Mario Vaupel Leadership Asset Approach
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Entscheidungs- und Organisationstheorie Herausgegeb...
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Mario Vaupel Leadership Asset Approach
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Entscheidungs- und Organisationstheorie Herausgegeben von Prof. Dr. Egbert Kahle
Die Schriftenreihe soll Forschungsergebnisse aus den Bereichen Entscheidungstheorie und Organisationstheorie einschließlich der damit verbundenen Problemfelder Kommunikation, Wahrnehmung, Unternehmenskultur, Unternehmensethik und Unternehmensstrategie vorstellen und – über Einzeldarstellungen hinaus – den Gesamtzusammenhang der Probleme und Lösungsansätze vermitteln. Der ausdrückliche Theoriebezug schließt dabei eine konkrete Praxisorientierung im Einzelnen mit ein.
Mario Vaupel
Leadership Asset Approach Von den Herausforderungen der Führung zur Steuerung der Führungsperformance
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Wolfgang Grunwald
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Leuphana Universität Lüneburg
ISBN 978-3-8349-1202-2
V
Für Frauke, Mai-Brit, Melvin und Vico
Kolumnentitel
VII
Geleitwort
Seit mindestens zwei Jahrzehnten stagniert die theoriegeleitete empirische Grundlagenforschung über bedeutsame Wechselbeziehungen zwischen den Bedingungen, Erscheinungsformen und Folgen der Führung aus gesellschaftlicher, organisatorischer, interpersonaler sowie intraindividueller Sicht. Zumeist werden aus Unkenntnis, wegen übertriebener Spezialisierung oder aus Zeit- und Geldknappheit nur beliebig ausgewählte Führungsaspekte erforscht, wobei das Ganzheitliche und Zusammenhängende auf der Strecke bleibt. Dem Verfasser dieses Buches, Mario Vaupel, kommt das große Verdienst zu, mit dem Leadership Asset Approach (LAA) erstmals ein heuristischganzheitliches sowie theoretisch-empirisches Paradigma für die zersplitterte Führungsforschung auf der Makro-, Meso- und Mikroebene vorgelegt zu haben. Überdies wird mit dem von ihm maßgeblich entwickelten Leadership Asset System (LAS) ein zukunftsweisendes, praxisrelevantes Managementinstrument für große Unternehmen zur Erfassung und Steuerung der markt- und ergebnisorientierten Führungsperformance vorgelegt. Es ist zu erwarten, dass mit diesem Buch in den nächsten Jahren ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird, wodurch die noch immer vorherrschenden, unzulänglichen eigenschaftszentrierten Führungsmodelle ersetzt werden könnten.
Lüneburg, im September 2008
Prof. Dr. Wolfgang Grunwald
IX
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
1
Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
13
1.1
Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
13
2
Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
35
2.1
Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
38
2.1.1
Bevölkerungsentwicklung
43
2.1.2
Sozio-technische Interdependenzen
51
2.1.3
Soziale Beziehungen
75
2.2
Von den nachhaltigen Veränderungstreibern zu den Determinanten des strategischen Wettbewerbs
2.2.1
106
Von den Determinanten des strategischen Wettbewerbs zu den Führungsanforderungen in Unternehmen
120
3
Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des Leadership Asset Approach (LAA)
123
3.1
Die Führungspersönlichkeit
123
3.1.1
Führungseigenschaften: theoretisch umstritten und praktisch relevant
3.1.2
modus des WAS und WIE der Führung 3.1.3
123
Strukturen – Habitusformen – Praktiken: zum Erzeugungs129
Performancerelevante Mindsets: von der idealen Führungskraft zu zeitgemäßen Anforderungen
144
3.1.3.1 Reflexives Mindset
150
3.1.3.2 Analytisch-synoptisches Mindset
156
3.1.3.3 Zielorientiertes Mindset
163
3.1.3.4 Innovatives Mindset
167
3.1.3.5 Weltgewandtes Mindset
172
X
Inhalt
3.1.3.6
Netzwerkorientiertes Mindset
178
3.1.3.7
Aktionsorientiertes Mindset
183
3.1.4
Von den performancerelevanten Mindsets zu den
3.2
Führungsaktivitäten
190
Strategische Führung
194
3.2.1
Begriffe und Ansätze
194
3.2.1.1
Strategieschulen nach Mintzberg als heuristisches Raster
195
3.2.1.2
Der strategische Führungsbegriff in den etablierten Grundausrichtungen des strategischen Managements
3.2.1.3
198
Der strategische Führungsbegriff in drei Paradigmagemeinschaften
3.2.1.3.1 Die planungsorientierte Paradigmagemeinschaft
202 203
3.2.1.3.2 Die personifizierende Paradigmagemeinschaft
207
3.2.1.3.3 Die sozio-ökonomische Paradigmagemeinschaft
213
3.2.2
Strategische Führung im LAA: Führungsaktivitäten als Antworten auf die Marktentwicklungen
219
3.2.2.1
Antwortfähigkeit auf Marktentwicklungen
220
3.2.2.2
Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten
223
3.2.2.3
Geplante und emergente Führungsaktivitäten
228
3.2.2.4
Potenziale
233
3.2.3
Vom strategischen zum operativen Führungsbegriff des LAA
235
3.3
Operative Führung
238
3.3.1
Begriffe und Ansätze
238
3.3.2.
Grundlegende Aspekte der operativen Führung
243
3.3.2.1
Führung von Menschen
243
3.3.2.2
Führung in sich verändernden sozialen Beziehungen
250
3.3.2.3
Führung in und von dynamischen Interdependenzen
259
3.3.3
Die wichtigsten Funktionen operativer Führung
268
3.3.3.1
Vom reflexiven Mindset zur operativen Führung: Interessen kanalisieren
3.3.3.2
Vom analytisch-synoptischen Mindset zur operativen Führung: Zusammenhänge erklären und Aktivitäten verbinden.
3.3.3.3
269 278
Vom zielorientierten Mindset zur operativen Führung: Menschen einbinden, Orientierung vermitteln, Aufgaben delegieren 282
Inhalt
3.3.3.4
XI
Vom innovativen Mindset zur operativen Führung: Marktsicht einfordern, Entwicklungen ermöglichen, Innovationen planen
287
3.3.3.5 Vom weltgewandten Mindset zur operativen Führung: Entscheidungsbasis schaffen, Unterschiede einschätzen, Stärken nutzen
292
3.3.3.6 Vom netzwerkorientierten Mindset zur operativen Führung: Nutzen vermitteln, Standards schaffen
300
3.3.3.7 Vom aktionsorientierten Mindset zur operativen Führung: Entscheidungen kommunizieren und Ressourcen einsetzen
4
306
Vom Leadership Asset Approach (LAA) zum Leadership Asset System (LAS)
311
4.1
Das Leadership Asset System
314
4.2
Managementinstrumente zwischen kritischem Reduktionismus und unbewältigter Komplexität
314
4.3
Das Grundmodell des LAS
318
4.4
Erfassung der Führungsperformance
321
4.4.1
Die Erfassungseinheiten
321
4.4.2.
Die Analyse der Basiskomponenten
323
4.4.2.1 Das Customizing der strategischen und operativen Führungsaktivitäten
324
4.4.2.2 Das Customizing der performancerelevanten Mindsets
329
4.4.3
Die Methoden zur Erfassung der Führungsperformance
332
4.5
Die Steuerung der Führungsperformance
334
4.5.1
Auswertung und Dokumentation der Führungsperformance
334
4.5.2
Feedbackprozesse zur Führungsperformance
335
4.6
Praxis und Perspektiven der Performanceerfassung mit dem LAS
336
Zusammenfassung und Ausblick
339
Literatur
343
Internetquellen
372
Anhang
373
Fragebogen zur Diagnose des Corporate Lifecycles
373
XIII
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1:
Der Leadership Asset Approach
2
Abb. 2:
Die durchschnittliche Lebenszeit der S&P 500 Unternehmen (Foster & Kaplan 2001, 13)
23
Abb. 3:
Der Orientierungsrahmen der Führung im strategischen Wettbewerb
36
Abb. 4
Die Wechselwirkung der nachhaltigen Veränderungstreiber (DIBs)
42
Abb. 5:
Die Entwicklung der Weltbevölkerung (Vereinte Nationen, World Population Prospects: The 2004 Revision, New York 2005)
43
Abb. 6:
Die Projektion der Kinderzahl pro Frau bis 2050 (Vereinte Nationen, World Population Prospects: The 2004 Revision, 2005)
46
Abb. 7:
Die regionale Verteilung der Weltbevölkerung (DSW-Datenreport 2004)
47
Abb. 8:
Die Weltbevölkerung und Wasserknappheit (Population Action International 2003)
48
Abb. 9:
Die Urbanisierung der Weltbevölkerung, 1950-2030, (World Urbanization Prospect: United Nations 2001 The 1999 Revision, New York)
50
Abb. 10:
Die Zunahme der Beziehungsmöglichkeiten bei wachsenden Interdependenzen (vgl. Elias 1981, 107)
53
Abb. 11:
World population and the number of independent states since 1871 (Ferguson 2002, 380)
60
Abb. 12:
Bahnkilometer, 1840-1900 (Moore & Lewis 2000, 210)
62
XIV
Abbildungsverzeichnis
Abb. 13:
Grenzüberschreitende Transaktionen in Anleihen und Anteilen, 1970-1996 (Castells 2001, 109)
68
Abb. 14:
Der Zusammenhang zwischen Informationstechnologie und Wohlstand (ITU World Telecommunication Indicators Database, 2001)
70
Abb. 15:
Die Nutzungsunterschiede beim Telefon und Internet (ITU World Telecommunication Idicators Database, 2001
72
Abb. 16:
Die Zentralen sozialen Beziehungstypen
77
Abb. 17:
Die Haupttypen menschlicher Machtquellen
78
Abb. 18:
Die Ausbildungszeit pro Person in Jahren (Horx, 2002, 6)
80
Abb. 19:
Die Halbwertzeit des Wissens (Güldenberg, S. / Myerhofer, H. / Steyrer, J. 1999, 594)
81
Abb. 20:
Der Strukturwandel: Anteil der in der Industrie arbeitenden Bevölkerung in Prozent (Horx 2002b, 3)
82
Abb. 21:
Der Anstieg des Anteils der Wissensarbeiter (Horx 2002, 4)
83
Abb. 22:
De Erwerbstätigenquote bei Männern und Frauen in Europa 2000, Alter 15-64 Jahre (Horx 2002b, 27)
85
Abb. 23:
Die Zahl beruflich aktiver Frauen im Verhältnis zu Männern
86
Abb. 24:
Junge Frauen an weiterführenden Schulen (Horx 2002b, 5)
87
Abb. 25:
Die Erwerbstätigenquote der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren und Scheidungen je 1.000 Personen (Horx 2002b, 8)
87
Abb. 26:
Verweildauer beim ersten Arbeitgeber in Prozent, USA (Horx 2002b, 8)
93
Abbildungsverzeichnis
XV
Abb. 27:
Die Haushaltsgrößen in Deutschland (Horx 2002b, 8)
101
Abb. 28:
Haushaltsgröße ausgewählter Länder im Vergleich (Horx 2002b,)
102
Abb. 29:
Das neue Wertemuster in den USA (Horx 2002b, 7)
103
Abb. 30:
Die Lebensorientierung (Horx 2002b, 4)
104
Abb. 31:
„Forces Driving Industry Competition“ (Porter 1980, 4)
108
Abb. 32:
Porters Bezugsrahmen im Kontext der Bestimmungsgrößen für den Unternehmenserfolg insgesamt
112
Abb. 33:
Die Integrationsstufen der Determinanten des strategischen Wettbewerbs
117
Abb. 34:
Die Determinanten des strategischen Wettbewerbs
118
Abb. 35:
Prüfung der prognostischen Validität von Jim Collins „Good-to-Great Companies“ und „Direct Comparisons“ (vgl. Collins 2001)
127
Abb. 36:
Die Führungskaft zwischen Great Man und Residualfaktor
140
Abb. 37
Einflussfaktoren der Führung
142
Abb. 38:
Die Transformation deskriptiver in präskriptive Kategorien
146
Abb. 39:
Die Vernetzung der performancerelevanten Mindsets
149
Abb. 40:
Die Bedeutung der Mindsets für dem Umgang mit den sozio-ökonomischen Herausforderungen
151
Abb. 41:
Prüfung der prognostischen Validität von Sydney Finkelsteins „Good Companies“ und „Good Companies“ und Breakdown Companies“ (vgl. Finkelstein 2003)
156
Abb. 42:
Die generische Wertschöpfungskette nach Porter (vgl. Porter 1985, 37)
158
XVI
Abbildungsverzeichnis
Abb. 43:
Balanced Scorecard nach Kaplan und Norton (vgl. Kaplan und Norton 1997, 9)
159
Abb. 44:
Das Southwest Airlines‘ Activity System
162
Abb. 45:
Single-loop und double-loop Learning nach Chris Agyris
169
Abb. 46:
Die Prozesskette Innovationsmanagement
171
Abb. 47:
The Framework of Global Mindset (Chatterjee 2005, 40)
174
Abb. 48:
Schritt im Entscheidungsprozess und performancerelevante Mindsets (vgl. Drucker 1993e, 113-142
188
Abb. 49:
Die Funktionen der Mindsets im Überblick
189
Abb. 50:
Die Charakterisierungen der Strategieschulen (Mintzberg 1999, 17)
196
Abb. 51:
Die Grundrichtungen strategischer Führung (Hahn 1997, 4)
199
Abb. 52:
Die strategischen Grundausrichtungen und Begriffe der strategischen Führung
201
Abb. 53:
Strategieschulen nach Mintzberg, etablierte Grundausrichtungen und Paradigmagemeinschaften des strategischen Managements
204
Abb. 54:
Die Entwicklung der Nutzung der beliebtesten Management-Tools (Bain & Company 2001)
207
Abb. 55:
Die Unterscheidung ManagerInnen und FührerInnen im Sinne des New Leadership Approach (Neuberger 2002, 49)
209
Abb. 56:
Das Erfolgsmodell des personifizierenden Paradigmas
211
Abb.57:
Die Untersuchungseinheiten in der Strategic LeadershipForschung zwischen 1980 und 1994 (Finkelstein / Hambrick 1996, 329
212
Abbildungsverzeichnis
XVII
Abb. 58:
Die präskriptiven Schulen nach Henry Mintzberg (Mintzberg 1999, 395)
214
Abb. 59:
Die deskriptive Schulen nach Henry Mintzberg (Mintzberg 1999, 395)
214
Abb. 60:
Die Bedeutung von strategischer Führungsarbeit für die Produktivität (Proudfoot Consulting, Oktober 2003)
227
Abb. 61:
Die Funktionen der strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten im LAA
228
Abb. 62:
Die intendierte strategische Führung aus planungsorientierter und personifizierender Sicht
229
Abb. 63:
Die bewusste und sich herausbildende Strategien (Henry Mintzberg 1999, 26)
233
Abb. 64:
Die Führungstheorien – ein Bezugsrahmen (Wunderer 2003, 274)
242
Abb. 65:
Die Annahmen der Theorie X und Y nach McGregor (Staehle 1999, 1929)
245
Abb. 66:
Die Steuerung produktiver Arbeit im 19., 20. und 21. Jahrhundert
248
Abb. 67:
Der Gallup Engagement Index 2006, (The Gallup Organisation, 2006)
251
Abb. 68:
Die Führungsrollen nach Henry Mintzberg (Mintzberg 1980, 54-99)
257
Abb. 69:
Entwicklung der Wertschöpfungstiefen in der Automobilindustrie und der Versicherungswirtschaft von 19902010 (Magna Steyr, Detecon)
263
Abb. 70:
Die Unternehmensnetzwerke am Anfang des 21. Jahrhunderts
265
Abb. 71:
Die zentralen Koordinationsmerkmale von Markt, Hierarchie und Netzwerk (Köhne, S. 37)
267
XVIII
Abbildungsverzeichnis
Abb. 72:
Funktionen der operativen Führung
270
Abb. 73:
What it really means to manage (Linda Hill 2002, 268)
280
Abb. 74:
Die drei Networking-Strategien (Ibarra & Hunter 2007, 48)
303
Abb. 75:
Die Managementtools nach Anwendungsbereichen (in Anlehnung an Bain & Company, 2003)
317
Abb. 76:
Das Modell der integrierten Erfassung der Führungsperformance
323
Abb. 77:
Die Zuordnung strategischer und operativer Führungsaktivitäten zu den Mindsets
330
Abb. 78:
Der Vergleich von Ansätzen zur Performancemessung (Berger & Berger 2004, 87-88)
331
Abb. 79:
Der Methodenmix zur Erfassung der Führungsperformance im LAS
333
Abb. 80:
Die Executive Summary im LAS-Reporting
336
Abb. 81:
Die Nutzung des LAS im Talent Management
337
1
Einleitung
Mit der seit den 1970er Jahren rasant wachsenden Dynamik und Komplexität in der Unternehmenswelt stiegen auch die Veröffentlichungszahlen zu Führungsthemen deutlich an.1 Ein Teil der intensiven Aufbereitung der vielfältigen Führungsthemen hat zur wissenschaftlichen Auflösung von Führungsmythen (z. B. Great Man-Mythos oder Glaube an die ideale Führungsorganisation) beigetragen und eine große Zahl populärer bis wissenschaftlich fundierter Ratschläge für Führungskräfte vermittet. Gleichzeitig hat ein anderer Teil der Arbeiten zu Führungsthemen alte und neue Mythen (z. B. Great Man-Mythos oder ökonomistische Führungsansätze) gepflegt oder hervorgebracht. Diese widersprüchlichen Positionen, Modelle, Theorien und Ratschläge zu Führungsthemen, die sich in den Veröffentlichungen vielfach finden lassen, spiegeln zwar die Komplexität der modernen Führungswelt wider, bieten aber zugleich wenig überzeugende Orientierungshilfen. Dies ist gerade bei grundlegenden Fragen kritisch. So bleibt zum Beispiel bis dato unklar, welche Denk- und Handlungsanforderungen an Führungskräfte am Anfang des 21. Jahrhunderts gestellt werden müssen, um Unternehmen strategisch und operativ durch die turbulenten Märkte führen zu können. Statt überzeugende empirisch-theoretische Antworten zu bieten, ist die Willkür bei der Beantwortung auch dieser Führungsfrage weiterhin groß (vgl. Ulrich & Zenger & Smallwood 1999, 4). Die vorliegende Arbeit greift die Frage auf, wie Leistungsanforderungen an Führungskräfte in Unternehmen fundierter hergeleitet werden können. Zur Beantwortung der Frage wird ein empirisch-theoretischer Bezugsrahmen vorgelegt, der das Zusammenwirken wichtiger Einflussgrößen (nachhaltige sozioökonomische Entwicklungen, Marktdeterminanten, Unternehmensstrategie, -strukturen und -kultur, strategische, operative und persönliche Führung) bei der Entstehung von Führungsperformance darlegt. Dieser Bezugsrahmen, der Leadership Asset Approach (LAA), ermöglicht es, die Anforderungen an die Führungsperformance in Unternehmen unter Berücksichtigung der wichtigsten Einflussgrößen abzuleiten. Dabei steht der Begriff der Führungsperformance im LAA für persönliche, strategische und operative Führungsleistungen, die Beiträge zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens liefern. Die Abbildung 1 zeigt dass komplexe Zusammenwirken der wichtigsten Einflussgrößen, die bei der Formulierung der Anforderungen an die Führungsper1
Einen Eindruck von der schwer überschaubaren Publikationsflut bietet sich, wenn man bei dem Internetversandhaus „amazon.com“ die Stichworte Führung, Leadership oder Management eingibt. Zu diesen Stichworten fanden sich am 01.10.2007 folgende Nachweise zu Buchveröffentlichungen: Führung = 7.631; Leadership = 218.193; Management = 637.641.
2
Einleitung
ne
no
hm
s en
str
ate
a str er
gie /
teg
iv at
-struk
isch
üh eF
turen
turen / -kultur
ungsaktivitäten e Führ
rung
saktivitäten
Mindsets Technik
netzwerk korientiertt
weltgewan weltgewandt
Finanzen
individuelle Prägung g
Mitarbeiter analytisch h synoptisch p
reflexiv
aktionsorientierrt
Prozesse
Organisation zielorientiert
o
pe
innovativ
U
so
nt
zi
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o-
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rung
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Demografie & soziale Beziehungen & sozio-technische Interdependenzen
n
r te
ko
op
U
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truk he S
Determinanten des strategischen Wettbewerbs
so
o zi
c mis
saktivitäten
Führungsaktivitäten
struk
he S tru
turen / -ku
ltur
kturen
Abb. 1: Der Leadership Asset Approach
formance berücksichtigt werden müssen, in komprimierter Form. Durch diese Ganzheitlichkeit des vorgestellten Leadership Asset Approach (LAA) ist es möglich, die Wirkungszusammenhänge der Führungsperformance insgesamt und die Herleitung der Anforderungen an die Führungskräfte im Besonderen konzeptionelll zu hinterfragen. Auch bietet der Bezugsrahmen die Möglichkeit, an einer weiteren empirisch-theoretischen Fundierung fortgesetzt programmatisch zu arbeiten. Die Motivation, diesen empirisch-theoretischen Ansatz zu formulieren, entstand aus der Beschäftigung mit zwei Perspektiven, nämlich der Führungspraxis und der Forschung. In die praktische Führungsweltt ist der Autor seit 16 Jahren hauptberuflich eingebunden. Diese Einbindung bietet den Vorteil, dass viele Führungsthemen mit einem Erfahrungshintergrund reflektiert werden können. Besonders ist durch die reflektierte Führungsarbeit die Überzeugung gereift, dass Führungsprozesse nicht verstanden und effektiv gesteuert werden können, wenn ihre realen Vernetzungen willkürlich zerlegt und ihre
Einleitung
3
sozio-technische Dynamik übersehen wird. Jede Herauslösung strategischer, operativer und persönlicher Führungsfragen aus den in der Praxis erlebbaren Wirkungszusammenhängen schafft über einen Theoretisierungseffekt eine fiktive Führungswelt. Deshalb war das praktische Interesse des Autors gering, einen Aspekt der strategischen, operativen oder persönlichen Führung aus den erlebten Wirkungszusammenhängen herauszugreifen und in seine Bestandteile zu zerlegen. Stattdessen kommt im hier vorliegenden Ansatz, dem LAA, ein praxisgetriebenes Interesse zum Ausdruck, die Wirkungszusammenhänge soweit begrifflich-konzeptionell zu bearbeiten, wie sie aus der praktischen Erfahrung heraus zusammenwirken. Neben dem Vorteil der erfahrungsgestützten Reflexion birgt die Einbindung in die Führungspraxis jedoch gleichzeitig Gefahren bei der empirisch-theoretischen Klärung von Führungsfragen. So wird die Führungspraxis zum Erkenntnisproblem, wenn aus der immer begrenzten individuellen Erfahrungswelt fragwürdige Alltagstheorien abgeleitet werden. Diese Alltagstheorien verleiten gerade in Zeiten schneller Veränderung dazu, veraltete Lösungen auf neue Probleme anzuwenden. Um diese Limitationen der individuellen Führungserfahrungen zu überwinden, hat der Autor in den letzten zehn Jahren parallel zur praktischen Führungsarbeit auf die Führungsforschungg und angrenzende Forschungsfelder zurückgegriffen. Getrieben von der realen Komplexität der Führungsfragen war der Rückgriff auf die Forschung durchgängig von zwei Grundpositionen geprägt: Erstens wurden die Grenzziehungen zwischen den wissenschaftlichen Fakultäten nicht akzeptiert (vgl. Elias 1982). Stattdessen erfolgte die Auswahl des wissenschaftlichen Materials ausschließlich geleitet durch praktisch relevante Führungsfragen. Folglich bestand – zweitens – kein Interesse an „reiner“ wissenschaftlicher Forschung, sondern ausschließlich an der Erklärung von Entwicklungen und Zusammenhängen, die in der Unternehmens- und Führungspraxis relevant sind (vgl. Malik 2007, 9). Die Motivation, die Führungspraxis und –forschung zur Erarbeitung des LAA in der dargelegten Weise zu nutzen, wird durch ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses von Empirie und Theorie ergänzt: Dem Sammeln von empirischen Daten, wie es im Zeitalter computerunterstützter Auswertungsmöglichkeiten extreme Verbreitung gefunden hat, kommt aus Sicht des Autors bei der Bearbeitung von komplexen (vernetzten und dynamischen) Führungsfragen lediglich eine unterstützende Funktion zu. Ohne einen Bezugsrahmen, der die empirischen Daten in einen empirisch-theoretisch begründeten Erklärungszusammenhang einfügt, sind die sogenannten Fakten von begrenztem Wert. Deshalb richtet sich hier das praktische Interesse darauf, einen Ansatz zu entwickeln, der das reichhaltige empirische Material nicht unterschlägt, sondern „zum Sprechen bringt“. Insofern ist der hier vorgelegte Leadership Asset Approach (LAA) empirisch-theoretisch, da er die eigene Führungserfahrung und
4
Einleitung
empirischen Materialien reflektiert, aber immer auch in einen Erklärungsrahmen einfügt. Dieses Verständnis des Zusammenwirkens von Theorie und Praxis hat Kurt Lewin in dem Satz „Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie“ (Marrow 2002, 199) treffend zusammengefasst. Die Grundpositionen zum Umgang mit der eigenen Führungserfahrung und der Führungsforschung werden durch einen methodischen Zugangg ergänzt, der in der gegenwärtigen Managementliteratur nicht populär ist, aber aus Sicht des Autors große Erkenntnispotenziale bietet: Bei der Interpretation der Entwicklungen und Zusammenhänge, die für die Führung in Unternehmen und damit die Anforderungen an Führungskräfte relevant sind, wird in dieser Arbeit grundsätzlich eine langfristige Perspektive gewählt (vgl. Simon 2004, 14-17). Der methodische Ansatz dieser Arbeit ist folglich prozesstheoretisch. Um die Erkenntnispotenziale dieses Zugangs zu nutzen, wird bei umfangreichen Entwicklungszusammenhängen der Dreischritt aus Beschreibung, Diagnose und Erklärung angewandt. Diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit, wesentliche Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten. Wie dies auch bei statistischen Verfahren der Fall ist, kann diese Vorgehensweise zu grundsätzlichen Fehlinterpretationen verleiten. So stellt sich bei dem einfach erscheinenden Schritt der Beschreibungg die kritische Frage, ob die richtigen Indikatoren gewählt wurden, um einen Entwicklungsprozess abzubilden. Selbst wenn die Indikatoren richtig gewählt sind, dann müssen die Materialien nicht den Kriterien der Zuverlässigkeit und Gültigkeit entsprechen. Sind die Fallstricke der Beschreibung gemeistert, stellt sich die Frage, ob bei der Diagnose die richtigen Schlussfolgerungen gezogen wurden. Hier können auf Grundlage der Beschreibungen die Richtungen, Geschwindigkeiten und Reichweiten von Entwicklungen falsch diagnostiziert werden. Wurde auch diese Klippe erfolgreich gemeistert, dann bleibt die Herausforderung, durch eine sachgerechte Erklärung die Zusammenhänge verständlich zu machen, die Entwicklungen ermöglicht haben und gegebenenfalls weiter bestimmen werden. – Diese Schwierigkeiten bei der Verwendung der soziogenetischen Methode zu sehen bietet die Möglichkeit, sie zu bewältigen. Inwieweit es in dieser Arbeit gelungen ist, durch diesen methodischen Zugang nutzbare Orientierungsmittel zu schaffen, muss – nach dem hier vertretenen Verständnis der Führungsforschung – die Anwendung und Prüfung des Ansatzes in der Praxis zeigen (vgl. Elias 1977, 127-149; Goudsblom 1984, 83-104). Eine konsequente Nutzung des methodischen Zugangs der Soziogenese erfolgt erst im zweiten Kapitel. Zunächst bietet das erste Kapitel einen Aufriss zur Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs. Diese Hinleitung zum LAA dient dazu, die dynamischen Inderdependenzen zwischen den sozio-ökonomischen Prozessen und den unternehmensstrategischen, -organisatorischen und individuellen Herausforderungen ins Blickfeld zu rücken. Durch die Diskussi-
Einleitung
5
on dieser Wirkungszusammenhänge wird zugleich eine weitere Grundposition des Leadership Asset Approach deutlich: Die Herausforderungen der Führung und damit die notwendigen Führungsleistungen in Unternehmen können fundiert nur aus den Entwicklungen in der Wirtschaft und Gesellschaft abgeleitet werden. Folglich soll das erste Kapitel dafür sensibilisieren, dass sich die Herausforderungen der Unternehmen und Führungskräfte nicht im kontextfreien Raum entwickeln, sondern von den Entwicklungen der umfassenderen Figurationen bestimmt werden. Mit dieser im ersten Kapitel eingeführten Lesart zur Entwicklung von Führungsherausforderungen wird jedoch keine einseitig ideologische Position in der Grundsatzdebatte über die Verhältnisse von Individuum und Gesellschaft, Struktur und Handlung, Determinismus und Voluntarismus bezogen (vgl. Elias 1987, 120). Vielmehr ist an der Gesamtkonzeption des LAA ablesbar, dass es um eine realistische Erfassung des Zusammenwirkens von sozio-ökonomischen Strukturen und individueller Gestaltung geht.2 Die Notwendigkeit, dieses Zusammenwirken zu reflektieren, wird durch den Untertitel des ersten Kapitels „Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck“ unterstrichen. Während im ersten Kapitel durch die Diskussion der Führungsleistungen in den wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten für einen realistischen Blickwinkel zur Bestimmung von Führungsanforderungen sensibilisiert werden soll, geht es im zweiten Kapitel um die Herleitung eines Orientierungsrahmens der Führung in Zeiten des Umbruchs. Dieser Orientierungsrahmen der Führung wird zunächst nicht – wie es durchaus verbreitet ist – über einen enger gefassten organisatorischen oder individualisierenden Zugang, sondern über eine Prozessanalyse der nachhaltigen Veränderungstreiber (Demografie, sozio-technische Interdependenzen, soziale Beziehungen) erarbeitet. Diese soziogenetischen Vorarbeiten zum LAA haben folgenden Grund: Die nachhaltigen Veränderungstreiber prägen – weitgehend unabhängig von den Vorstellungen und Leistungen der Führungskräfte und Unternehmen – die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen der Führung. Deshalb werden im Kapitel 2.1 die drei Veränderungstreiber soweit soziogenetisch rekonstruiert, dass ihre determinierenden Wirkungen auf die Märkte, Unternehmen und Führungsbeziehungen erkennbar werden. Von den rekonstruierten Schub- und Prägekräften der nachhaltigen Veränderungstreiber werden daran anschließend im Kapitel 2.2 die Entwicklungslinien bis zu den wichtigsten Determinanten des strategischen Wettbewerbs gezogen. In einer tabellarischen Übersicht wird aufgezeigt, in welcher groben Zuordnung die drei nachhaltigen Veränderungstreiber sozio-ökonomische Entwick2
Die Problematik, dass die Verarbeitung des Inputs durch das Denken und Fühlen (Input → Verarbeitung → Output) einer objektiven Erfassung bisher nur begrenzt zugängig ist, wird als „black-box-Problem“ bezeichnet.
