EU, 2) leichterer Zugang zu ihnen sowie
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3) die Öffnung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung gegenüber der Welt (ebd. S. 7ff). Sie werden durch die Bestimmung von 13 Teilzielen konkretisiert (vgl. Tabelle 6): Strategische Ziele Erhöhung der Qualität und Wirksamkeit der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung in der EU
Leichterer Zugang zur allgemeinen und beruflichen Bildung für alle Öffnung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung gegenüber der Welt
Teilziele - Verbesserung der allgemeinen und beruflichen Bildung von Lehrkräften und Ausbildern - Entwicklung der Grundfertigkeiten für die Wissensgesellschaft - Zugang zu den Informations- und Kommunikationstechnologien für alle - Förderung des Interesses an wissenschaftlichen und technischen Studien - Bestmögliche Nutzung der Ressourcen - ein offenes Lernumfeld - Lernen muss attraktiver werden - Förderung von aktivem Bürgersinn, Chancengleichheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt - engere Kontakte zur Arbeitswelt und zur Forschung sowie zur Gesellschaft im weiteren Sinne - Entwicklung des Unternehmergeistes - Förderung des Fremdsprachenerwerbs - Intensivierung von Mobilität und Austausch - Stärkung der europäischen Zusammenarbeit
Tabelle 6: Strategische und konkrete Ziele für die europäischen Bildungssysteme (Europäischer Rat und Kommission 2002) Die Bildungsminister der Mitgliedsländer der Europäischen Union und der neuen Beitrittsländer stellten schon 1998 in Prag und 2000 in Lissabon „die Qualitätsentwicklung der Bildungssysteme in den Mittelpunkt“ (Mihály 2002, S. 180). Aufgrund des 2001 in Stockholm beschlossenen Arbeitsprogramms der Europäischen Kommission stellte das Gipfeltreffen in Barcelona einen Monat später – im Sinne des Vertrags von Maastricht – die Richtung der zukünftigen Entwicklung europäischer Bildungssysteme vor130 Der Bericht über die Qualitätsindikatoren für das lebenslange Lernen in Europa wurde mit Beteiligung von 35 Ländern sowie der UNESCO und OECD erstellt. Er untersucht die Qualität von Erziehung und Bildung in vier Bereichen: Fertigkeiten, Kompetenzen 130
2001 wurde in Stockholm das Dokument The Concrete Future Objectives of Education and Training Systems (Council of the European Union 2001) und 2002 in Barcelona der dazu gehörige, mit konkreten Aufgaben, Indikatoren, Benchmarks und einem Zeitplan erweiterte, detaillierte Arbeitsplan Draft Council resolution on the promotion of Enhanced European Cooperation in vocational Education and Training (Council of the European Union 2002) beschlossen. Diese machten die Idee des “Lebenslangen Lernens” zum gemeinsamen logischen Rahmen aller bildungs- und beschäftigungspolitischen Maßnahmen der Union. 2002 wurden in Bratislava weitere Details geklärt (Kovács 2005, S. 213).
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und Einstellungen, Zugang und Teilnahme, Ressourcen für Lebenslanges Lernen sowie Strategien und Systementwicklung (Europäische Kommission 2002). Es werden 15 Qualitätsindikatoren für das lebenslange Lernen identifiziert (vgl. Tabelle 7). Als Fazit wird für Europa eine unbefriedigende Leistung in den Bereichen Qualifikation und Kompetenzen festgestellt. Es werden zudem die Verfügbarkeit bzw. das Fehlen von vergleichbaren Daten zu den einzelnen Indikatoren erfasst.131 Bereiche Bereich A: Fertigkeiten, Kompetenzen und Einstellungen Bereich B: Zugang und Teilnahme Bereich C: Ressourcen für das lebenslange Lernen Bereich D: Strategien und Systementwicklung
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Qualitätsindikatoren Lese- und Schreibfertigkeiten Rechenfertigkeiten Neue Fertigkeiten für die kognitive Gesellschaft Fähigkeit zu lernen, wie man lernt Aktive Bürgerschaft, kulturelle und soziale Fertigkeiten Zugang zum lebenslangen Lernen Teilnahme am lebenslangen Lernen Investitionen in das lebenslange Lernen Lehrende und Lernen IKT und Lernen Strategien für das lebenslange Lernen Kohärenz des Angebots Beratung und Orientierung Anerkennung und Zertifizierung Qualitätssicherung
Tabelle 7: Die fünfzehn Qualitätsindikatoren für das lebenslange Lernen (Europäische Kommission 2002) 2003 wurden im Dokument Schlussfolgerungen des Rates vom 5. Mai 2003 über europäische Durchschnittsbezugswerte für allgemeine und berufliche Bildung (Benchmarks) fünf europäische Benchmarks definiert: a) Senkung des Anteils frühzeitiger Schulabgänger auf einen Durchschnittswert von höchstens 10 %, b) Steigerung der Gesamtzahl der Absolventen mathematischer, naturwissenschaftlicher und technischer Fächer um mindestens 15 %, wobei gleichzeitig das Geschlechter-Ungleichgewicht abnehmen sollte, c) Erreichung einer Quote von mindestens 85 % der 22-Jährigen, die die Sekundarstufe II abgeschlossen haben, 131
Dabei fehlten in allen Ländern die Daten zu den Indikatoren „Zugang zum lebenslangen Lernen“, „Kohärenz des Angebots“, „Orientierung und Beratung“, „Anerkennung und Zertifizierung“ sowie „Qualitätssicherung“. In Deutschland wurden außer diesen alle nötigen Daten erfasst. In Ungarn fehlten noch zusätzlich die nötigen Daten zu den Indikatoren „IKT und Lernen“ und „Strategien für das lebenslange Lernen“.
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d) Senkung des Anteils der 15-Jährigen, die im Bereich der Lesekompetenz schlechte Leistungen erzielen, um mindestens 20 % im Vergleich zu 2000 sowie e) Erreichung eines Durchschnitts der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter (Altersgruppe 25–64 Jahre), die sich am lebenslangen Lernen beteiligen, von mindestens 12,5 %. In Bezug auf die Festlegung der Benchmarks kam es zwischen den Mitgliedsstaaten und der Kommission zu grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten: Die Vorstellungen der Europäischen Kommission stießen auf den Widerstand vieler Mitgliedsstaaten, “die sich ihren Gestaltungsspielraum bei der Anpassung ihrer Bildungssysteme nicht einschränken lassen wollten” (Linsenmann 2003, S. 155). Daraufhin beschloss der Ministerrat 2003, dass die festgelegten Benchmarks sich ausschließlich auf europäische Durchschnittswerte beziehen, also keine einzelstaatlichen Ziele beinhalten sollen. Des Weiteren betonte er, dass sich aus dem Arbeitsprogramm keine direkten mitgliedsstaatlichen Maßnahmen ergeben sollen. Als Konsequenz des Machtkampfes zwischen den Mitgliedsstaaten und der Kommission wurde in der Bildungspolitik eine „leichtere“ Form der Koordination verfolgt, die Gemeinschaft verpflichtete die Mitgliedsländer nicht auf die Ausarbeitung von nationalen Aktionsplänen. Stattdessen wurden nationale Kommissionen gebildet, um die Indikatoren und Benchmarks auf der nationalen Ebene auszuarbeiten. Es wurden best-practice-Beispiele gesammelt und die nationale Bildungspraxis wurde analysiert. Der Schwerpunkt wurde nicht auf Koordination gelegt, sondern auf Kommunikation, auf das gegenseitige Kennen lernen der nationalen best-practice-Beispiele sowie auf das `politische Lernen` (policy learning). Aus der rückblickenden Perspektive lässt sich der Zeitraum von 2000 bis 2005 also als die Phase einer „leichteren Form“ (vgl. Halász 2006) der bildungspolitischen Koordination bezeichnen im Vergleich zu der Koordinierung der gemeinsamen Beschäftigungspolitik. Nach Einschätzung des ungarischen Bildungsexperten Gábor Halász dienten diese Maßnahmen „u.a. der Vorbereitung der Bildungsverwaltung der Mitgliedsländer auf die ´härtere´ Form der Koordination“132 (Halász 2006, S. 6). In diesem europapolitischen Kontext entstanden – in Deutschland 2001 und in Ungarn 2003 – die ersten nationalen Aktionsprogramme zur Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. 133
132
„Mindez azt is szolgálta, hogy a tagállamok oktatási adminisztrációja felkészülhessen a koordinációnak […] [egy] határozottabb formájára“. 133 Vgl. Kapitel 4.
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3.1.3.4 Analyse und Bewertung der Lissabon-Strategie im Fortschrittsbericht der Wim Kok-Expertenkommission In der Lissabon-Strategie war für das Jahr 2005 eine Bestandsaufnahme vorgesehen, um die Fortschritte der Umsetzung bis zur Halbzeit zu überprüfen. Diese Halbzeitergebnisse waren ernüchternd, auch in Bezug auf die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“: Die vom ehemaligen niederländischen Premierminister Wim Kok geleitete Expertenkommission bescheinigte der Lissabon-Strategie im Bericht Facing the challenge: The Lisbon strategy for growth and employment (vgl. Council of the European Union 2004) eine überfrachtete Agenda, eine mangelhafte Koordinierung sowie miteinander konkurrierende Prioritäten. Sie kam zu der Schlussfolgerung, dass die Erreichung der Ziele der Lissabon-Strategie ohne die Beschleunigung der Reformen nicht gewährleistet werden kann. Als Hauptgrund für die Probleme gab der Bericht die fehlende Umsetzung des Arbeitsprogramms auf der nationalen Ebene an. Kritisiert wurden „insbesondere die fehlenden mitgliedsstaatlichen Fortschritte im Bereich der Quote der Schulabbrecher, des Anteils von weiblichen Studierenden in naturwissenschaftlichen und technischen Studiengängen, der Abschlussquote der Sekundarstufe II, des Anteils von Jugendlichen mit unzureichenden Schlüsselkompetenzen, und der Teilnahme von Erwachsenen an Maßnahmen des lebenslangen Lernens“ (Linsenmann 2004, S. 145).
Die Expertenkommission riet u.a. zu einer klaren Definition von Zielen, zur Einbeziehung von Experten und zur Ausarbeitung von nationalen Aktionsprogrammen. Auch der Frühjahrsgipfel im März bemängelte die Ergebnisse und forderte die Erhöhung der Investitionen der Mitgliedsländer in das Humankapital sowie die Qualitätssteigerung der Aus- und Weiterbildungssysteme (vgl. Ceri Jones 2005). Die Europäische Kommission und der Rat der Bildungsminister beschlossen daraufhin im Dokument „Allgemeine und berufliche Bildung 2010. Die Dringlichkeit von Reformen für den Erfolg der Lissabon-Strategie. Gemeinsamer Zwischenbericht des Rates und der Kommission über die Maßnahmen im Rahmen des detaillierten Arbeitsprogramms zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung (Rat der Europäischen Union 2004) eine Beschleunigung der Reformen im Bereich der Erziehung und Bildung. Der erste gemeinsame Zwischenbericht des Rates und der Kommission mit dem Titel Allgemeine und berufliche Bildung 2010 – Die Dringlichkeit von Reformen für den Erfolg der Lissabon-Strategie nennt drei Bereiche, in denen „gleichzeitig und unverzüglich“ gehandelt werden soll: „Konzentration der Reformen und Investitionen auf die für die Wissensgesellschaft wichtigsten Bereiche“, „Lebenslanges Lernen Realität werden lassen“ sowie „Ein Europa der allgemeinen und berufli-
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chen Bildung schaffen“ (Rat der Europäischen Union 2004, S. 1). Dazu sollen erstens die Investitionen in Erziehung und Bildung erhöht bzw. der Lehrerberuf attraktiver gemacht werden und zweitens umfassende und kohärente Strategien entwickelt werden, um Schlüsselkompetenzen zu vermitteln sowie ein „offenes, für jedermann zugängliches Lernumfeld“ zu schaffen (ebd. S. 10). Drittens soll ein „europäischer Rahmen für Qualifikationen und eine „europäische Dimension der Bildung“ geschaffen werden (ebd. S. 11). Im Jahre 2004 wurde der Europass eingeführt, um mehr Transparenz bei den europäischen Qualifikationen und Kompetenzen zu schaffen.134 Die Mitgliedsländer verpflichteten sich, die EU über die Verwirklichung der gemeinsamen Ziele regelmäßig zu informieren und sie beauftragten die Kommission, ihr Vorwärtskommen zu bewerten. 135 „Lebenslanges Lernen“ wurde dabei erneut in den Mittelpunkt gestellt (Linsenmann 2004, S. 145). Das Abschlussjahr des Untersuchungszeitraums der vorliegenden Studie, 2005, markiert also die `Halbzeit` und gleichzeitig den Neubeginn der Lissabon-Strategie. Seit diesem „Neubeginn“ ist die europäische Bildungspolitik durch eine deutlich stärkere Einflussnahme der EU auf die Verwirklichung des Konzepts in den Mitgliedsstaaten gekennzeichnet: Seitdem beschränkt sich die Union nicht mehr auf die Rolle der Initiatorin, sondern agiert – im Auftrag der Mitgliedsländer – auch als Exekutive. Dieser Rollenwechsel, der eine eindeutige Kompetenzerweiterung ist, zeigt sich schon in der Menge der in den letzten Jahren ausgearbeiteten EU-Dokumente zum Thema lebenslanges Lernen. Die – von der EU schon im Memorandum eingeforderten – nationalen Strategien zur Verwirklichung des „Lebenslangen Lernens“ erschienen in Deutschland (2004) und in Ungarn (2005) quasi parallel zu diesem Neubeginn der Lissabon-Strategie.
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Der Europass besteht aus fünf Teilen, von denen zwei Dokumente von der lernenden Person ausgefüllt werden: der Europass-Lebenslauf sowie der Europass-Sprachenpass. Die restlichen drei Dokumente – die Europass-Zeugniserläuterung, der Europass-Diplomzusatz und der Europass-Mobilitätsnachweis – werden von den jeweils zuständigen Organisationen ausgestellt (vgl. Baur 2008, S. 44). 135 Über die Häufigkeit der Berichterstattung gab es eine lange Diskussion: Der Vorschlag der Kommission war eine jährliche Berichterstattung. Dies wurde von Deutschland sehr stark kritisiert und stattdessen eine dreijährliche Berichterstattungspflicht vorgeschlagen. Ungarn plädierte für eine mindestens zweijährige Phase (vgl. Kovács 2005, S. 224). Als Kompromiss werden die Berichterstattung und die Bewertung durch die Gemeinschaft alle zwei Jahre durchgeführt. Die erste Bewertung erfolgte 2006. Hier gilt noch anzumerken, dass Michael Schemmann auch die Berichterstattung als EU-Koordinierungsinstrument beschreibt (vgl. Schemmann 2007).
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3.1.4 Ausblick: Ein Neubeginn für die Lissabon-Strategie 2005 Im folgenden Abschnitt werden die wichtigsten bildungspolitischen Aktivitäten der EU in Bezug auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in Form eines Ausblicks bis zum Sommer 2008 dargestellt. In der Mitteilung Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze. Ein Neubeginn für die Strategie von Lissabon der Europäischen Kommission vom 2. Februar 2005 wurde eine Umgestaltung der Lissabon-Strategie angekündigt. Es ging dabei nicht darum, die Strategie neu zu formulieren, „vielmehr werden neue Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene aufgezeigt, die zur Verwirklichung unserer Lissabon-Vision beitragen sollen“ (Europäische Kommission 2005, S. 5). Das Dokument stellt die drei Säulen der Umgestaltung vor: Erstens wird eine „Erneuerung der Partnerschaft für Wachstum und Arbeitsplätze“ (ebd.) sowie eine klare Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten, vor allem in Bezug auf die politische Verantwortung und Kompetenzbereiche der Union und der Nationalstaaten, gefordert. Zweitens sollen Kräfte mobilisiert werden, die den Wandel unterstützen. Die Kommission schlägt vor, ein „integriertes Leitlinienbündel“ (ebd. S. 9) der betroffenen Politikbereiche zu bilden. Die Kommission legt dazu einen Aktionsplan vor, der nicht nur die Ziele und Maßnahmen beinhaltet (vgl. Tabelle 8), sondern auch Zuständigkeiten benennt, Fristen setzt und Fortschritte misst. Ziele Stärkung der Anziehungskraft Europas für Investoren und Arbeitskräfte Wissen und Innovation für Wachstum Mehr und bessere Arbeitsplätze schaffen
Maßnahmen - Erweiterung und Vertiefung des Binnenmarkts - Verbesserung der europäischen und nationalen Vorschriften - Gewährleistung offener und wettbewerbsorientierter Märkte innerhalb und außerhalb Europas - Erweiterung und Verbesserung der europäischen Infrastruktur - Mehr und gezieltere Investitionen in Forschung und Entwicklung - Erleichterung der Innovation, Verbreitung von IKT und schonende Nutzung der Ressourcen - Beitrag zu einer starken industriellen Basis in der EU - Mehr Menschen an das Erwerbsleben heranführen und die Sozialschutzsysteme modernisieren - Die Anpassungsfähigkeit von Arbeitnehmern und Unternehmen sowie die Flexibilität der Arbeitsmärkte steigern - Mehr in das Humankapital investieren: bessere Bildung und Qualifikation
Tabelle 8: Ziele und Maßnahmen der umgestalteten Lissabon-Strategie
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Drittens geht es darum, die Strategie – wie der Vorschlag der Wim Kok-Expertenkommission lautete – zu vereinfachen und zu straffen: „Die neue LissabonAgenda ist notwendigerweise breit gefächert, doch für ihren Erfolg werden einige wenige politische Prioritäten entscheidend sein“, lautet die Devise der Europäischen Union (ebd. S. 12). Auch die künftige Haushaltpolitik der EU soll sich an den Prioritäten der Lissabon-Strategie orientieren. Das Dokument stellt fest, dass die Lissabon-Strategie bisher nicht vermochte, die Hauptbeteiligten auf der nationalen Ebene (nationale und regionale Parlamente, Sozialpartner und Zivilgesellschaft) in den Prozess einzubeziehen (ebd. S. 14). Deshalb möchte die Kommission in Zukunft auf der nationalen Ebene stärker fördernd wirken – durch Benchmarking, finanzielle Unterstützung und Festlegung von vorbildlichen Verfahren (ebd. S. 17). Außerdem kündigt sie an, ihre Hauptfunktion als „Initiatorin und Exekutive“ (ebd. S. 5) stärker wahrzunehmen. Sie fordert von den Mitgliedsstaaten, feste Verpflichtungen einzugehen und ihren festgestellten Rückstand bei der Umsetzung der Lissabon-Reformen aufzuarbeiten.136 Dazu werden diese aufgefordert, ihre nationalen Aktionspläne mit Benennung von konkreten Maßnahmen, Zeitplan und Fortschrittsindikatoren bis 2006 zu erarbeiten sowie auf der Regierungsebene eine/n Verantwortliche/n („Frau oder Herr Lissabon“) als Koordinator/in und Ansprechpartner/in zu benennen. Die Mitteilung resümiert die vorgeschlagenen Änderungen wie folgt: „Das ist der Neubeginn, den Europa braucht“ (ebd. S. 4). 3.1.4.1 Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen137 Der oben geschilderten Empfehlung der Europäischen Kommission entsprechend wurden die Mitgliedsstaaten nach dem Frühjahrsgipfel im März 2005 aufgefordert, konkrete Umsetzungspläne vorzulegen. Als eine „Hilfestellung“ hat die Europäische Kommission die Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen vorgelegt. Nach Vorstellung der Kommission sollen alle wesentlichen Kompetenzen gebündelt werden, einen Rahmen für die weiteren Schritte für die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ liefern und sowohl für den weiteren Verlauf des Arbeitsprogramms als auch für die Bildungs- und Berufsbildungsprogramme der Union sowie auch für die Validierung von Kompetenzen und für 136
Im Dokument ist die häufige Nutzung von “muss/müssen” sehr auffällig, im Gegensatz zu den in bildungspolitischen Dokumenten vorher genutzten “soll/sollen”. Recommendation of the European Parliament and of the Council on Key competences for lifelong learning
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die Vergleichbarkeit der Bildungsergebnisse eine Vorlage sein. Deshalb ist das Dokument im Zusammenhang mit den laufenden Arbeiten zum Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) zu sehen. Die Zielsetzung der Empfehlung lautet: Ein europäisches Referenzinstrument für Schlüsselkompetenzen zu entwickeln, um den Zugang für alle europäischen Bürger/innen zu ermöglichen (Europäischer Rat 2005, S. 3). Das Dokument ist in drei Teile gegliedert: Es fängt mit einer ausführlichen „Begründung“ (ebd. S. 2–9) an. Darauf folgt die Empfehlung selbst. Die acht Schlüsselkompetenzen werden im Anhang ausführlich beschrieben, wobei neben der Definition auch die wesentlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen der jeweiligen Kompetenzen vorgestellt werden. Die Empfehlung definiert acht Schlüsselkompetenzen für das lebenslange Lernen,138 die für den sozialen Zusammenhalt, die Beschäftigungsfähigkeit und die persönliche Entfaltung als notwendig erachtet werden (ebd. S. 3): a) Die muttersprachliche Kompetenz ist die Grundlage jeglicher Lernprozesse. Sie bedeutet die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle und Tatsachen mündlich und schriftlich in allen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten sprachlich angemessen zu äußern. Es geht hier um Hörverstehen, Sprechen, Lesen und Schreiben. b) Die fremdsprachliche Kompetenz erfordert im Großen und Ganzen dieselben Fähigkeiten wie die muttersprachliche Kompetenz sowie interkulturelles Verstehen und Vermittlungsfähigkeit. Als Ziel wird angegeben, dass alle europäischen Bürger mindestens zwei Fremdsprachen kennen und nutzen. c) Die mathematischen und grundlegenden naturwissenschaftlich-technischen Kompetenzen tragen dazu bei, Alltagsprobleme mit Hilfe mathematischer und naturwissenschaftlicher Methoden zu lösen, wobei der Schwerpunkt gleichermaßen auf Aktivität und Verfahren sowie auf Wissen liegt. d) Die Computerkompetenz umfasst die sichere und kritische Anwendung der Technologien der Informationsgesellschaft für Arbeit, Freizeit und Kommunikation. e) Lernkompetenz wird als wichtigste Voraussetzung des lebenslangen Lernens definiert. Es geht dabei um die Fähigkeit, den eigenen Lernprozess beginnen und weiterführen zu können. Dazu gehören u.a. effektives Zeitund Informationsmanagement, Bewusstsein für die eigenen Lernbedürfnisse und für den eigenen Lernprozess sowie die Feststellung und Nutzung der Lernmöglichkeiten. Motivation und Selbstvertrauen spielen dabei eine zentrale Rolle. 138
Diese wurden u. a. aufgrund des sog. DeSeCo-Projektes (Definition and Selection of Competencies) der OECD ausgearbeitet. Mehr dazu vgl. Óhidy 2006b.
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f) Interpersonelle, interkulturelle und soziale Kompetenz sowie Bürgerkompetenz betreffen „alle Formen von Verhalten, die Personen ermöglichen, in effizienter und konstruktiver Weise am gesellschaftlichen und beruflichen Leben teilzuhaben, insbesondere in zunehmend heterogenen Gesellschaften, und gegebenenfalls Konflikte zu lösen“ (ebd. S. 20).139 g) Unter unternehmerischen Kompetenzen werden einerseits die Motivation verstanden, sich zu verändern und andererseits die Fähigkeiten, die Umwelt zu verändern. Dazu gehören Verantwortungsbewusstsein, Risikobereitschaft, strategisches Denken, die Fähigkeit, Projekte zu planen und durchzuführen usw. h) Kulturelle Kompetenzen bedeuten einerseits die Fähigkeit, den kulturellen Hintergrund von Anderen zu kennen und zu verstehen (hierhin gehört z. B. das Verstehen von historischen Zusammenhängen), andererseits die Anerkennung der Bedeutung von künstlerischem Ausdruck sowie die Fähigkeit, sich selbst kreativ ausdrücken zu können. In dem Dokument stellt die EU Indikatoren für einen Bereich vor, der traditionell als Bastion der nationalstaatlichen Bildungssysteme gilt: für den Bereich der Grundbildung. Den Grund dafür lieferten internationale Vergleichsstudien, wie z. B. die PISA-Studien der OECD140, die deutlich aufgezeigt haben, dass die Effektivität vieler europäischer Bildungssysteme große Mängel aufweist. Für das deutsche und das ungarische Schulsystem wurden u.a. Defizite in Bezug auf die Chancengleichheit bescheinigt.141 Um dem zu erwartenden Widerstand der Mitgliedsländer vorzugreifen, werden in der Empfehlung deren Rechtsgrundlagen explizit thematisiert. Außerdem greift das Dokument explizit den Gedanken über die Verknüpfung aller Bildungsstufen auf: „Am Ende ihrer Grund(aus)bildung sollten junge Menschen ihre Schlüsselkompetenzen so weit entwickelt haben, dass sie für ihr Erwachsenenleben gerüstet sind, und die Schlüsselkompetenzen sollten im Rahmen des lebenslangen Lernens weiterentwickelt, aufrechterhalten und aktualisiert werden“ (ebd. S. 15). Die Empfehlung orientiert sich dabei sowohl an den oben vorgestellten PostLissabon-Dokumenten wie auch am Delors-Bericht der UNESCO sowie an Schulleistungs-Vergleichsstudien der OECD und Untersuchungen des Cedefop. 139
Das Ratstreffen der Bildungsminister am 18./19. Mai 2006 ordnete die „interpersonelle und interkulturelle Kompetenz“ als „kulturelles Bewusstsein“ der achten Schlüsselkompetenz zu. PISA: Programme for International Student Assessment (vgl. OECD 2001b). Die Studie bescheinigte für Deutschland und Ungarn, dass ihr Schulsystem Chancengleichheit und soziale Mobilität eher verhindert als fördert: „Die Entwicklung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Leistung scheint ein kumulativer Prozess zu sein, der lange vor der Grundschule beginnt und an Nahtstellen des Bildungssystems verstärkt wird“ (OECD 2001b, S. 36). Zum Thema Auswirkung der PISA-Studie auf die Konzepte lebenslangen Lernens vgl. Steinert 2003. 141 Mehr dazu vgl. Abschnitt 3.2 dieses Kapitels. 140
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Dieser Kontext sowie die ausdrückliche Betonung der unterstützenden Rolle der Kommission tragen dazu bei, dass die Bedeutung und der Neuigkeitswert dieser Maßnahme, nämlich die Ausdehnung der EU-Leitlinien auf den Bereich der Grundbildung, nicht thematisiert werden. Vielmehr werden diese in den Hintergrund gerückt. Trotzdem zeigt dieses Dokument schon in Richtung Verstärkung der Koordinationsfunktion der Europäischen Kommission in allen Bereichen des Bildungssystems. Als wesentliche Tendenzen des Dokuments lassen sich folgende Punkte herausstellen: 1) Es wird die Verknüpfung aller Bildungsstufen propagiert. 2) Definition von Grundfertigkeiten und Schlüsselkompetenzen. 3) Es wird auf einen Bereich Einfluss genommen, der eindeutig zum Kompetenzbereich der Nationalstaaten gehört: auf das Pflichtschulsystem. Linsenmann fasst die Bedeutung des Dokuments wie folgt zusammen: „Mit dieser Empfehlung soll ein europäischer Referenzrahmen für die Grundfertigkeiten geschaffen werden, die jede/r im Laufe des lebenslangen Lernens erwerben sollte“ (Linsenmann 2007, S. 156). 3.1.4.2 Weitere Maßnahmen zur Verwirklichung der Lissabon-Ziele Seit dem „Neubeginn der Lissabon-Strategie“ hat die EU zur Verwirklichung des lebenslangen Lernens eine Unmenge von Dokumenten ausgearbeitet.142 Die EU selbst fasst die wichtigsten Initiativen und Ergebnisse der Arbeit der Kommission im Bereich allgemeiner und beruflicher Bildung seit 2000 in 12 Themenschwerpunkten zusammen: - der integrierte Politikrahmen „allgemeine und berufliche Bildung 2010“, - die Entwicklung von Strategien des Lebenslangen Lernens, - die Reform der Hochschulbildung, - das Europäische Technologieinstitut - die Entwicklung der Schulbildung, - die verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Berufs- und Erwachsenenbildung, - die Beseitigung von Mobilitätshemmnissen, - die Förderung der Mehrsprachigkeit, - die Integration von Informations- und Kommunikationstechnologien, - die Messung von Fortschritten anhand von Statistiken, Indikatoren und Benchmarks, 142
Für eine Zusammenfassung der im Zeitraum 2000–2004 veröffentlichten bildungspolitischer Dokumente der EU vgl. Dietsche 2004. Zu einer repräsentativen Auswahl der bildungspolitischen Dokumente der EU vgl. das Dossier – Der Europäische Raum des lebenslangen Lernens (Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung 2008).
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Expertennetzwerke aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, - Other relevant documents related to the Lisbon Strategy (auf Englisch im Original). 143 Im gemeinsamen Bericht des Rates und der Kommission über die Umsetzung des Arbeitsprogramms “Allgemeine und berufliche Bildung 2010” werden ebenfalls „erhebliche Fortschritte“ (Europäische Kommission 2007, S. 2) bescheinigt. Handlungsbedarf wird in folgenden Bereichen festgestellt: Erstens in Bezug auf die Hebung des Qualifikationsniveaus allgemein und besonders bei Menschen mit geringen Qualifikationen, zweitens bei der Umsetzung der nationalen Strategien sowie drittens in Bezug auf die Beschleunigung der Reform des „Wissensdreiecks Bildung-Forschung-Innovation“ (ebd. S. 2f.). Am 25. Januar 2006 haben auch die Sozialpartner der Union144 ihren Fortschrittsbericht veröffentlicht, in dem sie ihre Arbeit zur Verbreitung und Aufklärung bezüglich der Verwirklichung des Lebenslangen Lernens als „sehr erfolgreich“ feierten (vgl. Linsenmann 2007). Der im Mai vorgelegte Kommissionsbericht über die Fortschritte der Lissabon-Strategie145 revidiert diese optimistische Aussage dadurch, dass er den Fortschritt mit Verweis auf Datenlücken in einigen Mitgliedsstaaten als „überbewertet“ bezeichnet, auf die weiterhin bestehenden Ungleichheiten beim Zugang zu den Lernangeboten hinweist sowie die Motivierung von Erwachsenen zur Teilnahme am lebenslangen Lernen weiterhin als eine große Herausforderung nennt (vgl. Europäische Kommission 2006a). Als Fazit stellt der Bericht fest, dass die Umsetzung von umfassenden und kohärenten Strategien seitens der Mitgliedsstaaten entscheidend ist: Es „wird im Zwischenbericht deutlich, dass der auf europäischer Ebene entwickelte Rahmen für die Reform der Bildungssysteme mehr und mehr die nationalen Agenden in diesem Politikbereich beeinflusst“ (Linsenmann 2007, S. 155).
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vgl. http://ec.europa.eu/education/policies/2010/comp_de.html [Stand: 24.6.2008] Seit Juni 2002 verfügen die europäischen Sozialpartner, die European Trade Union Confederation (ETUC), die Union of Industrial and Employers´ Confederations of Europe (UNICE) sowie das European Centre of Enterprises with Public Participation and of Enterprises of General Economic Interest (CEEP) über einen eigenen „Framework of actions for the lifelong learning development of competencies and qualifications“. Dabei setzen sie vier Schwerpunkte, die mit denen der Kommission im Großen und Ganzen übereinstimmen: 1) Identifizierung und Antizipierung von notwendigen Kompetenzen und Qualifikationen, 2) Anerkennung und Bewertung von Kompetenzen und Qualifikationen, 3) Information, Unterstützung und Hilfestellung sowie 4) Mobilisierung der notwendigen Ressourcen. Die Fortschritte der Vereinbarungen der Sozialpartner werden in einem jährlichen Fortschrittsbericht zusammengefasst. Dieser deckt ein weites Spektrum der Maßnahmen für Lebenslanges Lernen in den Mitgliedsstaaten ab (vgl. Linsenmann 2007). 145 Progress towards the Lisbon objectives in education and training Report 2006 (Commission Staff Working Document) 144
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Am 5. September 2006 wurde die Empfehlung zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen (EQR) präsentiert. Dieser soll als Mittel der Mobilität innerhalb der europäischen Bildungssysteme als „Übersetzungshilfe“ zwischen den nationalen allgemeinen und beruflichen Qualifikationen dienen. Den Kern des EQR bildet eine Auflistung von acht Referenzniveaus, die sämtliche Qualifikationen vom allgemeinen und beruflichen Pflichtschulabschluss bis zu Qualifikationen, die auf der höchsten Stufe akademischer und beruflicher Aus- und Weiterbildung erworben werden können, abdeckt (Baur 2008, S. 40). Der Vorschlag sieht vor, dass alle Mitgliedsstaaten ihre nationalen Qualifikationssysteme bis 2010 an den EQR anpassen und individuelle Zeugnisse und Diplome ab 2012 einen EQR-Verweis tragen (ebd.). Am 23. Oktober 2006 veröffentlichte die Europäische Kommission die Mitteilung Erwachsenenbildung: Man lernt nie aus. Hier definiert sie Erwachsenenbildung als „alle Formen des Lernens durch Erwachsene nach Abschluss der allgemeinen und/oder beruflichen Bildung, unabhängig von dem in diesem Prozess erreichten Niveau (d.h. einschließlich Hochschulbildung)“ (Europäische Kommission 2006c, S. 2). Das Dokument bildet die strategische Grundlage für die zukünftige Umsetzung des Grundtvig-Programms im Rahmen des Gesamtprogramms für Lebenslanges Lernen (s. unten). Im Dokument wurden fünf Grundsatzthesen für die Erwachsenenbildung formuliert: a) Zugangsschranken beseitigen, b) Qualität sichern, c) Anerkennung und Validierung der Lernergebnisse, vor allem nicht-formalen und informellen Lernens, d) in ältere Bürger und Migranten investieren sowie e) Indikatoren und Benchmarks erarbeiten. Am 25. Oktober 2006 wurde das neue Bildungsprogramm „Lebenslanges Lernen“ angenommen, das die bisherigen Programme Comenius, Erasmus, Leonardo da Vinci und Grundtvig bündelt und mit einem Gesamtbudget von 7 Mrd. Euro ausgestattet ist. Am 21. Februar 2007 hat der Europäische Rat eine Mitteilung Kohärenter Indikator- und Benchmark-Rahmen zur Beobachtung der Lissabon-Ziele für folgende Gebiete veröffentlicht: a) Verbesserung der Gerechtigkeit im Bildungssystem b) Steigerung der Effizienz im Bildungssystem c) Lebenslanges Lernen Realität werden lassen d) Schlüsselkompetenzen junger Menschen e) Modernisierung der Schulbildung f) Modernisierung der beruflichen Aus- und Weiterbildung (KopenhagenProzess)
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g) Modernisierung der Hochschulbildung (Bologna-Prozess) h) Beschäftigungsfähigkeit. Punkt drei fasst Zielsetzung, Benchmarks sowie die Indikatoren zur Verwirklichung des lebenslangen Lernens zusammen. Dabei wird der Abschluss der Sekundarstufe II als unerlässliche Voraussetzung für eine erfolgreiche berufliche Laufbahn sowie für die Teilnahme am lebenslangen Lernen beschrieben. Dazu hat der Rat zwei Benchmarks dargelegt, nach denen „zum einen bis 2010 mindestens 85 % der jungen Menschen die Sekundarstufe II abschließen sollen und zum anderen bis 2010 12,5 % der erwachsenen Bürger am lebenslangen Lernen teilnehmen sollen“ (Europäische Kommission 2007b, S. 3). Zur Ermittlung der Fortschritte werden folgende Basisindikatoren herangezogen: - Abschluss der Sekundarstufe II, - Teilnahme Erwachsener an Maßnahmen des lebenslangen Lernens sowie - Qualifikation von Erwachsenen (ebd.). Am 27. September 2007 veröffentlichte die Europäische Kommission den Aktionsplan Erwachsenenbildung mit dem Titel Zum Lernen ist es nie zu spät aufgrund der Mitteilung Man lernt nie aus von 2006 und eines umfangreichen Konsultationsprozesses. Die Mitgliedsstaaten wurden gebeten für folgende Bereiche Maßnahmen zu erarbeiten: a) Analyse der Auswirkungen von Reformen in allen Bereichen der allgemeinen und beruflichen Bildung in den Mitgliedsstaaten auf die Erwachsenenbildung, b) Verbesserung der Qualität des Angebots im Sektor Erwachsenenbildung, c) Verbesserung der Möglichkeiten für Erwachsene, „eine Stufe höher“ zu gehen, also das nächsthöhere Qualifikationsniveau zu erreichen, d) Beschleunigung der Bewertung von Qualifikationen und sozialen Kompetenzen und der Validierung und Anerkennung von Lernergebnissen sowie e) Verbesserung der Überwachung des Sektors Erwachsenenbildung (Europäische Kommission 2007a, S. 8). In einer Mitteilung hat die Europäische Kommission gemeinsame Grundsätze für den sog. Flexicurity-Ansatz ausgearbeitet, der mehr und bessere Arbeitsplätze durch Flexibilität und Sicherheit anstrebt (vgl. Europäische Kommission 2007c). Am 10. April 2008 hat die Europäische Kommission eine neue „Initiative zur Erleichterung der Mobilität in der beruflichen Bildung“ (Europäische Kommission 2008, S. 1) gestartet. Aufgrund der Erfolge des 1989 eingeführten Europäischen Systems zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen im Hochschulbereich (ECTS) wurde ein Konzept für ein europaweites Leistungspunktsystem in der beruflichen Bildung (ECVET) ausgearbeitet. Es wird angestrebt, Anfang 2009 eine Verabschiedung durch Parlament und Rat zu er-
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reichen und längerfristig ein einheitliches System für sämtliche Bildungsbereiche zu schaffen. Bis zur formalen Verabschiedung werden die Mitgliedsstaaten ermutigt, dieses System freiwillig umzusetzen. Am 23. April 2008 haben das Europäische Parlament und der Rat eine Verordnung über die Erstellung und Entwicklung von Statistiken über Bildung und lebenslanges Lernen herausgegeben. In dem Dokument wird die Bedeutung von Statistiken für die allgemeine und berufliche Bildung sowie für lebenslanges Lernen als Grundlage für politische Entscheidungen betont. Als Ziel der Verordnung wird die „Festlegung gemeinsamer statistischer Standards für die Erstellung harmonisierter Daten“ (Europäisches Parlament und Rat 2008, S. 3) angegeben. Die Begründung lautet: da dies auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht in ausreichender Weise verwirklicht werden kann, soll dies auf der Gemeinschaftsebene passieren. Dementsprechend soll die Gemeinschaft – weiterhin im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips – tätig werden. Im aktuellsten gemeinsamen Fortschrittsbericht Progress towards the Lisbon objectives in education and training. Indicators and Benchmarks bestätigte die Europäische Kommission im Sommer 2008 zwar eine stetige Verbesserung der allgemeinen und beruflichen Bildung in den Mitgliedstaaten. Es wurde aber auch festgestellt, dass diese Fortschritte immer noch nicht ausreichend sind, um die für 2010 angestrebten Ziele erreichen zu können. Neben den Verbesserungen bei vier der fünf Benchmarks wurde im Bereich Leseschwäche eine deutliche Verschlechterung festgestellt. Ján Figel, der für allgemeine und berufliche Bildung, Kultur und Jugend zuständige EU-Kommissar resümierte den aktuellen Stand der Verwirklichung der Lissabon-Strategie bei der Vorstellung des Berichts folgendermaßen: "Fast ein Drittel der Arbeitnehmer in Europa hat nur einen Hauptschulabschluss und etwa jeder vierte 15-jährige hat Schwächen im Lesen. Auf unserem Weg als wissensbasierte Gesellschaft in einer hart umkämpften globalisierten Welt werden es diese Millionen von Europäern immer schwerer haben, sich zu entfalten oder überhaupt eine Arbeit zu finden. Ich begrüße es daher, dass die Mitgliedstaaten die – in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht – zentrale Rolle der allgemeinen und beruflichen Bildung für die Zukunft unserer Gesellschaften anerkannt haben. Sie haben langfristige Reformprozesse eingeleitet, und die Fortschritte sind zwar langsam, gehen aber meist in die richtige Richtung. Es bleibt noch viel zu tun, und die Kommission ist weiterhin gerne bereit, die Zusammenarbeit in diesem Bereich zu unterstützen." 146
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die oben vorgestellten Maßnahmen eindeutig in Richtung einer weiteren Vereinheitlichung der europäischen Bildungssysteme weisen. Gábor Halász bewertet den Neubeginn der Lissabon-Stra-
146
http://www.bildungsspiegel.de/aktuelles/eu-kommission-allgemeine-und-berufliche-bildung-hatsich-seit-2000-stetig-verbessert.html?Itemid=262 [Stand 20. 8. 2008].
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tegie als „historischen Schritt aus der Perspektive der Bildungspolitik“147 (Halász 2006, S. 7), weil die Bildungsminister der Mitgliedsländer zum ersten Mal der EU erlaubten, ihre nationale Politik zu bewerten und darüber zu entscheiden, wie weit diese den gemeinsamen Reformzielen entspricht.148 Mit dieser Entscheidung fing eine neue Phase der europäischen Bildungspolitik an, die durch eine „härtere Form“ der Bildungskoordination zu charakterisieren ist. Dadurch wurde der in Lissabon angefangene Weg Richtung Vereinheitlichung und Zentralisierung der europäischen bildungspolitischen Maßnahmen unter der Formel „Lebenslanges Lernen“ weitergegangen. Halász betont aber, dass man trotz verstärkter Koordination von Erziehung und Bildung nicht über eine gemeinsame Bildungspolitik innerhalb der Europäischen Union sprechen kann. Er spricht lieber über ein gemeinsames „Kraftfeld“ (erĘtér), in dem mehr oder weniger dauerhafte und kohärente Trends und Tendenzen existieren, die aber keine eindeutigen Konturen oder Richtungen zeigen. Seiner Meinung nach hängen diese zu stark vom gegenseitigen Einfluss der Mitgliedsländer aufeinander ab, um genau sagen zu können, welches Ergebnis diese Wechselwirkungen haben werden (Halász 2006, S. 8). Ingo Linsenmann sieht ähnliche Tendenzen wie Halász: „Obwohl einerseits die offene bildungspolitische Koordinierung keine vertraglich verpflichtenden Harmonisierungsmaßnahmen auf nationaler Ebene nach sich ziehen, so ist doch zumindest partiell durch den Bologna-Prozess im Bereich der Hochschulen eine Dynamik entstanden, der sich die Mitgliedsstaaten kaum entziehen können. Diese Diskrepanz verdeutlicht einmal mehr, dass trotz der beschränkten Kompetenz der europäischen Ebene im Bildungsbereich weiterhin mit starken Europäisierungstendenzen zu rechnen sein wird“ (Linsenmann 2004, S. 148).
3.1.5 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nicht nur die Geschichte des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ sehr stark von der Europäischen Union geprägt wurde bzw. wird, sondern die Feststellung sich auch umkehren lässt: das Konzept „Lebenslanges Lernen“ spielt eine sehr bedeutende Rolle in der heutigen und künftigen Bildungspolitik der Union. 147 „Ez olyan lépés, amelyet az Európai Unió oktatástörténetének a perspektívájából nem túlzás történelminek tekinteni“. 148 Die Beurteilung der nationalen Bildungspolitik der Mitgliedsländer vonseiten der Europäischen Union hatte zwar eine Vorgeschichte – zum Beispiel als 2001 die Bildungsdirektion der Europäischen Kommission die nationalen Aktionsprogramme zur Beschäftigung in Bezug auf die Verwirklichung von Lebenslangem Lernen überprüfte (European Commission 2001b) oder 2003 mit Hilfe von Fragebögen diese analysierte (Europäische Kommission 2003a/b) – aber dies fand ohne die aktive Teilnahme der nationalen Bildungsadministrationen statt (vgl. Halász 2006, S. 7).
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Die erste These lässt sich dadurch begründen, dass das heutige EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ einerseits auf der europäischen Ebene („von oben“) ausgearbeitet und beschlossen wurde. Die Europäische Union koordiniert, überwacht und treibt den Verwirklichungsprozess voran. Andererseits kann die Entstehung und Entwicklung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ nicht als politischer Kraftakt der Union abgetan werden. Vielmehr wuchs die Idee des Lebenslangen Lernens auch „von unten“: Aufgrund ähnlicher Probleme der Bildungssysteme in verschiedenen Staaten entstanden auch auf der nationalen Ebene ähnliche Lösungsvorschläge und Ideen (vgl. Coombs 1967). Dewe und Weber haben aufgezeigt, dass die Europäische Kommission in ihren programmatischen Dokumenten die Entwicklung des Konzepts auf internationaler Ebene integrierend berücksichtigt hat“ (Dewe/Weber 2007, S. 103). Sie hat für ihr Lifelong Learning-Konzept wichtige Impulse u. a. von den Konzepten der OECD und der UNESCO bekommen.149 Die Verwirklichung des Konzepts findet in einem Spannungsfeld zwischen nationalen und supranationalen Interessen statt: Bei der Implementation des europäischen bildungspolitischen Konzepts wird einerseits angestrebt, die Besonderheiten der nationalen Bildungssysteme weiterhin zu bewahren. Andererseits existieren parallel dazu starke Kontrollmechanismen z.B.: durch die Verteilung von finanziellen Mitteln. Der wachsende Anpassungsdruck politischer (europäische Integration) und wirtschaftlicher Faktoren (Wettbewerb mit den USA und Japan) auf die partikularen Bildungssysteme erzeugt eine starke Assimilationskraft innerhalb der Union. Diese widersprüchliche Situation zeigt sich sehr deutlich in den bildungspolitischen Dokumenten zum Lebenslangen Lernen.150 Die zweite These lässt sich wie folgt begründen: Die Verbindung der „Zukunft Europas“ mit der Schaffung einer „lernenden Gesellschaft“ (Europäische Kommission 1995) gab dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ eine außerordentliche Wichtigkeit. Aber nicht nur das: „Lebenslanges Lernen“ hat der Union ermöglicht, trotz ihrer eingeschränkten Befugnisse im Bildungsbereich ihre beratende und koordinierende Rolle durch explizite Kontrollbefugnisse zu erweitern. „Sie hat eine Nische in dem von den Nationalstaaten bewachten Bildungsterritorium gefunden, welche zweifelsohne die nationalen Bildungspolitiken in Zukunft beeinflussen wird“ (Bektchieva 2004, S. 55). Damit wurde die Zusammenarbeit der Mitgliedsländer enger und die Machtposition der EU-Gremien gestärkt. Die obigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Europäische Union – trotz Subsidiaritätsprinzip und Harmonisierungsverbot – anstrebt, einen bedeutenden Einfluss auf die Bildungspolitik der Mitgliedsstaaten auszuüben. 149 150
Vgl. Kapitel 1.1. Vgl. Kapitel 4.
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Damit bezweckt sie eine effektivere Beschäftigungspolitik. Diese Zielsetzung tauchte schon vor der Einführung der Lissabon-Strategie auf, als bildungspolitische Überlegungen – in Verbindung mit der Beschäftigungspolitik – zum ständigen Tagesordnungspunkt des Rates der Bildungsminister wurden.151 Die gemeinsame Beschäftigungspolitik hatte Auswirkungen auf die nationalen bildungspolitischen Ansätze: Sozusagen nebenbei wurden einige Elemente der Bildungspolitik ebenfalls gemeinsam koordiniert. Die Zahl dieser Elemente hing vor allem davon ab, „welcher Anteil an Erziehung und Bildung durch das Konzept des lebenslangen Lernens abgedeckt wurde“152 (Halász 2006, S. 5).153 Andreas Mauer beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: „Offensichtlich hat die Bildungspolitik im Kontext der Arbeits-, Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik eine Nische gefunden, in der sie sich weiter entfalten kann. Durch die langsam voranschreitende Verschmelzung von Bildung und Arbeit werden national gebundene Erziehungs- und Bildungsideale in ihrer Funktion als Identifikationsmomente des Nationalstaates zunehmend in Frage gestellt. Schon aus diesem Grund wäre es ein durchaus lohnenswertes Unterfangen für Politik und Wissenschaft, nicht nur die kompetenzrechtlichen, sondern auch die politischen Legitimationsgrundlagen der Bildungspolitik zu ergründen“ (Mauer 1998, S. 139).
Seit der Jahrtausendwende werden diese Zielsetzungen im Rahmen der Lissabon-Strategie verstärkt koordiniert und seit dem Neubeginn der LissabonStrategie 2005 können wir über eine deutliche bildungspolitische Linienführung der EU sprechen. Im Jahre 2008 befinden wir uns „mitten drin“ im Verwirklichungsprozess des „Lebenslangen Lernens“. Das oben geschilderte Arbeitsprogramm 2010 läuft, die Leitlinien der bildungspolitischen Reformen wurden festgelegt, die sog. Qualitätsindikatoren und die konkreten Ziele definiert. Die Mitgliedsländer haben ihre nationalen Strategien zur Verwirklichung lebenslangen Lernens ausgearbeitet und diese wurden 2006 zum ersten Mal von der Gemeinschaft bewertet. „Ein Europäischer Raum Lebenslangen Lernens“ (Europäische Kommission 2001) sollte bis 2010 entstehen. Der bisherige Ablauf lässt die Lissabon-Zielsetzung allerdings als unrealistisch erscheinen. Die EU plant für die Zeit nach 2010 die Fortführung und die Intensivierung der im Rahmen 151
A. J. Hingel deutet dies als Vorläufer der Open Method of Coordination (vgl. Hingel 2001). Das Jahr 2003 bedeutete dabei einen großen Schritt, als die Entwicklung von Humanressourcen als eigenständiges Element der Beschäftigungspolitik definiert wurde (Europäischer Rat 2003). 152 „Annak függvényében, hogy az élethosszig tartó tanulás uniós politikája az oktatás világának mekkora hányadát fedte le, e koordináció az évek során az oktatás egyre újabb és újabb köreit érte el“. Mehr dazu vgl. Kapitel 3.1.3. 153 In der internationalen Fachliteratur wird auch über den sog. Spill-over-Effekt berichtet. Demzufolge erzeugt die Integration von bestimmten gesellschaftlichen Teilsystemen (z.B. den Wirtschaftssystemen) automatisch eine Integration von weiteren Teilsystemen (hier: Bildungssystem). Dieser Effekt kann u. a. durch das Konzept „Lebenslanges Lernen“ nachvollzogen werden.
3.1 „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
109
der Bologna- und Kopenhagen-Prozesse begonnenen Reformen und schlägt vor, über die weiteren Ziele nachzudenken (vgl. Europäische Kommission 2007b). In den nächsten Jahren ist zu erwarten, dass sich die Rolle und der Einfluss der Europäischen Union im Bereich Bildungspolitik weiter verstärkt. Dies wird von mehreren Faktoren begünstigt: Erstens gibt es viele Akteure in der nationalen Bildungspolitik, deren Reformvorstellungen mit denen der Europäischen Union übereinstimmen oder sich mindestens vereinbaren lassen, zweitens dadurch, dass die Akteure der europäischen Bildungspolitik einen besseren Überblick über einzelne Länder bekommen und Trends erkennen können, drittens durch die immer wichtigere Rolle der „Humanressourcen“ in der wirtschaftlichen Entwicklung, die die EU dazu bringt, ihren Einfluss auf den Bildungsbereich stärker auszubauen.154 So bleibt die Beschreibung von Klaus Künzel aus dem Jahre 1996 weiterhin aktuell: „Der Qualifikationsraum Europa trägt die unverkennbaren Züge einer Administration, die aufgrund erweiterter – und juristisch geprüfter – Zuständigkeit in struktur-, beschäftigungs- und bildungspolitischen Belangen über beachtliche Integrationskompetenzen bei der inneren Ausgestaltung der Union verfügt“ (Künzel 1996, S. 36).
154
Es gibt auch andere globalisierende und internationalisierende Faktoren in Erziehung und Bildung, die unabhängig von der EU Gemeinsamkeiten erzeugen. Zum Beispiel verändern sich durch die Wirkung der Medien die Lehrbücher (Halász 2006, S. 13).
110
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen der Adaptation des Konzepts in Deutschland und in Ungarn In diesem Kapitel werden die Rahmenbedingungen für die nationale Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in Deutschland und Ungarn vorgestellt. Die folgende Darstellung dient einem besseren Verständnis der darauf folgenden Dokumentenanalysen über die Adaptation des Konzepts in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik.155 Sie orientiert sich an den in Kapitel 2 vorgestellten Auswahlkriterien der Länder nach dem most-different-Prinzip156, nämlich an ihrer geografisch-politischen Zugehörigkeit, der Dauer der Zugehörigkeit zur EU, an der politischen und wirtschaftlichen Tradition nach 1945 sowie an der unterschiedlichen Steuerung des nationalen Bildungswesens. Zunächst werden die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in beiden Ländern nach 1945 skizziert. Insbesondere geht es hier um die Unterschiede der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung, der Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Großsystemen sowie um die Beziehung der Länder zur Europäischen Union. Dann werden die wichtigsten Veränderungen im Bereich Erziehung und Bildung nach 1989/1990 gezeichnet. Darauf folgt eine kurze Zusammenfassung über Aufbau, Steuerung und Finanzierung des Bildungswesens der jeweiligen Länder und damit über ihre aktuellen bildungspolitischen Rahmenbedingungen. 3.2.1 Deutschland und Ungarn in Europa Ein wichtiges Kriterium für die Auswahl der Länder waren ihre unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Entwicklungen nach 1945 sowie ihre Beziehung zur Europäischen Union. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ sind sowohl in Deutschland als auch in Ungarn durch den Europäischen Integrationsprozess vorgegeben. Dieser lässt sich in zwei Phasen einteilen: - Die erste Phase dauerte vom Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis zum Abbau des „Eisernen Vorhangs“157 1989/90 und ist die Phase des Ost-WestKonfliktes in Europa. - Die zweite Phase ab 1989/90 ist die Epoche der politischen Vereinigung von Ost- und Westeuropa. 155
Vgl. Kapitel 4 Vgl. Kapitel 2.1.1. 157 Der Begriff „Eiserner Vorhang“ wurde 1946 von Winston Churchill geprägt und symbolisierte die Politik der Sowjetunion, ihren Machtbereich von der restlichen Welt abzuschotten. 156
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
111
Im Folgenden werden diese Phasen unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftspolitischen Entwicklung der beiden ausgewählten Länder vorge-stellt. 3.2.1.1 Deutschland und Ungarn im zweigeteilten Europa Die Phase von 1945 bis 1989/90 war durch den „weltpolitischen Dualismus der Bipolarität“ (Weidenfeld/Wessels 1995, S. 53) geprägt. Das Schicksal Europas wurde durch den Wettlauf zwischen den sowjetischen und amerikanischen Interessen bestimmt.158 In dieser Phase gehörte die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland in die Interessenssphäre der sog. Westmächte Großbritannien, Frankreich und der USA. Ungarn (und die in Ostdeutschland entstandene Deutsche Demokratische Republik) wurden zur Interessenssphäre der Sowjetunion zugehörig erklärt. Die Besatzungsmächte gingen in ihren Zonen unterschiedlich vor: In Westdeutschland begann schon 1947 mit dem Marshallplan der Wiederaufbau, die Marktwirtschaft wurde unterstützt, eine Währungsreform eingeleitet: All dies führte bald zum `Wirtschaftswunder`. Die Alliierten betrieben eine Entnazifizierungs- und Demokratisierungspolitik, die längerfristig auf eine selbstständige westdeutsche Politik hinauslief. Die Sowjetunion dagegen ließ in Ungarn das Einparteiensystem und die Planwirtschaft nach sowjetischem Muster einführen. Der Kalte Krieg teilte die Welt bald ideologisch und wirtschaftlich entzwei. So standen sich die BRD und die Republik (ab 1949 Volksrepublik) Ungarn politisch ebenfalls gegenüber. Die Zweiteilung Europas wurde besonders durch die Berliner Mauer sichtbar. In der sozialistischen Geschichtsschreibung in Ungarn wurde das Datum 1945 als politischer (sozialistischer) Neuanfang interpretiert (vgl. Buti 1968, Zsolnay 1968, Ferge/Havasi/Szalai 1878, Vág 1985). In der heutigen ungarischen Geschichtsschreibung wird diese These widerlegt und die Zeit zwischen 1945 und 1948 als eine Phase der Demokratisierung gedeutet: Nach dem Krieg entstand zunächst eine demokratische Ordnung mit einer Mehrparteienregierung. Die feudalistischen Strukturen wurden mit Hilfe von umfassenden Verstaatlichungen beseitigt und das Land wurde erneut zur Republik. 159 Das Gesellschaftssystem wurde erst nach 1948 im Zeichen der kommunistischen Machtübernahme zentralistisch umorganisiert: Die kommunistische Partei übernahm mit der `Salamitaktik`160 und mit tatkräftiger sowjetischer Unterstützung die 158
Mehr über Europa im Konfliktfeld zwischen den Weltmächten vgl. Dallin 1990. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ungarn zum ersten Mal zur Republik (16. November 1918). Darauf folgte die Phase einer kurzlebigen Räterepublik 1919, bevor das Land 1920 zum `Königreich ohne König` deklariert wurde (vgl. Fischer 1999, Dalos 2004). 160 Die Bezeichnung meint eine politische Taktik der ungarischen kommunistischen Partei, die 159
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Macht. 1949 wurden das Land zur Volksrepublik und Parteichef Mátyás Rákosi zum Diktator stalinistischer Art. Im europäischen Westen entstand als Antwort auf die Teilung des Kontinents die Europa-Idee161 (Lichtenberg 2005, S. 18). Je nachdem aus welcher Perspektive (gesamteuropäisch, west- oder ost(mittel)-europäisch) betrachtet, kann diese Phase als „europäisches Vakuum“ (vgl. Sloterdijk 2002), als die Vorstufe der politischen Vereinigung durch ein „Europa der Institutionen“ (vgl. Gehler 2002) sowie als separat ausgetragene, gemeinsame Anstrengung zur Verwirklichung eines gesamten Europas (vgl. Horn 1991) angesehen werden. 1) Westeuropäische Perspektive Michael Gehler beschreibt die Phase von 1945 bis 1990 aus der westeuropäischen Perspektive als Phase eines „Europas der Institutionen“ (Gehler 2002), in der die Idee eines gemeinsamen Europas im Rahmen der politischen Möglichkeiten weiterverfolgt wurde. „Die im Westen gelegenen Staaten Europas haben sehr rasch begriffen, dass sie sich politisch und wirtschaftlich nur behaupten können, wenn sie sich in unterschiedlicher Konstellation zu Verträgen zusammenfinden“ (Lichtenberger 2005, S. 32f.).162 Die Gründung des Europarats im Jahre 1949 markiert demnach symbolisch den Anfang des europäischen Integrationsprozesses: Er war die erste von europäischen Staaten selbst ausgehende Organisationsgründung mit der Zielsetzung, die Einheit und Zusammenarbeit in Europa zu fördern.163 Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 kennzeichnet nach Gehler eine neue Dimension. Ihr Ziel war eine engere Verflechtung und sie setzte die Bereitschaft voraus – wie später die Europäische Union selbst – nationalstaatliche Hoheitsrechte auf zwi1945–1948 durch ständige neue kleine Forderungen die Macht in abgestufter Folge langsam vollständig übernahm. 161 Zum Thema Europaidee vgl. u. a. Gehler 2002, Sloterdijk 2002, Lichtenberg 2005. 162 Judt spricht diesbezüglich über die „große Illusion Europa“, wie ihr gleichnamiges Buch heißt: „Der Gründungsmythos des modernen Europa besteht darin, dass die europäische Gemeinschaft Kern einer weit reichenden paneuropäischen Perspektive ist. Ohne diesen Mythos wären die einzelnen Maßnahmen, denen sich dieses Europa verdankt, der Marshallplan, die Montanunion, die OECD, die gemeinsame Agrarpolitik und […] selbst der Europäische Gerichtshof nichts weiter als praktische Lösungen für spezifische Probleme geblieben. So gesehen schufen sie die notwendigen Voraussetzungen für den Aufbau Europas“ (Judt 1996, S. 57). 163 Der Europarat hat das Ziel, „die Menschenrechte und die parlamentarische Demokratie zu schützen und die Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen“ sowie „das Bewusstsein für die europäische Identität zu wecken.“ (vgl. http://www.coe.int/T/D/Com/Europarat_kurz [Stand 14.12.2004]). Heute umfasst der Europarat 47 Länder und hat seinen Sitz in Straßburg. Der Heilige Stuhl hat seit 1970, die USA, Kanada, Japan und Mexiko haben seit 1996 Beobachterstatus. In der politischen Praxis bedeutet eine Mitgliedschaft im Europarat in der Regel eine Vorstufe zum Beitritt in die Europäische Union. Der Europarat entwickelte 1970 das erste europäische Konzept zum Lebenslangen Lernen, nämlich das der „permanenten Erziehung“ (vgl. Europarat 1970).
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
113
schenstaatliche Einrichtungen zu übertragen. Nach einer Erklärung des damaligen französischen Außenministers Robert Schuman sollte die EGKS „die erste Etappe der europäischen Föderation“ bilden (ebd.). Der Vertrag wurde im Zeichen der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland unterschrieben. Nach der Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sollte die Zusammenarbeit auf der politischen Ebene verstärkt werden. Um diese zu verwirklichen, wurde eine Europäische Politische Gemeinschaft als nächstes Ziel vorgeschlagen. Mit dem Scheitern dieses Konzepts war zunächst der direkte Weg zu einer westeuropäischen Einigung blockiert. Was auf der politischen Ebene nicht durchzusetzen war, gelang auf der wirtschaftlichen Ebene; 1957 führten die Verträge von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Zehn Jahre später wurde durch Zusammenlegen der Organe der drei wirtschaftlichen Teilgemeinschaften EGKS, EWG und Euratom die Organisation der Europäischen Gemeinschaften (EG) geschaffen. Die Zusammenarbeit auf der wirtschaftlichen Ebene erreichte 1968 mit Vollendung der Zollunion, 1979 mit einem einheitlichen europäischen Währungssystem und 1993 mit der Vollendung des Binnenmarktes weitere Höhepunkte. Was in den 1950er-Jahren scheiterte, nämlich die Einführung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), gelang 1970 zumindest im Teilbereich der Außenpolitik. Es kam zur Gründung gemeinsamer Einrichtungen wie Rat, Kommission, Parlament und Gerichtshof. 164 Weitere Versuche zu einer engeren politischen Kooperation, wie zum Beispiel die Vorschläge von der Fouchet-Kommission 1961/1962 oder von Tindeman 1975, scheiterten. Die Erweiterung der Gemeinschaft der Sechs (Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland) durch weitere drei Länder (Dänemark, Großbritannien, Irland) im Jahre 1973 setzte die Europäische Gemeinschaft unter einen Reformdruck. 1981 begann mit dem Beitritt Griechenlands die Süderweiterung der Gemeinschaft, die als ein großer Erfolg für die Demokratisierung von Europa interpretiert wurde (vgl. Fritzler/Unser 1998). 1986 schlossen sich auch Spanien und Portugal an. 1986 wurde die Einheitliche Europäische Akte als völkerrechtlicher Vertrag abgeschlossen. Die Organisation des Zusammenlebens der Deutschen war seit 1945 machtpolitisch wie ideengeschichtlich ein Schlüsselthema für die europäische Ordnungspolitik. Die Europäische Gemeinschaft bezog zum ersten Mal 1989 Stellung dazu: „Wir streben einen Zustand des Friedens in Europa an, in dem das deutsche Volk seine Einheit durch freie Selbstbestimmung wiedererlangt. Dieser Prozess muss sich auf demokratische und friedliche Weise, unter Wahrung der Abkommen und Verträge, auf der Grundlage sämtlicher in 164
Mehr dazu s. Kapitel 3.1.1.2.
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
der Schlussakte von Helsinki niedergelegten Grundsätze im Kontext des Dialogs und der OstWest-Zusammenarbeit vollziehen. Er muss in die Perspektive der gemeinschaftlichen Integration eingebettet sein“ (zitiert nach Weidenfeld/Wessels 1995, S. 56).
2) Die osteuropäische Perspektive Im europäischen Osten165 waren nach 1945 die politischen Möglichkeiten der sowjetischen Satellitenländer sehr eingegrenzt. Auch in Ungarn wurde das politische System durch die UdSSR vorgegeben: Es wurden das Einparteiensystem und die Planwirtschaft eingeführt, der Marxismus-Leninismus166 wurde zur Staatsideologie. Aufgrund der Unfreiwilligkeit der Übernahme der sozialistischen/kommunistischen Ideologie sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich konnte sich im östlichen Europa keine „emotional besetzte, spezifisch auf die `sozialistische ökonomische Integration` bezogene und damit verbundene `Idee` wie etwa die westeuropäische `Europaidee`“ entwickeln (Kuebart 1983, S. 136).167 In Osteuropa gab es nur Organisationen, die auf Initiative der Sowjetunion entstanden. Eigenständige Organisationen wie in Westeuropa konnten nicht entstehen. So wurde das heutige Verständnis von Europa eindeutig von den Vorstellungen des europäischen Westens und durch die 1945–1990 geschaffenen (west)europäischen Institutionen geprägt. Zwischen dem Wunsch nach der Wiederherstellung der Westorientierung der ungarischen Außenpolitik und den politischen Möglichkeiten des Landes gab es sehr große Diskrepanzen (vgl. Engel 1999): „Die Sehnsucht nach der Bindung an den Westen hat schon immer existiert, blieb aber bis zum Ende der 1980er-Jahre verborgen, obwohl Ungarn als erstes von den Ländern des Ostblocks das anfängliche Netz der Beziehungen mit den westlichen Integrationsorganisationen geschaffen hat“ (Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Ungarn 2007, S. 1). 168 165
Wie in Kapiel 2.1.1.1 ausführlich dargestellt wurde, ist die Bezeichnung „Osteuropa“ hier politisch (und nicht geografisch) gemeint. 166 Der Marxismus-Leninismus gilt als Hauptströmung des Marxismus. Er gründet sich auf die von W.I. Lenin (Uljanov) vorgenommene Anpassung der Lehren von Marx und Engels an die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Russland Anfang des 20. Jahrhunderts. Lenin erweiterte die marxistische Kapitalismustheorie mit der These über den Imperialismus (als nächstes Stadium des Kapitalismus) und formulierte die These einer Partei neuen Typs als „Vorhut des Proletariats“. Durch die sowjetische Vormachtstellung in der Komintern (Kommunistische Internationale, Vereinigung aller kommunistischen Parteien) wurden diese Thesen für alle kommunistischen Parteien verbindlich. Lenins Nachfolger, vor allem J. W. Stalin (Dschugaschwili) machten den MarxismusLeninismus „zu einer Weltanschauungslehre mit dogmatischen Zügen und dem Anspruch auf Universalität und Wissenschaftlichkeit“ (Meyers 1999, Bd. 14, S. 151-152). 167 Hier stellt sich die – rhetorische – Frage, ob die Verwirklichung einer Proletarischen Internationale mit der Europaidee nicht funktional äquivalent gewesen wäre. 168 In den 1980er-Jahren wurden Einzelverträge zwischen Ungarn und der EG im Bereich Wirtschaft abgeschlossen. 1988 kam es zu einer umfassenden Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Handel (Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Ungarn 2007, S. 1). Nach dem demokratischen Systemwechsel 1989/90 gab es einen Konsens zwischen allen politischen Parteien,
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
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Gyula Horn, ehemaliger ungarischer Ministerpräsident und Außenminister, beschrieb ausführlich die Anstrengungen der ungarischen Reformkommunisten, die seit den 1980-er Jahren versucht hatten, den Anschluss an Westeuropa zu finden (vgl. Horn 1991). György Dalos betont auch die Rolle der ungarischen Oppositionellen, die nach Westeuropa ausgewandert sind und immer wieder versucht haben, die Aufmerksamkeit der westeuropäischen Öffentlichkeit auf Ungarn zu richten (vgl. Dalos 1986, 2004). Die Öffnung des Eisernen Vorhangs symbolisiert diese Bemühungen und die Wiederaufnahme der Westorientierung Ungarns auch bildlich. In diesem Sinne spricht Gyula Horn von gemeinsamen Anstrengungen [von Ost- und Westeuropa] zur Verwirklichung eines gemeinsamen Europas (vgl. Horn 1991). 3.2.1.2 Deutschland, Ungarn und die Europäische Union Die Jahre 1989 und 1990 brachten für die europäische Integration eine ganz neue Perspektive: Mit den politischen Veränderungen erschien die Idee eines „gemeinsamen Europa-Hauses“ – wie dies das ehemalige sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow schon in den 1980er-Jahren propagierte – plötzlich verwirklichbar. Das sozialistische Lager brach aufgrund innenpolitischer Schwierigkeiten sowie überzogener und nichtfinanzierbarer sozialpolitischer Programme und des gleichzeitigen äußeren Reformdrucks, der durch Gorbatschows politische Öffnung und die Reformbewegungen in Polen und Ungarn erzeugt wurde, zusammen (vgl. Herrmann 1999). Der Abbau des Eisernen Vorhangs an der ungarisch-österreichischen Grenze und die Genehmigung der Ausreise der nach Ungarn geflüchteten DDR-Bürger 1989 leitete ein neues Kapitel in der europäischen Geschichte ein (vgl. Horn 1991). Ungarn erlangte seine Souveränität 1989. Es wurde ein demokratischer Systemwechsel vollzogen und die Mitgliedschaft in den „westeuropäischen Integrationsorganisationen“ (Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Republik Ungarn 2007, S.1) angestrebt. 1990 erlangten beide deutschen Länder ihre volle staatliche Souveränität zurück, durch den Beitritt der ehemaligen Länder der DDR zur BRD wurde die Wiedervereinigung Deutschlands vollzogen. Ebenso wurde die ehemalige DDR „automatisch“ Mitglied der EG. 1991 wurde zwischen Ungarn und der EG ein Assoziierungsabkommen abgeschlos-sen. Allemann-Ghionda spricht diesbzgl. von einer Entwicklung vom „Ost-WestGegensatz hin zur Ost-West-Verschmelzung“ (Allemann-Ghionda 2005, S. 3). dass Ungarn längerfristig eine Vollmitgliedschaft „in den westeuropäischen Integrationsorganisationen“ anstrebt (ebd.). Im 1991 unterschriebenen Assoziierungsabkommen mit der EG wurde dieser Wunsch auch offiziell verkündet.