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lungen (Determinanten des strategischen Wettbewerbs) determinieren. Dabei wird – vor dem Hintergrund des eingeschliffenen Branchendenkens der strategischen Führungsforschung seit den 1980er Jahren – besonders darauf hingewiesen, dass die in dieser Übersicht den nachhaltigen Veränderungstreibern zugeordneten Determinanten des strategischen Wettbewerbs ihre Wirkung nicht streng entlang von Branchengrenzen entfalten, sondern in unterschiedlicher Kombinatorik alle Branchen mehr oder weniger intensiv beeinflussen. In diesem Kontext wird erläutert, dass diese Lesart der Wirkungsweise der sozioökonomischen Entwicklungen nicht dazu führt, dass die Relevanz der weit verbreiteten Porterschen Branchenanalyse verneint wird (vgl. Porter 1980, 1985). Der LAA verweist jedoch auf die Notwendigkeit, diesen Ansatz grundsätzlich zu überarbeiten. Denn die Unternehmen agieren am Anfang des 21. Jahrhunderts zunehmend in Wertschöpfungsnetzwerken, die klassische Branchengrenzen aufbrechen. In der global vernetzten Wirtschaft ist eine strategische Branchenanalyse folglich oftmals zu eng, um die Entwicklungen der Märkte zu verstehen und strategisch erfolgreich zu beantworten (vgl. Kim & Mauborgne 2005). Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft (vgl. Castells 2004) erfordert es mehr denn je, dass die Abhängigkeiten der Führung in den Unternehmen von den zunehmend weiträumigeren und dichteren sozio-ökonomischen Abhängigkeiten besser verstanden werden. Den Schlüssel zum Verständnis der dynamischen sozio-ökonomischen Abhängigkeiten der Führung bietet aus Sicht des LAA die Rekonstruktion der nachhaltigen Veränderungstreiber und der von ihnen geprägten Determinanten des strategischen Wettbewerbs. Folglich wird nachgezeichnet, inwiefern diese Entwicklungen die gesamten sozio-ökonomischen Strukturen fundamental prägen. Entsprechend wird es im hier beschriebenen Bezugsrahmen zur Führungsperformance in Unternehmen als Kernaufgabe gesehen, auf die Herausforderungen, die sich für die Unternehmen aus den langfristigen und prägenden Entwicklungen ableiten, differenzierte Antworten zu geben. Diese für den Erklärungszusammenhang des LAA grundlegende Verbindung von „Markt“ und Führungsanforderungen wird im Kapitel 2.3 nochmals ausdrücklich hergestellt. Im dritten Kapitel wird erläutert, dass sich aus Sicht des LAA die Beiträge der Führungskräfte, die wettbewerbsfähige Antworten auf die Entwicklung der Märkte, Unternehmen und Führungsbeziehungen darstellen müssen, über drei Bereiche, nämlich den der Führungspersönlichkeit, den der strategischen Führung und den der operativen Führung, erschließen lassen. Der erste Bereich, über den die Marktfähigkeit der Führung gesichert werden muss, wird im Kapitel 3.1 unter der Überschrift „Die Führungspersönlichkeit“ behandelt. Es wird diskutiert, dass sich dieser Bereich gegenwärtig forschungsgeschichtlich an einem Scheideweg befindet (Kapitel 3.1.1). Einerseits kann im Unternehmensalltag die Bedeutung der Führungspersönlichkeit ständig beob-
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achtet und folglich von der Forschung nicht ignoriert werden. Andererseits ist die Jahrtausende währende Suche nach der idealen Führungspersönlichkeit bis heute gescheitert. Nach einer kritischen Analyse des Forschungsstands wird die Richtungsentscheidung des LAA an dieser forschungsgeschichtlichen Weggabelung erarbeitet. Es wird die Ausgangsthese formuliert, dass es die ideale Führungspersönlichkeit nicht gibt. Folglich wird mit dem LAA auch nicht der Versuch unternommen, durch eine neue Mischung von Persönlichkeitseigenschaften die ideale Führungskraft zu konstruieren. Stattdessen wird im Kapitel 3.1.2 ein empirisch-theoretischer Zugang gewählt, der offenlegt, welche Funktionen der Führungspersönlichkeit bei der Wahl des WAS und WIE der Führung zukommen. Dieses Erklärungsmodell liefert die Habitustheorie von Pierre Bourdieu. Die Habitustheorie erklärt unter anderem den Erzeugungsmodus von Führungshandlungen, indem sie die enge Verknüpfung von prägenden Strukturen, Habitusformen und Praktiken nachweist (vgl. Bourdieu 1987a). Als persönlichkeitstheoretische Fundierung des LAA wird erläutert, dass der (Führungs-) Habitus einerseits verinnerlichte soziale Strukturen repräsentiert und andererseits sozial akzeptierte (Führungs-) Handlungen ermöglicht. Der Rückgriff auf die Habitustheorie ermöglicht es folglich, den Erzeugungsmodus von Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards generell und den von Führungsleistungen im Besonderen sozio- und psychogenetisch zu erschließen. Neben dem Nutzen, ein differenziertes Verständnis der Entstehungszusammenhänge von Denk-, Fühl- und Handlungsmustern von Führungskräften zu ermöglichen, wird die Habitustheorie in dieser Arbeit diskutiert, weil sie gleichzeitig einen wissenschaftlich fundierten und praktischen Ansatzpunkt für die Formulierung von Führungsanforderungen bietet. Erstens unterstützt die Habitustheorie den praxisorientierten Anspruch, bei der Konzeption des LAA eine „Anforderungsatomisierung“ zu vermeiden. Dies ist relevant, weil der menschliche Habitus als strukturierte und strukturierende Kraft unteilbar ist. Übertragen auf die Formulierung von Führungsanforderungen bedeutet dies, dass ein Persönlichkeitsgefüge (Ganzheitlichkeit) in dem Anforderungsmodell erkennbar bleiben bzw. werden muss. Zweitens wird durch die habitustheoretische Rekonstruktion des Erzeugungsmodus von Praxisformen (StrukturenHabitusformen-Praktiken) ein Ansatz zur Überwindung des „Black-box-Problems“3 gewählt. Die umfassendere und deskriptive Habitustheorie, besonders das Verständnis des zwar differenzierten, aber vernetzten Persönlichkeitsgefüges und des Erzeugungsmodus der Praxisformen, wird im LAA genutzt, um – präskriptiv 3
Es gibt jedoch Kompetenzbegriffe, die auf einem vergleichbaren Integrationsniveau formuliert sind wie der hier genutzte Funktionsbegriff (vgl. Erpenbeck & Rosenstiel 2003, IX-XL).
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gewendet – ein Anforderungskonzept zu formulieren. Hierzu wird als methodisch-fordernde Variante zum Habituskonzept im Kapitel 3.1.3 das Modell der performancerelevanten Mindsets vorgestellt. Die sieben Mindsets, die in den Unterkapiteln 3.1.3.1 bis 3.1.3.7 vorgestellt werden, stehen gleichfalls für differenzierte, aber vernetzte Denk- und Fühlmuster, die zur Beantwortung der sozio-ökonomischen Herausforderungen benötigt werden. Damit werden nach der Analyse, welche sozio-ökonomischen Entwicklungen oder Herausforderungen sich identifizieren lassen, Mindsets als notwendige Denk- und Fühlmuster formuliert, die eine Antwortfähigkeit auf diese Herausforderungen ermöglichen. Die im Text ausführlich begründete LAA-Formel zur persönlichen Führungsperformance lautet folglich: Nur wenn die zur Beantwortung der sozio-ökonomischen Herausforderungen notwendigen Denkund Fühlmuster (Mindsets) bei einer Führungskraft abrufbar sind, können effektive Leistungen zur Gestaltung der unternehmerischen Strukturen erwartet werden (sozio-ökonomische Entwicklungen → Mindsets → Führungsaktivitäten). Die Mindsets werden im LAA somit als zeitgemäße integrative Anforderungskategorien eingeführt. Um die Mindsets, die in ihrem Zusammenwirken zwar nicht die gesamte Persönlichkeit, wohl aber das für die Führungsperformance relevante Denk- und Handlungsgefüge repräsentieren, beobachten zu können, werden sie weiter ausdifferenziert. Diese Ausdifferenzierung der integrativen Mindset-Anforderungen erfolgt in dieser Arbeit über Funktionen (hier verstanden als: zweckdienliche Leistungen), die das jeweilige Mindset ermöglichen soll. Dabei stehen die in dieser Arbeit herausgearbeiteten Funktionen der Mindsets nicht für einzelne Eigenschaften oder Kompetenzen4. Der im LAA verwendete Funktionsbegriff ist – wie auch die Mindsets auf der nächsthöheren Integrationsstufe – gleichfalls eine integrative Kategorie. Er steht für grundlegende zweckdienliche Leistungen, an die sich immer eine unbestimmte Zahl von Kompetenzen, Eigenschaften, Werten, etc. angliedern (lässt), die zeitlich und situativ variieren und damit nicht generisch beschrieben werden können. Im LAA wird diese Ebene von Anforderungsprofilen, die aufgrund ihrer zeitlichen und situativen Abhängigkeiten für eine große Zahl von Führungskompetenzen, -charakteristika, -eigenschaften o. ä. steht, konzeptionell eingeordnet, aber nicht weiter ausdifferenziert. Stattdessen liefert der LAA ein umfassendes, aber praktikables Mindsetmodell, das den jeweiligen Mindsets zum Zweck der Performanceerfassung und –steuerung (Entwicklung) grundlegende Funktionen zuordnet. Ob die Mindsets bei einer Führungskraft hinreichend performen, um auf die 4
Die Tatsache, dass die gefragten Führungskompetenzen, -charakteristika, -eigenschaften o.ä., die unterhalb der Integrationsebene der Mindsets und grundlegenden Funktion gefragt sein können, zeitlich und situativ variieren, führt zu den immer neuen Kompetenz- und Eigenschaftsmodellen.
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sozio-ökonomischen Entwicklungen effektiv antworten zu können, lässt sich entsprechend dem Erzeugungsmodus der Führungspraxis (sozio-ökonomische Entwicklungen → Mindsets → Führungsaktivitäten) nicht unmittelbar erschließen. Vielmehr wird im Kapitel 3.1.4 erläutert, dass nur die strategischen und operativen Führungsaktivitäten, die eine Führungskraft leistet, ein Spiegelbild des Leistungsprofils der Mindset bieten. Diesem Zusammenhang wird in der Darlegung des LAA Rechnung getragen, indem in den folgenden Kapiteln ein Zugang zur Analyse der strategischen und operativen Führung erschlossen wird. Geleitet durch die Logik der Sache, nämlich den ausrichtenden und gestaltenden Einfluss der strategischen Führung, wird dieser Teil der Führungsperformance nach der Darstellung der performancerelevanten Mindsets diskutiert. Dabei kommen in den vielfältigen strategischen Führungsaktivitäten, die Denk- und Fühlmuster der performancerelevanten Mindsets unweigerlich zum Ausdruck. Wie stark die Mindsets das strategische Führungshandeln bestimmen, wird schon im Kapitel 1. an Unternehmensbeispielen aufgezeigt. Auf eine weitere Ausdifferenzierung der Wechselwirkung der performancerelevanten Mindsets mit den strategischen Führungsaufgaben wird im Kapitel 3.2 zur Vermeidung von Redundanzen verzichtet. Denn die Wechselwirkungen zwischen den Mindsets und den Führungsleistungen werden bei der Bearbeitung der operativen Führung systematisch aufgegriffen. Dass die Bedeutung der Mindsets im Zusammenhang mit der operativen Führung diskutiert wird, obgleich sie auch in der strategischen Führung durchgängig ihre Wirkungen entfalten, hat einen einfachen Grund: Während die Mindsets ihre Wirkung in der strategischen Führung unterhalb der zwei Kernfunktionen, nämlich der Ausrichtung des Unternehmens und der Sicherung des Leistungsniveaus der Ressourcen, in einer Vielzahl möglicher Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten zeigen, lassen sich die wichtigsten Funktionen der Mindsets bruchlos mit den wesentlichen operativen Führungsleistungen verknüpfen. Dies ermöglicht es, im Kapitel 3.3.3 die Darstellung der wichtigsten Funktionen der operativen Führung systematisch mit den jeweils relevanten Mindsets zu verbinden. Im Kapitel 3.2 wird jedoch zunächst das LAA-spezifische Verständnis von strategischer Führung formuliert. Hierzu werden die akademischen und praktischen Sichtweisen dieses Führungsbereichs, der seit den 1960er Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat, in den Unterkapiteln 3.2.1 bis 3.2.1.3.3 strukturiert und diskutiert. Auf diese Vorarbeiten aufsetzend wird im Kapitel 3.2.2 begründet, dass die Performance der strategischen Führungsarbeit über zwei grundlegende Funktionen geschlüsselt ist, nämlich über die Sicherung der marktorientierten Ausrichtung des Unternehmens und die Sicherung des Leistungsniveaus der wettbewerbskritischen Ressourcen. Aus Sicht des LAA konkretisieren sich diese notwendigen Grundfunktionen der strategischen
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Führung in einer Vielzahl strategischer Führungsaktivitäten. Von wem und wie die strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit gleistet wird und geleistet werden sollte, wird in den Unterkapiteln 3.2.2.1 bis 3.2.2.4 erschlossen. Dabei liefert die Diskussion des „Potenzialcharakters“ der strategischen Führung im Unterkapitel 3.2.2.4 auch einen wichtigen Ansatzpunkt, um das Verhältnis der strategischen zur operativen Führung im Bezugsrahmen des LAA zu klären. Diese Verknüpfung wird im Kapitel 3.2.3 als Überleitung zur Behandlung der operativen Führung im LAA nochmals zusammengefasst. Im Kapitel 3.3 werden schließlich die wichtigsten Funktionen der operativen Führung systematisch in ihrem Zusammenwirken mit den Mindsets beschrieben. Parallel zur Diskussion der strategischen Führung wird auch hier als Hinleitung zum eigenen Bezugsrahmen die Forschungslandschaft kursorisch erschlossen. Dies geschieht in Form eines kurzgefassten Überblicks über mögliche Führungsdefinitionen und etablierte Theorien (Kapitel 3.3.1). Bei der folgenden Diskussion der grundlegenden Aspekte der operativen Führung aus Sicht des LAA wird selektiv auf diese etablierten Ansätze Bezug genommen (Kapitel 3.3.2.). Die Formulierung der grundlegenden Aspekte der operativen Führung, nämlich des Menschenbildes, der Gestaltung von sozialen Beziehungen und des Umgang mit dynamischen Interdependenzen, wird deshalb geleistet, weil diese Denk- und Handlungsmuster wesentlich bestimmen, was von einer Führungskraft im operativen Geschäft erwartet und getan wird (Kapitel 3.3.2.1 bis 3.3.2.3). Vor dem Hintergrund der selektiv diskutierten Ansätze und der Reflexion grundlegender Aspekte der operativen Führung werden schließlich die wichtigsten Funktionen der operativen Führung dargelegt (Kapitel 3.3.3.). Der im Kapitel zu den performancerelevanten Mindsets aufgebauten Systematik folgend, werden die Funktionen der operativen Führung weitgehend als umfassendere interaktive Leistungen beschrieben. Dabei geht es – parallel zu den Funktionen der Mindsets – in den Kapiteln 3.3.3.1 bis 3.3.3.7 nicht um die Auflistung der kaum überblickbaren Zahl möglicher operativer Führungsaktivitäten, sondern nur um die operativen Führungsfunktionen, die notwendig sind, um Menschen in Unternehmen am Anfang des 21. Jahrhunderts in eine Zielverfolgung einzubinden und diese Zielverfolgung managen zu können. Mit den Ausführungen zur operativen Führung werden die Beschreibungen der Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des Leadership Asset Approach abgeschlossen. Die Anforderungen, die im Sinne des LAA an die Trilogie der Führung (die performancerelevanten Mindsets, die strategische und operative Führung) formuliert werden, bilden einen wichtigen Teil des gesamten LAA. Die Anforderungen an die Trilogie der Führung können jedoch im Sinne des LAA nicht unabhängig von dem im zweiten Kapitel aufgelegten Orientierungsrahmen der Führung in Zeiten des Umbruchs verstanden und weiterentwickelt werden. Gerade die Zeiten des Umbruchs – in denen wir uns
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noch in den nächsten Jahren befinden werden – schaffen in allen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft, auch in der Führung, neue Herausforderungen. Ohne ein differenziertes Bild von den dynamischen Entwicklungen, aus denen sich die neuen Führungsherausforderungen ableiten, bleibt jeder Versuch, Führungsperformance zu steuern, haltlos. Deshalb sollten die hier formulierten Anforderungen an die Trilogie der Führung immer vor dem Hintergrund der nachhaltigen Veränderungstreiber und der sich daraus ableitenden Determinanten des strategischen Wettbewerbs gelesen werden. Ein Bezugsrahmen der Führung, der hier mit dem LAA vorgelegt wird, bietet Orientierungshilfen zu prägenden sozio-ökonomischen Entwicklungen und Anforderungen an Führungskräfte. Um die Führungsperformance jedoch mithilfe des LAA systematisch erfassen und steuern (entwickeln) zu können, bedarf es eines zusätzlichen Instrumentariums. Deshalb wurde in den letzten sieben Jahren als instrumentelle Ergänzung zum LAA ein System zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance, das Leadership Asset System (LAS), entwickelt. Im vierten Kapitel werden die Zielsetzungen dieses Systems, die konzeptionelle Einordnung, die Verfahrenstechnik sowie die praktische Anwendung kursorisch dargestellt. Da das LAS in den letzten vier Jahren in einem Finanzdienstleistungskonzern erfolgreich eingesetzt wurde, unterstreicht auch den praktische Nutzen des Leadership Asset Approaches.
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Die Arbeit im Überblick 1. Kapitel Führungsperformance im Umbruch: Reflexion zur Antwortfähigkeit der Führungkräfte in Unternehmen auf gegenwärtige sozio-ökonomische Entwicklungen und Herausforderungen
2. Kapitel Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs: Herausarbeitung der wichtigsten sozio-ökonomischen Veränderungstreiber und der von diesen geprägten Determinanten des strategischen Wettbewerbs
3. Kapitel Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des Leadership Asset Approach: Entwurf eines ganzheitlichen Konzepts zu den performancerelevanten pesönlichen, strategischen und operativen Führungsleistungen vor dem Hintergrund des entwickelten Orientierungsrahmens und der Managementforschung und -praxis
4. Kapitel Das Leadership Asset System: Zusammenfassende Darstellung des auf der Grundlage des Leadership Asset Approach entwickelten Managementinstruments zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance und seines Einsatzes in der Praxis
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Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
„It is not the strongest of the species that survive, nor the most intelligent, but the one most responsive to change.” (Charles Darwin)
1.1
Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
Das weltweite soziale und wirtschaftliche Gefüge befindet sich zur Jahrtausendwende in schnellen und fundamentalen Veränderungen. Getragen von den informations- und kommunikationstechnischen Möglichkeiten entwikkeln sich wichtige Bereiche in Wirtschaft und Gesellschaft, besonders die Finanzwirtschaft und die Wissensproduktion, in globalen Netzwerken.5 Unter den „virtuellen“ Finanz- und Wissensnetzwerken ist gleichzeitig die gesamte Infrastruktur in Bewegung: Das demografische, ökologische, wirtschaftsgeografische, kulturelle und politische Bild der Welt verändert sich dynamisch. Insgesamt gibt es für die gegenwärtigen weltweiten Entwicklungen nur eine historische Parallele: die industrielle Revolution – die Zeiten des Umbruchs im 19. Jahrhundert. Um in diesen turbulenten Zeiten die Marktfähigkeit der Unternehmen zu erhalten, müssen die Führungskräfte die relevanten sozio-ökonomischen Entwicklungen rechtzeitig erkennen. Auch müssen sie verstehen, welche Konsequenzen die umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Transformationsprozesse für ihre Unternehmen haben. Vor dem Hintergrund dieser Markt- und Unternehmenskenntnisse ist es eine Kernaufgabe der Führungskräfte, auf die komplexen Prozesse im sozio-ökonomischen Gefüge effektive Antworten zu finden, das heißt die Organisation hinreichend flexibel zu gestalten und für die Anpassung der Kompetenzen, Prozesse und Produkte zu sorgen. Nur wenn Führungskräfte diese Anpassungsleistungen rechtzeitigg einleiten und konsequentt gestalten, werden sie den wichtigsten Führungsherausforderungen in den Zeiten des Umbruchs gerecht. Die Führungsherausforderung, auf die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen hinreichend schnell und innovativ zu antworten, ist jedoch in den 5
Die Belege für die Globalität der Finanz- und Wissensnetzwerke sind vielfältig. Zum Beispiel zirkulieren täglich in den weltweiten elektronischen Foreign Exchange-Systemen zwischen 1200 und 1500 Milliarden Dollar (vgl. FT Thursday May 27 2004). Um im internationalen Konkurrenzkampf Zeitnachteile zu vermeiden, arbeiten viele Großkonzerne im globalen Schichtbetrieb mit gemeinsamen Entwicklungsdatenbanken.
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1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
letzten Jahrzehnten deutlich schwieriger zu bewältigen, da die Komplexität der Rahmenbedingungen und der zu gestaltenden Prozesse zugenommen hat. Die Komplexitätszunahme liegt wesentlich darin begründet, dass die Abhängigkeitsgeflechte, in denen sich Unternehmen und Führungskräfte bewegen müssen, weiträumiger, enger, vielschichtiger und dynamischer geworden sind. Die unternehmerischen Abhängigkeiten reichen heute in vielfältiger Art und Weise über die Grenzen der Branche und zunehmend oft über das nationale Wirtschaftssystem sowie die Grenzen einzelner Staatssysteme hinaus. Dadurch wird nicht nur die Diagnose, auf welche Veränderungen der Märkte zu reagieren ist, sondern auch die Entscheidung, welche Ressourcen für die Anpassungsleistung benötigt werden, komplexer und fehleranfälliger (vgl. Pricewaterhouse Cooper 2006). In einer besonderen Abhängigkeit stehen die (börsennotierten) Unternehmen heute vom internationalen Kapitalmarkt.6 Unter anderem werden die Unternehmen unweigerlich mit den Erwartungen der Eigenkapitalgeber konfrontiert, mindestens eine marktdurchschnittliche Kapitalverzinsung zu erzielen. Erfüllen die Unternehmen diese Erwartungen nicht, wächst der Druck der internationall orientierten Agenten des Kapitalmarkts (z. B. Investoren, Analysten, Ratingagenturen) auf das Management. Letztlich müssen die Unternehmensleitungen, wollen sie den Marktwert ihrer Unternehmen nicht gefährden, die Erwartungen der Geldgeber berücksichtigen. Diese Abhängigkeiten von den Kapitalgebern sind in marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen – auch durch eine teilweise emotionalisierte öffentliche Diskussion über die Gewinnorientierung der Unternehmen – nicht aufzulösen. Die Erwartung, dass Unternehmen mindestens die Kapitalkosten verdienen, ist nicht nur aus Sicht der Kapitalgeber nachvollziehbar, sondern überlebensnotwendig für jedes Unternehmen. Ein Unternehmen, das es nicht schafft, die eigenen Kapitalkosten zu verdienen, wird auch nicht in der Lage sein, darüber hinaus die notwendigen Investitionen in die eigene Zukunft zu leisten. Da das Management aber in der Verantwortung steht, nicht nur die Kapitalkosten, sondern auch die Investitionskosten für die Zukunft des Unternehmens zu erwirtschaften, können die Erwartungen der Kapitalgeber auch als Untergrenze der international geforderten Produktivität gelesen werden. Die Abhängigkeit von den Kapitalgebern (Kapitalkosten) stellt deshalb keine kritische Begleiterscheinung des internationalen Kapitalismus dar, sondern ist grundsätzlich ein Mechanismus zur Sicherung eines effektiven Kapitaleinsatzes.7 Zeigt das 6
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Bei den nicht börsennotierten KMUs, die in der EU über 90 Prozent der Unternehmen stellen, wirken diese Abhängigkeiten – besonders bei einer hohen Fremdfinanzierungsquote – ähnlich. Hier wird der Druck auf den Verzinsungsanspruch eher von den Fremdkapitalgebern (i.d.R. den Banken) erzeugt. Peter Drucker verweist darauf, dass die Kapitalkosten in kommunistischen Wirtschaftssystemen höher sind als in Marktwirtschaften (vgl. Drucker 2001b, 53).
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
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Management, dass es nicht in der Lage ist, die Kapitalkosten und die Risikoprämien zu verdienen, ist dies folglich nicht nur ein Warnzeichen für die Kapitalgeber, sondern auch für die anderen Stakeholder. Denn wenn das Unternehmen schon nicht die Kosten für das aktuelle Geschäft decken kann, wird es dem Management kaum gelingen, die Investitionen zur Sicherung der mittelfristigen Konkurrenzfähigkeit (z. B. Innovationen, kompetente Mitarbeiter und konkurrenzfähige Arbeitsplätze) aufzubringen. Über diese grundlegenden Zusammenhänge hinaus sind die Anforderungen an das Finanz- und Risikomanagement in den letzten Jahren – besonders nach hohen Verlusten durch die sogenannte New Economy – deutlichen gestiegen. Dennoch ist die Beachtung der finanziellen Abhängigkeiten nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichend Bedingung zur nachhaltigen Sicherung des Unternehmenserfolgs. Eine zu einseitige und kurzfristige Orientierung der Führungskräfte an den Interessen der Shareholder wird der realen Komplexität der Abhängigkeiten und Verantwortungen von Unternehmen nicht gerecht.8 Der vom intellektuellen Wegbereiter des Shareholder Value formulierte Glaubenssatz: „In einer Marktwirtschaft, die die Rechte des Privateigentums hochhält, besteht die einzige soziale Verantwortung des Wirtschaftens darin, Shareholder Value zu schaffen und dabei die Prinzipien der Gesetzeskonformität und der Integrität zu wahren.“ (Rappaport 1999, 6) führt zu einer riskanten Ausblendung der realen Abhängigkeiten der Unternehmen. Die Argumentation Rappaports, der Stakeholderansatz erleichtere es den Führungskräften nur, bei einer schlechten Performance Verantwortungsdiffusion zu betreiben (vgl. ebenda, 8), lässt die Frage unbeantwortet, wie die sich heute schnell verändernden, geschäftsrelevanten Erwartungen und Ansprüche der Kunden, Mitarbeiter, Zulieferer, Kooperationspartner, 8
Die Konsequenzen einer zu einseitigen und kurzfristigen Ausrichtung an den Interessen der Shareholder zeigten sich im November 2001 im „Enron-Skandal“. Enron, zu dieser Zeit eines der größten Energieunternehmen der Welt, musste am 02. Dezember 2001 Konkurs anmelden, weil die Bilanzen im großen Stil manipuliert wurden, um einen wachsenden Ertrag vorzutäuschen (vgl. FT. September 5, 2003). Dies war nur der Anfang einer ganzen Reihe ähnlicher Fälle (vgl. ebenda), in denen die kritischen Auswüchse eines kurzfristig und einseitig ausgerichteten Shareholder Value-Ansatzes zum Ausdruck kamen (vgl. Hamilton & Micklethwait 2006, 13-171). Zwar hat Rappaport frühzeitig erklärte und nachträglich angemahnt, dass diese Tendenz zur kurzfristigen Ertragsausrichtung vieler börsennotierter Unternehmen am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht dem idealtypischen Konzept des Shareholder Value entspricht (vgl. Rappaport 1999, 82-86; Rappaport 2006, 24-41). Ob Rappaport die wahrscheinlichen Wirkungsmechanismen und Nutzung seines Ansatzes damit jedoch realistisch eingeschätzt hat, muss bezweifelt werden (vgl. Wimmer 2002, 70-83; Scheuch & Scheuch 2003, 387-399; Kühl 2005).
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1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
Regulatoren und Öffentlichkeit effektiv berücksichtigt werden können.9 Berücksichtigt man diese geschäftsrelevanten Ansprüche der unterschiedlichen Interessengruppen, dann muss Rappaports Shareholder Value Ansatz entgegengehalten werden, dass es zur Überlebenssicherung der Unternehmen eines wertorientierten Stakeholder-Ansatzes bedarf. Dieser unbestritten komplexere, aber wirklichkeitsgerechtere Anspruch an die Führungskräfte berücksichtigt folgenden Zusammenhang: Um für Unternehmen eine nachhaltige Wertsteigerung zu erzielen, die über den Kapitalkosten liegt, ist – noch ganz im Sinne des Value Based Management (vgl. ebenda, 77) – ein wertorientiertes Customer Relationship Management (CRM) zwingend notwendig. Denn ein Unternehmen, dem es nicht gelingt, profitable Kundenbeziehungen aufzubauen, auszubauen und zu halten, erfüllt nicht seinen Zweck und verschwindet letztlich vom Markt. Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren für ein effektives Kundenmanagement sind wiederum motivierte, qualifizierte und professionell arbeitende Mitarbeiter. – Soweit folgt auch Rappaport der Notwendigkeit des Stakeholdermanagements (vgl. ebenda, 9ff.). Die Kette der fundamentalen Abhängigkeiten der Unternehmen, die effektiv gemanagt werden müssen, endet jedoch hier nicht. Da die Fertigungstiefe in fast allen Branchen seit einigen Jahrzehnten deutlich abnimmt und die Vernetzung mit den Zulieferern in der ersten und zweiten Stufe damit wächst, wird auch ein wertorientiertes, professionelles Supply Chain Management zunehmend erfolgskritisch.10 Damit können die Zulieferer und Kooperationspartner auch bei einer wertorientierten Managementsicht nicht ausgeblendet werden. Auch aus einem anderen Grund ist eine zu enge Definition und Sichtung von möglichen Kooperationspartnern (und Konkurrenten) heute kritisch: Innovationen, die die effektivsten Antworten auf schnelle Marktveränderungen darstellen, kommen immer häufiger aus scheinbar fremden Branchen oder aufsteigenden Industrien.11 Diese Entwicklung kön9
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Rappaport scheint diese Unzulänglichkeit seines Ansatzes zu ahnen, da er in dem Unterkapitel („Kunden und Arbeitnehmer“, ebenda 9-13) zumindest diesen Stakeholdern den Wert einräumt, „eingehender betrachtet zu werden“ (ebenda, 9). Dass dies nicht reicht, sondern ein „lack of stakeholder orientation“ ein wesentlicher Grund für das Scheitern von Unternehmen ist, haben Sheth und Sisodia in ihrer Studie „Why good companies fail“ aufgezeigt (Sheth & Sisodia 2005). Eine Studie von FM Global mit 500 europäischen und US-amerikanischen Unternehmen err gab, dass die verantwortlichen Manager für Finanzen und Risikomanagement mögliche Ausfälle in der Zulieferkette für das größte finanzielle Risiko halten (vgl. FT October 18 2005, 1). „Ein Trend, der zunächst nur bei großen multinationalen Unternehmen beobachtet wurde, scheint eine Lösung aus diesem Innovationsdilemma zu sein: die Öffnung des Innovationsprozesses und aktive strategische Nutzung der Außenwelt zur Vergrößerung des eigenen Innovationspotenzials“ (Gassmann & Enkel 2006, 132). Procter & Gamble wird zum Beispiel ab 2007 circa 50% der Innovationen über Netzwerke außerhalb des Unternehmens generieren (Huston & Sakkab 2006, 22-31).
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
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nen die Führungskräfte nur hinreichend aufnehmen, wenn sie sich verstärkt den externen Abhängigkeiten bewusst werden und diese professionell verarbeiten. Selbst puristische Vertreter des Value Based Management-Ansatzes werden sich dieser Stakeholderargumentation nicht vollständig verschließen können. Der nächste Schritt, auch die Regulatoren und die Öffentlichkeit in einen wertorientierten Stakeholderansatz einzubeziehen, ist dem engeren VBM-Ansatz jedoch fremd. Gleichwohl lässt sich verdeutlichen, dass eine Ausblendung der Abhängigkeiten, die über Kunden, Mitarbeiter, Zulieferer und Kooperationspartner hinausgehen, eine nachhaltige Wertsteigerung immer häufiger gefährdet. Die demografischen, ökologischen, sozialen und politischen Rahmendbedingungen für Unternehmen verändern sich gegenwärtig in einer höheren Geschwindigkeit als noch vor wenigen Jahrzehnten. So können es sich zum Beispiel die Führungskräfte der Versicherungswirtschaft im Sinne der Kapitalgeber nicht leisten, die schnelle Alterung der etablierten Industriegesellschaften zu ignorieren, da dieser soziale Prozess besonders das Personenversicherungsgeschäft grundlegend beeinflussen wird. Auch die Wirkung der demografischen Entwicklungen auf die Sozialsysteme, nämlich die überproportional wachsende Zahl der Leistungsempfänger im Verhältnis zu den Einzahlern, muss die Führungskräfte der Versicherungswirtschaft beschäftigen. Denn die Erschütterung der Sozialsysteme und damit der Regierungen durch die demografischen Entwicklungen kann Veränderungen der gesetzlichen Rahmenbedingungen erfordern, auf die die Versicherungsunternehmen vorbereitet sein müssen. Vergleichbare Abhängigkeiten können für fast alle Industrien angeführt werden. Weitgehend unabhängig von der Branche müssen weitere Themenfelder, unter anderem der Schutz von Umwelt und Gesundheit sowie die Gleichstellung gesellschaftlicher Gruppen mit einer hinreichenden Kompetenz und Sensibilität durch die Führungskräfte behandelt werden. Dies haben unter anderem die Tabakindustrie, die Ölindustrie, die Hersteller von ungesunden Nahrungsmitteln oder die Pharmaindustrie (z. B. bei den zu hohen Preisen für HIV-Medikamente in Afrika) in den letzten Jahren lernen müssen.12 Diese Beispiele verweisen darauf, dass im Zuge der gegenwärtigen Transformation der Gesellschaften die notwendige Aufmerksamkeitsbreite für das (wertorientierte) Stakeholdermanagement zunimmt. Damit tritt neben die Anforderungen eines effektiven Kapitaleinsatzes und einer ausgeprägten Marktkompetenz die Notwendigkeit einer gesteigerten gesellschaftlichen Kompetenz 12
Beispiele und eine empirische Fundierung zu den hier genannten Abhängigkeiten bietet die jährliche McKinsey Studie zu sozialpolitischen Themen (vgl. Bonini & Mendonca & Oppenheim 2006, 20-32).
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1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
der Führungskräfte. Ohne diese gesteigerte Sensibilität der Führungskräfte für die Stakeholder und die sozio-ökonomischen Entwicklungen bleibt das in den Zeiten des Umbruchs intensiver diskutierte Risikomanagement für die tatsächlichen Marktrisiken blind. Das heißt auch, dass die Abschottungsversuche des engeren VBM-Ansatzes aufgegeben werden müssen, wenn die erwartete Risikoprämie nicht zum unkalkulierbaren Risiko werden soll.13 Die Anforderung an die Führungskräfte, die faktischen Abhängigkeiten über eine enge Shareholderperspektive hinaus im Blick zu halten, kann jedoch nicht nur aus den bisher angeführten strategischen Abhängigkeiten der Unternehmen abgleitet werden. Seit Mitte der 1990er Jahre ist eine sich intensivierende Diskussion über die gesellschaftliche Funktion der Unternehmen, besonders über die soziale und ökologische Verantwortung, zu beobachten. Dies mag zunächst erscheinen wie der Nachklang eines ideologisch abgearbeiteten Themas. Aus einer langfristigeren Perspektive ist jedoch zu berücksichtigen, dass die sich intensivierende Diskussion unter den Sammelbegriffen „Corporate Social Responsibility“ (CSR) und Corporate Citzenship (CC) tatsächlich vor dem Hintergrund einer veränderten historischen Situation stattfindet (vgl. Carroll 1999): Die Unternehmungen haben sich erst im 20. Jahrhundert zu durchschnittlich deutlich größeren Organisationen entwickelt.14 Im Jahr 1814 waren in der größten Textilfabrik in den USA gerade 300 Mitarbeiter beschäftigt. Erste Unternehmungen mit einer deutlich größeren Mitarbeiterzahl gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Die Pennsylvania Railroad, die um 1890 über 110.000 Mitarbeiter beschäftigte, war zu dieser Zeit jedoch noch eine Ausnahme (Frese 1992, 7 u. 29). Am Anfang des 21. Jahrhunderts sieht die Unternehmenswelt anders aus: In den USA findet man unter den Fortune 500-Unternehmen fast in allen angeführten Branchen Unternehmen, in denen mehrere zehntausend oder hunderttausend Menschen beschäftigt sind.15 Diese größeren wirtschaftlichen Einheiten schaffen für Zehntausende die wirtschaftliche Existenzgrundlage, sind Triebkräfte für die regionale Infrastruktur, üben Einfluss auf politische Prozesse aus und verändern die nicht-menschliche Natur häufig erheblich. Unternehmen und ihre Verbände sind weniger denn je autonome Systeme, sondern sind ein maßgeblicher Teil des gesellschaftlichen Gefüges: „Historians two hundred years hence may see as central to the twentieth cen13 14
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„Die Risikoprämie des Marktes repräsentiert jene zusätzliche Vergütung, die Investoren fordern, um Anteilsscheine anstatt ‚risikofreie‘ Bundesanleihen zu halten“ (ebenda, 47). Die historischen Vorläufer wie die Dutch East India Company, die schon Mitte des 17. Jahrhunderts 25.000 Mitarbeiter beschäftigte, waren nicht typisch für die Organisationsgröße vor dem 20. Jahrhundert. Die Beschäftigten-, Umsatz- und Profitzahlen der Fortune 500-Unternehmen sind jährlich aktualisiert zugängig unter: http://money.cnn.com/magazines/fortune/fortune500/ industries .
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
19
tury what we ourselves have been paying almost no attention to: the emergence of a society of organizations in which every single social task of importance is entrusted to a large institution“ (Drucker 1968, 171). Vor diesem Hintergrund sind die Forderungen verständlich, dass die Führungskräfte der Unternehmen verstärkt Verantwortung für die sozialen, ökonomischen und ökologischen Konsequenzen ihres unternehmerischen Handelns übernehmen sollen.16 Diese Anforderungen eines wertorientierten Stakeholderansatzes und einer sozioökonomischen Perspektive sind jedoch besonders bei größeren Unternehmen zu komplex, um sie an einzelne Führungskräfte stellen zu können. Vielmehr müssen diese Anforderungen, die sich aus den vielfältigen Abhängigkeiten ergeben, vom gesamten Management durch eine effektive strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit abgedeckt werden. Damit ist neben der individuellen Führungsperformance eine funktionsfähige Führungsorganisation, die das Zusammenwirr ken der Führungskräfte sichert, entscheidend. Damit gewinnt die Beobachtung an Brisanz, dass es der Unternehmenspraxis bisher nur unzureichend gelingt, die Führungsorganisationen auf die wachsende Komplexität und Dynamik der Wirtschaft abzustimmen. Die Unternehmen zeigen vielmehr die Neigung, auf die steigende Komplexität mit etablierten Führungsorganisationen zu antworten. Die übliche Führungsorganisation ist bis dato hierarchisch aufgebaut und in dem Glauben verhaftet, der Mann (noch selten: die Frau) an der Spitze wird schon die richtigen Entscheidungen treffen. Gestützt durch eine große Zahl (populär-) wissenschaftlicher Publikationen bestimmt somit die älteste Führungsideologie, nämlich der „Great Man-Mythos“, die sich in der Person des Managementhelden (CEO) konkretisiert, die Vorstellungen von und Gestaltung der Unternehmensorganisation (vgl. Collins & Porras 1997, 23-42; Binney & Wilke & Williams 2005).17 Das zunehmend häufige und schnellere Scheitern der nach diesen Vorstellungen aufgebauten (Führungs-) Organisationen (vgl. Abb. 2) wird heute oft durch eine Übersteigerung seiner wichtigsten Komponente, des CEOs, beantwortet.18 Die Rechtfertigung des Modells durch eine generell übersteigerte Erwartung an die CEOs kommt besonders in der exorbitanten Steigerung ihrer Gehälter 16
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Vgl.: The McKinsey Global Survey of Business Executives: Business in Society 2006, 33-39; vgl. zur differenzierteren Begründung: Oetinger & Reeves 2007; zur CSR-Strategie: Porter & Kramer 2007. Folgerichtig nennt Charles Handy in seinem Werk „Gods of Management“ dieses Führungsmodell „Zeus Kultur“ (vgl. Handy 1978). Eine signifikante Zahl der CEOs kommt mit dieser übersteigerten Erwartungshaltung nicht zurecht. Dies lässt sich durch die ausgeprägte Fluktuation noch während der Einarbeitungszeit, die bei ca. 40 Prozent in den ersten eineinhalb Jahren liegt, belegen (vgl. Ciampa 2005, 89; vgl. leicht abweichende Ergebnisse in den Studien von: Fryer 2002; Lucier & Wheeler & Habbel 2007).
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1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
in den letzten Jahrzehnten zum Ausdruck.19 Da weder der profane Eigennutz, noch ein ökonomischer Ansatz die erreichten Gehaltshöhen der CEOs vollständig erklären oder begründen könnte, verbleibt die sozialpsychologische Interpretation, dass durch die Zuweisung hoher finanzieller Zuwendungen die allumfassende Steuerungskraft des Great Man beschworen wird.20 Neben der ungebrochenen Vorliebe der Unternehmenswelt für das Great Man-Modell, neigt auch die Börsenwelt dazu, den Heldenmythos zu stützen. Hier dient die Fokussierung auf den CEO häufig zur Reduktion von Komplexität bei der Vorhersage der Unternehmensperformance. Kommt es in den letzten Jahrzehnten zu einem Wechsel an der Spitze von börsennotierten Unternehmen, antwortet die Börse – je nach Einschätzung des scheidenden und neuen CEOs – mit Kurssteigerungen oder Kursabschlägen. Jeder Zweifel, ob die vorherrschende hierarchische Führungsorganisation und das CEO-Modell eine effektive Antwort auf die dynamische und komplexe Unternehmensumwelt darstellt, bleibt jedoch ohne Konsequenzen, solange keine funktionsfähigen Alternativen existieren. Andere Führungsorganisationen, die weniger hierarchische Kommunikationsbarrieren implizieren als die etablierten Top-down-Modelle, würden nur dann Erfolg versprechen, wenn sie effektive Führungsprozesse gewährleisten. Dies müssten die alternativen, weniger hierarchischen Führungsorganisationen primär dadurch nachweisen, dass sie die Entscheidungsprozesse der Unternehmen gut unterstützen. Denn nur eine Organisation, die es den Führungskräften erlaubt, das komplexe Zusammenspiel der Unternehmensressourcen durch fundierte und schnelle Entscheidungen zu steuern, kann auf eine komplexe und dynamische Umwelt effektiv reagieren (vgl. Luhmann 1981, 339). Hierzu müsste eine alternative Führungsorganisation, die in Führungsteams oder größeren „Leadership Communities“ (vgl. Senge 1999) organisiert ist, besonders sicherstellen, dass das Zusammenspiel des Machtstrebens der Führungskräfte kanalisiert würde und damit die individuellen Machtinteressen die Entscheidungsprozesse nicht blockieren.21 19
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21
McDenough, Chairman of the Public Company Accounting Oversight Board in den USA, errechnete: “In 1980, the average Fortune CEO made 40 times more than the average person who worked for him. Last year it was 530 times” FT, 24.08.2004. Die verbreitete Begründung, dass durch die Transparenz der Top-Managementgehälter der Wettbewerb um die Besten verstärkt auch über die Gehälter geführt wird, ist sicher richtig. Die zum Teil über diesen Wettbewerbsmechanismus erreichten Steigerungsraten bedürfen wohl dennoch des unterstützenden Glaubens, dass man sich durch diese Gehaltshöhen der CEOs den Unternehmenserfolg einkaufen kann. Dass diese Begründung pauschal nicht haltbar ist, belegen die im Text angeführten Scheiterungszahlen für CEOs und Unternehmen. Die Untersuchung der Führungsprozesse in sogenannten alternativen Betrieben zeigt, dass der Versuch, offizielle Hierarchien ohne eine klare neue Führungsorganisation abzuschaffen, zu informellen Machtprozessen führt, die wenig effizient und effektiv sind
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
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Im Vergleich zum tradierten Hierarchie- und Great Man-Modell ist jedoch die Praxis der weniger hierarchischen Führungsmodelle kaum entwickelt. Alternative Führungsorganisationen werden am Anfang des 21. Jahrhunderts – im Vergleich zu den 1970er und 1980er Jahren – weniger diskutiert. Vielmehr ist die Suche nach arbeitsfähigen Modellen für „virtuelle“ Organisationsformen in den Vordergrund getreten (vgl. Picot & Reichwald & Wigand 1996). Gleichwohl sind alternative Führungsmodelle möglich, wie einige erfolgreich arbeitende Ausnahmenunternehmen zeigen: das Unternehmen Gore, das die Gore-Tex Produkte herstellt, versucht seit 1958 klassische Hierarchien zu vermeiden und teambasiert zu arbeiten; das Unternehmen Semco S/A in São Paulo wird seit 1980 von dem Mehrheitseigner Ricardo Semler mit ausgeprägter Mitarbeiterbeteiligung, Gewinnbeteiligung und offenen Informationssystemen geführt (FT, 26.08.2005,S 7; Semler 1993). Bei einem kritischen Blick auf die Entwicklung der Unternehmenslandschaft in der Breite wird jedoch klar, dass die theoretischen Modelle der wenig hierarchischen, gut abgestimmten, flexibel und innovativ agierenden Führungsorganisationen – besonders in größeren Unternehmen – bisher eher Randerscheinungen als eine aufkommende Praxis sind. Auch wenn es angesichts des Abbaus von Hierarchieebenen, der Demokratisierung der Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen sowie den sich ausweitenden Netzwerkorganisationen widersprüchlich erscheint, ist der Great Man an der Unternehmensspitze und eine hierarchisch gestaffelte Organisation das weiterhin präferierte Modell.22 Daraus lässt sich ableiten, dass es zwar Beispiele für alternative Führungsmodelle gibt und unternehmensinterne und -externe Entwicklungen diese einfordern, ein Durchbruch effektiverer Führungsmodelle als Antwort auf die dynamischen Rahmenbedingungen aber in den nächsten Jahren kaum zu erwarten ist. Im offenkundigen Kontrast zum unerschütterten Glauben an die etablierteren Führungsmodelle ist seit den 1980er Jahren zu beobachten, dass es den Führungskräften zunehmend schwerer fällt, rechtzeitig und wirksam auf die grundlegenden Veränderungen in ihren Abhängigkeitsgeflechten zur reagieren. Die notwendigen Anpassungsleistungen, die die Marktfähigkeit der Unternehmen sichern, kommen vielfach zu spät oder werden zu wenig konsequent umgesetzt (vgl. Kaplan / Norton 2001, 1). Die Folgen sind für eine zunehmende Zahl etablierter Unternehmen erhebliche Performanceprobleme oder gar der
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(vgl. Sofsky & Paris 1994). Auch Grunwald bezweifelt mit dem Verweis auf Forschungsergebnisse der letzten 70 Jahre, das es dauerhaft hierarchiefreie Gruppen oder Organisationen geben wird (vgl. Grunwald 2006). Eine differenzierte Diskussion diese Themas bietet auch Stefan Kühl (vgl. Kühl 1995). Aus Sicht der Unternehmensleitungen waren die Hauptgründe für den Abbau von Führungsschichten in den 1990er Jahren Kostenreduzierung und Kundenfokussierung, nicht explizit eine komplexitätsinduzierte Überarbeitung der Führungsorganisationen (vgl. Holbeche 1996, 8).
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1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
Konkurs: Von den 10 Top-Unternehmen, die 1996 im FT Global 500 geführt wurden, konnten sich bis 2005 gerade drei unter den ersten zehn behaupten. Das 1996 auf Platz 1 geführte Unternehmen, Nippon Telegraph & Telephone, liegt 2005 auf Platz 50 (vgl. FTmagazine June 11 2005, 18). Verdeutlichen diese Zahlen schon die Schwierigkeit, dem enormen Anpassungs- und Performancedruck standzuhalten, sprechen die Konkurs- und Insolvenzstatistiken eine noch deutlichere Sprache: „10 der 20 größten Pleiten von US-Firmen ereigneten sich in den letzten beiden Jahren“ (Hamel & Välikangas 2004, 7). Für ein weiteres Industrieland, Deutschland, lassen sich gleiche Entwicklungen aufzeigen: „Seit Mitte der 70er-Jahre steigt die Insolvenzrate steil an“ (Seefelder 2003, 5). Konkret heißt dies, dass in den alten Bundesländern die Zahl der Insolvenzen, die 1970 bei 5.000 lag, bis zum Jahr 2000 auf 25.000 angestiegen ist und seitdem ungebrochen zunimmt (ebenda, 6). In der gesamten EU sind die Entwicklungen vergleichbar: Zwischen 1999 und 2001 erhöhte sich die Gesamtzahl der Insolvenzen hier von 184.200 auf 199.500 (ebenda, 3). Dass es den Führungskräften immer seltener gelingt, Unternehmen längerfristig eigenständig oder überhaupt am Markt zu halten, zeigen neben den oben angeführten Statistiken weitere Untersuchungen aus den letzten Jahren: Arie de Geus geht in seinem Werk „The Living Company“ ausführlich auf die sinkende durchschnittliche Lebenszeit der Unternehmen ein und verweist auf die Studie von Ellen de Rooij, die herausgearbeitet hat, dass die durchschnittliche Lebenszeit japanischer und europäischer Unternehmen – unabhängig von ihrer Größe – noch bei 12,5 Jahren liegt (vgl. Arie de Geus 2002, 2). Werner Seifert, der ehemalige Chef der deutschen Börse, hat eine Untersuchung zur Veränderung der durchschnittlichen Lebenszeit der Unternehmen in unterschiedlichen Aktienindices vorgelegt. Demnach sank die durchschnittliche Lebenszeit der Unternehmen zwischen den Zeiträumen 1987-89 und 1999-2001 rasant. Konkret heißt dies, dass im angeführten Zeitraum von 14 Jahren die durchschnittliche Lebenserwartung im FTSE von 9,7 auf 4,1 Jahre, im CAC-40 von 13,3 auf 9,2 Jahre, im S&P-500 von 17 auf 10 Jahre und im DAX von 45 auf 18 Jahre zurückgegangen ist (vgl. Seifert 2002, 55). Für die vergleichsweise hohe Lebenserwartung der DAX-Unternehmen führt Seifert eine Erklärung an, die nichts mit der Führungsperformance der einzelnen Unternehmen zu tun hat: „Needless to say, the high ‘life expectancy’ of German companies in the DAX also reflects the fact that they are less in danger of being taken over“ (ebenda, 56). Eine umfangreichere Studie zur kritischen Entwicklung der Unternehmenslandschaft legten auch die beiden McKinsey Forscher Sarah Kaplan und Richard Foster vor (vgl. Foster & Kaplan 2001). Die Untersuchungen von Forster und Kaplan, die bis in die 1920er Jahre zurückreichen, legen offen, dass sich gegenwärtig größere und etablierte Unternehmen im Durchschnitt
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
75 65 55 45
years
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nur noch 15 Jahre im S&P 500-Index halten können (vgl. Foster & Kaplan 2001, 7-15 und Abb. 2).