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Der Anfang der Phase von 1989/90 bis heute war durch den Übergang von einer weltpolitischen Bipolarität zur Multipolarität gekennzeichnet: Die früheren Machtstrukturen wurden relativiert. Mit der Auflösung der beiden Großsysteme, die Europa geteilt hatten, wurde die Zahl der weltpolitischen Akteure wesentlich erhöht.169 Nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts hörten die östlichen supranationalen Organisationen auf zu existieren, wie z.B. der RWG und der Warschauer Pakt (1991). Es blieben zwei Typen supranationaler Organisationen: einerseits die transatlantischen Organisationen wie NATO und OECD, andererseits die rein europäische Organisation Europäische Gemeinschaft, die durch den Vertrag von Maastricht zur Europäischen Union wurde und ihren politischen Vertretungsanspruch für ganz Europa verkündete.170 1995 traten auch Finnland, Österreich und Schweden bei. 1997 wurde der Vertrag von Amsterdam unterzeichnet. Das Ziel der Veränderungen war, die Arbeit der Union stärker, wirksamer und verständlicher zu machen (durch gemeinsame Innen- und Rechtspolitik) sowie den Bedürfnissen der Unionsbürger (Massenarbeitslosigkeit, Verschuldung der Nationalstaaten) mehr Beachtung zu schenken. Konkrete Beschlüsse zur Reform der EU-Institutionen konnten nicht gefasst werden. Es wurde die sog. Flexibilitätsklausel eingefügt, die „einer Mehrheit von EU-Staaten [erlaubt], durch eine engere Zusammenarbeit die Integration weiter voranzubringen, auch wenn andere zurückbleiben. Die Funktionsfähigkeit der Union darf dadurch allerdings nicht gefährdet werden“ (ebd. S. 37). Im Jahre 2000 begann eine Regierungskonferenz zur EU-Institutionenreform und zur EU-Osterweiterung, die mit dem Vertrag von Nizza endete. Dieser legte den Grundstein für weitere Neuaufnahmen. 1999/2002 wurde die gemeinsame europäische Währung eingeführt: der Euro. Bis zu diesem Zeitpunkt war die EU de facto noch immer eine westeuropäische Organisation. Obwohl die Beitrittskandidaten alle EU-Beschlüsse umsetzen mussten, waren sie von den Entscheidungen ausgeschlossen. 2004 traten weitere zehn Länder (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien, Ungarn und Zypern) der Europäischen Union bei. Erst damit wurde die politische Teilung Europas entlang der Grenzen von 1945 de jure überwunden. Anfang 2007 wurden auch Bulgarien und Rumänien Mitglieder. 171 169
Die durch die zwei Machtblöcke geregelte Weltordnung ist zwar zusammengebrochen, durch das Infragestellen des Territorialstaatsprinzips beeinflusste ihre Wirkung aber die neue Weltordnung: Im Zeitalter der Globalisierung steht das Phänomen der schwachen Staaten ausdrücklich im Interesse der globalisierten Wirtschaft (vgl. Schemmann 2007, S. 39). 170 Die transatlantischen Organisationen und die EU haben keine automatische Interessenidentität oder Interessengegensätze. Vielmehr werden die Organisationen als Schauplatz nationalstaatlicher Interessen genutzt. 171 Für die neuen EU-Länder gelten die sog. „Übergangsbeschränkungen“: Die Abschaffung der
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
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Das Scheitern einer europäischen Verfassung im Jahre 2008 zeigt, dass heute immer noch abzuwarten ist, wie die politische Form der Europäischen Union aussehen wird.172 Insgesamt 18 Länder, darunter Deutschland und Ungarn, haben den EU-Verfassungsvertrag ratifiziert, die Referenden in Irland sowie im ersten Anlauf in Frankreich und in den Niederlanden sind gescheitert. Nach Bernd Dewe und Peter J. Weber droht „die EU […] ungeachtet aller Verweise auf den so genannten Bologna-Prozess in eine strukturlose Wirtschaftsgemeinschaft ohne (bildungs)politischen Konsens zu zerfallen“ (Dewe/Weber 2007, S. 8). 3.2.2 Das Bildungswesen der ausgewählten Länder Im folgenden Abschnitt wird das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn beschrieben. Wie in Kapitel 2.1.1 dargestellt wurde, sind Bildungssteuerung und Aufbau der ausgewählten Länder sehr unterschiedlich. Hier werden diese Unterschiede explizit aufgezeigt, weil sie die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ beeinflussen. 3.2.2.1 Das Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland Das wesentliche – und wahrscheinlich das meist kritisierte173 – Merkmal des deutschen Bildungswesens ist seine föderale Struktur, die aus der Staatsform des Landes resultiert. Seit den 1990er-Jahren vollziehen sich im deutschen Bildungssystem tief greifende Veränderungen (vgl. Anweiler u.a. 1992 sowie Führ 1997 und Fuchs/Reuter 2000). Die Gründe dafür sind vielseitig. Es gibt aber drei Hauptfaktoren, die für die Veränderungen verantwortlich zeichnen: Am Anfang spielte die Wiedervereinigung und die Zusammenführung der Bildungssysteme der BRD und der DDR die Hauptrolle. Später beeinflussten die internationalen Vergleichstudien TIMSS174 und PISA175 die deutsche Bildungspolitik. Binnengrenzen gilt zunächst für Waren, Dienstleistungen und Kapital, aber nicht für Arbeitskräfte. Für Ungarn (wie auch für Tschechien, die Slowakei, Slowenien und Polen) wurden diese Übergangsbeschränkungen mit dem Beitritt in das Schengener Abkommen in den meisten EU-Ländern (allerdings nicht in Deutschland) 2008 ungültig. 172 Die im Jahre 2007 durchgeführte Verwaltungsreform gab dafür erste Anhaltspunkte. Valéry Giscard d´ Estaing, Vorsitzender des EU-Verfassungskonvents, stellt fest, dass der Vertrag von Lissabon Inhalte und Instrumente des geplanten Verfassungsvertrages übernommen hat (und dabei auf Symbole der Union verzichtet und an Großbritannien und Frankreich Zugeständnisse gemacht hat) und interpretiert diesen als „starkes Signal für den Rückgang der politischen Ambition Euro-pas“ (Giscard d´ Estaing 2007, S. 23). 173 Vgl. u. a. Apel/Kemnitz/Sandfurch 2001, Babke 2007. 174 TIMMS: Third International Mathematics and Science Study
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Spätestens seit der Jahrtausendwende bestimmt die Europäische Union die Richtung der bildungspolitischen Veränderungen in Deutschland mit. Durch die Bestrebungen der Union, Erziehung und Bildung der Mitgliedsländer stärker zu koordinieren sowie durch das schlechte Abschneiden deutscher Jugendlicher bei der PISA-Studie steht das deutsche Bildungssystem unter einem enormen Veränderungsdruck (vgl. Óhidy 2007b). Im Folgenden wird zunächst die historische Entwicklung des deutschen Bildungswesens nach der Wiedervereinigung skizziert. Dann wird das heutige öffentliche Bildungswesen vorgestellt. Nach Jahrzehnten der Zweiteilung erfolgte im Jahre 1990 mit dem Beitritt der DDR zur BRD die Wiedervereinigung Deutschlands.176 Dadurch wurde in den ehemaligen Ländern der DDR nicht nur das politische System der BRD, sondern auch die föderale Struktur des Bildungswesens (wieder)eingeführt, weil das sozialistische Bildungssystem als `politisch diskreditiert` galt. Im Sinne des Einigungsvertrags von 1990 traten die fünf `neuen Länder` der KMK bei. Mit dieser Umstellung vergrößerte sich die institutionelle Vielfalt vor allem in der Struktur der Sekundarstufe, die alle Varianten zwischen zwei- bis fünfgliedrigen Systemen vorwies (Cortina u. a. 2003, S. 53). Die Neuorganisation des Bildungswesens wurde zur wichtigsten Aufgabe der gemeinsamen Bildungspolitik. Diese wurde bald im Hinblick auf die Europäische Union durch die Aufgabe ergänzt, die vorhandenen Strukturen auf ihre Zukunftstauglichkeit kritisch zu überprüfen (vgl. Anweiler u. a.1996): „Hatte Anfang der 90er Jahre die Notwendigkeit im Zuge der deutschen Einheit, zwei sehr unterschiedliche Bildungssysteme zusammenzufügen, fast alle Ressourcen gebunden, die Mängel des westdeutschen Bildungssystems weitgehend verdeckt und eine tiefer gehende bildungspolitische Reformdiskussion verhindert, stieg nach dem Abschluss der Transformationsphase wieder die Konjunktur bildungspolitischer Themen im öffentlichen Diskurs“ (Massing 1995, S. 5).
1997 hatte Bundespräsident Roman Herzog die Bildungspolitik zum zentralen Anliegen seiner Amtsperiode erhoben. Die wichtigsten Themen der Fachdiskus175
PISA: Programme for International Student Assessment In der deutschen Politikwissenschaft bezeichnet man die Wiedervereinigung meistens als „Transformation“. Es gibt aber auch Ansichten, die die Nutzung dieses „scheinbar wertfreien“ Begriffes wissenschaftlich für fragwürdig halten. Christ und Neubauer sprachen bezüglich der Wiedervereinigung schon 1991 über eine „strukturelle Kolonialisierung“ (vgl. Christ/Neubauer 1991, S. 216). Auch nach Fritz Vilmar sind im Prozess der deutsch-deutschen Wiedervereinigung alle wesentlichen Bestimmungsmerkmale der „klassisch“-historischen Kolonialisierung – sprich sozioökonomische Dominanz, strukturelle Gewalt der Kolonialherren, wirtschaftliche Abhängigkeit und Ausbeutung der Kolonisierten, Identitätsverlust der dominierten Bevölkerung einschließlich der sozialen Liquidation ihrer Eliten – wiederzufinden (Vilmar 2003, S. 19f). Die Debatte wird auch in der Erziehungswissenschaft sehr kontrovers geführt, wie das Jahrbuch für Pädagogik 2002 über „Kritik der Transformation – Erziehungswissenschaft im vereinigten Deutschland“ zeigt (Keim/ Kirchhöfer/ Uhlig 2003). 176
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sion waren erstens die Fragen der Qualitätsentwicklung, die auf frühere empirische Leistungsstudien zurückgriffen und mit reformpädagogischen Ansätzen verbunden die Einzelschule als „pädagogisch unverwechselbare Lebenswelt“ propagierten (Cortina u.a. 2003, S. 137). Zweitens beschäftigten sich die Fachleute mit Möglichkeiten der Modernisierung der Verwaltung unter den Gesichtspunkten Effektivität und Effizienz im Sinne von bildungsökonomischen Überlegungen. Drittens wurden Transparenz und Rechenschaftslegung zu weiteren wichtigen Leitgedanken der Diskussion, wobei Dezentralisierung und Sicherung der Ergebnisqualität als zwei Seiten einer Medaille betrachtet wurden (ebd.). Im Jahre 2001 veröffentlichte das Forum Bildung, ein gemeinsam von Bund und Ländern getragenes Diskussionsforum von Politikern, Wirtschaftsvertretern, Sozialpartnern, Wissenschaftlern und Praktikern zwölf Empfehlungen zur Bildungsreform. Sie deckten die wichtigsten Themen der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland ab (vgl. Forum Bildung 2001). Internationale Schulleistungsstudien, vor allem die PISA-Studie der OECD von 2000 und 2003 und ihre mediale Wahrnehmung, setzten die Bildungspolitik wie nie zuvor unter einen enormen Einigungs- und Handlungszwang. PISA bescheinigte dem deutschen Bildungssystem schlechte Noten vor allem hinsichtlich der Verwirklichung der Chancengleichheit. Der `PISA-Schock`177 bewirkte eine rege Diskussion über pädagogische Leitgedanken, schulische Bildung sowie die Kompetenzbereiche der verschiedenen pädagogischen Berufe und Tätigkeiten (Óhidy 2003, S. 9). Nach Döbert „drängt sich spätestens nach den internationalen Schulleistungsstudien (TIMSS, PISA) die Frage auf, ob trotz aller beachtenswerten Leistungen im Zuge der Wiedervereinigung nicht zugleich reale Chancen für eine durchgängige Modernisierung des deutschen Bildungswesens weitgehend ungenutzt blieben“ (Döbert 2002, S. 94).178 Cortina u.a. bescheinigen dem deutschen Bildungswesen ebenfalls einen Modernisierungsrückstand und ordnen die „ungelösten und übersehenen Probleme“ den Kategorien Bildungserträge, Prozessebene, Organisationsstrukturen sowie Systemsteuerung zu. Die Probleme der „Bildungserträge“ zeigen sich ihnen zufolge in den von PISA untersuchten zentralen Kompetenzbereichen sowie in den sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung. Auf der Prozessebene sehen sie die größte Herausforderung im Umgang mit Heterogenität vor allem im Hinblick auf Migrationshintergrund und Lernschwierigkeiten. Im Bereich der Organisationsstrukturen zeigen sie Probleme in Bezug auf die Halbtagsschule sowie die den Vorschulbereich prägende „Kindergarten-als-letzter-Schonraum“177
Die große Wirkung der PISA-Studien ist einerseits in ihrer Internationalität, andererseits im großen Interesse der öffentlichen Meinung zu begründen. Für das Fachpublikum waren diese Ergebnisse allerdings schon längst bekannt. 178 Mehr zum Thema vgl. Keim u. a. 2003.
120
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Erziehung auf. Auf der Ebene der Systemsteuerung sollten ihrer Meinung nach einerseits die Mängel der institutionalisierten Dauerbeobachtung von Bildungsergebnissen, andererseits das Fehlen einer stabilen Balance zwischen Dezentralisierungsbestrebungen und staatlicher Verantwortung behoben werden (Cortina u.a. 2003, S. 144ff). Zurzeit gibt es einen Konsens über die – seit mehreren Jahrzehnten diskutierten – notwendigen bildungspolitischen Veränderungen, die Kahl in den 1990er-Jahren folgendermaßen formuliert hat: „Die Grundschule soll gestärkt werden und Bildung schon im Kindergarten beginnen. Alle wissen, dass die Schulen mehr Freiheit brauchen, um besser zu werden und dass sie aus denselben Gründen stärker zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Und über alle Ländergrenzen hinweg setzt sich die Erkenntnis durch, dass im Unterricht Leistung und die Freude am Lernen betont werden sollen. Das Ende eines 30-jährigen deutschen Bildungskrieges scheint zum Greifen nahe“ (Kahl zitiert nach Massing 1995, S. 5).
Dieser Konsens hängt sehr stark damit zusammen, dass Bildung und Wirtschaftswachstum in einem engen Zusammenhang gesehen werden. Schon die Reformen der 1960er-Jahre in der BRD verdankten ihre Existenz dem Bündnis zwischen Bildungssystem und Wirtschaft. Die jetzige große Koalition versucht zurzeit diesen Konsens in konkrete Reformen umzumünzen. Im Folgenden wird das heutige öffentliche Bildungssystem in Deutschland vorgestellt, um die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ vorzustellen. Es werden drei Themen erläutert: 1) Steuerung, Verwaltung und Kontrolle, 2) Struktur und Aufbau und 3) Finanzierung. 1) Steuerung, Verwaltung und Kontrolle Das wichtigste Merkmal des deutschen Bildungswesens ist das aus der Staatsform resultierende Föderalismus-Prinzip.179 Dies bedeutet einerseits, dass es keine umfassende gesetzliche Regelung für das gesamte Bildungswesen gibt. Die einzelnen Bereiche unterliegen unterschiedlichen Gesetzgebungskompetenzen, meistens bei den Bundesländern. Diese Kulturhoheit der Länder, also ihr Vorrang vor bundeseinheitlichen Regelungen ist das Ergebnis eines langen historischen Entwicklungsprozesses und bildungspolitisch heftig umstritten. Die Bil179
Deutschland ist völkerrechtlich gesehen ein aus mehreren Bundesländern zusammengesetzter Bundesstaat, dessen Mitglieder teilweise Staatsgewalt behalten und nach außen durch die Zentralgewalt Bund gemeinsam vertreten werden. Die Souveränität der Mitglieder bleibt also unangetastet, der übergeordneten Gewalt werden nicht mehr Regelungsbefugnisse gegenüber nachgeordneten Gewalten eingeräumt, als im Interesse des Ganzen geboten ist (Meyers 1999, Bd. 7., S. 102). Mehr zum Thema deutsches Bildungswesen vgl. Dohmen 2004.
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
121
dungspolitik wird in erster Linie von den in den Ländern und auf der Bundesebene regierenden politischen Parteien bestimmt, aber auch vom Interessenpluralismus verschiedener organisierter Gruppen wie Lehrerverbänden, Elternvereinigungen, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden sowie von den Kirchen und Repräsentanten der Wissenschaft maßgeblich beeinflusst. Eine besondere Rolle spielen dabei politikberatende Expertengremien wie z. B. der Wissenschaftsrat180. Ebenfalls eine wichtige Rolle spielt die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder, die z. B. 1972 einem Numerus Clausus an Hochschulen enge Grenzen zogen. „Die im Zusammenhang mit juristischen Entscheidungen oft beklagte ´Verrechtlichung´ der pädagogischen Verhältnisse ist die Kehrseite der Kontrolle durch unabhängige Gerichte“ (Anweiler 1996, S. 36). In der Zukunft werden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes wahrscheinlich eine wachsende Bedeutung erhalten. Das heutige Bildungsverwaltungssystem hat vier Ebenen: - die Bundesebene, repräsentiert durch die 1949 gegründete Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK)181 und durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), - die Landesebene, - die kommunale Ebene sowie - die Ebene der einzelnen Bildungsinstitutionen (ebd. s. Tabelle 9).182
180
Der Wissenschaftsrat wurde 1957 durch ein Verwaltungsabkommen zwischen Bund und Ländern geschaffen. Seine Aufgaben sind: Empfehlungen zur inhaltlichen und strukturellen Entwicklung der Hochschulen, der Wissenschaft und der Forschung zu erarbeiten. Seine Mitglieder sind Wissenschaftler, anerkannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Delegierte von Bund und Ländern (vgl. http://www.kmk.org/dossier/aufbau_und_verwaltung. pdf [Stand 25.7.2006]). 181 Die Koordinierung der Bildungspolitik auf der Bundesebene obliegt der 1948 gegründeten KMK. Nach der Geschäftsordnung hat sie die Aufgabe, „Angelegenheiten der Kulturpolitik von überregionaler Bedeutung mit dem Ziel einer gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen“ (Führ 1997, S. 35) zu behandeln. Sie hat keine legislativen Kompetenzen (diese liegen bei den Ländern). Ihre Beschlüsse und Empfehlungen müssen einstimmig gefasst werden. Organe der KMK sind das Plenum, in dem sich die Minister 3- bis 4-mal im Jahr treffen sowie das Präsidium und die drei ständigen Kommissionen. Es gibt ein Sekretariat in Bonn und eine Dienststelle in Berlin. 2004 kündigte Niedersachsen den Staatsvertrag, der die Tätigkeit und Finanzierung des Sekretariats regelt. Dies bedeutet aber keine „Kündigung der KMK“, wie es in der Öffentlichkeit rezipiert wurde; das Fortbestehen des Sekretariats wurde durch einen Ministerpräsidentenbeschluss gesichert (vgl. Meyers 1999, Bd. 12, S. 282). 182 Zu einer ausführlichen Beschreibung vgl. Óhidy 2007b.
122 Steuerungsebene Bundesebene Landesebene Kommunale Ebene Institutionelle Ebene
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Verwaltungsebene KMK, BMBF (nur Koordination) Ministerien, Oberschulämter/Schulämter der Bezirksregierungen Kommunale Schulämter Bildungsinstitutionen
Tabelle 9: Steuerungsebenen des deutschen Bildungswesens In letzter Zeit deutet sich ein Strukturwandel der politisch-administrativen Steuerung in Deutschland an: Internationale Vergleichsstudien haben die Aufmerksamkeit auf das Fehlen einer stabilen Balance „zwischen Dezentralisierungsbestrebungen einerseits und der Wahrnehmung der staatlichen Verantwortung auf der Ebene der Bundesländer und des kooperativen Föderalismus andererseits“ (Cortina u.a. 2003, S. 146) gelenkt. Diese resultieren aus dem gleichzeitigen Vorhandensein wohlfahrtsstaatlicher und marktzentrierter Modelle (vgl. Fend 2000). Um dieses Problem zu lösen, hat die KMK 2002 die Entwicklung von nationalen Bildungsstandards für Basiskompetenzen beschlossen. Diese sollten eine gewisse Einheit und Zentralisiertheit der Steuerung gewährleisten.183 Die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ wird in Deutschland vor allem auf der Bundesebene und dort insbesondere vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)184 unterstützt: Das BMBF zeichnet verantwortlich für alle in Kapitel 4 analysierten Dokumente: Es hat 1996, im „Europäischen Jahr des lebensbegleitenden Lernens“ das Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik in Auftrag gegeben, es gab das Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für Alle“ heraus und war auch in der Bund-Länder-Kommission185 vertreten, die die Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichte. 183
Die Bildungsstandards orientieren sich an Bildungszielen. Diese werden in Form von Kompetenzanforderungen konkretisiert. Sie legen fest, über welche Kompetenzen SchülerInnen verfügen müssen. Die Anforderungen werden in Kompetenzmodellen geordnet, die Aspekte, Abstufungen und Entwicklungsverläufe darstellen. Die Bildungsstandards werden als Ergebnisse von Lernprozessen in Aufgabenstellungen und schließlich in Verfahren konkretisiert, mit denen das Kompetenzniveau, das SchülerInnen erreicht haben, empirisch erfasst werden kann (vgl. BMBF 2003). 184 1970 wurde das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft eingerichtet und 1994 mit dem Ministerium für Forschung und Technologie zusammengefasst. Heute heißt es Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Es nimmt die Kompetenzen wahr, die der Bund im Bildungsbereich hat, verfügt aber nur über begrenzte Befugnisse in den Aufgabenbereichen berufliche Bildung, Hochschule sowie in der Bildungsforschung (ebd.). 185 Die 1970 gegründete Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung ist ein ständiges Gesprächsforum für alle Fragen der Bildungsplanung und Forschungsförderung, die Bund und Länder gemeinsam betreffen. Die BLK gibt diesbezüglich Empfehlungen an die Regierungschefs. (vgl. http://www. Blk-info.de [Stand: 5.9.2007]). Am 1. Januar 2008 wurde die BLK von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) abgelöst. Mehr dazu vgl. http://gwk-bonn. de. Vgl. auch Boppel 2003.
123
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
2) Struktur und Aufbau Das deutsche Bildungssystem ist in fünf Ebenen gegliedert: den Elementarbereich, den Primarbereich (Grundschule), den Sekundarbereich (Sekundarstufe I und II), den tertiären Bereich der Hochschulbildung sowie den quartären Bereich der Erwachsenenbildung und der außerschulischen Jugendbildung (vgl. Döbert 2002). Diese Kategorisierung bezieht sich auf das Alter der Lernenden. Ein zweites Kriterium ist die Differenzierung nach dominanten Zielsetzungen und Inhalten in Einrichtungen der Allgemeinbildung und der Berufsbildung (Lange 2005, S. 35). Wie sich die vier Subsysteme Pflichtschulwesen, Hochschulwesen, Berufsbildung und Erwachsenenbildung auf diese Ebenen verteilen lassen, zeigt Tabelle 10. Die Berufsbildung findet in einem sog. „dualen System“ statt, das durch die Kooperation der zwei Lernorte Schule und Betrieb gekennzeichnet ist und formal dem Sekundarbereich II zugeordnet wird (vgl. Anweiler 1996, Döbert 2002, Dohmen 2004). Bildungsbereiche Elementarbereich Primarbereich
Sekundarbereich (Sekundarstufe I und II)
Allgemeinbildendes Schulwesen Pflichtschulwesen Hochschulwesen Schulkindergärten (Vorklassen) Grundschule Sonderschule Gesamtschule Gymnasium Realschule Hauptschule Förderschule
Tertiärer Bereich
Quartärer Bereich (Erwachsenenbildung/ Weiterbildung)
Universität Fachhochschule
Abendgymnasium Abendhauptschule Abendrealschule Kolleg
Universität Fachhochschule
Berufsbildung
Berufliches Gymnasium Fachgymnasium Berufsschule Berufsfachschule Fachoberschule Berufsaufbauschule Fachschule Fachakademie Universität Fachhochschule Berufsakademie Berufskolleg Fernuni Hagen Berufsakademie Fernuni Hagen Volkshochschule186
Tabelle 10: Struktur des deutschen öffentlichen Bildungswesens
186
Obwohl die Volkshochschulen nicht nur Kurse im Bereich beruflicher Weiterbildung anbieten, sondern auch im Bereich der allgemeinen Bildung, wurden sie hier eingegliedert, weil sie weder dem Pflichtschul- noch dem Hochschulsystem zugerechnet werden können.
124
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Die Idee eines lebenslang anhaltenden Lernprozesses wurde in Deutschland vor allem im quartären Bereich aufgegriffen. Der quartäre Bereich umfasst den Bereich der Weiterbildung, unter der seit den 1970er-Jahren sowohl die allgemeine Erwachsenenbildung als auch die berufliche Weiterbildung verstanden wird (Anweiler 1996, S. 45). Ferner gehören die Angebote der außerschulischen Jugendarbeit dazu. In den 1970er-Jahren wurde – auf Forderung des Bildungsgesamtplans von 1973 und nicht zuletzt aufgrund des Leitgedankens des Lebenslangen Lernens – der Weiterbildungsbereich zu einem Hauptbereich des Bildungswesens deklariert und ausgebaut. Heute werden die Begriffe „Lebenslanges Lernen“ und „Erwachsenenbildung“ bzw. „Weiterbildung“ oft als Synonyme benutzt (vgl. u. a. Knoll 1997 und 1998b, Kraus 2001). 3) Finanzierung Die Finanzierung des Bildungswesens aus öffentlichen Geldern wird dadurch gewährleistet, dass die meisten Bildungseinrichtungen von staatlichen Behörden getragen werden. Diese finanzieren sich größtenteils über direkte Zuwendungen der öffentlichen Haushalte (ca. 90 % der Finanzierung wird von den Ländern und den Kommunen getragen) und zu einem sehr geringen Teil aus Schul- oder Studiengebühren. 3.2.2.2 Das Bildungssystem der Republik Ungarn Das ungarische Bildungssystem unterscheidet sich vom deutschen vor allem dadurch, dass es nicht föderal organisiert ist. Seine heutige Form ist das Ergebnis eines langjährigen Entwicklungsprozesses, der von tief greifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt wurde.187 Allein nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Ungarn zwei grundlegende Veränderungen. Zunächst 1945, als auf sowjetischen Druck die sozialistische Gesellschaftsordnung aufgebaut wurde und dann 1989/1990, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein demokratischer Systemwechsel erfolgte. Diese Umbrüche haben auch das Bildungswesen nachhaltig beeinflusst. Die Veränderungen des ungarischen Bildungswesens seit den 1990er-Jahren lassen sich vor allem auf zwei Faktoren zurückführen: auf den demokratischen Systemwechsel 1989/1990 sowie auf den Beitritt in die Europäische Union 2004. Die PISA-Studie hat in Ungarn u. a. aufgezeigt, dass die Auflösung des früheren einheitlichen Bildungssystems und dessen Umstrukturierung auf marktwirtschaftlicher und demokratischer Basis mit großen Qualitätseinbußen einherging. Dies gilt für alle 187
Zum Thema Bildungswesen der Volksrepublik Ungarn vgl. Buti 1968 und Kelemen 2003a.
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
125
postsozialistischen Länder in Ost-Mittel-Europa (vgl. u.a. Halász/Altrichter 1999, Jach 1999, Bírzea 2000). Der Beitritt zur Europäischen Union hatte ebenfalls eine deutlich wahrnehmbare Wirkung auf die Entwicklung der ungarischen Bildungspolitik: „Wir sind am 1. Mai 2004 einer Gemeinschaft beigetreten, für die Bildung einerseits immer wichtiger wird, und die andererseits zunehmend über mehr Mittel verfügt, um die Bildungspolitik der Mitgliedsländer zu beeinflussen“188 (Halász 2006, S. 3).
Im Folgenden wird zunächst die historische Entwicklung des ungarischen Bildungssystems nach 1989/1990 skizziert. Dann wird das heutige öffentliche ungarische Bildungssystem vorgestellt. Nach einer „verhandelten Revolution“189 fing mit dem Systemwechsel190 eine neue Phase der ungarischen Geschichte an. Der demokratische Systemwechsel bedeutete, dass zeitgleich zwei Prozesse stattfanden: Erstens der Übergang von der sozialistischen zur bürgerlich-liberalen Demokratie (politische Dimension) und zweitens der Wechsel von der sozialistischen Plan- zur privaten Marktwirtschaft (wirtschaftliche Dimension) (Kipke 2005, S. 30). Diese Zeit ist durch innenpolitische Turbulenzen und außenpolitische Stabilität geprägt (Kurtán u.a. 1999). Es etablierte sich eine – allerdings auch in allen anderen postsozialistischen Ländern zu beobachtende – Tendenz, alle Regierungen nach vier Jahren abzuwählen.191 Dies änderte aber an dem innenpolitischen Kurs Richtung Demokratisierung und kapitalistischer Umbau nichts: "Die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Richtung Demokratisierung zeichnet sich seit dem Systemwechsel – trotz mehrmaligen Regierungswechsels – durch eine hohe Stabilität aus" (Gutsche 2000, S. 289). Auch die außenpolitische Richtung Ungarns blieb seit der Wende sehr stabil: 1999 trat Ungarn der NATO und 2004 der Europäischen Union bei. Mit der gesellschaftlichen Wende 1989/1990 wurden sowohl die Gesellschaft als auch das Bildungssystem demokratisiert und liberalisiert und das scheinbar einheitliche Schulsystem, das als „homogen und gut überschaubar“ (ebd. S. 423) galt, zerfiel. Der radikale Wechsel im politischen System hat nicht nur Teilaspekte der Bildung betroffen, sondern grundsätzliche Fragen aufgewor188
„Egy olyan közösséghez csatlakoztunk 2004. május 1.-jén, amely számára az oktatás nemcsak egyre fontosabb területté válik, hanem ezzel együtt egyre több olyan eszköz birtokában is van, amelyekkel komoly hatást képes gyakorolni arra, ahogyan a tagjai alakítják e területen saját belsĘ politikájukat.“ 189 In der internationalen Diskussion auch „melancholische Revolution“ genannt (vgl. Birzea 2000). 190 In Ungarn „rendszerváltás“ (Systemwechsel) genannt. In der deutschen Fachliteratur werden auch oft die Bezeichnungen „gesellschaftliche Wende“ und „demokratische Wende“ benutzt. 191 In Ungarn wurde erst 2006 eine Regierung erstmals im Amt bestätigt: die sozialliberale Koalition (die 2008 zerbrochen ist).
126
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
fen wie die Neudefinierung des Staates in Bildungsfragen angesichts der Demokratisierung des politischen und gesellschaftlichen Systems (vgl. Halász/Lukács 1990, Ladányi 1991, Vágó 1999). Oskar Anweiler bezeichnet die postsozialistischen Länder Ost(mittel)europas als „Umbruchgesellschaften“. Nach seiner Interpretation ist die Bildungsreform einerseits die Folge eines gesellschaftlichen Umbruchs (im Zusammenhang mit dem Systemwechsel des Ostblocks nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion), der eine Demokratisierung mit sich brachte. Andererseits kann sie aber auch als eine Begleitmaßnahme der angestrebten wirtschaftlichen Modernisierung, sprich Marktorientierung, angesehen werden (Anweiler 1996, S. 18). Klaus Schleicher kennzeichnet die Entwicklung des ungarischen Bildungssystems als einen Orientierungsprozess, der gleichzeitig auf internationalen Entwicklungen und nationalen Traditionen beruht und einen Ausgleich zwischen europäischen Modernisierungsbemühungen, nationalen Bildungsstandards und lokalem Bildungsbedarf zu finden sucht bzw. zentrale mit dezentralen Reformelementen verbinden möchte (vgl. Schleicher/Weber 2000, S. 262). FrankRüdiger Jach hält für evident, dass dem Bildungswesen bei der Neugestaltung der Gesellschaftsstrukturen nach den Prinzipien der Demonopolisierung, Pluralisierung, Demokratisierung und Individualisierung, eine zentrale Bedeutung zukommt. Aus diesem Grund stand und steht das Thema Bildungsreform stets im Mittelpunkt der politischen Diskussionen. "Obwohl die Grundparadigmen für die Neuordnung des Bildungssystems mit den Begriffen Pluralismus und Autonomie klar definierbar und formal von allen politischen Kräften anerkannt sind, besteht seit der Demonopolisierung des ungarischen Bildungssystems ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Dezentralisierungs- und Autonomiebestrebungen als Voraussetzung einer umfassenden Demokratisierung und Liberalisierung des Bildungswesens einerseits und neokonservativen politischen Bemühungen, das Bildungswesen an nationalen und christlichen Werten auszurichten und in diesem Sinne zu rezentralisieren, andererseits" (Jach 1999, S. 415).
192
Der Zusammenbruch des sozialistischen Systems führte also "zu einer umfassenden strukturellen, administrativen, curricularen und pädagogischen Umgestaltung des Bildungswesens" (Gutsche 2000, S. 302). Die Bildungspolitik zielte zunächst auf die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Bildungseinrichtungen sowie auf die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine weitere Modernisierung des Schulwesens. Dementsprechend wurden Anfang der 1990er-Jahre 192
Diese Bestrebungen, die durch den alle vier Jahre vollzogenen Regierungswechsel auch in den bildungspolitischen Reformen gut nachvollziehbar sind, prägen die Entwicklung des ungarischen Bildungssystems bis heute. Auch der langanhaltende Beitrittskandidaten-Status des Landes und die damit einhergehenden Bemühungen, den EU-Vorgaben entsprechen zu können, haben einen sehr starken Einfluss auf die (Bildungs)Politik Ungarns gehabt. Mehr dazu s. Kapitel 4.
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
127
neue rechtliche Grundlagen für das Bildungswesen geschaffen, eine Strukturreform im Bildungswesen durchgeführt, inhaltlich und strukturell neue Curricula ausgearbeitet und auf allen Ebenen des Bildungssystems private Bildungsangebote entwickelt. Es handelte sich also nicht nur um administrative Maßnahmen, sondern um einen Bewusstseinswandel: „Der wichtigste Inhalt der bildungspolitischen Zielsetzungen in Ungarn nach der politischen Wende ist daher die Befreiung des gesamten Bildungssystems von der bürokratischen Macht der zentralen Lenkungsorgane und die Ersetzung dieser durch neue funktionale Koordinationsmittel“ (Bessenyei 1992, S. 152). Bessenyei beschrieb die paradoxen Aufgaben junger ostmitteleuropäischer Demokratien: Einerseits ging es um eine institutionelle Ausdifferenzierung, andererseits musste parallel der Zusammenhalt der Gesellschaft durch liberale Koordinierungsmittel gesichert werden: „Entideologisierung aber gleichzeitig ein neuer Konsens, Privatisierung aber wirksame staatliche wirtschaftliche Koordinationsmittel und kompensatorische Sozialpolitik, politische Pluralität, aber kein Chaos, Gründungsfreiheit, Strukturpluralität, Autonomie der Institutionen im Bildungswesen aber keine Unlenkbarkeit, kein Zufall des Systems“ (ebd.).
Dieselbe Paradoxie war auch für die Bildungspolitik kennzeichnend. 1991 verabschiedete die konservativ-liberale Antall-Regierung ein dreijähriges Maßnahmenprogramm,193 das die Sicherung der kostenlosen Grundbildung, die Erweiterung und qualitative Entwicklung der Mittel- und Hochschulbildung sowie die Erarbeitung eines Nationalen Grundlehrplanes und eines neuen Prüfungssystems zum Ziel hatte. In der Verfassung wurde das Recht der Eltern verankert, die Erziehung ihrer Kinder frei zu wählen in Verbindung mit der Verpflichtung, für den Unterricht ihrer minderjährigen Kinder zu sorgen. Auch die Gesetze über die Selbstverwaltungen, über die Rückgabe der 1948 verstaatlichten ehemaligen kirchlichen Immobilien sowie über den öffentlichen Dienst und über die nationalen und ethnischen Minderheiten hatten einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung des Bildungswesens (Gutsche 1995a, S. 32). Durch die vertikale Verwaltungsreform erhielten die lokalen Verwaltungen die Schulträgerschaft und damit begann sich ein mehrpoliges System der Bildungsverwaltung herauszubilden, das die Ebene der zentralen Regierung, der örtlichen Behörden sowie der einzelnen Bildungseinrichtungen umfasst (Halász/Lannert 2003). 1993 wurden drei neue Gesetze verabschiedet, die die entscheidende Grundlage für die Demokratisierung des Bildungssystems bildeten (Gutsche 2000, S. 303): das Gesetz über die Volksbildung194, das Berufsbildungsgesetz195 und das 193
A kormány hároméves intézkedési programja a gyerekek és a fiatalok jövĘjérĘl (Das dreijährige Maßnahmenprogramm der Regierung zur Zukunft der Kinder und Jugendlichen) 194 Közoktatási törvény
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Hochschulgesetz196. Die wichtigsten Kernelemente der drei Gesetze waren die Lehr- und Lernfreiheit, die institutionelle Autonomie, die Beseitigung des staatlichen Monopols, der kostenlose Grundschulunterricht und die gebührenpflichtige Universitäts- und Hochschulbildung (Gutsche 1995a, S. 32). 1994 modifizierte die sozialliberale Regierung diese Bildungsgesetze. 1996 wurde eine weitere umfassende Revision des Gesetzes über die Volksbildung eingeleitet und ein mittelfristiger Entwicklungsplan für die Volksbildung fertig gestellt. Die allgemeine Schulpflicht wurde bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres ausgedehnt, die Aufgaben der einzelnen Schultypen genauer festgelegt, die Schüler in das Schulleben stärker miteinbezogen und Qualitätssicherungsmaßnahmen wurden in das System eingebaut. Der Hauptstadt und den Komitaten197 wurde die Erarbeitung eines Einschulungs- und Entwicklungsplanes mindestens für eine sechsjährige Periode vorgeschrieben. Mit der Einführung des Nationalen Grundlehrplans (NAT)198 1998 wurde eine zweipolige Lehrplanregelung geschaffen. Die Schulen haben unter Berücksichtigung der Rahmenvorgaben des NAT ihre pädagogischen Programme und lokalen Schulpläne erarbeitet und diese durch den Schulträger bestätigen lassen. Seitdem wird in den Schulen nach diesen Lehrplänen gearbeitet. Seit 2000 ist es auch für die berufsbildenden Schulen verbindlich, mit lokalen Lehrplänen zu arbeiten. Im Jahre 2003 wurden die Gesetze über die Erwachsenenbildung, über die Berufsbildung sowie über die Hochschulbildung verändert. Das Erwachsenenbildungsgesetz199 wurde modifiziert, um die Institutionen der Steuerung bzw. der Akkreditierung sowie den
195 Nach dem Gesetz über die Berufsbildung (Törvény a szakképzésrĘl) ist der Staat nur für die allgemeinbildenden und berufstheoretischen Bereiche der Berufsausbildung zuständig, für die berufspraktische Ausbildung zeichnet die Wirtschaft verantwortlich. Es gibt zentral festgelegte Prüfungsordnungen, die Prüfungen werden vor unabhängigen Prüfungskommissionen (Staat, Arbeitgeber, Arbeitnehmer) abgelegt. 1994 wurde auch ein Kammergesetz verabschiedet. 196 Im Sinne des Hochschulgesetzes (FelsĘoktatási törvény) ist jeder Staatsbürger, der das Abitur abgelegt hat, zum Studium an Hochschuleinrichtungen seiner Wahl berechtigt. Eine Aufnahmeprüfung ist aber an jeder Hochschule legitim. Des Weiteren werden institutionelle Aufgaben, Finanzierung, Hochschulautonomie, Verhältnis zum Staat, Fragen der wissenschaftlichen Forschung usw. geregelt. 197 Ein Komitat ist eine regionale Verwaltungseinheit in Ungarn. Das Land ist derzeit in 19 Komitate und in die Hauptstadt Budapest aufgeteilt. Es wird aber eine Reform des Verwaltungssystems diskutiert, wobei größere Regionen zusammengefasst werden sollen. 198 Nemzeti Alaptanterv (NAT), auf Deutsch auch Nationales Kerncurriculum genannt. Als bipolares Modell der Lehrplanregelung erfüllt der NAT zwei Funktionen: "Einerseits legt [...] [er] grundlegende Curriculuminhalte für die allgemeine Pflichtschule [...] fest, die von jeder Schule berücksichtigt werden müssen. Auf diese Weise lassen sich zentral im ganzen Land einheitliche Grundziele und – inhalte sichern. Andererseits ermöglicht [...] [er] eine dezentrale Ausgestaltung von Lehrplaneinheiten. Das Kerncurriculum fördert damit die Eigenverantwortung der Schulen und ermöglicht es ihnen, lokale Interessen, Ziele und Werte, aber auch spezifische Traditionen, Bedingungen und Umstände in den Unterricht einzubringen" (Ballér 2000, S. 322). 199 FelnĘttképzési törvény (CVI/2003)
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
129
Verbraucherschutz besser gewährleisten zu können. Das Berufsbildungsgesetz200 bezweckte die Annäherung der Ausbildung an die Bedürfnisse der Wirtschaft. Dazu wurden regionale Berufsbildungszentren ins Leben gerufen, und das Prüfungssystem wurde geändert. Aufgrund des Gesetzes haben Unternehmen einen größeren Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Ausbildung der eigenen Arbeitskräfte bekommen. Das Hochschulgesetz201 hatte – wie die anderen Gesetzesänderungen auch – zum Ziel, „einen europäischen Rahmen zu schaffen, damit die Arbeit in Ungarn nach dem Beitritt relativ schnell wieder auf alte Gleise kommen kann“ 202 (Szilágyi 2004, S. 32). Zusammenfassend lassen sich die ungarischen Bildungsreformen vom Systemwechsel bis heute durch die Kontinuität der Bildungspolitik, durch die Nutzung von „best practice“, durch einen „top-down-approach“203 sowie durch einen systematischen Reformansatz charakterisieren (vgl. Birzea 2000).204 Im Folgenden wird das heutige öffentliche Bildungssystem in Ungarn vorgestellt, um die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ vorzustellen. Es werden drei Themen erläutert: 1) Steuerung, Verwaltung und Kontrolle, 2) Struktur und Aufbau sowie 3) Finanzierung. 1) Steuerung, Verwaltung und Kontrolle Nach der demokratischen Wende 1989/1990 entwickelte sich die frühere zentralisierte und nach Bildungsstufen getrennte Bildungsverwaltung in eine dezentralisierte und integrative Richtung. Die in den 1990er-Jahren entstandene Form der Steuerung hat sich bis heute nicht wesentlich verändert. Das heutige Bildungsverwaltungssystem ist mehrpolig, sieht also eine Steuerung zwischen staatlichen Behörden, den regionalen/lokalen Selbstverwaltungen sowie den einzelnen Bildungsinstitutionen vor. Es gilt als eines der dezentralisiertesten Systeme Europas (vgl. Balázs 1999, Balázs/Halász 2000).
200
Szakképzési törvény (LXXXVI/2003) FelsĘktatási törvény (XXXVIII/2003) 202 „[…] egy európai keretet teremt ahhoz, hogy Magyarországon a csatlakozás után viszonylag zökkenĘmentesen folyjon a munka.“ 203 ´Top-down-approach´ bezeichnet die Methode der – meistens flächendeckenden – Reformen, die von oben nach unten verordnet werden (im Gegensatz zu den von unten nach oben wirkenden „bottom-up“-Reformen (vgl. Allemann-Ghionda 2004, S. 126). 204 Mehr zum Thema ungarische bildungspolitische Reformen vgl. Oktatási Minisztérium 2006. 201
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3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Das heutige Bildungsverwaltungssystem hat vier Ebenen: - die zentrale Ebene, repräsentiert durch das Bildungsministerium, - die regionale Ebene der Selbstverwaltungen der Komitate, - die lokale Ebene der kommunalen Selbstverwaltungen sowie - die Ebene der einzelnen Bildungsinstitutionen (ebd. s. Tabelle 11). Das Gesetz über die Volksbildung sieht eine Art Gleichgewicht zwischen den Ebenen vor.205 Steuerungsebene Landesebene Regionale Ebene Lokale Ebene Institutionelle Ebene
Verwaltungsebene Staatliche Behörden (Ministerien) Selbstverwaltungen der Komitate Kommunale Selbstverwaltungen Bildungsinstitutionen
Tabelle 11:Steuerungsebenen des ungarischen Bildungssystems Die Kooperation zwischen den verschiedenen Steuerungsebenen ist die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren des ungarischen Bildungssystems. Als wichtigster Vorteil dieser Steuerungsstruktur wird gesehen, dass Erziehung und Bildung zur Angelegenheit der lokalen Gemeinde werden, der Nachteil darin, dass das nationale Bildungssystem in verschiedene lokale Bildungssysteme auseinander fallen kann. Auch auf der Landesebene ist die Aufteilung der Verantwortung auf horizontaler (mit den regionalen, kommunalen und institutionellen Ebenen) wie auf vertikaler Ebene (zwischen den Ministerien) sehr typisch. Der Bildungsminister trägt zwar die gesetzliche Gesamtverantwortung, aber in der Realität sind seine Kompetenzen relativ begrenzt. Er bekleidet eine strategische Steuerungsrolle, die er meistens mit indirekten Steuerungsmitteln (z.B. durch den Nationalen Grundlehrplan) ausübt. Auf der ministeriellen Ebene gibt es daher wenig direkte Steuerung, dafür aber umso mehr Ordnungs- und Entwicklungsaufgaben. Typisch für Ungarn ist die Aufteilung der zentralen Steuerungsverantwortung zwischen mehreren Ministerien. Außer dem Bildungsministerium tragen das Innen-, das Finanzministerium, das Ministerium für Arbeit, das Ministerium für Gesundheit, Soziales und Familie, das Ministerium für Kinder, Jugend und Sport sowie das Wirtschaftsministerium Verantwortung für die Volksbildung. Die Konsequenzen dieser Verantwortungsteilung zeigen sich z.B. sehr stark im Dokument HumánerĘforrás-fejlesztési Operatív Programm.206 Als eine Folge der europäischen Integration des Landes sowie der verstärkten internationalen Kooperation bekommt auch das Außenministerium eine stetig wachsende Rolle. 205 206
Zu einer ausführlichen Beschreibung vgl. Óhidy 2007c. Mehr dazu s. Kapitel 4.3.2.
131
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
2) Struktur und Aufbau Das ungarische Bildungssystem besteht aus vier Ebenen: dem Vorschulbereich, dem Primarbereich, der Grundbildung (die in Ungarn die Primarstufe und die Sekundarstufe I beinhaltet), dem sekundären Bereich, der Mittelschulbildung (Sekundarstufe II) und dem tertiären Bereich, der Hochschulbildung. Diese Kategorisierung bezieht sich erstens auf das Alter der Lernenden und zweitens auf die Differenzierung nach dominanten Zielsetzungen und Inhalten in Einrichtungen der Allgemeinbildung und der Berufsbildung (Lange 2005, S. 35). Wie sich die vier Subsysteme Pflichtschulwesen, Hochschulwesen, Berufsbildung und Erwachsenenbildung auf diese Ebenen verteilen lassen, zeigt Tabelle 12. Dabei gehört der Vorschulbereich teilweise zum Pflichtschulsystem. Die Berufsbildung und die Erwachsenenbildung finden sowohl im sekundären als auch im tertiären Bereich statt. Seit 1998 besteht in Ungarn eine zwölfjährige Schulpflicht, die "das Rückgrat des Bildungswesens" (Kozma/Rébay 2002, S. 592) bildet207, weil alle weiterführenden Stufen (Hochschulsystem, Berufs- und Erwachsenenbildung) sich dem anpassen und der Vorschulbereich ganz auf die Vorbereitung der Pflichtschulzeit ausgerichtet ist. Bildungsbereiche Vorschulbereich Grundschulbereich Mittelschulbereich/ Erwachsenenbildung/ Weiterbildung Hochschulbereich Erwachsenenbildung/ Weiterbildung
Allgemeinbildendes Schulwesen Pflichtschulwesen Hochschulwesen Kindergarten Grundschule (Unterstufe) Grundschule (Oberstufe) Gymnasium Fachmittel-schule Universität Fachhochschule
Berufsbildung
Fachmittelschule Berufsschule Fachschule Spezialfachschule Fachhochschule
Tabelle 12: Struktur des ungarischen öffentlichen Bildungssystems Auch in Ungarn hat sich vor allem der Bereich Erwachsenenbildung mit dem Konzept des lebenslangen Lernens identifiziert (vgl. u.a. Csoma 1995), so dass auch hier die beiden Begriffe „Lebenslanges Lernen“ und „Erwachsenenbildung“ oft als Synonyme benutzt werden (vgl. Angelusz/Ottó 1979, Durkó 1980a und b). Allerdings, wie oben dargestellt, findet in Ungarn Erwachsenenbildung traditionell in Institutionen des sekundären Bereichs der Mittelschulbildung und 207 Die zwölfjährige Schulpflicht „bedeutet nicht nur, dass die Schüler – wie zuvor – lediglich zwölf Jahre im Bildungswesen verbringen, sondern dass sie diese zwölf Schuljahre (im Primar- und Sekundarbereich) auch tatsächlich beenden müssen“ (Kozma/Rébay 2002, S. 592).
132
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
des tertiären Bereichs der Hochschulbildung („iskolaszerĦ felnĘttoktatás“) statt. Hier können vor allem Schulabschlüsse auf dem „Zweiten Bildungsweg“ nachgeholt werden. Seit 1989/90 gibt es zunehmend auch von freien Trägern außerhalb des Schulsystems („iskolán kívĦli felnĘttoktatás“) Bildungsangebote im Bereich Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Es existiert aber kein vom Pflichtschulsystem abgekoppelter, institutionell gefestigter quartärer Bereich wie in Deutschland. Aus diesem Grunde wird die bildungspolitische Diskussion in Ungarn sehr schulbezogen geführt.208 3) Finanzierung Die Grundlagen des ungarischen Bildungsfinanzierungssystems basieren auf dem Gesetz über Selbstverwaltung aus dem Jahre 1990 und dem Gesetz über Volksbildung von 1993 bzw. auf dessen veränderter Form von 1996. Die wichtigsten Pfeiler des Finanzierungssystems sind einerseits das Staatsbudget und andererseits die eigenen Einnahmen der Schulträger. Der Staat – dem Prinzip der Sektorneutralität209 folgend – unterstützt die Schulträger mit einem normativen Zuschuss basierend auf der Schülerzahl der Bildungsinstitutionen. In der Regel deckt dieser ca. 50–70 % der Bildungsausgaben der Selbstverwaltungen ab. Zwischen dem staatlichen Haushalt und den einzelnen Bildungsinstituten gibt es keine direkte Verbindung. Die Höhe des staatlichen Zuschusses wird über das jährliche Haushaltsbudget des Bildungsministeriums bestimmt. Die Selbstverwaltungen können außerdem auch andere Quellen, z. B. sonstige staatliche Unterstützungen oder ihren Anteil aus der Einkommenssteuer 210 für die Bildungsfinanzierung aufwenden. Das ungarische Bildungssystem gilt als kostenunwirksam.211 Lutz R. Reuter sieht die wichtigste Ursache in der Finanzierungsstruktur selbst: „Die Verengung der öffentlichen Finanzspielräume wirkt sich wie in anderen Ländern auch auf das Schulwesen aus; das ungarische Finanzierungssystem verschärft sie allerdings. Einerseits liegt der Anteil der kommunalen Schulaufwendungen höher als in anderen Ländern, anderer208
Mehr dazu vgl. Kapitel 4. Das Prinzip der Sektorneutralität besagt, dass die Höhe der normativen staatlichen Unterstützung für Schulträger, die nicht staatlich sind bzw. nicht zur Selbstverwaltung gehören, nicht geringer sein darf als für die lokalen Selbstverwaltungen. Kirchliche Schulträger bekommen aufgrund von staatlichen Vereinbarungen eine ergänzende Unterstützung. Andere Nicht-Selbstverwaltungs-Schulträger können ebenfalls eine ergänzende staatliche Unterstützung bekommen, wenn sie mit der lokalen Selbstverwaltung Vereinbarungen treffen über die Erfüllung von Aufgaben der Volksbildung. 210 személyi jövedelemadó 211 Dies wird als charakteristisches Merkmal von postsozialistischen Staaten angesehen. In Ungarn werden erstens die im internationalen Vergleich sehr hohe Zahl der auf einen Schüler anfallenden Lehrkräfte, zweitens die aus der Besiedlungsstruktur resultierende Verzettelung der Institutionsstruktur und drittens das hohe Niveau der sozialen Dienstleistungen für Schülerinnen und Schüler dafür verantwortlich gemacht (Balogh/Halász 2003, S. 104-106). 209
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
133
seits vergrößert angesichts der demografischen Entwicklung die Bindung der staatlichen, den Gemeinden zufließenden Zuweisungen an die Zahl der Schüler bei kaum veränderter Lehrerzahl die kommunalen Finanzengpässe. Dadurch weitet sich die Schere in Bezug auf die Finanzkraft der einzelnen Gemeinden, die Unterschiede in der Infrastruktur der Schulen haben heute bereits erhebliche Konsequenzen für die Ausbildungsqualität und die Gleichheit der Bildungschancen“ 212 (Reuter 1996, S. 15).
3.2.3 Zusammenfassung und Vergleich Im Folgenden werden die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede des deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems zusammengefasst. Auch deren Auswirkung auf die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ wird thematisiert. Der Vergleich teilt die Entwicklung in zwei Phasen auf. Die erste Phase 1945–1989/90 dauerte vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990 bzw. bis zum demokratischen Systemwechsel 1989/90 in Ungarn. Um für beide Länder einheitliche Phasen bilden zu können, wurden diese Jahreszahlen zu 1989/90 als gemeinsamer Endpunkt der Phase zusammengezogen. Die zweite beinhaltet den Zeitraum nach 1989/90, fängt also mit der Wiedererlangung der vollständigen staatlichen Souveränität der untersuchten Länder an und wird in der Untersuchung als noch nicht abgeschlossen angesehen. Zunächst werden die Gemeinsamkeiten der ausgewählten Länder bezüglich der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Bildungspolitik dargestellt (Tabelle 13). Diese bildeten und bilden die Rahmenbedingungen für das Funktionieren des Bildungswesens und beeinflussen dessen Entwicklung. Anschließend werden diese Veränderungen in Tabelle 14 – begrenzt auf die Aspekte Steuerung, Aufbau und Finanzierung – zusammengefasst. Darauf folgt eine Vorstellung der wichtigsten Unterschiede der ausgewählten Länder in diesen Bereichen. 1) Gemeinsamkeiten des deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungsystems Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung In beiden untersuchten Ländern markierten die Veränderungen in 1989 bzw. 1990 den Endpunkt einer historischen Epoche, die nach dem Zweiten Weltkrieg anfing. Dies ist einerseits durch die Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität, andererseits durch tief greifende Veränderungen im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben gekennzeichnet. Heute sind für beide 212
Auch ungarische Wissenschaftler (Halász 2001a, 2002) weisen immer wieder auf die Schwachstellen und Probleme der Bildungsfinanzierung und deren Ursachen hin.
134
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Länder die bürgerliche Demokratie als gesellschaftliche Organisationsform, Marktwirtschaft und die Mitgliedschaft in der Europäischen Union charakteristisch. Auch der starke amerikanische Einfluss ist für die – nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle und ideologische – Entwicklung der beiden untersuchten Länder bezeichnend: Sowohl in Deutschland als auch in Ungarn spielte und spielt das Vorbild der USA eine große Rolle. Diese wird heutzutage zunehmend durch die (vor allem ökonomische) Konkurrenzsituation der Europäischen Union konterkariert. An der Jahrtausendwende vollzog sich in beiden Ländern eine Wirtschaftskrise, die eine ähnliche Wirkung auf das jeweilige Bildungswesen hatte (vgl. Tabelle 14) und durch die u. a. das Konzept „Lebenslanges Lernen“ eine ideologische Legitimität erhielt. Bildungspolitik In beiden Ländern gab es – trotz großer Unterschiede in der (Bildungs)Politik – gemeinsame Entwicklungen im Bereich Erziehung und Bildung. 1989/90 kam es sowohl in Deutschland als auch in Ungarn zu einer Neuorganisation des Bildungswesens. Heute besteht in beiden Ländern ein wachsender Druck zu weiteren Bildungsreformen, der allgemein auf Herausforderungen von Globalisierung und Wissensgesellschaft und konkret u.a. auf die schlechten Ergebnisse internationaler Vergleichsstudien („PISA-Schock“) sowie auf den zunehmenden Einfluss der EU auf die nationale Bildungspolitik zurückzuführen ist. Die Verwirklichung der Reformen wird in beiden Ländern durch das gleichzeitige Vorhandensein von marktzentrierten und wohlfahrtsstaatlichen Erziehungsphilosophien erschwert (Fend 2000, Kozma/Rébay 2002, Halász 2005c). Erstere vertritt Werte der neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und ist u.a. durch "Abbau der staatlichen Bildungspolitik, Verringerung der staatlichen Unterstützungen, Verschärfung der marktwirtschaftlichen Verhältnisse, Pluralismus der Träger (private Bildung), Betonung der Schüler- und Elternrechte" geprägt (Kozma/Rébay 2002, S. 597). Letztere fasst Bildung nicht als Konsumgut, sondern als kulturelles Kapital auf, das die Identität der Gemeinschaft bewahrt und das kulturelle Erbe der nächsten Generation weitergibt. Nach dieser Ansicht ist die `Effektivität` der Bildung nicht im ökonomischen, sondern im gesellschaftlichen Sinne, als soziale Chancengleichheit und Solidarität zu verstehen. Bildung gilt auf allen Ebenen als Gemeinschaftsinteresse; um es zu vertreten, darf die Regierung deren Regelung nicht dem Markt überlassen. Das gleichzeitige Vorhandensein dieser Erziehungsphilosophien zeigt Parallele zu der paradoxen Zielsetzung der Europäischen Kommission, das Konzept „Lebenslanges Lernen“, sowohl zur „Erziehung zur Demokratie“ als auch zur „Humankapitalentwicklung“ nutzen zu wollen.213 213
Kade und Seitter nennen diese Paradoxe Zielsetzung die emanzipatorische und die obligatorische
135
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung Bildungspolitik
1945–1989/90 1989/90 tief greifende Veränderungen, Wiedererlangung der vollen staatlicher Souveränität Bildungsexpansion und Bildungsreformen in den 1970er-Jahren Mittelpunkt der Bildungsreformen: Verbesserung der Chancengleichheit Demokratisierung des Zugangs zu Bildung
1989/90– Bürgerliche Demokratie als gesellschaftliche Organisationsform Marktwirtschaft (Wirtschaftskrise an der Jahrtausendwende) Mitgliedschaft in der Europäischen Union 1989/90 Neuorganisation des Bildungswesens als zentrales Ziel der Bildungsreformen Wachsender Druck zu weiteren Bildungsreformen wegen a) internationaler Vergleichsstudien („PISA-Schock“) und b) des zunehmenden Einflusses der EU auf die nationale Bildungspolitik Globalisierung und Europäisierung gleichzeitiges Vorhandensein von wohlfahrtsstaatlichen und marktzentrierten Erziehungsphilosophien
Tabelle 13: Gemeinsamkeiten der historischen Entwicklung des deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems 1945–1989/90 und 1990 bis heute Steuerung, Aufbau und Finanzierung In Bezug auf Steuerung, Verwaltung und Kontrolle des Bildungswesens lassen sich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Ungarn folgende Gemeinsamkeiten feststellen: Die ideelle Gesamtverantwortung für das Bildungswesen trägt der Staat (`staatliche Bildungssouveränität`). In der Praxis ist die Bildungssteuerung mehrpolig, basierend auf der Kooperation zwischen den verschiedenen Steuerungsebenen. Die höchste Steuerungsebene operiert überwiegend mit indirekten Steuerungsmitteln. Sowohl in Deutschland als auch in Ungarn spielt die kommunale Ebene eine zentrale Rolle (als Träger von Bildungseinrichtungen). In beiden Ländern zeichnet sich eine zunehmende Stärkung der institutionellen Ebene (Schul- und Hochschulautonomie) als aktuelle Tendenz ab. Diese mehrpolige Steuerung erfordert eine starke Kooperation zwischen den Akteuren der verschiedenen Ebenen auch in Bezug auf die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. Struktur und Aufbau In beiden Ländern ist die Struktur des Bildungswesens durch horizontale Stufung gekennzeichnet. Die Bildungsziele stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen Leistungsförderung und Chancengerechtigkeit. Der Elementarbereich Dimension des Konzeptes (vgl. Kade/Seitter 1998). Mehr dazu vgl. Óhidy 2008.
136
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
gehört in beiden Ländern in den Zuständigkeitsbereich des Sozialministeriums (während andere Bereiche des öffentlichen Bildungswesens dem Bildungsministerium zugeordnet sind). Eine gemeinsame aktuelle Tendenz ist die Stärkung des Bildungsauftrags der Kindergärten. Der Primarbereich hat in beiden Ländern die Vermittlung von Grundbildung zum Ziel. Diese wird in Anlehnung an das EU-Konzept zunehmend als Grundlegung und Vorbereitung auf das lebenslange Lernen angesehen, wie Zielsetzungen für diesen Bildungsbereich in den nationalen Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens deutlich zeigen.214 Dementsprechend steht der Begriff „Kompetenzentwicklung“ im Mittelpunkt der deutschen und ungarischen schulpolitischen und schulpädagogischen Diskussion (vgl. Óhidy 2006b). Ab 6 Jahren sind deutsche und ungarische Kinder gleichermaßen schulpflichtig. Der Bereich Sekundarstufe I ist in beiden Ländern durch systematischen Fachunterricht von Fachlehrern charakterisiert. In Bezug auf den Mittelschulbereich/Sekundarstufe II lässt sich feststellen, dass sowohl in Deutschland als auch in Ungarn Mittelschulniveau als (bürgerliche) Grundbildung gilt. Das Ziel ist, allgemeine und berufliche Bildung zu vermitteln. Letztere wird in beiden Ländern im Rahmen eines sog. dualen Systems gewährleistet, das durch die Kooperation der zwei Lernorte Schule und Betrieb gekennzeichnet ist. Dieses ursprünglich deutsche Modell wurde von Ungarn übernommen. In diesem Bereich kann in beiden Ländern die Hochschulreife erlangt werden. Die hohe Selektivität und segregierende Wirkung dieses Bereichs wurde u. a. in den PISAStudien der OECD international angeprangert. Dies hat bewirkt, dass die Zielsetzung ´Mehr Chancengleichheit im Bereich Mittelschulbildung´ in beiden Ländern zu einer Priorität der nationalen Strategie bezüglich der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ deklariert wurde. Ein Hochschulabschluss gilt in Deutschland und Ungarn als „Eintrittskarte“ in Führungspositionen. Die Voraussetzung für die Teilnahme ist die Hochschulreife. Beide Hochschulsysteme zeichnen sich durch eine hochgradige Selektion aus, die schon mit den Aufnahmebeschränkungen beim Hochschulzugang anfängt. Es gibt gemeinsame Entwicklungstendenzen, wie z.B. die Strukturveränderung des Hochschulwesens im Zeichen des sog. „Bologna-Prozesses“215 durch die Einführung von Bachelor- und Master Studiengängen. Auch die (Wieder)214
Vgl. Kapitel 4.4. Der Bologna-Prozess ist ein auf einen längeren Zeitraum angelegter Reformprozess, der die Konstituierung eines Europäischen Hochschulraums und eine Adaptation der nationalen Hochschulsysteme an europaweit vereinbarte Grundstrukturen anstrebt, die auf die Neuordnung der Hochschulpolitik abzielt. Am 16. Juni 1999 unterzeichneten die Hochschulministerinnen und -minister aus 29 europäischen Ländern die sogenannte Bologna-Erklärung. Sie vereinbarten wesentliche gemeinsame Ziele für die Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraumes (Higher Education Area, EHEA) bis 2010 (vgl. Wedekämper in Óhidy/Terhart/Zsolnai 2007).
215
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
137
Einführung von Studiengebühren und der zunehmende Wettbewerb zwischen Universitäten und Fachhochschulen sind in beiden Ländern zu beobachten. Der Bereich Erwachsenenbildung/Weiterbildung/Außerschulische Jugendarbeit stellt in Deutschland und in Ungarn Angebote sowohl für die allgemeine als auch für die berufliche (Weiter)Bildung zur Verfügung und hat die Verbesserung der Chancengleichheit („zweiter Bildungsweg“) zum Ziel. Nicht zuletzt deswegen wurde der emanzipatorische Gedanke des Lifelong Learning-Konzepts von diesem Bildungsbereich so schnell und begeistert aufgenommen. Finanzierung Die Finanzierung des Bildungswesens wird in beiden Ländern überwiegend von der öffentlichen Hand sichergestellt. Es ist sowohl in Deutschland als auch in Ungarn eine Spannung zwischen staatlicher Verantwortung für Erziehung und Bildung sowie neoliberalistische Tendenzen (einhergehend mit Rückzug der staatlichen Finanzierungsverantwortung) zu beobachten. In beiden Ländern zeichnet sich die aktuelle Tendenz ab, den Bildungsinstitutionen (vor allem Schulen und Hochschulen) eine zunehmende finanzielle Autonomie zuzugestehen. Die ideologische Legitimation dazu liefern die neoliberale wirtschaftspolitische und sozialphilosophische Theorie, die durch die Wirtschaftskrise der Jahrtausendwende an Popularität gewann sowie das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“, das selbst etliche neoliberale Tendenzen aufweist.216
216
Vgl. Kapitel 3.1.
138
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Tabelle 14: Gemeinsamkeiten des heutigen deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems in Bezug auf Bildungssteuerung, Verwaltung und Kontrolle, Struktur und Aufbau sowie Finanzierung
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
139
2) Unterschiede des deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung Nach dem Zweiten Weltkrieg verlief in den untersuchten Ländern die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung sehr unterschiedlich: In der zur Interessensphäre der westlichen Alliierten gehörenden Bundesrepublik Deutschland entwickelte sich eine (bürgerliche) Demokratie und eine Marktwirtschaft. Das Land behielt seine föderalistische Organisationsstruktur. 1951 wurde die BRD Mitglied in der EGKS, 1993 in der Europäischen Union und gilt als „Alt-EU-Land“. Die Sowjetunion dagegen ließ in Ungarn – wie in der DDR und anderen Satellitenländern – ein diktatorisches Einparteiensystem (die sog. „sozialistische Demokratie“) und die Planwirtschaft nach sowjetischem Muster einführen. Das politische System war in Ungarn bis zum demokratischen Systemwechsel durch Zentralismus (im weiteren und engeren Sinne) 217 gekennzeichnet. In der Epoche des Kalten Krieges standen sich die zwei Weltsysteme und auch die BRD und Ungarn ideologisch und wirtschaftlich gegenüber. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollzog sich in Ungarn ein demokratischer Systemwechsel, in dessen Rahmen nach westeuropäischem Vorbild die (bürgerliche) Demokratie und die Marktwirtschaft eingeführt wurden. 2004 trat die Republik Ungarn der Europäischen Union bei und gilt als „Neu-EU-Land“ (vgl. Tabelle 15). Bildungspolitik Im Zeitraum 1945–1989/90 zeigt sich die Entwicklung der bundesdeutschen und ungarischen Bildungspolitik – den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Gegensätzlichkeiten entsprechend – sehr unterschiedlich. Am Anfang dieser Epoche sind in der BRD eine teilweise Weiterführung von Traditionen (Föderalismus, Dreigliedrigkeit) und die Beibehaltung der föderalistischen Bildungsorganisation charakteristisch. In Ungarn dagegen fand eine sozialistische Neuorganisation des Bildungssystems nach sowjetischem Vorbild statt. Die Bildungsorganisation wurde vereinheitlicht und zeigte einen ausgeprägten zentralistischen Charakter. Zur Zeit des Kalten Krieges wurde auch die Idee des lebenslangen Lernens zum Gegenstand des ideologischen Wettbewerbs: Im westlichen Lager bewirkte der sog. Sputnik-Schock218 eine kritische Auseinanderset217
Vgl. Kapitel 2.1.1. Die Sowjetunion entsandte die ersten künstlichen Erdsatelliten Sputnik 1 und 4 im Jahre 1957 ins Weltall. Diese technologische Leistung stellte die im kapitalistischen Lager bisher sicher geglaubte Überlegenheit des Westens in Frage. Ursachen des westlichen „Nachhinkens“ wurden vor allem im Bildungssystem gefunden. Die Reproduktion der herrschenden Verhältnisse in der Schule schloss
218
140
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
zung mit dem Bildungssystem sowie zahlreiche Bildungsreformen zur Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungswesen. In der BRD prognostizierte Georg Picht „eine deutsche Bildungskatastrophe“ (vgl. Picht 1964), die zu einer Reformphase führte. Diese Reformen wurden von der Leitidee des lebenslangen Lernens beeinflusst. Der Zusammenhang dieser Reformen mit dem Systemwettbewerb wurde in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Diskussion der 1970er-Jahre aber kaum bis gar nicht thematisiert.219 Im östlichen Lager stellte man dem westlichen Konzept der permanenten Erziehung das Konzept der sozialistischen Erziehung entgegen, die als die verwirklichte Lebenspraxis einer permanenten Erziehung präsentiert wurde.220 In der ungarischen erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur waren solche Vergleiche üblich (vgl. Széchy 1978, Angelusz/Ottó 1979). Nach 1989/90, aber besonders ausgeprägt seit der Jahrtausendwende, bestimmt die Europäische Union die Richtung der bildungspolitischen Veränderungen in Deutschland und in Ungarn mit. Wie in Kapitel 3.1 ausführlich dargestellt wurde, versucht die EU zunehmend, ihre politischen und wirtschaftlichen Ziele, vor allem in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt, auch mit bildungspolitischen Maßnahmen zu verwirklichen. Allerdings treffen diese Bestrebungen und der davon ausgehende Globalisierungsdruck vor allem in Deutschland auf historisch gewachsene Strukturen, wie das Föderalismusprinzip sowie die Länderhoheit im Bereich Erziehung und Bildung, die einen sehr starken Widerstand erzeugen. Wie der Interaktionseffekt zwischen diesen – einander oft entgegengesetzten – bildungspolitischen Richtungen das deutsche Bildungssystem verändert, bleibt noch abzuwarten. In den nächsten Jahren ist aber zu erwarten, dass sich Rolle und Einfluss der EU u.a. im Bereich Erziehung und Bildung noch weiter verstärken werden. Für die Zukunft der ungarischen Bildungspolitik lässt sich weiterhin eine EU-konforme Entwicklung bei gleichzeitigem Vorhandensein innenpolitischer Spannung prognostizieren. Letztere wird durch eine politische Kultur des Nanach Ansicht von Experten zu viele Menschen von einer Beteiligung am gesellschaftlichen Fortschritt aus (vgl. Wikipedia [Stand 17.5.2008]). 219 Zum Beispiel in der Fachzeitschriftenanalyse von Katrin Kraus in Bezug auf den Zeitraum 1970– 1998 (vgl. Kraus 2001) gibt es gar keinen Beitrag zum Thema lebenslanges Lernen, der den Systemwettbewerb thematisieren würde. Für die Nicht-Thematisierung und Selbstbezogenheit der deutschen Auseinandersetzung ließen sich mehrere Gründe finden. Erstens kann sie dadurch begründet werden, dass die BRD sich sehr stark mit der Vergangenheitsbewältigung und der Reflexion der eigenen Geschichte und Politik beschäftigte. Zweitens resultiert sie aus der – von den analysierten Zeitschriften meistens bewusst angestrebten – Einschlägigkeit der erziehungswissenschaftlichen Disziplin. 220 In dieser Interpretation spielte die Bestrebung der Sowjetunion eine große Rolle, die propagandistische Wirkung des Sputnik-Schocks auszunutzen – nicht zuletzt, um ihren Satellitenländern die Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftsmodells zu demonstrieren.