Insgesamt legen die Statistiken die Schluss25 folgerung nahe, dass 15 die etablierten Führungsorganisation en, 5 -modelle und -standards -5 mit zunehmender Häu1928 1938 1948 1958 1968 1978 1988 1998 2008 2018 figkeit keine erfolgreichen Antworten auf die Abb. 2: Die durchschnittliche Lebenszeit der S&P 500 gegenwärtigen HerausUnternehmen (Forster & Kaplan 2001, 13) forderungen bieten können. Die Zeiten des Umbruchs erzeugen im Management offenkundig immer häufiger eine spezifische Logik des Misslingens (vgl. Dörner 2003). Die internationalen Zahlen zu den Performanceproblemen, Insolvenzen und Konkursen verweisen zudem darauf, dass diese Logik des Misslingens weder als ein rein nationales Kulturproblem, noch als ein Leistungsproblem einzelner Führungskräfte zu verstehen ist. Vielmehr generieren die weltweiten Interdependenzen und deren Dynamik ein generelles Anpassungsproblem für die Führungskräfte und Unternehmen. Die Frage, warum dieses Anpassungsproblem offenkundig für viele Führungskräfte schwer zu meistern ist und häufig eine Logik des Misslingens in Gang setzt, ist nicht nur für die Unternehmen, sondern für die entwickelten Industriegesellschaften insgesamt von großer Relevanz. Denn die abnehmende durchschnittliche Lebensdauer der Unternehmen bedeutet, dass die gesellschaftlichen Funktionen von Unternehmen seltener über einen längeren Zeitraum wahrgenommen werden können. Hierzu gehört sicher die primäre Funktion, den Menschen mittelfristig eine stabile finanzielle Existenzgrundlage zu bieten. Aber auch die Forschungsund Entwicklungsarbeit sowie größere Investitionen der Unternehmen sind wesentliche volkswirtschaftliche Entwicklungsfaktoren. Zudem ermöglichen größere Unternehmen den Menschen in der stark vernetzten internationalen Wirtschaft, den Umgang mit Komplexität zu erlernen und die Ausdifferenzierung intellektuellen Kapitals zu betreiben. Nicht zuletzt sind beständige Institutionen eine Art Sammelbecken menschlicher Energien. Diese Energien werden in der Hoffnung investiert, dass sie von anderen aufgegriffen und weiterentwickelt werden (vgl. Hamel & Välikangas 2004, 13). Diese für die einzelnen Menschen und die Gesellschaften relevanten Funktionen der Unternehmen geraten gerade in den entwickelten Industriegesellschaften ver35
24
1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
stärkt unter Druck.23 Die weiterhin populärsten Erklärungen für die Logik des Misslingens sind – fast zwangsläufig – Varianten des oben thematisierten Great Man-Ansatzes. Als Gegenstück zu den Erfolgsgeschichten wird auch das Scheitern der Unternehmen über das Scheitern der Helden (CEOs) erläutert. Jim Collins, der zwei Jahrzehnte die Hintergründe für den nachhaltigen Erfolg oder das Scheitern von Unternehmen untersucht hat, resümiert mit Bezug auf den CEO-Heldenmythos: „To use an analogy, the ‘Leadership is the answer to everything’ perspective is the modern equivalent of the ‘God is the answer to everything’ perspective that held back our scientific understanding of the physical world in the Dark Ages”(Collins 2001, 21).24 Einer breiteren empirischen Prüfung hält der Great Man-Ansatz als Erklärungsrahmen für das Scheitern von Unternehmen jedoch nicht stand (vgl. Finkelstein 2004). Zwar können die individuellen Führungskompetenzen und -aktivitäten der CEOs von erheblicher Bedeutung für die Unternehmenssteuerung sein, aber die anekdotische Sichtung möglicher Kompetenzdefizite einzelner CEOs kann die sich seit den 1970er Jahren ausbreitende Logik des Misslingens nicht erklären. Es ist wahrscheinlicher, dass hinter dem gesellschafts- und kulturübergreifenden Phänomen der sinkenden durchschnittlichen Lebenszeit von Unternehmen Gründe stehen, die über die individuellen Eigenschaften der CEOs hinausgehen. Die heute noch verbreitete monadenphilosophische Sichtung von Defiziten einzelner CEOs wird diese Erklärungszusammenhänge kaum freilegen können. Vielmehr bewegt sich der individualisierende Zugang auf dem ausgetretenen Pfad der Heldenmythen und lebt damit in der ständigen Gefahr, die realen Verflechtungen, in denen die Führungskräfte ihre Erfolge oder Misserfolge schaffen, in den Hintergrund zu drängen. Realistischer scheint es, die Performanceprobleme von Unternehmen nicht nur über individuelle Einzelentscheidungen erklären zu wollen, sondern das Zusammenwirken der Führungs- und Unternehmenskultur mit den Entwicklungen des Marktes und der Gesellschaft zu berücksichtigen. Einen ersten Erklärungsansatz für die Performanceprobleme von Führungskräften in diskontinuierlichen Zeiten, der die Einbindungen der Führungskräf23
24
Die ständige Existenzbedrohung auch der größeren Unternehmen, die sich u.a. in der starken Volatilität des Nettogewinns ausdrückt (vgl. Hamel & Välikangas 2004, 7), bietet auch einen Erklärungsansatz für den Rückgang der Investitionen in Forschung und Entwicklung in den entwickelten Industrieländern (vgl. Lev 2004, 44). Wie schwer es der Führungsforschung fällt, den Great Man Ansatz zu überwinden, zeigt sich m.E. stellvertretend in Collins Werk, dem dieses Zitat entnommen ist. Collins übernimmt selbst den Great Man Ansatz und minimiert damit nachweisbar die Steuerungsrelevanz seiner Arbeit (vgl. Kapitel 2.2.2).
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te im Unternehmen und die Marktentwicklungen berücksichtigt, bieten die Forscher Sarah Kaplan und Richard Foster in der oben angeführten Studie. Der wesentliche Scheiterungsgrund liegt aus Sicht der beiden Forscher im „cultural lock-in“25. Hierunter verstehen die Autoren: (…) the inability to change the corporate culture even in the face of clear market threats – explains why corporations find it difficult to respond to the messages of the marketplace“(Foster & Kaplan 2001, 16). Die Gründe für den „cultural lock-in“ sehen die beiden McKinsey-Forscher wiederum in einem bestimmten „mental model“ 26, das für eine fortgeschrittene Stufe im Lebenszyklus27 von Unternehmen charakteristisch ist (vgl. ebenda, 61-89). Das Mentalmodell bestimmt das Zukunftsbild, das Entscheidungsverhalten und die anderen Denk- und Handlungsmuster der Führungskräfte und Mitarbeiter in einem Unternehmen. In etablierten Unternehmen tendiert das Mentalmodell der Führungskräfte dazu, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Damit wächst die Gefahr, dass entscheidende Marktentwicklungen nicht mehr wahrgenommen und verarbeitet werden können (ebenda, 61-89). Welche Unternehmenssituation wahrscheinlich wird, wenn der cultural lockin greift, beschreibt Andrew Grove, Gründer und langjähriger Präsident von Intel, wie folgt: „As the debates raged, we just went on losing more and more money. It was a grim and frustrating year. During that time, we worked hard without a clear notion of how things ever going to get better. We had lost our bearings. We were wandering in the valley of death“ (ebenda, 131). Die Denk- und Handlungsmuster, die Unternehmen in dieses „Tal des Todes“ (Konkurs) führen, können nach Foster und Kaplan auch als kulturelle Dogmen beschrieben werden, die dazu dienen, Produkte, Strukturen, Systeme, Regeln des Unternehmens zu verteidigen. Unternehmen, die in dieser kritischen Phase ihrer Entwicklungen im cultural lock-in verharren, sehen sich von den Veränderungen des Marktes nicht wirklich betroffen. In dieser Entwicklungsphase der Unternehmen bestimmen technische Optimierungsversuche das Ge25
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Donald N. Sull veröffentlichte unter dem Titel „Why good companies go bad“ schon 1999 einen ähnlichen Erklärungsansatz für das Scheitern von Unternehmen. Statt des Begriffs „cultural lock-in“ verwendet er den Begriff „active inertia“ (vgl. Sull 1999). Foster und Kaplan greifen bei dem Konzept des „mental model“ zurück auf Jean Piaget und Peter Senge. Eine differenziertere Analyse dieser Zusammenhänge in Führungsprozessen unter der Kategorie „basic assumptions“ liefert Edgar H. Schein in seinem 1985 veröffentlichten Werk „Organizational Culture and Leadership“ (Schein 1991, 85-111). Foster und Kaplan gehen von einem vierstufigen Model des Corporate Lifecycles aus, bei dem die Entwickungsphasen mit der Branchentwicklung korrespondieren (vgl. Foster & Kaplan 2001, 76-89). Zur Geschichte und den vielfältigen Varianten dieses Ansatzes vgl. Adizes 1999, 17f.
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schehen. Divergentes oder adaptives Denken, das die etablierten Strukturen, Prozesse, Produkte konsequent in Frage stellt, ist nur schwer durchzusetzen (vgl. ebenda, 185-208). Foster und Kaplan geben damit auf die Fragen, warum es vielen Führungskräften etablierter Unternehmen nicht gelingt, angemessen schnell und konsequent auf die diskontinuierlichen Märkte zu reagieren, eine sozialpsychologische Antwort. Aus der Sicht der beiden Wissenschaftler geht es im Kern um die Anpassungsfähigkeit der Mindsets der Führungskräfte und Mitarbeiter. Ein statisches Mindset entfaltet in etablierten Organisationen seine Kräfte zur Verteidigung existierender Strukturen und Systeme. Es versperrt den Blick auf die Marktveränderungen und blockiert somit die in diskontinuierlichen Märkten häufig notwendigen Anpassungen der Organisation: „Adaptive work requires changing one’s mind-set. In the case of a corporation, it is the mind-set of the management committee that has to change; doing so gives permission for the rest of the organization to change its mind-set as well” (ebenda, 187).28 Das Modell von Foster und Kaplan bietet durch die Begriffe cultural lockin und Mindsets einen Zugang zum Verständnis kultureller und individueller Veränderungswiderstände. Durch die Kopplung beider Kategorien gelingt es den Autoren, eine rein individualisierende Erklärung für Performanceprobleme zu vermeiden. Stattdessen verweisen die beiden Kernbegriffe auf kritische Entwicklungsmechanismen in der Führung von Organisationen: Jüngere Organisationskulturen werden relativ leicht und schnell durch die Mindsets ihrer Führungskräfte geprägt; ältere, eingeschliffene Organisationskulturen tendieren nicht nur zum cultural lock-in, sondern auch dazu, eher die Mindsets der Führungskräfte zu prägen, als sich von den Führungskräften verändern zu lassen.29 Dieser Zusammenhang verdeutlicht, warum die Veränderungsfähigkeit und die Reaktionsgeschwindigkeit der Top-Führungskräfte in etablierten Unternehmen eine kritische Größe darstellt. Die Führungskräfte übernehmen hier die Funktion der mentalen „Türsteher“, die den Weg zur Marktanpassung freigeben oder versperren. Wie effektiv die Führungskräfte die Türsteher-Funktion in den notwendigen Anpassungsprozessen der Unternehmen wahrnehmen, kann aber nicht ausschließlich durch den Blick in die Unternehmung beurteilt werden. Die Führungsleistung, eine angemessene Geschwindigkeit und Konsequenz bei der Marktanpassung des Unternehmens zu sichern, muss im Verhältnis zur Geschwindigkeit und Art der Marktentwicklung beurteilt werden. In dem mög28
29
Auch Sydney Finkelstein kommt in seiner empirischen Studie „Why smart executives fail“ zu dem Schluss, dass bestimmte Mindsets der Führungskräfte eine effektive Marktbearbeitung blockieren können (vgl. Finkelstein 2003, 137-165). Vgl. Zündorf & Grunt 1980 und Adizes 1999, 137-140.
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lichen Kontrastt zwischen der Dynamik der Märkte und der Steuerung der Anpassungsgeschwindigkeit der Unternehmen liegt ein zweiter Erklärungsansatz für die Logik des Scheiterns, der den beschriebenen Mechanismus des cultural lock-in um die zeitliche Dimension ergänzt. Die Unternehmen sehen sich einerseits – wie einleitend thematisiert – in den letzten Jahrzehnten weltweit mit ungewohnt schnellen und diskontinuierlichen Veränderungen konfrontiert. Andererseits wurde das Denken und Handeln vieler Top-Manager, die diese diskontinuierlichen Veränderungen für ihre Unternehmen erkennen und verarbeiten müssen, in einer Zeit relativer Stabilität und kontinuierlichem Wachstums geprägt (vgl. Drucker 1969, 9): „In technology, as in economics, the twenty-five years from the Marshall Plan to the early seventies were years of extremely rapid growth and development – and yet they were also years of continuity” (Drucker 1980, 48). Dieser Kontrast zwischen dem sozialisierten Denken und Handeln, das durch wirtschaftliche Prosperität und Kontinuität geprägt wurde und einer neuen Realität, die häufig Krisenmanagement und umfassendere Marktanpassungen erfordert, liefert einen generellen Erklärungsansatz für die gegenwärtigen Ausrichtungs- und Gestaltungsprobleme des Managements. Sicher stellt der Kontrast zwischen dem „Stabilitätsideal“ und den diskontinuierlichen Entwicklungen ein besonders Gefahrenpotenzial für die Generation dar, deren Denken und Handeln in der stabilen Wachstumszeit geprägt wurde. Aber das Gefahrenpotenzial, das sich aus dem Stabilitätsideal ergibt, gilt generell und ist nicht ad definitionem generationenspezifisch. Denn die Generation der Führungskräfte, die in den Zeiten der „stabilen Prosperität“ geprägt wurde, besitzt grundsätzlich nicht weniger Potenzial, die Anpassungsnotwendigkeiten in den Zeiten des Umbruchs zu erkennen als ältere oder jüngere Führungsgenerationen. Und die Führungskräfte, die ihre intellektuelle und erste berufliche Entwicklung im Zeichen der Stabilität erfahren haben, vermögen es durchaus, in den Unternehmen notwendige Anpassungen zu managen. Wären die Führungskräfte dieser Generation hierzu kategorisch nicht im Stande, sähen die oben angeführten Performance-, Insolvenz- und Konkursstatistiken wohl noch dramatischer aus. Gleichwohl gilt, dass die Führungskräfte, die in „The Era of Smooth Sailing“, wie James Champy30 die Phase 1948 bis 1973 nennt, geprägt wurden, ihr gelerntes Managementverständnis nicht beliebig abstreifen können. Die über Jahrzehnte gelernten Ideale von gesellschaftlicher und organisatorischer Stabilität, die 25 Jahre durch viele Erfolge bestätigt und bestärkt wurden, können nicht beliebig gegen das eher zeitgemäße Ideal konsequenter und schneller 30
James Champy skizziert die Denkmuster, die sich in der Zeit des stabilen Wachstums in den Köpfen der Manager etabliert haben (vgl. Champy 1995, 14ff.)
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Marktanpassungen eingetauscht werden. Geradezu überrannt von den Umbrüchen, die durch die Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft erzeugt werden, lebt die beschriebene Managergeneration im Zwiespalt zwischen dem Stabilitätsideal und der Veränderungsnotwendigkeit. Über weit reichende und schnelle Veränderungen des Geschäftsmodells, der Organisationsstruktur oder des Produktportfolios zu entscheiden, fällt in diesem Zwiespalt selbst dann schwer, wenn die Veränderungen am Markt absehbar sind. Erst massiver geschäftlicher Performancedruck hilft die etablierten Denk- und Fühlmuster zu überwinden.31 Wie uns die Statistiken zur abnehmenden Lebenszeit der Unternehmen in den letzten Jahrzehnten lehren, reichen jedoch Liquidität, Innovationskraft und Zeit – wenn die Performanceprobleme offenkundig sind – bei einer wachsenden Zahl der Unternehmen schließlich nicht mehr, um den wirtschaftlichen Abstieg zu stoppen. Das Gefahrenpotenzial, das aus dem Kontrast zwischen gelerntem Kontinuitätsdenken der Führungskräfte und diskontinuierlichen Marktentwicklungen erwächst, kann durch ein typisches Beispiel verdeutlicht werden: Im Jahr 1990 beherrschte Motorola den Weltmarkt für Mobiltelefone (45% Weltmarktanteil) und Funkgeräte (85% Weltmarktanteil). In den folgenden Jahren, zwischen 1992 und 1995 bewies Motorola, dass auch auf einem Umsatzsockel von 10 Milliarden Dollar ein hohes Wachstum von durchschnittlich 27 Prozent pro Jahr möglich ist. Damit erreichte das Unternehmen im Jahr 1995 einen Umsatz von 27 Milliarden. Während Motorola sich selbst als Weltmarktführer für analoge Geräte feierte, veränderte die digitale Telefontechnologie ab 1994 radikal den Markt. Bei Motorola entfaltete nun – scheinbar paradox, aber vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen verständlich – der feste Glaube der Führungskräfte an den kontinuierlichen Erfolg etablierr ter Geschäftsmodelle seine Wirkung. Während die Vertriebspartner ab 1994 das Management aufforderten, digitale Telefone auf den Markt zu bringen, verteidigte das Top-Management die alte, noch marktbeherrschende Technologie. Das Management beschloss, mehr Geld in die Verkaufsförderung für die analogen Geräte zu investieren. Gleichzeitig wurde die Einnahmeseite dadurch gesteuert, dass Lizenzen zu den eigenen Patenten für digitale Telefontechnologie an Nokia und Ericsson verkauft wurden. Die Konsequenzen des vom Markt abgekoppelten Mindsets der Top-Führungskräfte waren deutlich: Als Motorola 1997 das erste digitale Handy auf den Markt brachte, war der Abstieg schon eingeleitet. Im Jahr 1998 fiel der Marktanteil von 60 % (1994) auf 34% (1998). Jetzt konnte das Management die Kräfte des Marktes nicht weiter ignorieren. Der Preis für den Glauben an die Kontinuität im diskonti31
Weitere instruktive Beispiele für die „(…) tendency to follow established patterns of behavior – even in response to dramatic environmental shifts.” bietet Donald N. Sull in seiner Arbeit (vgl. Sull 1999).
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nuierlichen Markt war hoch. Die Entlassung von 20.000 Mitarbeitern wurr de bekannt gegeben. Umfangreiche Umstrukturierungen wurden eingeleitet und – gerade noch rechtzeitig – Innovationsprojekte gestartet (vgl. Finkelstein 2004, 64-68). Der Anspruch, die erodierende durchschnittliche Lebenszeit der Unternehmen nicht aus der Great-Man-Perspektive, sondern dem realen Zusammenspiel der engeren (betrieblichen) und weiteren (Markt und Gesellschaft) Interdependenzen zu erklären, kann durch den Hinweis auf den cultural lock-in und eine Managergeneration im Zwiespalt zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck zwar schon besser, aber nicht vollständig abgedeckt werden. Die Abhängigkeiten der Führung von den nationalen und internationalen sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Prozessen werden auch durch diese Erklärungsansätze noch nicht hinreichend erfasst. Es bedarf eines erweiterten wirtschaftshistorischen Blickwinkels, um die Herausforderungen der Führung in den Zeiten des Umbruchs hinreichend zu erfassen. Der Versuch, einen hinreichend erweiterten Erklärungsansatz für die Logik des Misslingens in den Zeiten des Umbruchs zu finden, führt folglich – drittens – zu den sozio-ökonomischen Entwicklungen. Aus diesem Blickwinkel fällt zunächst auf, dass die Erfahrungen mit umbruchartigen wirtschaftlichen Veränderungen, wie sie die Unternehmen am Anfang des 21. Jahrhunderts erleben, für alle gegenwärtig in den entwickelten Industrieländern lebenden Menschen bis zu 200 Jahre in der Vergangenheit liegen.32 Das heißt, die Erfahrungen mit den turbulenten Zeiten des Übergangs von der Agrar- zur Industriegesellschaft sind durch den „Übermittlungsfilter“ von acht Generationen gelaufen. Die Reflexion dieser großen geschichtlichen und emotionalen Distanz der heutigen Menschen in den etablierten Industrieländern zu einer Erfahrungswelt, in der der Umgang mit sozioökonomischen Umbrüchen zum Prägestock gehörte, zeigt ein einfaches kognitives und emotionales Problem: Die in dem etablierten Erfolgsmodell der Industrialisierung lebenden Menschen können sich einen abzeichnenden Bruch mit dem langjährig erfolgreichen Wirtschaftsmodell der Industriegesellschaften kaum vorstellen. In den gegenwärtigen Zeiten des Umbruchs, in denen die entstehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen einer Wissensgesellschaft noch zu wenig entwickelt und damit schwer vorstellbar sind, hilft demnach nur der Verweis auf die weit zurückliegende wirtschaftliche Entwicklungsphase, die erste Industrielle Revolution, die in den Lehrplänen heutiger Business Schools und in populären Managementbüchern kaum eine Rolle spielt, um eine angemessen dimensionierte Parallele zum gegenwärtigen Übergang von der Industrie32
Die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren unzweifelhaft dramatische gesellschaftliche Einschnitte, sie haben jedoch nicht die Art des Wirtschaftens und die geografischen Schwerpunkte der Industrialisierung radikal verändert.
30
1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
zur Wissensgesellschaft zu ziehen. Denn im Übergang zum 18. Jahrhundert brachte die Industrielle Revolution neben den wirtschaftlichen Chancen die Herausforderungen mit sich, die Formen des Wirtschaftens, aber auch die Systeme, Prozesse, und Regeln der Produktion neu zu entwickeln. Nur dort, wo Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur zu dieser Zeit anpassungsfähig genug waren, um die alten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Agrargesellschaft aufzugeben und Neue zu entwickeln, konnte die Industrialisierung ihren Siegeszug antreten. Sieht man die Industrielle Revolution – gerade heute – als ein instruktives Beispiel für eine historische Transformation, dann kann ein kursorischer Blick auf diese Zeit eine Idee vermitteln, welche notwendigen Anpassungsleistung im Übergang zur Wissensgesellschaft gefordert sind: In der ersten Entwicklungsphase der Industrialisierung (1760-1830) erfüllte zunächst Großbritannien die Voraussetzungen für eine schnelle sozio-ökonomische Transformation. Besonders verfügten die Briten zu dieser Zeit über die notwendige Innovationskraft und –geschwindigkeit. Diese gesellschaftliche Dynamik Großbritanniens zwischen 1766 und 1825 zeigte sich unter anderem in einem rasanten Anstieg der Patente um 2000 Prozent (vgl. Kindleberger 1996, 130f.).33 Aber auch der materielle Nährboden für den Erfindungsreichtum entwickelte sich hier ähnlich dynamisch. David Landes, der die Wechselwirkung zwischen technisch-wissenschaftlicher und industrieller Entwicklung für die Industrielle Revolution untersucht hat, fasst zusammen: „We are now come full circle: the inventions came in part because the growth and prosperity of the industry made them imperative; and the growth and prosperity of the industry helped make their early and widespread utilization possible” (Landes 1987, 66). Doch die hier angesprochene Dynamik in Forschung, Technik und Industrie erzeugte wohl nicht alleine die Existenzen schaffende und sichernde Anpassungsleistung der britischen Gesellschaft.34 Die sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen, die den industriellen Aufstieg Großbritanniens ermöglichten, waren insgesamt komplex. Das Bevölkerungswachstum war im Vergleich zu Kontinentaleuropa relativ stark, das Finanzsystem – wie sonst nur in Holland – weit entwickelt, das politische System liberal, die technischen Fertigkeiten (im 18. Jahrhundert) wie die Transport- und Kommunikationswege für diese Zeit gut entwickelt (vgl. Landes 1987, 41-192; Kindleberger 1996, 125-148, Moore & Lewis 2000, 202-224). Somit war Großbritannien in fast allen Bereichen der Gesellschaft für die zu leistenden Veränderungen gut aufgestellt 33 34
Ein interessante Parallele hierzu bietet der dynamische Anstieg der Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im heutigen China (vgl. FT 2005 June 9, 11). Zum notwendigen Zusammenspiel der technischen Entwicklungen mit anderen zivilisatorischen Entwicklungssträngen vgl. Jokisch 1982, Ribeiro 1983, Mumford 1986.
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
31
und bereit. Als Großbritannien diese Differenzierungsmerkmale im Konkurrenzkampf der Nationen nicht mehr alleine aufweisen konnte, schwand ab 1850 auch die industrielle Vormachtstellung der Briten. Nun verbesserten sich im Vergleich zu Großbritannien die Rahmenbedingungen in Kontinentaleuropa und den USA in großen Schritten. Die technischen Verbesserungen von Produkten und Prozessen in den alten Industrien (Textil, Kohle, Eisen, Stahl) verlangsamten sich in England, während Unternehmer der neuen Industrien (Chemie, Elektrizität, Automobil) zunehmend aus anderen Ländern kamen. Dadurch konnte die Konkurrenzfähigkeit zu der britischen Wirtschaft in anderen europäischen Ländern und den USA ab 1850 hergestellt werden (vgl. Landes 1987, 229). In der zweiten Stufe der Industriellen Revolution verschoben sich entsprechend die wirtschaftsgeografischen Schwerpunkte besonders in die USA und nach Deutschland. Der Wirtschaftshistoriker David Landes betont in seinem Werk „The Wealth and Poverty of Nations“, dass die Verschiebungen wirtschaftsgeographischer Schwerpunkte, wie sie in der zweiten Phase der Industriellen Revolution beobachtet werden konnten, nicht monokausal erklärt werden können (vgl. Landes 1999, 512-524). Dennoch gibt es neben vielen Einflussfaktoren, die Landes beschreibt, einen, der auch für den gegenwärtigen Übergang von der Industriezur Wissensgesellschaft von besonderem Interesse ist. Wie Landes aufzeigt, war schon während der sich abzeichnenden wirtschaftsgeografischen Verschiebung von England nach Zentraleuropa und die USA die Abwanderung der Wissensträger ein Schlüsselphänomen (vgl. Landes 1999, 278): „Institutions and culture first; money next; but from the beginning and increasingly, the payoff was to knowledge“ (Landes 1999, 276). Mit den Wissensträgern ging auch unweigerlich die Vorherrschaft der Briten: „So it was that the leader / innovator was caught and overtaken. And so it was that all the old advantages – resources, wealth, power – were devalued, and the mind established over matter” (ebenda 284). Durch diesen kurzen Blick auf einige Aspekte der Industrielle Revolution wird deutlich, dass die Anpassungsprobleme der Unternehmen in Zeiten des Umbruchs nicht nur aus einer individualisierenden oder unternehmensspezifischen Perspektive erklärt werden können. Ein realistischeres Bild entsteht, wenn die sozio-ökonomischen Entwicklungen, die die Unternehmen beeinflussen und auf die die Führungskräfte reagieren müssen, nicht ignoriert werden. Die Führungskräfte der Unternehmen agieren nicht unabhängig von den Variablen, die den Auf- und Abstieg der Nationen bestimmen. Viele dieser Variablen (z. B. Bevölkerungsentwicklung, Risikoverhalten der Bevölkerung, Finanz-, Steuer-, Rechts- und Bildungssysteme) müssen die Führungskräfte systematisch reflektieren, um angemessene Antworten zu liefern. Auch wenn dieser Anspruch im
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1 Führungsperformance in Zeiten des Umbruchs
ersten Moment mächtig erscheint, besteht kein Grund, die Leistungserwartungen an die Führungsperformance einem sozio-ökonomischen Determinismus zu opfern. Denn während der Industrialisierung wurde der Erfolg oder Misserfolg der Unternehmen und Staaten auch nicht einfach durch die sozio-ökonomischen Faktoren determiniert. Wie Charles Kindleberger in seiner wirtschaftshistorischen Studie „World Economic Primacy“ betont: „(…) it is the vitality and flexibility giving way to rigidity that determines the pattern“ (Kindleberger 1996, 36). Demnach waren es die Dynamik, Flexibilitätt und Konsequenzz bei der Nutzung der sozio-ökonomischen Entwicklungen, die der britischen Wirtschaft klare Wettbewerbsvorteile in der ersten Phase der Industrialisierung verschafften. Im Übergang zu den nächsten Schlüsselindustrien (Chemie, Elektrizität) waren es dann die Wissenschaftler und Unternehmer in andere Länder, nämlich Deutschland und die USA, die neue Entwicklungen konsequent nutzten, während die Briten länger in den alten Industrien verharrten. Aus der Perspektive des dritten Erklärungsansatzes zur Logik des Misslingens lässt sich ableiten, dass für die Entwicklungen von Nationen und Unternehmen, die Figurationen35 unterschiedlicher Komplexität darstellen, die gleichen Regeln gelten. Ihre Entwicklungen vollziehen sich in einem Kraftfeld von Makrovariablen, dessen Komplexität durch die Internationalisierung weiter gewachsen ist. Wenn Nationen und Unternehmen die prägenden Entwicklungen erkennen und sie dynamisch und konsequent nutzen, können sie damit ihre Positionierung im internationalen Wettbewerb maßgeblich beeinflussen. Wenn jedoch Nationen und ihre Unternehmen, wie zunächst England im Konkurrenzkampf mit Deutschland und den USA und heute die etablierten Industrienationen im Konkurrenzkampf mit den sogenannten Tiger- und Pantherstaaten Asiens oder den BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), zu wenig Dynamik und Konsequenz bei der Nutzung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten zeigen, dann liegt hier ein Erklärungsansatz für die sich ausweitende Logik des Misslingens in den jeweils etablierten Industrienationen, der über den individualisierenden Erklärungsversuch hinausgeht. Berücksichtigen wir die bisherigen Ausführungen zur Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck, können folgende Punkte festgehalten werden: Die sozio-ökonomischen Entwicklungen erzeugen besonders seit den 1970er Jahren für die Unternehmen komplexere Abhängigkeitsverhältnisse. Die Ausweitung und Verdichtung dieser Interdependenzen vollzieht 35
Norbert Elias führte den Figurationsbegriff 1969 in die Sozialwissenschaften ein (vgl. Elias 1983a, 27-59) und bezeichnet damit Strukturen, die interdependente Menschen in Gruppen oder Individuen miteinander bilden (vgl. Elias 1983b, 137).
1.1 Führung zwischen Stabilitätsideal und Veränderungsdruck
33
sich in den letzten Jahrzehnten mit einer steigenden Geschwindigkeit und Diskontinuität. In diesen dynamischen Abhängigkeitsverhältnissen stehen die Führungskräfte vor drei wesentlichen Herausforderungen: 1. Sie müssen eine mindestens marktdurchschnittliche Kapitalverzinsung sichern; 2. Sie müssen die Interessen der anderen Stakeholder ausgewogen und kompetent managen; 3. Sie müssen die notwendigen Marktanpassungen rechtzeitig erkennen und durch Innovationen konsequent und schnell realisieren. Den Führungskräften in den etablierten, weiterhin hierarchisch geprägten Führungsorganisationen gelingt es häufig nicht, die notwendigen Anpassungsleistungen an die Veränderungen des Marktes schnell und konsequent genug zu managen. Dennoch ist nicht erkennbar, dass sich alternative Führungsorganisationen in den nächsten Jahren in der Breite durchsetzen und die Reaktionsfähigkeit erhöhen werden. Die Entschlüsselung der sich ausbreitenden Logik des Misslingens muss über den individualisierenden Erklärungsansatz (Great Man) hinausgehen. Ein breiterer Blick auf die sozio-ökonomischen Entwicklungen ermöglicht es eher zu bestimmen, welche Anpassungsleistungen von den Unternehmen gefordert sind und welche persönlichen, strategischen und operativen Anforderungen sich folglich an die Führungskräfte ergeben. Aus diesen Beobachtungen lässt sich die Notwendigkeit ableiten, spezifische Orientierungsmittel zu entwickeln, die es den Führungskräften ermöglichen, in diesen dynamischen Rahmenbedingungen effektiver zu agieren. Dabei muss die weithin etablierte Trennung zwischen sozio-ökonomischen Entwicklungen und Führungsanforderungen in Unternehmen überwunden werden. Ansonsten kann der Logik des Misslingens, die sich – wie oben verdeutlicht – in dem Zusammenspiel gesellschaftlicher Strukturenwicklung und individueller Handlung vollzieht, nicht effektiv begegnet werden.
35
2
Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Vor dem Hintergrund der diskontinuierlichen Marktentwicklungen einen Orientierungsrahmen (Klarheit über die Anforderungen) und Instrumente für eine nachhaltige und konkurrenzfähige Führung zu entwickeln, erfordert die Verknüpfung von zwei Perspektiven: dem erweiterten Blickwinkel von den sozio-ökonomischen Entwicklungen ins Unternehmen (outside-in); dem Blick auf die Gestaltung von Führungsleistungen zur Sicherung einer effektiven Marktbearbeitung (inside-out). Aus beiden Perspektiven lassen sich diverse Faktoren – sozio-ökonomische Entwicklungen auf der einen, Managementanforderungen auf der anderen Seite – identifizieren, denen jeweils ein besonderer Stellenwert beigemessen werden könnte. Die Entscheidungen, welche der vielfältigen Entwicklungen und Anforr derungen für erfolgreiche Unternehmensführung in den Managementansätzen bisher herausgehoben wurden, scheint jedoch vielfach willkürlich.36 Um diese Willkür zu überwinden, ist es notwendig, einen Bezugsrahmen zu entwickeln, der die Relevanz der ausgewählten Erfolgsfaktoren nachweist. Die tatsächliche Relevanz von Erfolgsfaktoren der Führung lässt sich für Unternehmen nur über die Frage bestimmen, inwiefern sie dazu beitragen, die Konkurrenzfähigkeit im Markt zu sichern. Dieser Maßstab für die Relevanz von Führungsfaktoren ist unternehmensstrategisch zwingend, aber auch abstrakt. Hinter der allgemeinen Frage nach dem Beitrag bestimmter Faktoren zur Konkurrenzfähigkeit steht deshalb die Herausforderung zu bestimmen, auf welche Determinanten des strategischen Wettbewerbs die Führungskräfte der Unternehmen mit welchen Ausrichtungs- und Gestaltungsleistungen antworr ten müssen. Um beantworten zu können, was von Führungskräften zur Sicherung der Konkurrenzfähigkeit erwartet werden sollte, ist demnach zunächst zu klären, welche Determinanten des strategischen Wettbewerbs37 am Anfang des 21. Jahrhunderts identifiziert werden können. 36
37
V.d. Eichen, Hinterhuber, Mirow u. Stahl stellen hierzu in einer Studien zum „Zukunftsmanagement“ fest: „Die Wissenschaft erweitert zwar laufend den Katalog an Erfolgsfaktoren, aber ohne das Warum, das Was und vor allem das Wie aufzubereiten“ (v.d. Eichen 2003, 102). Vgl. zur Erfolgsfaktorenforschung zum Thema Führung: Krüger / Schwarz 1999, 75-104 und Hahn 1999, 1038-1057. Der Vergleich mit Michael Porters Analyse der Determinanten des strategischen Wettbewerbs wird in dem Unterkapitel: „Von den nachhaltigen Veränderungstreibern zu den Determinanten des strategischen Wettbewerbs“ behandelt.
36
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Die Identifikation von Managementherausforderungen erfolgt jedoch nicht begründet, indem aus dem Dickicht des strategischen Wettbewerbs willkürlich und sprunghaft einzelne Komponenten herausgegriffen werden, um dann die Relevanz von Managementaktivitäten zu begründen. Es geht nicht um beliebig fluktuierende „Hitlisten“ der Herausforderungen für das Management am Anfang des 21. Jahrhunderts, in denen heute die Geschwindigkeit, morgen die Globalisierung und übermorgen die emotionale Intelligenz an der Spitze stehen. Da aber gerade diese ad hoc-Identifikation von Managementherausforderungen eine verbreitete Praxis ist, wird hier in Abgrenzung zu dieser Vorgehensweise versucht, über einen fundierten Bezugsrahmen die Determinanten des strategischen Wettbewerbs, auf die Unternehmen mit geeigneten Führungsprofilen und –aktivitäten reagieren müssen, herauszuarbeiten.
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Um diese Determinanten des strategischen e Ver tig Wettbewerbs begrünän l a det herausarbeiten zu d h h können, ist ein weiterer en des s ant tra in Herleitungsschritt ert m forderlich. Es müssen Antworten der Führungskräfte die Treiber, die hinter den Verflechtungen des strategischen Wettbewerbs stehen, erkannt werden. Erst die Benennung dieser nachhaltigen Veränderungstreiber kann die Willkür bei der Auflistung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs beseitigen. Durch den Abb. 3: Der Orientierungsrahmen der Führung im strateAufbau dieses Oriengischen Wettbewerb tierungsrahmens, der die Determinanten des strategischen Wettbewerbs über die nachhaltigen Veränderungstreiber entschlüsselt, sind letztlich auch die notwendigen Antworten der Führungskräfte auf die Marktentwicklungen weniger willkürlich und kurzfristig ausgerichtet (vgl. Abb. 3).
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
37
Die in der Abbildung 3 dargestellten Zusammenhänge bestimmen die drei weiteren Arbeitsschritte dieses Kapitels: Zunächst werden die nachhaltigen Veränderungstreiber als Kräfte, die die Determinanten des strategischen Wettbewerbs prägen, rekonstruiert. Im zweiten Arbeitsschritt wird der Zusammenhang zwischen den Veränderungstreibern und den Determinanten des strategischen Wettbewerbs bearbeitet. Vor dem Hintergrund der systematisch abgeleiteten Determinanten des strategischen Wettbewerbs kann in einem dritten Schritt zu den notwendigen Antworten der Führung in Unternehmen am Anfang des 21. Jahrhunderts übergeleitet werden. Durch die dreistufige Herleitung ist es möglich, die notwendigen Antworten der Führung in Unternehmen in eine überschaubare Systematik zu überführen. Dadurch wird für den Leadership Asset Approach der empirisch-theoretische Bezugsrahmen erstellt. Auf der Grundlage dieses Bezugsrahmens können die Komponenten des Tools zur Erfassung und Steuerung der Führungsperforr mance schließlich formuliert werden.
38
2.1
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
„Überdies hat man erst durch die Bemühungen um das Wie und Warum langfristiger Prozesse die Chance, eine genügend weitgespannte und realitätsnahe Orientierung zu erwerr ben, um entscheiden zu können, ob kurzfristige praktische Maßnahmen zur Behebung der Schäden und Nachteile, auf lange Sicht betrachtet, nicht noch größere Schäden und Nachteile mit sich bringen.“ (Elias 1977, 138) Zukunftsprognosen, die vorgeben im Detail beschreiben zu können, wie wir im Jahr 2030 leben und arbeiten werden, sind und bleiben spekulativ. Diese Schlussfolgerung ergibt sich schon daraus, dass wir heute nicht wissen können, wie in 30 Jahren die Theorien, Ideologien, Lebensbedingungen und Problemlösungen in unseren Gesellschaften genau aussehen werden. Um die Charakteristika einer zukünftigen Gesellschaft voraussagen zu können, müssten auch die vielfältigen sozialen und technischen Innovationen, die die Lebenswelten der Menschen in Zukunft prägen, schon heute bekannt und einschätzbar sein. Dieser Detailblick in die Zukunft ist jedoch unrealistisch. Besonders ist das Ausmaß der Wirkung und die Geschwindigkeit der Wirr kungsentfaltung vieler Innovationen, die im Kontext nachhaltiger Veränderungen entstehen, nur schwer oder gar nicht vorauszusagen. Es gibt eine Vielzahl historischer Beispiele, die verdeutlichen, dass diverse Entwicklungen zusammenkommen müssen, um einzelne Innovationen zu einer großen Wirkung zu verhelfen: So war es aus den technischen Entwicklungen nicht ableitbar, dass es nach Optimierung der Dampfmaschine durch James Watt 1769 noch gut 50 Jahre dauern sollte, bis diese Technik mit dem Aufkommen der Eisenbahn revolutionäre Auswirkungen in Wirtschaft und Gesellschaft haben sollte (vgl. Oberliesen 1987, 82; Witzel 2002, 90f.). Gleichfalls war es nicht vorwegnehmbar, dass es nach Konrad Zuses Fertigstellung des elektro-mechanischen Computers „Z3“ im Jahr 1941 nochmals gut 40 Jahr dauern sollte, bis IBM mit der Markteinführung des ersten PC 1981 eine Revolution der Datenverr arbeitung einleitete. Schließlich hat der Internethype Anfang des 21. Jahrr hunderts eindrucksvoll gezeigt, dass die Neigung, wirtschaftliche Prognosen und Aktivitäten direkt und monokausal aus technischen Entwicklungen abzuleiten, zu dramatischen Fehlsteuerungen führt. Zwar wachsen seit Anfang
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
39
des 21. Jahrhunderts die Umsätze auf der Basis von E-Commerce-Lösungen stetig, aber deutlich langsamer als zunächst vermutet. 38 Die Entwicklungen des Marktes lassen sich folglich nicht aus einzelnen technischen Innovationen ablesen. Das bedeutet auch, dass der Blick auf einzelne (technische) Innovationen alleine kein sicheres Orientierungsraster für die Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit in Unternehmen bietet. Um abschätzen zu können, ob, wann und in welchem Ausmaß Innovationen einen Markt prägen, ist ein differenzierteres Verständnis der gesamten Marktentwicklung erforderlich. Dabei greift die Regelmäßigkeit, dass jede Einzelentwicklung, jede technische und soziale Innovation, nur so weit Akzeptanz und Käufer findet, wie sie im sozio-ökonomischen Gefüge anschlussfähig ist. Durch diese Abhängigkeit von sozialen und ökonomischen Kontexten wird der Umgang mit sozialen und technischen Innovationen nicht zu einem Mysterium. Zur erfolgreichen Nutzung sozialer und technischer Innovationen ist jedoch ein differenziertes Verständnis notwendig, dass sich der Markterfolg nicht aus den Innovationen selbst ableitet, sondern von der zeitlichen, technischen, strukturellen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Anschlussfähigkeit abhängig ist. Dabei ist die Abschätzung dieser Anschlussfähigkeit von beobachteten oder betriebenen Innovationen nicht weniger eine Frage des Wissens und der Systematik wie die Innovationsarbeit selbst.39 Sicher ist bei Innovationen, die den Markt wie die Entwicklung des E-Commerce grundlegend und großflächig verändern, das Ausmaß der Wirkung und die Geschwindigkeit der Wirkungsentfaltung schwerer abzuschätzen als bei kleineren Prozessverbesserungen und technische Optimierungen. Gleichwohl ist das Überleben der Unternehmen davon abhängig, dass die Führungskräfte dazu in der Lage sind, auch bei diesen Marktveränderungen die wirtschaftliche Wirkung und Geschwindigkeit der Wirkungsentfaltung abschätzen zu können. Gelingt den Führungskräften diese Abschätzung nicht, sind auch größere Unternehmen gefährdet (vgl. das Beispiel Motorola, S. 27). Diese Anforderungen, das Zusammenwirken von Innovationen und Marktentwicklungen zu verstehen, bestehen unabhängig von der Branche und der Unternehmensgröße. In einigen Branchen sind die weitreichenden Abhängigkeiten durch die Art des Geschäfts etwas transparenter. Zum Beispiel ist es den Managern der Pharmaindustrie gegenwärtig, dass die größten Risiken nicht in ihrer internen Entwicklungspipeline liegen, sondern zum einen in der Abschätzung der gesundheitspolitischen und rechtlichen Entwicklung und zum anderen in der Einschätzung der Konkurrenzentwicklungen und der Akzeptanz des Marktes. 38
39
Dass viele Unternehmen weltweit am Ende des 20. bzw. am Anfang des 21. Jahrhunderts zu früh und zu umfangreich in Internetaktivitäten investiert haben, war durch eine zu einseitige Gewichtung aktueller technischer Trends bedingt (vgl. Porter 2002, 1-50). Vgl. zu Systematik der Innovationsarbeit Drucker 1993, 35ff.
40
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Aber nicht nur für die Pharmaindustrie, sondern generell gilt, dass die Führungskräfte ihre Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit gerade in einer Zeit, die durch eine Flut von kurz- und mittelfristigen Innovationen und Trends geprägt ist, an nachhaltigen Veränderungsprozessen und den daraus resultierenden Wettbewerbsbedingungen orientieren müssen. Diese Orientierung an den nachhaltigen Veränderungen hat nichts mit der gewagten Prognostik gemein, wie sie oben thematisiert wurde. Vielmehr geht es um die Interpretation von sozialen und ökonomischen Entwicklungen, die schon heute ihre Wirkungstendenzen deutlich zeigen und mit großer Wahrscheinlichkeit die Rahmenbedingungen für das Wirtschaften in den nächsten Jahrzehnten prägen werden (vgl. Simon 2004, 15f.). Diese Interpretation der sozio-ökonomischen Entwicklungen gewinnt an Struktur, wenn die dynamischen Triebkräfte, die eine Art „Lebensenergie“ der Entwicklungen darstellen, entschlüsselt werden. Die dynamischen Triebkräfte, denen im Strom der sozio-ökonomischen Veränderungen eine besondere Prägekraft zukommt, sollen hier unter der Begriffswendung nachhaltige Verr änderungstreiber beschrieben werden. Die nachhaltigen Veränderungstreiber stellen somit eine theoretisch-empirische Ausgangsbasis für den hier formulierten Orientierungsrahmen der Führung dar. Denn aus den Prägekräften der nachhaltigen Veränderungstreiber lässt sich die Entstehung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs erklären. Auch alle kurz- und mittelfristig wirkenden Trends und Innovationen sind Produkte der sozio-ökonomischen Entwicklungen, die wiederum aus den nachhaltigen Veränderungstreiber hervorgehen. Nicht zuletzt zeigen die nachhaltigen Veränderungstreiber in Zeiten diskontinuierlicher Entwicklungen eine relative Konstanz, was darin begründet liegt, dass sie im Strom der sozio-ökonomischen Entwicklungen, die sie wesentlich treiben und prägen, schließlich selbst wieder neue Antriebskräfte finden. Hingegen haben gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen und Prozesse, auch Organisationsformen und Produkte, die nicht mit den Wirkungsmechanismen und der Stoßrichtung der nachhaltigen Veränderungstreiber im Einklang stehen, kaum eine Überlebenschance. Bei einer so gewaltigen Prägekraft oder historischen Wirkung, die den nachhaltigen Veränderungstreibern hier zugesprochen wird, müssten diese hinreichend bekannt sein. Wie also werden diese (markt-) prägenden Entwicklungen am Anfang des 21. Jahrhunderts begrifflich erfasst? Es sind nichtt die seit den 1980er Jahren vielfach diskutierten Megatrends. Unter diesem Begriff wurden wichtige Entwicklungen in Wirtschaft, Kultur und Politik für einen nicht klar umrissenen Zeitraum zusammengefasst.40 Megatrends beschreiben somit auch Entwicklungen [z. B. „The Privatization of 40
John Naisbitt prägte in den 1980er und 1990er Jahren die Kategorie Megatrends (griechisch „mega“ = groß), um Entwicklungen zu bezeichnen, „die für die neue Gesellschaft typisch sind“ (Naisbitt 1982, 12 und 1990).
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
41
the Welfare State“ (Naisbitt 1990, 157-183)], die als Determinanten des strategischen Wettbewerbs bezeichnet werden können und damit im oben beschriebenen Sinne dem Prägestock der nachhaltigen Veränderungstreiber unterliegen. Mit der Kategorie der nachhaltigen Veränderungstreiber werden vielmehr die Entwicklungskräfte thematisiert, die die Megatrends im Allgemeinen und die Determinanten des strategischen Wettbewerbs im Besonderen prägen. Um die nachhaltigen Veränderungstreiber herauszuarbeiten, wird auf die Erforschung langfristiger sozialer Prozesse zurückgegriffen. Nur diese Perspektive bietet einen Ansatz, die nachhaltigen Veränderungstreiber von den sogenannten Megatrends und kurzfristigen Entwicklungen zu unterscheiden. Um eine homogene Lesart der langfristigen Prozesse zu gewährleisten, wird hier der prozesstheoretische Ansatz von Norbert Elias als Interpretationsgrundlage gewählt. Vor diesem Hintergrund werden drei nachhaltige Veränderungstreiber thematisiert, nämlich die:41 Demografie (D), sozio-technische Interdependenzen (I), sozialen Beziehungen (B). Die drei nachhaltigen Veränderungstreiber wirken nichtt unabhängig voneinander, sondern sind im langfristigen Wirkungsprozess eng miteinander verwoben: Der Anstieg der Bevölkerungszahlen (D) ging einher mit zunehmend funktional differenzierteren und räumlich weiter aufgespannten Abhängigkeitsgeflechten. Die dynamische Entwicklung der Interdependenzen (I), die über Jahrhunderte neben der Bevölkerungsentwicklung auch durch vielfältige sozio-technische Errungenschaften getrieben wurde, beeinflusste und veränderte kontinuierlich die sozialen Beziehungsformen (B). Die sich verändernden sozialen Beziehungsformen führten schließlich wieder zu Konsequenzen in der Bevölkerungsentwicklung und den Interdependenzen (vgl. Abb. 4). Die miteinander verwobenen Wirkungskräfte der DIBs und ihre nachhaltig prägenden Einflüsse auf die Determinanten des strategischen Wettbewerbs sind aus Sicht des Leadership Asset Approach grundlegend: Zum einen bieten sie eine Ausgangbasis, um – über den Zwischenschritt der Ableitung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs – nachhaltig relevante Anforderungen an die Führungskräfte in Unternehmen abzuleiten; zum anderen ermöglicht die Systematik auch mittelfristige Trends und Gegentrends einzuschätzen.
41
Unter anderem verstärkt durch den Begründer der Zivilisationstheorie und Figurationssoziologie, Norbert Elias, gab es in den letzten Jahrzehnten intensive Forschungsbemühungen zu den Regelmäßigkeiten und Mechanismen langfristiger sozialer Prozesse.
42
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Demografie
soziale Beziehungen
sozio-technische Interdependenzen
Abb. 4: Die Wechselwirkung der nachhaltigen Veränderungstreiber (DIBs)
Die Entwicklungsrichtungen, Wirkungsmechanismen und wechselseitigen Abhängigkeiten der nachhaltigen Veränderungstreiber vollständig zu diskutieren, verlangt jedoch deutlich mehr Raum, als der Rahmen dieser Arbeit bietet. Deshalb beschränkt sich der Aufriss zu den drei nachhaltigen Veränderungstreibern auf die Verfolgung von drei Zielsetzungen: Die Wirkungskraft der Veränderungstreiber soll verdeutlicht werden, um damit ihre Stellung im empirisch-theoretischen Bezugsrahmen des Leadership Asset Approach zu begründen. Die historischen Transformationen, die in den Entwicklungen der nachhaltigen Veränderungstreiber erkennbar sind und die Gesellschaften und Wirtschaften entscheidend prägen, sollen skizziert werden, um das Veränderungsverständnis zu schärfen. Die Entwicklungsrichtungen der Veränderungstreiber sollen so weit herausgearbeitet werden, wie es notwendig ist, um anschließend die Konsequenzen für ausgewählte Determinanten des Wettbewerbs erklären zu können.
43
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
2.1.1 Bevölkerungsentwicklung Um die Wirkungskraft der Bevölkerungsentwicklung als Veränderungstreiber zu erfassen, ist es notwendig, die geschichtlichen Entwicklungsphasen der Weltbevölkerung in groben Zügen zu rekonstruieren. Diese Vorgehensweise ermöglicht es auch, Veränderungen in den Verlaufsmustern (historische Transformationen) und Entwicklungsrichtungen zu thematisieren. Grob lässt sich die Entwicklung der Weltbevölkerung bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts in drei Entwicklungsphasen aufteilen: Die erste Phase erstreckt sich vom Aufkommen des homo sapiens bis in die Neuzeit um 1700. In diesem langen Zeitraum war der Bevölkerungszuwachs insgesamt gering. Er lag in dem Zeitraum von vier bis zwei Millionen Jahren v. d. Z. ungefähr bei 125.000 Menschen. Die Bevölkerungszahl stieg in dem folgenden Zeitraum bis zum Jahr Null n. d. Z. auf schätzungsweise 200-400 Millionen (vgl. Schmid 1984, 20). Der wichtigste Grund für den ersten langsamen, aber signifikanten Anstieg der Weltbevölkerung lag in der neolithischen Revolution (80003000 v. d. Z.), die die allmähliche Sesshaftwerdung der Menschen beschreibt. Im Zuge dieser Entwicklungen verbreitete sich der Ackerbau, der für die Sesshaftwerdung eine bedeutende Rolle spielte (vgl. Mumford 1986, 153ff.). 100
2050: 9,1 Mrd. 2048: 9 Mrd.
90
2027: 8 Mrd.
80
2013: 7 Mrd.
70
1999: 6 Mrd.
60
1987: 5 Mrd.
50
1974: 4 Mrd.
40
1960: 3 Mrd.
30
1927: 2 Mrd.
20
1804: 1 Mrd.
10 0 1700
1750
1800
1850
1900
1950
2000
2050
Weltbevölkerung in Milliarden Durchschnittlicher jährlicher Zuwachs innerhalb von 10 Jahren Die erste Milliarde erreichte die Weltbevölkerung im Jahr 1804. Bis 1900 lebten 1,6 Milliarden Menschen auf der Erde. Im Jahr 1927 waren es zwei Milliarden, 33 Jahre später drei Milliarden. 1974 wurden vier und schon 1987 fünf Milliarden gezählt. Im Jahr 1999 überschritt die Weltbevölkerung die Sechs-Milliarden-Grenze. Damit hat sich
die Weltbevölkerung im 20. Jahrhundert nahezu vervierfacht – ein in der Geschichte der Menschheit einmaliger Vorgang. Zur Zeit wächst die Weltbevölkerung etwa alle 14 Jahre um eine weitere Milliarde Menschen. Das Bevölkerungswachstum findet zu 95 Prozent in Entwicklungsländern statt.