141
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
tionalismus, die mit der Mitgliedschaft verbundene Beschränkungen als Bedrohung der neu gewonnenen Souveränität erscheinen lässt, bedingt. Bundesrepublik Deutschland
Republik Ungarn
(Bürgerliche) Demokratie Marktwirtschaft Föderalismus 1951 Mitgliedschaft in der EGKS, 1992 Mitgliedschaft in der Europäischen Union („Alt-EU-Land“)
Diktatur („sozialistische Demokratie“) Planwirtschaft Zentralismus (im weiteren und engeren Sinne)
(Bürgerliche) Demokratie Marktwirtschaft Föderalismus (DDR trat in die BRD ein)
(Bürgerliche) Demokratie Marktwirtschaft Föderalismus 2004 Mitgliedschaft in der Europäischen Union („Neu-EU-Land“)
Weiterführung von Traditionen (Föderalismus, Dreigliedrigkeit)
Sozialistische Neuorganisation des Bildungssystems nach sowjetischem Vorbild Zentralisierte Bildungsorganisation (Vereinheitlichung)
Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklung 1945–1989/90
1989/90–
Bildungspolitik 1945–1989/90
Föderalistische Bildungsorganisation 1989/90–
Fortsetzung der Traditionen und der gesetzlichen Regelungen des Bildungswesens der BRD (die neuen Bundesländer treten in die KMK ein)
Demokratische Neuorganisation des Bildungssystems nach westeuropäischem Vorbild Neue gesetzliche Regelungen
Tabelle 15: Unterschiede der historischen Entwicklung des deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems 1945–1989/90 und 1990 bis heute Bildungssteuerung/Verwaltung/Kontrolle In Bezug auf die Bildungssteuerung zeigt sich ein großer Unterschied zwischen den untersuchten Ländern; in der BRD ist eine föderalistische Bildungsorganisation charakteristisch, bei der die oberste Steuerungsebene (Bundesebene) nur Koordinierungsfunktion hat. In Ungarn dagegen ist das Bildungssystem zentralistisch organisiert (nur im engeren Sinne); trotz Stärkung der unteren Ebenen und Dezentralisierungsmaßnahmen bleibt die oberste Steuerungsebene (Landesebene) das zentrale Steuerungsorgan. Dies zeigt sich auch in den nationalen bildungspolitischen Konzeptionen zum „Lebenslangen Lernen“ sehr deutlich: Die
142
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
ungarischen Dokumente beinhalten Maßnahmen, die für das ganze Land veranlasst werden können. Die deutschen Dokumente dagegen können – aufgrund der Länderhoheit in Bildungsfragen – nur Empfehlungen aussprechen, die für die ganze Bundesrepublik gültig sein sollten. Struktur und Aufbau In Bezug auf Struktur und Aufbau des Bildungswesens lassen sich folgende Unterschiede feststellen: Im Gegensatz zu Deutschland ist der Elementarbereich in Ungarn Teil des staatlichen Schulsystems und beinhaltet auch den Vorschulbereich. In der BRD werden Sek. I und II zu einem Bereich zusammengefasst. Hier fängt die Selektion an und hier findet sich die größte Typenvielfalt der Schulformen. In Ungarn dagegen wird der Bereich Sek. I mit dem Primarbereich zum Grundschulbereich zusammengefasst. Der Mittelschulbereich (der deutschen Sek. II entsprechende Stufe) ist ein eigenständiger Bereich des Pflichtschulsystems. Die Selektion fängt hier an und hier findet sich die größte Typenvielfalt der Schulformen. Während für das deutsche Hochschulsystem noch eine große Vielfalt der Abschlüsse, keine Aufnahmeprüfung, das sog. ordentliche Studium als meist verbreitete Form des Hochschulstudiums und die Einzelpromotion als typische Form der Promotion charakteristisch sind, kennzeichnet das ungarische Hochschulsystem seit der einheitlichen Einführung der BA/MA-Struktur im Jahre 2006 eine einheitlichere Struktur. Der Zugang ist durch Aufnahmeprüfungen geregelt, wobei der Numerus Clausus Teil des Zulassungsverfahrens ist. Abendund Fernstudium sind die meist verbreiteten Formen des Hochschulstudiums und das Graduiertenkolleg die typische Form der Promotion. Erwachsenenbildung/Weiterbildung/Außerschulische Jugendarbeit stellen in Deutschland den quartären Bereich, also die vierte Säule des öffentlichen Bildungssystems dar. In Ungarn dagegen bilden diese keinen eigenständigen Bereich des öffentlichen Bildungssystems; Erwachsenenbildung und Weiterbildung finden überwiegend im Mittelschul- und Hochschulbereich statt, die außerschulische Jugendbildung ist wenig institutionalisiert. Sowohl in Deutschland als auch in Ungarn hat sich der Bereich Erwachsenenbildung sehr stark mit dem Konzept des Lebenslangen Lernens identifiziert (vgl. u. a. Csoma 1995, Knoll 1974a und b sowie 1997), so dass die beiden Begriffe oft als Synonyme benutzt werden (vgl. u. a. Angelusz/Ottó 1979, Durkó 1980a und b, Knoll 1997, Kraus 2001). Finanzierung Auch im Bereich Finanzierung zeigen sich grundlegende Unterschiede. In Deutschland ist eine Aufgabenteilung zwischen Ländern und Kommunen cha-
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
143
rakteristisch (die Kommunen tragen in der Regel die Sachkosten der Schulen und die Kosten für das nicht-lehrende Personal, die Kultusministerien der Länder sind für die Personalkosten der Lehrkräfte zuständig), während in Ungarn das sog. Subsidiaritätsprinzip gilt: Die jeweilige höhere Verwaltungsebene ist verpflichtet, die Finanzierung zu übernehmen, wenn eine Verwaltungsebene aus verschiedenen Gründen eine Schule nicht unterhalten kann. Die Veränderungen in den Bereichen Steuerung, Aufbau und Finanzierung werden in Tabelle 16 zusammengefasst. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass im Zeitraum 1945–1989/90 in allen untersuchten Bereichen (gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche Entwicklung, Bildungspolitik, Bildungssteuerung/Verwaltung/Kontrolle, Struktur und Aufbau sowie Finanzierung), die Unterschiede zwischen den beiden Ländern überwogen. Die festgestellten Gemeinsamkeiten resultierten aus den weltweiten technologischen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts bzw. aus dem damit einhergehenden schnellen Wandel der sozialen und ökonomischen Strukturen. Diese erzeugten eine „Weltbildungskrise“ (Coombs 1967), stellten sie also die Bildungssysteme aller Länder vor die gleiche Herausforderung, nämlich die Disparität zwischen sich und ihrer Umwelt zu verringern. Diese reagierten weltweit ähnlich: mit umfassenden Bildungsreformen zur Erleichterung des Zugangs zu den Bildungsinstitutionen („Bildung für alle“) im Zeichen des „Lebenslangen Lernens“. Weitere Gemeinsamkeiten in Bezug auf Struktur und Aufbau ergaben sich daraus, dass einige Bereiche des ungarischen Bildungswesens (z. B. das duale System der Berufsbildung) nach deutschem Vorbild aufgebaut wurden (vgl. Mészáros u.a. 2004). Der deutsche Einfluss war im ungarischen Bildungssystem bis 1945 sehr stark zu spüren (vgl. Zsolnai 2007).
144
Bildungssteuerung/ Verwaltung/Kontrolle
3. Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in der Europäischen Union
Bundesrepublik Deutschland Föderalistische Bildungsorganisation Die oberste Steuerungsebene (Bundesebene) hat nur Koordinierungsfunktion
Republik Ungarn Zentralistische (nur im engeren Sinne) Bildungsorganisation Die oberste Steuerungsebene (Landesebene) bleibt das zentrale Steuerungsorgan
Struktur und Aufbau Elementarbereich
Nicht Teil des staatlichen Teil des staatlichen Schulsystems Vorschulbereich gehört dazu Schulsystems Vorschulbereich gehört nicht dazu
Primarbereich
Eigenständiger Bereich des Pflichtschulsystems Vorschulbereich gehört dazu
Mit dem Bereich Sekundarstufe I zum Grundschulbereich zusammengefasst Vorschulbereich gehört nicht dazu
Sekundarstufe
Sek. I und II werden zu einem Bereich zusammengefasst Größte Typenvielfalt Selektion fängt hier an
Mit dem Primarbereich zum Grundschulbereich zusammengefasst
Mittelschulbereich/ Sekundarstufe II
Sek. I und II werden zu einem Bereich zusammengefasst
Eigenständiger Bereich des Pflichtschulsystems Größte Typenvielfalt Selektion fängt hier an
Hochschulbereich
Große Vielfalt der Abschlüsse (u.a. BA/MA-Struktur) Keine Aufnahmeprüfung Ordentliches Studium als meist verbreitete Form des Hochschulstudiums Einzelpromotion als typische Form der Promotion
2006 einheitliche Einführung der BA/MA-Struktur Aufnahmeprüfung (NC ist Teil des Zulassungsverfahrens) Abend- und Fernstudium als meist verbreitete Formen des Hochschulstudiums Graduiertenkolleg als typische Form der Promotion
Quartärer Bereich des öffentlichen Bildungssystems
Kein eigenständiger Bereich des öffentlichen Bildungssystems Erwachsenenbildung/Weiterbildung finden überwiegend im Mittelschul- und Hochschulbereich statt Außerschulische Jugendbildung ist wenig institutionalisiert Subsidiaritätsprinzip
Erwachsenenbildung/ Weiterbildung/ Außerschulische Jugendarbeit
Finanzierung
Aufgabenteilung zwischen Ländern und Kommunen
Tabelle 16: Unterschiede des heutigen deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems in Bezug auf Bildungssteuerung, Verwaltung und Kontrolle, Struktur und Aufbau sowie Finanzierung
3.2 Bildungspolitische Rahmenbedingungen
145
Seit 1989/90 zeigt sich ein ganz anderes Bild. In den Grundlagen der Bildungspolitik der untersuchten Länder zeigen sich seit der Jahrtausendwende u.a. aufgrund der bildungspolitischen Bestrebungen der Europäischen Union221 keine signifikanten Unterschiede mehr. Auch die erziehungsphilosophischen Ideologien, die die gegenwärtige Entwicklung beeinflussen, sind dieselben. In Bezug auf Bildungssteuerung/Verwaltung/Kontrolle, Struktur und Aufbau sowie Finanzierung existieren aber immer noch Unterschiede, die in erster Linie aus den Traditionen der jeweiligen Länder resultieren. Diese Ähnlichkeiten und Unterschiede des deutschen Bildungswesens und des ungarischen Bildungssystems beeinflussten und beeinflussen auch die Verwirklichung des „Lebenslangen Lernens“, wie dies im nächsten Kapitel anhand ausgewählter bildungspolitischer Dokumente ganz konkret aufgezeigt wird.
221
Vgl. Kapitel 3.1.
4
„Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996–2005: Analyse ausgewählter bildungspolitischer Dokumente
Im folgenden Kapitel wird das Konzept „Lebenslanges Lernen“ im Spiegel deutscher und ungarischer bildungspolitischer Dokumente vergleichend dargestellt. Im Vordergrund stehen dabei die Ähnlichkeiten und Unterschiede der nationalen Adaptation in Bezug auf das Konzept der Europäischen Union222. Es werden zunächst die Kriterien der Dokumentenauswahl und der Leitfaden für die Dokumentenauswertung vorgestellt. Danach werden die ausgewählten bildungspolitischen Dokumentenpaare zunächst einzeln verglichen und dann gemeinsam einer „komparativen Interpretation“ (Rittelmeyer/Parmentier 2001, S. 52) unterzogen. 4.1 Auswahl- und Auswertungskriterien der Dokumente Um die bildungspolitische Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in den ausgewählten Ländern nachzuzeichnen, wurden drei deutsche und drei ungarische Dokumente exemplarisch ausgewählt. Dabei wurden folgende Auswahlkriterien angewandt: 1) Um einen direkten Vergleich zu ermöglichen, war erstens die Bedeutung der Dokumente für die Bildungspolitik des jeweiligen Landes maßgebend: Sie sollten von der offiziellen Bildungspolitik selbst als wichtige Meilensteine der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ angesehen werden. Es wurden für die Analyse nur Dokumente ausgewählt, die sich auf das ganze Land, also in Deutschland auf die Bundesebene, in Ungarn auf die Landesebene beziehen. 2) Zweitens war die Funktion der Dokumente entscheidend: Das erste Dokumentenpaar ist das jeweils erste nationale strategische bildungspolitische Dokument in den ausgewählten Ländern, das sich explizit mit dem Thema „Lebenslanges Lernen“ beschäftigt. Das zweite Dokumentenpaar bilden die ersten nationalen Aktionsprogramme zur Verwirklichung des Kon222
Vgl. Kapitel 3.1.
148
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
zepts. Als drittes Dokumentenpaar wurden die deutsche und die ungarische nationale Strategie zur Verwirklichung lebenslangen Lernens ausgewählt. 3) Drittens spielte die zeitliche Dimension der Dokumente eine Rolle: Die Auswahl orientierte sich an den in Kapitel 3.1 dargestellten drei „Höhepunkten“ der Geschichte des Lifelong Learning-Konzepts der EU: das Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens, das Memorandum und der Neubeginn der Lissabon-Strategie. Die ausgewählten bildungspolitischen Dokumente wurden im Zeitraum 1996– 2005 zum Thema lebenslanges Lernen von bildungspolitischen Akteuren in Deutschland und in Ungarn erstellt. Die konkrete Entstehungssituation der jeweiligen Dokumente wird in den Einzelanalysen beschrieben. Alle untersuchten Dokumente sind in schriftlicher Form vorhanden, entweder als gedruckte oder im Internet herunterladbare Version. Der Leitfaden für die Auswertung der Dokumente wurde in Anlehnung an die Untersuchung von Christiane Gerlach (vgl. Gerlach 2000) erstellt und besteht aus drei Teilen: 1) Entstehungszusammenhänge Im ersten Schritt wird die Auswahl des jeweiligen Dokuments begründet sowie dessen Entstehungsgeschichte kurz dargestellt. So können die Dokumente zeitlich und inhaltlich in den Gesamtzusammenhang eingeordnet werden. Das gilt einerseits für das in Kapitel 3.1 dargestellte EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“, andererseits für die in Kapitel 3.2 beschriebenen bildungspolitischen nationalen Zusammenhänge. Folgende Teilfragen werden hier bearbeitet: - Wer hat das Dokument wo und wann erstellt und veröffentlicht? - In welchem historischen/gesellschaftspolitischen Kontext ist das Dokument entstanden? - Wer war/waren der/die Adressat/en)? - Auf welche europäischen und nationalen historischen Zusammenhänge bezieht sich das Dokument (z. B. das Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens, Jahrtausendwende, Deutschlands Wiedervereinigung, Ungarns EU-Beitritt etc.)? 2) Aufbau und Inhalt Im zweiten Schritt erfolgt eine Beschreibung inhaltlicher und struktureller Aspekte sowie des Umfangs, der Form und des Stils des Dokuments. Hier werden folgende Teilfragen erörtert: - Welche zentralen Begriffe und Schwerpunktsetzungen gibt es im Dokument? - Welche Struktur hat die Argumentation?
4.1 Auswahl- und Auswertungskriterien der Dokumente
149
-
Welcher Stil ist charakteristisch für das Dokument? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Inhalt und Stil? - Welche bildungspolitischen Dokumente der Europäischen Union über „Lebenslanges Lernen“ werden explizit aufgegriffen? In Bezug auf die in Kapitel 1.4 beschriebenen Fragestellungen wird hier die Frage nach der Wahrnehmung (Wie weit werden die wichtigsten bildungspolitischen Konzepte der EU zum „Lebenslangen Lernen“ wahrgenommen?) geklärt. 3) Wesentliche Tendenzen Im dritten Schritt werden die wesentlichen Tendenzen und Schwerpunkte herausgestellt, die das jeweilige Dokument charakterisieren. Hier werden die Antworten auf die Fragen nach der Interpretation und der Adaptation erforscht.223 Folgende Teilfragen werden erörtert: - Welche inhaltlichen Schwerpunkte sind im Dokument zu identifizieren? - Wie werden die zentralen Aussagen der explizit aufgegriffenen EU-Dokumente interpretiert? - Wie weit werden die nationalen Eigenschaften der jeweiligen Bildungssysteme bei der Adaptation berücksichtigt? Welche Faktoren spielen bei der Adaptation eine Rolle: z. B. Politik, gesellschaftliche und historische Hintergründe, Aufbau und Steuerung der Bildungssysteme etc.? - Vertritt das jeweilige Dokument die minimalistische oder die maximalistische Auffassung des lebenslangen Lernens224 (vgl. Cropley 1979)? - Was wird im Dokument nicht behandelt (Aspekte des Konzepts „Lebenslanges Lernens“, des historischen/gesellschaftspolitischen Kontexts oder der fachwissenschaftlichen Diskussion)? - Gibt es eine Schlussfolgerung? Nach den Einzelanalysen wird eine komparative Analyse der jeweiligen Dokumentenpaare durchgeführt, also ein „Vergleich des Textes mit anderen Texten zum gleichen Thema, zur gleichen historischen Situation“ (Rittelmeyer/ Parmentier 2001, S. 56). Zum Schluss werden dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik zusammengefasst. Das Ziel dieses Gesamtvergleichs erläutern Rittelmeyer und Parmentier sehr prägnant: „So wie ich mir über die besonderen Eigenarten meines Heimatlandes bewusster werde, wenn ich die Sitten, Menschen und geografischen Verhältnisse anderer Länder kennen gelernt habe, so treten auch die Eigenarten eines bestimmten Textes deutlicher heraus, wenn man ihn mit anderen Texten beispielsweise zum gleichen Thema vergleicht“ (ebd.).
223 224
Vgl. Kapitel 1.4. Vgl. Kapitel 1.3.
150
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Nach den oben beschriebenen Auswahlkriterien wurden für die folgende Analyse jeweils drei Dokumente aus Deutschland und Ungarn ausgewählt. Das erste Dokumentenpaar Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik – A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája entstand 1996, während des „Europäischen Jahrs lebensbegleitenden Lernens“225. Beide Dokumente markieren den Anfang einer verstärkten Auseinandersetzung der nationalen Bildungspolitik mit dem Konzept des Lebenslangen Lernens im jeweiligen Land – motiviert durch die Europäische Union und parallel zur Entstehung der Konzepte der OECD und der UNESCO.226 Das zweite Dokumentenpaar Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für Alle“ – HumánerĘforrás-fejlesztési Operatív Program entstand nach der Jahrtausendwende, im Jahre 2001 bzw. 2003 aufgrund der Diskussionsvorlage Memorandum über Lebenslanges Lernen der Europäischen Kommission (Europäische Kommission 2000). Den europäischen bildungspolitischen Rahmen setzten die Lissabon-Strategie und die Einführung der Open Method of Coordination (OMC).227 Das dritte Dokumentenpaar besteht aus der deutschen und der ungarischen nationalen Strategie zum Lebenslangen Lernen, die 2004 bzw. 2005 veröffentlicht wurden. Im Dokumentenpaar Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland – A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról zeigt sich die Wirkung der auf einen Neubeginn der Lissabon-Strategie abzielenden neuen bildungspolitischen EU-Maßnahmen228 sehr deutlich. Tabelle 17 fasst die Dokumentenauswahl zusammen. Entstehungsjahr 1996 2001/2003 2004/2005
Deutsche Dokumente Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für Alle“ Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland
Ungarische Dokumente A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája HumánerĘforrásfejlesztési program (Nemzeti Fejlesztési Terv) A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról
Tabelle 17: Die untersuchten deutschen und ungarischen bildungspolitischen Dokumente zum Thema lebenslanges Lernen
225
Vgl. Kapitel 3.1.2.3. Vgl. Kapitel 1.3. 227 Vgl. Kapitel 3.1.3. 228 Vgl. Kapitel 3.1.4. 226
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
151
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“ Wie in Kapitel 3 ausführlich beschrieben, wurde das Konzept „Lebenslanges Lernen“ 1996 durch die Ausrufung des „Europäischen Jahres des lebensbegleitenden Lernens“ auf Initiative der Europäischen Kommission endgültig zur wichtigsten pädagogischen Leitidee im europäischen Raum. Seitdem gilt „Lebenslanges Lernen“ als die einzig mögliche Antwort auf eine sich immer schneller verändernde Welt in Zeiten der Globalisierung. 1996 wurde sowohl in Deutschland als auch in Ungarn jeweils ein strategisches Dokument über „Leitlinien einer modernen Bildungspolitik“ – wie es im Untertitel der deutschen Veröffentlichung heißt – ausgearbeitet: Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik und A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája. Im Folgenden werden diese Dokumente ausführlich vorgestellt und am Ende des Abschnitts miteinander verglichen. 4.2.1 Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik 1) Entstehungszusammenhänge Das Dokument Das lebenslange Lernen wurde von Günther Dohmen verfasst und vom deutschen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) herausgegeben. Es entstand im gesellschaftlichen und (bildungs)politischen Kontext mit dem Wiedervereinigungsprozess beider deutscher Länder 1990, der tief greifende Veränderungen u. a. im Bildungswesen verursachte. Die Neuorganisation des Bildungswesens war zu dieser Zeit die wichtigste Aufgabe der gemeinsamen Bildungspolitik, die im Hinblick auf die Europäische Union bald durch die Aufgabe ergänzt wurde, die vorhandenen Strukturen auf ihre Zukunftstauglichkeit kritisch zu überprüfen (vgl. Anweiler 1996).229 Die Veröffentlichung Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik diente – wie der damalige Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers in seinem Vorwort verrät – als Diskussionsvorlage „für konkrete Maßnahmen und Vorschläge im Sinne eines Programms zur Förderung einer neuen Kultur des lebenslangen Lernens“ (vgl. Dohmen 1996). Für das Dokument zeichnet eine schwarz-gelbe Regierung verantwortlich.230 Angeregt durch das Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens hatte das Bundesministerium für 229
Vgl. Kapitel 3.2.2.1. 1994 gewann in Deutschland eine schwarz-gelbe Koalition die Wahl, die sich aus den Parteien CDU/CSU und FDP unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls zusammensetzte.
230
152
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie Prof. Dr. Günther Dohmen beauftragt, „Handlungsoptionen für die unterschiedlichen Bildungsbereiche“ sowie „konkrete Vorschläge und Anregungen für deren praktische Umsetzung“ (ebd.) zu beschreiben. Dabei wurden die „vorhandenen praktischen und konzeptionellen Konzepte und Überlegungen analysiert und mögliche Konsequenzen für die Bildungspolitik formuliert“ (ebd.).231 Ein wichtiges Datum für das Dokument ist einerseits die Jahrtausendwende, die in der europäischen Bildungspolitik zu einer symbolischen Wasserscheide für Zukunftsvisionen hochstilisiert wurde. Auch hier wird betont, dass die Entstehung einer Lerngesellschaft sowie die Verwirklichung des lebenslangen Lernens als Antwort auf die gesellschaftspolitische Umbruchsituation erst im 21. Jahrhundert zu erwarten ist. Andererseits ist das Dokument eine Reaktion auf das parallel stattfindende „Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens“. Deutschland nahm an der Aktion teil: Insgesamt wurden 157 Anträge gestellt, von denen 59 ausgewählt und mit 1,4 Mio. DM gefördert wurden. Das BMBF hat zwei Expertenkonferenzen organisiert, um „die internationalen Erfahrungen und Diskussionen zum lebenslangen Lernen als Anregung für die deutsche Entwicklung aufzuarbeiten und ein stimmiges Gesamtkonzept für die bildungspolitische Umsetzung eines `lebenslangen Lernens für alle` in Deutschland zu erarbeiten“ (Dohmen 1997, S. 22).232 Die direkten Adressaten des Dokuments sind die Akteure im Bildungswesen, die Dohmens Vorschläge diskutieren sollten. Da das Dokument eine Auftragsarbeit ist, ist der (mehr oder weniger indirekte) Adressat auch der Auftraggeber, nämlich das BMBF. 2) Aufbau und Inhalt Das Dokument umfasst 114 Seiten und ist in zehn Kapitel gegliedert: 1) Situative Anforderungen, anthropologische Voraussetzungen und bildungspolitische Grundpositionen, von denen dieses Gutachten ausgeht, 2) Die Fragestellungen dieses Dokuments, 3) Die Entwicklung des Begriffsverständnisses und Bedeutungszusammenhangs des „lebenslangen Lernens“, 4) Der Stellenwert des informellen Lernens im Lebenszusammenhang und seiner Förderung in einer Lerngesellschaft, 231
Dohmen hält es für wichtig zu erwähnen, dass er die Verantwortung für den Inhalt selbst trägt und bezeichnet das Dokument als Gutachten (Dohmen 1996, S. 8). 232 Auch in der deutschen erziehungswissenschaftlichen (vor allem in der erwachsenenpädagogischen) Diskussion wurde das Europäische Jahr als strategische Vision und Anstoß für eine kreative Weiterentwicklung von Konzepten und Umsetzung der Idee des lebenslangen Lernens gewertet (vgl. Knoll 1997, Dohmen 1997, Krug 1997).
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
153
5) Anknüpfungen und Abgrenzungen gegenüber bisherigen Ansätzen zu einem lebensoffenen Lernen, 6) Selbstgesteuertes und selbstorganisiertes Lernen, 7) Die Lerngesellschaft, 8) Konsequenzen für bestehende Bildungsinstitutionen, 9) Gesamtkonzeption und Umsetzungsstrategien. 10) Das zehnte Kapitel besteht aus einer ausführlichen Literaturliste mit 343 Hinweisen. Inhaltlich schlägt Autor Günther Dohmen einen Bogen von den „situativen Anforderungen“ der Moderne (Dohmen 1996, S. 1) über die Darstellung des Konzepts Lebenslanges Lernen und einiger wesentlicher Kernpunkte wie informelles Lernen, Selbstorganisierung von Lernprozessen und die Schaffung einer Lerngesellschaft bis zu konkreten „Konsequenzen für bestehende Bildungsinstitutionen“ (ebd. S. 73) und Gestaltungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen des deutschen Bildungswesens wie Schule, Hochschule und Weiterbildung. Das Dokument beginnt mit der Schilderung einer globalen „dramatischen Umbruchs- und Herausforderungssituation“ (ebd. S. 1), die „offensichtlich mit traditionellen Mitteln und in den bestehenden regelungsbürokratischen, besitzstandsverfestigten gesellschaftlichen Strukturen nicht mehr in den Griff zu kriegen“ sei (ebd. S. 1f.). Dies ist keine konkrete Beschreibung der deutschen Verhältnisse, sie kann als für die meisten westeuropäischen Länder charakteristisch angesehen werden. Als Antwort auf diese „akute schwierige Umbruchssituation“ (ebd.) wird – in Anlehnung an den internationalen Diskussionsstrang zum Thema lebenslanges Lernen – eine umfassende Mobilisierung aller Kompetenzen und kreativen Problemlösungspotenziale der gesamten Bevölkerung gefordert.233 Da die Zukunft unbekannt ist, präferiert das Dokument „die Entwicklung breiterer persönlicher Kompetenzen“ gegenüber „spezifischen Qualifikationen“ (ebd. S. 3), die durch problembezogenes/reflektierendes Lernen entwickelt werden können. Lebenslanges Lernen wird hier einerseits als Überlebenstechnik dargestellt: „Dem schnellen Wandel der situativen Herausforderungen ist der Mensch nur gewachsen, wenn er lebenslang lernt“ (ebd. S. 4). Andererseits wird es als „natürliche Grundfunktion menschliches Lebens“ (ebd. S. 5) angesehen. „Dohmen [stellt] ein Menschenbild vor, das die Grundvoraussetzungen zur Bewältigung dieser [oben beschriebenen] Probleme verinnerlicht hat, die in einer anthropologisch begründeten Lernfähigkeit liegen“ (Gerlach 2000, S. 131).
233
Das Dokument bezieht sich hier ganz konkret auf die These des Faure-Reports der UNESCO aus dem Jahre 1972, dass nicht mal 50 % des Kompetenzpotenzials der Menschheit für Problemlösungen nutzbar gemacht werden.
154
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Anschließend wird ein ausführlicher Fragenkatalog aufgestellt, zur Bedeutung des Begriffs „Lebenslanges Lernen“ (Dohmen 1996, S. 8), zur Rolle des „natürlichen“ Lernens (ebd. S. 9), zur Selbststeuerung und Selbstorganisation des Lernens (ebd. S. 10), zur Entwicklung einer „Lifelong Learning Gesellschaft“ (ebd. S. 11) und zu deren konkreten Auswirkungen auf das bestehende Bildungswesen (ebd. S. 12). Es soll vor allem untersucht werden, welche Antworten in der internationalen Fachliteratur und der bildungspolitischen Diskussion zu finden sind. Einige Fragen zeigen, dass die Ergebnisse für die Veränderung des deutschen Bildungswesens nutzbar gemacht werden sollen, allerdings ohne dies explizit auszudrücken. Dementsprechend wird als nächstes ein historischer Überblick über Entstehung und Entwicklung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in Bezug auf die Arbeit des Europarats, der UNESCO, des Club of Rome, der OECD und der Europäischen Union aufgezeigt. Den inhaltlichen Schwerpunkt des Dokumentes bildet das Thema informelles Lernen. Zunächst wird der Begriff „informelles Lernen“ definiert und dessen Relevanz für das Konzept „Lebenslanges Lernen“ auf Basis der aktuellen nationalen und internationalen Untersuchungen erörtert. In der deutschen Diskussion wird auf Untersuchungen von Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl Bezug genommen. Diese begründen die besondere Bedeutung des informellen Lernens mit den aktuellen Anforderungen an das Lernen Erwachsener (ebd. S. 34). Dann fasst der Autor die „bisherigen Ansätze zu einem lebensoffenen Lernen“ (ebd. S. 38) aus der Fachliteratur zusammen und diskutiert die Anknüpfungs- und Abgrenzungspunkte zum “Erfahrungslernen“ (ebd. S. 39f.), zum „Alltagslernen“ (ebd. S. 40f.) und „lebensweltbezogenen Lernen“ (ebd. S. 41f.). Die gemeinsamen Tendenzen dieser Ansätze wertet er für ein Konzept des „Lebenslangen Lernens“ aus: „In unserem Zusammenhang der angestrebten breiten Mobilisierung des lebenslangen Lernens ergeben sich daraus wichtige Anknüpfungspunkte für - die Entwicklung und Popularisierung eines unmittelbaren, lebensnahen, nicht durch Schulfrust-Assoziierungen belasteten Lernens, - die Einbeziehung breiterer Schichten in für sie plausible Lernprozesse, - die fruchtbare Vernetzung natürlicher Lernansätze mit ergänzenden Lernanregungen und - eine stärker aus der Perspektive der lernenden Menschen und ihrer Interessen und Bedürfnisse (als des Staates, der Gesellschaft, der Verbände) zu entwickelnde Bildungsreform“ (ebd. S. 43).
Selbststeuerung und Selbstorganisiertheit werden dabei als charakteristisches Merkmal menschlichen Lernens beschrieben. Nach Weinert stellt Dohmen fest, dass selbstgesteuertes Lernen nicht mit einem völlig autonomen Lernen identisch ist (ebd. S. 45). Er bemängelt in der deutschen Diskussion den „Enthusiasmus für das selbstgesteuerte Lernen, wie er weitgehend die amerikanische Diskussion bestimmt“ (ebd. S. 46) und möchte dies mit seinen Ausführungen för-
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
155
dern. Er greift die in der deutschen Fachliteratur immer wieder auftauchenden Kritikpunkte (u. a. nach Breoler und Tietgens) auf und subsumiert die bisherigen Ergebnisse der amerikanischen und deutschen wissenschaftlichen Diskussion.234 Bei Letzterer bezieht er sich vor allem auf die erziehungswissenschaftliche Fachliteratur aus dem Bereich Erwachsenenbildung. Hier werden Vorteile des selbstgesteuerten Lernens bezüglich der „besseren Flexibilität, Praxisnähe, Effizienz, Kosten-Nutzenrelation und persönlicher Motivation, Befriedigung und biographischen Fundierung“ (ebd. S. 52) gesehen. Als größtes Problem wird die Schaffung einer „angemessenen Organisation und Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens“ (ebd. S. 52ff) beschrieben. Als best-practice-Beispiel stellt Dohmen ein „finnisches Modell des problembezogenen selbstorganisierten Lernens“ (ebd. S. 56ff) vor. Darauf folgend werden Möglichkeiten der Verwirklichung einer „Lerngesellschaft“235 ausführlich diskutiert, bei der den bestehenden Bildungsinstitutionen eine Stabilisierungsfunktion zugesprochen wird. Als für alle Bildungsinstitutionen geltenden Konsequenzen werden die Förderung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“, Verlust des Monopol-Anspruchs der Bildungsinstitutionen im Bereich der öffentlichen Lernförderung sowie ihre Einbeziehung in das umfassende Netzwerk verschiedener Lernorte (ebd.) genannt. Da die heutige Realität diesem Konzept keineswegs entspricht, schlägt Dohmen neue Akzentuierungen der traditionellen Angebote vor. Das Dokument hebt dabei die Bereiche Schule, Hochschule und Weiterbildung hervor. Der Schule wird die „Vermittlung einer Grundbildung“ als neue Funktion in der Lifelong-Learning-Gesellschaft zugeschrieben (ebd. S. 77). Im Hochschulbereich wird „Öffnung, Flexibilisierung und Individualisierung“ gefordert und ein neues Finanzierungsmodell nach dem 234
„In der Diskussion […] wurde besonders die Frage erörtert, wieweit bestehende Bildungsorganisationen in die Entwicklung des selbstgesteuerten Lernens unterstützend einbezogen werden können, ohne dass die wesentliche Selbstbestimmtheit des Lernens verloren geht. Die deutsche Diskussion über Rolle und Bedeutung des selbstgesteuerten Lernens ist in jüngster Zeit besonders durch zwei Anstöße intensiviert worden: durch eine Weiterführung der konstruktivistischen Lerntheorie und durch Untersuchungen über veränderte Lernanforderungen an das beruflich-betriebliche Kompetenzlernen“ (ebd. S. 50). 235 Das Konzept der Lerngesellschaft stammt von der UNESCO: „The idea of lifelong education is the master key to the education society“ (UNESCO 1996, S. 11). Vgl. Kapitel 1.3. Die Idee des Lebenslangen Lernens und der Lerngesellschaft vertraten außerdem programmatisch im erziehungssoziologischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs u. a. Karl Bednarik („Die Lerngesellschaft“, 1966), Robert M. Hutchins („The Learning Society“, 1968), Torsten Husén („The Learning Society“, 1968), Jerold W. Apps („Higher Education in a Learning Society“, 1988), Hendrik van der Zee („The Learning Society“, 1991), D. Robertson („Funding the Learning Society“, 1995), Richard Edwards („Behind the Banner“, 1995) sowie zahlreiche andere Wissenschaftler (vgl. Olbrich 2001, S. 366). Die wichtigsten deutschen Ansätze zum Thema fassen aus der erwachsenenpädagogischen Perspektive Rainer Brödel und Horst Siebert in ihrem 2003 als Festschrift für Josef Olbrich erschienen Buch „Ansichten zur Lerngesellschaft“ prägnant zusammen.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Plan der Weltbank vorgeschlagen: „die Bereitstellung von Darlehen mit günstigen Rückzahlungsbedingungen für die Lerner“ (ebd. S. 84). Für den Weiterbildungsbereich ergibt sich „ein permanenter Prozess der Kompetenzerweiterung“ als wichtigste Aufgabe, die sich vor allem in drei Dimensionen vollzieht: „in der personalen Entwicklung und Identitätsbildung, der Sozialisation und RollenQualifizierung und der partizipativen Weltgestaltung und Problemlösung“ (ebd. S. 85). Im Schlusskapitel werden einerseits eine Gesamtkonzeption, andererseits mögliche Umsetzungsstrategien erörtert. Dohmen stellt außerdem zahlreiche Konzepte und best-practice-Beispiele aus der internationalen Fachliteratur vor, um mit Hilfe „der hier in einem selektiv exemplarisch zusammenfassenden Überblick skizzierten Entwicklung der internationalen Diskussion“ (ebd. S. 28) auch in Deutschland einen Anstoß für eine neue Bildungsreformbewegung für „Lebenslanges Lernen“ zu geben, „die eine für die kreative humane Bewältigung akuter Umbruchprobleme notwendige breitere Kompetenzerschließung möglich macht“ (Dohmen 1996, ebd.). Im Vergleich mit den japanischen und finnischen Modellen stellt Dohmen erhebliche Mängel in der hiesigen Bildungspolitik bezüglich der „nötigen Aufmerksamkeit für Realisierungsprobleme“ sowie der „spezifischen Forschung für die Umsetzungsfragen“ des lebenslangen Lernens fest (ebd. S. 92).236 „In Deutschland ist das Verhältnis von innovativen Entwürfen und Erfindungen zu einer angemessenen Umsetzung in praktische Maßnahmen, Organisationen, Produktionen besonders kritisch. Das hängt allgemein mit zu vielen umständlich-langwierigen innovationshemmenden Vorschriften, Regelungen, Entscheidungs-, Prüfungs-, Zustimmungs-, Genehmigungs- und Einspruchsprozeduren zusammen. Dazu kommen verfestigte veränderungsfeindliche Funktionsund Besitzstandswahrungsstrukturen, mächtige Verbands- und Institutionsinteressen und wahltaktische Machterhalts- und Stimmengewinnungsrücksichten“ (ebd. S. 91).
Dohmen strebt – vor allem in den ersten zwei Kapiteln – einen Stil an, der kurz und knapp ist: Es gibt keine ausführlichen Erklärungen, keine Erläuterungen, nur Aussagen. Kontroversen und konkrete Überlegungen finden ihren Weg ebenfalls nicht in die Argumentation. Christiane Gerlach spricht diesbezüglich über eine „thesenartig formulierte Begründungskette“ (Gerlach 2001, S. 131). Die das ganze Dokument durchziehenden Spiegelstriche können als symbolhaft für den Stil des Dokuments angesehen werden. Später arbeitet Dohmen mit ausführlicheren Beschreibungen, z. B. bezüglich der europäischen Konzepte über Lebenslanges Lernen sowie der erziehungswissenschaftlichen Literatur.237 236
Das in Kapitel 7 des Dokuments vorgestellte japanische Modell einer Lifelong-LearningGesellschaft und das finnische Modell „des problembezogenen selbstorganisierten Lernens“ (ebd. S. 56) dienen dazu, als best-practice-Beispiele für die deutsche Diskussion Anregungen zu geben. 237 Sehr ungewöhnlich sind die Quellenangaben, die aufgrund einer Nummerierung der in Kapitel 10
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
157
Das Dokument nimmt die bildungspolitischen Konzepte der EU zum „Lebenslangen Lernen“ deutlich wahr und versucht sie in die deutsche bildungspolitische Diskussion einzubinden. Es orientiert sich sehr stark an dem Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens. Jürgen Rüttgers betont in seinem Vorwort, dass es als Reaktion auf diese EU-Initiative entstanden ist. Auch Dohmen erklärt, dass er den weltweiten aktuellen Boom bildungspolitischer Proklamationen und Diskussionen über „Lebenslanges Lernen“ als Anknüpfungspunkte für Reformansätze nutzen möchte und darauf bedacht ist, das Europäische Jahr ernst zu nehmen und positiv zu besetzen: „Die internationale Lifelong-Learning Politik von UNESCO, Europäischer Kommission, Europarat, OECD, Club of Rome und vielen nationalen Regierungen kann die nötige Schubkraft liefern für eine notwendige Bildungsreform, die eine breitere und intensivere Erschließung und Mobilisierung menschlicher Kompetenzen für die intelligente kreative Gestaltung unserer überlebensbedrohenden Entwicklungskrise in Gang bringen soll“ (Dohmen 1996, S. 7).
In Kapitel 3 werden die wichtigsten Thesen des Europarats, der UNESCO, des Club of Rome, der OECD und der Europäischen Union bezüglich des „Lebenslangen Lernens“ vorgestellt. Um seine Schwerpunktsetzung auf das informelle Lernen zu begründen, verweist Dohmen ganz konkret auf den Faure-Report der UNESCO (vgl. Dohmen 1996, S. 15f.). Außerdem werden auch einige Konzepte der Weltbank und zahlreiche nationale Konzepte (u. a. aus Japan, Finnland, Schweden und den USA) im Dokument explizit erwähnt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Dokument ein allgemeines und umfassendes Gesamtkonzept zur Entwicklung des Bildungswesens vorstellt. Diese Gesamtkonzeption lässt „ein synthetisches Modell vermuten, in das die bisherigen Überlegungen und Reflexionen zu diesem Thema einfließen“ (Gerlach 2000, S. 134). Dohmen fasst die wichtigsten Entwicklungsschwerpunkte eines Lifelong-Learning-Konzepts aufgrund der Erfahrungen aus der internationalen Fachliteratur zusammen, ohne diese auf die konkreten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten Deutschlands zu beziehen. Die wichtigsten Tendenzen des Dokuments werden im folgenden Abschnitt herausgestellt. 3) Wesentliche Tendenzen Das Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik filtert aus den bisherigen Konzepten zum „Lebenslangen Lernen“ und der internationalen bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Diskussion einige Tendenzen heraus wie
aufgelisteten Quellen vorgenommen werden.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
a) das Modell einer Lerngesellschaft (Lern-Netzwerk-Gesellschaft) als Zukunftsvision, b) die Schwerpunktsetzung auf das informelle Lernen und c) auf die Selbststeuerung und Selbstorganisation der Lernprozesse. Diese Punkte lassen sich als wesentliche Komponenten eines Umstrukturierungskonzepts für das deutsche Bildungswesen zusammenfügen. Dabei werden die internationalen Konzepte und best-practice-Beispiele als Orientierungspunkte genutzt. a) Lern-Netzwerk-Gesellschaft als Zukunftsvision: Gesamtverantwortung aller Bildungsinstitutionen für das lebenslange Lernen Das Dokument stellt das Konzept einer Lerngesellschaft als eine bildungspolitische Zielsetzung vor, über die laut Dohmen in Europa ein weitgehender Konsens besteht (Dohmen 1996, S. 61). Nach Richard Edwards werden drei Modellvorstellungen einer Lerngesellschaft beschrieben, die verschiedene Ansätze für die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ aufzeigen. Das erste Modell basiert auf der (vor allem von liberalen Großstadtpädagogen in den 1960er- und 1970er-Jahren präferierten) Vorstellung einer freien demokratischen Erziehungsgesellschaft, die Chancengleichheit bei der Bildungsbeteiligung bietet. Dazu sollen die bestehenden Bildungsinstitutionen entsprechend ausgebaut werden. Das zweite Modell, das seit den 1970er-Jahren vor allem von den Regierungen und der Wirtschaft propagiert wird, stellt die Prinzipien Wettbewerb und freie Marktwirtschaft in den Vordergrund. Hier sollten die verschiedenen Bildungsinstitutionen auf dem freien Bildungsmarkt miteinander konkurrieren und vor allem den Ansprüchen der wirtschaftlichen Akteure entsprechende Qualifikationen anbieten. Das dritte Modell ist eine „postmoderne“ Vorstellung von offenen Lern-Netzwerken, die die Lerner ihren individuellen Bedürfnissen und Interessen entsprechend frei wählen können. Dadurch soll die Selbststeuerung des Lernprozesses gewährleistet sein. Dohmen hält die ersten beiden Modelle für obsolet und stellt fest, dass über das dritte Modell noch nicht genügend Informationen vorhanden sind, um dies zuverlässig beurteilen zu können. Das japanische Modell stellt er als best-practice-Beispiel für dessen Verwirklichung vor. Dies soll durch die Vereinbarung der von oben kommenden staatlichen Reformbemühungen und einer von unten organisierten Lifelong Learning-Bewegung ein funktionierendes Modell bieten. Der Erfolg des Modells basiert seiner Meinung nach auf der Arbeitsteilung zwischen den Akteuren: den schon vorhandenen Bildungsinstitutionen und vom Staat neu errichteten Lernzentren zur Unterstützung formaler Lernprozesse sowie den eher freizeitorientierten informellen Lernangeboten außerhalb der Bildungsinstitutionen.
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
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Aufgrund dieses Modells spricht das Dokument den Bildungsinstitutionen zwar eine wichtige Stabilisierungsfunktion in der Lerngesellschaft zu, macht aber deutlich, dass sie mit einem Verlust ihres Monopol-Anspruchs im Bereich der öffentlichen Lernförderung zu rechnen haben. Durch ihre Einbeziehung in das umfassende Netzwerk verschiedener Lernorte ist die „Förderung des kompetenzentwickelnden Lernens […] eine zentrale Aufgabe aller Bildungsinstitutionen“ (Dohmen 1996, S. 6). Dabei sind die klassischen Bildungsinstitutionen „in einer umfassenden Lernumwelt spezifische Lernorte neben anderen“ (ebd. S. 90), denn formales, non-formales und informelles Lernen sind alle Teilaspekte des lebenslangen Lernens. Die Akzeptierung des Zukunftsmodell der lernenden Gesellschaft für Deutschland ist umso wichtiger, weil – wie Peter Krug in einem Aufsatz ausdrücklich betonte – im hiesigen Lifelong Learning-Diskurs die in diesem EUWeißbuch geschilderte Vision einer kognitiven Gesellschaft mit der Begründung zurückgewiesen wurde, dass „neben der Vermittlung kognitiver Wissensbestände die Vermittlung sozialer und personeller Kompetenzen ebenso wichtig sei und deshalb eher von der Entwicklung zu einer ´lernenden Gesellschaft´ ausgegangen werden sollte“ (Krug 1997, S. 53). b) Informelles Lernen als wichtigste Form lebenslangen Lernens Das Dokument zeigt aufgrund der Tendenzen der internationalen bildungspolitischen Diskussionen sowie der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur eine deutliche Bedeutungszunahme informellen Lernens auf. Das „natürliche Alltagslernen ist der günstigste Ansatzpunkt für die Realisierung eines lebenslangen Lernens für alle“, stellt Dohmen fest (ebd. S. 6). Informelles Lernen wird als Gegenpart von „einem planmäßigen ´formellen´ Lernen in besonderen Bildungsveranstaltungen“ abgegrenzt und als offenes Lernen „an akuten Aufgaben und Herausforderungen in wechselnden Lebens- und Arbeitssituationen“ (ebd. S. 30) definiert. Diese Schwerpunktsetzung auf das informelle Lernen wird u.a. in Bezug auf den Faure-Report der UNESCO damit begründet, dass „die traditionellen Schulen und Bildungseinrichtungen […] weltweit nicht in der Lage [sind], die noch zu etwa 50 % brachliegenden humanen Begabungspotenziale zu entwickeln“ (ebd. S. 15f.). Deswegen sollte im Konzept „Lebenslanges Lernen“ eine Rückbesinnung auf ein natürliches Lernen stattfinden, das den ursprünglichen Sinn menschlichen Lebens, nämlich die „Kompetenzentwicklung für das Weltverstehen und die Bewältigung drängender Lebensaufgaben“ ermöglicht und fördert (ebd.). Die Wichtigkeit des informellen (natürlichen und problemlösenden) Lernens wird durch die im ersten Kapitel ausführlich geschilderte „dramatische Umbruchs- und Herausforderungssituation“ (ebd. S. 1) an der Schwelle des 21. Jahrhunderts begründet. Die Menschheit könne die aktuellen Proble-
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me nur durch lebenslanges problembezogenes Lernen bewältigen, das in diesem Sinne als biologische Notwendigkeit und einzig mögliche Überlebensstrategie aufgezeigt wird. Für das Konzept „Lebenslanges Lernen“ stellt Dohmen zum effektiven informellen Lernen einen „Achtpunkte-Katalog“ (Gerlach 2000, S. 135) vor: a) Es soll für das einzelne Individuum immer situations- und problembezogen stattfinden und die Reflexion der eigenen Lebenserfahrungen mit einbeziehen. Die Konzentration auf die Lösung konkreter aktueller Probleme und die „möglichst kompetente Situationsbewältigung“ (Dohmen 1996, S. 35) soll günstige Voraussetzungen schaffen für die (permanente) Kompetenzentwicklung. b) Wenn das Lernen – im Gegensatz zu den praxisfernen schulischen Lernsituationen – in realen Problemlösesituationen stattfindet, werden die Transferprobleme zwischen theoretischem Wissen und praktischer Anwendung minimalisiert. c) Die unmittelbare Nützlichkeit der erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen in der Lebensbewältigung soll eine günstigere primäre Lernmotivation schaffen (als das fachsystematische Lernen). d) Die akzeptierte Vertrautheit und Plausibilität des Lernens aus eigenen Erfahrungen stellt eine günstige Grundlage für lebenslange Lernprozesse aller Menschen dar. e) Die Einbezogenheit des Lernens in den Lebenszusammenhang soll Spannungen mit der „sozialisierenden Alltags-Lebenswelt“ (ebd. S. 36) bzw. ihre relativierende Wirkung auf den Lernerfolg mindern. f) Durch die größere Nähe zur krisenhaften Umbruchssituation im eigenen Leben und in der Umwelt ermöglicht also das informelle Lernen durch seine Praxisbezogenheit eine Kompetenzentwicklung im Sinne der LifelongLearning-Bewegung, mehr als schulische Lernprozesse; g) Mehr als planmäßiges Lernen in verfestigten institutionalisierten Strukturen, ermöglicht informelles Lernen schnellere Reaktionen auf neue Situationen und Herausforderungen. h) Die Orientierung an Interessen und Bedürfnissen der Lernenden ermöglicht eine stärkere Miteinbeziehung ihrer individuellen Perspektive in den Lernprozess (vgl. ebd. S. 35ff). Das Dokument stellt also das informelle Lernen als positives Gegenbeispiel zum schulischen Lernen dar und verdeutlicht die Unterschiede zu diesem ausführlich. Im Vergleich wird das informelle Lernen als praxisorientierte, lebensnahe, individuelle und kreative Form der Kompetenzentwicklung zur Bewältigung von Problemen und Herausforderungen beschrieben, die eine stärkere Motivation und individuelle Reflektiertheit der Lebensbewältigung ermöglicht als „das
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lebensabgehobene schulische Lernen“ (ebd. S. 36). Als Fazit wird festgestellt: „Aus diesen Gründen muss das informelle Lernen als ein bestimmendes Element im Gesamtzusammenhang des lebenslangen Lernens angenommen und gefördert werden“ (ebd. S. 37). Durch diese Schwerpunktsetzung verortet Dohmen die Verwirklichung des lebenslangen Lernens eindeutig außerhalb des Pflichtschulsystems, also im Rahmen der Bildungsinstitutionen vor allem im Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung, aber auch außerhalb von institutionalisierten Lernorten. c) Selbstgesteuertes und selbstorganisiertes Lernen Selbststeuerung wird im Dokument nach Piaget als charakteristisches Merkmal menschlichen Lebens dargestellt.238 Darauf bezogen – und im Sinne der konstruktivistischen Lerntheorie – soll auch das lebenslange Lernen nach diesen Prinzipien gestaltet werden: „Wenn aber Selbstregulierung das Wesen des Lebens ist, dann kann auch das Lernen als Grundfunktion des menschlichen Lebens seinem Wesen nach als ein selbstgesteuerter Prozess zur Selbstbehauptung und Überlebenssicherung der Menschen verstanden werden“ (ebd. S. 44). Nach Weinert stellt Dohmen fest, dass selbstgesteuertes Lernen aber nicht identisch mit einem völlig autonomen Lernen ist (ebd. S. 45). In Wirklichkeit kann es nur eine Synthese von Selbststeuerung und Angeleitetwerden sein. Da die Selbststeuerung sich meistens auf die Organisation von Lernprozessen bezieht, wird „der Begriff des ´selbstorganisierten Lernens […] in der deutschen Diskussion oft wie ein Synonym von ´selbstgesteuertem´ Lernen gebraucht“ (ebd. S. 47). In diesem Sinne wird selbstgesteuertes Lernen einerseits als methodische Form verstanden, die sich auf die Einbeziehung von eigenen Erfahrungen und Vorstellungen in den eigenen Lernprozess bezieht. Andererseits wird es als wesentliches Merkmal und eigenständiges Ziel des lebenslangen Lernens angesehen. Letztere Vorstellung basiert auf dem Idealbild des freien, offenen und verantwortungsbewussten Bürgers, der für eine sinnvolle Gestaltung seines persönlichen Lebens sowie des gemeinsamen Lebens in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft lebenslang lernt. Dieses Idealbild wurde vor allem in den Lifelong Learning-Konzepten der UNESCO als „der neue Mensch“ (FaureReport 1972) und „der mündige Bürger“ (Delors-Report 1996) propagiert. Dass dies in der Praxis sehr hohe Anforderungen an die Lernenden stellt, wurde sowohl in der internationalen als auch in der deutschen Diskussion ausführlich diskutiert. Aus diesem Grund wird eine gewisse Fremdbestimmung/Fremdsteuerung als nötig angesehen. Immer wieder wird erörtert, „wieweit bestehende Bildungsorganisationen in die Entwicklung des selbstgesteuerten Lernens unter238
„Life is essentially autoregulation“ (vgl. Dohmen 1996, S. 44).
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stützend einbezogen werden können, ohne dass sie in Konflikt geraten mit ihrem institutionellen Selbstverständnis und ohne dass die wesentliche Selbstbestimmtheit des Lernens verloren geht“ (ebd. S. 50). Als gelungenes Beispiel dafür stellt Dohmen das „finnische Modell des problembezogenen selbstorganisierten Lernens“ (ebd. S. 56f.) vor. Dessen Hauptmerkmale sind, dass breite Bevölkerungskreise einbezogen werden und dass Lernen in selbstorganisierter und kooperativer Form stattfindet. Es geht dabei um eine akute gesellschaftliche Krisensituation, die gemeinsam bewältigt werden muss: Das Projekt „Village Movement“ richtet sich gegen die Migration aus den Dörfern in die Städte mit Hilfe selbstorganisierter Problemlösungs-Lerngruppen. Diese versuchen gemeinsam „die Dörfer zu sozial, kulturell, wirtschaftlich und bildungsgemäß attraktiven Lebenswelten zu machen und dadurch nicht nur die Landflucht zu stoppen, sondern auch neue Menschen zu bewegen, aufs Land zu ziehen und sich dort dauerhaft zu integrieren“ (ebd. S. 57). Dabei arbeiten die traditionellen Bildungsinstitutionen mit Studienzirkel-Zentren, Büchereien, Beratungsdiensten, Zeitungsredaktionen, Rundfunkanstalten und Telehäusern zusammen. Als wichtigster Erfolg der Bewegung stellt das Dokument die Veränderung der Lebenseinstellung der Menschen dar: Ihre „vorherige Passivität und Resignation gegenüber allgemeinen Entwicklungen und Krisen wurde mehr und mehr abgelöst durch eine neue Lebendigkeit und Eigeninitiative, durch ein neues Selbstvertrauen und durch ein neues basisdemokratisch-bürgerschaftliches Engagement“ (ebd. S. 60).
Den Anknüpfungspunkt zwischen informellem und selbstgesteuertem Lernen findet Dohmen in der „gemeinsamen Intention einer Reduzierung von vorgegebenen Richtlinien und zu engen formalen Begrenzungen“ (Gerlach 2000, S. 137). So kann selbstgesteuertes Lernen als eine Form informellen Lernens angesehen werden, die aber keineswegs ein isoliertes, völlig unabhängiges Alleinlernen meint, sondern einen konstruktiven Austausch mit anderen, u. a. mit Lernexperten in der Form eines aktiven nachfragend-selbstbestimmten Lernens (Dohmen 1996, S. 45). Die Schwerpunktsetzung Dohmens einerseits auf das informelle Lernen und andererseits auf selbstgesteuertes und selbstorganisiertes Lernen lässt sich außerhalb des Pflichtschulsystems verorten. Erstere sogar außerhalb des institutionalisierten Lernens. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Dohmen die maximalistische Version des Konzepts vertritt, die das lebenslange Lernen als eine anthropologische Notwendigkeit und damit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe interpretiert.239 Aber statt die im 1995 veröffentlichten Weißbuch aufgezeigte Vision einer kognitiven Gesellschaft zu übernehmen, die in Deutschland sehr kritisiert 239
Vgl. Kapitel 3.1 sowie Cropley 1979.
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wurde (vgl. Krug 1997), propagiert das Dokument – wie das UNESCO-Konzept (UNESCO 1996, S. 11) – die Schaffung einer Lerngesellschaft. Im Gegensatz zu der ökonomischen und beschäftigungspolitischen Schwerpunktsetzung der beiden EU-Weißbücher zum Thema lebenslanges Lernen240 betrachtet Dohmen das lebenslange Lernen in erster Linie nicht unter utilitaristischen Gesichtspunkten und stellt nicht eine kollektive Perspektive der Europäischen Union oder Deutschlands, sondern die individuelle Perspektive der lernenden Menschen in den Vordergrund. Die zwei wichtigsten Zielsetzungen des Lifelong LearningKonzeptes der EU, nämlich die Entwicklung von Humankapital und die Schaffung einer europäischen Identität bzw. sozialer Kohäsion werden im Dokument nicht thematisiert. Dohmen orientiert sich eindeutig an den Überlegungen der UNESCO zum lebenslangen Lernen und nicht an dem Verständnis der Europäischen Kommission. Die Überlegungen des Dokumentes Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik bleiben auf einer sehr allgemeinen Ebene. Damit bleibt auch die Adaptationsintention der europäischen bildungspolitischen Konzepte insgesamt sehr allgemein und theoretisch: Sowohl die Problembeschreibungen als auch die Lösungsvorschläge des Dokuments könnten Aussagen über die meisten Industriestaaten sein und enthalten keine spezifischen und konkreten Überlegungen für Deutschland. So wird zum Beispiel die Wiedervereinigung der BRD und der DDR im Jahre 1990 mit keinem Wort erwähnt, die Neuorganisation des Bildungswesens wird nur mit den Herausforderungen des kommenden 21. Jahrhunderts und mit dem Ernstnehmen des Europäischen Jahres zum lebensbegleitenden Lernen begründet. Die ausführlich geschilderten internationalen Erfahrungen werden dabei nur als „günstige Anknüpfungspunkte für Reformansätze“ betrachtet: „Ein akuter weltweiter Boom bildungspolitischer Proklamationen und Diskussionen zur Notwendigkeit eines ´lebenslangen Lernens für alle´ bietet günstige Anknüpfungspunkte für Reformansätze, die das ´Jahr des lebenslangen Lernens´ ernst nehmen und ein Schlagwort, das schon in aller Munde ist, positiv besetzen“ (ebd. S. 7).
Für dieses Verbleiben auf einer theoretischen Ebene gibt es mehrere mögliche Gründe: erstens kann dies auf den beschränkten Kompetenzbereich des BMBF zurückgeführt werden, das aufgrund der Kulturhoheit der Bundesländer nur allgemeine bildungspolitische Leitlinien verkünden kann. Zweitens kann dies durch die Zielsetzung des Dokuments erklärt werden: es strebt an, die internationale bildungspolitische bzw. die deutsche erziehungswissenschaftliche Diskussion über „Lebenslanges Lernen“ vorzustellen, damit diese für die deutsche Bildungspolitik als Reformierungsimpulse dienen können. Als Schlussfolgerung 240
Vgl. Kapitel 3.1.2.1.
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mahnt Dohmen zur entschiedenen und kompetenten Verwirklichung Lebenslangen Lernens: „Die Entschiedenheit und die Kompetenz, mit denen wir in der Bundesrepublik Deutschland jetzt die aktuelle weltweite Reflexion und Konzentration auf das ´Zeitalter des lebenslangen Lernens´ konstruktiv aufnehmen und in praktische Maßnahmen umsetzen, wird in Zukunft wesentlich die Qualität des Standorts Deutschland in einer offenen Welt mitbestimmen“ (ebd. S. 97).
Es wird also eine Adaptation angemahnt, aber nicht konkret thematisiert. Christiane Gerlach resümiert Dohmens Bestreben folgendermaßen: „Eine verstärkte Zentralisierung der Bemühungen um eine konkrete Verwirklichung des lebenslangen Lernens und dem daraus resultierenden Überdenken der bisherigen institutionellen Strukturen ist Gegenstand dieses Berichts“ (Gerlach 2000, S. 131). Gerlach sieht den größten Verdienst des Dokumentes darin, dass „hier […] sich endlich auch in bundesdeutscher Sicht [verdeutlicht], zumindest in schriftlicher Form, die Aufnahme einer thematischen Relevanz, die sich weder nach Erscheinen des FaureReports, noch nach den richtungweisenden Empfehlungen der UNESCO von 1976 in solch konkreter Äußerung finden ließ. In diesem Sinne ist die Betrachtung des Berichts unter der Perspektive nationaler Bezüge zu akzentuieren, bzw. auf reflexive Analysen der deutschen Bildungspolitik im Hinblick auf bisherige Entwicklungen des Konzepts ´Lebenslanges Lernen´“ (ebd. S. 100).
Mit dem Dokument hat die deutsche Bildungspolitik „den thematischen Impuls der EU aufgenommen, Stellung zu dem Konzept des lebenslangen Lernens bezogen und damit das Konzept auch als politische Aufgabe akzeptiert“ (Schemmann 2007, S. 150). 4.2.2 A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája 1) Entstehungszusammenhänge A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája (Längerfristige Strategie der Republik Ungarn für die Entwicklung der öffentlichen Bildung) wurde vom ungarischen Ministerium für Erziehung und Bildung 241 herausgegeben und von Zoltán Báthory verantwortet. Den unmittelbaren historischen bzw. gesellschaftspolitischen Rahmen des Dokuments bildete der demokratische Systemwechsel 1989/1990 in Ungarn. Dabei fanden der Übergang von der sozialistischen zur bürgerlich-liberalen Demokratie und der Wechsel von der sozialistischen Planzur privaten Marktwirtschaft gleichzeitig statt. Dieser Prozess initiierte komple-
241
MĦvelĘdési és Oktatási Minisztérium
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xe Veränderungen auch in der Bildungspolitik.242 Das Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája kann als Teil eines umfassenden Reformprozesses zur demokratischen Umstrukturierung des Bildungssystems angesehen werden. Dazu gehörten z. B. das 1993 verabschiedete Gesetz über die Volksbildung, das 1996 überarbeitet wurde, sowie der 1995 verabschiedete Nationale Grundlehrplan.243 Politisch zeichnet eine sozialliberale Koalition unter Gyula Horn für das Dokument verantwortlich. 244 Im Zusammenhang mit der Änderung des Volksbildungsgesetzes wurde das Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája als mittelfristiger Entwicklungsplan für die öffentliche Bildung ausgearbeitet. Es weist nach seiner Zielsetzung „bis zum Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Richtung […] für die Modernisierung und Entwicklung der öffentlichen Erziehung sowie für die Rolle der Schule in der ungarischen Gesellschaft“245 (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 5). Das Dokument ist ein Ergebnis einer 1994 initiierten öffentlichen Diskussion, deren Ziel die Ausarbeitung einer umfassenden bildungspolitischen Strategie war. Der erste Entwurf wurde im Dezember 1994 veröffentlicht und 1995 von sämtlichen Wissenschaftlern, praktizierenden Pädagogen, Schulkollegien sowie Vertretern der Zivilgesellschaft öffentlich diskutiert. Aufgrund dieser Diskussion wurden Expertengutachten angefertigt, deren Liste im Anhang aufgeführt ist. Das Dokument ist schon der ausgearbeitete strategische Plan selbst (ebd. S. 4f.). In seinem Vorwort betont Zoltán Báthory aber, dass dieser eine ständige Überprüfung und eine permanente Aktualisierung aufgrund praktischer Erfahrungen und neuerer Erkenntnisse erfordert (ebd. S. 6). Ein zentraler Bezugspunkt des Dokuments ist der angestrebte EU-Beitritt Ungarns. Als Adressaten werden vor allem die Menschen angesprochen, die eine leitend-organisierende Rolle im Bildungssystem haben, bzw. diejenigen, die im Bereich der Volksbildung arbeiten, damit beruflich in Berührung kommen und diejenigen, die sich dafür interessieren (ebd.).
242
Vgl. Kapitel 3.2. Vgl. Kapitel 3.2.2.2. 244 1994 gewann in Ungarn eine sozialliberale Koalition die Wahl, die sich aus der Partei der Freien Demokraten (SZDSZ), der Ungarischen Sozialistischen Partei: Magyar Szocialista Párt (MSZP), der Nachfolgepartei der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP): Magyar Szocialista Munkáspárt (MSZMP) zusammensetzte, Ministerpräsident wurde Gyula Horn (MSZP). 245 “Ez a dokumentum […] szándékai szerint a XXI. század elsĘ évtizedének végéig irányt mutat a közoktatás korszerĦsítésére és fejlesztésére, az iskola szerepére a magyar társadalomban.” 243
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2) Aufbau und Inhalt Das Dokument umfasst 92 Seiten und wird in sechs Kapitel aufgeteilt: 1) Einleitung,246 2) Die wichtigsten Charakteristika der jetzigen Situation,247 3) Ziele und Richtungen der Entwicklung der öffentlichen Bildung,248 4) Organisatorische Bedingungen und Mittel der Entwicklung der öffentlichen Bildung,249 5) Öffentlichen Bildung zur Jahrtausendwende,250 6) Das letzte Kapitel beinhaltet eine Auflistung der Hintergrundstudien als Anhang. Die Argumentationsstruktur weist von der Problembeschreibung in Richtung Problemlösungsvorschläge. Das Dokument geht von den wichtigsten Charakteristika der „jetzigen Situation“ in Ungarn aus (ebd. S. 11–37), stellt die „Ziele und Richtungen der Entwicklung der öffentlichen Bildung“ (ebd. S. 37-77) sowie die zu deren Verwirklichung nötigen strukturellen Voraussetzungen und Mittel (ebd. S. 77–90) vor, um am Ende eine Vision der „öffentlichen Bildung zur Jahrtausendwende“ (ebd. S. 90– 92) zu entwerfen. Obwohl im Titel des Dokuments der Begriff „Lebenslanges Lernen“ nicht erwähnt wird, basiert dessen Zielsetzung und Argumentation eindeutig auf der Leitidee. Im Vorwort steht: „[Das Schulsystem] […] muss sich auch darauf vorbereiten, dass das Lernen für viele junge Menschen nicht mit dem Abschluss der Schulbildung beendet ist. Es wird zu einem grundsätzlichen Ziel der Schulbildung, die Individuen auf die Herausforderungen der Informationsgesellschaft vorzubereiten, den Grund ihrer Lernfähigkeit zu legen und die Weiterentwicklung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten zu ermöglichen“251 (ebd. S. 3.)
Im Mittelpunkt der strategischen Planung steht das Pflichtschulsystem, das "das Rückgrat des Bildungswesens" bildet (Kozma/Rébay 2002, S. 592), weil alle weiterführenden Stufen (Hochschulsystem, Berufs- und Erwachsenenbildung) sich dem anfügen und der Vorschulbereich ganz auf die Vorbereitung der Pflichtschulzeit ausgerichtet ist. Zoltán Báthory macht dies schon im Vorwort deutlich, indem er das Ziel des Dokuments die Modernisierung und Entwicklung der öffentlichen Erziehung sowie die Rolle der Schule zu weisen angibt. 246
„ Bevezetés“ „A jelenlegi helyzet fĘ jellemzĘi“ „A közoktatás fejlesztésének céljai és irányai“ 249 „A közoktatás fejlesztésének szervezeti feltételei és eszközei“ 250 „Közoktatás az ezredfordulón“ 251 „[…] arra is fel kell készülni, hogy a tanulás egyre több fiatal számára nem zárul le a közoktatásban megszerzett végzettséggel. A közoktatás meghatározó céljává válik, hogy az egyént felkészítse az informatikai társadalom kihívásaira, megalapozza tanulási képességét és lehetĘséget adjon számára meglévĘ ismeretei és képességei továbbfejlesztésére.“ 247 248
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Andere Bereiche des Bildungssystems werden nur in diesem Zusammenhang beachtet: „Zwischen öffentlicher Erziehung, beruflicher Bildung und Hochschulbildung […] gibt es eine enge Verbindung und Wechselwirkung, deswegen beachtet die Strategie zur Entwicklung der öffentlichen Erziehung im Rahmen der Möglichkeiten auch die bekannten Anforderungen an Berufsbildung und Hochschulbildung, und verweist im nötigen Ausmaß (Hervorhebung von mir – A. Ó.) auf sie“252 (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 6).
Das Dokument beginnt mit einer Bestandsaufnahme der aktuellen Situation des Bildungssystems. Schon die Einleitung stellt fest, dass die Länder in Ost-MittelEuropa in den letzten Jahren tief greifende politische Veränderungen in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft erlebt haben, die u. a. eine wirtschaftliche Krise mit sich zogen. Obwohl der Tiefpunkt dieser Krise schon überwunden sei, würde es noch lange dauern, die demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen zu stabilisieren. Das Bildungssystem spiele dabei eine wichtige Rolle als Ort der Erziehung zur Demokratie sowie der Entwicklung von Humankapital. In dieser Situationsanalyse sind die zwei wichtigsten Zielsetzungen der Europäischen Union bezüglich des „Lebenslangen Lernens“ deutlich wieder zu erkennen.253 Die angestrebte Mitgliedschaft in der Europäischen Union wird beschrieben als wichtiger Faktor der zukünftigen Entwicklung: „Wie auch für andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, bedeutet unsere Beteiligung am europäischen Integrationsprozess (Hervorhebung im Original) für den Bereich Erziehung und Bildung eine große Herausforderung. […] Als zukünftiges Mitglied der Europäischen Union müssen wir schon im Laufe der Beitrittsvorbereitungen bestimmte Normen akzeptieren und die strategischen Ziele der Union beachten“254 (ebd. S. 11).
Darauf folgt eine sehr ausführliche und mit statistischem Material angereicherte Analyse der politischen und wirtschaftlichen Situation sowie der wichtigsten bildungspolitischen Veränderungen in der Gesetzgebung, in der Struktur des Pflichtschulsystems, in der Steuerung und Finanzierung sowie in der Lage des Pädagogenberufs.255 Ungarn wird hier als „ein Land mit mittelmäßig entwickel252
„A közoktatás, a szakoktatás és a felsĘoktatás között […] szerves kapcsolat és kölcsönhatás van, ezért a közoktatás fejlesztési stratégiája a lehetĘséghez képest figyelembe vette már a szakoktatás és a felsĘoktatás ismert követelményeit, és ezekre a szükséges mértékben utal is.“ 253 Vgl. Kapitel 3.1. 254 „A társadalmi élet más területeihez hasonlóan az oktatás számára is jelentĘs kihívást jelent az európai integrációs folyamatba való bekapcsolódásunk. […] Nemcsak az Európai Unió majdani tagjaként, hanem már a felkészülés idĘszakában is el kell fogadnunk bizonyos általános normákat, és oda kell figyelnünk azokra a stratégiai célokra, amelyek az oktatással kapcsolatban az Unióban megfogalmazódnak.“ 255 Im Vergleich mit diesen Ausführungen wird eine fehlende Darstellung konkreter gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und (bildungs)politischer Kontexte im deutschen Dokument Lebenslanges Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik sehr offensichtlich.