Abb. 5: Die Entwicklung der Weltbevölkerung (Vereinte Nationen, World Population Prospects: The 2004 Revision, New York 2005)
44
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Schon in der frühen Phase der Bevölkerungsentwicklung kam es zum typischen Zusammenspiel der drei Veränderungstreiber (DIBs): Mit der sich ausbreitenden Form der Ackerbauwirtschaft, den ersten Siedlungsstrukturen und der in diesen Rahmenbedingungen wachsenden Bevölkerungszahl, nahmen auch die Abhängigkeitsgeflechte durch die Dorfstrukturen und Handelsformen über größere geografische Räume zu. Diese Entwicklungen beeinflussten die sozialen Beziehungsformen nachhaltig (vgl. ebenda 155ff.). In der zweiten Phase, von 1700 bis 1950, verlief die Bevölkerungsentwicklung dynamischer als in der langen ersten Phase. In nur 250 Jahren stieg die Weltbevölkerungszahl von 555 Millionen auf 2,5 Milliarden, was ein durchschnittliches jährliches Wachstum von ca. 0,5 Prozent bedeutete (vgl. Abb. 5). In Europa nahm zwischen 1850 und 1950 die Bevölkerung rapide von 274 auf 572 Millionen zu, obgleich andererseits besonders seit Ende des 19. Jahrhunderts die Geburtenzahlen durchschnittlich zurückgingen (vgl. Schmid 1984, 22). Diese widersprüchlich klingende Entwicklung der europäischen Bevölkerung kann als ein Teilprozess der zweiten Industriellen Revolution verstanden werden. Die mit dieser Phase der Industrialisierung einhergehenden wissenschaftlich-technischen Entwicklungen und besonders die medizinisch-technischen Fortschritte, trugen deutlich zum Anstieg der Lebenserwartung und zur Reduzierung der Säuglingssterblichkeit bei (vgl. Marschalck 1984, 41-45). Neben der sich verringernden Sterblichkeitsrate und dem Anstieg der Lebenserwartung vollzog sich in Europa in dem Zeitraum zwischen 1850 und 1950 auch eine parallel verlaufende Abschwächung der Geburtenrate. Im Deutschen Reich ging zwischen 1900 und 1925 die Geburtenrate zum Beispiel um 50% (!) zurück (ebenda 53). Alle angeführten Prozesse, der Rückgang der Säuglingssterblichkeit und der Geburtenzahlen sowie der Anstieg der Lebenserwartung, beschleunigten sich im Übergang zum 20. Jahrhundert erheblich. Die besonders prägende Entwicklung des Geburtenrückgangs wurde in den industrialisierten Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg nur in einem kurzen Zeitraum – in Japan ab 1955, wenige Jahre später in Europa und den USA – durch den sogenannten „baby boom“ unterbrochen. Schon Mitte der 1960er Jahre fielen die Kinderzahlen in den etablierten Industrieländern jedoch wieder drastisch ab. Mit dem Rückgang der Geburtenraten – zunächst in den industrialisierten Ländern – wurde die dritte Phase der weltweiten Bevölkerungsentwicklung eingeleitet. Obgleich Vieles dafür spricht, dass die Entwicklung der Geburtenraten, deren Dynamik für die zukünftige Entwicklung der gesamten Weltbevölkerung von grundlegender Bedeutung sein wird, global ähnlich verlaufen wird, wie dies hier für Europa und die USA angeführt wurde, ist dies noch nicht sicher. Da nicht hinreichend geklärt ist, warum die Geburtenzahlen gleichfalls
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
45
in den meisten Entwicklungsländern zurückgehen, basieren die Prognosen im Kern auf den Erfahrungen in den etablierten Industrieländern und der Extrapolation erster Tendenzen in den Entwicklungsländern. Eine Beobachtung, die Forscher im Rahmen der Zivilisationstheorie herausgearbeitet haben, könnte in diesem Zusammenhang einen Beitrag zur generellen Erklärung liefern: „Die Geburtenziffer sinkt jeweils dann, wenn nach einer ersten Phase der Industrialisierung und eines damit verbundenen ökonomischen Aufschwungs mit individuellen Aufstiegsmöglichkeiten eine Phase wirtschaftlicher Stagnation oder Depression zur Verteidigung erreichter sozialer Positionen zwingt. Dies betrifft vor allem die sich dann nach unten abschließende Mittelschicht, die dann in zunehmendem Maße von bekannten Möglichkeiten der Geburr tenkontrolle und Familienplanung Gebrauch macht“ (Korte 1977, 419). Ob sich der Erklärungsansatz auf die Geburtenrückgänge in wenig industrialisierten Entwicklungsländern anwenden lässt, ist jedoch nicht sicher.42 Hier scheint es realistischer, die zu beobachtenden Prozesse als Vorbereitungsschritte zu einem möglichen ökonomischen Aufstieg zu bezeichnen. Die Entwicklungsdaten zeigen, dass zunächst die Familienplanung durch eine verstärkte Information und Bildung der Frauen beeinflusst werden kann. Frauen bekommen in den Entwicklungsländern mit besserer Bildung später ihr erstes Kind, werden seltener ungewollt schwanger und tendieren eher zur Familienplanung (UNFPA 2004, 29ff.).43 – Unabhängig davon, welcher Erklärungsansatz die Gründe für die Entwicklungsrichtung der Geburtenzahlen zutreffend erfasst, vermitteln die Statistiken der UN ein klares Bild von den sich international angleichenden durchschnittlichen Kinderzahlen pro Frau (vgl. Abb. 6). Der zunächst in Europa und zunehmend weltweit zu beobachtende Rückgang der Sterbe- und Geburtenrate im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung wird seit den 1920er Jahren als demographischer Übergangg bezeichnet. Die Entwicklungen, für die der Terminus demographischer Übergang genutzt wird, werden mit großer Wahrscheinlichkeit entscheiden, welches Szenario der weltweiten Bevölkerungsentwicklung in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts Realität wird.44 Warum die Frage, welches Bevölkerungsszenario Realität wird, fundamental ist, lässt sich leicht verdeutlichen: 42 43
44
Neben diesem Erklärungsansatz zur theoretischen Fundierung der Gesamtentwicklungen gibt es andere, zum Teil widersprechende Ansätze (vgl. Kaufmann 2005, 63-110). Dass die Erklärung für die Geburtenentwicklung generell nur soziologisch sein kann, lässt sich daraus ableiten, dass der Geburtenrückgang in Bevölkerungen nicht einheitlich, sondern sozial differenziert verläuft (Marschalck 1984, 54; Schmid 1984, 111). Sicher kam es in den Industrienationen – abgesehen von einigen Schwankungen – zu einem parallelen Rückgang der Sterbe- und Geburtenraten („demografischer Übergang“). Einige theoretische Annahmen, die mit der „Theorie der demografischen Transition“ verbunden waren, mussten jedoch inzwischen verworfen werden (vgl. Ehmer 2004, 118-127).
46
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Die Weltbevölkerung nimmt insgesamt massiv zu. Im Jahr 1999 wurde 5 die Sechsmilliardengrenze überschritten 4 (vgl. Vereinte Nationen 3 2000). Auf der Basis von 6,1 Milliarden 2 wächst die Weltbevöl1 kerung gegenwärtig um ca. 85 Millionen 0 Menschen jährlich. 2000 2010 2020 2030 2040 2050 Gemäß der mittleren Variante der Entwickam wenigsten entwickelte Länder Entwicklungsländer lungsszenarien der VerIndustrieländer einten Nationen würde Selbst wenn die Kinderzahlen bis 2050 völkerung voraussichtlich in den nächsten dies bedeuten, dass weltweit knapp unter das Ersatzniveau von 50 Jahren von 6,3 Milliarden auf mehr als 2,1 Kinder pro Frau sinken, wird die Beneun Milliarden Menschen anwachsen. die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 auf über 9 Milliarden Abb. 6 : Die Projektion der Kinderzahl pro Frau bis 2050 (Vereinte Nationen, World Population Prospects: The 2004 Menschen ansteigt (vgl. Revision, 2005) Abb. 5). Dieses mittlere Entwicklungsszenario der Vereinten Nationen wird aber nur dann Wirklichkeit, wenn in den Entwicklungsländern, die bisher ein stärkeres Bevölkerungswachstum aufweisen, die Geburtenrate nach dem Modell des „demographischen Übergangs“ zurückgeht (vgl. Abb.6). Zurzeit sprechen die Zahlen für diese Entwicklung, da in den Entwicklungsländern insgesamt die Fertilitätsrate (Kind pro Frau) zwischen den Zeiträumen 1970-75 und 1995-2000 von 5,4 auf 3,1 Kinder pro Frau zurückgegangen ist (vgl. Human Development Report 2001). Der Rückgang der Geburtenraten auch in den Entwicklungsländern verhindert jedoch nicht, dass auch in den nächsten Jahrzehnten nahezu 100 Prozent des jährlichen Bevölkerungszuwachses in den weniger industrialisierten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stattfinden wird (vgl. Abb. 7). durchschnittliche Kinderzahl
6
Die sich aus den groben Entwicklungslinien der Weltbevölkerung ergebende demografische Konstellation für das 21. Jahrhundert könnte nur durch historische Umbrüche (große internationale Kriege, Epidemien oder Naturkatastrophen) signifikant beeinflusst werden. Kommt es nicht zu diesen unerwarteten historischen Einflüssen, können weitere demografische und eng damit verbundene sozio-ökonomische Entwicklungen vorweggenommen werden: Die regionale Verteilung der Weltbevölkerung wird sich deutlich verändern.
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
2004
2050
Weltbevölkerung insg. 6.396 Millionen
Weltbevölkerung insg. 9.276 Millionen
Ozeanien 33 Mio. (0,5%) Lateinamerika / Karibik 549 Mio. (8,6%) Afrika 885 Mio. (13,8%) Nordamerika 326 Mio. (5,1 %) Europa 728 Mio. (11,4%) Asien 3.875 Mio. (60,6%)
Ozeanien 47 Mio. (0,5%) Lateinamerika / Karibik 778 Mio. (8,4%) Afrika 1.941 Mio. (20,9%) Nordamerika 457 Mio. (4,9 %) Europa 668 Mio. (7,2%) Asien 5.385 Mio. 58,1%)
47
Auch in Zukunft wird der größte Teil der Menschheit in Asien leben. Die mit 3,8 Milliarden Menschen bevölkerungsreichste Region der Erde wächst bis 2050 voraussichtlich um weitere 1,5 Milliarden. Dabei wird China als Land mit der weltweit höchsten Bevölkerungszahl wahrscheinlich bald von Indien abgelöst. Noch größer ist das Wachstumspotenzial des afrikanischen Kontinents: Bis zur Mitte des Jahrhunderts wird sich die Bevölkerung Afrikas von heute 885 Millionen Menschen auf geschätzte 1,9 Milliarden verdoppeln. Damit steigt der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung von heute 13,8 Prozent auf 20,9 Prozent im Jahr 2050. Europa ist die einzige Weltregion, die im gleichen Zeitraum von einem Rückgang der Bevölkerung geprägt sein wird. Da die Kinderzahlen pro Frau in vielen europäischen Ländern einen historischen Tiefpunkt erreicht haben, wird der europäische Anteil an der Weltbevölkerung von heute 11,4 Prozent auf voraussichtlich 7,2 Prozent in 2050 schrumpfen.
Abb. 7: Die regionale Verteilung der Weltbevölkerung (DSW-Datenreport 2004)
In den nächsten 50 Jahren wird die Bevölkerungszahl in Europa abnehmen. Die Bevölkerung Asiens, Nordamerikas und Lateinamerikas wird in absoluten Zahlen erheblich zunehmen, obgleich der relative Anteil auch dieser Länder an der Weltbevölkerung leicht zurückgehen wird. Afrikas Anteil an der Weltbevölkerung wird hingegen von 13,9% auf ca. 20% anwachsen (vgl. Abb. 7). In dieser Verschiebung der Anteile an der Weltbevölkerung spiegelt sich der Rückgang der Geburtenraten in den entwickelten Industrieländern wider. Da die Geburtenzahlen in diesen Ländern unter das „Ersatzniveau“ gefallen sind, wird die Bevölkerung in den Regionen in den nächsten Jahrzehnten signifikant schrumpfen. Durch den gleichzeitigen Anstieg der durchschnittlichen Lebenserwartung in den Industrieländern wächst der Anteil der älteren Menschen im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtbevölkerung erheblich. Die Entwicklungen der etablierten Industriestaaten lassen sich am Beispiel Deutschlands, zurzeit Europas bevölkerungsstärkstem Land, verdeutlichen: Die Bevölkerung Deutschlands wird von gegenwärtig 82,5 Millionen bis 2050 auf 62 Millionen zurückgehen. Dabei wird der Bevölkerungsrückgang um fünf Millionen Menschen größer sein als seinerzeit der Zuwachs der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland durch die Integration der ehemaligen DDR (vgl. Sinn 2004, 340). Der Hauptgrund für die schrumpfende Bevölkerung in
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Deutschland liegt in der geringen Zahl der Geburten. Die Geburtenrate lag 2001 bei 1,35. Wesentlich bedingt durch die geringe Geburtenrate erhöht sich das Durchschnittsalter stetig. Im Jahr 2020 wird es in Deutschland bei 46,7 Jahren liegen. Gleichzeitig erhöht sich das durchschnittliche Sterbealter alle acht Jahre um ein Jahr (vgl. ebenda 339). Damit schrumpft die Bevölkerungszahl in Deutschland signifikant und wird gleichzeitig durchschnittlich älter. Obgleich Deutschland mit diesen Entwicklungen in Europa neben der Schweiz und Italien an der „Spitze“ steht, zeigen die Entwicklungen in allen europäischen Ländern in eine vergleichbare Richtung (vgl. World Population Prospects, The 2002 Revision, Highlights). Im Kontrast zu den europäischen Entwicklungen stehen die in Asien und Afrika bis 2050 stark ansteigenden Bevölkerungszahlen. Die Konsequenzen der weiter dynamisch anwachsenden Bevölkerungszahlen in diesen Regionen sind vergleichbar weitreichend wie die schrumpfenden Bevölkerungszahlen in den etablierten Industrieländern: In den Entwicklungs- und Schwellenländern – besonders in den Stadtregionen – ist eine weiter zunehmende Bevölkerungsdichte zu erwarten (vgl. Abb. 9). Auch ist damit zu rechnen, dass die Probleme mit der Wasserversorgung und der Luftverschmutzung, besonders in den Städten, massiv zunehmen werden (vgl. Abb. 8). Weiter könnten die ansteigenden Bevölkerungszahlen in Asien und Afrika zu einer verstärkten Wanderbewegung von den weniger in die stärker industrialisierten Länder führen. 2000
2025
Weltbevölkerung: 6 Milliarden
Weltbevölkerung: 7,82 Milliarden*
Ausreichende Verfügbarkeit Wasserknappheit Wassermangel
Derzeit leben etwa 600 Millionen Menschen in Ländern, in denen es an Wasser mangelt oder Wasserknappheit herrscht. Im Jahre 2025 werden nach heutigen Schätzungen bereits zwischen 2,7 und 3,2 Milliarden Menschen unter chronischem oder immer wiederkehrendem Süßwassermangel leiden.
Definition: Wasserknappheit: verfügbares erneuerbares Süßwasserangebot pro Kopf und Jahr liegt zwischen 1001 und 1666 m³ Wassermangel: Süßwasserangebot pro Kopf und Jahr beträgt 1.000 m³ oder weniger. *Mittlere UN-Bevölkerungsprojektion von 2000
Abb. 8: Die Weltbevölkerung und Wasserknappheit (Population Action International 2003)
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
49
Dass und wie sich die Bevölkerungsentwicklungen in den weniger industrialisierten Ländern für die etablierten Industrieländer auswirken können, lässt sich am Beispiel der USA für die grundlegenden Felder der Bevölkerungsstruktur und den Arbeitsmarkt schon heute aufzeigen. Mexiko, ein direkter Nachbar der USA, hatte in den letzten Jahrzehnten massive Bevölkerungszuwächse zu verzeichnen. Unter anderem durch intensive Migrationsbewegungen aus Mexiko und Asien in die USA verändert sich die Zusammensetzung der arbeitenden Bevölkerung in den USA deutlich: „According to the Bureau of Labor Statistics, the number of Asian Americans and Hispanics in the U.S. labor force will grow by 40 percent and 37 percent, respectively, between 1998 and 2008. The black labor force is expected to grow by 20 percent, twice as fast as the 10 percent growth rate for whites“ (Buren & Woodwell 2000, 2). In anderen Industriestaaten, besonders in denen, die an weniger industrialisierte Länder geografisch angrenzen, könnten sich in den nächsten Jahrzehnten allmählich ähnliche Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt vollziehen. Aus den bisher angeführten Entwicklungsphasen der Weltbevölkerung und den groben Entwicklungsrichtungen lassen sich zwei Folgerungen ableiten, die mindestens für die nächsten fünfzig Jahre relevant sind: Der massive Anstieg der Weltbevölkerung wird durch seine Wirkungskraft das Gesicht der Welt – unter anderem in Bezug auf die Verteilung der Weltbevölkerung (vgl. Abb. 7), die Abhängigkeit der Weltregionen voneinander, die Ressourcenprobleme (vgl. Abb. 8), die Umweltprobleme und die politischen und wirtschaftlichen Strukturen – völlig verändern. Der weitere Verlauf des parallelen Rückgangs der Geburten- und Sterberaten (demografische Transformation), der in den etablierten Industrienationen und gegenwärtig auch in den Entwicklungsländern zu beobachten ist, wird entscheiden, wie kritisch die Zu- bzw. Abnahme der Bevölkerung in den Regionen der Erde verlaufen wird.45 Um den Aufriss zur Bevölkerungsentwicklung als nachhaltigen Veränderungstreiber zu vervollständigen, muss ergänzend die weltweite Verstädterung angeführt werden, da diese neben den beschriebenen Bevölkerungsentwicklungen wesentlich zur Dynamik der anderen nachhaltigen Veränderungstreiber, der Interdependenzentwicklung und Veränderung der sozialen Beziehungstypen, beiträgt (vgl. Wolf 2006). 45
Wie maßgeblich die historische Transformation des „demografischen Übergangs“ ist, lässt sich durch eine fiktive Rechnung noch plastischer vermitteln: „If, for the sake of illustration, the fertility of countries is kept constant at 1995-2000 levels, the world population soars to 244 billion by 2150 and 134 trillion in 2300, a definitely impossible outcome“ (World Population in 2300, United Nations 2003, 2).
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Bis 1800, die Weltbevölkerung stand vor der ersten Milliarde und die Industrialisierung begann gerade ihren Siegeszug, war der Lebensstil der Menschen durch das Landleben geprägt. Bis zur Wende zum 19. Jahrhundert lebten gerade drei Prozent der Menschen in urbanen Regionen. Hundert Jahre später war die Zahl der „Stadtmenschen“ auf 14 Prozent angestiegen; weltweit gab es um 1900 jedoch erst 12 Städte mit ungefähr einer Million Einwohner. Danach nahm die Dynamik der Urbanisierung zu: 1950 lebten schon 30 Prozent der Weltbevölkerung in den urbanen Zentren; die Zahl der Städte mit mehr als eine Million Einwohner betrug schon 83. Im Jahr 2000 gab es 411 Städte mit über eine Million Menschen, das heißt 2,8 Milliarden Menschen (47 Prozent der Weltbevölkerung) lebten in Städten (vgl. United Nations, World Urbanization Prospects, The 1999 Revision). Auch in der Gegenwart verläuft der Urbanisierungsprozess in groben Zügen parallel zur Bevölkerungsentwicklung. In den Industrienationen hat die Verstädterung im Jahr 2000 ein Niveau von 76 Prozent erreicht. Seit der Wende zum 21. Jahrhundert stagniert die Verstädterung bzw. ist leicht rückläufig, was der Entwicklung der Bevölkerungszahlen in den Industrieländern entspricht. Die Verstädterung in den weniger entwickelten Nationen, die gegenwärtig im Durchschnitt bei 40 Prozent liegt, setzt sich jedoch – wahrscheinlich sogar etwas dynamischer als das Bevölkerungswachstum – weiter fort (vgl. Abb. 9). Bevölkerung in Milliarden 4 3 2 1 0 1975
1995
2000
2030
Stadtbevölkerung der Entwicklungsländer Landbevölkerung der Entwicklungsländer Stadtbevölkerung der Industrieländer Landbevölkerung der Industrieländer Die weltweite Zunahme der Stadtbevölkerung ist rasant. Während der jährliche Zuwachs der Weltbevölkerung derzeit stagniert und in Zukunft voraussichtlich weiter sinkt, steigt die Zahl der Städter weiter an. Heute lebt die Hälfte der
Weltbevölkerung in Städten. Innerhalb der nächsten Jahrzehnte wird sich die städtische Bevölkerung in den Entwicklungsländern voraussichtlich mehr als verdoppeln: von heute zwei auf rund vier Milliarden Menschen.
Abb. 9: Die Urbanisierung der Weltbevölkerung, 1950-2030, United Nations 2001, World Urbanization Prospects: The 1999 Revision. New York
Soweit lassen sich die ausgewählten Stränge der Bevölkerungsentwicklung und Urbanisierung mit großer Sicherheit für die nächsten drei bis fünf Jahrzehnte beschreiben. Die aufgezeigten Zusammenhänge vermitteln ein grobes Bild von der umfassenden Prägekraft dieses nachhaltigen Veränderungstreibers. Mit der Wirkungskraft der Bevölkerungsentwicklung wird auch die Bedeutung der wichtigsten his -
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
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torischen Tr T ansformation, des demografischen Übergangs, nachvollziehbar. r Weitere, mit der Bevölkerungsentwicklung einhergehende Phänomene (u. a. Alterung der europäischen Bevölkerung, Migration, Ressourcenprobleme, Umweltprobleme, sozio-ökonomische und politische Prozesse), werden die strategischen Rahmenbedingungen der Unternehmen ähnlich stark beeinflussen wie der demografische Übergang. Weiter unten wird aufgezeigt, welche Determinanten des strategischen Wettbewerbs durch die Bevölkerungsentwicklung und die anderen Veränderungstreiber wesentlich geprägt werden. Bevor dieser Arbeitsschritt geleistet werden kann, gilt es jedoch, die anderen nachhaltigen Veränderungstreiber, die eng mit der Bevölkerungsentwicklung verwoben sind, zu beschreiben. Ein weiterer Veränderungstreiber, der in einem vielschichtigen Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung steht, kann mit der Wendung sozio-technische Interdependenzen46 beschrieben werden.
2.1.2 Sozio-technische Interdependenzen „The entire history of civilization, and therefore of business, is one of connectivity.” (Gouillart / Kelly 1995, 4) Um die sozio-technischen Interdependenzen als nachhaltigen Veränderungstreiber zu erkennen und verstehen, ist ein Aufriss zur Entwicklung der menschlichen Figurationen – parallel zur Bevölkerungsentwicklung – notwendig. Denn ein von der historischen Entwicklungsdynamik der Interdependenzen abgekoppelter Blick auf die gegenwärtigen Netzwerke kann die nachhaltige Dynamik und Prägekraft dieses nachhaltigen Veränderungstreibers nicht erschließen. Die Beschreibung der historischen Entwicklungsdynamik der Interdependenzen zu dem hier verfolgten Zweck fällt umfangreicher aus als die grobe Nachzeichnung der vergleichsweise klaren Entwicklungsstufen der Weltbevölkerung. Trotz dieser zwangsläufig differenzierteren Rekonstruktion der Figurationsdynamik besteht im Folgenden jedoch nicht der Anspruch, die vielfältigen Varianten der Verflechtungsformen in den Entwicklungsphasen herauszuarbeiten und die geografisch asynchronen Verläufe zu analysieren. Vielmehr stellt sich – wie bei der Skizze zur Entwicklung der Weltbevölkerung – die Aufgabe, prägende historische 46
Der Begriff „Interdependenzen“ steht hier für Geflechte oder Ketten aufeinander angewiesener oder voneinander abhängiger Menschen. Das Attributivum „sozio-technisch“ wird verwandt, um die historisch früh einsetzende und sich stetig ausweitenden technische Unterstützung, Ergänzung, Begleitung und Durchdringung der sozialen Abhängigkeitsgeflechte zu beschreiben.
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Transformationen und Entwicklungsrichtungen der sozio-technischen Interdependenzen zu thematisieren. Hierzu werden besonders Beispiele wirtschaftlicher Verflechtungen herangezogen, da diesen für das Verständnis des strategischen Wettbewerbs der Gegenwart und damit für die Anforderungen an die Unternehmen und Führungskräfte eine besondere Bedeutung zukommt.47 Die erste Entwicklungsphase der menschlichen Abhängigkeitsgeflechte begann vor circa vier Millionen Jahren. Obgleich auch in diesem längsten Zeitraum der bisherigen Menschheitsgeschichte wichtige soziale (z. B. Rituale, Tabus, Sprache) und technische (z. B. Werkzeuge, Kunst) Entwicklungen das Zusammenleben der Menschen prägten, haben sich die Figurationen in dieser Zeit zunächst nur wenig verändert (vgl. Mumford 1986). Erst in der fortgeschrittenen ersten Entwicklungsphase, die sich vom Neolithikum (8000 – 3000 v. d. Z.) bis zum 11. Jahrhundert n. d. Z. erstreckte, vollzogen sich grundlegende Veränderungen der sozio-ökonomischen Interdependenzen. Mit der langsamen Sesshaftwerdung der Menschen im Neolithikum waren die Gartenbaudörfer, in denen die Menschen ihre täglichen Handlungen und ihre gemeinsame Akkerbauwirtschaft abstimmen mussten, auf einige hundert Einwohner angewachsen. Während dieser Agrarrevolution, die vor etwa 10.000 Jahren unter den Völkern Mesopotamiens, Anatoliens, Palästinas und Ägyptens begann und sich später auf Indien, China, Europa, das tropische Afrika und Amerika ausweitete, gelang es den Menschen langsam, ihre Techniken im Ackerbau und in der Viehzucht zu verbessern (vgl. Ribeiro 1983, 55-62). Die Gruppen aus Jägern, Fischern und Sammlern entwickelten neue, familiär-patriarchalische Dorfstrukturen, in denen Wissensfortschritte und die Herstellung diverser Hilfsmittel die konzentrierte Nahrungsmittelproduktion ermöglichten. Die Spezialisierungen einerseits und regelmäßige Überschussproduktionen andererseits schufen die Grundlage für erste elementare Tauschformen. Diese ersten Ausdehnungen der wirtschaftlichen Abhängigkeitsgeflechte sind besonders geeignet, um die grundlegenden Konsequenzen von sich ausweitenden und verdichtenden Interdependenzen zu verdeutlichen. Ein einfaches Rechenbeispiel zeigt die exponentielle Zunahme der Interaktionsbeziehungen in eher kleinen Beziehungsgeflechten, wie sie in den Anfängen der Interdependenzentwicklung sicher noch üblich waren (vgl. Abb. 10).
47
Eine vollständigere Rekonstruktion der Entwicklung menschlicher Figurationen müsste den religiösen, kulturellen und politischen Verflechtungen mehr Aufmerksamkeit widmen.
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
Anzahl der Personen
Zweiköpfige Beziehungen
2 3 4 5 10 20 50
1 3 6 10 45 190 1225 Formel:
x = n (n-1) ––– 2
Alle möglichen Beziehungen (einfach) 1 4 11 26 1013 1048555 1125899906842569 x = 2 n - (n + 1)
53
Alle möglichen Beziehungen (multiple Perspektive) 2 9 28 75 5110 10485740 28147497671065600 2n -1 ) x = n (–– 2
Zweiköpfige Beziehung: jede mögliche Beziehung jeweils zweier Personen in dem Netzwerk (z.B. AB, BC, ...) Alle möglichen Beziehungen (einfach): alle Beziehungskombinationen numerisch betrachtet (z.B. AB, AC, BC, ABC ...) Multiple Perspektive: Anzahl der Beziehungsmöglichkeiten, wenn man berücksichtigt, dass sich die Sichtweisen der Personen unterscheiden (z.B. AB und BA ...)
Abb. 10: Die Zunahme von Beziehungsmöglichkeiten bei wachsenden Interdependenzen (vgl. Elias 1981, 107).