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ter Industrie“256 vorgestellt, in dem das Bildungsniveau viel höher ist als das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung. Über die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wird zusammenfassend festgestellt, dass eine umfassende inhaltliche Reformierung der Schulbildung das letzte Mal in den 1970er-Jahren erfolgte. Diese Reformen wurden in den 1980er-Jahren lediglich aktualisiert.257 Als wichtigste Veränderungen im Schulsystem werden erstens die veränderte Teilnahme in verschiedenen Mittelschulformen erwähnt: Immer mehr Jugendliche gehen auf ein Gymnasium, das Interesse an Fachschulen hat sich drastisch verringert. Zweitens hat die berufliche Bildung innerhalb des Pflichtschulsystems eine unklare Lage. Drittens wurde mit der Einführung der 6-jährigen Gymnasien die frühere Einheitlichkeit des Pflichtschulsystems aufgelöst. Das Dokument resümiert diese Entwicklungen folgendermaßen: „Die längerfristigen Konsequenzen der spontanen Strukturveränderungen im Pflichtschulsystem des Landes sind unberechenbar. Es ist aber sicher, dass die bisherigen Veränderungen die Chancengleichheit der Weiterbildung nicht günstig beeinflussen und die Fortsetzung dieses Prozesses die Erweiterung der Mittelschulbildung bremsen und die Basis der Hochschulbildung verengen kann“258 (ebd. S. 20).
Die Kooperation zwischen den verschiedenen Steuerungsebenen wird als die wichtigste Voraussetzung für das Funktionieren des ungarischen Bildungssystems angesehen. Die hierarchische Struktur der Lehrerberufe, die auf der Trennung der Ausbildung zwischen Universitäten und pädagogischen Fachhochschulen basiert, das Fehlen eines funktionierenden Lehrerweiterbildungssystems, sowie das niedrige Lohnniveau der Pädagogen erfordern eine Erneuerung in Kooperation mit ihrer beruflichen Interessenvertretung, stellt das Dokument fest. Zur Finanzierung des Bildungssystems wird festgestellt, dass der Anteil der Bildungsausgaben seit den 1970er-Jahren kontinuierlich erhöht wurde. 94% der Bildungsausgaben werden aus dem zentralen bzw. dem regionalen Budget finanziert. Trotz der hohen Ausgaben gelte das ungarische Bildungssystem aber weiterhin als kostenunwirksam. 256
„közepesen fejlett iparosodott ország“ Das Schulgesetz aus dem Jahr 1985, das damals im sozialistischen Lager als zu liberal galt, erklärte die Schulen zu autonomen Institutionen und ließ die Zurückdrängung der Parteiideologie zu. Außerdem erhielten Schulversuche einen größeren Spielraum und die Eltern wurden stärker in das Schulleben miteinbezogen. Insgesamt ermöglichte das Gesetz, alternative Wege in der Bildungsentwicklung einzuschlagen. Das 1993 verabschiedete Gesetz über die Volksbildung etablierte eine zweipolige (zentrale und örtliche) Lehrplanregelung: Die Schulen wurden verpflichtet, unter Berücksichtigung der im Nationalen Grundlehrplan zusammengefassten Rahmenvorgaben ihre pädagogischen Programme und lokalen Schulpläne zu erarbeiten. 258 „Az ország közoktatási rendszerében zajló spontán szerkezeti változások távlati következményei kiszámíthatatlanok. Bizonyos azonban, hogy az eddigi változások nem kedveznek a továbbtanulási esélyek egyenlĘségének, s e folyamat folytatódása fékezheti a középiskolai oktatás kiterjesztését és beszĦkítheti a felsĘoktatás merítési bázisát.“ 257
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Dieser Analyse fügen sich die aus der Problembeschreibung resultierenden Verbesserungsvorschläge an. Es werden „aufgrund der Analyse der jetzigen Situation und der erwarteten Herausforderungen in der Zukunft“259 (ebd. S. 37) die wichtigsten drei Ziele der Entwicklung des Pflichtschulsystems zusammengefasst: die Modernisierung des Pflichtschulsystems, die Gewährleistung einer erweiterten Mittelschulbildung für möglichst viele Jugendliche, eine effektivere Nutzung von Humankapital und der vorhandenen Finanzressourcen. Innerhalb dieser Ziele werden noch „weitere wichtige Ziele“260 (ebd. S. 38) formuliert, wie die Erneuerung des Pädagogenberufes sowie die Minderung von Benachteiligungen im Pflichtschulsystem (vgl. Tabelle 18). Hauptziele Modernisierung des Pflichtschulsystems Erweiterung der Mittelschulbildung Effektivere Nutzung von Humankapital und der vorhandenen Finanzressourcen
-
Teilziele inhaltliche Modernisierung Ausarbeitung eines neuen Bewertungssystems Erneuerung des Pädagogenberufs Erhöhung der Zahl der Abiturienten Gezielte Unterstützung der benachteiligten Schüler und Schülerinnen –
Tabelle 18: Haupt- und Teilziele des Dokuments „A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája“ (vgl. MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 37ff) Das Dokument betont, dass all diese Ziele gleich wichtig sind: „Bei den einzelnen Zielsetzungen kann man keine Rangliste aufstellen. Die harmonische Entwicklung des Pflichtschulsystems erfordert, dass die Erreichung all dieser Ziele die nötige Aufmerksamkeit und Unterstützung erhält“261 (ebd.). Innerhalb der Hauptziele werden konkrete Teilziele definiert. Die Erreichung des Ziels Modernisierung des Pflichtschulsystems sollte durch eine aktive staatliche Bildungspolitik unterstützt werden. Als wichtigste Aufgaben der staatlichen Unterstützung werden die Gewährleistung der Programmangebote sowie ihre Entwicklung, Koordination und die Qualitätssicherung definiert (ebd. S. 42). Dazu gehören die permanente Weiterentwicklung der zentralen Dokumente der Lehrplanregelung, Ausarbeitung und kontinuierliche Aktualisierung eines detaillierten Anforderungskatalogs für die Curricula und für die Prüfungen, Festlegung der nötigen Vorkenntnisse für die Berufsbildung, 259
„A jelenlegi helyzet és a várható jövĘbeni kihívások elemzése alapján“ „további fontos célkitĦzések“ 261 „Az egyes célok között nem lehet rangsort felállítani. A közoktatás harmonikus fejlĘdése megkívánja, hogy valamennyi cél elérése kellĘ figyelmet és támogatást kapjon.“ 260
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Harmonisierung zwischen den zentralen Curricula und den lokalen Bedürfnissen, Gewährleistung eines breiten Angebots von niveauvollen Lehrplänen, Lehrbüchern und Lehrmaterialien, Schaffung eines zeitgemäßen und funktionierenden Bewertungs- und Prüfungssystems, Unterstützung der lokalen Initiativen und der Innovationen der Bildungsinstitute, die umfassende Verbesserung und Entwicklung der Pädagogenausbildung und -weiterbildung262 sowie die Schaffung eines Informationssystems zur Unterstützung der Entwicklung von Curricula und Lehr- und Lernmethoden (ebd. S. 44). Bei der Beschreibung der Bereiche des Pflichtschulsystems betont das Dokument, dass auch die Kindergärten dazu gehören: Sie arbeiten ebenfalls nach einem zentral ausgearbeiteten Rahmenplan.263 Im Mittelschulbereich wird versucht, die scharfe Trennung zwischen Gymnasien und Fachmittelschulen aufzuheben oder zumindest zu mildern. In Bezug auf die Entwicklung des Bewertungssystems wird angestrebt, ein für das ganze Land gültiges, einheitliches System auszuarbeiten. Dieses Vorhaben sei durch die gemeinsame Verantwortung der zentralen Steuerung, der Schulträger und der einzelnen Schulen gekennzeichnet. Zur Unterstützung ihrer Arbeit wird eine Landesexpertenliste264 erarbeitet. Als wichtiges Ziel wird die Gewährleistung der Vergleichbarkeit der Leistungsmessungen sowohl auf der nationalen als auch auf der internationalen Ebene beschrieben (vgl. ebd. S. 54). Die Erneuerung des Pädagogenberufs und die Verbesserung seiner gesellschaftlichen Anerkennung stellt das Dokument als die wichtigste Voraussetzung der inhaltlichen Modernisierung des Schulsystems dar: „Die wichtigste Voraussetzung der Modernisierung der öffentlichen Erziehung ist die Erneuerung des Pädagogenberufs und damit gleichzeitig die Verbesserung der gesellschaftlichen Anerkennung der pädagogischen Arbeit. Wir wissen alle, dass ohne diese jegliche Entwicklungszielsetzung nur ein Traum bleibt“265 (ebd. S. 55).
In Bezug auf das zweite Hauptziel Erweiterung der Mittelschulbildung stellt der Plan zunächst die „wesentlichen Richtungen der Strukturveränderung“266 vor (ebd. S. 60). Es sei geplant, die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr auszudehnen. Die Erhöhung der Abiturientenzahl wird beschrieben als „die größte Zielsetzung und Aufgabe der ungarischen öffentlichen Bildung, die für die Entwicklung des 21. Jahrhunderts von elementarer Bedeutung ist“ (ebd. S. 67). Für die 262
„A pedagógusképzés és -továbbképzés átfogó korszerĦsítése és fejlesztése“ „Az Óvodai nevelés országos alapprogramja“ 264 „országos szakértĘi lista“ 265 „A közoktatás tartalmi modernizálódásának legfontosabb feltétele a pedagógusszakma megújítása s ezzel egyidĘben a pedagógusmunka társadalmi elismerésének a javítása. Valamennyien tudjuk, hogy enélkül puszta ábránd marad minden fejlesztési célkitĦzés.“ 266 „A szerkezeti átalakulás fĘ irányai“ 263
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Unterstützung der benachteiligten Schüler und Schülerinnen würden spezielle Zielprogramme sowie falls nötig spezielle Lehrpläne ausgearbeitet. Bei der Steuerung des Schulsystems würden die verschiedenen Bildungsebenen, die Lehrprogramme und die konkreten schulorganisatorischen Lösungen voneinander unterschieden. Es sollte allen Absolventen ermöglicht werden, einen Beruf zu erlernen. Die Entwicklung von Angeboten der Erwachsenenbildung/Weiterbildung nach Absolvierung des Pflichtschulsystems sollte eine hohe Priorität genießen. Zum Erreichen des dritten Hauptziels, nämlich der effektiveren Nutzung von Humankapital und der vorhandenen Finanzressourcen, werden ebenfalls konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie z. B. die Zusammenlegung von Schulen, die nicht genug Schüler vorweisen können oder die Ausarbeitung eines Finanzierungssystems, das die effektive Nutzung der Ressourcen belohnt (vgl. ebd. S. 75f.). Als nächstes werden die zur Verwirklichung dieser Ziele nötigen strukturellen Voraussetzungen und Mittel vorgestellt. Die Modernisierung der Bildungssteuerung wird dabei als wichtigste Rahmenbedingung und als Teil der allgemeinen Verwaltungsreform beschrieben: Die Aufteilung der Verantwortung zwischen mehreren Steuerungsebenen267 wird als „dauerhafter Rahmen“268 (ebd. S. 78) beschrieben. Aus diesem Grunde würde eine enge Kooperation mit den Akteuren der Zivilgesellschaft angestrebt, erstens als Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern (Regierung und lokale Selbstverwaltungen) und Arbeitnehmern (Gewerkschaft), zweitens als politische Verhandlung zwischen allen Beteiligten (Regierungsbehörden, Schulträger, Berufsverbände, Gewerkschaften, Elternvertretungen und Studentenorganisationen) und drittens als fachlich-pädagogische Koordination zwischen den Teilnehmern der Systementwicklung (Regierung, Forschungs- und Entwicklungsinstitute, Lehrerbildungsinstitutionen). Die Koordination zwischen den beteiligten Ministerien269 sowie die Zusammenarbeit mit anderen Ländern spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Die Kooperation auf den einzelnen bzw. zwischen den verschiedenen Steuerungsebenen wird als die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung des Schulsystems angesehen. Es wird angestrebt, für die pädagogischen Führungskräfte regelmäßige Weiterbildungsmaßnahmen sowie ein qualitativ hochwertiges pädagogisches Dienstleistungsnetz zu etablieren.
267
Vgl. Kapitel 3.2.2.2. „tartós keret“ 269 Typisch für Ungarn ist die Aufteilung der zentralen Steuerungsverantwortung auf mehrere Ministerien. Mehr dazu s. Kapitel 3.2.2.2. 268
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Dann werden die wichtigsten Mittel beschrieben, mit denen die zentrale Bildungssteuerung die Entwicklung beeinflussen kann.270 Das Dokument stellt fest, dass dies in Ungarn vor allem durch indirekte Mittel erreicht werden kann, wie z.B. die klare Formulierung von bildungspolitischen Strategien sowie ihre regelmäßige Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit (ebd. S. 83) oder die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen den Steuerungsebenen. Das wichtigste Mittel der zentralen Lehrplansteuerung seien der Nationale Grundlehrplan, das Landesprogramm der Kindergartenerziehung sowie die zentralen Prüfungsordnungen zum Abitur und zur Berufsbildung. Auch die juristische Regelung, vor allem die Gesetzgebung sei ein wichtiges Mittel der Bildungssteuerung. Als wirkungsvollstes Steuerungsmittel der lokalen bildungspolitischen Entscheidungen wird die Finanzierung angesehen (ebd. S. 86). Die Erfahrungen der vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass die lokalen Entscheidungsträger auf Veränderungen der Finanzierungspräferenzen „schnell und zuverlässig reagiert haben“271 (ebd.). Auch die Entwicklung der Planungskompetenzen der lokalen Entscheidungsträger sowie die Festlegung der Anforderungen an die Ausbildung der Pädagogen und die Unterstützung der pädagogischen Dienstleistungsorganisationen (z.B. Forschung, Entwicklung und Beratung) werden als effektive indirekte Steuerungsmittel definiert. Die Schaffung eines – mit den Datenbanken der EU und der OECD kompatiblen – statistischen Informationssystems und die intensive Zusammenarbeit mit diesen und anderen internationalen Organisationen werden ebenfalls als unumgänglich angesehen. Das Dokument macht auf die Wichtigkeit ständiger Kommunikation der Beteiligten der Schulsystementwicklung z.B. durch Medien, Fachzeitschriften und Konferenzen aufmerksam. Zum Schluss wird eine Vision der Schule der Zukunft entworfen. Diese wird maßgeblich durch die schnelle Verbreitung der neuen Medien und der Informationsgesellschaft charakterisiert. Im Mittelpunkt stünden die Schaffung einer breiten und soliden Allgemeinbildung sowie gut entwickelter Informations- und Kommunikationsfähigkeiten als Grundlagen zum ständigen Weiterlernen (ebd. S. 90). Das Dokument schließt mit einer Liste der Expertengutachten, die in das Dokument eingearbeitet wurden. In Bezug auf die Wahrnehmung der EU-Konzepte zum „Lebenslangen Lernen“ lässt sich vor allem die Wirkung des EU-Weißbuches aus dem Jahre 1995 konstatieren. Die Wirkung der Aktion „Europäisches Jahr des lebensbegleitenden Lernens“ auf das Dokument war eher gering: Da Ungarn zu diesem Zeitpunkt noch kein Mitglied der Europäischen Union war, konnte es an der Aktion nicht teilnehmen. In der ungarischen Bildungspolitik hatte die Aktion deswegen 270
Das Dokument beschäftigt sich auf sieben Seiten sehr ausführlich mit der Aufzählung dieser, meistens indirekten Steuerungsmittel. 271 „gyorsan és megbízhatóan reagáltak“
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
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keine nennenswerte Wirkung.272 Außer den statistischen Zusammenfassungen der OECD werden keine bildungspolitischen Konzepte anderer Organisationen als der EU miteinbezogen. Das Dokument wurde mit einem ausgeprägten Adaptationswunsch verfasst. Einerseits berücksichtigt es weitgehend das Konzept der Europäischen Union zum „Lebenslangen Lernen“, andererseits sucht es bei dessen Verwirklichung die Anpassungsmöglichkeiten an das eigene Bildungssystem (vor allem auf das Pflichtschulsystem bezogen). Die Wichtigkeit einer EU-konformen Entwicklung wird im Dokument nicht nur inhaltlich sondern auch stilistisch aufgezeigt: z.B. durch die Übernahme der Sprachlichkeit (Begriffe, Problem- und Lösungsformulierungen) der EU, vor allem aus dem Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft. Gelegentlich werden im Dokument auch direkte Zitate oder Hinweise eingestreut. Ein weiteres Merkmal des Dokumentes ist, dass es die übernommenen Aspekte des EU-Konzepts immer auf die speziellen ungarischen Verhältnisse bezieht. Dies zeigt sich auch auf der stilistischen Ebene: Die anfangs oft allgemein formulierten Aussagen werden immer wieder nach der Formel „Formulierung der Zielsetzung – Begründung der Zielsetzung – Vorschlag einer konkreten Maßnahme zur Lösung des Problems“ konkretisiert (vgl. Tabelle 19).
272
In der ungarischen erziehungswissenschaftlichen Diskussion wurde das „Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens“ erst nach der Jahrtausendwende thematisiert (vgl. Szabó Balázs 2000, Sz. Tóth 2004).
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Formulierung der Zielsetzung Begründung der Zielsetzung
Vorschlag einer konkreten Maßnahme zur Lösung des Problems
Unterstützung durch statistisches Material
„Die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Pädagogen“ 273 „Die wichtigste Grundvoraussetzung für die Modernisierung des öffentlichen Bildungssystems ist die wesentliche Erhöhung der Gehälter der Pädagogen sowie ein differenziertes Lohnsystem, das die Erfolg ihrer Arbeit berücksichtigt. Wenn es nicht gelingt, die in den letzten Jahren begonnene Senkung der Gehälter und der Lebensqualität der Pädagogen zu stoppen, können wir weder mit der im nationalen Grundlehrplan vorgeschriebenen fachlichen Erneuerung noch mit der Gewährleistung der alltäglichen pädagogischen Arbeit in den Schulen auf einem ausreichenden Niveau rechnen.“274 „Wir müssen darauf dringen, dass die lokalen Selbstverwaltungen als Schulträger die aus dem Beamtensystem resultierenden Gehaltsansprüche nur als Minimalansprüche ansehen und diese im Falle der Erfüllung von strengen Qualitätskriterien mit lokalen Mitteln ergänzen. Daneben ist ebenfalls nötig, dass wir für die Entlohnung der Mehrleistung der Pädagogen auch zentrale Finanzquellen frei machen“275 Verbesserung der Pädagogengehälter ebd. S. 29, Tabelle 9: Monatseinkommen einiger Berufe 1995276
Tabelle 19: Argumentationsformel des Dokuments „A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája“ (alle Beispiele s. MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 59) Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája ein detailliertes Konzept zur Entwicklung des öffentlichen Schulsystems vorstellt. Andere Bereiche des öffentlichen Bildungssystems wie z. B. Hochschulbildung oder Erwachsenenbildung/ Weiterbildung werden nur im Zusammenhang mit dem Pflichtschulsystem beachtet. Damit wird nur ein Teil des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ aufgegriffen. 273
„A pedagógusok élet- és munkakörülményeinek javítása“ „A pedagógusszakma megújításának alapvetĘ feltétele a pedagógusok keresetének érdemleges emelése és a munkájuk eredményességét figyelembe vevĘ differenciált bérezés. Amennyiben nem sikerül megállítani a pedagógusok bérének és életszínvonalának az elmút években elindult romlását, akkor nemcsak a Nemzeti Alapterv bevezetése által megkívánt szakmai megújulásra nem számíthatunk, de arra sem, hogy az iskolákban általában elfogadható színvonalú munka folyjék.“ 275 „Szorgalmazni kell, hogy az iskolafenntartó önkormányzatok a közalkalmazotti rendszerbĘl fakadó pedagógusi illetményigényeket minimális illetményeknek tekintsék, és szigorú minĘségi elvárások teljesítése esetén helyi forrásokkal egészítsék ki azokat. Emellett azonban arra is szükség van, hogy a pedagógusok többletteljesítményének az elismerésére központi forrásokat szabadítsunk fel.“ 276 „Egyes foglalkozások havi keresete 1995-ben“ – nach Angaben des Arbeitsministeriums (Munkaügyi Minisztérium). 274
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Die wichtigsten Tendenzen dieses Konzepts werden im folgenden Abschnitt herausgestellt. 3) Wesentliche Tendenzen Die wesentlichen Tendenzen des Strategischen Plans sind: a) die Akzeptanz der mehrpoligen Bildungssteuerungsstruktur als „dauerhafter Rahmen“, b) die Schwerpunktsetzung auf das Pflichtschulsystem dadurch, dass die Verbesserung der Chancengleichheit durch Erweiterung der Teilnahme an der Mittelschulbildung angestrebt wird sowie c) die Schaffung einer einheitlichen Lehrerausbildung.277 a) Staatliche Koordination in einer mehrpoligen Bildungssteuerung Die ungarischen Bildungsreformen werden in der internationalen Fachliteratur durch die Kontinuität der Bildungspolitik, durch die Nutzung von „best practice“, durch einen „top-down-approach“ sowie durch einen systematischen Reformansatz seit dem Systemwechsel charakterisiert (vgl. Birzea 2000)278. Das Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája stellt im Gegensatz dazu fest, dass im vergangenen Jahrzehnt (d. h. 1985–1996) die Entwicklung des Pflichtschulsystems nicht von der Regierung, sondern vor allem von den Bildungsinstitutionen und Pädagogen initiiert wurde. Als eine Folge davon entstanden einige „Innovationsinseln“279 mit großem Entwicklungspotenzial, deren Wirkung auf das gesamte Schulsystem nicht groß genug ist und deren fachliche Qualität ungleichmäßig bleibt. Daraus werden Konsequenzen gezogen: „Die lokalen und von den Bildungsinstitutionen initiierten Innovationen dürfen in der Zukunft nicht die einzigen Quellen der Entwicklung […] des Schulsystems bleiben. […] Die Entwicklung müssen wir auch mit aktiver staatlicher Politik unterstützen“280 (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 38). Das Dokument plädiert also für eine ausgeprägte staatliche Koordination bei der Modernisierung des öffentlichen Schulsystems, allerdings im Rahmen einer mehrpoligen Bildungssteuerungsstruktur als „dauerhafter Rahmen“ (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 78): 277
Die Themen Erweiterung der Teilnahme an der Mittelschulbildung sowie die Verbesserung der Lehrerbildung wurden später in Bezug auf die Beschleunigung der Reformen im Rahmen des Neubeginns der Lissabon-Strategie als wichtige Modernisierungsmaßnahmen europaweit beschrieben (vgl. Council of the European Union 2004). Vgl. Kapitel 3.1.4. 278 Vgl. Kapitel 3.2.2.2. 279 „innovációs szigetek“ 280 „A jövĘben azonban a helyi-intézményi innovációk nem maradhatnak a közoktatás fejlĘdésének […] kizárólagos forrásai. […] A fejlĘdést tehát aktív állami politikával is támogatnunk kell.“
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„Die Bildungspolitik muss damit rechnen, dass das System der Verantwortungsteilung zwischen den zentralen, regionalen und lokalen Ebenen dauerhaft erhalten bleibt. […] Deswegen lohnt es sich nur solche bildungspolitische Zielsetzungen zu formulieren, die auch in einem solchen Kraftfeld verwirklichbar sind, bzw. diese Ziele können nur durch solche Mittel verwirklicht werden, die in diesem Kraftfeld effektiv nutzbar sind“281 (ebd.).
Die mehrpolige Steuerungsstruktur des ungarischen Bildungssystems entstand nach dem demokratischen Systemwechsel und ist durch eine eigentümliche Koinzidenz gekennzeichnet: "Die Schulen werden nicht vom Staat, sondern von den verschiedenen privaten und Rechtspersonen sowie vor allem von Selbstverwaltungen gegründet. Dadurch wird eine neoliberale Bildungspolitik verhindert, denn die Schulen bleiben öffentliche Institutionen und die Lehrer (und die anderen Bediensteten) öffentliche Angestellte. Aber auch eine zentrale Bildungspolitik wird dadurch verhindert, denn die Schulen unterstehen dem jeweiligen Träger; dieser – und nicht der Staat – trägt die Verantwortung. Diese widerspruchsvolle Lage entstand unmittelbar nach der Wende und gilt als einmalig in der mittel- und osteuropäischen Region" (Kozma/Rébay 2002, S. 598).
Die Struktur ist ein Ergebnis der unterschiedlichen bildungspolitischen Reformvorstellungen der wichtigsten ungarischen politischen Parteien: Seit dem Systemwechsel der vollzogenen Demonopolisierung des ungarischen Bildungssystems besteht „ein latentes Spannungsverhältnis zwischen Dezentralisierungsund Autonomiebestrebungen als Voraussetzung einer umfassenden Demokratisierung und Liberalisierung des Bildungswesens einerseits und neokonservativen politischen Bemühungen, das Bildungswesen an nationalen und christlichen Werten auszurichten und in diesem Sinne zu rezentralisieren, andererseits" (Jach 1999, S. 415). Als wichtigster Vorteil dieser Steuerungsstruktur wird angesehen, dass Erziehung und Bildung zur Angelegenheit der lokalen Gemeinde werden, der Nachteil darin, dass das nationale Bildungssystem in verschiedene lokale Bildungssysteme auseinander fallen kann. Das Dokument betont mehrmals, dass die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Steuerungsebenen eine Grundvoraussetzung des reibungslosen Funktionierens des Bildungssystems ist. Diese Schwerpunktsetzung des Dokuments bezieht sich explizit auf die nationalen Besonderheiten der ungarischen Bildungssteuerung. Dies zeigt, dass das Dokument zwar Ansätze und Empfehlungen der EU weitgehend berücksichtigt, aber deren Verwirklichung im Rahmen der eigenen nationalen Gestaltungsmöglichkeiten anstrebt. 281
„Az ágazati politikának azzal kell számolnia, hogy a központi és területi, illetve helyi szint közötti felelĘsségmegosztás rendszere tartósan fennmarad. […] Ezért csak olyan közoktatási ágazati célkitĦzéseket érdemes megfogalmazni, amelyek egy ilyen erĘtérben is érvényre juttathatók, illetve e célokat olyan eszközökkel kell érvényre juttatni, amelyek ebben az erĘtérben is hatékonyan alkalmazhatóak.“
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b) Chancengleichheit durch Erweiterung der Mittelschulbildung Ein zentraler Punkt des Dokumentes ist die Verbesserung der Chancengleichheit. Diese wird durch die Erweiterung der Mittelschulbildung angestrebt. Innerhalb der Erweiterung der Mittelschulbildung werden zwei Teilziele verfolgt: die Erhöhung der Zahl der Abiturienten sowie die gezielte Unterstützung der benachteiligten Schüler und Schülerinnen. Als wichtigste Veränderung wird geplant, die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr auszudehnen, also die gemeinsame Zeitspanne von Grund- und Mittelschulbildung allgemein auf 12 Jahre zu heben, wobei diese 12 Jahre auf drei Bildungsebenen verbracht werden: Grundbildung, untere und obere Ebene der Mittelschulbildung282 (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 62). „Die Ausdehnung der Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr ist eine Zielsetzung, die längerfristig verwirklicht wird. Deswegen muss ihre konkrete Form in der Zukunft ausgearbeitet werden. Die im Juli 1996 angenommene Modifizierung des Volksbildungsgesetzes erhöhte das Pflichtschulalter von 16 auf 18. Dies betrifft aber nur diejenigen, die 1998 in das Schulsystem eintreten, also den 10. Jahrgang der Grundbildung erst 2009 beenden werden. In den kommenden zehn Jahren müssen wir also weiterhin mit einer Schulpflicht bis zum 16. Lebensjahr rechnen. Danach ist wahrscheinlich, dass die Mehrheit der 16-bis 18-jährigen Jugendlichen ihr Abitur absolvieren wird und der Großteil von ihnen weiterhin in Bildungsinstitutionen mit beruflicher Orientierung eintreten wird“283 (ebd. S. 61).
Die untere Stufe der Mittelschulbildung kann innerhalb des schulpflichtigen Alters absolviert werden und die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schulformen, die alle dieselben Anforderungen erfüllen müssen, ist gewährleistet (ebd. S. 63). Im Rahmen der Grundbildung werden die Schüler nicht gezwungen, ihre zukünftige Berufslaufbahn festzulegen und die Berufsbildung findet zwar tendenziell außerhalb des Pflichtschulsystems statt, aber bleibt weiterhin auch innerhalb absolvierbar. Die Abschlussphase der Mittelschulbildung soll sowohl den jeweiligen Berufswunsch der Absolventen, als auch die Bedürfnisse des Hochschulsystems, der beruflichen Bildung sowie des Arbeitsmarktes berücksichtigen. Es wird angestrebt, dass die Anfangsphase der Schulbildung von allen Schülern und Schülerinnen in der Nähe ihres Wohnortes absolviert werden kann. In kleineren Ortschaften soll die niveauvolle und kostengünstige Gewähr282
„A 12 évfolyamos iskolázás három világosan elkülöníthetĘ képzési szintet foglal magába: az iskolai kezdĘ szakaszt, az alsó-középfokú és a felsĘ-középfokú oktatást.“ 283 „A tankötelezettség felemelése 18 évre hosszabb távon megvalósuló célkitĦzés, melynek konkrét formáját a jövĘben kell kialakítani. A tankötelezettségi életkort a közoktatási törvény 1996 júliusában elfogadott módosítása 16 évrĘl 18 évre emelte. Ez azonban csak azokat érinti, akik 1998ban vagy ezt követĘen lépnek be az oktatásba, tehát 2009-ben vagy azután fejezik az általános alapoktatás 10. évfolyamát. Az elkövetkezĘ tíz évben tehát továbbra is a 16 éves korig tartó tankötelezettséggel kell számolnunk. Ezt követĘen valószínĦ, hogy a 16–18 éves fiatalok többsége részesül majd érettségit adó középiskolai oktatásban, és nagyobb részük továbbra is szakmai irányultságú oktatási intézményekbe lép be.“
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leistung der Grundbildung durch die Kooperation der lokalen Selbstverwaltungen ermöglicht werden (ebd.). Weitere wichtige Zielsetzungen sind die allgemeinbildende Ausrichtung der Pflichtschulzeit, die Durchlässigkeit zwischen den beteiligten Schulformen und Schultypen sowie die einheitlichen Grundanforderungen an diese (vgl. ebd. S. 61ff). Das Dokument vermutet, dass mit der zunehmenden Massenbildung im Mittelschulbereich auch solche Schüler und Schülerinnen in die Schulen kommen, „deren Interessen, Selbstdisziplin und von Zuhause mitgebrachte Normen sich von dem bisher Gewohnten unterscheiden können“284 (ebd. S. 56). Diese Situation bedeutet neue Herausforderungen für die Pädagogen, die auch in der Pädagogenaus- und Weiterbildung Konsequenzen haben müssten. Es sollte eine einheitliche Lehrerbildung geschaffen werden. c) Einheitlichkeit der Lehrerausbildung Die Schaffung einer einheitlichen Pädagogenbildung wird vom Dokument als „die wichtigste Aufgabe der Modernisierung der Pädagogenausbildung“285 (ebd. S. 57) angesehen. Die angestrebte Einheitlichkeit meint eine Ausbildung auf universitärem Niveau, in deren Mittelpunkt nicht die akademische theoretische Vorbereitung, sondern die Entwicklung der für die spätere Berufsausübung nötigen pädagogischen Kompetenzen steht. Dadurch würde die Wichtigkeit der Lehrpraktika und der Übungsschulen erhöht. Auch die Möglichkeiten internationaler Kooperationen sollten diesbezüglich ausgeschöpft werden. Der Weiterbildung der Pädagogen wird eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des Schulsystems zugesprochen (ebd. S. 58). Der konkreten Verwirklichungsform gibt das Dokument einen ziemlich großen Spielraum: „Die auf universitäres Niveau gehobene einheitliche Lehrerausbildung muss aus der Massenbildungstendenz der Hochschulbildung herausgenommen werden. Die erneuerte Lehrerausbildung soll eine den zukünftigen Bedarf beachtende, anspruchsvolle und auf einem hohen Niveau verwirklichte pädagogische Fachausbildung darstellen. […] In der auf die pädagogische Berufsausübung vorbereitenden Ausbildung soll der Schwerpunkt nicht auf die historische Betrachtung der Pädagogik, sondern auf die Aneignung der praktischen Unterrichtsfertigkeiten und des beruflichen Wissens gelegt werden 286 (ebd.).
284
„Akiknek érdeklĘdése, önfegyelme, otthonról hozott normái eltérhetnek a megszokottól.“ „A pedagógusképzés korszerĦsítésének legfontosabb feladata“ 286 „Az egyetemi szintre emelt egységes tanárképzést ki kell vonni a felsĘoktatásnak a tömegoktatás felé tartó áramlatából. A megújuló tanárképzésben a várható keresletet figyelembe vevĘ, magas színvonalú és követelményĦ pedagógiai szakképzést kell megteremteni. […] A pedagógusmesterségre felkészítĘ képzésben a fĘ hangsúlyt nem a pedagógia történeti szempontú megközelítésére, hanem a gyakorlati tanítási készségek és a mesterségbeli tudás elsajátítására kell helyezni.“ 285
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Ein wichtiges Vorhaben ist die Annäherung der Grundschullehrerausbildung und der Erzieherausbildung287: „Ein wichtiges Element der beginnenden Veränderungen in der Pädagogenausbildung ist die Harmonisierung der Ausbildungsanforderungen der Kindergartenpädagogen und der Grundschul- und Mittelschullehrer in Bezug auf die veränderten Ansprüche des Bildungssystems. Auf diesem Gebiet soll ein besonderes Augenmerk auf die Ausarbeitung einer Hochschulausbildung gelegt werden, die die Elemente der Kindergartenpädagogik und der Grundschulpädagogik miteinander verbindet“288 (ebd. S. 58).
Neben der einheitlichen Lehrerausbildung sollen noch eine wesentliche Gehaltserhöhung sowie ein nach Erfolg ausgerichtetes Belohnungssystem zur langfristigen Qualitätssicherung der pädagogischen Arbeit und der positiven Entwicklung des öffentlichen Bildungssystems beitragen. Das Dokument strebt an, eine kleinere, aber besser gebildete und bezahlte Pädagogengemeinschaft zu schaffen. Dazu gehört die Einführung einer „Eignungsphase“, 289 in der die Berufsanfänger noch im Referendarstatus bleiben und erst danach verbeamtet werden sollen. Zusammenfassend lässt sich das Verständnis des Dokuments vom lebenslangen Lernen durch eine Pflichtschulsystemzentriertheit charakterisieren. Das Dokument bezieht sich nicht auf das gesamte Bildungssystem. Es strebt an, den Bereich Pflichtschulsystem zu modernisieren, beschränkt sich also auf einen Teil des Bildungssystems und des lebenslangen Lernens. Deshalb kann es nicht als umfassendes Gesamtkonzept zur Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ angesehen werden. Die Interpretation zeigt eher Richtung minimalistische Auffassung, indem das lebenslange Lernen vor allem als institutionalisiertes Lernen erscheint und die Betrachtung und Entwicklung konkreter Strukturen und Institutionen des Bildungssystems im Mittelpunkt steht. Im Dokument fehlen des Weiteren Konzepte oder best-practice-Beispiele anderer Länder in und außerhalb Europas. Zum Thema „internationale Kooperation“290 merkt das Dokument an, dass Ungarn sich vor allem „auf seine aktive Mitgliedschaft in der Europäischen Union und in der OECD vorbereiten soll“ 291 (ebd. S. 89). OECD-Dokumente über Lebenslanges Lernen werden explizit nicht erwähnt. 287
Jochen Fuchs betont, dass es in Ungarn keine Kindergärtnerinnen im deutschen Sinne gibt (vgl. Fuchs 2001, S. 35). Die ungarische Erzieherausbildung erfolgt auf Hochschulniveau. Vgl. Kapitel 3.2. 288 „A pedagógusképzésben meginduló változások fontos eleme az óvodapedagógusok, tanítók és tanárok képesítési követelményeinek összehangolása az oktatás változó igényeivel. E téren külön figyelmet érdemel az óvodapedagógia és a tanítói szakma elemeit ötvözĘ felsĘfokú képzés kialakítása.“ 289 „beválási szakasz“ 290 „nemzetközi együttmĦködés“ 291 „Különösen fontos ez Magyarország számára, amelynek jó elĘre fel kell készülnie az Európai Unióhoz való csatlakozásra, és […] az OECD-ben való aktív szerepvállalásra.“
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Über die Adaptationsdimension des Dokuments lässt sich feststellen, dass es die Argumentation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ nicht nur wahrgenommen hat, sondern sich mit dieser ernsthaft auseinandergesetzt hat. Außerdem wird hier ein ausgeprägter Adaptationswunsch geäußert, der aus der konkreten gesellschafts- und bildungspolitischen Lage Ungarns resultiert. Das Land bemüht sich einerseits um die Aufnahme in die EU und muss sich deshalb an die – noch nicht verbindlichen – Regelungen und Normen der Union anpassen: „Obwohl auf dem Gebiet der Erziehung und Bildung im Gegensatz zu anderen Gebieten noch keine verbindlichen europäischen Regeln formuliert wurden, ist die Anpassung auch hier unvermeidbar“292 (ebd. S. 11). Andererseits werden die EU-Normen als zuverlässige Leitlinien und Orientierungspunkte in der Umbruchsituation nach dem demokratischen Systemwechsel betrachtet: „Für Ungarn wie auch für andere Länder unserer Region ist es eine Überlebensfrage, unsere gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung durch den Beitritt in die Europäische Union zu fundieren“293 (ebd. S. 41). Die EU-konforme Entwicklung des Bildungssystems wird also als alternativlose Zukunftsvision akzeptiert. Das Dokument bezieht sich deshalb inhaltlich sehr stark auf das EU-Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft aus dem Jahre 1995 und dessen Argumentation. Auch die im Dokument explizit zitierten fünf Prioritäten des EU-Weißbuches (Europäische Kommission 1995, S. 53)294 sind in den ungarischen Zielsetzungen unschwer zu erkennen. In Bezug auf die Förderung der Aneignung neuer Kenntnisse werden – wie im EU-Dokument – vor allem die neuen Anforderungen einer Informationsgesellschaft und die Fremdsprachen erwähnt. Zum Thema Annäherung von Schule und Unternehmen wird betont, dass die Schulabgänger über solche Kenntnisse verfügen müssen, die der Arbeitsmarkt benötigt. Die Rolle des privaten Sektors bei der Finanzierung des Bildungssystems wird dagegen nicht thematisiert. Die Überlegungen zur Stärkung der Investitionen in Erziehung und Bildung bzw. zur effektiveren Nutzung der schon vorhandenen Mittel beschränken sich auf die staatliche Finanzierung. Wie oben dargestellt, steht die Bekämpfung von Ausgrenzung als Maßnahme zur Verwirklichung der Chancengleichheit im Mittelpunkt des Dokuments (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 39f.). 292 „A társadalmi élet más területeihez hasonlóan az oktatás számára is jelentĘs kihívást jelent az európai integrációs folyamatba való bekapcsolódásunk. Az oktatás területén ugyan mind ez idáig nem fogalmazódtak meg olyan kényszerítĘ erejĦ európai szabályok, mint más területeken, az alkalmazkodás itt is elkerülhetetlen.“ 293 „Hazánk és a régió más országai számára is létkérdés, hogy az Európai Unióhoz való csatlakozással is megalapozzuk társadalmi és gazdasági fejlĘdésünket.“ 294 Vgl. Kapitel 3.1.2.2.
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
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Die andere Seite der Adaptationsdimension des Dokuments stellt die selektive Interpretation des EU-Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ dar. Wie oben dargestellt, bezieht sich das Dokument lediglich auf den Bereich des Pflichtschulsystems und lässt damit den umfassenden Anspruch des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ zur Reformierung des gesamten Bildungssystems außer Acht. Auch die Schwerpunktsetzung auf die berufliche Bildung bzw. Weiterbildung ist im ungarischen Dokument nicht wieder zu finden. Nicht-institutionalisierte Lernformen werden nicht mal erwähnt. Dieser selektive Umgang mit dem Konzept hat einen pragmatischen Grund: Mit dem Systemwechsel zerfiel das einheitlich organisierte sozialistische Pflichtschulsystem295 und musste dringend nach den demokratischen Prinzipien reorganisiert werden. Bei dieser Reorganisation war die ungarische Bildungspolitik bereit und gewillt, die EU-Normen zum Maßstab zu machen. Das zentrale Vorhaben des Dokuments ist also, sehr konkrete bildungspolitische Maßnahmen – im Einklang mit den EU-Vorgaben – zu verwirklichen. Im Gegensatz zu den Überlegungen der EU-Weißbücher, die eine utilitaristische und stark ökonomisch orientierte Auffassung des lebenslangen Lernens propagieren, die durch die Zielsetzung der sozialen Kohäsion ergänzt wird, bekommt das Thema soziale Kohäsion im ungarischen Dokument eindeutig den Vorrang vor ökonomischen Überlegungen, die die Lernenden in erster Linie als Humankapital begreifen. Es wird zwar betont, dass ein effektives Bildungssystem helfen kann, die angeschlagene wirtschaftliche Situation des Landes zu verbessern. Aber im Vordergrund der Maßnahmen steht der demokratische Umbau des Bildungssystems, dessen Hauptaufgabe darin gesehen wird, dass es „die Stärkung einer modernen und demokratischen gesellschaftlichen Kultur vorantreibt“ (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 10). Auch die Wichtigkeit von Maßnahmen gegen gesellschaftliche Ausgrenzung, vor allem von Kindern mit Behinderung, wird immer wieder betont. Diese Schwerpunktsetzung kann einerseits als ein Erbe des sozialistischen klassenlosen Gesellschaftsideals angesehen werden. Andererseits wird die demokratische Kultur als wesentlicher Bestandteil einer europäischen Identität definiert. Neben der starken EU-Konformität des Konzepts ist also die sog. soziale bzw. wohlfahrtsstaatliche Erziehungsphilosophie, die das Dokument vertritt, sehr auffällig. Diese fasst Bildung als kulturelles Kapital, als Gemeinschaftsinteresse auf, dessen Regelung nicht dem Markt überlassen werden darf: „Effektivität im Bereich der öffentlichen Bildung [darf] nicht ausschließlich unter finanziellen Gesichtspunkten gesehen werden. […] Die Schule ist nicht dann effektiv, wenn sie billig ist, sondern wenn sie den Schülern auf einem ausreichenden Niveau gesellschaftlich relevantes Wissen vermittelt“296 (ebd. S. 77). 295 296
Vgl. Kapitel 3.2.2. Fontos hangsúlyoznunk, hogy a hatékonyság fogalmát a közoktatás területén nem lehet kizárólag
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Diese Sichtweise ist teilweise ein Erbe der sozialistischen Gesellschaftsordnung, die die zentrale Organisation und Steuerung u. a. des Bildungssystems präferierte, teilweise entspricht sie dem Programm der regierenden Sozialistischen Partei. Als Schlussfolgerung wird noch mal betont, dass das Dokument anstrebt, „den Paradigmenwechsel [zum Lebenslangen Lernen] widerzuspiegeln. Die Entwicklungsziele weisen über die Reformversuche und -diskussionen der vergangenen Jahrzehnte und auch über das zu seinem Ende kommende 20. Jahrhundert hinaus. Das Dokument zeigt Rahmen, Hauptrichtungen und Methoden der kontinuierlichen Entwicklung des öffentlichen Schulsystems auf. Aufgrund dessen werden die Fachlichkeit der Bildungs- und Erziehungsarbeit sowie die Ausarbeitung und Anwendung der dazu dienlichen Mittel und Methoden die nächsten 10–15 Jahre bestimmen“297 (ebd. S. 91).
4.2.3 Zusammenfassung und Vergleich Im Folgenden werden zunächst die wichtigsten Gemeinsamkeiten und dann die relevanten Unterschiede der analysierten bildungspolitischen Dokumente vorgestellt. Sowohl Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik als auch A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája sind strategische Dokumente, die für das ganze Land (in der BRD für alle Bundesländer) Leitlinien für die zukünftige Bildungspolitik im 21. Jahrhundert formulieren. Für beide Dokumente ist „eine Aufbruchstimmung im Hinblick auf die kommende Jahrtausendwende […] [charakteristisch]. Die Notwendigkeit, zu dieser Zeit eine Neuorientierung und Überdenkung von Erziehungsaufgaben und Systemstrukturen mit starker zukünftiger Perspektive zu formulieren, scheint in nicht zu unterschätzender Weise in der ´magischen´ Jahreszahl 2000 zu liegen“ (Gerlach 2000, S. 101).
Beide Dokumente wurden vom jeweils zuständigen Ministerium herausgegeben: in Deutschland vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie und in Ungarn vom MĦvelĘdési és Oktatási Minisztérium. Logik und Aufbau beider Dokumente können durch die Beschreibung aus dem unpénzügyi szempontból értelmezni. […] Nem akkor hatékony az iskola, ha olcsón mĦködik, hanem akkor, ha tanulóinak társadalmilag releváns tudást és értéket ad át, s ha ezt megfelelĘ színvonalon teszi. 297 „A közoktatás fejlesztési stratégiájának dokumentuma arra törekszik, hogy visszatükrözze ezt a fordulatot. A fejlesztési célok túllépnek az elĘzĘ évtizedek egymást követĘ oktatási reformkísérletein és vitáin, és túlmutatnak a végéhez közeledĘ XX. századon. A dokumentum a közoktatás folyamatos fejlesztésének kereteit, a fejlesztés fĘ irányait és módszereit jelöli ki. Ennek alapján a közoktatás fejlĘdését a következĘ tíz-tizenöt évben az oktató-nevelĘ munka szakszerĦsége, és az ezt szolgáló eszközök és módszerek kidolgozása és alkalmazása fogja meghatározni.“
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
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garischen Dokument „Auf die Diagnose folgen die Therapievorschläge“298 (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 11) charakterisiert werden. Beide Dokumente beziehen sich auf europäische Konzepte zum Lebenslangen Lernen. Das deutsche Dokument stellt in Kapitel 3 die wichtigsten Thesen des Europarats, der UNESCO, des Club of Rome, der OECD und der Europäischen Union bezüglich des „Lebenslangen Lernens“ vor. Auch Konzeptionen der Weltbank bezüglich des Hochschulsystems werden vorgestellt. Außerdem fanden zahlreiche nationale Konzepte (u.a. aus Japan, Finnland, Schweden und den USA) ihren Weg in das Dokument. Das ungarische Dokument erwähnt explizit den Delors-Bericht, die Weißbücher der Europäischen Union von 1994 und 1995 sowie den Bericht Priorities and Strategies for Education der Weltbank (ebd. S. 5). Aus dem EU-Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft aus dem Jahre 1995 werden dabei auch inhaltliche Elemente wie die fünf Prioritäten der Bildungspolitik299 aufgegriffen (ebd. S. 41). Beide Dokumente betonen, dass das Konzept „Lebenslanges Lernen“ Wertorientierung beinhalten soll. Der wichtigste Unterschied zwischen dem deutschen und dem ungarischen Dokument besteht darin, dass sich die Veröffentlichung Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik tendenziell auf alle Bereiche des Bildungswesens bezieht, während sich das Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája schwerpunktmäßig auf das Pflichtschulsystem konzentriert und andere Bereiche nur in diesem Zusammenhang beachtet. Beim deutschen Dokument beinhaltet schon der Titel den Begriff „Lebenslanges Lernen“, beim ungarischen aber nicht. Hier wird erst auf Seite 40 die Leitidee erwähnt, als wichtige Überlebensstrategie aus dem Erfahrungsschatz der westlichen Industrieländer: „Die Erfahrungen der gut entwickelten Industrieländer zeigen nicht nur, dass die Weiterbildung der Arbeitskräfte und deren damit zusammenhängende Flexibilität die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend prägt. Diese Erfahrungen zeigen auch, dass sich in einer sich schnell verändernden wirtschaftlichen Umwelt nur solche Länder und gesellschaftliche Gruppen über Wasser halten können, die fähig sind, ihr Wissen zu erneuern und die Voraussetzungen für Lebenslanges Lernen (Hervorhebung im Original) zu schaffen“300 (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996, S. 40).
298
„A diagnózist követi a terápia“ Vgl. Kapitel 3.1.2.2. 300 „A fejlett piacgazdaságok tapasztalatai nemcsak azt mutatják, hogy a munkaerĘ képezhetĘsége és ezzel összefüggĘ alkalmazkodóképessége döntĘen meghatározza a versenyképességet. E tapasztalatok arra is intenek, hogy a gyorsan változó gazdasági környezetben csak azoknak az országoknak és társadalmi csoportoknak van esélyük a talpon maradásra, amelyek képesek megújítani tudásukat, képesek az élethosszig tartó tanulás feltételeinek a megteremtésére“ (Hervorhebung im Original). 299
184
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Während das deutsche Dokument erst eine Diskussionsvorlage ist, stellt das ungarische Dokument schon das Ergebnis einer öffentlichen Diskussion dar. Es handelt sich also bereits um einen strategischen bildungspolitischen Plan. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht im deutschen Dokument das informelle,301 im ungarischen das formale Lernen.302 Dementsprechend werden die Entwicklungsmöglichkeiten im Ersteren zur Selbststeuerung und Selbstorganisierung des Lernens, im Letzteren zur Verbesserung schulischen Lernens ausführlich erörtert. Der ungarische Strategische Plan strebt eine Adaptation der EU-Konzepte an, indem er versucht, einerseits den EU-Normen zu entsprechen und andererseits die konkreten bildungspolitischen Maßnahmen auf die aktuelle nationale Situation und die jeweiligen Probleme „maßzuschneidern“, wie z.B. in Bezug auf die Verbeamtung und Vergütung der Lehrerschaft. 303 Wie oben dargestellt wurde, wird im Dokument die Anpassung der eigenen bildungspolitischen Maßnahmen an die EU-Vorgaben immer wieder betont. Das deutsche Dokument dagegen betrachtet die EU-Empfehlungen nur als „günstige Anknüpfungspunkte für Reformansätze“ (Dohmen 1996, S. 7): „Das ´Lebenslange Lernen´ könnte m. E. auf dem Hintergrund der hier in einem selektiv exemplarisch zusammenfassenden Überblick skizzierten Entwicklung der internationalen Diskussion auch in Deutschland zum Anstoß für eine neue Bildungsreformbewegung werden, die eine für die kreative humane Bewältigung akuter Umbruchprobleme notwendige breitere Kompetenzerschließung möglich macht“ (ebd. S. 28).
Günther Dohmen untersucht die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ vor allem aus der Perspektive der Individuen, inwiefern es als eigenständige menschliche Grundtätigkeit helfen kann, für die Menschen sinnerfüllte Lebensperspektiven wie verlässliche wirtschaftliche Lebensgrundlagen zu erschließen (Dohmen 1996, S. 72f.). Das ungarische Dokument diskutiert dieselbe Frage aus einer kollektiven Perspektive der ungarischen Gesellschaft. Hier steht die soziale Kohäsion im Mittelpunkt und dementsprechend werden die Anpassungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Menschen betont, als wichtigste Voraussetzungen einer gut funktionierenden Gesellschaft und Wirtschaft: 301
Informelles Lernen wird im Dokument selbst definiert als „nicht in planmäßig geregelten, aus anderen Lebenstätigkeiten herausgelösten besonderen Bildungsveranstaltungen, sondern [welche, die] ungeregelt im Lebenszusammenhang stattfinden“ (Dohmen 1996, S. 29). 302 Formales Lernen wird „als ein von Bildungsinstitutionen veranstaltetes, planmäßig strukturiertes Lernen bezeichnet, das zu anerkannten Abschlüssen und Zertifikaten führt“ (ebd.). 303 Diese Beispiele habe ich herausgegriffen, weil sie die unterschiedliche Lage im Vergleich zu Deutschland verdeutlichen. In der BRD gibt es zwar seit einigen Jahren gegenläufige Tendenzen, kann eine Verbeamtung der Lehrkräfte aber (noch) als durchaus üblich angesehen werden. Wie auch ihre Entlohnung – gegenüber der damaligen Lage der ungarischen Pädagogen – sehr deutlich über dem Mindesteinkommen liegt.
4.2 Bildungspolitische Dokumente aus dem „Europäischen Jahr lebensbegleitenden Lernens“
185
„Heute ist es wichtiger denn je, eine breite und solide Allgemeinbildung sowie gut entwickelte Informations- und Kommunikationsfähigkeiten zu schaffen, und dadurch das ständige Weiterlernen während des gesamten Lebenslaufs zu stärken. Dies sind die Voraussetzungen für die Ausbildung von Arbeitskräften eines neuen Typs, der kreativ und flexibel ist, und der sich dem schnellen Wandel der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Anforderungen am Arbeitsplatz anpassen kann“ 304 (ebd. S. 90).
Das ungarische Dokument bezieht sich ausschließlich auf den europäischen Kontext Lebenslangen Lernens, und innerhalb dessen vor allem auf die Konzepte der Europäischen Union. Das deutsche Dokument dagegen behandelt das Thema in einem breiteren, internationalen Kontext: u. a. werden amerikanische und japanische Konzepte in die Überlegungen miteinbezogen. Hier werden – im Gegensatz zu dem ungarischen Dokument – auch zahlreiche konkrete best-practice-Beispiele aus mehreren Ländern (USA, Schweden, Finnland, Japan usw.) vorgestellt. Günther Dohmens konzeptionelle Überlegungen bleiben auf einer sehr allgemeinen Ebene und lassen selten einen konkreten Bezug zu Deutschland erkennen. Das ungarische Dokument dagegen beinhaltet sehr konkrete bildungspolitische Situationsanalysen und Lösungsvorschläge für Ungarn. Dieser Unterschied resultiert u. a. aus der unterschiedlichen Funktion der Dokumente: Das deutsche Dokument ist eine wissenschaftlich fundierte erste Diskussionsgrundlage, die eine starke Gewichtung der theoretischen Perspektive aufzeigt. Konkrete bildungspolitische Anregungen stehen dabei im Hintergrund. Diese Unterschiede tragen u. a. der unterschiedlichen Kompetenzverteilung der deutschen und ungarischen Bildungssteuerung Rechnung: Im Gegensatz zum BMBF, das aufgrund der föderalistischen Bildungsorganisation und der Kulturhoheit der Bundesländer nur koordinierende Aufgaben innehat und deshalb nur Empfehlungen aussprechen kann, verfügt das ungarische Bildungsministerium über die Kompetenzen, konkrete bildungspolitische Maßnahmen anzuordnen.305 Das ungarische Dokument ist ein ausgearbeiteter strategischer Plan, der sich weniger um die wissenschaftliche Fundierung seiner vorgeschlagenen Maßnahmen als um die Beschreibung konkreter Handlungsoptionen bemüht. Für Günther Dohmen ist ein wissenschaftlicher Schreibstil charakteristisch, mit Zitaten und Literaturhinweisen. Dabei bezieht er sich vor allem auf die erziehungswissenschaftliche Fachliteratur im Bereich Erwachsenenbildung/ Weiterbildung. Das ungarische Dokument ist ein bildungspolitisches Dokument im 304
„A korábbinál is fontosabb a széles körĦ és szilárd alapmĦveltség, valamint az információszerzés képességének és a kommunikációs készségeknek a kialakítása, s ennek alapján az életpálya alatti folyamatos továbbtanulás erĘsítése. Ezek a feltételei az új típusú, kreatív és rugalmas munkaerĘ képzésének, amely a társadalmi munkamegosztás és a munkahelyi követelmények gyors változásaihoz igazodni tud.“ 305 Vgl. Kapitel 3.2.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
klassischen Sinne, ohne Zitate und Literaturangaben, aber dafür mit ausführlichem statistischem Begleitmaterial. Obwohl beide Dokumente die Wichtigkeit einer Wertorientierung betonen, gibt es große Unterschiede bezüglich der Frage, welche Werte als Orientierung dienen sollten: Das deutsche Dokument betont, dass in „einer freien, pluralistischen, multikulturellen Gesellschaft es nicht möglich [ist], verbindliche Wertorientierungen für das lebenslange Lernen vorzugeben“ (Dohmen 1996, S. 7). Deswegen plädiert es für eine „wenigstens formale Wertorientierung“ (ebd.) des Konzepts. Das ungarische Dokument plädiert explizit für die Orientierung an Werten der Europäischen Union: „[…] es [ist] unverzichtbar, dass im Prozess der inhaltlichen Modernisierung solche Lernplanelemente und Erziehungswerte eine größere Aufmerksamkeit bekommen, die in unseren Schülern und Schülerinnen das Bewusstsein der Zugehörigkeit zur modernen europäischen Gesellschaft stärken“306 (ebd. S. 59). Für Ungarn als Beitrittskandidaten erschienen 1996 die bildungspolitischen Leitlinien der Europäischen Union verbindlicher als für den Mitgliedsstaat Deutschland. Die Vorbereitung auf den Beitritt übte also einen viel größeren Druck aus, denn die Beitrittskandidaten mussten erst ihre `Eignung` beweisen, den Aufnahmekriterien zu entsprechen. Diese Situation erklärt aber nur teilweise, warum sich Ungarn so schnell307 mit den bildungspolitischen Leitlinien der EU beschäftigt hat. Die nach dem demokratischen Systemwechsel entstandene Umbruchsituation im Land erzeugte einen sehr starken Drang zur Veränderung. Die wirtschaftlichen und (bildungs)politischen Konzepte der Europäischen Union dienten für die ungarische Politik als Orientierung und Maßstab. Der durch den demokratischen Systemwechsel erzeugte Veränderungszwang wurde durch die Beitrittskandidatenschaft enorm verstärkt. Dieser doppelte Druck, von innen und von außen bewirkte, dass sich die ungarische (Bildungs)Politik schon von selbst an westeuropäischen Konzepten orientierte und die Leitlinien der Europäischen Union zu Eigen machte. Deutschlands längere Zugehörigkeit zur EU bewirkte keine schnellere Auseinandersetzung mit den bildungspolitischen Leitgedanken der Union oder sogar ihre schnellere Umsetzung. Im Gegenteil – die gesicherte Position erlaubte Deutschland eine kritische Haltung und langsamere Umsetzung. Aber – genauso wie die schnellere Auseinandersetzung und Übernahme der EU-Leitlinien in 306
„Ezért nélkülözhetetlen, hogy a tartalmi modernizáció folyamatában nagyobb figyelmet kapjanak mindazon tantervi elemek és nevelési értékek, amelyek a modern európai társadalomhoz való tartozásunk tudatát erĘsítik tanulóinkban.“ 307 Das erste EU-Dokument über nötige Veränderungen in der Bildungspolitik bzw. über Lebenslanges Lernen erschien im Jahre 1993 (vgl. Kapitel 1). Ein Jahr später wird in Ungarn schon eine öffentliche Debatte über diese Themen eröffnet.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
187
Ungarn nicht allein durch diese Position erklärt werden kann – spielten auch bei der deutschen Auseinandersetzung mehrere Faktoren zusammen. An dieser Stelle möchte ich die föderale Organisation des Landes hervorheben, die eine einheitliche Regelung bzw. schnelle Veränderungen im Bildungswesen deutlich erschwert. Zusammenfassend lässt sich über die analysierten Dokumente feststellen, dass die bildungspolitische Auseinandersetzung mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ in beiden Ländern stark eingeschränkt geführt wurde: In Deutschland fand eine eher allgemeine Diskussion statt. Zwar gab es einen umfassenden Anspruch auf Modernisierung des gesamten Bildungswesens, aber schwerpunktmäßig konzentrierte man sich auf den Bereich Erwachsenenbildung/Weiterbildung bzw. das nicht-institutionalisierte Lernen. In Ungarn stand dagegen das Pflichtschulsystem im Mittelpunkt der bildungspolitischen Auseinandersetzung. Deshalb können beide Dokumente abschließend lediglich als erste bildungspolitische Auseinandersetzungen mit dem EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ gewertet werden. 4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“ Die Jahrtausendwende bedeutete eine wichtige Wasserscheide in der Geschichte des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. In den meisten europäischen bildungspolitischen Dokumenten wurde das Jahr 2000 als Zeitpunkt angegeben, an dem `die Zukunft` anfängt, also Lebenslanges Lernen zur Wirklichkeit wird (vgl. u.a. Europäische Kommission 1995, OECD 1996, UNESCO 1996). Wie in Kapitel 3.1 ausführlich beschrieben wurde, stellte die Europäische Union in diesem Jahr mit dem Memorandum über Lebenslanges Lernen eine Diskussionsvorlage „zur Implementierung Lebenslangen Lernens auf individueller und institutioneller Ebene in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens“ (Europäische Kommission 2000, S. 3) vor. Ziel des Memorandums war, die praktische Umsetzung des Konzepts in den Mitgliedsländern mit Hilfe einer umfassenden Strategie in die Wege zu leiten. Diese Entscheidung war Teil der ebenfalls 2000 beschlossenen Lissabon-Strategie, die anstrebte, die koordinierende Rolle der Union in allen Bereichen, die auf die Entwicklung einer Wissensgesellschaft Einfluss haben könnten, zu verstärken und dies zur Dynamisierung der wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen. Als Ziel wurde angegeben, die Europäische Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Im Rahmen dieses sog. Lissabon-Prozesses wurde mit Hilfe der
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Open Method of Coordination (OMC) mit der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ als gemeinsamer bildungspolitischer Linie begonnen.308 Dementsprechend basierte die Verwirklichung des Konzepts zunächst auf der Selbstverpflichtung der Mitgliedsländer, zu diesen gemeinsamen Leitlinien einen konkreten nationalen Aktionsplan zu entwickeln. Noch bevor die nationalen Strategien zum Lebenslangen Lernen ausgearbeitet wurden, fand dieser Verwirklichungsimpuls seinen Weg in die bildungspolitischen Dokumente sowohl in Deutschland als auch in Ungarn, wie das deutsche Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ und das ungarische HumánerĘforrásfejlesztés Operatív Program (Programm zur Humankapital-Entwicklung) zeigen. Im Folgenden werden diese Dokumente ausführlich vorgestellt und am Ende des Abschnitts miteinander verglichen. 4.3.1 Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ 1) Entstehungszusammenhänge 2001 gab das Bundesministerium für Bildung und Forschung das Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ heraus. Der unmittelbare historische und gesellschaftspolitische Kontext des Dokuments war die aufblühende bildungspolitische Diskussion in Deutschland. Die wichtigsten Themen der Fachdiskussion waren: Erstens die Fragen der Qualitätsentwicklung, die auf frühere empirische Leistungsstudien zurückgriffen und mit reformpädagogischen Ansätzen verbunden wurden. Zweitens beschäftigten die Fachleute die Möglichkeiten der Modernisierung der Verwaltung unter den Gesichtspunkten Effektivität und Effizienz im Sinne von bildungsökonomischen Überlegungen. Drittens wurden Transparenz und Rechenschaftslegung zu weiteren wichtigen Leitgedanken der Diskussion, wobei Dezentralisierung und Sicherung der Ergebnisqualität als zwei Seiten einer Medaille betrachtet wurden (Cortina u. a. 2003, S. 137). Die offizielle Bildungspolitik hat sich – nicht zuletzt auf Empfehlung der Europäischen Kommission309 – zunehmend mit dem Thema „Lebenslanges Lernen“ beschäftigt. Nachdem 1997 Bundespräsident Roman Herzog die Bildungspolitik zum zentralen Anliegen seiner Amtsperiode erhoben hatte, verabschiedete 1999 die Bund-Länder-Kommission das Modellversuchsprogramm „Lebens308
Vgl. Kapitel 3.1.3. Auf der offiziellen Internetseite des Landes Brandenburg steht über die Entstehung des Aktionsprogramms: „Die Europäische Union, der Bund und die Länder messen der Entwicklung von Strategien für Lebenslanges Lernen eine hohe Bedeutung zu“ (Vgl. http://www. mbjs.brandenburg.de/ sixcms/detail.php/60406 [Stand: 1.1.2008]).
309
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
189
langes Lernen“, ein „spätes Kind des Europäischen Jahres des Lebenslangen Lernens“ (Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002, S. 27).310 Damit wurde in Deutschland zum ersten Mal eine über alle Bildungsbereiche hinweg angestrebte Kooperation zwischen Bund und Ländern initiiert. Im Jahre 2001 wurden die zwölf Empfehlungen des Forums Bildung311 zur Bildungsreform veröffentlicht. Sie deckten die wichtigsten Themen der bildungspolitischen Diskussion in Deutschland ab. Außerdem wurde eine Expertenkommission „Finanzierung lebenslangen Lernens“312 ins Leben gerufen. In das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung veröffentlichte Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ wurden die Ergebnisse und Erfahrungen dieser Initiativen mitaufgenommen (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 24) sowie die „Forschungs-, Entwicklungs- und Erprobungsmaßnahmen des Bundes in den einzelnen Bildungsbereichen, die der Förderung lebensbegleitenden Lernens dienen, gebündelt“ (ebd. S. 2). Außerdem wurden „Anregungen der Konzentrierten Aktion Weiterbildung […] dabei ebenso berücksichtigt wie Vorschläge der Länder aufgrund der Beratungen im Ausschuss für Fort- und Weiterbildung der Kultusministerkonferenz“ (Pahl 2001, S. 59). Politisch zeichnet für das Dokument eine rot-grüne-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder verantwortlich.313 Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) hat das Aktionsprogramm folgendermaßen begründet: „Lebenslanges Lernen darf kein Schlagwort bleiben. Wir wollen mit dem Aktionsprogramm die Weiterbildung für alle Menschen attraktiv machen. Nur durch ständiges Lernen kann in Zukunft der Alltag gestaltet, der Arbeitsplatz behalten oder Karriere gemacht werden.“314 Das Dokument ist eine Mischung aus einer Vorstellung von bildungspolitischen Leitlinien sowie von Förderkriterien für einzelne Projekte. Dementsprechend gibt es zwei Adressatenkreise: einerseits die potenziellen Bewerber, die für ihre Projekte und Programme die zur Verfügung gestellte finanzielle Förderung315 beantragen möchten: „Es ist ein Angebot an alle gesellschaftlichen Gruppen, an der Gestaltung einer ´lernenden Gesellschaft´ 310
Für eine ausführliche Beschreibung vgl. DIE 2003. Das Forum Bildung ist ein gemeinsam von Bund und Ländern getragenes Diskussionsforum von Politikern, Wirtschaftsvertretern, Sozialpartnern, Wissenschaftlern und Praktikern. 312 2001 beauftragte die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung eine Expertenkommission, neue Strategien für die Finanzierung Lebenslangen Lernens auszuarbeiten (vgl. Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002 und 2004). 313 1998 gewann die rot-grüne-Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Wahl. Kanzler wurde Gerhard Schröder (SPD). 314 Quelle: http://www.innovations-report.de/html/berichte/interdisziplinaere_forschung/bericht-1 [Stand: 1.1.2008] 315 „Das BMBF hat […] seine Anwendungen für die Förderung der Weiterbildung seit 1998 um ein Drittel von rund 100 Mio. DM auf 150 Mio. DM im Jahr 2000 erhöht“ (BMBF 2001, S. 4). 311
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
mitzuwirken“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 3). Andererseits ist die Europäische Kommission Adressatin: „Zugleich leistet das BMBF hiermit einen Beitrag zur europäischen Debatte über Strategien zur Verwirklichung des Grundsatzes ´lebensbegleitenden Lernens für alle´, die mit dem ´Memorandum über Lebenslanges Lernen´ der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2000 angestoßen wurde“ (ebd. S. 2). 2) Aufbau und Inhalt Das Dokument ist vergleichsweise sehr kurz, besteht lediglich aus 24 Seiten, die sich auf vier Abschnitte316 verteilen: 1) Aufbruch in eine „lernende Gesellschaft“, 2) Handlungsfelder für eine „lernende Gesellschaft“, 3) Der Weg in eine „lernende Gesellschaft“, 4) Aussicht auf die „lernende Gesellschaft“. Der zentrale Begriff des Dokuments ist also die „lernende Gesellschaft“. Sowohl die Kapitelüberschriften als auch die Argumentation beziehen sich ganz darauf: Zunächst wird im Abschnitt 1 ein „Aufbruch in eine ´lernende Gesellschaft´“ als Aufgabe beschrieben (ebd. S. 2), dann werden im Abschnitt 2 die „Handlungsfelder für eine ´lernende Gesellschaft´“ vorgestellt (ebd. S. 4), um nachher im dritten Abschnitt den Weg dahin vorzustellen (S. 11). Zum Schluss wird die „Aussicht auf die ´lernende Gesellschaft´“ thematisiert (ebd.). Das Dokument beinhaltet keine Anlagen. Die Schaffung einer „lernenden Gesellschaft“ wird dabei schwerpunktmäßig mit Maßnahmen im Bereich der Weiterbildung verknüpft. Das Pflichtschulsystem bzw. andere Bildungsbereiche werden zwar mitbedacht, aber nicht ausführlich erörtert: „das Lernen nach Abschluss der Erstausbildung [stellt] einen Schwerpunkt dar […]“ (ebd. S. 11). Weiterbildung wird dabei gleichzeitig als individuelles und kollektives Interesse betrachtet: „Für den Einzelnen ist ständige Weiterbildung zur Entwicklung und Förderung beruflicher Qualifikationen und Kompetenzen, gesellschaftlichen Wissens, sozialer und kultureller Teilhabe, von Orientierungsvermögen, selbstständigem Handeln und Eigenverantwortung unverzichtbar geworden. […] Eine qualitativ hohe Ausbildung möglichst vieler Bürger/innen und ihre kontinuierliche Weiterbildung dient der aktiven Bewältigung des Strukturwandels, der Sicherung der Innovationsfähigkeit der Gesellschaft und Befähigung aller Menschen, sich auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft behaupten und die Gesellschaft mitgestalten zu können“ (ebd. S. 2).
Nach Angaben des BMBF geht es im Aktionsprogramm um „konkrete Handlungsfelder und entsprechende Maßnahmen für den Weg in eine ´lernende Gesellschaft´ (ebd. S. 2). Die Funktionen des Aktionsprogramms werden dabei ex316
Wegen der Kürze der Texte (z. B. Abschnitt 4 besteht lediglich aus zwei kurzen Absätzen) kann man nicht über Kapitel sprechen.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
191
plizit aufgezeigt. Erstens soll es zu einer nachhaltigen Förderung lebensbegleitenden Lernens aller Menschen beitragen, zweitens der möglichst breiten Umsetzung innovativer Konzepte dienen sowie drittens mehr Transparenz über die Förderaktivitäten des Bundes schaffen (ebd. S. 2). Als Ausgangspunkt der Überlegungen wird der permanente sich beschleunigende Wandel genannt, in dem sich Gesellschaft und Wirtschaft an der Schwelle zum 21. Jahrhundert befinden. Dieser bringe weitreichende Konsequenzen für die Lernbereitschaft der Menschen mit sich: „Sie [die Veränderungen – A. Ó.] sind Anlass für die Anpassung von Qualifikationen und sie ermöglichen mehr als bisher selbstgesteuertes Lernen“ (ebd.). Bildung wird hier als Ausbildung und Weiterbildung definiert und als „das wichtigste Kapital für die Beschäftigungsförderung“ (ebd.) betrachtet, ganz im Sinne des Lifelong Learning-Verständnisses der Europäischen Union.317 Das Aktionsprogramm zählt vor allem drei Aufgaben in Bezug auf die Förderung von „Lebenslangem Lernen“ auf: Alle Menschen sollten „- die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen entwickeln, - die für lebensbegleitendes Lernen erforderlichen Kompetenzen erwerben und - institutionalisierte, aber auch neue Lernmöglichkeiten im täglichen Lebens- und Arbeitszusammenhang in Anspruch nehmen und nutzen“ (ebd. S. 3).
Anschließend werden die Absichten des BMBF thematisiert, mit dem Aktionsprogramm einen Schritt in Richtung nachhaltige Förderung von „Lebenslangem Lernen“ in Deutschland zu tun und sich zugleich an der europäischen Debatte zu beteiligen. Darauf folgt eine Thematisierung von Handlungsfeldern zur Schaffung einer lernenden Gesellschaft. Zunächst werden die Leitgedanken vorgestellt: „ - Stärkung der Eigenverantwortung sowie Selbststeuerung der Lernenden, - Abbau von Chancenungleichheiten, - Kooperation der Bildungsanbieter und Nutzer/innen sowie - Stärkung der Bezüge zwischen allen Bildungsbereichen“ (ebd. S. 4).
Diese Leitgedanken entsprechen den von der Europäischen Kommission im Memorandum formulierten Überlegungen (vgl. Europäische Kommission 2000, S. 9f.). Die Förderung von Frauen und Männern (gender mainstreaming) wird als Querschnittsaufgabe definiert. Tabelle 20 fasst die im Aktionsprogramm beschriebenen Handlungsfelder sowie die dazu gehörigen geförderten Aktionen zusammen.
317
Vgl. Kapitel 3.1.
192
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Handlungsfelder Qualitätssicherung Zertifizierung und Vergleichbarkeit von Abschlüssen Verbesserung der Beratung und Motivierung
Förderung neuer Lehrund Lernkulturen
Schaffung eines lernförderlichen Umfeldes für Menschen in speziellen Lebenslagen Intensivierung des Austausches und der internationalen Zusammenarbeit
-
Aktionen Offensive „Qualität in der Weiterbildung“ Programm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ Programm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ Programm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ Programm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ „Europäischer Lebenslauf“ und Weiterentwicklung des Europasses BMBF-Initiative „Zusatzqualifikationen in der dualen Berufsausbildung“ BMBF-Initiative „Früherkennung von Qualifikationserfordernissen“ Programm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ Programm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ Woche der Weiterbildung – Lernfest 2002 Berichtssystem Weiterbildung VIII Programm „Neue Medien in der Bildung“ Zukunftsinitiative Hochschulen Programm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ Förderkonzept „Überbetriebliche Berufsbildungsstätten“ Rahmenkonzept „Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit“ BLK-Modellversuchsprogramm „Lebenslanges Lernen“ Programm „Schule/Wirtschaft/Arbeitsleben“ Rahmenkonzept „Innovative Arbeitsgestaltung – Zukunft der Arbeit“ Programm „Lernkultur Kompetenzentwicklung“ Projekte zur Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen in der Weiterbildung Nutzung der EU-Bildungsprogramme LEONARDO und SOKRATES, Programmteil GRUNDTVIG Europäisches Jahr des Fremdsprachenlernens 2001 Internationaler Fachkräfteaustausch in der Berufsbildung Internationales Bildungsmarketing Internationale Studiengänge
Tabelle 20: Handlungsfelder und Aktionen im Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ Veronika Pahl resümiert die Vorstellung der Handlungsfelder und Aktionen folgendermaßen: „Dies ist eine umfassende Liste der vom BMBF verfolgten Reformaspekte, die unschwer erkennen lässt, dass viele dieser Handlungsfelder in engem Zusammenhang stehen, ja z. T. nicht losgelöst voneinander bearbeitet werden können. Die beabsichtigten Innovationen sind daher in jeweils spezifischen Konstellationen in verschiedenen Teilprogrammen und Projekten enthalten, die je für sich gesteuert werden“ (Pahl 2001, S. 59).
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
193
Das Dokument stellt die wichtigsten bildungsbereichsübergreifenden Teilprogramme und Projekte vor: - Das Programm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ - sowie weitere Programme, wie a) Offensive „Qualität in der Weiterbildung“, b) Initiativen in der dualen Berufsausbildung und Förderkonzept „Überbetriebliche Berufsbildungsstätten“, c) Berufliche Kompetenzentwicklung und innovative Arbeitsgestaltung, d) Programm Schule-Wirtschaft/Arbeitsleben, e) Förderung innovativer Programme in der allgemeinen Weiterbildung, f) Anstöße zum Ausbau der Weiterbildung an Hochschulen, g) Nutzung neuer Medien sowie h) das BLK-Modellprogramm „Lebenslanges Lernen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 11). Das Programm „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ bildet dabei „den Kern des Aktionsprogramms“ (ebd.). Wie Günther Dohmen im Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik schon 1996 gefordert hatte, wird hier angestrebt, in die Maßnahmen des Aktionsprogramms Möglichkeiten selbstorganisierten und informellen Lernens miteinzubeziehen. Als Voraussetzungen der Förderung von Netzwerken werden: a) Profilbildung als gemeinsame Durchführung innovativer Maßnahmen zur Realisierung, b) das Auffinden und Miteinbeziehen von potentiellen Mitgliedern der Netzwerke (z. B. lokale Bildungseinrichtungen, Vertreter der Arbeitsmarktund Beschäftigungspolitik sowie der Wirtschaftsförderung) sowie c) die Nachhaltigkeit der Netzwerke beschrieben (ebd. S. 13). Bei den „weiteren Programmen“ gibt es einerseits Projekte, die sich bereits in der Phase der Durchführung befinden (z. B. die Programme „Qualität in der Weiterbildung“). Andererseits werden hier vom BMBF (mit)geplante Projekte (z.B. das Förderkonzept „Überbetriebliche Berufsbildungsstätten“) sowie das Modellversuchsprogramm „Lebenslanges Lernen“ der Bund-Länder-Kommission aufgeführt. Über die Förderungsvergabe – zunächst für fünf Jahre – entscheidet nach öffentlicher Ausschreibung ein Lenkungsausschuss, der je zur Hälfte aus Vertretern des BMBF und der Länder besteht. Die Finanzierung wird größtenteils vom Bund getragen, der Europäische Sozialfonds stellt ergänzende Mittel zur Verfügung. Am Ende des Dokuments wird in Bezug auf die „Aussicht auf eine ´lernende Gesellschaft´“ festgestellt: „Bildungsbereichsübergreifende Reformen können aufgrund der Kompetenzverteilung nur gelingen, wenn alle Beteiligten – Bund, Länder, Sozialpartner, Verbände und Träger – enger zusammenarbeiten“ (ebd. S. 24).
194
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Der Stil des Dokuments ist durch kurze programmatische Sätze geprägt, deren Aussagen nicht ausführlich erörtert werden. Einerseits erinnert das Aktionsprogramm an manchen Stellen an einen Ausschreibungstext, anderseits an einen Bericht. Dies resultiert aus der doppelten Funktion des Dokumentes, das gleichzeitig als Aktionsprogramm für die weiteren bildungspolitischen Maßnahmen in der BRD sowie als Bericht über die deutschen Lifelong Learning-Projekte an die Europäische Kommission fungiert. Insgesamt erweckt das Dokument das Gefühl, unter großem Zeitdruck entstanden zu sein: Es gibt keine Definitionen, keine Erklärungen oder Erläuterungen – weder von Leitbegriffen wie die „lernende Gesellschaft“ noch von den Projekten. Letztere werden nur durch die wichtigsten Zielsetzungen, durch die Nennung der Programmträger sowie der beabsichtigten Förderung kurz beschrieben. Ungewöhnlich ist, dass auf Anlagen (z.B. statistisches Material) ganz verzichtet wird. In Bezug auf die Wahrnehmung der bildungspolitischen Dokumente der Europäischen Union lässt sich feststellen, dass im Dokument allein das Memorandum über Lebenslanges Lernen von 2000, als Impuls für den deutschen Beitrag zur europäischen Debatte erwähnt wird (ebd. S. 3). Im Abschnitt 2 wird als „Aktion“ auf die „Nutzung der EU-Bildungsprogramme LEONARDO und SOKRATES, Programmteil GRUNDTVIG“ sowie auf das „Europäische Jahr des Fremdsprachenlernens 2001“ verwiesen (ebd. S. 11). In Bezug auf die Finanzierung der Maßnahmen wird auch der Beitrag des Europäischen Sozialfonds erwähnt (ebd. S. 15). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Dokument Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ eine Bündelung von geplanten und sich in der Durchführung befindlichen Programmen und Projekten zur Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“ darstellt. Des Weiteren werden die Förderkriterien für neue, innovative Programme bekannt gegeben und die wichtigsten Leitlinien einer strategischen Planung zur Realisierung des „Lebensbegleitenden Lernens für alle“ aufgezeigt. Die wichtigsten Tendenzen des Aktionsprogramms werden im folgenden Abschnitt herausgestellt. 3) Wesentliche Tendenzen Die wesentlichen Tendenzen des Dokuments zeigen eine Kontinuität in Bezug auf die Schwerpunktsetzung des Dohmen-Dokuments: a) die Vision einer „lernenden Gesellschaft“ als Zukunftsmodell b) die Schwerpunktsetzung auf den Bereich Weiterbildung sowie c) auf das informelle Lernen.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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a) „Lernende Gesellschaft“ als Zukunftsmodell Wie oben dargestellt, ist der Begriff „lernende Gesellschaft“ ein Schlüsselwort im Dokument. Die lernende Gesellschaft wird dabei nicht explizit vorgestellt, nur indirekt dadurch charakterisiert, dass dort „alle Menschen die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen entwickeln, die für lebensbegleitendes Lernen erforderlichen Kompetenzen erwerben und institutionalisierte, aber auch neue Lernmöglichkeiten im täglichen Lebens- und Arbeitszusammenhang in Anspruch nehmen und nutzen“ (ebd. S. 3). Wie Veronika Pahl formuliert, geht es dabei in erster Linie um eine „aktive Bewältigung des Strukturwandels durch Bildung“ (Pahl 2001, S. 56). Peter Krug wies darauf hin, dass das Konzept der „lernenden Gesellschaft“ in Deutschland als Gegenkonzept zur im zweiten EU-Weißbuch Lehren und Lernen. Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft (Europäische Kommission 1995) geschilderten Vision einer kognitiven Gesellschaft318 entstand. Es wurde dadurch begründet, dass „neben der Vermittlung kognitiver Wissensbestände die Vermittlung sozialer und personeller Kompetenzen ebenso wichtig sei und deshalb eher von der Entwicklung zu einer ´lernenden Gesellschaft´ ausgegangen werden sollte“ (Krug 1997, S. 54). Auch an diesem Punkt lässt sich die kritische Einstellung der deutschen Bildungspolitik gegenüber dem Lifelong Learning-Konzept bzw. der bildungspolitischen Bestimmungsversuche der EU ablesen.319 In anderen deutschen bildungspolitischen Dokumenten, die ebenfalls in diesem Jahr entstanden, wird von einer „Wissensgesellschaft“320 oder „Wissensbasierten Gesellschaft“321 gesprochen (vgl. Forum Bildung 2001, Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002). 318
Vgl. Kapitel 3.1. Wie in Kapitel 3 bereits geschildert, wurde die neue bildungspolitische Linie der Europäischen Union vonseiten der Mitgliedsländer, insbesondere von Deutschland, sehr kritisch begleitet. Es wurde eine Harmonisierung der nationalen Bildungssysteme und dadurch eine Beeinträchtigung der nationalen Souveränität der Mitgliedsländer befürchtet. Mit der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ wurde deswegen durch die Einführung der Open Method of Coordination mit einem Konsens zwischen nationalen und supranationalen Interessen und Akteuren begonnen. Vgl. Kapitel 3.1.3. 320 Der Begriff der Wissensgesellschaft wurde seit den 1960er-Jahren von amerikanischen Soziologen verwendet: Robert E. Lane sprach 1966 über „knowledgeable societies“, Daniel Bell beschrieb 1973 in seiner Studie The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting die post-industriellen Gesellschaften als wissensbasierte Gesellschaften, in denen Wissen die wichtigste Ressource ist. Dadurch grenzte er diese Gesellschaftsform von der Industriegesellschaft ab, in der noch Arbeit, Rohstoffe und Kapital die zentralen Ressourcen in der Produktion sind. (Vgl. Wikipedia http://www.wikipedia.de [Stand: 4.1.2008]). 321 Diese wird als eine Gesellschaft definiert, bei der „die Strukturen und Prozesse der materiellen und symbolischen Reproduktion […] so von wissensabhängigen Operationen durchdrungen sind, dass Informationsverarbeitung, symbolische Analyse und Expertensysteme gegenüber anderen Faktoren der Reproduktion vorrangig werden“ (Willke 1998 zitiert nach Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2001, S. 34). 319
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
b) Schwerpunktsetzung auf den Bereich Weiterbildung Im Dokument Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ wird der Bereich Weiterbildung zum Schwerpunkt der Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“ gemacht.322 Die Gründe dafür sind sowohl im internationalen als auch im nationalen Kontext zu suchen. Diese Schwerpunktsetzung war schon für das OECD-Konzept „Recurrent Education“ (OECD 1973) charakteristisch. 323 Die Expertenkommission zur Finanzierung Lebenslangen Lernens deutet diese Fokussierung auf das Lernen nach der Pflichtschulzeit als „Reflex auf die in den siebziger Jahren stark veränderten ökonomischen und Arbeitsmarktbedingungen“ (vgl. Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002, S. 23). Um eine Ausdehnung der Erstausbildungsphase zu vermeiden,324 gebe es seit den 1970er-Jahren einen bildungspolitischen Konsens in Europa darüber, „die Aneignung neuen Wissens verstärkt auch auf zeitlich nachgeordnete (Weiter-)Bildungsphasen zu verteilen“ (ebd. S. 38). Diese Veränderungen erforderten eine Neuausrichtung von Erstausbildung und Weiterbildung. Dementsprechend beschreibt das Aktionsprogramm zwei – sich ergänzende – Wege zur Weiterentwicklung des Bildungssystems in Richtung „lernende Gesellschaft“: „- Stärkung der Weiterbildung und Integration der allgemeinen, politischen, kulturellen und beruflichen Weiterbildung in das gesamte Bildungssystem - Stärkung der Bezüge zwischen allen Bildungsbereichen und Bildungswegen auch unter dem Aspekt der Durchlässigkeit, insbesondere Ausbau von Brücken von der Erstausbildung in die Weiterbildung“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 3).
Eine weitere Erklärung für diese Schwerpunktsetzung kann die in der deutschen Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft traditionell vorhandene – und oft kritisierte325 – Synonymisierung von „Lebenslangem Lernen“ und dem Bereich Erwachsenenbildung/Weiterbildung geben. Diese wurzelt vor allem darin, dass das Konzept „Lebenslanges Lernen“ bei der Institutionalisierung des Quartären Bereichs in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle spielte (Gerlach 2000, Kraus 2001).326 Im Dokument wird auch die Rolle der Hochschulen explizit thematisiert. Es werden „Anstöße zum Ausbau der Weiterbildung an den Hochschulen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 20) gegeben und für 322
Im Gegensatz zum ungarischen Konzept A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája (MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996), vgl. Abschnitt 4.2.2 dieses Kapitels. 323 Vgl. Kapitel 1.1. 324 „Denn dann würde […] [diese] einen immer größeren Anteil der produktiven Jahre des Arbeitskräftenachwuchses beanspruchen“ (Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002, S. 37). 325 Zum Beispiel von Joachim Knoll, der dies als „vereinfachende Substitutionsformel“ (Knoll 1997, S. 27) bezeichnet und sogar annimmt, dass „die Schaffung eines quartären Bereichs Erwachsenenbildung die Tendenz in sich trage, das Prinzip des lebenslangen Lernens zu behindern“ (ebd.). 326 Vgl. Kapitel 3.2.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
197
eine stärkere Öffnung der Studiengänge für beruflich Qualifizierte und sonstige befähigte Studienbewerber plädiert. Auch die Fortbildung des eigenen wissenschaftlichen Personals sollte stärker betrieben werden. Die Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens fasste diese Entwicklung folgendermaßen zusammen „So tritt der Begriff des Lebenslangen Lernens künftig neben den Weiterbildungsbegriff. Das schließt nicht aus, dass auch innerhalb des Lebenslangen Lernens der Weiterbildungsbegriff weiter benutzt wird. Der Fokus liegt dann allerdings auf dem Verständnis von Weiterbildung als Prozess des Weiterlernens und nicht mehr als Beschreibung bestimmter organisatorischer Arrangements“ (Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002, S. 155f.).
c) Informelles Lernen Die Wichtigkeit des informellen Lernens wurde schon im Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik als ein wichtiger Schwerpunkt dargestellt.327 Auch im Aktionsprogramm wird immer wieder betont: „Ein wesentliches Ziel ist es, alle Menschen zu befähigen, von den Möglichkeiten nicht nur formalisierten, sondern auch informellen Lernens Gebrauch zu machen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 8). Dies wird mit mehreren Zielen und Handlungsfeldern verknüpft: Der Leitgedanke „Stärkung der Eigenverantwortung sowie Selbststeuerung der Lernenden“ (ebd. S. 4) gehört genauso dazu wie die Nutzung der neuen Medien oder die Vereinbarung von Lernen und Familie (insbesondere bei Frauen). Bei Beratung und Zertifizierung sollte informelles Lernen besonders beachtet werden. Es wird darauf hingewiesen, dass im Pflichtschulbereich diesbezüglich deutliche Akzentverschiebungen nötig sind: „So wird in der Schule und in der Berufsausbildung noch zu wenig auf informelles und selbstgesteuertes Lernen vorbereitet“ (ebd. S. 8). Das Projekt „Lernende Regionen – Förderung von Netzwerken“ macht sich die Förderung informellen Lernens auch explizit zum Ziel: „Die Ausrichtung der Bildungsinfrastruktur auf lebensbegleitendes Lernen soll unter Einschluss der Möglichkeiten selbstorganisierten und informellen Lernens in erster Linie durch Anreize gefördert werden, die die Stärkung der Selbstorganisation auf der örtlichen Ebene zum Ziel haben“ (ebd. S. 12).
Aufgrund der Schwerpunktsetzung des Aktionsprogramms auf den Bereich Weiterbildung werden andere Bildungsbereiche zwar immer wieder erwähnt, aber nicht explizit thematisiert. Obwohl im Dokument immer wieder auf konkrete gesellschaftspolitische Probleme wie die demografische Situation des Landes, Rechtsradikalismus oder auf die Arbeitslosigkeit hingewiesen wird (ebd. S. 9f.), wird eine ausführliche Situationsanalyse zur historisch-gesellschaftspolitischen 327
Vgl. Abschnitt 4.1.1 dieses Kapitels.
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bzw. bildungspolitischen Lage328 nicht gegeben. Dem ökonomisierten Verständnis der EU entsprechend wird „Lebenslanges Lernen“ im Dokument als „das wichtigste Kapital für die Beschäftigungsförderung“ verstanden (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 2). Die Rolle der Bildung wird in der Beschäftigungsförderung als „vielfältig“ beschrieben: „Bildung trägt zur Sicherung bestehender und der Schaffung neuer Arbeitsplätze bei und verringert zugleich das Risiko, arbeitslos zu werden bzw. verkürzt Zeiten der Arbeitslosigkeit“ (ebd.). Das Dokument betrachtet „Lebenslanges Lernen“ in erster Linie aus der kollektiven Perspektive des Nationalstaates, verknüpft aber diese mit den individuellen Interessen der Lernenden, indem es betont, dass „Bildung und eine lernfördernde Arbeitsorganisation […] partizipative Strukturen in Arbeitswelt und Gesellschaft [verbessern]“ (ebd. S. 2). Das Dokument akzeptiert zwar das Konzept als umfassendes Modernisierungsprogramm für alle Bereiche des Bildungssystems, bezieht sich aber auf den quartären Bereich. Dies entspricht der – von vielen deutschen Erwachsenenbildnern (u. a. Knoll 1997, Gerlach 2000 und Kraus 2001) beklagten – Gleichsetzung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ mit dem Bereich der Erwachsenen-bildung/Weiterbildung. Im Gegensatz zu dem Dohmen-Dokument, das eine maximalistische Interpretation des lebenslangen Lernens präferierte, zeichnen sich hier Parallelen zur minimalistischen Auffassung des Konzepts (vgl. Cropley 1979) ab, indem das Dokument sich auf den Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung konzentriert. In Bezug auf die Adaptationsdimension des Dokuments lässt sich feststellen, dass das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ – ebenfalls wie im Dohmen-Dokument aus dem Jahre 1996 – lediglich als Impulsgeber für die nationale Bildungspolitik gedeutet wird. Dabei wird betont, dass das Konzept „Lebenslanges Lernen“ zwar ein wichtiges, aber nicht das einzige Motiv für die deutschen Bildungsreformen darstellt (ebd. S. 4). Veronika Pahl deutet das Aktionsprogramm als „einen ersten Schritt zu einer nachhaltigen Förderung lebensbegleitenden Lernens“ (Pahl 2001, S. 61). Auch die Expertenkommission zur Finanzierung Lebenslangen Lernens interpretiert das Aktionsprogramm so (vgl. Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002, S. 29). Das Dokument beinhaltet keine Schlussfolgerung, es endet mit der Ankündigung, dass bei der Weiterentwicklung der Konzeption zur Verwirklichung der `lernenden Gesellschaft` handlungsorientierte Empfehlungen der BLK, des Forums Bildung und der Expertenkommission „Finanzierung lebenslangen Lernens“ zugrunde gelegt werden (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 24). 328
Wie sie zum Beispiel im ungarischen Pendant des Dokumentenpaares „HumánerĘforrásfejlesztés Operatív Program“ (HEF OP) präsentiert wird, vgl. Kapitel 3.2.2.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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4.3.2 HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program 1) Entstehungszusammenhänge Am 30. April 2003 wurde das Dokument HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program (Operatives Programm zur Humankapitalentwicklung) im Rahmen des Magyar Nemzeti Fejlesztési Terv (Ungarischer Nationaler Entwicklungsplan)329 vom Ministerium für Arbeit und Beschäftigungspolitik330 (federführend), vom Bildungsministerium331 sowie vom Ministerium für Gesundheit, Familie und Soziales332 in Budapest herausgegeben.333 Für die Entstehung des Dokuments zeichnen sich zwei Regierungen verantwortlich: Die Ausarbeitung wurde schon unter der konservativen Orbán-Regierung begonnen.334 2002 gewann eine sozialliberale Koalition unter Péter Medgyessy335 die Wahl, unter der die Fertigstellung des HEF OP erfolgte. Der unmittelbare historische und gesellschaftspolitische Kontext des Dokumentes war der damals kurz bevorstehende EU-Beitritt Ungarns. Im Jahre 2000 wurde der Vertrag von Nizza verabschiedet, der u.a. die Osterweiterung der Europäischen Union beinhaltete und damit das erfolgreiche Ende der seit den 1990er-Jahren andauernden Beitrittsanstrengungen Ungarns in die nahe Zukunft rückte. Dies wird im Dokument immer wieder erwähnt. Wie in Kapitel 3.2 ausführlich dargestellt, bestimmten die EU-Vorgaben seit dem demokratischen Systemwechsel 1989/1990 die politischen und wirtschaftlichen Reformen in Ungarn maßgebend. Infolge der Lissaboner Konferenz 2000 hat Ungarn – wie auch die Mitgliedsstaaten und die anderen Beitrittskandidaten der EU – die Qualitätsentwicklung des Bildungssystems in den Mittelpunkt der nationalen Bildungspolitik gestellt (vgl. Mihály 2002, S. 180). Um diese verwirklichen zu können, wurde die direkte Einflussnahme des Staates auf das Bildungssystem verstärkt336 und die Verantwortung für Humanressourcen im Bildungsministerium 329
Mehr dazu vgl. Miniszterelnöki Hivatal/Nemzeti Fejlesztési Terv és EU Támogatások Hivatala 2003, Forgács 2005 sowie Koltai 2006. 330 Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium 331 Oktatási Minisztérium 332 Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 333 Außerdem haben sich noch das Ministerium für Kinder, Jugendliche und Sport (Gyermek-, Ifjúsági- és Sport Minisztérium), das Justizministerium (Igazságügyi Minisztérium), das Ministerium für Wirtschaft und Verkehr (Gazdasági és Közlekedési Minisztérium) sowie das Ministerium für Informatik (Informatikai és Távközlési Minisztérium) an der Ausarbeitung des Dokuments beteiligt. 334 Zwischen 1998 und 2002 regierte in Ungarn eine konservative Regierung, die sich aus den Parteien Bund Junger Demokraten (Fiatal Demokraták Szövetsége, Fidesz), Ungarisches Demokratisches Forum (Magyar Demokrata Fórum, MDF) und der Unabhängigen Partei der Kleinen Landwirte (Független Kisgazdapárt, FKGP) zusammensetzte. Ministerpräsident wurde Viktor Orbán (Fidesz). 335 2002 gewann wieder die sozialliberale Koalition unter Péter Medgyessy die Wahl. Im Jahre 2004 übernahm Ferenc Gyurcsány die Regierungsleitung. 336 In der Periode zwischen 1999 und 2003 blieb der Rahmen der Bildungssteuerung unverändert,
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konzentriert. Ende 2002 wurde der Nemzeti Fejlesztési Terv (Nationaler Entwicklungsplan) erarbeitet, ein umfassender Plan zur Nutzung der vom Strukturfonds der EU für den Zeitraum 2004–2006 zur Verfügung gestellten Ressourcen. Zur Operationalisierung der Gesamtstrategie wurden insgesamt fünf operative Programme ausgearbeitet, u. a. das hier zu analysierende HumánerĘforrásfejlesztés Operatív Program (HEF OP). Laut dem als „Zusammenfassung der Leiter“337 bezeichneten Vorwort des Dokuments unterstützt das Operative Programm „die Entwicklungen auf den Gebieten der Beschäftigung, Erziehung und Bildung, sozialer Dienstleistungen sowie Gesundheitsdienstleistungen, im – durch die Europäische Beschäftigungsstrategie338 und die Gemeinsame Beschäftigungspolitische Bewertung vorgegebenen – fachpolitischen Rahmen“339 (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/ Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. vii). Der erste Entwurf des Konzepts wurde mit verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren, Fachleuten, bildungspolitischen Akteuren und Vertretern der Zivilgesellschaft diskutiert. Durch das Internet wurde allen Staatsbürgern die Möglichkeit zur Rückmeldung gegeben. Außerdem wurde das HEF OP von einer Expertengruppe evaluiert. Die Ergebnisse der „gesellschaftlichen Kollationierung“340 wurden „im Rahmen der Möglichkeiten und mit Beachtung der Finanzierbarkeit durch den Europäischen Strukturfonds“341 (ebd. S. 9) in das Programm eingearbeitet. Das Dokument hat zwei Adressaten: Einerseits die Europäische Kommission, die für das Programm die vorgesehenen Finanzmittel342 bewilligt, andererseits die ungarischen bildungspolitischen Akteure, die das Programm verwirklichen sollen. aber die Rolle und der Einfluss des Staates wurden innerhalb des Steuerungsdreiecks größer. Die direkte Einflussnahme des Staates wurde – weiterhin im Rahmen des in Kapitel 3.1 geschilderten dezentralisierten Steuerungssystems – einerseits durch die Schaffung neuer Steuerungsinstrumente (Qualitätssicherung und Rahmenplan) andererseits durch die Weiterentwicklung der bisherigen Instrumente (z. B. Motivation durch finanzielle Unterstützung) verstärkt. 337 „VezetĘi összefoglaló“ 338 Vgl. Kapitel 3.1. 339 „Az Operatív Program a foglalkoztatás, az oktatás és képzés, a szociális szolgáltatások, valamint az egészségügyi ellátórendszer területén megvalósítandó fejlesztéseket támogatja az Európai Foglalkoztatási Stratégia és a Közös Foglalkoztatáspolitikai Értékelés által meghatározott szakmapolitikai keretekbe illeszkedve.“ 340 „társadalmi egyeztetés“ 341 „a lehetĘségekhez mérten és a Strukturális Alapok által finanszírozható tevékenységek körét figyelembe véve“ 342 Das HEF OP wird vor allem aus dem Europäischen Sozialfonds unterstützt (323 Mio. €), aber der Europäische Fonds für Regionale Entwicklung hat ebenfalls Mittel zur Verfügung gestellt (177 Mio. €). Der ungarische Staat ergänzte diese mit 167 Mio. €, also beläuft sich das Gesamtbudget des Programms auf 667 Mio. €.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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2) Aufbau und Inhalt Das Dokument besteht aus einer „Zusammenfassung der Leiter“, einer Einleitung, sechs Kapiteln 1) Situationsanalyse343 2) Die Strategie des Programms344 3) Prioritäten und Maßnahmen345 4) Kohärenz und Konsistenz der Strategie346 5) Indikative Tabelle über die Finanzierung347 6) Verwirklichung des Operativen Programms348 und drei Anlagen. Insgesamt umfasst es 152 Seiten. Der zentrale Begriff des Dokuments ist Humankapital, das im HEF OP gleichzeitig als Ziel und Mittel betrachtet wird: „Ziel, weil es der kreativen Arbeit und der Verbesserung von Lebensbedingungen und Umwelt dient, Mittel, weil es durch Wissen und Tätigkeit von Menschen verwirklicht wird“349 (ebd. S. 5). Das Programm hat zwei Hauptziele: Einerseits soll die Entwicklung der Wirtschaft und Ungarns Anschluss an die EU nicht durch Wissensmangel beeinträchtigt werden. Deswegen wird angestrebt, möglichst alle Menschen zum Lernen und Weiterlernen zu motivieren. Andererseits strebt das HEF OP an, den Menschen, die aufgrund ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation diese Angebote nicht nutzen können, zu helfen. „Deswegen ist das hervorgehobene Ziel des Operativen Programms, die Chancengleichheit zu verbessern und die aufgrund von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gründen entstehenden Benachteiligungen zu mindern“350 (ebd.). Damit ist das zweite zentrale Thema des Dokuments genannt: Verbesserung der Chancengleichheit. Diese wird als Synonym für Beschäftigungsfähigkeit gesehen: „Das zentrale Merkmal der Ausgrenzung dieser gesellschaftlichen Gruppen ist ihre marginale Position auf dem Arbeitsmarkt“351 (ebd. S. 31). Die Argumentationstruktur des HEF OP ist der des Dokuments A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája sehr ähnlich: Auch hier geht man von einer ausführlichen „Situationsanalyse“ (ebd. S. 10–43) aus, um eine umfassende Strategie zur Verbesserung der Lage vorzustellen (Kapitel 2 und 3). Dem 343
„Helyzetelemzés“ „A program stratégiája“ 345 „Prioritások és intézkedések“ 346 „A stratégia koherenciája és konzisztenciája“ 347 „Indikatív pénzügyi tábla“ 348 „ Az operatív program végrehajtása“ 349 „Cél, mert az alkotó munkát, az életkörülmények, a környezeti feltételek javítását szolgálja, de eszköz is, mert mindez az emberek tudása és tevékenysége által valósul meg.“ 350 „Ezért az Operatív Program kiemelt célja az esélykülönbségek csökkentése, a társadalmigazdasági helyzetbĘl fakadó hátrányok leküzdésének segítése.“ 351 „E csoportok társadalmi kirekesztésének központi eleme a marginális munkaerĘ-piaci pozíció.“ 344
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Aufzeigen der „Kohärenz und Konsistenz der Strategie“ (ebd. S. 89) mit dem Nemzeti Fejlesztési Terv, den politischen Leitlinien der Europäischen Union und den ungarischen fachpolitischen Strategien wird viel Aufmerksamkeit geschenkt: Den Übereinstimmungen ist ein ganzes Kapitel gewidmet (Kapitel 4). Nach einer tabellarischen Zusammenfassung der zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen werden zum Schluss die Maßnahmen zur Verwirklichung des Operativen Programms (ebd. S. 110–130) detailliert vorgestellt. Das Dokument fängt also mit einer ausführlichen Situationsanalyse zu Fragen der Beschäftigung, Erziehung und Bildung, Armut und gesellschaftlichen Ausgrenzung, des Gesundheitssystems sowie der Chancengleichheit zwischen Mann und Frau in Ungarn an. Zunächst werden die wichtigsten Probleme in Bezug auf die Beschäftigung erörtert: das niedrige Niveau der Beschäftigung, die hohe Zahl der inaktiven Arbeitskräfte sowie die regionalen Unterschiede und der Mobilitätsmangel der Ungarn. Für den Zeitraum 2000–2006 wird eine „strukturelle Spannung“352 (ebd. S. 22) in Bezug auf die Beschäftigung erwartet, also das gleichzeitige Vorhandensein von Arbeitslosigkeit und Mangel an Arbeitskräften. Es wird damit gerechnet, dass die Wirtschaftzweige mit Bedarf an unqualifizierten und billigen Arbeitskräften (z.B. Textilindustrie) aus Ungarn wegziehen und die Bereiche Bergbau, Agrar- und Eisenindustrie weiter an Bedeutung verlieren werden. Außerdem wird erwartet, dass aufgrund demografischer Veränderungen die Zahl der arbeitsfähigen Ungarn deutlich geringer wird.353 Das Dokument betrachtet die Verbesserung des Kenntnisstandes der Arbeitskräfte durch Vermittlung von „besser konvertierbaren Kenntnissen“354 (ebd.) sowie die Steigerung der Flexibilität des Arbeitsmarktes als Lösung dieser Probleme. Das ungarische Bildungssystem wird im europäischen Vergleich als gut entwickelt betrachtet, die Zahl der Absolventen sei in allen Bildungsbereichen hoch, mit steigender Tendenz. Das Dokument untersucht vor allem die Bereiche Schulsystem und Erwachsenenbildung. Als Problempunkte des Schulsystems werden die mangelhafte Anpassung an die Bedürfnisse der Wirtschaft, die nicht ausreichende Vermittlung von Basiskenntnissen und Schlüsselkompetenzen, der Nachholbedarf in Bezug auf die Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern, die Selektivität, die regional sehr unterschiedliche und oft veraltete Infrastruktur, die Kostenunwirksamkeit sowie die Probleme bei der Verwirklichung von „Lebenslangem Lernen“ genannt. Letztere resultierten einerseits daraus, dass die formalen, nonformalen und informellen Lernformen noch nicht als Teile eines einheitlichen Systems angesehen und organisiert würden. Andererseits 352
„szerkezeti feszültségek“ Als eine Lösung wurde das Rentenalter bei Männern um ein, bei Frauen um drei Jahre erhöht. 354 „konvertálhatóbb ismeretekkel“ 353
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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gäbe es zu wenig modularisierte Angebote, die das schon vorhandene Wissen miteinbezögen. Die neuen Informationstechnologien würden von wenigen Menschen genutzt und es gäbe zu wenig E-Learning-Angebote. Ein besonderes Augenmerk wird auch auf den Bereich Erwachsenenbildung gerichtet, der erstens innerhalb des Regelschulsystems den zweiten Bildungsweg in Form von Abend- oder Fernstudien anbietet, zweitens sich verstärkt um die Umschulung von Arbeitskräften bemüht und drittens in Form von Weiterbildungsveranstaltungen am Arbeitsplatz angeboten wird. Aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Veränderungen seit den 1990er-Jahren wurde das traditionelle System der Erwachsenenbildung stark verändert: Sie konzentriert sich zunehmend auf den Arbeitsmarkt, vor allem auf die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitslosen. Die Angebote innerhalb des Pflichtschulsystems verloren, diejenigen außerhalb des Pflichtschulsystems gewannen an Bedeutung; es wurde ein Erwachsenenbildungsgesetz355 erlassen, um den rechtlichen Rahmen dieser Angebote zu sichern, berichtet das Dokument. Mit dem Systemwechsel wurde die soziale Schere breiter geöffnet. Die Benachteiligung sozial schwacher Gruppen wie Arbeitslose, Roma, Un- und Niedrigqualifizierte, Behinderte, Kranke und Suchtkranke, Alleinerziehende, Obdachlose sowie diejenigen, die in den kleinsten Dörfern leben, kumulierte sich: „Das zentrale Merkmal der Ausgrenzung dieser gesellschaftlichen Gruppen ist ihre marginale Position auf dem Arbeitsmarkt, aber die Ausgrenzung im weiteren Sinne bezieht sich auf den Mangel an Sicherheit, die Unsicherheit der Fähigkeit, Geld zu verdienen, die Begrenztheit der gesellschaftlichen Teilhabe, und auf die Grenzen der Unterstützungsmöglichkeiten, also auf niedrigere Lebenschancen in der Gesellschaft“356 (ebd. S. 31).
Das Dokument stellt fest, dass der schlechte Gesundheitszustand der arbeitsfähigen Bevölkerung mit den Problemen des ungarischen Gesundheitssystems zu erklären ist: Es gibt einen Mangel an Ärzten, vor allem in den ländlichen Regionen sowie an Infrastruktur. Sehr bezeichnend ist, dass der Gesundheitszustand der nichtarbeitsfähigen Bevölkerung nicht thematisiert wird: An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass das Dokument Menschen nur als Humankapital betrachtet. In Bezug auf die Chancengleichheit von Männern und Frauen wird festgestellt, dass die beiden Geschlechter zwar rechtlich gleichgestellt sind, bei der Beschäftigung von Frauen „sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Segregation“357 (ebd. S. 37) vorhanden ist. Obwohl die meisten Frauen besser 355
Vgl. Kapitel 3.2.2.2. „E csoportok társadalmi kirekesztésének központi eleme a marginális munkaerĘ-piaci pozíció, ám a kirekesztés széles értelemben a biztonság hiányára, a jövedelemszerzĘ képesség bizonytalanságára, a társadalmi részvétel lehetĘségének szĦkösségére, a támogatórendszerek korlátaira, vagyis az alacsony társadalmi életesélyekre utal.“ 357 „horizontális és vertikális szegregáció“ 356
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
qualifiziert sind als die Männer, werden sie meistens in Berufen mit niedrigerem Prestige und Gehalt beschäftigt. Außerdem gibt es eine latente Diskriminierung von Müttern mit Kleinkindern. Zum Schluss werden die im Zeitraum 1994– 2002 durchgeführten PHARE-Programme358 als best-practice-Beispiele zusammenfassend dargestellt. Darauf folgt die Vorstellung des Operativen Programms, die nach einer SWOT-Analyse359 des ungarischen Bildungssystems die drei spezifischen Ziele des Programms ausführlich erörtert: die Verbesserung der Beschäftigungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitskräfte sowie ihrer gesellschaftlichen Partizipation (vgl. ebd. S. 49). Diese sollte durch fünf Prioritäten verwirklicht werden, denen konkrete Maßnahmenkataloge zugeordnet werden (vgl. Tabelle 21).
358 Das PHARE-Programm (Poland–Hungary Assistance for Restructuring of Economy) war ursprünglich ein Gemeinschaftshilfeprogramm für die Beitrittsländer Mittel- und Osteuropas. Heute wird es auf die Kandidatenländer des westlichen Balkans ausgedehnt. Das Programm konzentriert sich auf zwei Hauptprioritäten: die Stärkung der Institutionen und der Verwaltungskapazität sowie die Finanzierung von Investitionen. Für den Zeitraum 2000-2006 verfügte das Programm über ein Budget von mehr als 10 Mrd. EUR (ca. 1,5 Mrd. EUR pro Jahr). Vgl. http://europa.eu/scadplus/leg/ de/lvb/e50004.htm [Stand: 20.11.2007]). 359 „Die SWOT-Analyse (engl. Akronym für Strengths (Stärken), Weaknesses (Schwächen), Opportunities (Chancen) und Threats (Gefahren)) ist ein Werkzeug des strategischen Managements, wird aber auch für formative Evaluationen und Qualitätsentwicklung von Programmen (z. B. im Bildungsbereich) eingesetzt“ (Vgl. Wikipedia [Stand: 20. 11.2007]).
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
Prioritäten Unterstützung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik Kampf gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung mit Unterstützung der Beschäftigung
Unterstützung von Erziehung und Bildung im Rahmen lebenslangen Lernens
Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit und unternehmerischer Fähigkeiten Entwicklung der Infrastruktur des Bildungs-, Gesundheitsund Sozial- Systems
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Maßnahmen Vorbeugung und Linderung von Arbeitslosigkeit Entwicklung des Beschäftigungsdienstes Unterstützung der Beschäftigung von Müttern Chancengleichheit für benachteiligte Kinder im Bildungssystem Unterstützung von Programmen und Dienstleistungen für eine bessere gesellschaftliche Partizipation Verbesserung der Beschäftigungfähigkeit von benachteiligten Menschen, u. a. von Roma Entwicklung von Fähigkeiten und Kompetenzen zum lebenslangen Lernen Inhaltliche, methodische und strukturelle Weiterentwicklung der Berufsbildung Modernisierung des Bildungssystems Unterstützung von Bildungsangeboten zur Unternehmungsgründung und Arbeitsplatzbeschaffung Weiterentwicklung der Erwachsenenbildung Entwicklung der Infrastruktur des Bildungssystems Entwicklung der Infrastruktur von Dienstleistungen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Partizipation Entwicklung der Infrastruktur des Gesundheitssystems in den unterentwickelten Regionen Entwicklung der Informationstechnologie in den unterentwickelten Regionen
Tabelle 21: Prioritäten und Maßnahmenkatalog des HEF OP (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 132) Sehr auffällig ist die Fülle der Maßnahmen, die im Dokument beschrieben werden. Éva Tóth zufolge haben die Experten der Europäischen Kommission das HEF OP dementsprechend mit einer Einkaufsliste verglichen. Sie kritisierten, dass die Breite der Planung die Ressourcen aufsplitterte. Die ungarischen Akteure dagegen strebten an, möglichst viele Maßnahmen in das Dokument zu integrieren, teilweise weil die Maßstäbe für die Wichtigkeit der einzelnen Programme fehlten und teilweise, um dadurch das Fehlen einer umfassenden Strategie zu ersetzen (vgl. Tóth 2005, S. 475). Nach einer Zusammenfassung des Ministerpräsidentenamtes360 und des Amtes für den Nationalen Entwicklungsplan und für EU-Förderungen361 über den Nationalen Entwicklungsplan wird der Schwerpunkt des HEF OP auf die ersten vier Prioritäten gelegt, deren Verwirklichung die fünfte Priorität durch die Be360 361
Miniszterelnöki Hivatal Nemzeti Fejlesztési Terv és EU Támogatások Hivatala
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reitstellung von technischen Ressourcen unterstützt (Miniszterelnöki Hivatal/ Nemzeti Fejlesztési Terv és EU Támogatások Hivatala 2003, S. 9f.). Dem Beleg, dass das HEF OP mit dem Nationalen Entwicklungsplan (NFT) sowie den Leitlinien der Europäischen Union übereinstimmt, wird ein ganzes Kapitel gewidmet. Da die „effektivere Nutzung von Humankapital eines der Hauptziele des Nationalen Entwicklungsplans ist“362 (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 89), gäbe es zwischen HEF OP und NFT nur kleinere Differenzen: Erstens beziehe der NFT die Entwicklung der Infrastruktur von Bildungsinstitutionen ausschließlich auf das Pflichtschulsystem, das HEF OP beachte hingegen im Sinne des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ die Entwicklung in allen Bildungsbereichen. „Letztere Verknüpfung ist logischer, da die EU-Strategie zur Humankapitalentwicklung nicht nur das Pflichtschulsystem, sondern das Lebenslange Lernen beinhaltet“363 (ebd. S. 91). Zweitens plane die Regierung in Bezug auf die Verbesserung der Chancengleichheit eine Werbekampagne zur Bekanntmachung von Bildungsangeboten. Diese Aktionen seien unabhängig vom HEF OP, das die Chancengleichheit ausschließlich durch „arbeitsmarktbezogene Maßnahmen“ zu verbessern gedenke364 (ebd.). Drittens würden im Rahmen des HEF OP für die Entwicklung der Beschäftigungsfähigkeit und unternehmerischer Fähigkeiten nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung gestellt, da diese schon in einem anderen operativen Programm des NFT gefördert würden. Das Dokument zeigt auf, dass die Verwirklichung der Ziele auf zwei Ebenen geschieht: Einerseits auf der Landesebene (durch das HEF OP), andererseits auf der regionalen Ebene (durch das Regionale Operativ Programm, ROP). Letzteres hat die Aufgabe, die Bildungsangebote den regionalen Bedürfnissen anzupassen, die lokale Bildungsverwaltung und die beteiligten Akteure der Zivilgesellschaft sowie die lokalen Initiativen zu unterstützen und eine soziale Wirtschaft anzustreben (ebd.). Das Dokument betont, dass „die spezifischen Ziele des Operativen Programms zur Humankapitalentwicklung den umfassenden Zielen der Neuen Beschäftigungspolitischen Leitlinien [der EU] entsprechen“365 (ebd. S. 94). Diese neuen Leitlinien wurden 2002 ausgearbeitet, um den Mitgliedsstaaten durch ergebnisorientierte Zielsetzungen die Ausarbeitung eigener Aktionspläne zu ermöglichen. Diese sollten dazu dienen, ihre nationale Beschäf362
„A humán erĘforrások jobb kihasználása az NFT egyik fĘ célkitĦzése.“ „Ez utóbbi kapcsolódás logikusabb, mert az EU humánerĘforrásfejlesztési stratégiájának nem az iskolarendszerĦ oktatás, hanem az egész életen át tartó tanulás képezi részét.“ 364 „munkaerĘ-piaci intézkedésekkel erĘsíti az esélyegyenlĘséget“ 365 „A HumanerĘforrás-fejlesztés Operatív Program specifikus céljai megfelelnek az új Foglalkoztatási Irányvonalak átfogó célkitĦzéseinek.“ 363
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
207
tigungspolitik im Sinne der Lissabon-Strategie umzuändern. Außerdem werden die Übereinstimmungen der verschiedenen fachpolitischen Maßnahmen – Beschäftigungspolitik, Bildungspolitik, Gesundheitsreform usw. – erörtert, wobei die geplanten Maßnahmen in den anderen Bereichen an der Beschäftigungspolitik ausgerichtet werden (vgl. ebd. S. 97ff). Letztere wurde 2001 in einer gemeinsamen Bewertung (Gemeinsame Beschäftigungspolitische Bewertung366) von der ungarischen Regierung und der Europäischen Kommission im Dokument A magyar foglalkoztatás- és munkaerĘ-piaci politika középtávú prioritásainak közös értékelése367 vereinbart. Aufgrund der im Dokument vorgeführten ex anteBewertung368 aus dem Jahre 2003 werden die inneren Zusammenhänge der Strategie ebenfalls erörtert. Zum Schluss werden die Rahmenbedingungen der Verwirklichung, also die beteiligten Institutionen, Akteure und ihre Aufgaben- und Kompetenzbereiche vorgestellt. Die Verwirklichung des Operativen Programms wird vom neu errichteten Irányító Hatóság369 innerhalb des Ministeriums für Arbeit und Beschäftigungspolitik koordiniert. Hier gilt anzumerken, dass das HEF OP für die gleichzeitige Nutzung der Fördermittel des Europäischen Sozialfonds und des Europäischen Regionalen Entwicklungsfonds erstellt wurde – eine Besonderheit, da die meisten Operativ-Programme monofund konzipiert sind, also aus einem Fonds bezahlt werden (vgl. Tóth 2005, S. 475). Die ESZA370 Szakmai Koordinációs Bizottság371 gewährleistet die Koordinierung der Maßnahmen, die vom Europäischen Sozialfonds gefördert werden. Auf der regionalen Ebene wurden innerhalb der Regionalen Entwicklungsraten372 Arbeitsgruppen für Humankapitalentwicklung gegründet. Zur Kontrolle der Verwirklichung wurde eine Kommission für Monitoring373 ins Leben gerufen, die finanzielle Abwicklung wird vom Finanzministerium gewährleistet. Die Europäische Union wird jährlich über den aktuellen Stand der Verwirklichung unterrichtet. 366
„Közös Foglalkoztatáspolitikai Értékelés“ „Gemeinsame Bewertung des mittelfristigen Planes der ungarischen Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik“ 368 Bei einer ex-ante-Bewertung handelt es sich um einen interaktiven Prozess, der vor allem in Bezug auf die Strukturfondsinterventionen der EU angewendet wird. Sachverständige beurteilen dabei unabhängig von den Planern Politik oder Programmfragen und sprechen dazu Empfehlungen aus. Das Ziel des Verfahrens ist, die Qualität des in Vorbereitung befindlichen Plans oder Programms zu verbessern. Die letzte Verantwortung für die endgültige Version liegt bei den Behörden. (Vgl. site/ programmzieleundinhalte/ foerdergrundlagen/ euarbeitsundthemenpapiere/ exante.pdf [Stand: 10.7.2008]). 369 Steuerungsamt 370 Európai Szociális Alap, Europäischer Sozialfonds 371 Kommission für Fachkoordination 372 Regionális Fejlesztési Tanácsok 373 A HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program Monitoring Bizottsága (HEF OP MB) 367
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Das Dokument beinhaltet drei Anlagen: 1. „Zusammenhänge zwischen Zielen und Prioritäten des Programms“374 2. „Anlage zum Kapitel Situationsanalyse“375 3. „Indikatoren zum Monitoring“376. Diese bieten einerseits statistisches Material des Zentralen Statistischen Amtes377 als Hintergrundinformation, andererseits erläutern sie die wichtigsten Zusammenhänge des HEF OP durch tabellarische Zusammenfassungen und Abbildungen. Die Funktion der Anlagen ist also die Ergänzung und Vertiefung der Aussagen des Dokuments. Stilistisch gesehen erinnert das HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program einerseits an einen Bericht: Es betont (und beteuert) immer wieder die Erledigung bestimmter Aufgaben bzw. die Erfüllung von Vorgaben. 378 Andererseits hat es eine ausgeprägte Erklärungsdimension.379 Diese Eigenschaften resultieren eindeutig aus der doppelten Funktion des Dokuments: Einerseits eine Berichterstattung für die Europäische Union, andererseits auch eine Aufklärungsfunktion für die ungarischen bildungspolitischen Akteure, die das Konzept verwirklichen sollen. Dem Dokument ist deutlich anzumerken, dass es (zumindest teilweise) unter großem Zeitdruck entstanden ist und deswegen auf eine einheitliche stilistische Überarbeitung verzichtet wurde, wie die in Kapitel 2 dargestellte Situationsanalyse deutlich zeigt: Diese wurde größtenteils im Jahre 1999 fertig gestellt, aber es wurden zum Schluss auch Daten von Ende 2002 eingearbeitet. Daraus ergeben sich teilweise Verständnisschwierigkeiten vor allem in Bezug auf die Zeitangaben des Dokuments.380 Éva Tóths Beschreibung über den Erstellungsprozess des HEF OP` bestätigt diese Vermutung:
374
„A Program céljai és prioritásai közötti kapcsolatok“ „A helyzetelemzési fejezet függeléke“ 376 „Monitoring indikátorok“ 377 Központi Statisztikai Hivatal, KSH 378 Zum Beispiel wird in der Einleitung beschrieben, dass das Programm im Sinne des 1260/1999/ EK durch eine ex-ante Bewertung überprüft werden soll; dann wird aufgezeigt, wie diese Überprüfung bewerkstelligt wurde (vgl. Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 6–7). 379 Zum Beispiel in Kapitel 6 werden die Aufgabenbereiche der beteiligten Behörden ausführlich vorgestellt und die Bedingungen für die finanzielle Unterstützung bestimmter Maßnahmen und ihrer Abwicklung beschrieben. 380 Es wird z. B. zunächst beschrieben, welche Entwicklungen für den Zeitraum 2000–2006 zu erwarten sind, um danach festzustellen, dass die Weltwirtschaftskrise im Jahre 2001 auch Ungarn erreicht hatte. 375
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„Die beachtliche Verspätung im Vergleich zum Originalplan sowie die Regierungsentscheidung, die Mitte 2002 trotz der beachtlichen Verspätung die Einhaltung des Originalplanes zusagte, bewirkten ein sehr gespanntes Arbeitstempo […]. […] Aufgrund der aus Zeitmangel resultierenden Eile wurden etliche Planungsphasen, die hätten aufeinander aufgebaut werden müssen, oft parallel verwirklicht“381 (Tóth 2005, S. 460).
In Bezug auf die Wahrnehmung der bildungspolitischen Dokumente der EU zum Thema lebenslanges Lernen lässt sich feststellen, dass dem HEF OP vor allem die Wirkung der Lissabon-Strategie382 anzumerken ist: Erziehung und Bildung bzw. Lebenslanges Lernen werden als Mittel zur Schaffung einer effektiveren Beschäftigungspolitik angesehen. Es wird im Dokument auch explizit auf die neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien der Union als Vorgabe hingewiesen (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/ Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 93f.). Das HEF OP spricht über eine „gemeinsame umfassende Strategie für Lebenslanges Lernen“383 innerhalb der Union. Deren Zielsetzungen zu verwirklichen wird als ein Hauptziel des Operativen Programms formuliert (ebd.). Das Dokument bezieht sich dabei explizit auf das Memorandum über Lebenslanges Lernen und übernimmt dessen Verständnis von lebenslangem Lernen als formale, nonformale und informelle Lernprozesse miteinbeziehende umfassende Konstruktion (ebd. S. 26). In Bezug auf die Verbesserung der Chancengleichheit wird auf die Zielsetzungen des Europäischen Rates in Nizza im Jahre 2000 hingewiesen. Andere europäische Konzepte zum „Lebenslangen Lernen“ werden nicht explizit erwähnt. Das HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program stellt ein umfassendes Gesamtkonzept zur Entwicklung von Humankapital vor. „Lebenslanges Lernen“ wird in diesem Konzept als ein Mittel dazu angesehen. Die wichtigsten Tendenzen dieses Gesamtkonzepts werden im folgenden Abschnitt herausgestellt.
381 „Az eredeti üzemezéshez képest történt jelentĘs késés ténye és az a kormányzati döntés, amely szerint a 2002 közepén a már nyilvánvaló jelentĘs késés ellenére az eredetileg kitĦzött határidĘk vállalása történt meg – mindvégig túlfeszített munkatempót eredményezett [...]. […] Az idĘhiányból fakadó sürgetettség miatt olyan tervezési fázisok, amelyeknek egymásra kellett volna épülniük, sokszor egymással párhuzamosan zajlottak.“ 382 Vgl. Kapitel 3.1.3. 383 „az egész életen át tartó tanulás átfogó közösségi stratégiája“
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3) Wesentliche Tendenzen Die wesentlichen Tendenzen des HEF OP sind: a) die Betrachtung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ als (eine) Maßnahme zur Humankapitalentwicklung, b) die Stärkung der Beziehungen zwischen Bildungssystem und Wirtschaftssystem sowie c) die Betonung der Wichtigkeit der Chancengleichheit. a) Lebenslanges Lernen als (eine) Maßnahme zur Humankapitalentwicklung Lebenslanges Lernen wird im HEF OP als eine Maßnahme von mehreren zur Humankapitalentwicklung interpretiert. Es ist hinter den Prioritäten „Unterstützung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik“ und „Kampf gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung mit Unterstützung der Beschäftigung“ als dritte Priorität aufgeführt. Bei der Organisation von Lernprozessen dominieren die kollektiven Zielsetzungen, die meistens wirtschaftlicher Natur sind: Erhaltung und Verbesserung von Beschäftigungsfähigkeit, Anpassung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes und – in Bezug auf die Lissabon-Strategie – Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der ungarischen und europäischen Wirtschaft. „Die Priorität dient direkt der im NFT formulierten Priorität, die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitskräfte zu fördern“384 (Miniszterelnöki Hivatal/Nemzeti Fejlesztési Terv és EU Támogatások Hivatala 2003, S. 9). In einer Zusammenfassung des Ministeramtes zum Nationalen Entwicklungsplan wird diese Priorität als „Unterstützung des Lebenslangen Lernens und der Anpassungsfähigkeit [der lernenden Individuen]“385 bezeichnet (ebd.). Die Verbesserung der Effektivität des Bildungssystems soll durch die Entwicklung von Schlüsselkompetenzen erreicht werden. Dementsprechend geht es in erster Linie um die Förderung der Berufsbildung und der Erwachsenenbildung (vgl. Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/ Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 23). Diese Perspektivenänderung ist sehr auffällig nach der Schwerpunktsetzung des Dokumentes A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája auf das Pflichtschulsystem und die allgemeine Bildung. Darin zeigt sich die Wirkung der bildungspolitischen Leitlinien der Europäischen Union, vor allem des Memorandums sehr deutlich, das den umfassenden Anspruch des Lifelong-Learning-Konzeptes betont.386 Das HEF OP übernimmt – wie Zoltán Báthory schon Jahre davor die europäische bildungspolitische Linie bezeichnet hat – „eine gut kommunizierte, genau ausgearbeitete, un384 „A prioritás közvetlenül hozzájárul az NFT-ban megfogalmazott prioritáshoz, a munkaerĘ versenyképességének növeléséhez.“ 385 „Az egész életen át tartó tanulás és az alkalmazkodóképesség támogatása“ 386 Vgl. Kapitel 3.1.3.1.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
211
glaublich rationale politisch-wirtschaftliche, nach einigen Meinungen bürokratische Linie [der Europäischen Union], in der Erziehung und Bildung nur als ´Produktionszweig´ von Humankapital betont wird“387 (Báthory 1988, S. 170). Diese ökonomisierende Tendenz war im Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája noch nicht so ausgeprägt vorhanden.388 Die Schwerpunktsetzung des HEF OP resultiert außerdem daraus, dass für seine Erstellung federführend das Ministerium für Arbeit und Beschäftigungspolitik zeichnete. b) Stärkung der Beziehungen zwischen Bildungssystem und Wirtschaftssystem Dem überwiegend ökonomischen Verständnis von Erziehung und Bildung Rechnung tragend, wird im HEF OP eine stärkere Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft angestrebt: „Die Struktur des Bildungssystems und die von ihm vermittelten Kenntnisse und Wissensinhalte müssen immer wieder den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes angepasst werden“389 (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/ Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 51). Diese Tendenz resultiert in erster Linie aus der Übernahme der Lissabon-Strategie sowie des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union. Im Dokument wird dabei Bezug genommen auf die schon laufenden PHARE-Programme mit derselben Zielsetzung (ebd. S. 39). In den 1990er-Jahren wurden die Zuständigkeiten im Bereich Erziehung und Bildung grundlegend verändert: Dem Bildungsminister wurde die gesetzliche Verantwortung für das gesamte Bildungswesen übertragen. Seine Kompetenzen wurden 1999, 2002 und 2003 mehrmals erweitert. Aufgrund dieser Kompetenzerweiterungen übernahm er auch die Aufsicht über die Erwachsenenbildung außerhalb des Pflichtschulsystems und die Weiterbildung sowie über Forschung und technologische Entwicklung. Dafür gab er die Verantwortung für Kultur und Medien ab. Durch diese Veränderungen hat sich die Rolle des Bildungsministeriums stark verändert; seine Verbindung zur Kultur wurde schwächer und zur Wirtschaft stärker. 2002 wurde ein neues Ministerium gegründet: das Ministerium für Beschäftigungspolitik und Arbeit, dem ein Großteil der Verantwor387 „Létezik egy jól megjelenített, pontosan kidolgozott, hihetetlenül racionális politikai-gazdasági, sokak szerint bürokratikus vonulat [az EU-s dokumentumokban], melyben az oktatás csak mint a munkaerĘ ´termelésének´ sajátos ágazata kap hangsúlyt.“ 388 Dort wird die Entwicklung von Humankapital nur als drittwichtigstes Ziel der Entwicklung des Pflichtschulsystems aufgefasst. Die Modernisierung des Pflichtschulsystems sowie die Gewährleistung einer erweiterten Mittelschulbildung für möglichst viele Jugendliche werden als wichtiger betrachtet (Oktatási Minisztérium 1996, S. 38). Vgl. Abschnitt 4.2 dieses Kapitels. 389 „Az oktatási rendszer struktúráját és az általa átadott tudást, készségeket folyamatosan a munkaerĘpiac igényeihez kell igazítani. Támogatni kell a fiataloknak a képzésbĘl a munka világába való átmenetét segítĘ törekvéseket.“
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tung für die Entwicklung der Humanressourcen (z. B. das Aufsichtsrecht über die Erwachsenenbildung außerhalb des Pflichtschulsystems sowie die Koordination des Programms für die Entwicklung von Humanressourcen des Nationalen Entwicklungsplans) übertragen wurde. Diese Entwicklung ist eindeutig der Übernahme des Lifelong-Learning-Verständnisses der Europäischen Kommission geschuldet. c) Die Frage der Chancengleichheit Die Wichtigkeit der Chancengleichheit wird im Dokument immer wieder betont. Darunter wird in erster Linie die Möglichkeit der Beschäftigung verstanden: „Das Operative Programm sieht die Humankapitalentwicklung nicht nur als Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, sondern erkennt dessen Wichtigkeit in Bezug auf die Förderung der gesellschaftlichen Partizipation an. Von den Prioritäten des Programms dienen diesem Ziel vor allem die Unterstützung des Kampfes gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung mit Mitteln, die die Teilnahme am Arbeitsmarkt fördern“390 (ebd. S. 96).
An einer anderen Stelle wird betont: „Die Beteiligung am Arbeitsmarkt muss auch durch eine Politik der gesellschaftlichen Partizipation (Hervorhebung im Original) gefördert werden. Die Förderung der Beteilung von benachteiligten Menschen – vor allem der Roma sowie Menschen mit Behinderung – an Angeboten des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes ist nötig zur weiteren Erhöhung der Zahl der Beschäftigten“391 (ebd. S. 48).
Dieses Verständnis ist ebenfalls das Ergebnis der Übernahme von EU-Leitlinien, in Bezug auf das Thema Chancengleichheit nämlich der Zielsetzungen des Europäischen Rates, die 2000 in Nizza formuliert wurden. Hier wurde beschlossen, dass die Mitgliedsstaaten ein gemeinsames Aktionsprogramm gegen gesellschaftliche Ausgrenzung erarbeiten (ebd. S. 95). In Ungarn wurden die Vorarbeiten dazu unter Koordinierung des Ministeriums für Gesundheit, Soziales und Familie begonnen. Ein wichtiger Schwerpunkt war dabei die Förderung der Chancengleichheit der Roma-Minderheit im Sinne einer „positiven Diskriminierung“392 (ebd. S. 100).393 390
„Az Operatív Program a humánerĘforrás-fejlesztést nem csupán a gazdaság igényeihez való alkalmazkodás eszközének tekinti, hanem elismeri annak jelentĘségét a társadalmi beilleszkedés segítésében is. A program prioritásai közül ezt elsĘdlegesen a társadalmi kirekesztés elleni küzdelem támogatása szolgálja, a munkaerĘpiacra való beilleszkedést segítĘ eszközökkel.“ 391 „A munkaerĘ-piaci részvételt a társadalmi beilleszkedés politikájával is segíteni kell. A leghátrányosabb helyzetĦ embereknek – elsĘsorban a romáknak és a fogyatékkal élĘknek – a képzési és foglalkoztatási lehetĘségekhez való hozzájutásának segítése szükséges a foglalkoztatás további növeléséhez.“ 392 „elĘnyös megkülönböztetés“
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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Im HEF OP wird Chancengleichheit vor allem als zweite Priorität des Programms „Kampf gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung mit Unterstützung der Beschäftigung“394 (ebd. S. 60) formuliert, aber auch beim Punkt „Unterstützung der aktiven Arbeitsmarktpolitik“395 (ebd. S. 55) thematisiert. In Bezug auf das Bildungssystem werden im Dokument folgende Punkte erwähnt: Erstens die unzureichende Förderung von jungen Menschen, die von der gesellschaftlichen Ausgrenzung besonders gefährdet sind bzw. besondere Förderung benötigen, zweitens die Selektivität des Pflichtschulsystems. Letztere wurde durch die PISA-Studien der OECD verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerufen. Das Bestreben der ungarischen Regierung, ihr Land als „Musterschüler“ unter den Beitrittskandidatenländern zu profilieren, zeigt sich im HEF OP sehr deutlich. Einerseits durch die Übernahme der Begrifflichkeit der Europäischen Union (Humankapital, Beschäftigungsfähigkeit usw.) bzw. des zugrunde liegenden Verständnisses von Erziehung und Bildung (Menschen vorrangig betrachtet als Arbeitskräfte, Bildungssystem als Dienstleister des Arbeitsmarktes, Bildung als Produktionsmittel). Schon die Schwerpunktsetzungen des HEF OP zeigen eine sehr starke Affinität zum Verständnis der Europäischen Union von „Lebenslangem Lernen“, wie es im Memorandum über Lebenslanges Lernen (Europäische Kommission 2000) dargestellt wird.396 Der Titel des HEF OP spiegelt ebenfalls die Sichtweise der EU wider, in der wirtschaftliche Argumente dominieren. Andererseits wird explizit beteuert, dass die EU-Ziele und die Zielsetzungen des HEF OP miteinander im Einklang stehen.397 Letzteres dient dazu, die finanzielle Unterstützung durch den Europäischen Strukturfonds zu sichern, wie dies im „VezetĘi összefoglaló“ mehrfach erläutert wird. Chancengleichheit und gesellschaftliche Partizipation werden dementsprechend aus der Perspektive der Beschäftigungsfähigkeit und der Anpassung der Individuen an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes thematisiert. Diese stark beschäftigungsorientierte Perspektive resultiert u. a. daraus, dass das Dokument in erster Linie nicht vom Bildungsministerium, sondern von mehreren Ministerien herausgegeben wurde, wobei das Ministerium für Arbeit und Beschäftigungspolitik die Federführung übernahm. „Lebenslanges Lernen“ wird im Dokument aber nur als eine Maßnahme zur Humankapitalentwicklung neben vielen anderen angesehen und im Titel deswegen nicht explizit erwähnt. 393
Mehr dazu vgl. Óhidy 2009. „Társadalmi kirekesztés elleni küzdelem a munkaerĘpiacra történĘ belépés segítségével“ 395 „Aktív munkaerĘ-piaci politikák támogatása“ 396 Vgl. Kapitel 3.1.3.1. 397 Zum Beispiel: „Die spezifischen Ziele des Operatíven Programms zur Humankapitalentwicklung entsprechen den umfassenden Zielen der Neuen Beschäftigungspolitischen Leitlinien“ (ebd. S. 94). Auf Ung.: „A HumanerĘforrás-fejlesztés Operatív Program specifikus céljai megfelelnek az új Foglalkoztatási Irányvonalak átfogó célkitĦzéseinek.“ 394
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Das Dokument interpretiert das Konzept des lebenslangen Lernens ähnlich wie die sog. minimalistische Auffassung nach der Kategorisierung von Cropley (vgl. Cropley 1979), indem es sich auf das institutionelle Lernen konzentriert und die Betrachtung und Entwicklung konkreter Strukturen und Institutionen des Bildungssystems – vor allem des Pflichtschulsystems und der Erwachsenenbildung /Weiterbildung – in den Mittelpunkt stellt. Dies bedeutet eine deutliche Entwicklung in Bezug auf die Akzeptanz des Konzepts als umfassendes Reformprogramm für das gesamte Bildungssystem im Vergleich zum Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája, das sich explizit auf die Modernisierung des Pflichtschulsystems beschränkte. Weiterhin bleibt aber das institutionalisierte Lernen im Mittelpunkt der Betrachtung. Nicht-formelle und informelle Lernprozesse werden im Dokument nur randständig erwähnt. Auch die berufliche Bildung bekommt keine nennenswerte Rolle im Dokument. Im HEF OP dominiert eine kollektive Perspektive des Lernen: Es fehlt eine individuelle Sichtweise, die die speziellen Bedürfnisse der lernenden Menschen berücksichtigen würde. Erziehung und Bildung und „Lebenslanges Lernen“ dienen vorzugsweise ökonomischen Zielsetzungen wie der Erhaltung und Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit der Individuen und dadurch der Stärkung der nationalen und der europäischen Wirtschaft bzw. der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union. Das Dokument zeichnet sich durch eine stark vereinigende Perspektive aus: Es versucht einerseits, die Prioritäten der Europäischen Union mit den Prioritäten des ungarischen Nationalstaates in Einklang zu bringen. Andererseits wird die paradoxe Zielsetzung der EU, „Lebenslanges Lernen“ sowohl zur Entwicklung von Humankapital als auch zur Erziehung zur Demokratie zu nutzen398 übernommen. So sollen die Bedürfnisse der Individuen mit den Bedürfnissen des ungarischen Staates und der EU unter einen Hut gebracht werden. Außerdem versucht das HEF OP die widersprüchlichen Zielsetzungen einer konservativen und einer sozialliberalen Regierung in Einklang zu bringen. In Bezug auf die Adaptationsdimension ist das auffälligste Merkmal des Dokuments HumanerĘforrás-fejlesztés Operatív Program seine Konformität mit den Zielsetzungen der Europäischen Union. Der ausgeprägte Anpassungswille der ungarischen Politik wird im Dokument immer wieder deutlich gemacht. Zum Beispiel durch die schnelle Übernahme der kurz vor Fertigstellung des HEF OP verabschiedeten neuen beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU. Das Dokument betont, dass in Ungarn in den letzten Jahren zahlreiche bildungspolitische Maßnahmen zur Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“ durchgeführt wurden, die mit den bildungspolitischen Dokumenten der EU im Einklang 398
Vgl. Kapitel 1.3.