Das Rechenbeispiel ermöglicht es – bevor die Komplexität der Abhängigkeitsgeflechte in der zweiten und dritten Phase der Interdependenzentwicklung die menschliche Vorstellungskraft stark strapaziert – nachzuvollziehen, welche steigende Komplexität und damit schwer planbare Dynamik mit wachsenden sozio-technischen Interdependenzen verbunden ist. Von der Eigendynamik der wachsenden Interdependenzen getrieben, folgten die nächsten Entwicklungsschritte – im Vergleich zu der Zeit vor dem Neolithikum – nun schneller: „In dem Maße, wie die Agrarrevolution fortschritt, führte die Akkumulation technologischer Neuerungen einige Gesellschaften zu einer zweiten Revolution und zu einem Prozess der evolutiven Beschleunigung, welcher neue soziokulturelle Formationen schuf“ (Ribeiro 1983, 63). Diese wachsenden sozio-kulturellen Formationen drückten sich in einer gesellschaftlichen Schichtenbildung, einer stärkeren Arbeitsteilung, ausgefeilteren Produktions- und Handelsformen sowie umfangreichen religiösen und kriegerischen Aktivitäten aus (ebenda, 63-86). Nicht zuletzt die durch kriegerische Aktivitäten ausgelöste Eingliederung (Versklavung und Ausbeutung, statt direkter Tötung) veränderte die Qualität und Komplexität der Abhängigkeiten: „So entfalteten sich Formen sozialer Interdependenz, die die reine Familiensolidarität und die gegenseitige Hilfe auf lokaler Ebene hinter sich ließen. Neue
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Mechanismen der wechselseitigen Abhängigkeiten fingen an, den Austausch zwischen den verschiedenen Sektoren der Gesellschaften zu regulieren: zwischen Nahrungsmittelproduzenten einerseits und den spezialisierten Handwerkern und verschiedenen parasitären Gruppen andererseits, die als Vermittler arbeiteten oder andere gesellschaftliche Funktionen ausübten“ (ebenda, 67). Die Geschichte der menschlichen Abhängigkeitsgeflechte zeigt somit schon in diesem frühen Stadium, wie eng die quantitativen (Bevölkerungsentwicklung) und qualitativen (Interdependenzbildung durch Funktionsteilung) Entwicklungen bei der Entstehung neuer Figurationsformen ineinandergriffen. In dieser ersten Entwicklungsphase der Interdependenzen vergingen bis zur Herausbildung weiter gespannter Abhängigkeitsgeflechte noch ca. 5000 Jahre. Um 3000 v. d. Z. entstanden in Mesopotamien mit dem Akkad-Imperium (2500 v. d. Z.) und dem Babylonischen Reich (1800 v. d. Z:), aber auch in Ägypten mit dem Mittleren und Neuen Königreich (2070 und 1750 v. d. Z.) die ersten Großreiche und Stadtstaaten, die Millionen beziehungsweise Zehntausenden von Einwohnern umfassten. Wichtige Schreibwerkzeuge und neue Schriftträger (Papyrus) unterstützten die Abstimmung und Steuerung der vielfältigen wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten in den neuen gesellschaftlichen Gebilden. Es folgten weitere Stadtstaaten und Großreiche in Indien (um 2500 v. d. Z.), in China (um 1500 v. d. Z.) und in Mittelamerika (Maya-Kultur u. d. Z.) (vgl. Lindner / Wohak 1988, 21ff.). In diesen neuen, komplexeren Figurationen wurden zum Bau von Bewässerungsanlagen und Tempeln bis zu 100.000 Menschen herangezogen. Die Einbindung einer größeren Anzahl von Menschen bedeutete, dass die Abstimmungs- und Steuerungsprozesse nicht mehr in kleinen Gruppen erfolgen konnten, sondern in organisierten Verwaltungen nach festen Regeln und vielfach in schriftlicher Form organisiert werden mussten (vgl. ebenda, 21). Die Herausbildung der umfangreicheren städtischen und ersten staatlichen Figurationen veränderte auch die wirtschaftlichen Beziehungen grundlegend: im Zuge der städtischen und nationalen Entwicklung von dichteren und weiteren Abhängigkeitsgeflechten entstanden räumlich ausgedehntere Handelsgeflechte. Die schon in den oben umrissenen familiär-patriarchalischen Dorfstrukturen zu beobachtenden Funktionsteilungen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten gingen mehr und mehr über die Familie, den Clan und die Dorfgemeinschaft hinaus. Obgleich der Anstieg der Bevölkerungszahl weiterhin langsam verlief, kam es doch zu einer erheblichen Ausdehnung der Lebens- und Wirtschaftsräume. Die noch überschaubaren dörflichen Abhängigkeiten wuchsen zu weiträumigeren, spezialisierten Handelsgeflechten. Erste Familienunternehmen dieser Zeit bauten für den Entwicklungsstand der Kommunikations- und Transporttechnik erstaunlich weit reichende Handelsbeziehungen auf. Moore und Lewis vermuten, dass diese Wirtschaftsgeflechte
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vor 4000 Jahren auch die Geburtsstunde der internationalen Unternehmung darstellten: „The commercial structure they created may rightly be described as the first genuine multinational enterprise in recorded history“ (Moore / Lewis 2000, 27). So gelang es 2000 v. d. Z. Männer wie Pusu-Ken aus Ashur (Assyrien) komplexe internationale Handelspartnerschaften im Nahen Osten aufzubauen. Sein Handel mit Weizen, Kupfer und Textilien hatte dabei sicher mit den vergleichsweise einfachen Kommunikations- und Transportmitteln zu kämpfen; wichtige Grundlagen für den Handel, nämlich die Geldwirtschaft und das kodifizierte Recht, etablierten sich jedoch langsam (vgl. Witzel 2002, 41f.). Die Interdependenzen, in denen Pusu-Ken und vergleichbare Unternehmer ihre Geschäfte betrieben, standen zugleich für eine ganz neue Qualität des Wirtschaftens. Sie lebten nicht mehr von den dörflichen Funktionsteilungen und elementaren Tauschformen aus geringer Überschussproduktion, sondern von kommerziellem Handel ohne Eigenproduktion. So wurde die Stadt Ashur mit ihren 10.000 Einwohner getragen von dem Karu-System. Dieses System beschreibt eine Hafenkonfiguration, die mit Händlern besiedelt war: „Assyrian kãru, receiving goods by boat and caravan from the Sumerian-Babylonian trading post to the south, shipped them to other Assyrian kãru and trading posts in Syria and Anatolia” (Moore / Lewis 2000, 30). Ab 1100 v. d. Z. verlagerten sich die internationalen Handelsschwerpunkte über die Jahrhunderte erstmals nach Westen: Phönizische Händler organisierten die Ausbreitung des Handels auf den gesamten Mittelmeerraum und bis zum Atlantischen Ozean (ebenda, 43). Die nachhaltige Wirkungskraftt der phönizischen Handelsgeflechte lässt sich unter anderem daran ablesen, dass alle Alphabetschriften auf der gesamten Welt vom phönizischen Alphabet abstammen. Das heißt auch, dass die Griechen das Alphabet nicht ihren Philosophen, sondern den phönizischen Kaufleuten verdanken (vgl. Lindner u. a. 1988, 30). Trotz der kulturellen Leistungen und der weit gespannten wirtschaftlichen Aktivitäten wurde das Ende der phönizischen Stadtstaaten durch die Zerstörung von Tyros durch Alexander den Großen (332 v. d. Z.) eingeleitet. Das phönizische Geflecht aus Stadtstaaten, Kolonien und Stützpunkten musste einer mächtigeren, zentral gesteuerten Herrschaftsstruktur weichen.48 Zwischen 1000-336 v. d. Z. entstanden neue Staats- und Handelsimperien in 48
Ein weiterer wesentlicher Grund für den Untergang der phönizischen Herrschaft war die Vernichtung der Zedernholzbestände. Aus dem Holz wurden unter anderem die leistungsfähigen Handelsschiffe gebaut. Vergleichbar kritische Entwicklung hätte es wohl während der europäischen Industrialisierung gegeben, wäre nicht gerade rechtzeitig der Übergang von der Holz- zur Kohlebefeuerung gelungen (vgl. Landes 1987, 95ff.).
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Athen (Griechenland) und im Römischen Reich, die ihre charakteristische Art zu wirtschaften und Interdependenzen zu bilden nicht nur in Europa hinterlassen sollten. So ermöglichte die zu dieser Zeit in Griechenland entstandene erste demokratische urbane Kultur auch eine neue Form geschäftlicher Interdependenzen: „The Greeks gave the world the first true entrepreneurial business culture, an economy dominated by independent traders. It reached its full maturity in Athens of the 5th century BCE with its flourishing overseas trade, private banks and relatively free capital markets“ (Moore & Lewis 2000, 55). Andererseits funktionierte auch die griechische Marktwirtschaft nicht ohne staatliches Regelwerk: „It would be wrong to picture Greek capitalism as a totally freewheeling system of laissez-faire. Such did not exist then and does not exist today. Restraints were built into the system, but they were somewhat different form those in the Near East. The centralized hierarchies of ‘temple capitalism’ were, by and large, absent and priests had less control over transactions” (ebenda 62). Ab 338 v. d. Z. wurden die spezifischen staatlichen und wirtschaftlichen Figurationen der Griechen unter der Führung von Alexander langsam in der hellenistischen Kultur aufgerieben (ebenda 74-96). Mit der Auflösung der antiken griechischen Demokratie fand jedoch nicht der internationale, relativ freie Handel in Europa sein Ende. Denn mit der römischen Republik (176-476) baute sich in Europa ein noch mächtigeres politisch-militärisches und wirtschaftliches Zentrum auf. Und das antike Rom entwickelte eine Kette langlebiger Einflüsse auf das Wirtschaftsleben. Davon sind im hier behandelten Kontext weniger die Veränderungen der betrieblichen Figurationen interessant, sondern die Innovationen in den weiter gespannten Wirtschaftsgeflechten. Nachhaltig prägenden Einfluss hatte die Vereinheitlichung der Währung in einem großen Wirtschaftsraum: „With its own ‘euro’, the silver denarius, roughly equal to a day’s wages (Matthew 20: 1-16), and a generally free internal market, Rome formed the original European Union” (ebenda 101). Ähnlich prägend für die Interdependenzen war die Massenproduktion: “Roman pottery, glassware, bricks, tiles, lamps and stone became humanity’s first mass-production industries. They marketed such huge volumes of goods that they had to rely upon agents and middlemen” (ebenda 1003). Die bedeutenden sozialen und technischen Innovationen konnten jedoch auch das Römische Reich nicht von dem Untergang bewahren. Getrieben von Inflation, Korruption und schwindenden Marktchancen zerbrach das mächtige politische
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und wirtschaftliche Geflecht und leitete mit seinem Untergang das sogenannte „Dunkle Zeitalter“ in Europa ein. Zeitlich parallel zum Aufstieg und Fall des Römischen Reichs kam es in einem anderen Teil der Welt, in China, um 221 v. d. Z. unter dem ersten chinesischen Kaiser Qin Shi Huangdi zur Zusammenführung eines gewaltigen Reiches. Die große Chinesische Mauer und der große Kanal symbolisieren heute noch die Zusammenführung dieses weit gespannten Verwaltungs- und Wirtschaftsraums. Doch die gewaltigen Bauwerke des Morgenlands stehen nur für die Anfänge einer langen historischen Phase, in der China, das kein „dunkles Zeitalter“ erlebte, Europa weit voraus war: „China under the Song (Sung: 960-1279), Yuan (Mongol: 1279-1368) and early Ming (1368-1644) dynasties was the most prosperous part of the medieval world economy“ (Moore / Lewis 2000, 164). In seiner langen kulturellen und wirtschaftlichen Blüte kam es in China auch zu vielen wichtigen technischen und sozialen Innovationen, die der Gesamtfiguration des chinesischen Reiches dienten. Die Erfindung des Kompasses (960 n. d. Z.) ermöglichte den Chinesen weite Seereisen; die Erfindung des Papiers (1.000 Jahre früher als im Westen) und des Drucks erleichterte die verwaltungstechnische Kommunikation über größere Distanzen (vgl. Castells 2004, 8). Aber auch die Unternehmensorganisation, die eine spezifische Art der Familienfirma (jiazuquiye) mit einem Sektor übergreifenden Wirtschaftsnetzwerk (jituanquiye) verbindet, entstand in der langen chinesischen Blütezeit (ebenda 205f.). Warum in relativ kurzer Zeit unter anderem die Wirtschaft Chinas, die der Europäischen zu dieser Zeit deutlich überlegen war, ihre Konkurrenzfähigkeit einbüßte, ist eine komplexe zivilisationstheoretische Fragestellung (vgl. hierzu Nelson 1986, 7-57). 49 Sicher ist jedoch, dass nach dem Tod von Zhu Di im Jahr 1424 in China eine Periode langer politischer Instabilität begann (vgl. Moore / Lewis 2004, 179). Mit den politischen Unruhen begann auch der wirtschaftliche und technische Abstieg des chinesischen Imperiums (ebenda, 180). Sicher waren die wirtschaftlichen, technischen und politischen Strukturen Chinas den Europäischen im gesamten Mittelalter überlegen. Gleichwohl entwikkelten sich im Abendland zu dieser Zeit mächtige klerikale Wirtschaftsformen. Diese neue Wirtschaftsform des Abendlandes baute sich jedoch nur langsam auf. Es dauerte nach der Legalisierung des Christentums durch den Kaiser Konstantin im Jahre 313 n. d. Z. noch etwa 300 Jahre, bis es nach den antiken Imperien zunächst die Benediktiner (sechstes Jahrhundert n. d. Z.) und dann die Zisterzienser (elftes Jahrhundert n. d. Z.) vermochten, durch Regel- und Kontrollwerke 49
China unterhielt im 11. Jahrhundert ein weites Handelsnetzwerk und produzierte u.a. 125.000 Tonnen Stahl, was ca. einem Drittel der Britischen Stahlproduktion im Jahr 1820 (700 Jahr später!) entspricht (vgl. Moore / Lewis 2000, 169).
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
ein mächtiges Glaubens- und Wirtschaftsnetz zu spannen: „Die großen Mönchsorden waren Unternehmen in jeder Hinsicht – nur nicht dem Namen nach. Neben ihren religiösen Pflichten waren sie gigantische Wirtschaftsunternehmen: Schätzungen zufolge kontrollierten zurzeit der Reformation im sechzehnten Jahrhundert die Klöster ein Viertel bis ein Drittel des fruchtbaren Landes in Europa. Sie engagierten sich daneben auch im großen Stil in Produktion und Handel“ (Witzel 2002, 49). Bemerkenswert ist, dass für diese mittelalterlichen Ordens-Unternehmungen die konsequente Internationalisierung ihrer Aktivitäten ein wichtiger Erfolgsfaktor war. Der Zisterzienser-Orden hatte nach dem Modell der „harmonischen Dezentralisierung“ 750 Klöster in Europa aufgebaut (ebenda, 138). Zudem setzten die Mönchsorden Techniken zur Steuerung der internationalen Figurationen ein, die auch aus heutiger Sicht als modern bezeichnet werden können. So erkannte Benedikt von Nursia, geb. 480 n. d. Z., früh, dass es den Orden seiner Zeit an gemeinsamen Regeln und damit Disziplin fehlte, um einheitliche Glaubens- und Wirtschaftsziele zu verwirklichen. Folglich formulierte er die „Regeln des Heiligen Benedikt“, die dann in 73 Kapiteln das geistige Fundament einer schnell wachsenden Organisation darstellten. Trotz dieser Leitlinien und der Verstärkung der zentralen Steuerung der Benediktiner im zehnten Jahrhundert durch die „Reform von Cluny“ (um das Jahr 1000 n. d. Z.), laborierte der Orden letztlich an einem Problem: Die einheitliche Implementierung von Strategien, Leitlinien und Regeln im Sinne der Zentrale gelang nicht in hinreichendem Maße (ebenda, 136). Die zentral gesteuerte Kontrolle der vielen tausend Mönche war letztlich nur durch regelmäßige Besuche aus der Zentrale möglich. Diese reiseintensiven Steuerungsaktivitäten waren jedoch teuer und zeitaufwendig. Zudem fehlte eine wesentliche Komponente für die dezentrale Steuerung: die Begeisterung für die gemeinsame Idee (ebenda, 136).50 Im historischen Lernstrangg haben die Ordensgemeinschaften jedoch einige Fortschritte erzielt. Der 1539 von Inigo Lopez de Loyola gegründete JesuitenOrden, der heute in 128 Ländern tätig ist und 22.000 Mitarbeiter zählt, verfügt nicht nur über eine von Ignatius von Loyola ausgearbeitete Ordensverfassung, sondern über ein klares Regel- und Steuerungswerk, das von der Generalkongregation angeführt wird (vgl. Geiselhart 1997). Um diese Regel-, Kontroll- und Koordinationsapparaturen der Orden wirksam werden zu lassen, war und ist Netzwerkarbeit, d. h. umfangreiche Kommunikation, notwendig. Entsprechend ist nicht nur dokumentiert, dass Ignatius von Loyola 50
Unter anderen Begriffen (Travel Management, Corporate Identity) ringen die komplexen Figurationen international aufgestellter Großunternehmen 1.000 Jahre später noch mit ähnlichen Problemen wie die frühen Ordensfigurationen.
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selbst 7000 Briefe im Rahmen seiner die ganze Welt umspannenden Tätigkeit der Ordensleitung versandte (ebenda, 56), sondern bis heute die Generalkongregation in einer Tagung bis zu 700 Sachanträge aus der ganzen Welt diskutieren und die Ergebnisse kommunizieren muss (ebenda, 28). Soweit zeigt die erste Phase der Interdependenzentwicklung, dass besonders die Handelsbeziehungen, die über die Haus- und Dorfgemeinschaft hinausgingen, nach neuen Organisationsformen, Kommunikations- und Abstimmungstechniken, aber auch Regel- und Kontrollmechanismen verlangten, um hinreichende Stabilität und Sicherheit für das Wirtschaftsgeschehen zu gewährleisten. (vgl. Weber 1985, 226-233). Denn herrschten in einer dörflichen Gemeinschaft strenge Riten und Regeln für alle Formen des Tausches (vgl. Bourdieu 1979), auf die sich die Mitglieder dieser Figurationen verlassen konnten, verlangten die weiter gespannten und damit anonymeren ersten Staatsgebilde, Handels- und Ordensfigurationen entsprechend neue Regelwerke, die die Spielarten der Interdependenzen einschränkten und damit berechenbarer und steuerbarer machten. Die zweite Phase der Interdependenzentwicklung, in der sich die Dynamik und Komplexität weiter erhöhte, ist durch die europäische Staatenbildungg und Industrialisierungg geprägt. Für beide Entwicklungsstränge gab es in der ersten Phase der Interdependenzentwicklung sicher vielfältige Vorläufer. Mit der Herausbildung der (modernen) Staatsgebilde und der Industriellen Revolution veränderten sich jedoch die etablierten Figurationen zunächst in Europa so grundlegend und nachhaltig, dass hier der Begriff der historischen Transformation angemessen erscheint. Für diese Entwicklungsphase, die mit der Staatenbildung im 11. Jahrhundert in Europa begann, war ein soziales Phänomen von grundlegender Bedeutung: der sogenannte „Königsmechanismus“. Dieser Mechanismus beschreibt den langen Ausscheidungskampf der Feudalherren, der zur Herausbildung einer starken Zentralgewalt und damit zur Monopolisierung der Steuererhebung und der militärischen Gewalt führte (vgl. Elias 1976, 142-311). Den Verflechtungsmechanismus, der als treibende Kraft hinter der Entstehung der moderr nen Staatsmonopole in Europa stand, fasst Norbert Elias in seinem Hauptwerk „Über den Prozess der Zivilisation“ in einem einfachen Zitat zusammen: ‘“He didn’t want all the land; he just wanted the land next to his“‘ (Elias1976, 220). Die blutige Sprengkraft des hier von Elias einfach zusammengefassten Verflechtungsmechanismus drückte sich zur Hochzeit der Ausscheidungskämpfe in einer Vielzahl von Kriegen aus. Die Zahl der Kriege ging in Europa erst zurück, als die Staatsgebilde sich gefestigt hatten.51 51
„The percentage of wars that took place in Europe falls steadily from more than 80 per cent in Luard’s first sub-period (1400-1559) to just 9 per cent in his last
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Mit dem Staatenbildungsprozess zwischen dem 11. und 18. Jahrhundert verschob sich auch das Machtgefüge zwischen den wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen in Europa. Spielte im 11. und 12. Jahrhundert noch das Spannungsverhältnis zwischen feudalen Kriegern und Klerus die entscheidende Rolle, wurde in den folgenden Jahrhunderten das Verhältnis zwischen dem Adel und dem städtischen Bürgertum immer wichtiger. Dabei war der dritte Stand, das Bürgertum, für das sich etablierende Machtzentrum, den König, zunächst ein wichtiges Gegengewicht zu den anderen Adelshäusern (vgl. Elias 1976 254 ff.; Elias 1983a). Durch die Stärkung des Bürgertums kam jedoch eine ungeplante Dynamik und Veränderung der gesellschaftlichen Verflechtungen in Gang, die nachhaltig wirken sollte: „Die rascher fortschreitende Monetisierung und Kommerzialisierung des 16. Jahrhunderts gibt bürgerlichen Gruppen einen mächtigen Auftrieb; sie drückte das Gros der Kriegerschicht, den alten Adel, beträchtlich herab (ebenda, 243 f.). Aus den Machtverschiebungen in den Figurationen Europas seit dem 11. Jahrhundert sind somit zwei historische Entwicklungen hervorgegangen, die bis heute nicht nur Europa, sondern die Welt prägen: Der moderne Staat, basierend auf dem Steuer- und Gewaltmonopol, und die sich ab dem 16. Jahrhundert schnell entfaltende bürgerliche Kommerzialisierung der Gesellschaften. Wie eng verwoben sich beide Entwicklungsstränge durchsetzten, lässt sich anhand der Zunahme unabhängiger Staaten seit dem Siegeszug der staatlichen Monopolbildung im 17. und 18. Jahrhundert in Europa (vgl. Abb. 11) und bestimmter Strukturmerkmale dieser Staaten aufzeigen. World population (millions)
Number of countries
Average country population (million)
1871
1,416
64
22.1
1914
1,854
59
31.4
1920
1,946
69
28.2
1946
2,400
74
32.4
1950
2,478
89
27.8
1995
5,457
192
28.4
Abb. 11: The World population and the number of independent states since 1871 (Ferguson 2002, 380)
(1917-84)“ (Ferguson 2002, 29).
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
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Mit den sich etablierenden Staaten wurden die Regelungs- und Steuerungsapparaturen der Verwaltungen als Strukturmerkmal aufgebaut.52 Überall dort, wo sich eine Zentralgewalt herausbildete und damit den Königen die finanziellen, juristischen und militärischen Aufgaben zufielen, entstanden unweigerlich Amtsbereiche, die die Ausführungen der Anordnungen überwachen mussten (vgl. Jacoby 1984, 30). Nur so konnten die gewaltigen Interessensnetzwerke gesteuert und berechenbare – und besonders beherrschbare – Staatsfigurationen geschaffen werden. Eine tragende Säule der modernen Staatsfiguration, ohne die eine Funktionssicherung nicht denkbar gewesen wäre, war (und ist) das Steuermonopol. Die Funktionsfähigkeit des staatlichen Finanzsystems erfordert wiederum einen funktionierenden Staatsapparat. Niall Ferguson, der in seinem Werk „The Cash Nexus“ die Rolle des Geldes für die Staatenentwicklung vom 17. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts untersucht hat, stellt fest: „This book has emphasized the importance of four institutions as the bases of financial strength: a tax-collecting bureaucracy; a representative parliament; a national debt; and a central bank (Ferguson 2002, 418). Die fundamentalen Umbrüche im politischen und sozialen Gefüge leiteten auch das Ende der Feudalwirtschaft ein. Eine neue, zum Aufstieg der königlichen Staatsmonopole im 16. und 17. Jahrhundert passende Wirtschaftsform, musste nun den wachsenden Geldbedarf der Königshäuser decken. So entstand der stark militärisch geprägte Marinekapitalismus. Mit dieser zentral gesteuerten Form der Ausbeutung und des Handels beherrschte Spanien im 16. Jahrhundert einen großen Teil der westlichen Hemisphäre (vgl. Moore & Lewis 2000, 189). Parallel gelang es Portugiesen und Holländern weit gespannte Handelswege aufzubauen. Mit der Unterstützung der erstarkenden Zentralregierungen entstanden zur gleichen Zeit bedeutende „private“ Handelsimperien. Das herausragende Beispiel hierfür ist die Dutch East India Company. Um 1674 besaß die Dutch East India Company 140 Schiffe und beschäftigte 25.000 Mitarbeiter. Sie betrieb zwischenzeitlich mehr Handel in Asien als in Europa (ebenda, 192-199). Dennoch waren die Handelshäuser zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert nur staatlich gestützte Vorläufer einer wirtschaftlichen Entwicklung, die überkommene feudale Strukturen endgültig beseitigen und bald auch die königlichen Monopole in Frage stellen sollte. In den auch wirtschaftlichen Monopolisierungsprozess der höfischen Staatsgesellschaften brach im 18. Jahrhundert in vergleichsweise atembe52
Dieser Aufbau bürokratischer Strukturen ging schon vor dem Aufkommen des modernen Staates mit der Entstehung komplexerer Figurationen einher: „Bürokratie hat es überall dort gegeben, wo es Aufgaben für große Gruppen von Menschen in einem großen Raum zentral zu lösen gab“ (Jacoby 1984, 23).
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raubender Geschwindigkeit die Industrielle Revolution ein und veränderte nochmals radikal die Lebensweisen und damit die Interdependenzen. War bis ins 18. Jahrhundert in den europäischen Führungsschichten das „statusconsumption ethos“ vorherrschend, veränderte sich dies mit der Machtverschiebung zugunsten des Bürgertums und der Industriellen zum „saving-for-future-profit-ethos“ (vgl. Elias 1983a, 103). Der Ausgangspunkt für diesen ungekannt schnellen historischen Umbruch war England. Hier veränderte die Einführung des Fabriksystems im 18. Jahrhundert die unternehmerischen und gesellschaftlichen Muster, nach denen Werte geschaffen wurden: “The abundance and variety of these innovations almost defy compilation, but they may be subsumed under three principles: the substitution of machines – rapid, regular, precise, tireless – for human skill and effort; the substitution of inanimate for animate source of power, in particular, the introduction of engines for converting heat into work, thereby opening to man a new and almost unlimited supply of energy; the use of new and far more abundant raw materials, in particular, the substitution of mineral for vegetable or animal substances” (Landes 1987, 41). Mit der Erneuerung der Mittel und Wege zur Wertschöpfung änderte sich auch das Gefüge der Wirtschaft und Gesellschaft umbruchartig. Die neuen Fabriksysteme53 erhöhten nicht nur die Warenproduktion, sondern boten auch Lohn und Brot für mehr Menschen. Gleichzeitig wuchs die Bevölkerung, die um 1700 in England bei 6 Millionen lag, besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf 9 Millionen (ebenda, 46). Die Wirkungskraft der Industriellen Revolution zeigte sich jedoch nicht nur in der wachsenden Bevölkerung, sondern auch in den rasant wachsenden sozio-technischen Interdependenzen. Die Dynamik der wachsenden Verflechtungen spiegelte sich direkt in den sich stark ausdehnenden Bahnnetzen, zunächst in England, später in Deutschland, Frankreich und Russland, wieder (vgl. Abb. 1840 1860 1880 1900 12). United Kingdom France Germany Belgium Italy Russia
2411 410 469 334 20 -
16789 9167 11089 1729 2404 1626
28846 23089 33838 4112 9290 22865
36004 38109 51678 4562 16429 53234
Abb. 12: Bahnkilometer, 1840-1900 (Moore & Lewis 2000, 210) 53
Mit den sich ausweitenden Möglichkeiten, Waren schneller von A nach B zu transportieren, stieg auch der Bedarf, sich über diesen
„By factory is meant a unified unit of production (workers brought together under supervision), using a central, typically inanimate source of power. Without the central power, we have a manufactory” (Landes 1999, 186).