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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stehen. Diese wurden bisher noch nicht zu einer kohärenten Strategie zusammengefügt. Es wird ausgeführt, dass die nationale Strategie zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens sich zurzeit beim Ministerium für Arbeit und Beschäftigungspolitik und beim Bildungsministerium in Ausarbeitung befindet. Die grundlegenden Zielsetzungen der Strategie, die die Leitlinien und Vorgaben der Europäischen Union weitestgehend berücksichtigen, wurden schon zusammengefasst. Das Dokument hebt vor allem die Rolle des Staates hervor bzw. betont die Wichtigkeit der Miteinbeziehung aller gesellschaftlichen Akteure bei der Verwirklichung des Konzepts (vgl. ebd. S. 99). Diese Übernahme von Zielsetzungen, Leitlinien und Prioritäten der EU resultiert in erster Linie aus dem damals kurz bevorstehenden EU-Beitritt Ungarns und aus dem seit Jahren andauernden Anpassungsprozess an EU-Normen. In der Phase der Beitrittsvorbereitungen wurde immer wieder die Frage erörtert: „Wie weit ist das ungarische Bildungssystem auf die europäische Integration vorbereitet?“ 399, wie der Titel eines Aufsatzes von Gábor Halász lautet (Halász 2001b). Diese Frage erscheint auf den ersten Blick überflüssig, denn die Union betonte schon in den 1990er-Jahren explizit, dass sie im Bereich Erziehung und Bildung keine Hindernisse für Ungarns EU-Beitritt sieht (ebd. S. 1). Trotzdem konstatierten die ungarischen Beteiligten einen deutlichen Druck vonseiten der EU-Organe, die Leitlinien der EU zu übernehmen. Dieser wurde einerseits durch die Finanzpolitik ausgeübt: „Die Voraussetzung für den Erhalt der Zuschüsse ist, dass wir solche Entwicklungsziele formulieren, die mit den Prioritäten und der Humankapitalentwicklungspolitik der Europäischen Union harmonieren“400 (ebd. S. 3). Andererseits spielte die Beratungspraxis der EU eine zentrale Rolle: Das HEF OP zeigt auf, dass die wichtigsten Entscheidungen in Bezug auf die Beschäftigungs- und Bildungspolitik zum Teil aufgrund der aktiven Beteiligung von Instanzen der Europäischen Union gefällt wurden: Zum Beispiel die Ausarbeitung eines mittelfristigen Planes zur Beschäftigungspolitik, die als unmittelbares Ergebnis einer im Jahre 2001 durchgeführten „gemeinsamen Bewertung“ der ungarischen Regierung und der Europäischen Kommission angesehen werden kann (ebd. S. 97). Éva Tóth erklärt die starke Übernahme der europäischen Richtlinien einerseits durch das Fehlen eigener strategischer Dokumente im Bereich Bildungs- und Beschäftigungspolitik, andererseits durch den politischen Druck des damals kurz bevorstehenden EU-Beitritts Ungarns: „Die Rolle der Kommission in den Verhandlungen lässt sich vor allem durch die
399
„Mennyire felkészült a magyar oktatás az európai integrációra?“ „A forrásokhoz való hozzáférés feltétele, hogy olyan ágazati fejlesztési célokat fogalmazzunk meg, amelyek harmonizálnak az Európai Unió prioritásaival, az emberi erĘforrásfejlesztésre vonatkozó politikájával.“ 400
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aus ihrem Status resultierende Dominanz charakterisieren“,401 stellt sie fest (Tóth 2005, S. 472). Außerdem zeigt sie anhand von Interviews mit den beteiligten ungarischen Akteuren auf, dass diese dominante Rolle der Europäischen Kommission nicht allein auf ihrem politischen Machtstatus basierte. Auch die Tatsache, dass Ungarn zum ersten Mal an solchen Planungen und Verhandlungsprozessen teilnahm, verstärkte die asymmetrische Rollenverteilung sowie die prägende Wirkung der EU-Richtlinien auf das Dokument. Trotzdem kann das HEF OP – genauso wie das Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája – neben dieser allgemeinen Akzeptanz der EU-Normen sowie der Beteuerung der EU-Konformität der eigenen Zielsetzungen durch einen selektiven Umgang mit diesen charakterisiert werden. Wie oben dargestellt wurde, werden im Dokument sämtliche Schwerpunktsetzungen des EU-Konzeptes, wie z. B. nicht-formelle und informelle Lernprozesse sowie der Bereich der beruflichen Bildung nur randständig beachtet. Das institutionalisierte Lernen und vor allem das Pflichtschulsystem stehen weiterhin im Mittelpunkt der ungarischen bildungspolitischen Maßnahmen zur Verwirklichung des lebenslangen Lernens. Das Dokument beinhaltet keine Schlussfolgerung: Es endet mit der Aufzählung der beteiligten Behörden und ihrer Zuständigkeitsbereiche in Bezug auf die Verwirklichung des Programms. András Benedek fasst die Bedeutung des Dokuments folgendermaßen zusammen: „Das Operative Programm zur Humankapitalentwicklung hat zur Verwirklichung der Strategie des lebenslangen Lernens durch die Erhöhung des Qualifikations- und Bildungsniveaus der Bevölkerung, die Verbesserung der Beschäftigungs- und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer, der Chancengleichheit, der Infrastruktur von Bildung und Erziehung, durch die Förderung der Arbeitsmarktbeteiligung und der Teilhabe am Gemeinwesen von Benachteiligten sowie durch die Stärkung des sozialen Sicherheitsnetzes einen Beitrag geleistet“402 (Benedek 2003, S. 16).
Bildungsminister Bálint Magyar betonte in einem Interview, dass der NFT und das HEF OP einen wichtigen Teil der ungarischen Strategie zur Verwirklichung lebenslangen Lernens darstellen (vgl. Zachár 2005).
401
„A bizottságnak az egyeztetésben játszott szerepét alapvetĘen a státuszából fakadó dominancia jellemezte.“ „A HumánerĘforrás-fejlesztési Operatív Program az egész életen át tartó tanulás stratégiájának megvalósításához a népesség képzettségi és tudásszintjének emelésével, a munkaerĘ foglalkoztathatóságának és alkalmazkodóképességének javításával, a társadalmi esélykülönbségek csökkentésével, a hátrányos helyzetĦek társadalmi és munkaerĘ-piaci beilleszkedésének elĘsegítésével, az oktatás és képzés infrastruktúrájának javításával és a szociális védelmi rendszer erĘsítésével járul hozzá.“ 402
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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4.3.3 Zusammenfassung und Vergleich Im Folgenden werden die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der analysierten bildungspolitischen Dokumente vorgestellt. Sowohl das Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ als auch das HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program stellen einen im Rahmen des sog. Lissabon-Prozesses und der Open Method of Coordination403 auf der höchsten bildungspolitischen Ebene ausgearbeiteten konkreten Handlungsplan für die Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“ dar. Es handelt sich dabei um die ersten nationalen Aktionsprogramme zur Verwirklichung des Konzepts. Beide Dokumente sind das Ergebnis eines landesweiten bzw. bundesweiten Konsultationsprozesses, wie dies im Memorandum (Europäische Kommission 2000) angeregt wurde.404 Ebenfalls der Intention des Memorandums entsprechend ist der Blick beider Dokumente auf die Verwirklichung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ gerichtet, die in der näheren Zukunft erfolgen soll. Im Mittelpunkt stehen dabei die konkreten bildungspolitischen Maßnahmen des jeweiligen Landes, ganz nach dem Motto des Memorandums: „Die Mitgliedsstaaten sind eindeutig zu einem breiten Konsens darüber gelangt, dass lebenslanges Lernen ein Thema von gemeinsamem Interesse ist. Eine Umsetzung in wirksame Maßnahmen blieb bislang jedoch aus. Die Zeit ist reif, dies nun in Angriff zu nehmen“ (Europäische Kommission 2000, S. 8). Sowohl das Aktionsprogramm als auch das HEF OP beschreiben die Ziele (Handlungsfelder/Prioritäten) und die konkreten Handlungen (Aktionen/Maßnahmen), die zur Verwirklichung durchgeführt wurden bzw. in der Zukunft durchgeführt werden sollen. Zur Realisierung beider Programme wurde eine neue Steuerungsinstanz geschaffen: In Deutschland ein Lenkungsausschuss aus Vertretern des BMBF und des jeweiligen Bundeslandes, in Ungarn das im Arbeitsministerium neu errichtete Irányító Hatóság. Beide Dokumente übernehmen die paradoxe Zielsetzung der EU, „Lebenslanges Lernen“ sowohl zur Entwicklung von Humankapital als auch zur Erziehung zur Demokratie nutzen zu wollen.405 Beide beziehen sich auch explizit auf das Memorandum über Lebenslanges Lernen (Europäische Kommission 2000). Das Aktionsprogramm verweist darauf, dass das BMBF mit dem Dokument „einen Beitrag zur europäischen Debatte über Strategien zur Verwirklichung des Grundsatzes ´lebensbegleitenden Lernens für alle´ [leistet], die mit dem ´Memorandum über Lebenslanges Lernen´ der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2000 angestoßen wurde“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 2). Auch das HEF OP erwähnt das Memorandum 403
Vgl. Kapitel 3.1.3. Vgl. Kapitel 3.1.3.1. 405 Vgl. Kapitel 1.3. 404
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
und übernimmt das dort beschriebene Verständnis des Konzepts „Lebenslangem Lernen“ als formale, nonformale und informelle Lernprozesse miteinbeziehende umfassende Konstruktion (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/ Oktatási Minisztérium/Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 26). Beide Dokumente haben zwei Adressaten: Einerseits die Europäische Kommission, andererseits die deutschen bzw. ungarischen bildungspolitischen Akteure, die sich für die Förderung bewerben bzw. die Programme verwirklichen sollen. Sowohl das Aktionsprogramm als auch das HEF OP vertreten eine eher minimalistische Auffassung des lebenslangen Lernens (vgl. Cropley 1979), indem sie sich auf die Betrachtung und Entwicklung konkreter Strukturen und Institutionen des Bildungssystems konzentrieren. Beide Dokumente erwecken das Gefühl, unter großem Zeitdruck entstanden zu sein: In Deutschland deutet das Fehlen jeglicher Erklärungen, Erläuterungen sowie statistischen Materials, in Ungarn die stilistische Uneinheitlichkeit (vgl. Tóth 2005) daraufhin. In beiden Dokumenten fehlt eine Schlussfolgerung. Der auffälligste Unterschied zwischen den Dokumenten Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ und HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program ist ihre Länge: Das deutsche Dokument umfasst 24, das ungarische 152 Seiten. Im Gegensatz zum Aktionsprogramm beinhaltet das HEF OP mehrere Anlagen, die die Aussagen des Dokuments mithilfe von statistischen Daten, Hintergrundinformationen sowie tabellarischen Zusammenfassungen und Abbildungen ergänzen und vertiefen. Das ungarische Operative Programm wurde als Teil des Nationalen Entwicklungsplans mit vier weiteren Programmen ausgearbeitet. Das deutsche Aktionsprogramm dagegen bündelt die schon vorhandenen Projekte und die Neuinitiativen zur Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“. Dieser Unterschied zeigt sehr deutlich die unterschiedliche Funktion der Dokumente: Das HEF OP ist ein umfassender, noch zu verwirklichender Plan zur effektiveren Nutzung von Humankapital, das Aktionsprogramm dagegen eine Vorstellung von laufenden und geplanten Programmen und Projekten. Ein weiterer wichtiger Unterschied zeigt sich in der Herausgeberschaft: Das deutsche Dokument wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, das ungarische von mehreren Ministerien unter der Federführung des Arbeitsministeriums ausgearbeitet und veröffentlicht. Letzteres kann also nicht – wie das Aktionsprogramm – durch eine primär bildungspolitische Perspektive charakterisiert werden. Dementsprechend spielt „Lebenslanges Lernen“ im ungarischen Dokument eine untergeordnete Rolle. Es wird als eine von mehreren Maßnahmen zur Humankapitalentwicklung betrachtet und auch im Titel des Dokumentes unerwähnt gelassen. Im deutschen Dokument wird zwar ebenfalls festgestellt, dass „Le-
4.3 Die ersten nationalen Aktionsprogramme zum „Lebenslangen Lernen“
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benslanges Lernen […] ein wichtiges, aber nicht das einzige Motiv für Bildungsreformen [ist]“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 4). Die Auseinandersetzung mit dem Thema wird aber im Aktionsprogramm aus einer explizit bildungspolitischen Perspektive geführt. Auch die Erwähnung der Bezeichnung „Lebenslanges Lernen“ im Titel verweist auf die Wichtigkeit des Konzepts. Während das deutsche Dokument sich schwerpunktmäßig auf den Bereich Weiterbildung konzentriert, bezieht sich das ungarische auf die Bereiche Pflichtschulsystem und Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Das ungarische Dokument ist aus einer kollektiven Betrachtungsperspektive des Nationalstaates verfasst, beinhaltet das Aktionsprogramm auch die individuelle Sicht der Lernenden in Bezug auf das lebenslange Lernen. Im Gegensatz zu Günther Dohmens Veröffentlichung von 1996 enthält das Aktionsprogramm schon mehrere Hinweise auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Problembereiche wie demografische Veränderungen, Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus. Das HEF OP geht dabei einen Schritt weiter und widmet der Situationsanalyse zu den Themen Beschäftigung, Erziehung und Bildung, Armut und gesellschaftliche Ausgrenzung, Gesundheitssystem sowie Chancengleichheit zwischen Mann und Frau in Ungarn ein ganzes Kapitel. Die Rolle der EU-Finanzförderung ist ebenfalls unterschiedlich: In Deutschland hat sie nur eine ergänzende Funktion: Im Aktionsprogramm ist von einer „Kofinanzierung aus ESF-Mitteln“ die Rede (ebd. S. 19). In Ungarn dagegen wurde sowohl der Nationale Entwicklungsplan als auch das HEF OP darauf aufgebaut. Nach Angaben des HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program werden die ungarischen Projekte in erster Linie aus EU-Mitteln finanziert und durch nationale Fördermittel ergänzt (Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. vii). Die unterschiedliche Förderung durch den Europäischen Sozialfonds resultiert aus dem unterschiedlichen Status der untersuchten Länder: Deutschland als „Alt-EU-Land“ benötigte und bekam nicht die finanzielle Förderung, die das entwicklungsbedürftige „EU-Beitrittskandidatenland“ Ungarn erhielt. Das unterschiedliche Erscheinungsjahr der beiden Dokumente – das Aktionsprogramm erschien schon 2001, während das HEF OP erst 2003 – weist auf eine spätere Reaktion der ungarischen Bildungspolitik auf die Aufforderung des Memorandums hin. Die möglichen Gründe können erstens darin gesucht werden, dass – wie im HEF OP selbst thematisiert wird – die ungarischen Entscheidungsträger über wenig Erfahrung bei der Erstellung solcher Dokumente verfügten (vgl. Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003, S. 97).
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Ein weiterer möglicher Grund ist im Regierungswechsel 2002 zu suchen: Die konservative Regierung wurde von einer sozialliberalen Koalition abgelöst. Dies hatte eine zweifach verlangsamende Wirkung auf die Erstellung des Dokuments. Einerseits bedeutete die vorangehende Wahlkampfperiode eine Entscheidungsverschiebung in Bezug auf die Prioritätensetzung, andererseits wurden die Schwerpunkte des HEF OP nach der Bildungsauffassung der neuen Regierung geändert (vgl. Tóth 2005). Dementsprechend ist das Dokument – so wie sämtliche andere ungarische bildungspolitische Dokumente, z. B. der Nationale Grundlehrplan – durch das gleichzeitige Vorhandensein von marktzentrierten und wohlfahrtsstaatlichen Erziehungsphilosophien geprägt.406 Einen dritten Grund bietet die Ausführlichkeit des Dokuments: Wie oben dargestellt, beinhaltet es einen sehr detaillierten, 152 Seiten und zusätzliches Material umfassenden Aktionsplan für die Humankapitalentwicklung des Landes – im Gegensatz zu dem 24 Seiten umfassenden, vor allem die schon laufenden und geplanten Projekte auflistenden deutschen Aktionsprogramm. Wie oben dargestellt, strebten die ungarischen Entscheidungsträger mit der Ausführlichkeit einerseits an, die fehlende nationale Strategie zur Verwirklichung lebenslangen Lernens zu kompensieren (vgl. Tóth 2005). Da aber zu diesem Zeitpunkt – wie auch in Deutschland – diese Strategie ebenfalls noch nicht fertig war, kann darin andererseits ein weiteres Zeichen der Bestrebung gesehen werden, sich weiterhin als `Musterschüler unter den Beitrittskandidaten` zu profilieren. Selbstverständlich spielen die unterschiedlichen Kompetenzen im Bereich der Bildungssteuerung407 wieder eine zentrale Rolle: Das HEF OP gilt als verbindliche Vorgabe für die weitere Entwicklung u. a. des Bildungswesens, da die ausarbeitenden Ministerien alle über die Kompetenz verfügen, für ihren Fachbereich solche Vorgaben zu erlassen. Im Gegensatz dazu kann das deutsche BMBF lediglich Empfehlungen und Vorschläge formulieren bzw. eine koordinierende Rolle übernehmen. Aus diesem Grunde sind für die ungarische Version detaillierte Ausführungen und Erklärungen nötig, während sie für das deutsche Dokument gewissermaßen überflüssig waren. Zusammenfassend lässt sich über das analysierte Dokumentenpaar feststellen, dass beide eine Absichtserklärung darstellen, das Konzept „Lebenslanges Lernen“ im Sinne des Memorandums (Europäische Kommission 2000) und der im Rahmen des Lissabon-Prozesses eingegangenen Selbstverpflichtung in Deutschland und in Ungarn zu verwirklichen408. Sie können also zum einen als erster Schritt in Richtung dieser Verwirklichung und zugleich als Zeichen für die Wirkung der bildungspolitischen Aktivitäten der EU interpretiert werden. 406
Vgl. Kapitel 3.2.3. Vgl. Kapitel 3.2. 408 Vgl. Kapitel 3.1.3. 407
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens Wie in Kapitel 3.1 ausführlich beschrieben wurde, beschlossen die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union 2000 in Lissabon die Ausarbeitung von nationalen Strategien zur Verwirklichung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“. Das im Jahre 2002 verabschiedete Arbeitsprogramm 2010 (vgl. Europäische Kommission 2002c) enthielt schon „die wichtigsten Fragen, die geregelt werden müssen, wenn die vereinbarten strategischen Ziele und Teilziele […] verwirklicht werden sollen“ (Europäische Kommission 2002c, S. 4). Außerdem wurden dort die wichtigsten Instrumente aufgezeigt, durch die die Messung dieser Fortschritte sowie ein europäischer Vergleich der Leistungen stattfinden kann. Aufgrund dieser Benchmarks haben die Mitgliedsländer der EU und die Beitrittskandidaten angefangen, ihre nationalen Strategien auszuarbeiten. 2004 – im Jahre der sog. Osterweiterung der Europäischen Union, in der zehn neue Länder, u. a. Ungarn, aufgenommen wurden – kam die von Wim Kok geleitete Expertenkommission zu der Schlussfolgerung, dass die Erreichung der Lissabon-Ziele ohne die Beschleunigung der Reformen nicht gewährleistet werden könne. Vor allem die fehlende Umsetzung auf der nationalen Ebene der Mitgliedsstaaten wurde kritisiert (vgl. Council of the European Union 2004). Als Konsequenz wurde eine Beschleunigung der Verwirklichung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ im Bereich Erziehung und Bildung beschlossen (vgl. Rat der Europäischen Union 2004).409 Die Mitgliedsländer verpflichteten sich, bis 2006 eine umfassende und kohärente nationale Strategie zur Verwirklichung des „Lebenslangen Lernens“ vorzulegen. In Deutschland erschien die Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik noch im Jahre 2004. Ein Jahr später wurde auch die ungarische nationale Strategie A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról veröffentlicht. Im Folgenden werden diese Dokumente ausführlich vorgestellt und am Ende des Abschnitts miteinander verglichen. 4.4.1 Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland 1) Entstehungszusammenhänge Ein paar Monate vor dem Kok-Bericht wurde das bildungspolitische Dokument Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht, herausgegeben von der deutschen Bund-Länder Kommission.410 Wie in 409
Vgl. Kapitel 3.1.4. Die Strategie wurde am 5. Juli 2004 von der BLK verabschiedet, die Expertenkommission von Wim Kok veröffentlichte ihren Bericht im November 2004.
410
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Kapitel 3.2 ausführlich dargestellt wurde, traf in Deutschland der äußere Reformdruck vonseiten der Europäischen Union – die seit der Jahrtausendwende die Verbesserung ihrer Wirtschaftslage und Wettbewerbsfähigkeit mit bildungspolitischen Maßnahmen zu verwirklichen sucht – auf einen inneren Reformdruck. 2002 beschloss die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, ein Strategiepapier zum Lebenslangen Lernen auszuarbeiten.411 Zur Verwirklichung wurde eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe gegründet, die „neben einer Begriffsbestimmung für Lebenslanges Lernen die Aktivitäten des Bundes und der Länder im Kontext Lebenslangen Lernens als Grundlage gemeinsamen Handelns sowie die einschlägigen Aktionen auf europäischer Ebene analysierte und darauf aufbauend Vorschläge für die Strukturierung und Förderaktivitäten“ machte (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 9). Im Jahre 2003 wurde ein Zwischenbericht vorgelegt und 2004 erschien das Dokument Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Ziel, „darzustellen, wie das Lernen aller Bürger und Bürgerinnen in allen Lebensphasen und Lebensbereichen, an verschiedenen Lernorten und in vielfältigen Lernformen angeregt und unterstützt werden kann“ (ebd. S. 5). Da es aufgrund der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, nämlich der föderalen Struktur des Bildungswesens, nicht möglich war, für die Bundesrepublik eine „kohärente nationale Strategie“ (vgl. Europäische Kommission 2000) auszuarbeiten, wird das Dokument als „gemeinsam vereinbarte Strategie für Lebenslanges Lernen, die Aspekte und Zusammenhänge aufzeigt, bei denen unbeschadet der jeweiligen Zuständigkeiten weitgehend Konsens innerhalb der Länder und zwischen Bund und Ländern besteht“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 11) definiert. Mit diesem möchte die BLK demonstrieren, „dass die Verantwortlichen bereit sind, die Weiterentwicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland offensiv zu betreiben“ (ebd. S. 7). Lebenslanges Lernen wird dabei einerseits als Leitlinie, andererseits auch als Ziel der Bildungspolitik betrachtet. Das Dokument betont, keiner Utopie nachjagen zu wollen, sondern eine realistische und auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Perspektive zu entwickeln, die für das lebenslange Lernen einen strukturierten Rahmen geben kann. Die Ausfüllung dieser allgemein formulierten Strategie mit konkreten bildungspolitischen Zielsetzungen bleibt also Aufgabe der einzel411
Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung beschäftigte sich schon 1999 mit dem Thema, als sie das Programm „Lebenslanges Lernen“ – als ein „spätes Kind des Europäischen Jahres des Lebenslangen Lernens“ (Expertenkommission Finanzierung Lebenslangen Lernens 2002, S. 27) – ins Leben rief. 2001 beauftragte sie eine Expertenkommission, neue Strategien für die Finanzierung Lebenslangen Lernens auszuarbeiten. Diese legte unter der Leitung von Prof. Dr. Dieter Timmermann 2002 einen Zwischenbericht und 2004 ihren Endbericht vor (letzteren allerdings erst nach Erscheinen der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland). Vgl. Abschnitt 3.2.1 dieses Kapitels.
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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nen Länder. Politisch zeichnet für das Dokument die rot-grüne-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder verantwortlich. Die Adressatinnen des Dokuments sind einerseits die Bundesländer, die aufgrund der Strategie konkrete bildungspolitische Maßnahmen zur Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“ anzuordnen haben, andererseits die Europäische Kommission, die um die Ausarbeitung der nationalen Strategie gebeten hat. 2) Aufbau und Inhalt Das Dokument besteht aus einer Kurzfassung, einer Langfassung, einem Glossar sowie einem ausführlichen Anhang mit den Ergebnissen einer Umfrage bei Ländern und Bund sowie good-practice-Beispielen. Insgesamt umfasst es 117 Seiten in 4 Kapiteln: 1) Verfassungsrechtlicher Rahmen, 2) Leitlinien für Lebenslanges Lernen, 3) Lernen in Lebensphasen, 4) Schlussbemerkung und Ausblick. Die Kurzfassung stellt auf drei Seiten die wichtigsten Thesen des Dokuments vor, die in der Langfassung ausführlich beschrieben werden. Zu Beginn des Dokuments werden – nach Schilderung des Auftrags und dessen Umsetzung sowie Klärung des verfassungsrechtlichen Rahmens – die Leitlinien für das „Lebenslange Lernen“ vorgestellt. Dies wird in Anlehnung an das Memorandum der Europäischen Union umfassend als „alles formale, nicht-formale und informelle Lernen an verschiedenen Lernorten von der frühen Kindheit bis einschließlich der Phase des Ruhestands“ definiert (ebd. S. 13). Lernen wird dabei „als konstruktives Verarbeiten von Informationen und Erfahrungen zu Kenntnissen, Einsichten und Kompetenzen“ (ebd.) verstanden. Als inhaltliche Grundlage und Gerüst des Dokuments dienen einerseits die menschlichen Lebensphasen Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter, Erwachsenenalter und Alter. Andererseits werden acht Entwicklungsschwerpunkte formuliert: Einbeziehung informellen Lernens, Selbststeuerung, Kompetenz-entwicklung, Vernetzung, Modularisierung, Lernberatung, Neue Lernkultur/Popularisierung des Lernens sowie Chancengerechter Zugang (ebd. S. 5). Diese Schwerpunkte werden auf die einzelnen Lebensphasen des menschlichen Lebens bezogen konkretisiert. Durch ihre Verknüpfung soll einer „Versäulung der Bildungsbereiche“ (ebd.) entgegengewirkt werden. Das Kindesalter wird verstanden als die Zeitspanne bis zum 10. Lebensjahr. Hier werden die Grundlagen für das lebenslange Lernen erworben. Die wichtigsten Lernorte sind die Familie, die Kinderkrippe und andere Betreuungsangebote, der Kindergarten sowie die Grundschule. Insgesamt ist diese Lebensphase durch die Pluralität der Lernorte und der Bezugspersonen zu charakterisieren.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Im Jugendalter dagegen überwiegen die schulisch strukturierten Lernprozesse. „Deshalb liegt in dieser Lebensphase dort der Schwerpunkt der Maßnahmen zur Förderung Lebenslangen Lernens“ (ebd. S. 20). Die Lebensphase junges Erwachsenenalter beginnt mit dem Eintritt in die Arbeitswelt, einschließlich der beruflichen Erstausbildung. Sie wird „individuell unterschiedlich ausgefüllt“ (ebd. S. 23) und vor allem durch die Bildungsinstitutionen Schule, Ausbildungsbetrieb und Hochschule geprägt. Im Erwachsenenalter steht das eigenverantwortliche Lernen in Bezug auf Familie, Beruf und Freizeit im Vordergrund. Die Zielgruppe „Ältere“ umfasst die Erwachsenen im Ruhestand bzw. kurz davor. Hier stehen vor allem informelle Lernprozesse für die Freizeitgestaltung im Mittelpunkt des Lerninteresses. Tabelle 22 zeigt den Zusammenhang zwischen den Lebensphasen und den Entwicklungsschwerpunkten in tabellarischer Form auf.
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
Kindheit Informelles Lernen
Elternhaus
Selbststeuerung
natürliche kindliche Neugier nutzen
Kompetenzentwicklung
Kindergarten und Schule: verbindliche Vorgaben f. Bildungsziele
Vernetzung
Kiga, Grundschule, Elternhaus, Jugendarbeit/ Jugendhilfe
Modularisierung
Erziehungs- & Bildungspläne Lehrpläne
Lernberatung Beratung f. Eltern
Neue Lernkultur
Ganztagsschulangebote
Chancengleichheit
Kiga-Besuch Individuelle Fördermaßnahmen
225
Jugend
Junges Erwach- Erwachsenen- Alter senenalter alter Außerschuli- z. B. Verein, Familie, Beruf kaum Bedeusche Lernorte Gewerkschaft & Freizeit tung v. forPartei, Reisen malem Lernen soz. Gruppen Überwiegend Selbstgesteuerte Zeitliche Flexi- Größere FreiFremdorgani- Lernprozesse bilität Freistel- heit bei Selbstsierte Selbstlerntech- lung v. Arbeit bestimmtheit Fernlernen Lernangebote niken BildungsHandlungskom- Indiv. Bedarf, Erhalt vorstandards petenzen in Berufstätighandener Ausbildung & keit, WerteKompetenzen Studium orientierung Gesellschaftl. Verantw. Eltern, Schule Schule, Betrieb Arbeitgeber, Berufs- und Jugendhilfe, Hochschule BildungseinAllgemeinbilSchule & Verbände richtungen, dende Wirtschaft Arbeitsvermitt- ArbeitsEinrichtungen lung, Weiterbil- vermittlung dungseinrichtungen Schularten & Breitgefächertes Beschäftider individ. Lern-Curricula Portfolio gungsfähigkeit Sozialisation & schrittweiser den LebensumAufbau individ. ständen Kompetenzentsprechend profile Schulpsych. schulische BildungsbePersönlicher Dienst, Schul- Lernberatung, reichsüberKontakt, sozialarbeit Ausbildungs- greifende altersspezifiJugendhilfe Studien- & Beratung sche BedürfBerufsberatung Weiterbildungsnisse beratung Positives Lernfeste, Betriebl. Lernen nicht Image einer Wettbewerbe Wettbewerbe mehr selbstLern- und Weiterbildungs- verständlich, preise, LernÖffentlichLeistungskultur feste, Medien Keitsarbeit Ganztagsbetreu- Einbeziehung Alphabetisie- Abbau v. ung Förderunt. bildungsferner rungskurse AltersspezifiIntegrationsGruppen, Schulabschluss schen Barrieren konzepte, Gutscheinsysnachgeholte Schulabschlüsse tem; Lernzeitnachgeholte Schulabschlüsse Weiterbildungs- konten; Bilmaßnahmen dungssparen
Tabelle 22: Schwerpunkte des Dokumentes „Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“.
226
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Die jeweiligen Lebensphasen bestimmen also einerseits die Richtung des Lerninteresses, andererseits die Lernformen (formal, non-formal, informell) und Lernorte. Sie „bilden zusammen mit den Entwicklungsschwerpunkten das Gerüst der Strategie“ (ebd. S. 32). Diese detaillierte Aufzählung ist die Konkretisierung der Ausdehnung des Lernens „von der frühen Kindheit bis einschließlich der Phase des Ruhestands“ (ebd. S. 13). Die Schwerpunktsetzung des Dohmen-Dokuments und des Aktionsprogramms auf das selbstorganisierte und informelle Lernen wird auch in diesem Dokument fortgeführt: Dem Konzept zufolge soll Selbststeuerung des Lernens von den Lernenden als Organisation des eigenen Lernprozesses und durch Nutzung fremdorganisierter Angebote verwirklicht werden. Die – von Günther Dohmen schon 1996 geforderte – Einbeziehung informellen Lernens in das Konzept wird hier vollzogen: Es wird hier als wesentlicher Bestandteil des lebenslangen Lernens dargestellt. „Lernen in und außerhalb von Institutionen soll sich wechselseitig ergänzen; ihr Zusammenwirken soll zu einem erweiterten Verständnis Lebenslangen Lernens führen“ (ebd. S. 15). Im Mittelpunkt der Förderung des lebenslangen Lernens soll die Ausrichtung auf die Kompetenzentwicklung in der gesamten Lebensspanne stehen. Die Basiskompetenzen werden in den Bildungsstandards festgehalten. Ihr Erwerb soll den Lernenden den lebenslangen Wissenserwerb z. B. durch Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen. Die Vernetzung der Bildungsinstitutionen untereinander soll ihnen die lebenslange Begleitung von Lernprozessen ermöglichen. Damit die Lernenden die Lernangebote nach ihren Bedürfnissen auswählen können, sollen diese in modularisierter Form aufbereitet werden. Eine professionelle Lernberatung soll helfen, die eigene Lernmotivation und Lernfähigkeit in den Dienst selbstgesteuerten Lernens zu stellen. Zur Verwirklichung dieses Konzepts ist die Etablierung einer neuen Lernkultur nötig, die u.a. mit Hilfe der Medien popularisiert werden könnte. „Für den Erfolg der neuen Lernkultur sind Rahmenbedingungen erforderlich, die einen chancengerechten Zugang für alle, insbesondere auch bildungsferne Menschen, zu den Möglichkeiten Lebenslangen Lernens eröffnen“ (ebd. S. 16). In Kapitel „Schlussbemerkung und Ausblick“ werden noch mal die wichtigsten Charakteristika des Dokuments aufgelistet. Das Strategiepapier versteht sich selbst als „Wegbeschreibung in diese Zukunft“ und spielt damit auf die Bildungskampagne der Kultusministerkonferenz „Bildung – unser Ticket in die Zukunft“ an (ebd.). Am Ende der Strategie werden die wichtigsten Begriffe in einem Glossar nochmals zusammengefasst. Zum Dokument gehören zwei Anhänge, die als fester Bestandteil angesehen werden und von der BLK ebenfalls „zustimmend zur Kenntnis genommen wurden“ (ebd. S. 2). Der erste Anhang mit dem Titel Ergebnisse der Umfrage zu
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
227
Lebenslangem Lernen bei Bund und Ländern, zusammengefasst von Barbara Dietsche vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung (DIE) im Auftrag der BLK, gibt „einen ersten Überblick über die von Bund und Ländern unternommenen Aktivitäten zur Förderung Lebenslangen Lernens“ (ebd. S. 72). Die Beschreibung beinhaltet die Vorstellung des Fragebogens sowie der Auswertungsschritte, eine detaillierte Analyse der Ergebnisse, eine kurze Zusammenfassung sowie ein Abkürzungsverzeichnis. Der zweite Anhang wurde ebenfalls von Barbara Dietsche vom DIE verfasst und beinhaltet eine „exemplarische Auswahl von guten Praxisbeispielen“ (ebd. S. 79) aus der Umfrage, zugeordnet zu den im Dokument beschriebenen Entwicklungsschwerpunkten und Lebensphasen. Es werden Ziele, Zielgruppen, Träger und Akteure der Projekte inkl. Laufzeit vorgestellt sowie die bisherigen Veröffentlichungen und die Erreichbarkeit (Adresse, Webseiten) mit Quellenangaben akribisch aufgelistet. Das Ziel des Anhangs ist, die Praxis zur Förderung des lebenslangen Lernens durch die detaillierten Beispiele zu konkretisieren und den ersten Anhang zu ergänzen. Für die Fachöffentlichkeit wird eine Zusammenstellung aller in der Umfrage genannten Projekte zu einem späteren Zeitpunkt in Aussicht gestellt. Die Anhänge haben eine sehr wichtige politische Funktion: Sie sollen die bildungspolitische Legitimität der Strategie unterstreichen und aufzeigen, dass sie aufgrund schon existierender Maßnahmen und Praxisbeispiele der einzelnen Länder entstand. Die Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland betont immer wieder, aufgrund des bildungspolitischen Konsenses zwischen Bund und Ländern ganz im Sinne des Föderalismusprinzips nur Empfehlungen zu geben. Um die verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten nicht zu verletzen, hat die ausarbeitende Arbeitsgruppe auf einen Forderungskatalog sowie auf die Formulierung konkreter Handlungsoptionen bewusst verzichtet. Der Stil des Dokuments resultiert aus seiner Funktion als allgemeine Empfehlung. Es nutzt oft Formulierungen, die „sowohl Sachstandsdarstellungen als auch Handlungsoptionen sind“ (ebd. S. 10). Die Arbeitgruppe hält „diese Art der Darstellung dem bereits erreichten Stand der Umsetzung der Konzeption des Lebenslangen Lernens in den Ländern und den Förderprogrammen des Bundes für angemessen“ (ebd.) sowie für die Darstellung des Entwicklungsstandes der BRD im internationalen Zusammenhang geeignet. In Bezug auf die Wahrnehmung der bildungspolitischen Dokumente der EU zum Thema lebenslanges Lernen lässt sich feststellen, dass die Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland sich vor allem auf das Memorandum über Lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2000) sowie auf die Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (vgl. Europäische Kommission 2001) bezieht. Allerdings werden diese
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Dokumente im Text nicht explizit erwähnt. Die späteren Post-Lissabon-Dokumente412 werden nicht miteinbezogen. Die zentralen Schwerpunktsetzungen werden im Dokument sehr stark aufeinander bezogen, sie stützen und erklären sich gegenseitig. Dadurch bilden sie ein kompaktes, einheitliches Konzept zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens. Die wichtigsten Tendenzen dieses Konzepts werden im folgenden Abschnitt herausgestellt. 3) Wesentliche Tendenzen Die wesentlichen Tendenzen der Strategie sind: a) menschliche Lebensphasen als Orientierungspunkte, b) die Schwerpunktsetzung auf Kompetenzentwicklung sowie c) auf selbstgesteuertes und informelles Lernen. a) Menschliche Lebensphasen als Orientierungspunkte Die Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland orientiert sich explizit an der Biografie des Menschen. „In jeder Lebensphase lernt der Mensch aus unterschiedlichen Gründen, in unterschiedlicher Weise, an unterschiedlichen Orten“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 13). Es wird im Dokument zwischen sechs Lebensphasen unterschieden, die meisten davon werden nicht genau durch Zeitangaben definiert. Vielmehr unterscheiden sie sich durch die verschiedene Zusammensetzung von formalen, non-formalen und informellen Lernprozessen sowie der jeweiligen Lernorte (vgl. Tabelle 22). Das Dokument stellt fest, dass zur Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ keine neuen Bildungsinstitutionen erforderlich sind. Vielmehr sind die Vernetzung der bestehenden Institutionen sowie ihre Anpassung an die neuen Erfordernisse, zum Beispiel durch ihre Öffnung für non-formales und informelles Lernen nötig. Damit die Lernenden die zu ihrer aktuellen Lebensphase und -situation nötigen Lernangebote besser finden können, sollten diese in modularisierter Form angeboten werden. Bei der Auswahl kann eine „offene und kompetenzentwickelnde Lernberatung“ (ebd. S. 16) am besten helfen. Auch diese geplanten Strukturveränderungen sind schon im Memorandum zu finden, das u.a. eine „Innovation in den Lehr- und Lernmethoden“ (Europäische Kommission 2000, S. 16) und die „Gewährleistung eines besseren Zugangs zu hochwertigen Informations- und Beratungsangeboten über Lernmöglichkeiten in Europa und während des gesamten Lebens für alle“ (ebd. S. 4) fordert.
412
Vgl. Kapitel 3.1.4.
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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b) Kompetenzentwicklung im Vordergrund des Lernprozesses Das Dokument stellt Kompetenzentwicklung in den Vordergrund lebenslangen Lernens. Diese Schwerpunktsetzung erfordert eine Verhinderung einer „Versäulung der Bildungsbereiche“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 5), durch Vernetzung der Bildungsinstitutionen, Modularisierung der Lerninhalte sowie gezielte Beratungsangebote. „Die Ausrichtung auf Kompetenzentwicklung muss […] für die Förderung Lebenslangen Lernens in der gesamten Lebensspanne maßgebend sein“ (ebd. S. 10), stellt das Dokument fest. Die Fähigkeit zum selbstständigen Erschließen des für die aktuelle Situationsbewältigung nötigen Wissens wird dabei als lebenslange Aufgabe der Menschen beschrieben. Dazu gehöre u.a. die Nutzung neuer Kommunikations- und Informationstechnologien. Die lebenslange Kompetenzentwicklung finge mit dem Erwerb dieser Fertigkeiten und Fähigkeiten in der Pflichtschule an und würde auch danach weitergeführt. Die ausgearbeiteten Bildungsstandards beschrieben, was Schüler auf einer bestimmten Stufe ihrer Schullaufbahn können sollten. Später bestimmten die Anforderungen des Arbeitsmarktes die Lerninhalte. Diese Argumentation basiert auf der ersten Grundbotschaft des Memorandums (Europäische Kommission 2000, S. 12), das eine neue Basisqualifikation für alle Menschen fordert. Die neuen Basisqualifikationen werden hier als Kompetenzen definiert, „die Voraussetzung sind für eine aktive Teilnahme an der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft“ (ebd. S. 13). Im Memorandum wird die Verwirklichung der Chancengleichheit an diese Kompetenzentwicklung und an den Erwerb der Basisqualifikationen gekoppelt. In der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland wird der chancengerechte Zugang zum Lebenslangen Lernen als eigenständiger Entwicklungsschwerpunkt aufgeführt und als „eine entscheidende Voraussetzung für das Leben in einer auf demokratische Teilhabe ausgerichteten Gesellschaft“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 16) betrachtet. Zu ihrer Verwirklichung seien strukturelle Veränderungen – Vernetzung, Modularisierung und Beratung – nötig. Diese werden ebenfalls als einzelne Entwicklungsschwerpunkte aufgeführt. c) Selbstgesteuertes und informelles Lernen Selbststeuerung wird als wichtigstes Merkmal lebenslangen Lernens angesehen: „Lebenslanges Lernen ist weitgehend vom Einzelnen selbst verantwortetes Lernen, d.h. Lernen, bei dem der Lernende durch ein vielfältiges Netzwerk von Lernangeboten und Lernmöglichkeiten steuert“ (ebd. S. 13). Das Prinzip gelte selbst in der frühen Kindheit und beinhalte einerseits die Selbstorganisation des Lernprozesses, andererseits auch die Nutzung fremdorganisierter Lernangebote und der Lernberatung. Die Notwendigkeit der Selbststeuerung und Selbstverant-
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wortung Lebenslangen Lernens wird mit der Verschiedenheit der Biografie der Einzelnen sowie mit den Differenzen in den Lernvoraussetzungen, Lernmilieus, Lernbedürfnissen und Lernansätzen begründet. Auch das informelle Lernen wird – genau wie in der Dohmen-Veröffentlichung – als wichtiger Schwerpunkt „Lebenslangen Lernens“ dargestellt. Da Lernen nicht durchgängig in Bildungsinstitutionen stattfinden könne und die meisten Lernprozesse sich informell in Lebens- und Arbeitszusammenhängen entwickelten, „muss das informelle Lernen wesentlich in die Förderung Lebenslangen Lernens einbezogen werden“ (ebd. S. 14). Durch diese Schwerpunktsetzung würde angestrebt, eine neue Lernkultur zu schaffen, die sehr stark auf der Nutzung neuer Informations- und Kommunikationstechniken basiert. Diese könnten nur dann effektiv genutzt werden, wenn die Lernenden die dazu benötigten Kompetenzen besäßen. Durch diese Rückkopplung an das kompetenzentwickelnde Lernen rundet die deutsche nationale Strategie ihr Konzept ab und kommt wieder zu ihrem Ausgangspunkt, zu einer lebenslangen Kompetenzentwicklung in allen menschlichen Lebensphasen zurück. Als Ziel der Förderung „Lebenslangen Lernens“ wird angegeben, ein „Zurückbleiben des Lernens hinter der zunehmenden Komplexität der Verhältnisse und ein Versagen vor den wachsenden Verstehens- und Problemlöseanforderungen aufzufangen“ (ebd. S. 16). An dieser Stelle kehrt auch die Problematik der Chancengleichheit wieder zurück: Die Förderung soll für alle gelten, alle sollen die nötige Anregung und Ermutigung zu wirksamem kompetenzentwickelndem Lernen bekommen. Dazu ist „eine motivierende Popularisierung des Lernens“ nötig (ebd.). Das Dokument lehnt sich an die sog. maximalistische Auffassung des Konzepts an, die das lebenslange Lernen als anthropologische Notwendigkeit betrachtet (vgl. Cropley 1979). Es interpretiert das Konzept „Lebenslanges Lernen“ – in Anlehnung an das Memorandum (vgl. Europäische Kommission 2000) – als Modernisierungsprogramm für das gesamte Bildungswesen und akzeptiert damit dessen umfassenden Reformierungsanspruch. Auffällig ist, dass die Strategie – im Gegensatz zum Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik, in dem das lebenslange Lernen als Antwort auf die Herausforderungen der Modernisierung dargestellt wird – keine Zielsetzung oder Begründung zur Notwendigkeit Lebenslangen Lernens anbietet. Das Konzept wird eher als Selbstverständlichkeit des menschlichen Lebens interpretiert, die keine Begründung oder Erklärung erfordert. Ebenfalls fehlt jeglicher Hinweis auf den „PISA-Schock“, obwohl sich die deutsche bildungspolitische Diskussion vor allem in den Jahren des Erscheinens der OECD-Untersuchungen 2000 und 2003 darauf sehr stark konzentrierte.413 Das Dokument beschreibt 413
Nur in einem der good-practice-Beispiele wird darauf Bezug genommen, aber auch nur, um zu erwähnen, dass das Projekt schon „anderthalb Jahre vor der Bekanntgabe der ersten Ergebnisse der
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4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
Selbststeuerung des Lernens für alle Lebensphasen als charakteristisches Merkmal – im Gegensatz zu den früheren Konzepten, die dieses Merkmal nur dem Lernen von Erwachsenen vorbehielten (vgl. Dohmen 1996). Damit unterstreicht es einerseits den umfassenden Charakter des Konzepts. Diese Interpretation beinhaltet aber – wie dies in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Diskussion immer wieder diskutiert und angemahnt wurde (vgl. u.a. Achterhagen/ Lempers 2000) – andererseits eine starke Überforderung der Lernenden. In Bezug auf die Adaptation des EU-Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ lässt sich feststellen, dass das Dokument eine starke inhaltliche Orientierung an Konzepten und Empfehlungen der Europäischen Union, vor allem am Memorandum (vgl. Europäische Kommis-sion 2000) und am Dokument Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (vgl. Europäische Kommission 2001) aufweist. Die Grundbotschaften des Memorandums und die Aktionsschwerpunkte der Mitteilung lassen sich folgendermaßen mit den Entwicklungsschwerpunkten der Strategie verbinden (vgl. Tabelle 23): Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland Kompetenzentwicklung – Neue Lernkultur Selbststeuerung Modularisierung Informelles Lernen Lernberatung
Vernetzung Chancengleichheit
Memorandum über Lebenslanges Lernen Neue Basisqualifikationen für alle Höhere Investitionen in die Humanressourcen Innovation der Lehr- und Lernmethoden Bewertung des Lernens Umdenken in Berufsberatung und Berufsorientierung durch eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der Lernenden Das Lernen den Lernenden auch räumlich näher bringen
Mitteilung. Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen Grundqualifikationen Zeit und Geld in Lernen investieren Innovative Pädagogik Bewertung des Lernens Information, Beratung und Orientierung
Lernende und Lernangebote zusammenführen
Tabelle 23: Übereinstimmungen der Entwicklungsschwerpunkte der „Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ mit den Grundbotschaften des „Memorandums über Lebenslanges Lernen“ (Europäische Kommission 2000) sowie den Aktionsschwerpunkten der Mitteilung „Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen“ (Europäische Kommission 2001)
OECD-PISA-Studie begonnen [habe]“ (ebd. S. 80).
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Wie Tabelle 23 zeigt, gibt es eine hochgradige Übereinstimmung der Schwerpunktsetzungen der Strategie mit den EU-Dokumenten. Es gibt nur geringfügige Unterschiede in Bezug auf die Wortwahl, wobei das deutsche Dokument meistens die sehr allgemeinen Bezeichnungen der EU-Dokumente konkretisiert: Die deutsche nationale Strategie spricht statt von „neuen Basisqualifikationen für alle“ oder „Grundqualifikationen“ von „Kompetenzentwicklung“, versteht darunter aber ebenfalls den Erwerb von bestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten, die die Voraussetzung für die Teilhabe an der wissensbasierten Gesellschaft und Wirtschaft darstellen (Europäische Kommission 2000, S. 13). Der Erwerbsprozess kann sich dabei auf die „gesamte Lebensspanne“ beziehen (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 15). In Bezug auf die „Bewertung des Lernens“ benennt das deutsche Dokument den Schwerpunkt aller drei Dokumente ganz konkret: die Problematik der Zertifizierung informellen Lernens. Bei dem Punkt „den Lernenden das Lernen näher bringen“ benennt das deutsche Dokument die auch in den EU-Dokumenten formulierten Prioritäten: die Vernetzung der Lernangebote und Lernmöglichkeiten sowie den chancengerechten Zugang zu diesen. Auch in Bezug auf die „Innovation der Lehr- und Lernmethoden“ benennt die deutsche nationale Strategie die wichtigsten Schwerpunkte der bildungspolitischen Maßnahmen: Modularisierung und Selbststeuerung sowie Schaffung einer neuen Lernkultur. Lediglich einen Punkt thematisiert sie nicht, der in beiden EU-Dokumenten vorzufinden ist: das Thema der Finanzierung, also „höhere Investitionen in die Humanressourcen“ (Europäische Kommission 2000) bzw. „Zeit und Geld in Lernen investieren“ (Europäische Kommission 2001). Über den Grund dieser Nicht-Thematisierung erfahren wir nichts. Es liegt aber die Vermutung nahe, dass die Frage der Finanzierung nicht zu den Aspekten gehört, „bei denen unbeschadet der jeweiligen Zuständigkeiten weitgehend Konsens innerhalb der Länder und zwischen Bund und Ländern“ (BundLänder-Kommission 2004, S. 5) erzielt werden konnte. Die oben vorgestellte ausgeprägte Adaptationsdimension der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland resultiert vor allem aus ihrem Enstehungskontext: Sie wurde auf Anregung der Europäischen Union ausgearbeitet, wie auch andere nationale Strategien zum „Lebenslangen Lernen“ im Rahmen des Lissabon-Prozesses. Allerdings wird dieser Kontext im Dokument nicht explizit erwähnt. Es gibt aber einige Formulierungen, die den Eindruck erwecken, als ob die Bund-Länder-Kommission jemandem die Erfüllung ihrer Pflicht nachweisen wolle. Zum Beispiel die Aufzählung der bisher ergriffenen Maßnahmen, die sich alle auf EU-Vorgaben beziehen: „Mit der Verabschiedung der ´Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland´ im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung wird ein deutliches Zeichen gesetzt. Die Verantwortlichen sind bereit, die Weiterent-
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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wicklung des Bildungswesens in der Bundesrepublik Deutschland offensiv anzugehen. Beispiel dafür sind auch ganz konkrete Beschlüsse aus jüngster Zeit, wie die Bereitschaft zu einem gemeinsamen Bildungsbericht von Ländern und Bund, die Vereinbarung ländereinheitlicher Standards, die Gründung eines Instituts der Länder zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, die Vereinbarung konkreter Handlungsfelder für Qualitätsentwicklung und -sicherung, und nicht zuletzt die Bildungskampagne der Kultusministerkonferenz ´Bildung – unser Ticket in die Zukunft´“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 31).
Da in diesem Jahr der Bericht der von Wim Kok angeführten Expertenkommission zur Beurteilung erwartet wurde, könnte die Kommission die versteckte Adressatin dieser Beteuerung sein. Umso mehr, als diese in ihrem Bericht die fehlende Umsetzung des Arbeitsprogramms auf der nationalen Ebene der Mitgliedsstaaten kritisierte. An einer anderen Stelle wird erklärt, warum das Dokument keine kohärente nationale Strategie ist, wie dies die Europäische Union im Memorandum auf Anregung des Europäischen Rates von Feira erbeten hatte (Europäische Kommission 2000, S. 3): „Auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen ist eine Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland nicht im Sinne einer ´nationalen kohärenten Strategie´ darstellbar, wohl aber als gemeinsam vereinbarte Strategie für Lebenslanges Lernen, die Aspekte und Zusammenhänge aufzeigt, bei denen unbeschadet der jeweiligen Zuständigkeiten weitgehend Konsens innerhalb der Länder und zwischen Bund und Ländern besteht“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 5).
Im Dokument wird immer wieder betont, dass die Formulierung und Durchführung konkreter Projekte und deren bildungspolitische Schwerpunktsetzung die Aufgabe der zuständigen Akteure (also der Länder) ist. Als Schlussfolgerung werden noch mal die wichtigsten Merkmale der Strategie aufgelistet: Sie beachtet die deutschen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen, erfasst das Leben des Menschen von der Kindheit bis ins hohe Alter, bevormundet weder die Menschen noch die Bildungseinrichtungen und baut auf dem reichen Fundus gewachsener Bildungsstrukturen, Aktivitäten und Erfahrungen auf (ebd. S. 31). Deswegen wird die Strategie von den Autoren nicht als Utopie angesehen, sondern als Rahmenplan zur Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“, der von den zuständigen Akteuren mit konkreten Maßnahmen ausgefüllt werden kann. Zum Schluss wird noch mal betont, dass das Dokument als ein Zeichen des Veränderungswillens der Bundesrepublik Deutschland zu deuten sei, das Bildungswesen zur Förderung „Lebenslangen Lernens“ umzugestalten. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das Dokument Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland eine viel stärkere inhaltliche Orientierung an Konzepten und Empfehlungen der Europäischen Union aufweist als das Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik oder das Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“. Dies zeigt sehr eindrücklich die starke Wirkung der Lissabon-Strategie
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
und der offenen Koordinierungsmethode der Europäischen Kommission auf die programmatische Ebene der deutschen Bildungspolitik. 4.4.2 A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról 1) Entstehungszusammenhänge 2005 veröffentlichte das ungarische Bildungsministerium414 das Dokument A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról (Strategie für Lebenslanges Lernen der Regierung der Republik Ungarn). Den unmittelbaren historisch-gesellschaftspolitischen Kontext des Dokumentes lieferte Ungarns Beitritt in die Europäische Union am 1. Mai 2004. Dieses historische Ereignis bedeutete für Ungarn das Ende eines langen Weges. Seit dem demokratischen Systemwechsel blieben trotz innenpolitischer Turbulenzen und mehrerer Regierungswechsel sowohl der innenpolitische Kurs in Richtung Demokratisierung, der kapitalistische Umbau der Wirtschaft wie auch die Außenpolitik in Richtung „Europa“ unverändert.415 Dementsprechend wurde die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ zunehmend zu einem strategischen Ziel der ungarischen Bildungspolitik. Auf der Grundlage des Nationalen Entwicklungsplans und des Operativen Programms zur Entwicklung des Humankapitals (HEF OP) verabschiedete die sozialliberale Regierungskoalition 416 im September 2005 das Dokument A Magyar Köztársaság stratégiája az egész életen át tartó tanulásról. Dies folgt größtenteils den Leitlinien der gemeinsamen europäischen Bildungspolitik gemäß den Anforderungen der LissabonStrategie und im Sinne der Open Method of Coordination: „Das Ziel dieser Strategie ist die Skizzierung von fachpolitischen Richtungen und der daraus abgeleiteten Handlungsoptionen, die helfen, das Erziehungs-, Bildungs- und Prüfungssystem längerfristig zu befähigen, allen Menschen eine dynamische Entwicklung ihrer Lernfähigkeit zu ermöglichen, damit sie ihre Rolle auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich erfüllen sowie ihre Wettbewerbsfähigkeit verbessern“417 (Oktatási Minisztérium 2005a, S. 11).
414
Oktatási Minisztérium Vgl. Kapitel 3.2.2.2. 2002 gewann wieder die sozialliberale Koalition von MSZP und SZDSZ die Wahl. Ministerpräsident wurde Péter Medgyessy, der 2004 von Ferenc Gyurcsány abgelöst wurde. 417 „E stratégia célja, hogy vázolja azokat a szakpolitikai irányvonalakat, az azokra épülĘ gyakorlati teendĘket, amelyek mentén az oktatási, képzési és minĘsítési rendszerek hosszú távon alkalmassá tehetĘk arra, hogy megfelelĘ alapokat és folyamatos fejlĘdési lehetĘségeket biztosítsanak mindenki számára tanulási képességeik és igényeik dinamikus bĘvüléséhez, a munkaerĘpiacon történĘ hathatós szerepléshez, a versenyképesség javításához.“ 415 416
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
235
Adressaten des Dokuments sind einerseits die Akteure der ungarischen Bildungspolitik, die die Verwirklichung der Strategie zu leisten haben. Andererseits ist die Strategie auch an die Europäische Kommission adressiert, deren Leitlinien sie adaptiert hat. 2) Aufbau und Inhalt Das Dokument beinhaltet sechs Kapitel auf 64 Seiten und ist mit einer ausführlichen Literaturliste vor allem mit Veröffentlichungen der Europäischen Union und der OECD versehen. Die sechs Kapitel sind: 1) Hauptrichtungen der ungarischen Entwicklung des lebenslangen Lernens,418 2) Das Paradigma des lebenslangen Lernens,419 3) Gesellschaftliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen des lebenslangen Lernens,420 4) Prioritäten der Strategie des lebenslangen Lernens,421 5) Verständnis und Schlüsselgebiete des lebenslangen Lernens,422 6) Ausbau eines Lifelong-Learning-Systems.423 Das Dokument stellt also zunächst die „Hauptrichtungen der ungarischen Entwicklung des lebenslangen Lernens“ (ebd. S. 5) vor. Danach wird beschrieben, was unter dem Begriff „Lebenslanges Lernen“ verstanden wird und welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bei der Verwirklichung zu beachten sind. In Kapitel 4 werden die fünf Prioritäten der Strategie definiert, die im Folgenden als „Schlüsselthemen des Lebenslangen Lernens“ (ebd. S. 33) ausbuchstabiert und mit einem ausführlichen Maßnahmenkatalog ausgestattet werden. Zum Schluss werden die Fragen bezüglich Qualitätssicherung und Finanzierung beim „Ausbau des Lifelong Learning-Systems“ (ebd. S. 55) erörtert. Schon im ersten Satz wird aufgezeigt, dass „Lebenslanges Lernen“ – ebenfalls wie im HEF OP – in erster Linie als Mittel zur wirtschaftlichen Entwicklung angesehen wird: „Mit der Ausarbeitung der Strategie des Lebenslangen Lernens bestimmt die Regierung […] die Richtung der Humankapitalentwicklung langfristig“424 (Oktatási Minisztérium 2005b, S. 5). Das Dokument bestimmt „grundsätzlich im Einklang mit der strukturellen Planung der Europäi-
418
„Az egész életen át tartó tanulás hazai fejlesztésének fĘ stratégiai irányai“ „Az egész életen át tartó tanulás paradigmája“ 420 „Az egész életen át tartó tanulás társadalmi és gazdasági környezete“ 421 „Az egész életen át tartó tanulás stratégiájának prioritásai“ 422 „Az egész életen át tartó tanulás megközelítése és kulcsterületei“ 423 „Az egész életen át tartó tanulás rendszerének kiépítése“ 424 „A Kormány az egész életen át tartó tanulás stratégiájának megalkotásával hosszú távra […] határozza meg az emberi erĘforrás fejlesztésének irányait.“ 419
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
schen Union“425 (ebd. S. 12) die zukünftige Entwicklung der Humankapitalentwicklung in Ungarn. Zunächst beschäftigt sich das Dokument mit der Frage, „inwieweit das Konzept des Lebenslangen Lernens eine neue Perspektive im Vergleich zu den früheren bildungspolitischen Herangehensweisen darstellt“426 (ebd. S. 13). Nach einer knappen Auflistung der nötigen Voraussetzungen wie staatliche Unterstützung, Transparenz und Durchlässigkeit der Bildungsinstitutionen, Bereitstellung von gesetzlichen Rahmenbedingungen und Kooperation mit Vertretern der Zivilgesellschaft (ebd. S. 5f.), werden die Richtungen der zukünftigen Entwicklung definiert. Vor allem Chancengleichheit beim Zugang zur Bildung bzw. die Förderung von bildungsbenachteiligten gesellschaftlichen Gruppen427 sollen durch gezielte Programme verbessert werden. Die Anpassung des Bildungssystems an die Anforderungen der nationalen und europäischen Wirtschaft, die inhaltliche und methodische Entwicklung von Erziehung und Bildung, die Ausarbeitung eines Qualitätssicherungssystems gehörten neben der Bereitstellung von juristischen Rahmenbedingungen und der erforderlichen institutionellen und finanziellen Mittel zu den wichtigsten Entwicklungsrichtungen. Das Dokument zeigt die Grundbotschaften des Memorandums in Kapitel 2 als das „Lifelong-Learning-Paradigma“ (ebd. S. 11f.) auf und übernimmt die Interpretation der Europäischen Kommission kritiklos. In diesem Sinne wird im nächsten Kapitel das Nachfrage-Angebot-Verhältnis von Erziehung und Bildung sowie dessen gesellschaftlich-wirtschaftliche Umwelt analysiert, mit dem Ziel, die Faktoren zu bestimmen, die „die Qualität der Humankapitalentwicklung“ beeinflussen (ebd. S. 13). Dies geschieht mit Hilfe von internationalen Vergleichsstudien vor allem der OECD428 bzw. nach Angaben der zentralen ungarischen Statistikbehörde KSH429 durch Vergleich mit dem europäischen Durchschnitt bzw. mit anderen EU-Ländern. In Bezug auf die „gesellschaftlichen Herausforderungen“ thematisiert das Dokument die widersprüchlichen Zielsetzungen, die mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ verbunden werden. Es stellt zwei Problemfelder vor: das Dilemma des Ausbildungsziels430 sowie das Problem der Kostenwirksamkeit.431 Erstere 425
„alapvetĘen az Európai Unió strukturális tervezésével összhangban“ „A stratégia elsĘ fejezete arra keresi a választ, hogy az egész életen át tartó tanulás paradigmája mennyiben jelent új megközelítést a korábbi oktatásügyi gondolkodásmódokhoz képest.“ 427 Hier werden Niedrigqualifizierte, Behinderte, die Roma-Minderheit, junge Mütter sowie „sonstige Benachteiligte“ wie Obdachlose, Vorbestrafte und Menschen mit Migrationshintergund explizit genannt (ebd. S. 5f). 428 Z. B. die PISA-Studien 2000 und 2003 oder „Education at a Glance“. 429 Központi Statisztikai Hivatal 430 „a képzés céljának dilemmája“ 431 „a költséghatékonyság dilemmája“ 426
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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meint die Entscheidung zwischen den Prioritäten Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Kohäsion: „Aufgrund finanzieller Engpässe erscheinen im heutigen Ungarn die Entwicklungsinteressen der der Wettbewerbsfähigkeit dienenden Elitenbildung und der der gesellschaftlichen Kohäsion dienenden Massenbildung meistens als politisches Dilemma. In Wirklichkeit sind eine begabungsfördernde Elitenbildung und eine für breitere gesellschaftliche Schichten bereitgestellte Qualitätsmassenbildung nur zwei sich gegenseitig ergänzende Seiten der Begabungs-, also im Endeffekt der Humankapitalförderung432 (ebd. S. 19f.).
Das zweite Dilemma Qualität versus Quantität soll – im Sinne der Europäischen Union – zugunsten einer längerfristigen Qualitätsverbesserung entschieden werden. Im Gegensatz zu der heutigen Praxis, in der das Finanzierungssystem eine quantitative Entwicklung fördere. Unter „makrowirtschaftlichen Herausforderungen“433 (ebd. S. 20) werden – vor allem nach OECD-Untersuchungen – Probleme der Beschäftigung verstanden: 1) die zu niedrige Zahl der Beschäftigten insgesamt, vor allem bei unqualifizierten Menschen, 2) die durch die Alterung der Gesellschaft entstehenden Benachteiligungen am Arbeitsmarkt, sowie 3) die mangelhafte Verbreitung der neuen Informations- und Kommunikationstechniken. Auch der „Zustand des heimischen Humankapitals“434 (ebd. S. 22) zeige sich im europäischen Vergleich als nicht ausreichend. Zum Schluss werden die aktuellen Probleme der einzelnen Bildungsbereiche aufgezeigt: 1) Das Schulsystem verstärkt soziale Ungleichheiten,435 2) die Berufsbildung hat sich noch nicht den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes angepasst, 3) das Hochschulsystem expandiert zwar über dem OECD-Durchschnitt aber regional sehr unterschiedlich.
432
„A szĦkös anyagi források mellett a versenyképességet zászlajára tĦzĘ elitképzés és a társadalmi kohézió célját megvalósítani hivatott tömegoktatás fejlesztési érdekei ma Magyarországon legtöbbször politikai dilemmaként jelennek meg, miközben a tehetségmentést szolgáló elitnevelés és a széles társadalmi merítést biztosító minĘségi tömegoktatás valójában a tehetséggazdálkodásnak – végsĘ soron a humánerĘforrás-gazdálkodásnak – egymást kiegészítĘ oldalai.“ 433 „makrogazdasági kihívások“ 434 „A hazai humánerĘforrás állapota“ 435 Die PISA-Studie hat aufgezeigt, dass in Ungarn – wie in Deutschland – der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg sehr stark ist. Das ungarische Bildungssystem gleicht diese Unterschiede nicht aus, sondern verstärkt sie noch.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Aufgrund dieser Beschreibungen werden fünf Prioritäten für die Verwirklichungsstrategie zum Lebenslangen Lernen formuliert: 1. Verbesserung der Chancengleichheit, 2. Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft, 3. Ausarbeitung neuer Steuerungsmethoden (auf der Regierungsebene), 4. Verbesserung der Kostenwirksamkeit von Erziehung und Bildung bzw. mehr Investitionen ins Humankapital sowie 5. Qualitätsverbesserung. Das vierte Kapitel „identifiziert die Entwicklungsrichtungen innerhalb der Schlüsselthemen, die in die Zuständigkeit der Lifelong Learning-Politik gehören und kennzeichnet die konkreten Handlungsfelder bzw. zeigt ihre konkreten Entwicklungsziele auf“436 (ebd. S. 13). Diese beziehen sich sowohl auf die längerfristige Planung von Erziehung und Bildung als auch auf die Lösung akuter Probleme des Arbeitsmarktes. Das Schlüsselthema Entwicklung von Schlüsselkompetenzen bezieht sich vor allem auf die erste Priorität des Plans, nämlich die Verbesserung der Chancengleichheit.437 Als geplante Maßnahmen werden dazu die Verbesserung des Niveaus der Vorschulbildung, die Schaffung eines auf Kompetenzentwicklung zielenden Unterrichts in der Pflichtschule, sowie die Einführung einer diese Kompetenzen messenden Abiturprüfung beschrieben.438 Die Anpassung des Bildungsangebots an die Anforderungen des Arbeitsmarktes sollte durch die „Modernisierung und Rationalisierung des Bildungssystemnetzes“439 (ebd. S. 36), durch die Gründung von regionalen Wissenszentren an den Hochschulen, durch die Verwirklichung der in der Bologna-Erklärung festgelegten Strukturveränderungen sowie durch ein breiteres Angebot für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an den Hochschulen gewährleistet werden. Diese Maßnahmen sollten der Verwirklichung der ersten und der zweiten Prioritäten, also der Verbesserung der Chancengleichheit und der Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft dienen. Zum Entstehungszeitpunkt des Dokuments existierten in Ungarn bereits neun regionale Berufsbildungszentren.440 Durch mehr Lernmöglichkeiten sollte die Verbesserung der Kostenwirksamkeit von Erziehung und Bildung bzw. mehr Investitionen ins Humankapital mit einer gleichzeitigen Optimierung der Chancengleichheit verwirklicht werden. Dazu ist geplant, die Nutzung von 436 „A negyedik fejezet azonosítja az egész életen át tartó tanulás politikájának hatókörébe tartozó kulcsterületeken a fejlesztési irányokat, és konkrét beavatkozási területeket jelöl ki, illetve fejlesztési célokat tĦz ki azokon belül.“ 437 In diesem Kapitel werden in Klammern die Prioritäten aufgezeigt, denen die einzelnen Schlüsselthemen zugeordnet werden können. 438 „kompetenciaalapú érettségi“ 439 „A képzési intézményhálózat modernizációja és racionalizálása“ 440 „Térségi Integrált SzakképzĘ Központ (TISZK)“
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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neuen Medien als grundlegende Kompetenz zu definieren, die Lernmöglichkeiten am Arbeitsplatz zu erweitern sowie die Möglichkeiten des informellen Lernens zu verbessern, z.B. durch Fernstudien. „Diese alternativen Lernmöglichkeiten wurden in den Ländern, die in der globalen Lernindustrie eine führende Position haben, größtenteils schon erprobt und bewertet. Da Ungarn sich eine lange Innovationsphase nicht leisten kann, scheinen der ´Import´ dieser erfolgreichen Praktiken sowie die Verwirklichung von internationalen Kooperationsprojekten die beste Lösung zu sein“441 (ebd. S. 41).
Um die zweite Priorität zu verwirklichen, sollen zudem neue Angebote zur Berufsberatung geschaffen sowie die Anerkennung von non-formalen und informellen Lernprozessen gewährleistet werden. Benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen soll durch gezielte Förderung bzw. Integration zu besseren Bildungschancen geholfen werden. Hier spiele die Verminderung der für Ungarn sehr typischen regionalen Unterschiede zwischen Großstädten und Dörfern eine sehr wichtige Rolle. Der fünften Priorität des Strategischen Plans entsprechend soll eine neue Lehr- und Lernkultur etabliert werden, die u. a. auf einer neuen Lehrerrolle basiert. Um dies verwirklichen zu können, soll auch die Pädagogenausbildung grundsätzlich verändert sowie durch ein neues Prüfungssystem eine neue Qualitätskultur geschaffen werden. Tabelle 24 fasst die geplanten Maßnahmen je nach Handlungsfeld zusammen und zeigt ihren Zusammenhang mit den Prioritäten der ungarischen nationalen Strategie auf.
441 „Ezek az alternatív tanulási technikák a globális tanulásiparban élen járó államok egy részében már bejáratottak és értékeltek. Magyarország számára nincs mód e hosszú innovációs szakasz megismétlésére, a már sikeres gyakorlatok ´importálása´ és a nemzetközi együttmĦködésben megvalósított projektek látszanak megoldásnak.“
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Handlungsfelder Entwicklung von Grundfähigkeiten und Schlüsselkompetenzen
Erweiterung der Lernangebote in der beruflichen Bildung, in der Hochschulbildung sowie in der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung
Kontinuierliche Erweiterung der Lernmöglichkeiten
Berufsorientierung, Beratung und Karriere
Anerkennung von non-formalen und informellen Lernprozessen Unterstützung von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt
Schaffung einer neuen Lernkultur
Maßnahmen Verbesserung des Niveaus der Vorschulbildung auf Kompetenzentwicklung zielender Unterricht Einführung einer Kompetenzen messenden Abiturprüfung Modernisierung und Rationalisierung des Bildungssystemnetzes Gründung von regionalen Wissenszentren an den Hochschulen Strukturveränderungen gemäß der Bologna-Erklärung breiteres Angebot für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an den Hochschulen Nutzung der neuen Medien als grundlegende Kompetenz Erweiterung der Lernmöglichkeiten am Arbeitsplatz Verbesserung der Möglichkeiten des informellen Lernens, z.B. durch Fernstudien Verbesserung des Berufsberatungssystems Schaffung eines landesweiten Netzes für Lernberatung Messung des Berufserfolgs von Absolventen Ausarbeitung eines Anerkennungssystems Einführung des Europasses Senkung der Schulabbrecherquote durch ein neues Entwicklungsprogramm für Berufsschulen, integrativen Unterricht sowie Minderung regionaler Unterschiede Ermöglichung eines Zweiten Bildungswegs Erneuerung der Lehrerbildung Qualitätssicherung durch neues Prüfungssystem
Prioritäten Qualitätsverbesserung (5)
Verbesserung der Chancengleichheit (1) Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft (2)
Verbesserung der Chancengleichheit (1) Verbesserung der Kostenwirksamkeit von Erziehung und Bildung bzw. mehr Investitionen ins Humankapital (4) Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft (2)
Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft (2) Verbesserung der Chancengleichheit (1) Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft (2)
Qualitätsverbesserung (5)
Tabelle 24: Prioritäten, Handlungsfelder und geplante Maßnahmen des Dokuments „A Magyar Köztársaság stratégiája az egész életen át tartó tanulásról“
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
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Die einzige bisher nicht diskutierte Priorität, die Ausarbeitung von neuen staatlichen Steuerungsmethoden (Priorität 3) wird im letzten Kapitel ausführlich erörtert. Als wichtigstes Prinzip wird dabei die Unterstützung von Innovationen definiert: „Es muss ein Steuerungsrahmen ausgearbeitet werden, der einerseits die Veränderungen unterstützt, andererseits innerhalb eines ich wandelnden Systems die Berechenbarkeit und ein bestimmtes Qualitätsniveau garantieren kann“442 (ebd. S. 55).
Das Dokument strebt an, nationale Forschungszentren – sog. „Elitezentren“443 – zu etablieren, die sowohl der Elitenbildung als auch der internationalen Kooperation dienen sollen. Auch die Qualifizierung der Schulträger soll zur Qualitätsverbesserung beitragen. Die Finanzierung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ soll zur gemeinsamen Aufgabe der lernenden Individuen, der Arbeitgeber und des Staates werden. Auch die Europäische Union müsse dafür verschiedene Quellen zur Verfügung stellen. Die Kooperation auf der ministeriellen Ebene, aber auch mit den Berufsverbänden und Vertretern der Zivilgesellschaft soll verbessert werden. Im Bereich der Qualitätskontrolle, Bewertung und Prüfung sollen einheitliche Standards vereinbart werden. Nicht zuletzt sei die internationale Zusammenarbeit unvermeidlich, um „Lebenslanges Lernen“ zu verwirklichen: „Obwohl die Koordination und Finanzierung der in der Strategie aufgezeigten Entwicklungsrichtungen im nationalen Rahmen verwirklicht werden, ist schon jetzt sichtbar, dass der Großteil der fachlichen Entwicklungen über den Rahmen des Nationalstaats hinausgeht. Dies kann zu einer Steuerung führen, die sowohl die best-practice-Beispiele der anderen Mitgliedsländer als auch die Charakteristika des globalen Wettbewerbsraums im Dienstleistungsbereich Erziehung und Bildung beachtet“444 (ebd. S. 60).
442 „Olyan szabályozási kereteket kell kialakítani, amelyek egyfelĘl támogatják a változásokat, másfelĘl egy változó rendszeren belül is biztosítani tudják a kiszámíthatóságot, továbbá garantálni tudják a minĘség bizonyos szintjét.“ 443 „kiválósági központok“ 444 „Noha a stratégiában körvonalazott fejlesztési irányok koordinációja és finanszírozása nemzeti keretrendszerben történik, máris látható, hogy középtávon a szakmai fejlesztések jelentĘs része túlnyúlik a nemzetállami kereteken, s ez elvezethet egy olyan szabályozáshoz, amely figyelembe veszi mind más tagállamok élenjáró gyakorlatát, mind az oktatási-tanulási szolgáltatások területén alakulóban lévĘ globális versenytér jellegzetességeit.“
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Das Dokument beinhaltet drei Anlagen: a) „Das Zielsystem des Lebenslangen Lernens und seine Beziehung zu den umfassenden Zielen des Landes“445 b) „Statistische Daten bezüglich des Lebenslangen Lernens“446 c) „Die wichtigsten Begriffe bezüglich des Lebenslangen Lernens“.447 Diese enthalten Hintergrundinformationen zu dem Dokument, wie statistische Daten, Erläuterung der Begrifflichkeit und tabellarische Erklärungen. Es gibt einige konzeptionelle Ansätze im Dokument, die nicht explizit beschrieben werden, sondern durch semantische Mittel erschlossen werden können. Das gilt zum Beispiel für die Betrachtung der Lernenden als Arbeitskräfte. In der Strategie wird zwar immer wieder betont, dass Lernen nicht nur ein Mittel zum Erwerb und Erhalt eines geeigneten Arbeitsplatzes ist, sondern ein alle Dimensionen des Lebens beeinflussender Faktor menschlichen Lebens, das im philosophischen Sinne ein Eigenwert besitzt, „in sich gut ist“448 (ebd. S. 14). Allerdings wird als Lernziel die Erhaltung und Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit genannt. Bei der Formulierung von Lernzielen für die Lebensphase nach der Erwerbstätigkeit zeigt nur das Wort „auch“,449 dass andere Lernziele im Konzept eine Nebenrolle spielen: „die Nutzung von Lernmöglichkeiten ist auch nach der aktiven Lebensphase wichtig“450 (ebd. S. 14, Hervorhebung von mir – A. Ó.). Das Dokument sieht „Lebenslanges Lernen“ als aus den Gegebenheiten der modernen Gesellschaft resultierendes „Muss“ an. Dies zeigt sich nicht in den inhaltlichen Aussagen des Dokuments, sondern z. B. durch die Nutzung von Hilfsverben. Zum Beispiel im Satz: „Wir leben in einer gefährlichen künstlichen Umwelt, die ein hohes technisches Niveau hat, in einer von der Natur abgelösten Gesellschaft, in der die gesunde Lebensführung praktisch gesehen lebenslang gelernt werden muss“451 (ebd., Hervorhebung von mir – A. Ó.).
Das Dokument ist durch eine hochgradige Konsensfreudigkeit der Argumentation gekennzeichnet. Diese zeigt sich in den Versuchen, kurzfristige und langfristige, rein wirtschaftliche und gesellschaftlich-humanitäre, individuelle und kollektive Aspekte als miteinander vereinbare Ziele der Bildungspolitik darzustellen. Das Dokument zeugt diesbezüglich einerseits von großem Optimismus, begründet durch die Beitrittseuphorie. Andererseits übernimmt es die Wider445
„Az egész életen át tartó tanulás célrendszere és kapcsolódása az ország átfogó céljaihoz“ „Az egész életen át tartó tanulással kapcsolatos statisztikai adatok“ „Az egész életen át tartó tanulással kapcsolatos fontosabb fogalmak“ 448 „önmagáért való jó“ 449 „is“ 450 […] a tanulási lehetĘségek kihasználása az aktív kort követĘen is fontos“ 451 „Magas technikai színvonalú és veszélyes mesterséges környezetben, a természettĘl elszakadt társadalomban élünk, amelyben az egészséges életvezetést gyakorlatilag egy életen át tanulni kell.“ 446 447
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
243
sprüchlichkeit des EU-Konzepts, das ebenfalls miteinander konkurrierende Ziele mit dem Lebenslangen Lernen verknüpft.452 Die Übernahme der Begrifflichkeit der Unionskonzepte schon ab dem ersten Satz zeigt auch stilistisch den Anpassungswillen der ungarischen Bildungspolitik, allerdings immer im Konsens mit den eigenen nationalen Zielsetzungen. Das Dokument spricht diesbezüglich über „die Harmonie der gemeinsamen europäischen Zielsetzungen und der nationalen Prioritäten“453 (ebd. S. 4). Über die Wahrnehmung des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ lässt sich Folgendes feststellen: Das Dokument bezieht sich explizit auf mehrere LifelongLearning-Dokumente von verschiedenen Institutionen der Europäischen Union. Im Text werden die Dokumente Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2001, die Entschließung des Rates der Europäischen Union zum Thema Lebenslanges Lernen vom 2002454 sowie die Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen vom 2005455 explizit erwähnt. Auch auf die Zielsetzungen und Methoden der Lissabon-Strategie456 wird im Dokument hingewiesen (vgl. ebd. S. 12). Das Memorandum über Lebenslanges Lernen (Europäische Kommission 2000) wird im Text zwar nur indirekt zitiert, aber im Inhaltsverzeichnis erwähnt. Diese Dokumente bestimmen den Inhalt der ungarischen nationalen Strategie zur Verwirklichung des Lebenslangen Lernens grundlegend. Die Europäische Kommission, die 2000 in ihrem Memorandum alle Mitgliedsländer um die Ausarbeitung einer kohärenten nationalen Strategie zum Lebenslangen Lernen gebeten hat, ist auch die implizite Adressatin des Dokuments. Im Inhaltsverzeichnis werden noch die OECD-Dokumente Lifelong Learning for All 1996 und 2001 aufgelistet. Diese werden im Text nicht genannt, dafür werden dort aber mehrere OECD-Untersuchungen (u. a. die PISAStudie 2000/2003, Education at a Glance 2002/2004) zitiert. Außerdem werden auch einige nationale Konzepte (u. a. aus Schottland, Holland, Österreich und Finnland) im Dokument explizit erwähnt. Die ungarischen nationalen Dokumente Nemzeti Fejlesztési Terv und das HumánerĘforrás-fejlesztés Operatív Program werden im Dokument ebenfalls mitberücksichtigt.
452
Vgl. Kapitel 3.1. „az európai közös célkitĦzések és nemzeti prioritások összhangja“ Beide Dokumente vgl. Kapitel 3.1.3. 455 Vgl. Kapitel 3.1.4. 456 Vgl. Kapitel 3.1.3. 453 454
244
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Im Folgenden werden die wesentlichen Tendenzen der ungarischen nationalen Strategie zur Verwirklichung des Lebenslangen Lernens aufgezeigt. 3) Wesentliche Tendenzen Die wesentlichen Tendenzen des Dokuments sind folgende Punkte: a) Lebenslanges Lernen wird einerseits als Humankapitalentwicklung, b) andererseits als Mittel zur Verbesserung der Chancengleichheit und der gesellschaftlichen Kohäsion verstanden. Letztere soll durch Kompetenzentwicklung für alle erreicht werden. c) In Anlehnung an die offene Koordinationsmethode 457 soll in der nationalen bildungspolitischen Steuerung ein neues Koordinierungsverfahren eingeführt werden. a) Lebenslanges Lernen als Humankapitalentwicklung Das Dokument betrachtet „Lebenslanges Lernen“ in erster Linie als Humankapitalentwicklung, wie dies schon der erste Satz verrät: „Mit der Ausarbeitung der Strategie des Lebenslangen Lernens bestimmt die Regierung langfristig […] die Richtung der Humankapitalentwicklung“458 (Oktatási Minisztérium 2005a, S. 5). Die Hauptrichtungen der Entwicklung, die am Anfang in fünf Punkten zusammengefasst werden, beziehen sich größtenteils auf wirtschaftliche Zielsetzungen. Die Modernisierung des Bildungssystems und die Verwirklichung des „Lebenslangen Lernens“ sollen vor allem dazu beitragen, dass sich Ungarn der „europäischen Gemeinschaft, den wirtschaftlich entwickelten Ländern mit Mitteln der Wissensgesellschaft“459 anschließt und seine Wettbewerbsfähigkeit kontinuierlich verbessert (ebd. S. 5). Nach Oskar Anweiler kann die Reformierung des Bildungssystems in den Transformationsländern Ost(Mittel)-Europas entweder als Folge des gesellschaftlichen Umbruchs oder als Folge der wirtschaftlichen Umorientierung in Richtung Marktwirtschaft interpretiert werden (Anweiler 1996, S. 18).460 In der ungarischen Strategie zum Lebenslangen Lernen wird die Umstrukturierung des Bildungswesens als eine Begleitmaßnahme der angestrebten wirtschaftlichen Modernisierung nach Empfehlungen der Europäischen Union, sprich Marktorientierung angesehen. In der nach kapitalistischen Grundprinzipien ausgerichteten Gesellschaft stehen vor allem wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund. 457
Vgl. Kapitel 3.1.3. „A Kormány az egész életen át tartó tanulás stratégiájának megalkotásával hosszú távra […] határozza meg az emberi erĘforrás fejesztésének irányait.“ 459 „az európai közösséghez, a fejlett országokhoz való felzárkózáshoz, a tudásalapú társadalom eszközeivel“ 460 Vgl. Kapitel 3.2.2.2. 458
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
245
Dementsprechend ist die Anpassung des Bildungssystems an die Wirtschaft eine der Prioritäten der Strategie. Die lernenden Menschen werden vor allem als „potenzielle Arbeitnehmer“ (Oktatási Minisztérium 2005b, S. 5) betrachtet, die man durch kontinuierliches Lernen befähigen kann, sich den Veränderungen des Arbeitsmarktes anzupassen. Lernen wird definiert als ein Faktor, der die Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität (von Individuen und Gemeinschaften) am meisten beeinflusst. Auch die Forderung nach Chancengleichheit beim Zugang zur Bildung zielt in erster Linie auf die arbeitsmarktbezogene Kompetenzentwicklung. Diese starke ökonomische Ausrichtung des Konzeptes – die auch für das HEF OP charakteristisch war – resultiert einerseits aus dem EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“, andererseits auch aus dem Lifelong-Learning-Verständnis der OECD, das im Dokument ebenfalls eine Rolle spielt. b) Chancengleichheit und gesellschaftliche Kohäsion durch Kompetenzentwicklung Die Förderung der Chancengleichheit steht bei den Zielsetzungen des Dokuments ganz oben. In den Mittelpunkt wird dabei die „gezielte Förderung von aus der Perspektive des Arbeitsmarktes benachteiligten Gruppen“461 (ebd. S. 6) gestellt. Als solche Gruppen gelten Un- und Niedrigqualifizierte, Behinderte, die ungarische Roma-Minderheit, Frauen im Mutterschafts- oder Erziehungsurlaub, Ältere sowie „sonstige“ Benachteiligte, wie Migranten, Obdachlose und Vorbestrafte (ebd.). Für diese gesellschaftlichen Gruppen fordert das Dokument die Ausarbeitung von speziellen, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Lernangeboten und Förderprogrammen. Chancengleichheit und gesellschaftliche Kohäsion soll durch „Kompetenzentwicklung für alle“ (ebd. S. 15) verwirklicht werden. Kompetenzentwicklung wird im Dokument als Garant für die gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit der Individuen, sowie ihre Fähigkeit zur Erneuerung und zur Innovation betrachtet. Es werden dazu Grundfähigkeiten462 und Schlüsselkompetenzen463 definiert. Ersteres meint die Summe der zum Leben in der modernen Gesellschaft nötigen Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Kommunizieren (Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechniken, Fremdsprachenkenntnisse), Entscheiden, Arbeiten und Mitarbeiten, selbstständig lernen sowie gesund leben können. Unter Schlüsselkompetenzen werden Kompetenzen verstanden, die das Individuum befähigen, immer Neues zu lernen, je nach den Anforderungen des Arbeitsplatzes und den biografischen Bedürfnissen. Die Schlüsselkompetenzen sieht das Dokument als Ergänzung der Grundfähigkeiten an. Ob461
„A munkaerĘpiaci szempontból hátrányos helyzetĦ csoportok célzott támogatása.“ alapképességek 463 kulcskompetenciák 462
246
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
wohl die Beachtung der Bedürfnisse und Interessen der lernenden Individuen immer wieder betont wird, versteht das Dokument darunter vor allem die Verbesserung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit und der beruflichen Chancen. In einem Bericht über die Verwirklichung des Lebenslangen Lernens fasst das Ungarische Bildungsministerium die bisher eingeleiteten Maßnahmen zusammen: Die Veränderung des Volksbildungsgesetzes 2003 soll die frühe Selektion und Segregation zurückdrängen, z.B. durch die Begrenzung der Möglichkeiten der Klassenwiederholung in der Unterstufe464 sowie durch die Erweiterung des Kindergartensystems. Auch die Modernisierung der Fachausbildung sowie die Integration von Kindern mit speziellem Förderbedarf (u. a. RomaKinder) sollen die Chancengleichheit verbessern. Als staatliche Aufgabe wird im Dokument die Unterstützung bei der Verwirklichung der Chancengleichheit und der Gewährleistung der individuellen Freiheit bei der Auswahl der Lernangebote definiert (vgl. Oktatási Minisztérium 2005b). c) Neues Koordinierungsverfahren nach der Methode der Offenen Koordination Das Dokument kündigt an, dass die Modernisierung des Bildungssystems und die Verwirklichung des „Lebenslangen Lernens“ in Ungarn mit der Etablierung neuer Steuerungsstrukturen einhergehen sollen. Das Dokument strebt dementsprechend an, neue Methoden in der Bildungssteuerung einzuführen, indem sie Methoden und Verfahren der EU explizit übernimmt. Diese basieren auf den Erfahrungen mit der Open Method of Coordination.465 „Die EU wendet im Rahmen des Lissabon-Prozesses auch im Bereich Erziehung und Bildung die sog. Offene Koordinierungsmethode an. Die kreative Anwendung dieser sich noch in Gestaltung befindlichen neuen Theorie und Praxis stellt an Ungarn bei der Verwirklichung des Lebenslangen Lernens neue Anforderungen, währenddessen sie für die Politik in Bezug auf die internationale Zusammenarbeit neue Perspektiven eröffnet“466 (ebd. S. 61).
464
Die Unterstufe in der Grundschule hat das Ziel, grundlegende kulturelle Kenntnisse zu vermitteln. Sie entspricht dem deutschen Grundschulbereich. Sie wird von den Schülern vier Jahre lang besucht. Das wichtigste Charakteristikum der Unterstufe ist, dass der gesamte Unterricht (ausgenommen die so genannten Fertigkeitsfächer wie Singen, Turnen, Zeichnen) von einem Klassenlehrer erteilt wird. Vgl. Kapitel 3.2. 465 Vgl. Kapitel 3.1.3. 466 „Az EU a lisszaboni folyamat keretében az oktatás és képzés területén is az ún. nyitott koordináció módszerét alkalmazza. Ennek a formálódóban lévĘ új szemléletnek és gyakorlatnak a kreatív alkalmazása Magyarország elé az egész életen át tartó tanulás stratégiájának megvalósítása terén is új követelményeket állít, miközben a politika számára a nemzetközi együttmĦködések vonatkozásában újszerĦ perspektívákat nyit meg.“
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
247
Im Dokument wird die Koordination der Verwirklichung des Konzeptes als staatliche Aufgabe definiert: „Die strategische Koordination des lebenslangen Lernens muss im Einklang mit den Erwartungen der Union und der Praxis einiger Mitgliedsländer auf die Ebene der Regierungssteuerung gehoben werden“467 (Oktatási Minisztérium 2005b, S. 59). Im nächsten Schritt wird angestrebt, ein „kohärentes System des Lebenslangen Lernens“ (ebd. S. 55) aufzubauen, das Innovationen unterstützt und die Qualität und Finanzierung der Lernangebote sichert. Im Sinne des OMC soll die nationale Koordination auf einem gesellschaftlichen Konsens basieren und nicht nur durch staatliche Organe, sondern auch andere gesellschaftliche Partner durchgeführt werden. Die Kompetenzen und die Bildungspraxis der anderen Steuerungsebenen468 sollen bei der neuen Koordinierung weitgehend respektiert werden: „Die Absicht der Strategie ist, die konsensuale Grundlage für die Aktionsprogramme und Handlungspläne der verschiedenen Entwicklungsbereiche zu sein“469 (ebd. S. 8). Dementsprechend wird die Aufgabe des Staates neu akzentuiert: Er übernimmt die Rolle der Koordinierung und Unterstützung, zeichnet aber nicht allein für das Funktionieren des Bildungssystems verantwortlich. Die Strategie hebt fünf Aufgaben hervor, von denen drei sich explizit auf die staatliche Unterstützung bei der Verwirklichung der Chancengleichheit beziehen: „- der Staat soll die Verwirklichung der gesellschaftlichen Chancengleichheit unterstützen und die Wahlfreiheit der Individuen bezüglich der Bildungsangebote sichern, die Menschen sollen nach ihren Fähigkeiten und Interessen lernen können; - der Staat soll das Bildungssystem für alle Beteiligten transparent gestalten und den Zugang zur Bildung sowie die kontinuierliche Finanzierung des Lernens unabhängig von der Finanzkraft der Individuen gewährleisten sowie - den Individuen – die Finanzkraft und Lebenssituation beachtend – auch Mittel zur Verfügung stellen, die sie nicht zurückzahlen müssen“ 470 (ebd. S. 6).
467
„Az uniós elvárásokkal és több tagállam gyakorlatával harmonizálva az egész életen át tartó tanulás stratégiai koordinációját kormányzati szintre kell emelni“ 468 Die regionale Ebene der Selbstverwaltungen der Komitate, die lokale Ebene der kommunalen Selbstverwaltungen sowie die Ebene der einzelnen Bildungsinstitutionen, vgl. Kapitel 3.2.2. 469 „A stratégia szándéka, hogy konszenzusos alapját képezze a rendszerszerĦ fejlesztést szolgáló különbözĘ ágazatok cselekvési programjainak és akcióterveinek.“ 470 „- az állam támogassa a társadalmi esélyegyenlĘség megvalósítását, biztosítsa az egyén szabadságát a képzési lehetĘségek közötti választásban, a képességei, érdeklĘdési köre szerinti tanulásban - az oktatási, képzési rendszer legyen átlátható minden résztvevĘ számára, tegye lehetĘvé a képzéshez való hozzáférést és a képzés folyamatos finanszírozását az egyéni teherviselĘ-képességtĘl függetlenül; - biztosítson – az egyéni teherviselĘ-képességre és élethelyzetre tekintettel – vissza nem térítendĘ forrásokat is“
248
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Beim letzten Punkt soll eine effektive Nutzung der staatlichen Finanzen gewährleistet werden. Die anderen beiden Aufgaben beziehen sich auf die Anpassung der Gesetze an die Anforderungen „Lebenslangen Lernens“ sowie auf die Kooperation mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Wie oben dargestellt, hat das Dokument eine stark vereinigende Perspektive, in deren Rahmen es verschiedene, oft miteinander konkurrierende und paradoxe Zielsetzungen zu vereinbaren sucht. Wie weit sich diese auf der Ebene der Bildungspraxis vereinigen lassen, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Im Dokument fehlt eine individuelle, auf die speziellen Bedürfnisse der lernenden Menschen bezogene Sichtweise vom „Lebenslangen Lernen“. Im Vordergrund stehen die Erhaltung und die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit der Individuen, um dadurch die nationale und europäische Wirtschaft und die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken. Außerhalb dieser kollektiven Dimension werden keine individuellen Lernziele berücksichtigt. Das Dokument beinhaltet weder Theorie- noch Praxisbeispiele aus anderen europäischen und nichteuropäischen Ländern. Die Erwähnung anderer Länder dient lediglich der Bestätigung des eigenen Reformvorhabens mit dem Hinweis, dass die jeweilige Maßnahme auch in anderen Ländern durchgeführt wurde. Auch die eigenen nationalen Projekte zur Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ werden nicht konkret vorgestellt oder erwähnt. Die ungarische nationale Strategie übernimmt die Interpretation des lebenslangen Lernens der EU-Dokumente kritiklos. Die Widersprüchlichkeit der Zielsetzungen, die mit dem Konzept verbunden werden, wird zwar thematisiert, aber als Schein-Widerspruch abgetan (ebd. S. 19f.). In Bezug auf die Adaptation des EU-Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ lässt sich feststellen, dass das Dokument eine starke inhaltliche Orientierung an Konzepten und Empfehlungen der Europäischen Union, vor allem am Dokument Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (vgl. Europäische Kommission 2001) aufweist. Die Aktionsschwerpunkte der Mitteilung lassen sich folgendermaßen mit den Prioritäten der Strategie verbinden (vgl. Tabelle 25):
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
A Magyar Köztársaság stratégiája az egész életen át tartó tanulásról Entwicklung von Grundfähigkeiten und Schlüsselkompetenzen - Erweiterung der Lernangebote in der beruflichen Bildung, in der Hochschulbildung sowie in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung - Kontinuierliche Erweiterung der Lernmöglichkeiten Schaffung einer neuen Lernkultur Anerkennung von non-formalen und informellen Lernprozessen Berufsorientierung, Beratung und Karriere Unterstützung von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt
249
Mitteilung. Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen Grundqualifikationen Zeit und Geld in Lernen investieren
Innovative Pädagogik Bewertung des Lernens Information, Beratung und Orientierung Lernende und Lernangebote zusammenführen
Tabelle 25: Übereinstimmungen der Handlungsfelder des Dokuments „A Magyar Köztársaság stratégiája az egész életen át tartó tanulásról“ mit den Aktionsschwerpunkten der Mitteilung „Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen“ (Europäische Kommission 2001) Wie Tabelle 25 zeigt, gibt es eine hochgradige Übereinstimmung der Schwerpunktsetzungen der ungarischen nationalen Strategie mit der Mitteilung. Es gibt nur geringfügige Unterschiede in Bezug auf die Wortwahl, wobei das ungarische Dokument die sehr allgemeinen Bezeichnungen der EU-Dokumente an einigen Stellen konkretisiert: Das EU-Dokument spricht über „Grundqualifikationen“, die das ungarische Dokument in „Grundfähigkeiten“ und „Schlüsselkompetenzen“ aufteilt. In Bezug auf die Bewertung des Lernens verweist auch das ungarische Dokument – ebenso wie die deutsche nationale Strategie – in erster Linie auf die Anerkennung von non-formalen und informellen Lernprozessen. In Bezug auf die Zusammenführung von Lernenden und Lernangeboten konzentriert sich das ungarische Dokument auf den Aspekt der Chancengleichheit. Es wird hier der Aktionsschwerpunkt „Zeit und Geld in Lernen investieren“ – vor allem in Bezug auf die staatliche Verantwortung – thematisiert. Wie oben dargestellt, werden dabei in Kapitel 6 auch die Fragen der Finanzierung angesprochen. Im Gegensatz zu den Handlungsfeldern der ungarischen nationalen Strategie, die sich an den EU-Vorgaben orientieren, ist die Prioritätensetzung auf die Gegebenheiten und Probleme des nationalen Bildungssystems abgestimmt. Das auffälligste Beispiel ist die dritte Priorität des Dokuments, die die Etablierung von neuen staatlichen Steuerungsmethoden in Anlehnung an die OMC beinhaltet. In Bezug auf die Adaptationsdimension des Dokuments lässt sich also feststellen, dass es eine doppelte Perspektive beinhaltet: Einerseits kann es als wich-
250
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
tigstes Mittel zur Umsetzung der gemeinsamen europäischen Bildungspolitik angesehen werden (Halász 2006, S. 12): „Das Ziel dieser Strategie ist […] die Erfüllung der im ´Lissabonner Prozess´ formulierten Anforderungen der EU in Ungarn. Nach diesen muss das Land bis 2006 im Rahmen des Prozesses der ´Offenen Koordination´ eine fachliche Strategie zum Aufbau eines einheitlichen Systems des Lebenslangen Lernens ausarbeiten“ 471 (ebd. S. 11).
Andererseits gilt die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ auch als Lösung spezifischer ungarischer Probleme: „Die Erfüllung dieser Aufgabe ist gleichzeitig eine Chance und eine Herausforderung. Heutzutage hat die ungarische Gesellschaft und Wirtschaft zahlreiche Modernisierungsprobleme und – möglichkeiten, auf die sie ohne den Aufbau eines Lifelong Learning-Systems keine adäquate und effektive Antwort geben kann“472 (ebd.).
In einem Bericht des Bildungsministeriums an den Europäischen Rat und an die Kommission über die Strategie wird diese doppelte Perspektive ebenfalls betont: „Das Papier knüpft in mehreren Punkten an die EU-Prozesse (von Lissabon und Kopenhagen) an, wurde aber souverän ausgearbeitet. Die Dokumente der Union haben vor allem den Lernprozess unterstützt, der die zur Erarbeitung der Strategie nötige hiesige geistige Kapazität produziert hat“ 473 (Oktatási Minisztérium 2005b, S. 8). Als Schlussfolgerung wird noch mal betont, dass die Richtung der bildungspolitischen Entwicklungen, vor allem in Bezug auf die Koordination und Finanzierung mittelfristig über den nationalstaatlichen Rahmen hinausgehen wird. Deswegen wird in der Zukunft angestrebt, grenzüberschreitende Regionalkonzepte auszuarbeiten, um die internationalen Kooperationsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Unionsprogramme auszuschöpfen sowie die best-practice-Erfahrungen anderer Länder stärker zu nutzen.
471
„E stratégia célja […], hogy Magyarország teljesítse az egész életen át tartó tanulás területén az EU ´lisszaboni folyamata´ által meghatározott követelményeket. Eszerint Magyaroszágnak az egész életen át tartó tanulást az ún. ´nyitott koordináció´ folyamatában 2005-re mind szakmailag értelmezett és artikulált stratégiát és rendszert kell alkotnia.“ 472 „A feladat teljesítése azonban egyben alkalom és kihívás is. Napjainkban a magyar társadalom, az ország gazdasága számos olyan modernizációs problémával és lehetĘséggel szembesül, amelyekre az egész életen át tartó tanulás rendszerszerĦ elterjesztése nélkül nem található adekvát, hatékony megoldás.“ 473 „Az EU-s folyamatokhoz (lisszaboni, koppenhágai) több ponton is kapcsolódik az anyag, de megalkotása szuverén módon történt.“
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
251
4.4.3 Zusammenfassung und Vergleich Im Folgenden werden die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der analysierten bildungspolitischen Dokumente vorgestellt. Sowohl die Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland als auch A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról stellen eine bildungspolitische Strategie zum lebenslangen Lernen auf der höchsten politischen Ebene der Bildungsverwaltung dar: in Ungarn auf der Landesebene, in Deutschland auf der Bundesebene. Beide wurden auf Anregung der Europäischen Union, im Rahmen des Lissabon-Prozesses (OMC) ausgearbeitet und sie beziehen sich explizit – wie in den Einzelanalysen dargestellt wurde – auf dessen Zielsetzung. Dementsprechend beeinflussten die EU-Dokumente Memorandum über Lebenslanges Lernen (Europäische Kommission 2000) und Ein europäischer Raum des Lebenslangen Lernens (Europäische Kommission 2001) sowohl das Verständnis vom Lebenslangen Lernen als auch die konkreten Schwerpunktsetzungen der nationalen Strategien. Die Entwicklungsschwerpunkte der deutschen und die Handlungsfelder der ungarischen nationalen Strategie weisen eine hochgradige Übereinstimmung mit den Grundbotschaften des Memorandums474 und den Aktionsschwerpunkten der Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen auf (vgl. Tabelle 26).
474
Obwohl das ungarische Dokument sich explizit nur auf die Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (Europäische Kommission 2001) bezieht.
252
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland Kompetenzentwicklung –
Neue Lernkultur Selbststeuerung Modularisierung Informelles Lernen Lernberatung
Vernetzung Chancengleichheit
A Magyar Köztársaság stratégiája az egész életen át tartó tanulásról Entwicklung von Grundfähigkeiten und Schlüsselkompetenzen Erweiterung der Lernangebote in der beruflichen Bildung, in der Hochschulbildung sowie in der Erwachsenenbildung/Weiterbildung Kontinuierliche Erweiterung der Lernmöglichkeiten Schaffung einer neuen Lernkultur Anerkennung von nonformalen und informellen Lernprozessen Berufsorientierung, Beratung und Karriere
Unterstützung von benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt
Memorandum über Lebenslanges Lernen Neue Basisqualifikationen für alle
Mitteilung. Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen Grundqualifikationen
Höhere Investitionen in Zeit und Geld in die Humanressourcen Lernen investieren
Innovation der Lehrund Lernmethoden
Innovative Pädagogik
Bewertung des Lernens
Bewertung des Lernens
Umdenken in der Berufsberatung und Berufsorientierung durch eine stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der Lernenden Das Lernen den Lernenden auch räumlich näher bringen
Information, Beratung und Orientierung
Lernende und Lernangebote zusammenführen
Tabelle 26: Übereinstimmungen der Entwicklungsschwerpunkte der „Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ und der Handlungsfelder des Dokuments „A Magyar Köztársaság stratégiája az egész életen át tartó tanulásról“ mit den Grundbotschaften des „Memorandums über Lebenslanges Lernen“ (Europäische Kommission 2000) sowie den Aktionsschwerpunkten der Mitteilung „Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen“ (Europäische Kommission 2001)
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
253
Beide Dokumente sind u. a. implizit an die Europäische Kommission adressiert, die 2000 in ihrem Memorandum alle Mitgliedsländer um die Ausarbeitung einer kohärenten nationalen Strategie zum Lebenslangen Lernen gebeten hat.475 Der Begriff „Lebenslanges Lernen“ ist in beiden Dokumenten das Schlüsselwort des Titels. In beiden Dokumenten werden zentrale Leitlinien für die zukünftige Entwicklung des nationalen Bildungswesens vorgestellt und Prioritäten oder Entwicklungsschwerpunkte genannt. Diese basieren vor allem auf dem im 2001 veröffentlichten EU-Dokument Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen und den darin beschriebenen Grundsätzen wie Kompetenzentwicklung, Vernetzung der Bildungsinstitutionen, Etablierung einer neuen Lernkultur oder Lernende im Mittelpunkt.476 Auch die politische Steuerung der Verwirklichung Lebenslangen Lernens zeigt in beiden Ländern Parallelen mit dem Verfahren der Open Method of Coordination der EU. Der wesentlichste Unterschied der Dokumente besteht darin, dass das ungarische Dokument eine kohärente nationale Strategie darstellt. Das deutsche Dokument kann dies aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht tun und definiert sich als „gemeinsam vereinbarte Strategie für Lebenslanges Lernen, die Aspekte und Zusammenhänge aufzeigt, bei denen unbeschadet der jeweiligen Zuständigkeiten weitgehend Konsens innerhalb der Länder und zwischen Bund und Ländern besteht“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S.11). In den deutschen und ungarischen nationalen Strategien – wie auch schon in den vorher analysierten bildungspolitischen Dokumenten – lässt sich zudem ein großer Unterschied bezüglich der Darstellung konkreter gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ereignisse feststellen: Das deutsche Dokument geht auf diese nicht ein, während das ungarische ihnen ein ganzes Kapitel (Kapitel 3) widmet. Weiterhin lässt sich eine Schwerpunktsetzung der deutschen Seite auf informelles Lernen, der ungarischen auf formale Lernprozesse feststellen. Obwohl – wie oben dargestellt – beide Dokumente auf Anregung der Europäischen Union im Rahmen des Lissabon-Prozesses ausgearbeitet wurden und auf bildungspolitischen Dokumenten der Europäischen Kommission basieren, übernimmt das deutsche Dokument die inhaltlichen Empfehlungen und Anregungen der Kommission, ohne dies explizit zu erwähnen, wie dies in der ungarischen Strategie getan wird. Die politische Steuerung bei der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ zeigt zwar in beiden Ländern Parallelen mit dem Verfahren der Open Method of Coordination der EU. Diese Ähnlichkeit hat aber verschiedene Gründe: Aufgrund des Föderalismusprinzips ähneln die Machtverhältnisse in 475
Ungarn war zu diesem Zeitpunkt noch Beitrittskandidat und trat erst 2004 der Union bei, als diese aufgrund des Wim Kok-Berichts eine stärkere Koordinierung der Bildungspolitik anstrebte. Mehr dazu vgl. Kapitel 3.1.3 und 3. 2. 476 Vgl. Kapitel 3.1.
254
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
Deutschland zwischen Bund und Ländern den Machtverhältnissen zwischen den Gremien der Union und den Mitgliedsländern. In beiden Fällen hat die höhere Ebene nur eine eingeschränkte Entscheidungskompetenz und versucht durch Koordinierung und Konsensfindung flächendeckende Reformen wie das Programm „Lebenslanges Lernen“ durchzuführen, ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips.477 Für Ungarn ist zwar theoretisch eine zentralistische bildungspolitische Steuerung charakteristisch, in dem Sinne, dass die staatliche Ebene die Kompetenzen besitzt, für das ganze Land Entscheidungen zu treffen. Aber die dezentralisierte und mehrpolige Steuerung zwischen staatlichen Behörden, den regionalen/lokalen Selbstverwaltungen sowie den einzelnen Bildungsinstitutionen erfordert in der Praxis eine enge Kooperation zwischen den verschiedenen Steuerungsebenen.478 Um das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen bildungspolitischen Akteuren bewahren zu können, strebt das Ungarische Bildungsministerium die Etablierung einer Bildungskoordination an, die dem OMC-Verfahren ähnelt. Die ungarische Strategie bekennt sich also explizit zur Übernahme des Koordinierungsverfahrens, während das deutsche Dokument diese Ähnlichkeiten nicht thematisiert. Ein weiterer Unterschied ergibt sich bezüglich der Perspektive auf die lernenden Individuen: Das deutsche Dokument stellt Lernen als menschliches Grundverhalten dar, betrachtet Menschen als lernende Wesen und orientiert sich an der menschlichen Biografie. Das ungarische Dokument dagegen betrachtet Menschen in erster Linie als Wirtschaftsfaktor und Humankapital. Ersteres verfolgt eine eher individuelle, letzteres eine eher kollektive Betrachtungsperspektive. Diese Unterschiede resultieren sicherlich aus den politischen Traditionen der vergangenen Jahrzehnte.479 In beiden Dokumenten gibt es zentrale Leitlinien der zukünftigen Entwicklung des Bildungswesens. Während das deutsche Dokument diese in acht Entwicklungsschwerpunkten zusammenfasst, stellt das ungarische fünf Prioritäten vor. Die Entwicklungsschwerpunkte der deutschen nationalen Strategie sind Konkretisierungen der in den EU-Dokumenten vorgeschlagenen Leitlinien. Die Prioritäten der ungarischen nationalen Strategie beinhalten dagegen Lösungsansätze für die nationalen Probleme (vgl. Tabelle 27).480 Der Grund für die fehlen477
Vgl. Kapitel 3.1. Diese Eigentümlichkeit des ungarischen Bildungssystems wird in der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur als „einmalig in der mittel- und osteuropäischen Region“ (Kozma/Rébay 2002, S. 598) bezeichnet. Die Widersprüchlichkeit der Bildungssteuerung wird mal positiv bewertet, denn Erziehung und Bildung werden dadurch zur Angelegenheit der lokalen Gemeinde, mal wird sie negativ gesehen, denn dadurch kann das nationale Bildungssystem in verschiedene lokale Bildungssysteme auseinander-fallen. Vgl. Kapitel 3.2.2. 479 Vgl. Kapitel 3.2. 480 Wie oben ausführlich dargestellt, bedeutet dies nicht, dass die ungarische Strategie die EU-Vor478
4.4 Nationale Strategien zur Verwirklichung Lebenslangen Lernens
255
de Konkretisierung der deutschen nationalen Prioritäten lässt sich in der Unterschiedlichkeit der Situation der einzelnen Bildungsländer und in der Zielsetzung der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland suchen. Letztere beinhaltet nach Angaben der herausgebenden Bund-LänderKommission die Thematisierung von Aspekten und Zusammenhängen, über die sowohl innerhalb der Länder als auch zwischen Bund und Ländern Konsens besteht (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 11). Dies bedeutet, dass das deutsche Konzept gezwungenermaßen auf einer allgemeinen Ebene verbleibt. Die acht Entwicklungsschwerpunkte des Dokuments Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland Einbeziehung informellen Lernens Selbststeuerung Kompetenzentwicklung Vernetzung Modularisierung Lernberatung Lernkultur/Popularisierung des Lernens Chancengerechter Zugang
Die fünf Prioritäten des Dokuments A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról Verbesserung der Chancengleichheit Anpassung des Bildungssystems an die Bedürfnisse der Wirtschaft Ausarbeitung neuer Steuerungsmethoden (auf der Regierungsebene) Verbesserung der Kostenwirksamkeit von Erziehung und Bildung bzw. mehr Investitionen ins Humankapital Qualitätsverbesserung
Tabelle 27: Die acht Entwicklungsschwerpunkte der „Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ und die fünf Prioritäten des Dokuments „A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról“ Die deutsche Strategie beinhaltet eine ausführliche Auflistung von good-practice-Beispielen und eine Umfrage über die „´Vielfalt der Aktivitäten´ zum Lebenslangen Lernen in der Bundesrepublik Deutschland“ (Bund-Länder-Kommission 2004, S. 39). Im ungarischen Dokument dagegen gibt es keine Auskunft über praktische Projekte. Auch die Funktion des Anhangs der beiden Dokumente ist sehr unterschiedlich: Im deutschen Dokument sind die Anhänge Teil der Strategie. Sie wurden von der Bund-Länder-Kommission gemeinsam mit der Strategie „zustimmend zur Kenntnis genommen“ (Bund-Länder-Kommission 2004). Die Funktion des Anhangs ist eine politische, nämlich die Strategie zu legitimieren, indem er aufzeigt, dass die Strategie aufgrund der schon praktiziergaben außer Acht lassen würde. Diese werden in den Handlungsfeldern der bildungspolitischen Maßnahmen genauso übernommen wie in der deutschen nationalen Strategie.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
ten Konzepte aller Bundesländer erstellt wurde, also auf einem Konsens basiert. Der Anhang der ungarischen Strategie dagegen stellt keine eigenständigen Untersuchungen dar, sondern unterstützt das Dokument mit statistischem Datenmaterial und einem Glossar. Die Funktion des Anhangs ist auf die Unterstützung und Erklärung der Aussagen der Strategie begrenzt, ist also keine politische. Das zusätzliche Material dient ausschließlich als Datenbasis. Zusammenfassend lässt sich zu den analysierten Dokumenten feststellen, dass sich die bildungspolitische Auseinandersetzung mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ in den nationalen Strategien sehr stark an den Lifelong-Learning-Dokumenten der EU, vor allem an dem Memorandum über Lebenslanges Lernen (Europäische Kommission 2000) bzw. an der Mitteilung Ein europäischer Raum des Lebenslangen Lernens (Europäische Kommission 2001) orientiert. Im Gegensatz zu dem von Anfang an stark ausgeprägten Adaptationswunsch der ungarischen Entscheidungsträger fällt dies besonders bei der deutschen nationalen Strategie auf. Obwohl letztere noch vor der Einführung der „härteren“ Form der europäischen bildungspolitischen Koordination 481 erstellt wurde, zeigt sich hier eine viel stärkere Anlehnung an das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ als bei den früheren deutschen Dokumenten. Diese Entwicklung beweist eindeutig die zunehmende Wirkung der bildungspolitischen Aktivitäten der EU auf die Programmatik der Bildungsreformen in den untersuchten Ländern. Allerdings bleiben die Schwerpunkte der nationalen Interpretation dabei erhalten: die Konzentration auf das selbstgesteuerte und informelle Lernen in Deutschland und auf das formale Lernen in Ungarn. 4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik – Vergleich und Zusammenfassung Im folgenden Abschnitt werden die durch die Analyse der Dokumentenpaare ausgearbeiteten Befunde einer vergleichenden Analyse unterzogen und die wichtigsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen und ungarischen bildungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Lifelong-Learning-Konzept der EU im Untersuchungszeitraum 1996–2005 systematisch aufgezeigt. Die Untersuchung der deutschen und der ungarischen bildungspolitischen Dokumente ergab einige Gemeinsamkeiten der Beschäftigung mit dem Thema in der bildungspolitischen Diskussion, nämlich in Bezug auf
481
Vgl. Kapitel 3.1.4.
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
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die Auffassung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ als Modernisierungsformel für das gesamte Bildungswesen, - die Übernahme der Definition und des (funktionalen) Verständnisses der EU-Dokumente, - das daraus resultierende gleichzeitige Vorhandensein von sozialen und ökonomischen Zielsetzungen in den nationalen Konzepten, - die Akzeptanz des bildungspolitischen Kernkonzepts „Lebenslanges Lernen“, - die Bezugnahme auf die in der Lissabon-Strategie formulierte Vision `Europa 2010` und - die explizite oder implizite Adressierung der Dokumente an die Europäische Kommission sowie - den Konsens über ein neoliberales Finanzierungsmodell des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. Als auffälligste Gemeinsamkeit lässt sich feststellen, dass der Begriff „Lebenslanges Lernen“ in beiden untersuchten Ländern als Modernisierungsformel für das gesamte Bildungswesen betrachtet wird. In Anlehnung an die Definition der Europäischen Kommission (vgl. Europäische Kommission 2000) wird in beiden untersuchten Ländern versucht, ein neues Verständnis des Lernens zu etablieren, in dem „ein Bildungskontinuum von der Vorschulphase bis hin zur Weiterbildung Kern des Konzepts“ ist (Schemmann 2007, S. 226). Es werden dabei formale, nonformale und informelle Lernprozesse in das Konzept miteinbezogen. So wird die Modernisierung des Bildungswesens mit der Auflösung bzw. Auflockerung seiner Ausdifferenzierung nach Bildungssektoren verknüpft. In beiden Ländern steht ein funktionales Verständnis des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ im Mittelpunkt. In allen untersuchten Dokumenten „wird das lebenslange Lernen in gesellschaftlichen Veränderungsprozessen und Problemlagen kontextualisiert und zugleich mit dem Potenzial der Lösung von ausgewiesenen Problemen oder Herausforderungen beladen“ (ebd.). „Lebenslanges Lernen“ soll vor allem zur Verwirklichung von bestimmten, teilweise widersprüchlichen (vgl. Kade/Seitter 1998) Zielsetzungen beitragen: einerseits zur `Erziehung` zur Demokratie, andererseits zur Entwicklung von Humankapital. Das gleichzeitige Vorhandensein der sozialen und ökonomischen Dimension ist für alle analysierten bildungspolitischen Dokumente charakteristisch und kann auf die Übernahme des EU-Konzeptes „Lebenslanges Lernen“482 zurückgeführt werden. Die Europäische Union hat bei der Ausarbeitung ihres Konzepts „Lebenslanges Lernen“ die Lifelong-Learning-Konzepte anderer internationaler Organisa482
Vgl. Kapitel 3.1.
258
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
tionen wie z. B. der OECD und der UNESCO integrierend berücksichtigt (vgl. Dewe/Weber 2007, S. 103). Aus diesem Grunde lassen sich all diese Elemente des bildungspolitischen Kernkonzepts in den EU-Dokumenten wieder finden: die Schwerpunktsetzung auf den Lernprozess in selbstorganisierter Form zeigt sich ebenso in allen analysierten Dokumenten wie die veränderte Rolle der Lehrenden. Lernfähigkeit wird hervorgehoben als zentraler Lerninhalt. Es wird eine Öffnung und Vernetzung der Institutionen des Bildungssystems propagiert. Erwerbstätigkeit wird als zentraler Punkt der Persönlichkeit definiert (vgl. Kraus 2001, S. 106).483 Sowohl die deutsche als auch die ungarische Bildungspolitik thematisieren alle Elemente des bildungspolitischen Kernkonzepts, auch wenn die Schwerpunktsetzung für die nationalen bildungspolitischen Maßnahmen unterschiedlich ist. Der Blick der untersuchten Dokumente ist gleichsam auf eine bessere Zukunft gerichtet: Die von der Europäischen Union für das Jahr 2010 entworfene Vision eines Europas als wettbewerbsfähigster und dynamischster wissensbasierter Wirtschaftsraum der Welt soll verwirklicht werden. Auch das den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien zugestandene Innovationspotenzial ist in beiden Ländern ein Konsens, der aus der Betonung der Herausforderungen der Informations- und Wissensgesellschaft begründet wird und sich auf die Übernahme des Konzepts der EU zurückführen lässt. 484 Die Europäische Union ist – neben den jeweiligen nationalen bildungspolitischen Akteuren – in allen untersuchten Dokumenten zumindest implizit eine Adressatin. Der Grund dafür ist eindeutig in der neuen bildungspolitischen Linie der EU zu suchen, die im Rahmen der Beschäftigungspolitik, des Lissabon-Prozesses und mit Hilfe der offenen Koordinierungsmethode eine entscheidende Rolle als „Initiatorin und Exekutive“ (Europäische Kommission 2001, S. 5) übernommen hat.485 In Bezug auf die Bildungsfinanzierung zeigt sich ebenfalls ein Konsens: In beiden Ländern wird betont, dass der Staat nicht mehr die alleinige finanzielle Verantwortung für Erziehung und Bildung tragen soll. Dieses Verständnis zeigt neoliberale Tendenzen auf, nämlich das Bildungswesen nach dem Marktprinzip und im Zeichnen des freien Wettbewerbs, also nach primär ökonomischen Prinzipien auszurichten. Demnach unterscheidet Nuissl nach Rubenson zwischen erster und zweiter Generation von Konzepten zum „Lebenslangen Lernen“: In den Konzepten der ersten Generation war noch der Staat gefragt, das lebenslange Lernen durch die (Um)Gestaltung des Bildungssystems umzusetzen. In den 483
Vgl. Kapitel 1.1. Dieses Ergebnis zeigt die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse von Dewe und Weber, die das Thema in Bezug auf die deutsche bildungspolitische Auseinandersetzung erforscht haben (vgl. Dewe/Weber 2007) auch für die ungarische bildungspolitische Diskussion auf. 485 Vgl. Kapitel 3.1. 484
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
259
Konzepten der zweiten Generation ist die Bringschuld des Staates zu einer Holschuld der Lernenden geworden (vg. Nuissl 2002, S. 259): „Die Forderung nach der Steigerung von Investitionen in Bildung geht einher mit der Vorstellung, dass hier vor allem Unternehmen im Bereich der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung, aber eben auch die Individuen selbst sich zunehmend engagieren“ (Schemmann 2007, S. 227). Diese Tendenz ist in den untersuchten Ländern allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt.486 Eine wichtige Rolle spielen bei der Finanzierung des lebenslangen Lernens die Förderprogramme der Europäischen Union, u. a. durch den Europäischen Sozialfonds. Wie Ekkehard Nuissl betont: „Förderprogramme sind ein wichtiges Instrument der europäischen Politik; sie setzen Akzente und realisieren diese über die Vergabe von Mitteln. […] [Es] ist unstrittig, dass die Förderpolitik der Europäischen Union in den Mitgliedsstaaten nicht nur wesentliche Impulse setzt, sondern auch Strukturen schafft und verändert.[…] In gewisser Weise haben die förderpolitischen Instrumente der Europäischen Union einen stärkeren Einfluss auf die Realität der Mitgliedsstaaten als die ordnungspolitischen Instrumente, in denen Gesetze gemeinsame Grundlagen schaffen und Unterschiede angleichen“ (Nuissl 2002, S. 56).
Insgesamt zeigt sich in den untersuchten Dokumenten eine sehr starke Harmonisierung der Ziele und Visionen der deutschen und ungarischen Bildungspolitik. Dies ist eindeutig auf die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ der Europäischen Union zurückzuführen. Die Analyse hat ganz konkret aufgezeigt, dass die Union Mittel und Wege gefunden hat, die es ihr ermöglichen, die Bildungspolitik der Mitgliedsstaaten zu harmonisieren, ohne dabei deren Souveränität wesentlich zu begrenzen. Diese Aussage kann allerdings nur für den untersuchten Bereich, nämlich für die Ebene der bildungspolitischen Programmatik geltend gemacht werden und sagt nichts über die tatsächliche Verwirklichung des lebenslangen Lernens in Deutschland und Ungarn aus. Die wesentlichen Unterschiede der deutschen und ungarischen bildungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Thema „Lebenslanges Lernen“ in den ausgewählten Dokumenten bestehen bezüglich - der Wahrnehmung der europäischen bildungspolitischen Konzepte zum Thema lebenslanges Lernen, - der Schwerpunktsetzung auf formales bzw. non-formales und informelles Lernen, - der Betonung der ökonomischen Perspektive, - der kollektiven oder individuellen Betrachtungsperspektive des Konzepts, - der (bildungs)politischen Grundeinstellung des jeweiligen Landes zum EU-Konzept, 486
Die ungarischen Dokumente berufen sich immer noch sehr stark auf die staatliche Verantwortung.
260
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
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der Bezugnahme auf die konkrete nationale gesellschaftspolitische bzw. bildungspolitische Situation, - der Übernahme der Begrifflichkeit und Argumentation der EU-Dokumente sowie - der Akzeptanz des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ und der Adaptationsdimension der Dokumente. In Bezug auf die Wahrnehmung der bildungspolitischen Dokumente der EU zum Thema lebenslanges Lernen lässt sich feststellen, dass am Anfang der bildungspolitischen Auseinandersetzung mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ in Deutschland erstens nicht nur die europäische Debatte einbezogen wurde. Zweitens standen die EU-Dokumente dabei nicht im Mittelpunkt der Betrachtung. Im Dohmen-Dokument wurden sowohl die wichtigsten Lifelong-Learning-Konzepte internationaler Organisationen (OECD, UNESCO, Weltbank, EU usw.) als auch nationale Konzepte anderer und nicht nur europäischer Länder (z. B. Japan, USA) miteinbezogen (vgl. Dohmen 1996). Hier lässt sich eine deutliche Anlehnung vor allem an die UNESCO-Konzepte feststellen. Im Aktionsprogramm (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001) und in der deutschen nationalen Strategie (Bund-Länder-Kommission 2004) stehen schon die EU-Konzepte im Vordergrund, vor allem die Dokumente Memorandum über Lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2000) und die Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (vgl. Europäische Kommission 2001). In Ungarn werden dagegen von Anfang an vor allem die bildungspolitischen Dokumente der EU wahrgenommen: Im Dokument A magyar közoktatás távlati fejlesztésének stratégiája (vgl. MĦvelĘdési és Közoktatási Minisztérium 1996) lässt sich die Argumentation der EU-Weißbücher487 deutlich nachvollziehen. Das HEF OP (vgl. Foglalkoztatáspolitikai és Munkaügyi Minisztérium/Oktatási Minisztérium/ Egészségügyi, Szociális és Családügyi Minisztérium 2003) und die ungarische nationale Strategie (vgl. Oktatási Minisztérium 2005a) lehnen sich – wie ihre deutschen Pendants – vor allem an die Dokumente Memorandum über Lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2000) und die Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (vgl. Europäische Kommission 2001) an. In der ungarischen Strategie werden noch die EU-Dokumente Entschließung des Rates der Europäischen Union zum Thema Lebenslanges Lernen von 2002 sowie die Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates zu Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen von 2005 erwähnt. Außerdem werden in den analysierten ungarischen Dokumenten die Studien der OECD wahrgenommen – wie z. B. PISA oder Education at a 487
Vgl. Kapitel 3.1.2.
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
261
Glance sowie das Konzept Lifelong Learning for All (OECD 1996), – allerdings deutlich weniger ausgeprägt als die EU-Dokumente. In Bezug auf die Interpretation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ lässt sich feststellen, dass nach der Kategorisierung von Cropley die deutschen Dokumente schwerpunktmäßig eine maximalistische Auffassung vertreten, in der das lebenslange Lernen als eine anthropologische Notwendigkeit und als zentrale Aufgabe der (Lern)Gesellschaft betrachtet wird. Im Gegensatz dazu lassen sich die analysierten ungarischen Dokumente in die Kategorie der minimalistischen Auffassung einordnen, indem sie sich auf das institutionelle Lernen beziehen und konkrete Strukturen und Institutionen des Bildungssystems in den Mittelpunkt stellen. Die Schwerpunktsetzung auf das selbstgesteuerte sowie auf das informelle Lernen ist ein Merkmal, das sich in allen analysierten deutschen Dokumenten wiederholt, genauso wie die Schwerpunktsetzung auf die individuelle Perspektive der lernenden Menschen. Im Gegensatz zu der ungarischen bildungspolitischen Diskussion, die sich schwerpunktmäßig auf das formale Lernen vor allem im Bereich des Pflichtschulsystems konzentriert und die Verwirklichung des lebenslangen Lernens aus einer kollektiven Perspektive betrachtet. Diese Unterschiede sind u.a. in der unterschiedlichen Bildungssteuerung der untersuchten Länder begründet. Wie eine Eurydice-Untersuchung über die nationalen Auffassungen der EU-Mitgliedsländer gezeigt hat, ist für die Länder mit einer zentralistischen Bildungsorganisation488 eine stärkere Staatsorientierung charakteristisch, während in den eher dezentral organisierten Ländern das Individuum viel stärker in den Mittelpunkt rückt (vgl. Eurydice 2000).489 Dewe und Weber zufolge kann der Grund für diesen Unterschied aber auch in der unterschiedlichen Wertorientierung der Erwachsenenbildung der untersuchten Länder gesucht werden. Ungarn hat sich – wie die meisten ehemaligen Ostblockländer – nach der politischen Wende an der angelsächsischen Tradition der Erwachsenenbildung orientiert und sich deren Zweckorientierung zu Eigen gemacht. Da der Bereich Allgemeinbildung dort nicht auftaucht, zeichnet sich auch in Ungarn „eine stärkere Orientierung des lebenslangen Lernens an beruflichen Herausforderungen ab“ (Dewe/Weber 2007, S. 78). Im deutschen Verständnis ist diese Tendenz der „zweckorientierten Allgemeinbildung“ (ebd.) der Europäischen Union zwar ebenfalls nachvollziehbar. Aber hier ist auch die prä488
Die Bezeichnung „zentralistisch“ ist hier im weiteren Sinne gemeint, vgl. Kapitel 1.2. Die Untersuchung bescheinigt Deutschland eine Mittelstellung, da es neben der dezentralen (föderalistischen) Organisation auf der Bundesebene eine eher zentralistische Bildungssteuerung auf der Ebene der Bundesländer aufweist. Dewe/Weber merken an, dass diese Konstellation „allerdings nicht zu einer klaren Umschreibung des Konzepts führt“ (Dewe/Weber 2007, S. 77). Ungarn als Beitrittskandidatenland hat an dieser Untersuchung nicht teilgenommen.
489
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
gende Wirkung der humanistischen Tradition und des klassischen deutschen Bildungsideals, die Bildung nach Humboldt als „allgemeine Menschenbildung“ definierte, bemerkbar. Das Weiterleben der humanistischen Tradition kann auch – zumindest teilweise – dafür Rechnung tragen, dass die deutschen Dokumente die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ nicht aus einer primär ökonomischen Perspektive betrachten, wie dies ihre ungarischen Pendants tun. Ein weiteres durchgehendes Merkmal der deutschen bildungspolitischen Diskussion zum Thema lebenslanges Lernen ist, dass sie meistens ohne Hinweise auf konkrete gesellschaftspolitische Situationen stattfindet bzw. diese auf einer sehr allgemeinen Ebene bleiben: Entweder spricht man über eine „dramatische Umbruch- und Herausforderungssituation“ (Dohmen 1996, S. 1) aufgrund des schnellen sozialen, technischen und wirtschaftlichen Wandels im 20. und 21. Jahrhundert, oder es werden einige Phänomene, wie demografische Engpässe und Arbeitslosigkeit genannt (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001), die für die meisten europäischen Industrieländer charakteristisch sind. Sogar in der nationalen Strategie zum „Lebenslangen Lernen“ fehlen Hinweise auf konkrete, nur auf Deutschland zutreffende gesellschaftlich-politische Ereignisse, so wird z. B. auf die Wiedervereinigung in keinem der drei untersuchten Dokumente Bezug genommen. Eine mögliche Erklärung dafür können die unterschiedlichen Traditionen und Situationen der einzelnen Bundesländern, darunter die Unterschiede zwischen den `alten` und den `neuen` Bundesländern liefern, die in den Dokumenten nicht alle thematisiert werden konnten. In Bezug auf die Adaptationsdimension hat die vorliegende Analyse ausgewählter deutscher und ungarischer bildungspolitischer Dokumente aufgezeigt, dass sich die Akzeptanz und Übernahme der EU-Argumentation in Bezug auf „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen Bildungspolitik von 1996 bis 2005 entscheidend vergrößert hat. In der ungarischen Bildungspolitik war diese Akzeptanz schon von Anfang an gegeben, die EU-Vorgaben wurden bereits nach dem demokratischen Systemwechsel 1989 als Orientierungspunkte der Modernisierung des Bildungssystems genutzt (vgl. Halász 2003a und 2006). Günther Dohmen konstatierte im Jahre 1996 noch eine „relative Unberührtheit der deutschen Bildungspolitik von den internationalen Lifelong LearningBemühungen“ (Dohmen 1996, S. 91f.). Auch Joachim H. Knoll sprach über eine „Fülle anregender Dokumente, die in der Bundesrepublik erst zögerlich angenommen“ wurden (Knoll 1997, S. 299). Als Grund dafür nennt Dohmen „Überschätzung und Bewahrung […] des eigenen Bildungswesens und eine ängstlich-skeptische Grundeinstellung gegenüber einem unbeaufsichtigten Selbstlernen […], die immer wieder dazu führen, dass man lieber auf die bewährte Institutionalisierung und pädagogische Führung und Kontrolle setzt und ein freieres, selbstbestimmteres lebenslanges Lernen allenfalls verbal und eingeschränkt auf bestimmte Aspekte der beruflichen Weiterbildung aufnimmt“ (Dohmen 1996, S. 91f.).
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
263
Den Grund für diese ablehnende Haltung sucht er im fehlenden Interesse vor allem im Bereich der Praxis, aber auch der Theorie: „Es fehlt uns […] bei theoretischer Akzeptanz ganz generell die nötige Aufmerksamkeit für Realisierungsprobleme und die in Japan so eindrucksvolle Konzentration auf praktische Umsetzungsstrategien und Umsetzungskompetenzen. Es fehlt auch eine spezifische Forschung, die sich mit Umsetzungsfragen befasst“ (ebd. S. 92).
Weber macht für die mangelhafte bzw. verspätete Diskussion über „Lebenslanges Lernen“ den Aufbau des Bildungswesens, vor allem die föderal-zentralistische Schulverfassung verantwortlich. Er bescheinigt Deutschland „eine eher schlechte Reformtradition im Sinne von Strukturreformen“ (vgl. Dewe/Weber 2007, S. 73), da übergreifende Strukturreformen an differierenden Interessen immer wieder gescheitert seien. Zusätzlich bemängelt er, dass die internationale bildungspolitische Diskussion um Erwachsenenbildung „kaum oder verspätet rezipiert wurde“ (ebd.).490 Linsemann konstatiert eine generell ablehnende Grundeinstellung der deutschen (Bildungs)Politik gegenüber europäischen Leitlinien, die als Zentralisierungs- und Harmonisierungsversuche gedeutet werden (vgl. Linsenmann 2006). Das meist zitierte Beispiel dafür ist die Ergänzung des Artikels 26 des Maastrichter Vertrags auf deutschen Druck durch die Formulierung „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung“.491 Die in der vorliegenden Analyse festgestellte Nicht-Thematisierung der Übereinstimmungen der deutschen Konzepte mit den EU-Dokumenten kann ebenfalls als ein Zeichen dieser ablehnenden Haltung gedeutet werden. Peter Krug weist darauf hin, dass das Memorandum492 in der deutschen bildungspolitischen Diskussion vor allem in Bezug auf die Kompetenzdebatte zwischen EU und Mitgliedsländern stark kritisiert wurde. Es wurde (erneut) befürchtet, dass die zentralistischen Vorgaben der EU zum Kompetenzverlust der Mitgliedsstaaten führen könnten: „Aus ordnungspolitischer Sicht dürfen die Zielsetzungen des Memorandums und des damit verbundenen Konsultationsprozesses nicht dazu führen, dass die in Art. 149/1590 EGV festgelegten Kompetenzen der Kommission ausgeweitet werden. Die Verantwortung für die Inhalte und die Gestaltung der Bildungssysteme und -prozesse muss bei den Mitgliedsstaaten bleiben. Das Memorandum darf nicht dazu führen, dass die jeweilige Bildungspolitik der Mitgliedsstaaten dadurch in ein Korsett gezwungen und über Indikatoren, Evaluierung und Benchmarking eine Harmonisierung der jeweiligen nationalen Bildungspolitiken angestrebt wird“ (Krug 2001b, S. 35). 490 Mit dieser Formulierung weist er das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in den Zuständigkeitsbereich der Erwachsenenbildung und unterstützt deren Synonymisierung, die – wie in der vorliegenden Arbeit mehmals dargestellt – eine verkürzte Interpretation darstellt und in der deutschen erwachsenenpädagogischen Forschung selbst kritisch betrachtet wird (vgl. u. a. Knoll 1997, Gerlach 2000). 491 Vgl. Kapitel 3.1. 492 Vgl. Kapitel 3.1.3.
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
In den Dokumenten Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik (Dohmen 1996) und Aktionsprogramm (BMBF 2001) zeigt sich die Distanziertheit der deutschen Bildungspolitik vor allem im Vergleich mit dem oft enthusiastischen Adaptationswunsch der ungarischen Pendants besonders auffällig. Von Übernahme oder Adaptation ist in den deutschen Dokumenten nicht die Rede. Dohmen schlägt vor, die Lifelong Learning-Konzepte der EU als „Anknüpfungspunkte“ zur Verwirklichung nationaler Reformprojekte zu nutzen (Dohmen 1996, S. 7). Im Aktionsprogramm „Lebensbegleitendes Lernen für alle“ wird auf das Memorandum der Europäischen Kommission ebenfalls nur als „Anstoß“ für die europäische Debatte über die Verwirklichung “Lebenslangen Lernens“ hingewiesen (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001, S. 61f.). Christiane Gerlach weist nach einer „ehrlichen Bewertung“ (Gerlach 2000, S. 184) deutscher bildungspolitischer Programme darauf hin, dass diese Tendenz durchaus typisch für die gesamte deutsche bildungspolitische Diskussion bis zur Jahrtausendwende angesehen werden kann. Sie konstatiert zwar „Ansätze und Annäherungen an Konzeptionen des lebenslangen Lernens, die dann teilweise auch als Rechtfertigungen für vernachlässigte Beschäftigungen mit internationalen Entwürfen angeführt wurden, finden jedoch zu keinen weiterführenden, grundlegenden Umwandlungen struktureller und inhaltlicher Bildungssystematik. Nationale Gegebenheiten werden als ausreichend und den `innovativen` Forderungen entsprechend angesehen“ (ebd.).
Umso auffälliger ist in der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland die starke inhaltliche Orientierung an Konzepten und Empfehlungen der Europäischen Union. Während das Dohmen-Dokument noch in erster Linie eine theoretische, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept gewesen war, stellte das Aktionsprogramm schon einen konkreten Handlungsplan zur Verwirklichung dar. Die 2004 veröffentlichte nationale Strategie vereint beide Perspektiven: sowohl die theoretische als auch die praktische, indem sie sowohl Leitlinien als auch Prioritäten und Entwicklungsschwerpunkte der Verwirklichung nennt. An der Strategie lässt sich vor allem die Wirkung des Memorandums über Lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2000) und der Mitteilung Einen europäischen Raum des lebenslangen Lernens schaffen (vgl. Europäische Kommission 2001) nachvollziehen. Die Entwicklungsschwerpunkte des Dokuments zeigen eine hochgradige Übereinstimmung mit den Grundbotschaften des Memorandums und den Aktionsschwerpunkten der Mitteilung (vgl. Tabelle 23). Obwohl das Dokument, wie auch andere nationale Strategien, auf Anregung der Europäischen Union ausgearbeitet wurde, wird darin die Wirkung der EU explizit nicht erwähnt. Auch die hochgradige Übereinstimmung zwischen den Entwicklungsschwerpunkten der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland (BLK 2004) mit den Vorga-
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
265
ben des Memorandums und der Mitteilung wird im Dokument nicht thematisiert. Zusammenfassend lässt sich anhand der Analyse der ausgewählten Dokumente in der deutschen Bildungspolitik nach der Jahrtausendwende eine zunehmende Akzeptanz der EU-Argumente und Empfehlungen aufzeigen.493 Diese Entwicklung zeigt eindeutig die Wirkung der Lissabon-Strategie und der offenen Koordinationsmethode der Europäischen Kommission. Auch Manfred Hoppe und Axel Schack bescheinigen diesen Maßnahmen eine große Wirkung, indem sie feststellen, dass [die Lissabon-Ziele] […] auch die Reformdiskussionen [bestimmen], die sich in Deutschland in einer bisher nicht gekannten Intensität durch alle Bereiche des Bildungssystems ziehen“ (Hoppe/Schack 2008, S. 11). In der ungarischen bildungspolitischen Auseinandersetzung zeigt sich dagegen eine sehr frühe Akzeptanz der bildungspolitischen Dokumente der EU, wie das folgende Zitat von Zoltán Báthory von 1988 – aus dem Jahr der Aufnahme der Assoziierungsverhandlungen – verdeutlicht: „Die Interpretation und Ausarbeitung der europäischen Dimension macht es nötig, dass wir unsere Bildungsziele, Bildungspolitik, Institutionen und pädagogisches Verständnis überprüfen“494 (Báthory 1988, S. 171). Der Adaptationswunsch ging aber von Anfang an mit dem Wunsch einher, den nationalen Charakter zu bewahren. Aus diesem Grunde lässt sich für die ungarische bildungspolitische Diskussion eine pragmatische und instrumentalisierende Umgehensweise mit dem EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ bescheinigen. Báthory formulierte das Ziel der ungarischen (Bildungs)Politik folgendermaßen: „Wir sollten so zu Europäern werden, dass wir dabei unseren nationalen Charakter nicht verlieren, sondern stärken“495 (ebd.). Dementsprechend wird – wie die oben vorgestellten Einzelanalysen aufgezeigt haben – in allen analysierten ungarischen bildungspolitischen Dokumenten versucht, die lokale, nationale und europäische Dimension miteinander in Einklang zu bringen. Die Suche nach einer Übereinstimmung zwischen der europäischen und ungarischen Bildungspolitik hat also schon lange vor dem Beitritt, zum Beispiel durch ständige Kommunikation sowie durch finanzielle Unterstützung bestimmter Programme der EU, angefangen. Während der Beitritts493
Es gibt Hinweise, dass die aktuelle bildungspolitische Diskussion in Deutschland eine deutlicher ausgeprägtere Adaptationsdimension besitzt. In einem Vortrag im Jahre 2008 ließ zum Beispiel Bundesbildungsministerin Annette Schavan deutlich mehr Identifikation und Enthusiasmus in Bezug auf die Erreichung der Lissabon-Ziele durchscheinen: „Damit vollzieht die Bundesregierung auf nationaler Ebene das, was die Lissabon-Strategie für Europa formuliert: mit verbesserten Bildung wollen wir unsere Exportfähigkeit sichern und Wachstumspotenzial freisetzen. Hierbei geht es auf lange Sicht um den Aufbau einer wirklichen Wissensgesellschaft“ (Schavan 2008, S. 28). 494 „Az európai dimenzió értelmezése, kimunkálása szükségessé teszi, hogy felülvizsgáljuk nevelési céljainkat, oktatáspolitikánkat, intézményeinket, pedagógiai felfogásunkat.“ 495 „Úgy kellene európaivá válnunk, hogy közben ne veszítsük el hanem inkább erĘsítsük nemzeti karakterünket.“
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4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
verhandlungen und vor allem kurz vor dem Beitritt wurden zahlreiche bildungspolitische Entscheidungen getroffen, die ermöglicht haben, dass Ungarn letztlich in der Praxis an der europäischen politischen Koordinierung teilnahm (vgl. Kovács 2005). In diesem Zeitraum hat die Europäische Union einen permanenten Druck auf die nationalen Entscheidungsträger ausgeübt, die gemeinsame Bildungspolitik den nationalen Akteuren bekannt zu machen und damit gemeinsame Anknüpfungspunkte zu suchen. Mit Blick auf dieses Ziel – wie die Analyse der bildungspolitischen Dokumente gezeigt hat – wurden für Ungarn auch finanzielle Mittel bereitgestellt. Die drei ausgewählten ungarischen Dokumente repräsentieren die drei Phasen des Beitrittsprozesses: Die erste Phase ist die politische Entscheidung, der Union beizutreten, die zweite ist die Phase der Beitrittsanstrengungen, die dritte ist die Phase der Mitgliedschaft. In den drei Phasen gab es Unterschiede in der Bildungspolitik, vor allem in Bezug auf die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. In der ersten Phase ist in Ungarn ein eher selektiver Umgang mit den bildungspolitischen Leitlinien der EU zu beobachten: Das 1996 veröffentlichte Dokument A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról nutzt zunächst die europäischen Ziele, um dem eigenen Reformvorhaben eine stärkere Legitimation zu verschaffen. Andererseits beschäftigte sich die ungarische Bildungspolitik nach dem demokratischen Systemwechsel 1989/90 gezwungenermaßen vor allem mit der Umstrukturierung und dem Neuaufbau des Bildungssystems.496 In der zweiten Phase zeigt sich eine deutlich höhere Bereitschaft in Ungarn, sich die EU-Leitlinien zu eigen zu machen: Das 2003 – ein Jahr vor dem EUBeitritt –heraus gegebene HEF OP zeugt schon von einer stärkeren Übernahme europäischer Zielsetzungen, wie dies im Dokument selbst immer wieder betont wird. Dass diese Bereitschaft vor allem auf die Finanzierungspolitik der EU zurückzuführen ist, wird aus dem Nationalen Entwicklungsplan ersichtlich. Der Großteil der Ressourcen zur Humankapitalentwicklung stammt aus dem Europäischen Sozialfonds bzw. dem Strukturfonds. Auch die Beratungspolitik der EU spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle, wie z. B. bei der Erstellung des HEF OP deutlich wurde (vgl. Tóth 2005). Außerdem trägt diese Wirkung der 2000 beschlossenen Lissabon-Strategie Rechnung, die die Bildungspolitik zum Mittel der Beschäftigungspolitik machte. Gábor Halász fasst diese Entwicklung prägnant zusammen:
496
Vgl. Kapitel 3.2.
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
267
„Ungarn wurde 2004 Mitglied in einer Gemeinschaft, die zwar weiterhin nicht in der Lage ist, verbindliche bildungspolitische Vorschriften für die Mitgliedsstaaten festzulegen, über die man aber keineswegs mehr sagen kann, dass sie nicht in der Lage wäre, einen stärkeren Einfluss auszuüben“497 (Halász 2006, S. 3).
In dieser Phase betont die ungarische Bildungspolitik immer wieder die Vorteile des EU-Beitritts für das Bildungssystem. Diese werden darin gesehen, dass Ungarn erstens aus anderen EU-Ländern Wissens-Know-how importieren kann. „Man könnte sagen, wir bekommen viel Wissen umsonst, was, wenn wir es selbst in unserem Land produzieren müssten, sämtliche Quellen benötigen würde, die uns aber nicht zur Verfügung stehen“498 (Ormándi 2006, S. 34). Zweitens spielt die dynamisierende Kraft der Veränderungen eine Rolle, die sich durch die starke Unterstützung der Union entfaltet. Dadurch wird u. a. die Verwirklichung von Zielen ermöglicht, die das Land früher oder später sowieso erreichen muss. In der Phase der Vollmitgliedschaft zeigt sich die Anpassungstendenz weiterhin sehr stark, u. a. darin, dass das HEF OP und die ungarische nationale Strategie zum Lebenslangen Lernen an die Europäische Kommission adressiert werden. Es wird immer wieder betont, dass Ungarn sich einer Gemeinschaft angeschlossen hat, die gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch entwickelter ist als das Land selbst. Diese Tatsache bedeutet vor allem zwei Herausforderungen: einerseits eine Modernisierungsherausforderung, andererseits die Herausforderung der effektiven Nutzung der zur Verfügung gestellten EU-Mittel (vgl. Ormándi 2006). Das 2005 veröffentlichte Dokument A magyar köztársaság kormányának stratégiája az egész életen át tartó tanulásról wurde laut Bildungsministerium „grundsätzlich im Einklang mit der strukturellen Planung der Europäischen Union“499 (Oktatási Minisztérium 2005a, S. 12) erstellt. Grundlage sind der Nationale Entwicklungsplan, und sein Operatives Programm zur Entwicklung von Humankapital (HEF OP). Die ungarische nationale Strategie folgt den Leitlinien der gemeinsamen europäischen Bildungspolitik gemäß den Anforderungen der Lissabon-Strategie und im Sinne der Open Method of Coordination und des Memorandums über Lebenslanges Lernen (vgl. Europäische Kommission 2000). Die finanzielle Unterstützung vonseiten der EU spielt dabei eine sehr große Rolle. Außerdem werden die EU-Richtlinien weiterhin als Maßstab und Orientierungshilfe betrachtet, die zu Zeiten innenpolitischer Turbulen497 „Magyaroszág olyan közösség tagja lett 2004-ben, amely ugyan továbbra sem hozhat az oktatás területén a tagállamokra nézve kötelezĘ elĘírásokat, de amelyre azt semmiképpen nem lehet többé mondani, hogy nem képes komolyabb befolyás gyakorlására.“ 498 „Azt lehet mondani, hogy ingyen jutunk hozzá olyan tudáshoz, amelyet nekünk saját magunknak kellene létrehoznunk, elĘállítani az országon belül, akkor olyan forrásokra lenne szükség, amelyeket nem tudnánk elĘteremteni.“ 499 „alapvetĘen az Európai Unió strukturális tervezésével összhangban“
268
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
zen500 Sicherheit bieten: „Der größte Vorteil der EU-Mitgliedschaft ist, dass sie allen Mitgliedsländern ermöglicht, ihre eigene Bildungspolitik berechenbarer und stabiler zu gestalten“501 (ebd. S. 35). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle drei analysierten ungarischen Dokumente eine doppelte Perspektive beinhalten: einerseits die Anpassung an die EU-Ziele, andererseits die Lösung speziell ungarischer Probleme. „Die Vorbereitung der verschiedenen Politikbereiche auf den EU-Beitritt wurde eng verknüpft mit den Maßnahmen, um den nationalen Modernisierungszwang zu bewältigen“502 (Oktatási Minisztérium 2005b, S. 1). Gábor Halász resümiert: „Der Beitritt zur Europäischen Union hatte eine deutlich wahrnehmbare Wirkung auf die Entwicklung der hiesigen Bildungspolitik“ 503 (Halász 2006, S. 8). Das ungarische Bildungsministerium spricht über das EU-Konzept504 als „ernsthaften beruflichen Input“ sowie „konzeptionellen Rahmen“, der half, die ungarische Konzeption für die Entwicklung des Bildungswesens zu gestalten (vgl. Oktatási Minisztérium 2005a). Im Gegensatz zu den ungarischen Dokumenten, die sich explizit auf die adaptierten Konzepte und Argumente berufen, übernehmen die deutschen Dokumente die EU-Empfehlungen eher implizit. Auch wenn sie sich inhaltlich stark auf sie beziehen, stellen sie dies nicht explizit zur Schau. Die Rolle der EU wird in den deutschen Dokumenten meistens nicht thematisiert. Abschließend lässt sich feststellen, dass die oben vorgestellten wesentlichen Unterschiede der Adaptation des EU-Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1) in der (bildungs)politischen Grundeinstellung der beiden Länder sowie in ihrem Status innerhalb der EU begründet sind, 2) aus der unterschiedlichen (bildungs)politischen Tradition der untersuchten Länder nach 1945 sowie 3) aus ihrer unterschiedlichen Bildungsorganisation resultieren.
500
Vgl. Eickhoff 2006a und b, 2008. „A közösségbe való bekerülés újabb elĘnye, hogy nagy lehetĘséget ad arra valamennyi tagország számára, hogy a saját oktatáspolitikáját kiszámíthatóbbá, stabilabbá tegye“ 502 „A különbözĘ ágazatok felkészülése az EU csatlakozásra szorosan összekapcsolódott az alapvetĘen hazai modernizációs kényszereknek való megfeleléssel“ 503 „ […] Európai Unióhoz történĘ csatlakozás érzékelhetĘ hatással volt a hazai oktatáspolitika formálódására.“ 504 Konkret genannt wird das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission Unterschiedliche Systeme, gemeinsame Ziele für 2010. Arbeitsprogramm zur Umsetzung der Ziele der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung (Europäische Kommission 2002 b). 501
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
269
1) Die Bundesrepublik Deutschland als Gründungsmitglied der Römischen Verträge und der EG war von Anfang an ein einflussreiches Mitglied des europäischen Integrationsprozesses und gewann durch die Wiedervereinigung an politischer Bedeutung. Mit dem aus dieser etablierten Position resultierenden Selbstbewusstsein sowie der Selbstreflexivität und Kritikbereitschaft betrachtete das heutige `Alt-EU-Land` sowohl die Europäische Union als auch dessen Konzept des „Lebenslangen Lernens.“ Diese kritische Grundeinstellung zeigt sich in den analysierten bildungspolitischen Dokumenten meistens auf der Interpretationsebene, wie z.B. die Propagierung der Schaffung einer „lernenden Gesellschaft“ (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2001) statt einer „kognitiven Gesellschaft“ (Europäische Kommission 1995). Wie Krug aufgezeigt hat, ging es bei dieser begrifflichen Unterscheidung um konzeptionelle Divergenzen (vgl. Krug 1997). Ungarn dagegen, das bis 2004, also während eines Großteils des Untersuchungszeitraums Beitrittskandidat war, konzentrierte sich darauf, den EU-Normen, Vorgaben und Erwartungen zu entsprechen. Die mit dem demokratischen Systemwechsel einhergehenden umfassenden politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen brachten wirtschaftliche Probleme und innenpolitische Schwierigkeiten mit sich (vgl. Óhidy 2007c). Viele historisch bedingte Spannungen, z. B. im Verhältnis zu den Nachbarländern, die während des Sozialismus kollektiv verdrängt wurden, kamen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wieder zum Vorschein. Auch andere historische Verarbeitungsprozesse wurden erst danach möglich: Ungarns Beteiligung am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust, sowie die Revolution von 1956 wurden zum Thema und zur Wasserscheide in der innenpolitischen Diskussion.505 Diese Entwicklungen beeinflussten sowohl das Selbstbewusstsein des `Neu-EU-Landes` als auch seine Möglichkeiten bei der Mitgestaltung der europäischen (bildungs)politik eher negativ und trugen dazu bei, dass die EU-Konzepte meistens sehr bereitwillig übernommen wurden. 2) Wie in Kapitel 3.2 ausführlich aufgezeigt wurde, entwickelte sich die Gesellschaftsordnung der untersuchten Länder nach 1945 sehr unterschiedlich. In der BRD ermöglichte die Demokratisierungspolitik der Alliierten die Entstehung einer bürgerlich-liberalen Demokratie. Diese zeigte sich auch im Bildungswesen, in dem eine föderalistische Steuerungsstruktur wiederaufgebaut wurde. Dies implizierte durch die Notwendigkeit von Konsensfindungsprozessen die Entstehung einer demokratischen Kultur der Entscheidungsfindung. In Ungarn dagegen wurde von der Sowjetunion eine sehr diktatorische und zentralistische Ge505
Obwohl die Vergangenheitsbewältigung in der DDR ebenfalls erst nach dem Mauerfall möglich wurde, hatte diese durch die offizielle Übernahme der BRD-Ideologie auf die Bundespolitik keine große Auswirkung. Mehr dazu s. Alheit 2003.
270
4. „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 1996-2005
sellschaftsordnung eingeführt, die lange auf unbedingtem Gehorsam gegenüber höherer Entscheidungsebenen basierte. Auch im Bildungssystem wurde eine zentralisierte Steuerung im engeren Sinne etabliert. Aus diesem Grunde konnte in Ungarn keine demokratische Kultur der Entscheidungsfindung entwickeln. 507 506
3) Die unterschiedliche Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ lässt sich auch auf die unterschiedliche Bildungsorganisation der untersuchten Länder zurückführen. Wie in den Einzelanalysen ausführlich dargestellt wurde, erschwert die föderale Bildungsorganisation der BRD die Aufstellung von gemeinsamen Leitlinien u.a. in Bezug auf die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das die ersten zwei analysierten deutschen Dokumente veröffentlicht hat, verfügt nur über koordinierende Kompetenzen508 und kann deswegen nur allgemeine Empfehlungen aussprechen. Die Bund-Länder-Kommission beschränkt sich in der Strategie für Lebenslanges Lernen in der Bundesrepublik Deutschland ebenfalls nur auf die Thematisierung von bundesweit konsensfähigen Themen. Der Konsensfindungsprozess zwischen Bund und Ländern gestaltet sich in der bundesdeutschen Bildungspolitik traditionell langwierig und konfliktreich (vgl. u.a. Cortina u. a. 2003, Dewe/Weber 2007). Dazu kommt die unterschiedliche Wahrnehmung der (bildungs)politischen Aktivitäten der Europäischen Union: Nach einer Analyse von Bauer und Knöll ist für die Beteiligten, d. h. für die nationalen Regierungen, meistens kein demokratisches oder legitimatorisches Problem dabei erkennbar, da sie selbst Teil des Prozesses sind. Aber für die „nicht am Zustandekommen Beteiligten, wie etwa das Europäische Parlament oder im Falle der Bundesrepublik die Länder oder entsprechende Interessengruppen, haben die Ziele zentralistischen Charakter und werden als europäische Vorgaben wahrgenommen“ (vgl. Schemmann 2007, S. 133). Dementsprechend erschwert diese unterschiedliche Wahrnehmung die Konsensfindung zwischen Bund und Ländern in Bezug auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ noch zusätzlich. Wegen dem – durch die Regeln der politischen Konsensfindung entstandenen – Zwang zur Abstraktion und dem harmo506
Vgl. Kapitel 2.1.1 und 3.2.2. Hier soll angemerkt werden, dass sich diese Unterschiede noch weiter in der Geschichte der untersuchten Länder zurückverfolgen lassen würden. Zum Beispiel entstand in Deutschland durch die Industrialisierung eine breite bürgerliche Mittelschicht, die bald auch eine politische Rolle bekam. In Ungarn dagegen herrschten bis Ende des Zweitens Weltkriegs noch feudale Verhältnisse und lange wurde unter der Bezeichnung „Volk“ nur die Aristokratie verstanden (vgl. Kosáry 1990). Aus diesem Grunde waren auch die historischen Voraussetzungen zur Entstehung einer bürgerlichen Demokratie deutlich unterschiedlich. Die Ausführung dieser Unterschiede ist aber keine Zielsetzung der vorliegenden Arbeit. Hier sollte nur auf die Komplexität der Problematik und ihre historische Verwurzelung verwiesen werden. 508 Vgl. Kapitel 3.2.1. 507
4.5 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Adaptation
271
nisch-ideologischem Gepräge dieser Dokumente bleibt die deutsche Auseinandersetzung mit dem Konzept auf der Bundesebene im Bereich des Allgemeinen und Unverbindlichen. Peter Krug hofft sogar, das Konzept „Lebenslanges Lernen“ könne zur treibenden Kraft bei der Konsensfindung werden: „Lebenslanges Lernen ist gegenwärtig die von allen am Bildungsprozess Beteiligten und Interessierten ständig und stetig beschworene Formel, die für einen notwendig erachteten Paradigmenwechsel in der Bildungspolitik verwendet wird. Die Formel vom `Lebenslangen Lernen` eignet sich in besonderer Weise zur Herstellung eines allgemeinen Konsensus über die Notwendigkeit von Veränderungsprozessen im Bildungsbereich“ (Krug 2001b, S. 27).
Resümierend lässt sich feststellen, dass die Analyse der ausgewählten deutschen und ungarischen bildungspolitischen Dokumente zum Thema lebenslanges Lernen einerseits sehr deutlich aufgezeigt hat, wie sich durch die bildungspolitischen Aktivitäten der EU – vor allem im Rahmen des Lissabon-Prozesses – die Ziele und Begrifflichkeiten der deutschen und ungarischen Bildungspolitik auf der programmatischen Ebene angenähert haben. Auf der Argumentationsebene lässt sich also eine uniformisierende Wirkung der Lissabon-Strategie identifizieren: Der geschlossene, sich aus vielen Elementen zusammensetzende Argumentationsstrang der nationalen bildungspolitischen Dokumente basiert nachweisbar auf dem Konzept der Europäischen Kommission zum Lebenslangen Lernen (vgl. Europäische Kommission 2000, 2001). Mit Michael Schemmann lässt sich also feststellen, dass „der konvergierende Befund […] der dominante des Vergleichs [ist]“ (Schemmann 2007, S. 228). Andererseits hat die Analyse ebenfalls gezeigt, dass die konkreten bildungspolitischen Maßnahmen weiterhin an die jeweiligen nationalen Bedürfnisse, Traditionen und Möglichkeiten gebunden bleiben. Die analysierten Dokumente lassen vermuten, dass die Umsetzung des Konzepts in Deutschland und Ungarn deswegen unterschiedlich erfolgt.
5
Resümee
Zum Abschluss der Untersuchung werden die zentralen Ergebnisse anhand des mehrstufigen Analyseschemas „Wahrnehmung – Interpretation – Adaptation“ dargestellt und in die erziehungswissenschaftliche Diskussion eingeordnet. Außerdem werden sämtliche Anknüpfungspunkte an bisherige Untersuchungen sowie die entdeckten Forschungsdesiderate aufgezeigt. Schließlich werden die Konsequenzen der Untersuchung für die Bildungspolitik in der Europäischen Union, Deutschland und in Ungarn dargestellt. 1) Wahrnehmung der Lifelong-Learning-Konzepte der EU in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik und erziehungswissenschaftlichen Diskussion Nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung haben die EU-Konzepte zum Thema „Lebenslanges Lernen“ in der deutschen Bildungspolitik eine zunehmende Aufmerksamkeit erhalten. Dies geschah parallel zur Verstärkung der bildungspolitischen Aktivitäten der Union seit der Jahrtausendwende. In Ungarn dagegen bekamen die Lifelong-Learning-Konzepte der EU schon in den 1990-er Jahren besondere Aufmerksamkeit in der Bildungspolitik: hier standen die EUDokumente vor allen anderen internationalen Konzepten zum Thema lebenslanges Lernen eindeutig im Fokus. 2) Interpretation der Lifelong-Learning-Konzepte der EU in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik und erziehungswissenschaftlichen Diskussion In Bezug auf die Interpretation der Lifelong-Learning-Konzepte der EU konnte eine wichtige Gemeinsamkeit festgestellt werden, die sich für beide untersuchten Länder als gültig erwiesen hat: „Lebenslanges Lernen“ wird sowohl in Ungarn als auch in Deutschland als „Modernisierungsformel“ verstanden, die verschiedene Bildungsreformen rechtfertigt. Die „Prophezeiung“ von Peter Faulstich kann also heute in beiden untersuchten Ländern als erfüllt angesehen werden: „In einer neuen Phase der Diskussion um ´lebenslanges Lernen´ könnte nach 30 Jahren Postulaten ein Implementationsstadium erreicht werden, da deutlicher als bisher ökonomische und politische Interessen koinzidieren. Obwohl klar ist, dass hinter dem Konsens durchaus unterschiedliche Konzepte und Strategien stehen, wird die Notwendigkeit einer umfassenderen Reorganisation des Lernsystems breit unterstützt“ (Faulstich 2003, S. 260).
274
5. Resümee
Außerdem zeigte sich in der Bildungspolitik beider Länder ein umfassendes Verständnis des lebenslangen Lernens. In Anlehnung an das Memorandum (Europäische Kommission 2000) wird es definiert als ein Prozess, der ein Leben lang andauert, formale, nicht-formale sowie informelle Lernaspekte miteinbezieht. Also konnte auf der begrifflichen Ebene eine große Konvergenz aufgezeigt werden.509 Außer diesen Gemeinsamkeiten zeigten sich die deutsche und die ungarische Interpretation aber sehr unterschiedlich. Wie Tabelle 28 zusammenfasst, ergaben sich in der Untersuchung Unterschiede in Bezug auf - die Kategorisierung nach Cropley (vgl. Cropley 1979), - die Betonung der ökonomischen Perspektive, - die kollektive oder individuelle Betrachtungsperspektive des Konzepts, - die Schwerpunktsetzung auf das formale oder das informelle Lernen, - die Thematisierung von gesellschaftlich-politischen Kontexten sowie - die Form und Perspektive der Kritik. Diese für die einzelnen Länder eruierten Merkmale der Interpretation der Lifelong-Learning-Konzepte der EU haben sich innerhalb der jeweiligen nationalen Diskussion als durchgängige Charakteristika erwiesen, waren also sowohl für die bildungspolitische als auch für die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung der jeweiligen Länder typisch. Deutschland maximalistische Version keine primär ökonomische Perspektive individuelle Perspektive Schwerpunkt informelles Lernen ohne Bezugnahme auf die konkreten gesellschaftspolitischen Zusammenhänge kritisch-reflektiert Kritik bezieht sich auf den Inhalt
Ungarn minimalistische Version primär ökonomische Perspektive kollektive Perspektive Schwerpunkt formales Lernen bezogen auf die konkreten gesellschaftspolitischen Zusammenhänge ohne offene Kritik, pragmatisch-instrumentell Kritik bezieht sich auf die Art der Verwirklichung
Tabelle 28:Unterschiede der Interpretation der Lifelong-Learning-Konzepte der EU in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik 3) Adaptation der Lifelong-Learning-Konzepte der EU in der deutschen und ungarischen Bildungspolitik In Bezug auf die Adaptation der Lifelong-Learning-Konzepte der EU in der Bildungspolitik der untersuchten Länder konnten signifikante Unterschiede eruiert werden: In der deutschen Bildungspolitik konnten zwar eine zunehmende Akzeptanz der EU-Ziele und sowie Adaptationsmomente nachgewiesen werden, 509
Der neueste gemeinsame Forschungsbericht des Rates und der Kommission wies darauf hin, dass diese Entwicklung nicht nur für Deutschland und Ungarn, sondern auch für die meisten EU-Mitgliedsländer charakteristisch ist (Rat der Europäischen Union 2008).
5. Resümee
275
wie z. B. auf der Ebene der Begrifflichkeit und der Argumentationsstruktur oder in Bezug auf die umfassende Definition des lebenslangen Lernens. Allerdings waren diese nicht explizit und wirkten wegen ihrer Nicht-Thematisierung als widerwillig anmutende Zugeständnisse.510 In der ungarischen Auseinandersetzung dagegen war ein ausgeprägter Adaptationswunsch vorhanden, der immer wieder betont und beteuert wurde. Allerdings wurde dieser nur in Bezug auf Themen konkretisiert, die den eigenen nationalen bildungspolitischen Interessen entsprachen. Die einzige Gemeinsamkeit der deutschen und der ungarischen Auseinandersetzung bestand also darin, dass beide Länder bei der Entscheidung über Adaptation oder Nicht-Adaptation nach ihren jeweiligen nationalen Interessen gehandelt haben. Die Gemeinsamkeiten der bildungspolitischen Auseinandersetzung in den untersuchten Ländern konnten auf die bildungspolitischen Aktivitäten der EU zurückgeführt werden. Allerdings – wie oben in Bezug auf „Wahrnehmung – Interpretation – Adaptation“ dargestellt wurde – ist diese vereinheitlichende Wirkung unterschiedlich stark. Im Folgenden werden diese Unterschiede bezogen auf die fünf Auswahlkriterien der untersuchten Länder nach dem most-different-Prinzip (vgl. Tabelle 3) diskutiert: 1) Geografisch-politische Zugehörigkeit, 2) Dauer der Zugehörigkeit zur Europäischen Union, 3) Politische Tradition nach 1945, 4) Wirtschaftliche Tradition nach 1945, 5) Bildungssystem. Bei der Feststellung dieser Kriterien wurde angenommen, dass diese auf die Adaptation des EU-Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ eine divergierende Wirkung haben. Die vorliegende Untersuchung hat diese Annahme bestätigen können. Die Kriterien geografisch-politische Zugehörigkeit und Dauer der Zugehörigkeit zur EU hängen sehr stark miteinander zusammen und stehen auch in enger Verbindung mit der unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Tradition der untersuchten Länder. Die Tatsache, dass nach der politischen Zweiteilung des Kontinents durch die Gewinner des Zweiten Weltkriegs die BRD zu der Interessensphäre der alliierten Westmächte gehörte und Ungarn zum Satellitenland der Sowjetunion wurde, wurde in Kapitel 3.2 ausführlich dargestellt. Ebenso, dass die Europaidee nach 1945 im europäischen Westen zur Entfaltung kam – als Antwort auf die politische Zweiteilung des Kontinents. Diese geografisch-politische Zugehörigkeit der untersuchten Länder bestimmte die Dauer 510
Wie in Kapitel 4 erwähnt wurde, lässt sich in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion in Deutschland eine viel deutlichere Adaptationsbereitschaft gegenüber dem EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ erkennen (vgl. Schavan 2008).
276
5. Resümee
der Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft und später zur Europäischen Union – und auch ihre (Mit)Gestaltungsmöglichkeit beim europäischen Integrationsprozess. Die BRD war Gründungsmitglied der EG und gehört auch zu den Gründungsländern der EU.511 Ungarn dagegen hatte einen langen – 13 Jahre andauernden – Beitrittsprozess zu `absolvieren`, in dem es kontinuierlich darum ging, den EU-Richtlinien zu entsprechen. Diese historischen Unterschiede bewirkten einerseits, dass die BRD als etabliertes Mitglied bzw. `Alt-EU-Land` an der Gestaltung beteiligt wurde und die politischen Entscheidungsprozesse, z. B. die Kriterien für die Aufnahme zukünftiger Mitglieder mitbestimmen konnte. Wie Bundesbildungsministerin Annette Schavan formuliert hat: „Als größtes EU-Mitgliedsstaat gestalten wir die europäische Bildungspolitik und neue politische Initiativen der EU aktiv mit und machen sie für unsere Systementwicklung nutzbar“ (Schavan 2008, S. 28). Andererseits bedeutete dies auch, dass die BRD in Bezug auf den Umgang mit den verschiedenen EU-Organen nicht nur in den politischen Entscheidungsprozessen der Union, sondern auch in den Verwaltungsprozessen, z. B. in den Bereichen Berichterstattung und Antragstellung über eine langjährige Erfahrung verfügte. Ungarn als Beitrittskandidat und dann als `Neu-EU-Land` hatte sich zunächst diesen Entscheidungsprozessen zu fügen, bevor ihm die Möglichkeit der Mitgestaltung und Mitentscheidung eröffnet wurde. Dementsprechend musste das Land sowohl die politischen Entscheidungsprozesse als auch die Verwaltungsregeln erst einmal lernen. Diese Statusunterschiede hätten bewirken können, dass die EU-Leitlinien bei der Mitgestalterin BRD auf eine höhere Identifikation treffen und eine schnellere Verwirklichung verursachen. Und bei Ungarn, das diese Regelungen erstmal ohne Mitspracherecht übernehmen sollte, hätte diese Situation einen starken Widerstand erzeugen können.512 Im Bereich der Bildungspolitik war in Bezug auf das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ – wie die vorliegende Untersuchung deutlich aufgezeigt hat – genau das Gegenteil der Fall: bei der ungarischen Seite konnte eine deutlich höhere Adaptationsbereitschaft konstatiert werden. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die Zugehörigkeit zur EU dort von allen politischen Parteien als einzig wünschenswerte Zukunftsvision betrachtet wurde. Zweitens wurden die EU-Leitlinien in Zeiten innenpolitischer Turbulenzen – die seit dem demokratischen Systemwechsel permanent andauern – von vielen bildungspolitischen Entscheidungsträgern als zuverlässige Orientierungspunkte und als Garanten für Stabilität angesehen. Neben diesen politischen und ideologischen Gründen spielten aber auch wirtschaftliche Aspekte eine wichtige Rolle, 511
Wie in Kapitel 3.2 dargestellt, wurde die ehemalige DDR nach der Wiedervereinigung automatisch – d. h. ohne Beitrittsprozess – zum EG/EU-Mitglied. Dafür gibt es ebenfalls Beispiele (vgl. Eickhoff 2006a und b), aber in der vorliegenden Untersuchung konnte dies nicht belegt werden.
512
5. Resümee
277
z.B. die Förderpolitik der EU. Die Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds und dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung zu bekommen, war für Ungarn sehr wichtig, wie die hier analysierten Dokumente bezeugen. In Deutschland beeinflusste die seit dem Maastrichter Vertrag vorhandene kritische Haltung in Bezug auf die Kompetenzen der Europäischen Union sowie die Angst vor deren Harmonisierungseffekten die bildungspolitische Diskussion um die Lifelong-Learning-Konzepte der EU grundlegend und in Richtung Ablehnung. Die politische Tradition nach 1945 erwies sich als prägend für die Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in den untersuchten Ländern. In der deutschen Diskussion konnte eine kritisch-reflexive Haltung der Autoren – gegenüber dem instrumentellen, aber nie offen kritisierenden Umgang der ungarischen Beiträge – festgestellt werden. Dieser Unterschied kann u. a. darauf zurückgeführt werden, dass sich in der BRD nach 1945 eine Kultur der demokratischen Konsensfindung einhergehend mit einer offenen Diskussionskultur etabliert hat, während in Ungarn aufgrund der kommunistischen Diktatur offene Kritik lange ein Tabu war. Die Wirkung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Tradition nach 1945 zeigte sich bei der Auseinandersetzung mit den Lifelong-Learning-Konzepten der EU vor allem in der divergierenden Auffassung bzgl. der staatlichen Verantwortung bei ihrer Verwirklichung. In der deutschen Bildungspolitik wurde die Idee einer gemeinsamen Verantwortung unterschiedlicher Akteure – wie Bund, Länder, Wirtschaftsunternehmen, Vertreter der Zivilgesellschaft sowie Individuen – viel früher thematisiert und akzeptiert als in der ungarischen Bildungspolitik. Dort stand die staatliche Verantwortung – einhergehend mit einer überwiegend öffentlichen Finanzierung – bei der Verwirklichung lebenslangen Lernens im Mittelpunkt. Die in der deutschen Diskussion vorherrschende individuelle Betrachtungsperspektive resultiert auch aus der marktwirtschaftlichen Tradition des Landes. Dem Marktprinzip entsprechend werden die Angebote aufgrund der Nachfrage geschaffen und deshalb die Bedürfnisse und Wünsche der potenziellen Zielgruppen ausführlich diskutiert. In Ungarn bewirkte das Erbe der planwirtschaftlichen Tradition eine angebotsorientierte Betrachtung, demzufolge für die Bereitstellung der nötigen Angebote in erster Linie der Staat verantwortlich ist. Hier wird daher thematisiert, welche Rolle der Staat übernehmen soll, welche Qualifikationen die nationale Wirtschaft braucht und welche Angebote diesen Bedarf abdecken könnten. Balázs Németh findet in der unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Tradition auch den Grund dafür, dass in Ungarn die Selbstorganisation und -steuerung des Lernens nicht zu einem Schwerpunkt
278
5. Resümee
der Lifelong Learning-Debatte geworden ist (vgl. Németh 2002).513 Die starke Rolle des Staates in Bezug auf die Verwirklichung des lebenslangen Lernens in Ungarn ist aber nicht nur auf das planwirtschaftliche Erbe zurückzuführen. Vielmehr spielt dabei auch die zentralistische (im weiteren Sinne) Bildungssteuerung eine Rolle: Das ungarische Bildungsministerium verfügt über die Kompetenz, für das ganze Land gültige und verbindliche Verordnungen zu erlassen. Im Gegensatz zu den deutschen Entscheidungsträgern auf der Bundesebene, die lediglich koordinierende Kompetenzen und eine Beratungsfunktion haben. Die Entscheidungen werden hier aufgrund der Kulturhoheit der Bundesländer vor allem auf der Länderebene getroffen. Deshalb beinhalten die ungarischen bildungspolitischen Dokumente meistens konkrete Maßnahmen, während die deutschen Pendants nur allgemeine Empfehlungen aussprechen oder die schon laufenden Maßnahmen zusammenfassen. Des Weiteren hat die vorliegende Studie in Bezug auf den Faktor Dauer der Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft und später zur Europäischen Union belegt, dass die nationale Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ – also die Wirkung der EU-Aktivitäten in den verschiedenen Mitgliedsstaaten – sehr stark von ihren unterschiedlichen Rollen bei der Entstehung des Konzeptes beeinflusst wurde. Damit soll an dieser Stelle an die Wichtigkeit der – in der vorliegenden Untersuchung aus methodischen Gründen außer Acht gelassenen – intergouvernementalen Perspektive verwiesen werden. Schon die Thematisierung der Wirkung der explizit untersuchten Faktoren auf die Adaptation des Lifelong-Learning-Konzepts der EU in Deutschland und Ungarn hat deutlich bewiesen, dass diese von sehr komplexen Zusammenhängen bestimmt wird. In der vorliegenden Untersuchung konnte diesbezüglich ein deutlicher Zusammenhang zwischen den explizit untersuchten Faktoren festgestellt werden. Aufgrund dieser hochgradigen Komplexität kann diese Studie lediglich als ein erster Schritt in Richtung Erforschung der Adaptation des EU-Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in den untersuchten Ländern verstanden werden und eine „Vorstellung über die Dynamik der Problematik vermitteln“ (vgl. AllemannGhionda 2005, S. 6). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die vorliegende Untersuchung nicht nur belegen konnte, dass sich in der Bildungspolitik der untersuchten Ländern ein relativ einheitliches Verständnis von „Lebenslangem Lernen“ etabliert hat, sondern darüber hinaus auch, dass diese „Harmonisierung“ der Begrifflichkeit und die Entstehung einer einheitlichen Vorstellung von „Lebenslangem Lernen“ auf die Wirkung der Europäischen Union zurückzuführen ist. Des Weiteren konnten die drei Wirkungslinien, die von Gábor Halász in Bezug auf die 513
Vgl. Kapitel 1.4.
5. Resümee
279
ungarische Bildungspolitik aufgezeigt wurden, auch in der deutschen Auseinandersetzung identifiziert werden: 1) Die bildungspolitischen Entscheidungsträger haben in beiden Ländern die gemeinsame europäische „Sprache“ und Begrifflichkeit übernommen, wie dies in den Einzelanalysen sehr deutlich nachgewiesen wurde. 2) Die Wirkung der europäischen Bildungspolitik, des europäischen „Kraftfeldes“ (vgl. Halász 2006) lässt sich auch in Bezug auf konkrete bildungspolitische Entscheidungen und Programme zum Thema lebenslanges Lernen, aufzeigen. In der ungarischen Bildungspolitik vor allem dadurch, dass diejenigen nationalen Reformprogramme, die von der EU ebenfalls für wichtig gehalten wurden, von der Gemeinschaft Unterstützung erhielten („Rückenwind-Effekt“). Dieser Aspekt wurde im Rahmen der deutschen Auseinandersetzung in den untersuchten Dokumenten nicht explizit thematisiert. Aber es gab in beiden Ländern Maßnahmen, die auf Initiative der EU stattfanden, wie dies in Deutschland vor allem in Bezug auf das „Europäische Jahr lebensbegleitenden Lernens“ aufgezeigt werden konnte. 3) Es konnte eine weitere Wirkungslinie in der Logik der strategischen Planung festgestellt werden. Wie das ungarische Bildungsministerium festgestellt hat: „In der strategischen Planung kommt das Denken, das sich aus der Implementationslogik ergibt, immer schärfer zum Vorschein“514 (Oktatási Minisztérium 2005b, S. 1). Dies konnte in allen deutschen und ungarischen bildungspolitischen Dokumenten, besonders nach der Jahrtausendwende – und nach Einführung der Lissabon-Strategie und der Open Method of Coordination – aufgezeigt werden. Dieses Ergebnis lässt sich nicht nur auf die Ausführungen von Halász und der ungarischen Fachdiskussion beziehen, sondern ergänzt auch Befunde aus der deutschen erwachsenenpädagogischen Forschung, in der ebenfalls von einer – sehr kritisch gesehenen – vereinheitlichenden Wirkung des europäischen Integrationsprozesses die Rede ist (vgl. u.a. Knoll 1997, Krug 2001a, Schemmann 2007). In Bezug auf die erwachsenenpädagogische Diskussion lässt sich die vorliegende Arbeit erstens an die Untersuchung europäischer und deutscher bildungspolitischer Dokumente von Christiane Gerlach anknüpfen (Gerlach 2000). Gerlach hat in Bezug auf das Dokument Das lebenslange Lernen. Leitlinien einer modernen Bildungspolitik (vgl. Dohmen 1996) eine erste Analyse der deut514
„A stratégiai gondolkodás során egyre markánsabban jelenik meg az implementációs logikából kiinduló tervezés.“
280
5. Resümee
schen Auseinandersetzung mit dem Thema geliefert, die in Kapitel 4 der vorliegenden Arbeit weitgehend berücksichtigt wurde. Allerdings beschäftigte sich Letztere mit dem Dohmen-Dokument mit einer deutlich anderen Schwerpunktsetzung auf die vergleichende Perspektive bezüglich der deutschen und ungarischen bzw. europäischen Konzepte zum „Lebenslangen Lernen“. Aus der neuesten erwachsenenpädagogischen Fachliteratur lassen sich die Ergebnisse ganz konkret erstens an die Arbeit von Bernd Dewe und Peter J. Weber (vgl. Dewe/Weber 2007) und zweitens an eine Untersuchung von Michael Schemmann (vgl. Schemmann 2007) anknüpfen: Dewe und Weber zeigen anhand der veränderten Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologien in Deutschland die richtungweisende Wirkung der Europäischen Union „zumindest auf programmatischer Ebene“ (Dewe/Weber 2007, S. 7) mit Blick auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ auf. Die Untersuchungsergebnisse der Analyse der ausgewählten bildungspolitischen Dokumente bestätigen diese richtungweisende Wirkung der EU ganz eindeutig. Schemmann bezeichnet das Konzept „Lebenslanges Lernen“ in Anlehnung an die globalisierungstheoretischen Ausführungen von Waters515 als „Leerformel“, die in den jeweils nationalen und kulturellen Kontexten gefüllt wird und zugleich Verständigung erlaubt und eine gemeinsame Bezugsebene schafft (Schemmann 2007, S. 231). Er stellt die Harmonisierungsfunktion der Leitidee in den Mittelpunkt: „Überspitzt formuliert ist es am Ende einer solchen Entwicklung gleichgültig, an welchem Ort die Individuen das lernen, was eine globalisierte Ökonomie einfordert. So betrachtet ist die Funktionalisierung des Bildungssystems Grundvoraussetzung für den Anschluss von dem, was als Bildung bezeichnet und gemessen wird, an Globalisierung“ (ebd. S. 232).
Die vorliegende Analyse ausgewählter bildungspolitischer Dokumente zum Thema lebenslanges Lernen hat in Deutschland und Ungarn, also im europäischen Westen und Osten deutliche Parallelen aufgezeigt. Soweit lassen sich die Ergebnisse in Übereinstimmung mit den Thesen von Schemmann interpretieren. Ob die Entwicklung von Erziehung und Bildung in den Ländern der Europäischen Union tatsächlich soweit führt, dass seine bewusst überspitzte Beschreibung wahr wird, lässt sich zurzeit noch nicht beantworten. Die Ergebnisse dieser 515 „[…] Waters [differenziert] in seinen Überlegungen zur Globalisierung die Bereiche Ökonomie, Politik und Kultur. Die Entwicklung im kulturellen Bereich charakterisiert er dabei mit dem Begriff der Universalisierung, wobei die Abstraktion der Werte und Standards auf einem hohen Niveau von Allgemeinheit festzustellen sei, das zugleich extreme Möglichkeiten der kulturellen Differenzierung erlaube. […] Genau in diesem Sinne könnte auch die Herausbildung eines globalen Diskurses der Weiterbildung verstanden werden, der auf sehr allgemeinem Niveau etwa die Forderung nach lebenslangem Lernen für Alle erhebt, dann jedoch die Bandbreite an nationalen und kulturellen Differenzierungen erlaubt bzw. sogar explizit einfordert“ (Schemmann 2007, S. 231).
5. Resümee
281
Studie lassen aber eher vermuten, dass es bei der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ – wie dies Wolfgang Mitter in einem Interview formuliert hat – zumindest um ein „national gefilterte Angleichung“ (vgl. Parreira do Amaral 2007, S. 299) gehen wird. Denn die vorliegende Arbeit konnte ebenfalls aufzeigen, dass sich diese vereinheitlichende Wirkung der EU auf die bildungspolitische Interpretation und Schwerpunktsetzung, also auf die Verwirklichungsdimension, nur bedingt ausdehnt: Diese sind in erster Linie durch die Eigenheiten und Traditionen, die gesellschaftlichen, (bildungs)politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und historischen Gegebenheiten des Nationalstaates und der nationalen Bildungssysteme geprägt. Durch die Analyse ausgewählter deutscher und ungarischer bildungspolitischer Dokumente wurde die Wirkung einiger dieser Faktoren konkret nachgewiesen, zum Beispiel der Struktur des Bildungssystems oder der (bildungs)politischen Tradition der ausgewählten Länder. Den größten Unterschied zwischen der deutschen und der ungarischen Auseinandersetzung im Zeitraum 1996–2005 macht ihre (bildungs)politische Einstellung zum Konzept „Lebenslanges Lernen“ aus, die u. a. auf der politischen Einstellung der jeweiligen Länder zur Europäischen Union basiert. Zugleich ergeben sich an dieser Stelle auch Forschungsdesiderate im Anschluss an die vorliegende Untersuchung insofern, als einerseits die genannten Faktoren nur einen Teil der beeinflussenden Parameter aufgedeckt haben. Es sollten also weitere Einflussfaktoren identifiziert und verglichen werden. Hier muss aber auf ein wichtiges Merkmal jeglichen Vergleichs hingewiesen werden, nämlich dass er immer eine abstrakte Konstruktion bleibt und aus diesem Grunde eine vollständige Aufdeckung aller möglichen Faktoren in der Praxis nicht umsetzbar ist. Aufgrund der Entscheidungskompetenz der Bundesländer sollten bei der Erforschung der Adaptation des Lifelong-Learning-Konzepts der EU in der BRD die bildungspolitischen Dokumente auf der Länderebene untersucht werden. In Bezug auf die deutsch-ungarische Vergleichbarkeit ergibt sich hier allerdings ein Problem, nämlich die Frage, ob die ungarischen Komitate 516 mit den deutschen Bundesländern verglichen werden können. Des Weiteren bezog sich die Untersuchung nur auf bestimmte Sphären von Erziehung und Bildung: Sie hat vor allem die in der Bildungspolitik existierenden Ideen, Theorien und Diskussionen bezüglich der nationalen Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in den ausgewählten Ländern untersucht. Damit ist die Frage nach der Bildungspraxis noch lange nicht beantwortet. Wie die angekündigten Leitsätze verwirklicht, die diskutierten Probleme bewältigt werden, wie die lernenden Individuen und Bildungsorte die Verwirklichung des 516
Vgl. Kapitel 3.2.2.2.
282
5. Resümee
Konzepts in der Praxis erleben – also die Fragen, welche in dieser Studie nicht diskutiert werden – kann nur die Untersuchung der Bildungspraxis dieser Länder beantworten. Um ein möglichst umfassendes Bild der Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in Deutschland und Ungarn bekommen zu können, sollte also die Ebene der Bildungspraxis untersucht werden. Darüber hinaus muss erwähnt werden, dass – obwohl durch die Auswahl der Länder nach dem „most-different-Prinzip“ eine Repräsentativität für Westeuropa und Osteuropa angestrebt wurde – sich durch diese Ergebnisse keine Rückschlüsse auf die Adaptation des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in anderen Ländern der Europäischen Union ziehen lassen. Dazu wären weitere vergleichende Untersuchungen weiterer Länder nötig. Dabei sollte nicht nur die hier verfolgte „traditionelle“ Ost-West-Perspektive, sondern auch eine Nord-Süd-Dimension mitberücksichtigt werden. Um einem „Eurozentrismus“ vorzubeugen, sind auch nicht-europäische Länder miteinzubeziehen. Hinsichtlich der bildungspolitischen Konzepte konnte in Bezug auf die beiden untersuchten Länder aufgezeigt werden, dass die Maßnahmen, die Gábor Halász „gemeinsame Lernpolitik“517 (Halász 2003a, S. 2) nennt und die in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Debatte als „education governance“ (Altrichter u.a. 2007) bezeichnet werden, auch ein Thema für die vergleichende Erziehungswissenschaft werden könnten und auch sollten. Als zentrale Forschungsfrage ergibt sich ein Vergleich der Nutzung dieser neuen Steuerungsund Koordinationsmethoden in den verschiedenen Ländern, u. a. um zu prüfen, inwieweit die unterschiedliche (bildungs)politische Tradition oder Struktur des Bildungssystems ihre Anwendung beeinflusst. Die vorliegende Untersuchung liefert Hinweise darauf, dass eine vergleichende Analyse der Verwirklichung „Lebenslangen Lernens“ sich als besonders ertragreich erweisen könnte. Den konkreten Anknüpfungspunkt würden – innerhalb oder außerhalb des „OstWest-Vergleichs“ – die Untersuchungen über „policy borrowing“ der vergleichenden Erziehungswissenschaft bieten. Diese wiederum könnten als Hilfestellung für eine weitere Entwicklung der nationalen und europäischen Bildungspolitik dienen, denn „Europas künftige Herausforderung wird sein, gegenläufige Tendenzen – von regionaler Differenzierung und supranationaler Integration – zum Ausgleich zu bringen. Angesichts der neuen Herausforderungen muss sich die Europäische Union, um handlungs- und verantwortungsfähig zu werden, in einem dynamisch politischen Entwicklungsprozess neu identifizieren und organisieren, wenn sie die neu- verlagerten Probleme im Spannungsfeld zwischen Multikulturalismus, Eurozentrismus und Nationalismus beseitigen will. Dazu gehören Akzeptanz transnationaler Strukturen und ein neues Gemeinschaftsbewusstsein“ (Bektchieva 2004, S. 77).
517
„közös tanulási politika“
5. Resümee
283
Nicht zuletzt liegt ein zentraler Ertrag der vorliegenden ersten vergleichenden Analyse der Adaptation „Lebenslangen Lernens“ darin, aufzuzeigen, dass die Tradition des „Ost-West-Vergleichs“ in der deutschen Vergleichenden Erziehungswissenschaft auch im Jahre 2008 noch keineswegs obsolet ist. Als ein weiterer Beitrag der Untersuchung kann die Einbeziehung der ungarischen bildungspolitischen Diskussion in die deutsche Fachdebatte genannt werden, vor allem in Bezug auf die Fachdisziplinen Vergleichende Erziehungswissenschaft und Erwachsenenbildungswissenschaft.
6
Ausblick
Die gesellschaftspolitische Relevanz des Themas erfordert, dass hier nicht nur die Desiderate der wissenschaftlichen Forschung aufgezeigt werden. Wichtig ist auch zu erörtern, welche Konsequenzen sich aus der Untersuchung für die Bildungspolitik der Europäischen Union sowie für Deutschland und Ungarn ergeben. Die Europäische Union kann für sich in Bezug auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ einerseits einen europaweit in Gang gesetzten Reformprozess sowie eine deutliche Kompetenzerweiterung im Bereich der Bildungspolitik verbuchen. Es werden zur Zeit in allen Mitgliedsländern – u. a. in Deutschland und Ungarn – zahlreiche Reformkonzepte diskutiert, initiiert und umgesetzt. Die von Philip. H. Coombs beklagte Trägheit der nationalen Bildungssysteme scheint damit ein Stück weit aufgelöst zu sein. Diese Veränderungen lassen sich größtenteils auf die EU als `Motor` zurückführen. Andererseits werden diese Erfolge dadurch getrübt, dass sich das Datum 2010 für die Entstehung eines „europäischen Raumes des lebenslangen Lernens“ (vgl. Europäische Kommission 2001) als unrealistisch erwies. Deshalb kann man schon jetzt davon ausgehen, dass das Reformkonzept „Lebenslanges Lernen“ auch nach 2010 auf der Tagesordnung stehen wird. In Bezug auf die Rolle der EU sind zunächst keine großen Veränderungen zu erwarten.518 M. E. wird sie durch ihre verschiedenen Organe 519 weiterhin die dreifache Funktion als Initiatorin, Koordinatorin und Exekutive erfüllen. Der weitere Weg der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ scheint durch die in Kapitel 3.1.4 vorgestellten Dokumente vorgezeichnet. Diese Verwirklichung wird – wie bisher – in einem Spannungsfeld zwischen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Ziele stattfinden. Dabei erscheint mir eine Korrektur des Learning-Konzepts der EU an zwei Punkten vonnöten:
518
Das Scheitern einer europäischen Verfassung im Jahre 2008 sowie die Entscheidung, zuerst keine Neuaufnahmen durchzuführen, lässt für die nähere Zukunft des europäischen Integrationsprozesses und der Union – im Vergleich zu den turbulenten Entwicklungen der letzten Jahre – eine Phase mit deutlich weniger Neuerungen erwarten. 519 Vgl. Kapitel 3.1.1.2.
286
6. Ausblick
1) in Bezug auf ein verkürztes Menschenbild sowie 2) bezüglich der Gefahren eines primär ökonomisch orientierten Bildungsverständnisses. Beide Punkte beziehen sich auf das Verständnis des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ als primär beschäftigungspolitische Maßnahme. 1) Mit dem Konzept „Lebenslanges Lernen“ möchte die EU vor allem zwei Ziele erreichen: Neben dem treibenden Wunsch, Europa als politische und wirtschaftliche Macht zu stärken, verfolgt sie das Ziel, soziale Kohäsion und eine europäische Identität zu schaffen. Die EU soll also nicht nur ein Wirtschaftsund politischer Raum, sondern auch ein Bildungsraum werden. In den Lifelong Learning-Konzepten der Union wird davon ausgegangen, dass die Verwirklichung dieser beiden Ziele automatisch mit den persönlichen Zielen der EU-Bürger übereinstimmen: Durch das kontinuierliche Weiterlernen können sie ihre Beschäftigungsfähigkeit erhalten und/oder verbessern und dadurch ein entsprechend befriedigendes Berufsleben aufbauen. Dieses Berufsleben trägt nicht nur dazu bei, dass sie an allen Segnungen der Konsumgesellschaft teilhaben können, sondern gleichzeitig ermöglicht es ihnen eine permanente Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung, so die EU. Dieses Idealbild wurde u. a. in der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur zu Recht als nicht umsetzbar kritisiert. Die wichtigsten Problempunkte diesbezüglich wurden in Kapitel 1.3 schon ausführlich vorgestellt. An dieser Stelle möchte ich ergänzend hinzufügen, dass eine Beschränkung des menschlichen Lebens auf die Erwerbstätigkeit einen Großteil der Persönlichkeit außer Acht lässt und deshalb als Menschenbild bzw. als philosophische Grundlage für Bildungsreformen nicht geeignet ist. Dabei möchte ich hier auf die Aktualität des Humboldtschen Bildungsverständnisses in Bezug auf das Konzept „Lebenslanges Lernen“ verweisen. Humboldt betont, dass Bildung zwei sich gegenseitig ergänzende Dimensionen hat: eine kollektive und eine individuelle. Er definierte Bildung als „die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch-proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichere“ (zitiert nach Hentig 1996, S. 40).
2) Kritiker werfen der EU ein instrumentelles und utilitaristisches Verständnis von Bildung vor (Schemmann 2007, S. 131). Auch die vorliegende Untersuchung hat aufgezeigt, dass das Lifelong Learning-Konzept der Union primär ökonomisch ausgerichtet ist und sich vor allem auf die Beschäftigungsfähigkeit konzentriert. Trotzdem kann das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ nicht als
6. Ausblick
287
rein ökonomisch bezeichnet werden. Denn die Schaffung von sozialer Kohäsion und einer europäischen Identität sind ebenso Teil des Konzepts wie die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Wirtschaftsraums. Diese zweifache Zielsetzung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ lässt sich seit dem ersten Weißbuch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung (vgl. European Commission 1993) bis heute nachvollziehen. Die vorliegende Untersuchung hat eine deutliche Zunahme von ökonomischen Begründungsmustern auch im Bereich der Bildungspolitik festgestellt. Dies hat vor allem ideologische Gründe, die der realpolitischen Situation im heutigen Europa Rechnung tragen: Der Zusammenbruch der dualen Weltordnung und des sozialistischen Lagers haben u. a. bewirkt, dass „das Soziale“, z.B. wie Solidarität und Chancengleichheit für obsolet betrachtet werden. Auch die immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen tragen ihren Teil dazu bei, dass alle anderen Lebens- und Gesellschaftsbereiche marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet werden. Deshalb möchte ich im Folgenden auf die Gefahren der Unterordnung von bildungs- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen unter ein rein ökonomisches Prinzip deutlich hinweisen. Viele empirische Studien zu Bildungs- und Weiterbildungsbeteiligung haben aufgezeigt, dass sich die Bildungschancen in den meisten europäischen Ländern – vor allem in Deutschland und in Ungarn – nach dem sog. „Matthäus-Prinzip“ (vgl. Merton 1973) verteilen: „Wer hat, dem wird gegeben“ (vgl. z.B. OECD 2001c, Baethge/Baethge-Kinsky 2004, Györgyi 2004, Schiersmann 2006). Ein bedeutender Teil der europäischen Gesellschaft bleibt dabei außen vor, gerade diejenigen, die dies am nötigsten hätten, „wie zum Beispiel geringqualifizierte Arbeitnehmer, Arbeitnehmer mit Zeitverträgen, Selbständige und ältere Arbeitnehmer“ (Europäische Kommission 2007c, S. 12f.). Sie haben am meisten unter mangelnden Investitionen in Ausbildungsmaßnahmen zu leiden. Es ist davon auszugehen, dass ein rein ökonomisches Verständnis von Bildung und lebenslangem Lernen zu einer (weiteren) Öffnung der sozialen Schere führen würde. Diese mögliche Entwicklung wird von Wirtschaftsexperten als Verschwendung kritisiert (vgl. u. a. OECD 2001). Noch wichtiger ist m.E. die politische Bedeutung von Chancenungleichheit. Denn: „Bildung und vor allem sozial gerechter Zugang zu den Bildungsinstitutionen ist Grundlage einer demokratischen Gesellschaft. Sie ist wichtige Voraussetzung für Partizipation und Teilhabe am Gemeinwesen“ (Müller 2002, S. 24). Das Konzept „Lebenslanges Lernen“ muss m. E. an diesem Punkt ansetzen und den Zugang zu Bildung – in allen Bereichen des Bildungssystems – für alle ermöglichen.
288
6. Ausblick
Genauso dies bezwecken die umfassenden Reformpläne der Europäischen Union520 unter der Formel „Lebenslanges Lernen“. In den Lifelong Learning-Dokumenten der EU wird eine Idealvorstellung eines europäischen Bildungssystems propagiert, das durchlässig ist und Chancengleichheit ermöglicht, aber gleichzeitig auch dazu beiträgt, die Effektivität und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu verbessern. Um dieses Idealbild einer Lern-, Wissens- oder Bildungsgesellschaft zu verwirklichen – an gut klingenden Bezeichnungen für die neue Gesellschaftsvision mangelt es keineswegs – ist es sehr wichtig, dass sowohl die ökonomische als auch die gesellschaftspolitische Dimension des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ nicht nur in der (bildungs)politischen Programmatik, sondern auch bei der Verwirklichung eine gleichberechtigte Rolle spielen. Die Europäische Union zeichnet sich nicht nur durch eine marktwirtschaftliche Organisation aus, sondern hat zwei grundlegende Merkmale: Demokratie und Kapitalismus (vgl. Kipke 2005, Sturm/Pehle 2006). Die fünfzigjährige Erfolgsgeschichte des europäischen Integrationsprozesses mit Frieden, Wohlstand und Völkerverständnis ist ein Ergebnis des gleichzeitigen Vorhandenseins beider Prinzipien. Deshalb müssen beide als gleichwertige Komponenten erhalten bleiben: Eine rein ökonomische Perspektive von Bildung und lebenslangem Lernen reicht nicht aus, um die Attraktivität von Europa zu erhalten oder sogar zu verbessern. Das Prinzip der Demokratie darf nicht dem Prinzip Marktwirtschaft untergeordnet werden521, denn dies würde langfristig zu einer Auflösung der jenseits von politischer Programmatik existierenden europäischen Identität führen. Das Lifelong Learning-Konzept der EU sollte also nicht ausschließlich nach (meistens kurzfristigen) marktwirtschaftlichen Überlegungen gestaltet werden. Dementsprechend sind ein umfassendes Menschenbild und die `humane Seite` der Bildung – z. B. mit Hilfe der UNESCO-Konzepte – stärker in das Konzept miteinzubeziehen. Damit die lernenden Individuen die Möglichkeit bekommen, im Humboldtschen Sinne lebenslang lernen zu können, sind entsprechende (bildungs)politische Entscheidungen notwendig. Diese Entscheidungen werden nicht auf der EU-Ebene, sondern in den einzelnen Mitgliedsstaaten – in Deutschland auf der Länderebene, in Ungarn auf der nationalstaatlichen Ebene – getroffen. Dass die Einführung von Studiengebühren oder die Unterordnung der Autonomie von Hochschulen unter die Interessen bestimmter Wirtschaftsunternehmen zu gerechter verteilten Chancen beim Zugang zu Bildungsinstitutionen führen könnte, lässt sich stark bezweifeln. Deshalb halte ich es für wichtig, an diese Stelle auf 520
Vgl. Kapitel 3.1. Was die Folgen davon wären, zeigen die Länder, die zwar marktwirtschaftliche Elemente aber keine Demokratie haben, z. B. China.
521
6. Ausblick
289
die – nicht auf die EU übertragbare – Verantwortung der nationalen bildungspolitischen Entscheidungsträger zu verweisen. Die (nicht nur) in den PISA-Studien aufgezeigten Mängel beim Thema Chancengleichheit im deutschen und ungarischen Bildungssystem zeigen sehr deutlich, dass eine umfassende Reform von Erziehung und Bildung in beiden Ländern im Zeichen des lebenslangen Lernens Not tut. Da aber Deutschland und Ungarn mit diesem Problem nicht alleine stehen, sondern auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfen, halte ich die Rolle der EU als Moderationsinstanz für äußerst wünschenswert. In Anbetracht dieser dringenden Reformbedürftigkeit auf der einer Seite und der von Coombs eindrücklich aufgezeigten Trägheit der Bildungssysteme auf der anderen, erscheinen mir die Einführung der LissabonStrategie und der OMC sowie der 2005 eingeführten „härteren“ Form der Bildungskoordination (Halász 2006, S. 6) ebenfalls sinnvoll. Die vorliegende Untersuchung hat deutlich aufgezeigt, dass der zunehmende Einfluss der EU in den untersuchten Ländern – aus verschiedenen Gründen – auch Probleme bereitet: Er gibt der deutschen und ungarischen Lifelong Learning-Debatte eine stark politische Dimension, die eine rein inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Konzept beinahe unmöglich macht. Die politischen Elemente scheinen in beiden Ländern alles andere zu übertönen: Im untersuchten Zeitraum 1996–2005 gab in Ungarn der Wunsch nach einer gleichberechtigten EU-Mitgliedschaft den Ton an, in Deutschland die Angst davor, von der EU harmonisiert, sprich bevormundet zu werden. Der Wunsch, ein gleichwertiges EU-Mitglied zu werden, bestimmte die ungarische Lifelong Learning-Debatte grundlegend und erzeugte in der Bildungspolitik eine ausgeprägte Adaptionsbereitschaft, EU-Leitlinien und best-practiceBeispiele anderer Länder zu übernehmen. Solange diese grundsätzlich auf ihre Vereinbarkeit mit der ungarischen Bildungswirklichkeit überprüft und dementsprechend auf die ungarischen Verhältnisse bezogen adaptiert werden – wie die ungarischen Wissenschaftler immer wieder fordern – sind überwiegend positive Ergebnisse zu erwarten. Allerdings bleibt diese Forderung oft genug eine leere Phrase und wird nicht mal auf der theoretischen Ebene gewährleistet. M.E. ist dabei vor allem das primär ökonomische Verständnis von Erziehung und Bildung und das Außer-Acht-Lassen der individuellen Dimension des lebenslangen Lernens besonders kritisch zu sehen. Denn dies geht nicht nur mit der, schon von Illich angeprangerten, Entmündigung der lernenden Individuen und der Degradierung des lebenslangen Lernens zu einem sich permanent weiterdrehenden zwanghaften Weiterbildungshamsterrad einher, sondern schließlich auch mit der oben diskutierten Unterordnung des Prinzips Demokratie unter das Prinzip Marktwirtschaft. Dies bewirkt für viele Menschen – wie oben dargestellt – eine Ausgrenzung von Bildung und dadurch von der gesellschaftlichen Teilhabe.
290
6. Ausblick
Dies zeigt sich zur Zeit z.B. sehr deutlich in Bezug auf die (Nicht-)Teilhabe der ungarischen Roma-Minderheit am lebenslangen Lernen. Ihre aktuelle Situation führt außerdem sehr deutlich vor Augen, dass die Verantwortung für die Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ nicht an die EU delegiert werden kann. Durch den politischen und moralischen Druck sowie die zur Verfügung gestellten finanziellen Mittel gibt es für die Roma zwar viele neue Bildungsmaßnahmen, die aber größtenteils auf der Ebene des bildungspolitischen Aktionismus verbleiben. Die Zeitung Pester Lloyd formulierte das Ergebnis prägnant: „Roma brauchen Arbeit, keine Korbflechtkurse“ (Pester Lloyd 2008, S. 7). Roma-Vertreter Dr. István Kosztics fordert einen größeren Anteil nationaler Finanzierung von Bildungsmaßnahmen für Roma, – zur Zeit finanziert die EU ca. 90% der Maßnahmen – um dadurch eine intensivere (Mit)Beteiligung der ungarischen Bildungspolitik zu erreichen (vgl. Óhidy 2009). Zusammenfassend für die ungarische Lifelong Learning-Debatte halte ich mehr Mut zur eigenen Meinung und zu eigenen Lösungen für wünschenswert. Dazu gehört auch die Übernahme der Verantwortung für die inhaltliche Gestaltung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“. Die EU-Konzepte sollten also – wenn nötig – auch inhaltlich kritisiert und nicht nur in Bezug auf optimale Ausnutzung von finanziellen Fördermitteln diskutiert werden. Dabei sollte m.E. – genau wie es die ungarischen bildungspolitischen Dokumente zum Thema „Lebenslanges Lernen“ ankündigen522 – die Finanzierung derjenigen bildungspolitischen Maßnahmen im Vordergrund stehen, die einer weiteren Verstärkung von gesellschaftlicher Segregation entgegenwirken. Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Weiterentwicklung der demokratischen Entwicklung des Landes sowie für die Schaffung einer stabilen Wohlstandsgesellschaft. Die vorliegende Untersuchung hat deutlich aufgezeigt, dass in Deutschland die bildungspolitische Auseinandersetzung mit dem Thema „Lebenslanges Lernen“ in erster Linie aus dem Blickwinkel der Kompetenzdebatte geführt wird. In der bildungspolitischen Auseinandersetzung zeigt die auffällige Nicht-Thematisierung des Zusammenhangs zwischen den europäischen und deutschen Konzepten die große Bedeutung dieses Aspektes. Zugespitzt gesagt, scheint in der deutschen Auseinandersetzung die reflexartige Reaktion auf den Begriff „Lebenslanges Lernen“ auf der Befürchtung zu gründen, womöglich „von oben“ harmonisiert zu werden. Dies resultiert einerseits aus der lang anhaltenden Kompetenzdebatte zwischen Bund und Länder. Andererseits – wie Bauer und Knöll aufgezeigt haben (vgl. Schemmann 2007) – lässt sich dies auf die nicht ausreichende Einbeziehung der bildungspolitischen Akteure in die EU-Entscheidungsprozesse auf der Länderebene bzw. bei den Wissenschaftlern zurückfüh522
Vgl. Kapitel 4.
6. Ausblick
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ren. Sie erleben diese Maßnahmen als von oben kommende Verordnung und Beschneidung ihrer eigenen Kompetenzen. Diese Problematik verhindert einerseits eine befriedigende Umsetzung auch von guten Reformmaßnahmen des Lifelong Learning-Konzepts und lässt diese schließlich – wie Günter Dohmen formuliert – in verfestigten veränderungsfeindlichen Funktions- und Besitzstandswahrungsstrukturen, Verbands- und Institutionsinteressen sowie wahltaktischen Machterhaltungs- und Stimmengewinnungsrücksichten (Dohmen 1996, S. 91) versickern. Leidtragende sind in der Regel diejenigen, die das „Lebenslange Lernen“ am meisten brauchen: benachteiligte Gesellschaftsgruppen, die mit Hilfe einer verbesserten Chancengleichheit beim Zugang zur Bildung ihr kulturelles und soziales Kapital (vgl. Bordieau 1997) und damit ihre Lebenschancen verbessern könnten. Zusammenfassend halte ich für die deutsche Lifelong Learning-Diskussion eine verstärkte inhaltliche Auseinandersetzung sowie einen `pragmatischeren Umgang` mit der EU-Rolle im Sinne von Laffan, O´Donell und Smith für wünschenswert. Sie betrachten die nationale Souveränität als nur ein Mittel zur Verbesserung von gesellschaftlichen Gegebenheiten und lehnen deshalb die Selbstzweckmäßigkeit der nationalen Machterhaltung zugunsten der Lösung von gesellschaftlich-wirtschaftlichen Problemen ab.523 Dabei bestreiten sie nicht, dass die neue Machtverteilung mit einer uniformierenden Wirkung einhergehen kann. Andererseits sehen sie auch die gemeinsamen Ziele (Wettbewerbsfähigkeit, Wohlstand und Demokratie) als wichtige Interessen der Mitgliedsländer an und plädieren für eine kommunikative und koordinierende Rolle von supranationalen Gremien (Laffan et. al. 2000). Dem möchte ich mich anschließen. Es wäre wünschenswert, wenn der internationale Austausch zwischen den Mitgliedsländern – u.a. zwischen Deutschland und Ungarn – nicht über den Umweg Brüssel stattfinden würde. Aber dieser Umweg ist immer noch besser, als wenn gar nichts passiert. Wie die wenigen deutsch-ungarischen Studien524 bisher gezeigt haben, bringt eine vergleichende Auseinandersetzung oft die Erkenntnis, dass man mit ähnlichen Problemen und Herausforderungen konfrontiert ist. An dieser Stelle möchte ich mich auf die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der deutsch-ungarischen Tagung „Lehrerbild und Lehrer(aus)bildung. Praxis und Perspektiven in Deutschland und in Ungarn“ am 31. März 2006 in Bielefeld berufen. Dort wurden die Chancen und Perspektiven der Neugestaltung der Lehrerausbildung gemäß der Erklärung von Bologna ausführlich 523
Die Problematisierung von Begriff und Geschichte des Nationalstaates würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deshalb soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass die nationalstaatliche Form des Zusammenlebens in Europa historisch gesehen ein relativ neues Phänomen darstellt, das durch die aktuellen Entwicklungen unterlaufen wird. Mehr dazu vgl. Jahn 2006. 524 Vgl. Kapitel 1.4.
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diskutiert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben z. B. festgestellt, dass das größte Problem der Umstellung der erhöhte Verwaltungsaufwand ist. Durch den Erfahrungsaustausch konnten sie in einigen Bereichen ganz konkret voneinander lernen: Die ungarischen Fachleute haben vom Erfahrungsschatz der deutschen Wissenschaftler in Bezug auf die Stärkung der pädagogischen Professionalität durch Reflexion und Selbstreflexion profitieren können. Das stark praxisbezogene ungarische Lehrerausbildungsmodell gab wiederum den deutschen Fachleuten wichtige Impulse für die hiesige Umgestaltung. Neben diesen konkreten Lerneffekten betonten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass sie durch den direkten Vergleich nicht nur das Bildungssystem des anderen Landes kennen gelernt haben, sondern auch das eigene mit mehr Distanz betrachten konnten. Dabei hat man auch die positiven Merkmale des eigenen Bildungswesens „wiederentdeckt“. Es entstand ein reger Austausch sowohl auf der Ebene der Theorie, der sich in gemeinsamen Veröffentlichungen niederschlug, als auch in der Praxis, z. B. in Form von Auslandspraktika oder der internationalen Gestaltung von Masterstudiengängen. Wie ich in Kapitel 5 aufgezeigt habe, versprechen wissenschaftliche Vergleiche in Bezug auf die Verwirklichung des Konzeptes „Lebenslanges Lernen“ wichtige Erträge für Theorie und Praxis: Hier können z. B. diejenigen Aspekte untersucht werden, die in den Vergleichsuntersuchungen internationaler Organisationen nicht erforscht werden. Diese Studien der OECD oder der EU beschränken sich auf bestimmte Aspekte („Indikatoren“) von Erziehung und Bildung. Sie beinhalten meistens eine große Zahl von Untersuchungsobjekten und konzentrieren sich auf die Feststellung von Ähnlichkeiten und/oder Abweichungen zu europäischen Normen und Durchschnittswerten. Auch diejenigen Untersuchungen, die sich jenseits von Mittelwerten und Streuungen aus einer qualitativen Perspektive mit dem Thema „Lebenslanges Lernen“ beschäftigen, beschränken sich auf die Feststellung der Existenz dieser Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Form einer Juxtaposition. Eine Analyse der bestimmenden Faktoren ist hier meistens schon wegen der Anzahl der untersuchten Länder nicht leistbar. Hier sehe ich eine wichtige Aufgabe der Vergleichenden Erziehungswissenschaft. M.E. wären binationale vergleichende Untersuchungen, wie die vorliegende Studie, u.a. sehr dafür geeignet, die Harmonisierungsbefürchtungen der hiesigen Bildungspolitik zumindest teilweise zu zerstreuen. Die Aufdeckung von – neben den auch in der vorliegenden Untersuchung aufgezeigten Tendenzen zur Vereinheitlichung bildungspolitischer Programmatik – real existierenden und greifbaren Unterschieden bei der Verwirklichung des Konzepts „Lebenslanges Lernen“ in anderen Ländern könnte sicherlich helfen, diese Ängste
6. Ausblick
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abzumildern.525 Dies halte ich für unbedingt nötig, denn m. E. stellen Internationalität und Multikulturalität – ebenso wie das lebenslange Lernen – nicht mehr nur eine wählbare Alternative dar (die man eventuell auch ablehnen kann), sondern die aktuelle Realität (auch) der Bildungspolitik und der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Deshalb möchte ich zusammenfassend noch mal betonen, wie wichtig es ist, dass das von der Europäischen Union propagierte Prinzip des Voneinander-Lernens in Form einer regen innereuropäischen Diskussion über das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ stattfindet, in der nicht nur die nationalen Interessen der einzelnen Mitgliedsstaaten, sondern auch die gemeinsamen Interessen aller EU-Bürger mitberücksichtigt werden. Wie schon Philip H. Coombs betont hat, stehen alle europäischen Länder in Bezug auf Erziehung und Bildung vor ähnlichen Problemen und Herausforderungen. Das EU-Konzept „Lebenslanges Lernen“ kann wesentlich dazu beitragen, dass diese Probleme – zumindest teilweise – gemeinsam gelöst werden. Es ist also nicht mehr die Frage, ob wir “Lebenslanges Lernen” brauchen, sondern wie wir das Konzept so verwirklichen können, dass es weder eine Leerformel für bildungspolitische Sonntagsreden bleibt, noch zu einem Instrument für wirtschaftliche Interessen verkommt. Wie die EU in ihrem Memorandum über Lebenslanges Lernen festgestellt hat: „Lifelong learning is an essential policy for the development of citizenship, social cohesion and employment” (European Commission 2000, S. 6f.). Deshalb brauchen wir nicht nur – wie Angela Merkel propagiert – eine `Bildungsrepublik Deutschland` sondern auch eine `Europäische Bildungsunion`.
525
Wie in Kapitel 6 dargestellt, könnte die Erforschung der Ebene der Bildungspraxis noch weitere Unterschiede aufdecken.
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Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich bei all den Personen herzlich bedanken, die mich bei der Erstellung dieses Buches unterstützt haben. Einige möchte ich auch namentlich erwähnen: Für ihre Hilfe und fachliche Kritik danke ich insbesondere Prof. Dr. Ursula Sauer-Schiffer, Prof. Dr. Jürgen Helmchen und Prof. Dr. József Zsolnai sehr herzlich. Desweiteren möchte ich mich für ihre wertvollen Anregungen bei Prof. Dr. Franz Breuer, Prof. Dr. Marianne Krüger-Potratz, Prof. Dr. Helma Lutz und Dr. Mechtild Gomolla bedanken. Ebenfalls möchte ich den Mitgliedern der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, insbesondere der Dekanin, Prof. Dr. Isabell Diehm und der AG 3 für ihre Unterstützung danken. Prof. Dr. Hermann Giesecke danke ich dafür, dass er mich seit Beginn meiner wissenschaftlichen Arbeit in Deutschland unterstützt. Für ihre Hilfestellung und Anregungen bei der ungarischen Recherche möchte ich Dr. Gábor Halász, Dr. József Mayer und Tamás Schüttler vom Oktatáskutató és FejlesztĘ Intézet, Sándorné Tánczos vom Nemzeti FelnĘttképzési Intézet, sowie Dr. István Wirth von der Universität Szent István herzlich danken. Bei Erika Óhidy, Vivien Gerber und Dr. Attila Király bedanke ich mich ebenfalls für ihre Unterstützung. Für die Korrekturarbeit am Manuskript schulde ich Barbara Schulze und Matthias Eickhoff, für die Textgestaltung und Erstellung der Druckvorlage Kerstin Wedekämper großen Dank. Diese Arbeit möchte ich meiner Familie in Deutschland und in Ungarn widmen. Münster, 1. Juni 2009 Andrea Óhidy