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Warenfluss zeitnah auszutauschen (vgl. Oberliesen 1987, 82-163). Zwischen 1850-1855 stieg die Zahl der gelieferten und bezahlten Depeschen in Europa – auch in Deutschland – sprunghaft an: von 120.000 im Jahr 1850 auf 910.000 im Jahr 1853 und schließlich zwei Jahre später auf 2.272.000. Spätestens mit der Ausbreitung des Telegrafiegeschäfts wurde die Organisation des Informationsflusses – je nach Grad der Liberalisierung – zu einem expandierenden Geschäft für den Staat und / oder private Firmen (ebenda, 107-122). Warum sich der Informationsverkehr während der zweiten Industriellen Revolution (ab 1850) in ungekanntem Maße ausweitete, wird verständlich, wenn wir den extremen Anstieg des zu dieser Zeit besonders durch England geprägten interkontinentalen Handels beachten. Zwischen 1800 und 1913 wuchs der interkontinentale Handel um 2500 Prozent; 60 Prozent dieses enormen Wachstums wurden durch Europa generiert (vgl. Moore & Lewis 2000, 210). Die verbesserten Transportmöglichkeiten zu Land und zu Wasser, die fallenden Transportkosten, aber auch die verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten schufen in der Phase der zweiten Industriellen Revolution die erste Weltwirtschaft – hauptsächlich für Agrarprodukte: „The growing interdependence of the world and the consequences of globalisation were felt in agriculture. Before free trade, railroads, telecommunications and the opening of the wheat fields of the Americas and Australia, most nations grew their own wheat. After 1850, though, ‘the world became’, according to Canadian economic historian C. Knick Harley, ‘a single market in bread grains’ (Moore & Lewis 2000, 211). Die revolutionäre Wirkungskraft der industriellen Figuration entfaltete aber nicht in England die größte Dynamik, sonder in den USA. Hier entwickelte sich nach 1865 in kurzer Zeit die reichste und mächtigste Nation. Die Bevölkerung verdreifachte sich zwischen 1850 und 1900 von 23 Millionen auf 76 Millionen. In den Fabriken steigerte die rasant zunehmende Bevölkerung die Industrieproduktion um 1.800 Prozent zwischen 1859 und 1914 und 3.300 Prozent zwischen 1859 und 1919 (ebenda, 227). Neben einigen Spezifika, die Lewis and Moore als Gründe für den schnellen industriellen Aufstieg der USA anführen (ebenda, 228), war letztlich das Zusammenspiel weniger fundamentaler Entwicklungen zu beobachten: Die mit dem starken Bevölkerungswachstum expandierenden Ansiedlungen in der großen geografischen Fläche verlangten nach Eisenbahnverbindungen. Dieses Eisenbahnnetz wuchs zwischen 1865 und 1915 von 64.000 Kilometer auf 420.000 Kilometer Länge und war damit umfangreicher als das gesamte europäische Netz. Der Bau des Eisenbahnnetzes steigerte den Bedarf nach Eisen, Stahl, Öl und Telegrafenverbindungen. Damit bildete auch für die zweite Entwicklungsphase der sozio-technischen Interdependenzen das Zusammenwirken von Bevölkerungs- und Interdependenzentwicklungen eine wichtige Antriebskraft, die den wirtschaftlichen und
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gesellschaftlichen Umbau beschleunigte. Getrieben von der stark wachsenden Bevölkerung und den sozio-technischen Interdependenzen beschleunigten sich auch andere Entwicklungen in der Industriellen Revolution ab 1850: Es entstand eine stärker wissenschaftlich geprägte Technik und Produktion, größere Unternehmen, neue Industrien, eine globale Agrarindustrie und effizientere Transport- und Kommunikationstechniken (vgl. Landes 1987, 193ff., 222). Die feudale Agrarwirtschaft war verschwunden und mit ihr ein großer Teil der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft; eine internationale, arbeitsteilige Industriegesellschaft, die nun einen großen Teil der Arbeitsplätze bot, war entstanden (vgl. zur langfristigen Entwicklung der Wirtschaftssektoren: Otto & Sonntag 1985, 82). Während sich die sozio-ökonomischen Lebensbedingungen in den Industrienationen deutlich veränderten – in Europa wuchs die Bevölkerung zwischen 1870 und 1910 von 290 auf 435 Millionen, die Produktivität und die Kaufkraft nahm zu, die Preise für Nahrungsmittel sanken (vgl. ebenda 241-243; 420) – wandelte sich die Wirtschafts- und Unternehmenslandschaft abermals. Im letzten Dritteln des 19. Jahrhunderts verlor die britische Wirtschaft ihre Vormachtstellung. Zum einen verlagerten sich die wissenschaftlich getriebenen Verbesserungen von Techniken und Prozessen nach Deutschland, die USA und Frankreich; zum anderen entstanden neue Industrien (Chemie, Elektrotechnik, Automobil), die entscheidend von Deutschland und den USA geprägt wurden (vgl. Kindleberger 1996, 125-148). Damit entstand eine internationale Konkurrenz, die den oben beschriebenen „Königsmechanismus“ variiert in der internationalen Wirtschaft zur Anwendung brachte: „The shift from monopoly to competition was probably the most important single factor in setting the mood for European industrial and commercial enterprise. Econonmic growth was now also economic struggle – struggle that served to separate the strong form the weak, to discourage some and toughen others, to favour the new, hungry nations at the expense of the old” (Landes 1987, 240). Besonders in den USA und Deutschland kam es in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. und den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Aufbau mächtiger internationaler Konzerne. John D. Rockefellers Standard Oil wurde bis 1906 so mächtig, dass der US-amerikanische Präsident Theodore Roosevelt die Aufteilung des Konzerns einleitete. Es entstanden daraus weitere Großkonzerne: Exxon, Chevron, Sohio, Amoco, Conoco and Sun (Lewis & Moore 2000, 229). Auch in Deutschland entstanden im aufkommenden internationalen Konkurrenzkampf, besonders in der Stahl- und Elektroindustrie, leistungsfähige Großunternehmen. So hatte die Allgemeine Elektrizitäts Gesellschaft (AEG) im Jahr 1900 120 Niederlassungen, davon aber nur circa ein Drittel in Deutschland (vgl. Lewis & Moore 2000, 245). Die aufkommenden internationalen Konzerne
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waren die Treiber und Gewinner der hohen Wachstumsraten des Welthandels, der in den Dekaden zwischen 1850 und 1890 durchschnittlich um 52,2 Prozent anstieg, dann für ein Jahrzehnt auf 25,8 Prozent zurückging, um in den beiden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg wieder um durchschnittlich 43,8 Prozent zu wachsen (vgl. Landes 1987, 366). Die ab 1914 in die boomende internationale Wirtschaft einbrechenden Weltkriege wirkten sich für die inzwischen gewaltigen weltweiten Wirtschaftsgeflechte regional und sektoral unterschiedlich aus. Das gerade thematisierte Wachstum des Welthandels brach ein und bewegte sich bis zum Ende des 2. Weltkrieges nur noch im einstelligen Bereich (ebenda, 366). Trotz des einbrechenden Welthandels verbreitete sich in den zwei stark industrialisierten Weltregionen, Europa und den USA, der zu dieser Zeit bedeutendste technische Treiber der gesellschaftlichen Vernetzungen: das Auto. Durch die kriegsbedingten Zerstörungen und die militärische Konzentration der wirtschaftlichen Infrastruktur verlief die Verbreitung des Autos in Europa doch vergleichsweise langsam. In den USA waren – nicht zuletzt getrieben durch das von Ford produzierte Model T, von dem bis 1926 bereits 15 Millionen Stück verkauft wurden – 1921 10 Mal mehr Autos registriert als in Europa insgesamt. Absolut setzte sich das „mobile Ungleichgewicht“ in den folgenden Jahren fort: Während in Europa (hier: U.K., Deutschland, Frankreich, Italien) zwischen 1923 und 1938 zehn Millionen Autos produziert wurden, waren es in den USA 57 Millionen (ebenda, 442). Auf diesem Feld der fortschreitenden Vernetzung der Menschen kam Europa, stark beeinflusst durch die zwei Weltkriege, auch in der Folgezeit langsamer voran als die USA. Die Dynamik der automobilen Vernetzung in den USA begründete auch nach dem Zweiten Weltkrieg einen weiteren gewaltigen Schub in der Vernetzungsdynamik. Im Jahr 1956 initiierte der US-amerikanische Präsident Dwight Eisenhower das bis dahin größte staatliche Bauprojekt der Geschichte, indem er für ein geschätztes Gesamtvolumen von 76 Milliarden USD 41.000 Meilen Interstate Highways bauen ließ. (vgl. Lewis & Moore 2000, 236). Die Anstrengungen der industrialisierten Volkswirtschaften, durch den intensiven Bau der Schienennetze (seit 1860) und den Bau der Straßen für den Autoverkehr (seit 1910) den Transport von Waren und die individuelle Mobilität zu fördern, wurde bald um ein bedeutendes Netzwerk ergänzt. Die Informations- und Kommunikationstechniken, die einen langen historischen Anlauf genommen hatten, nahmen seit 1880 einen rasanten Aufstieg. 54 Nach der langen Nutzungsgeschichte der Telegrafie waren die Erfindung des Telefons 1876 54
Die technischen Vorläufer bis zur Entstehung der modernen Telekommunikation, Mikroelektronik und Computertechnik gehen mindestens zurück bis zur Entstehung des Fackeltelegrafen 800 v.d.Z. bei den Griechen (vgl hierzu Otto 1985; Oberliesen 1987; Lindner u.a. 1988, Castells 2001).
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durch Bell, des Radios 1898 durch Marconi und der Vakuumröhre 1906 durch de Forest wichtige Meilensteine zum Aufbau der kommunikativen Vernetzung der Welt. Mit der Einführung des Telefons, Radios, Fernsehapparats und wegbereitender Erfindungen der Transporttechnik war der Weg für die dritte Phase der Interdependenzentwicklungg bereitet. Die informations- und kommunikationstechnische Entwicklung, die durch und nach den Weltkriegen noch einen technischen Reifungsprozess durchlief, sollte ab den 1970er Jahren die Welt grundlegend verändern.55 Doch bis es hierzu kam, sollten sich die Informationstechniken56 zwischen 1945 und 1970 zunächst in starker Überlappung mit den Ausläufern der zweiten Industriellen Revolution entwickeln. Diese Parallelität der Entwicklungen, das heißt der andauernde weltweite Siegeszug des industriellen Paradigmas und der gleichzeitige Aufstieg der Informations- und Kommunikationstechniken, war sicher ein Grund für die Schwierigkeiten, frühzeitig die Wirkungskraft der neuen Informations- und Kommunikationstechniken zu erkennen.57 Auch wenn die neuen Techniken ständig an Bedeutung gewannen, war die industrielle Produktion bis in die 1970er Jahre das maßgebliche Wertschöpfungsmodell. Somit war es auch das industrielle System, das zwischen 1947 und 1973 weiterhin durch starke Produktivitätszuwächse bestimmte, wie erfolgreich sich die Nationen im internationalen Wettbewerb positionieren konnten (vgl. Landes 1987, 497). Neben der andauernden Vorherrschaft des industriellen Produktionsmodells waren es die Verschiebungen im westlichen Wirtschaftsgefüge, auf die sich die Aufmerksamkeit der Manager konzentrierte.58 Denn mit der erstarkenden industriellen Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verschob sich die industrielle Achse von England in die USA. Flossen 1914 noch 45 % der ausländischen Direktinvestitionen nach England und jeweils 14 % in die USA und nach Deutschland, zogen 1980 die USA 40 % der ausländischen Direktinvestitionen an. Für England verblieben noch 15% (Moore & Lewis 2000, 266). Diese für die wirtschaftliche Entwicklung bedeutende Verschiebung zwischen 55
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Castells geht in seinem umfassenden Werk „Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft“ so weit, den Zweiten Weltkrieg als „die Mutter aller Technologien“ (Castells 2001, 45) zu bezeichnen. Informationstechnik wird hier verstanden als die Gruppe der konvergierenden Technologien in den Bereichen Mikroelektronik, Computer (Hardware und Software), Funk und Telekommunikation und elektronische Optik (vgl. Castells 2001, 32). Am konsequentesten realisierte nach 1956 wohl das japanische MITI (Ministry of International Trade and Industry) die Bedeutung der neuen Computertechnik und wirkte durch die Steuerungsaktivitäten auf diesem Feld an dem industriellen Aufstieg Japans nach dem zweiten Weltkrieg mit (vgl. Lewis & Moore 2000, 254ff.). Eine breiter angelegte Untersuchung über die Transformationsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts müsste sicher die politisch, militärische und wirtschaftliche Ost-West-Konfrontation stärker berücksichtigen.
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der alten und neuen westlichen Welt war eine wesentliche Veränderung im globalen Wirtschaftsgefüge. Doch die Verschiebungen der weltwirtschaftlichen Einflusszentren ereigneten sich nicht nur entlang der europäisch-amerikanischen Achse. Nach der militärischen Niederlage 1945 gab es nicht nur das deutsche „Wirtschaftswunder“, sondern auch den erstaunlichen Aufstieg Japans zur Wirtschaftsmacht. Japan, das sich erst in der Revolution 1867-68 und unter der Herrschaft Meijis aus der feudalen Samurai-Kultur gelöst hatte, bewältigte die militärische Niederlage 1945 mit der noch lebendigen kollektiven Kultur (Landes 1999, 372-391). Mit einer eigenen Form eines paternalistischen Kapitalismus, in dem der Staat, organisatorisch verlängert durch das MITI (Ministry of International Trade and Industry) und die Banken, die Unternehmen mit ihrem straffen Steuerungssystem aus shikata (Prozessen) und kata (Regeln) unterstützte, gelang Japan ein 45 Jahre währender Aufstieg (Moore & Lewis 2000, 251-263). Im Zuge dieses Aufstiegs forderte Japan bald die USA in den alten und neuen Industrien heraus: Zunächst stieg Japan 1974 zum führenden Autoexporteur auf, um ab 1980 die USA auch als Produzent zu überholen. Die Führungsposition der USA bei der Herstellung von Radios, Telefonen und Fernsehapparaten wurde gleichfalls von Japan attackiert (ebenda, 255). Der Anstieg der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit war rasant: „The Japanese GNP in 1950 was $10 billion and by 1955 $ 20 billion. In 1965, it reached $100 billion and by 1970 $ 200 billion. It climbed to $ 300 billion in 1975 and by 1978 reached almost 450 billion“ (ebenda, 255). Aber die Verschiebung der wirtschaftsgeografischen Schwerpunkte der Investitionen in die USA, der Aufstieg Japans und die Genesung Europas bedeuteten nicht, dass damit die industrielle Produktion, die sich ausweitende informationstechnische Infrastruktur und das globale Wirtschaftsnetz für einen längeren Zeitraum ihr Gefüge gefunden hatten. Wahrscheinlich ist die Beschreibung angemessener, dass die wirtschaftlichen Achsen sich vorübergehend dorthin verschoben hatten, wo die größte Beschleunigungskraft für die anstehenden historischen Transformationsprozesse vorhanden war. Von diesen Achsen ausgehend wurde das weltweite Wirtschaftsnetz enger gewoben und die Transformation in neue Industrien eingeleitet. Seit den 1970er Jahren rückten besonders die Elektronik-, Luftfahrt-, Computer-, Software- und Unterhaltungsindustrie in den Mittelpunkt.59 Die neuen Industrien trieben kraftvoll die dynamische Entwicklung der globalen Vernetzung voran: 59
Während die US-Produktivität in den Zeiträumen 1972-95 und 1995-99 zum Beispiel in den Nicht-Computer Branchen nur noch um 1,88% bzw. 1,82% pro Jahr stieg, erhöhte sie sich in der Computerbranche um 17,83% bzw. 41,70% pro Jahr (vgl. Castells 2004, 100).
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
„By 1970 over 1200 US firms had opened branches in Europe, Canada and Latin America. Jet airlines, telexes, satellite communications, fax machines and cheap long-distance rates let executives travel overseas at will and helped them easily manage huge transoceanic enterprise. Global direct investment grew at an unprecedented rate, from $90 billion in 1960 to over $500 billion by 1980 and perhaps as much as $2.2 trillion by 1993” (ebenda, 266). Nicht nur in den ausländischen Direktinvestitionen, sondern auch in den grenzüberschreitenden Anleihen und Anteilen drücken sich die seit den 1970er Jahren rasant zunehmenden globalen Interdependenzen aus. Auf diesem Gebiet der Finanzmärkte zirkulieren heute Milliarden US-Dollar in Sekunden um den Globus und die Summen sind auf noch vor 20 Jahren kaum vorstellbare Größenordnungen angestiegen (vgl. Abb. 13).
USA Japan Deutschland Frankreich Italien Vereinigtes Königreich Kanada
1970 2,8 3,3 5,7
(in Prozent vom BIP) 1975 1980 1985 4.2 9,0 35,1 1,5 7,7 63,0 5,1 7,5 33,4 8,4 21,4 0,9 1,1 4,0 367,5 3,3 9,6 26,7
1990 89.0 120,0 57,3 53,6 26,6 690,1 64,4
1996 151,5 82,8 186,8 229,2 435,4 234,8
Abb. 13: Die grenzüberschreitenden Transaktionen in Anleihen und Anteilen, 19701996 (Castells 2001, 109)
Die Dynamik der weltweiten Wirtschaftsnetze hat seit den 1970er Jahren erneut eine umbruchartige Veränderung der internationalen, nationalen, regionalen, städtischen und unternehmerischen Figurationen eingeleitet. Es spricht viel dafür, dass die seit den 1970er Jahren stattfindenden Umbrüche ähnlich grundlegend und weitreichend sind wie die Auswirkungen der Industriellen Revolution. Die Merkmale der neuen Wirtschaft herauszuarbeiten ist jedoch nicht leicht: Der historische Zug hat eine ungekannte Geschwindigkeit aufgenommen. Einen unverzerrten Blick auf die sich schnell verändernde Landschaft zu bekommen ist für alle Insassen des Zuges schwer. So stellt Castells in seinen Vorbemerkungen zu dem zurzeit wohl umfangreichsten Werk zur Netzwerkgesellschaft fest: „Dieses Buch war zwölf Jahre lang im Entstehungsprozess, während meine Forschung und mein Schreiben versuchten, mit einem Studienobjekt gleichzu-
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
69
f higkeit“ (Castells 2001, ziehen, das sich schneller ausdehnte alsmeine Arbeitsfä XXVIII). Was sich immer schneller ausdehnt und sich selbstt beschleunigt, sind – auch nach Castells Analyse – die sozio-technischen Interdependenzen. Es sind die globalen Netzwerke der Finanzwelt, der Produktion, der Wissenschaft und Technologie, der Politik, der Kultur, der Religion und des Militärs. Castells reflektiert auf einer fundierten Datengrundlage die Entwicklungen dieser Interdependenz. Neben vielen detaillierten Einsichten in die Veränderung der sozioökonomischen Netzwerke im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts fasst er auch zusammen, wodurch die seit den 1970er Jahren entstehende Wirtschaftsform wesentlich geprägt ist:60 „Diese Wirtschaftsform ist informationell, weil die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit von Einheiten oder Akteuren in dieser Wirtschaft – ob es sich um Unternehmen, Regionen oder Nationen handelt – grundlegend von ihrer Fähigkeit abhängig ist, auf effiziente Weise wissensbasierte Informationen hervorzubringen, zu verarbeiten und anzuwenden. Sie ist global, weil die Kernfunktionen der Produktion, Konsumtion und Zirkulation ebenso wie ihre Komponenten – also Kapital, Arbeit, Rohstoffe, Management, Information, Technologie, Märkte – auf globaler Ebene organisiert sind, entweder unmittelbar oder durch ein Netzwerk von Verknüpfungen zwischen den wirtschaftlichen Akteuren. Sie ist vernetzt, weil unter den neuen Bedingungen Produktivität durch ein globales Interaktionsnetzwerk zwischen Unternehmensnetzwerken erzeugt wird, in dessen Rahmen sich auch die Konkurrenz abspielt“ (ebenda, 83). Die materielle Grundlage für die Entwicklungsrichtungen der sozio-technischen Interdependenzen sieht Castells in der informationstechnischen Revolution (vgl. ebenda). Die Informationstechniken sind Castells Interpretation folgend auch der Schlüssel für die wirtschaftliche Entwicklung seit den 1970er Jahren. Und tatsächlich lässt sich eine Parallelität zwischen der Verbreitung und Nutzung der Informationstechniken und dem wirtschaftlichen Erfolg von Einkommensgruppen und Nationen nachweisen (vgl. Abb. 14 u. 15). Dieser parallele Verlauf von Informationstechnik und Wohlstandsniveau sollte jedoch nicht zu der Annahme verleiten, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen sich mit einem einfachen technologischen Determinismus angemessen erklären las60
Zu einer weitgehend deckungsgleichen Charakterisierung der entstehenden Wirtschaftsformen kamen – mit erstaunlich prognostischer Treffsicherheit – Peter Drucker in seinem 1968 veröffentlichen Werk „The Age of Discontinuity“ (vgl. Drucker 1968) und Daniel Bell in der 1973 veröffentlichten Arbeit „The Coming of Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting“ (vgl. Bell 1973).
70
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Distribution by economic classification, 2001 % 100 80 60 40 20 0 Telephones Low income Lower middle
Mobile
Internet
Upper middle High income
Internet and Wealth Relationship between Internet (users per 100 inhabitants) and wealth (GNP per capita) Internet penetration, 2000 100 10 1,0 0,1 0,01 0 $ 100
$ 1.000
$ 10.000
$ 100.000
GNP per capita, US$,1999 Note: Bottom chart: Logarithmic scales. Each dot represents one economy. GNP is in terms of purchasing power parity. Abb. 14: Der Zusammenhang zwischen Informationstechnologie und Wohlstand (ITU World Telecommunication Indicators Database, 2001)
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
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sen. Es ist ohne Zweifel erstaunlich, welche Dynamik und Prägekraft das exponentielle Wachstum der Informationstechnologie aufweist: „Gemessen etwa an Preis-Leistungs-Verhältnis, Bandbreite, Speichervermögen, verdoppeln wir ihre Leistung nahezu jährlich. Das entspricht einem Faktor von 1000 in 10 Jahren, von einer Million in 20 und einer Milliarde in 30. [...] Und dies ist die Technologie, auf die wir unser Augenmerk richten müssen. Letzten Endes wird alles, was Wert hat, zur Informationstechnologie: unsere Biologie, Gedanken und Denkprozesse, Fabriken und vieles andere“ (Kurzweil 2006, 101f). Aber, entgegen diesen Interpretationen der Entwicklungen durch den amerikanischen Technologie-Propheten Ray Kurzweil, ist aus der hier vertretenen Sicht nicht die Technik an sich der Schlüssel zum Verständnis sich abzeichnender Veränderungen, sondern die Einbindung der Techniken in die sozio-technischen Interdependenzen.61 Diese Lesart der jüngsten Geschichte unterstützt auch Daniel Bell in seinem prognosesicheren Klassiker über die nachindustrielle Gesellschaft, wenn er schreibt: „Der wirkliche Schrittmacher des Wandels aber waren nicht diese verschiedenen technologischen Errungenschaften, sondern die zunehmende Verdichtung des sozialen Systems, die zur Eingliederung bislang abgeschnittener Regionen und isolierter Volksklassen in die Gesellschaft und durch umwälzende Neuerung im Kommunikations- und Transportwesen zu einer beträchtlichen Aktivierung der Kontakte und zwischenmenschlichen Beziehung geführt hat“ (ebenda, 52). Bell fasst mit seiner Wendung der „zunehmenden Verdichtung des sozialen Systems“ die Konsequenzen aus der Bevölkerungsentwicklung und Urbanisierung während der Industriellen Revolutionen treffend zusammen. Weiter beschreibt er mit den Formulierungen „Einbindung bislang abgeschnittener Regionen“ und „beträchtlichen Aktivierung der Kontakte“ nicht nur die Wirkung von Transport und Kommunikationstechniken, die bis 1970 eingeführt wurden, sondern nimmt auch die spezifischen Wirkungen von zwei Techniken vorweg, die er 1973 noch nicht im Blick haben konnte: des Internets und des Mobiltelefons. Wirkungen, wie die Abbildung 15 zeigt, die aber nur dort eintreten können, wo die Figurationen ökonomisch und / oder politisch und / oder kulturell bereit sind, die Techniken aufzunehmen.62 61
62
Dies betont auch Castells (vgl. Castells 2001, 5) sowie andere Autoren, die sich mit den langfristigen Entwicklungen sozio-technischer Interdependenzen beschäftigt haben (vgl. Ribeiro 1983, Mumford 1986, Landes 1987 u. 1999, Kindleberger 1996). Zum Beispiel unterliegt die Internetnutzung gegenwärtig im Iran religiös motivierten und in China politisch motivierten Restriktionen.
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
The telephone gap shrinks... Total fixed lines and mobile users per 100 Inhabitants 100 The gap between Developed and Emerging is narrowing... 10 ... but the gap between Emerging and LDC is growing 1
0,1 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 Developed
Emerging
LDC
But the Internet gap grows ... Share of the world‘s Internet users % 25 20 15 10 5 0 1995
1996 China
1997
1998
other emerging
Note: Top chart is logarithmic. Developed refers to the European Union, Iceland, Norway, Switzerland, Canada, United States, Japan, Australia, New Zealand, Hong Kong
1999
2000
2001
LDCs
SAR, the Republic of Korea, Singapore and Taiwan-China. LDC refers to the 49 least developed countries. Emerging refers to all other countries.
Abb. 15: Die Nutzungsunterschiede beim Telefon und Internet (ITU World Telecommunication Idicators Database, 2001
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
73
In den Regionen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens, die eine notwendige sozio-ökonomische Ausgangsbasis boten, konnten die neuen Kommunikationstechniken, auch wenn die Kontaktpunkte durch das Festnetztelefon noch begrenzter waren, die Vernetzung erhöhen. Deshalb ist die Feststellung der International Telecommunication Union: „We found the missing link: It‘s mobile communication“ (International Telecommunication Union, 2002) zumindest für die „Emerging Countries“ zutreffend. In den LCDs (least developed countries) fehlt es jedoch an den sozio-ökonomischen Voraussetzungen (technische Infrastruktur, Bildungsniveau, Urbanisierung etc.), um an der Informationstechnischen Revolution teilnehmen zu können. Insofern ist die Welt bis heute nicht ein vernetztes Dorf, wie der Medienwissenschaftler Herbert Marshall McLuhan dies in den 1960er Jahren voraussagte. Vielmehr ist sie – wie oben im Text aufgezeigt – nicht nur demografisch, sondern auch informationstechnisch geteilt. Der eine Teil der Weltbevölkerung ist bitterarm. Dieser Teil der Weltbevölkerung hat weder von der Industriellen Revolution profitiert, noch zeichnet sich ab, dass er akzeptabel schnell in die Informationstechnische Revolution eingebunden werden wird.63 Der andere Teil der Weltbevölkerung ist zu einem großen Teil wohlhabend, arbeitet mit ungekannter Geschwindigkeit an dem Ausbau der globalen Vernetzung und ist auf dem Weg in die Wissensgesellschaft. Für den reicheren Teil der Weltbevölkerung führt die bisher letzte historische Transformation zu einer globalen, stark vernetzten Arbeitsteilung, die in Zukunft die Rahmenbedingungen des strategischen Wettbewerbs für die Unterr nehmen darstellt. Für die entstehende globale Arbeitsteilung gibt es gegenwärtig zwei wesentliche Gründe: Erstens ist in den etablierten Industrieländern die tayloristisch-fordistische Erfolgsmaschine ins Stocken geraten. Dieser Abrieb in der Produktivität in den etablierten Industrieländern ist seit den 1970er Jahren zu beobachten (vgl. Hirsch & Roth 1986; Castells 2004, 83-172). Zweitens wird der Transformationsdruck auf die etablierten Industrieländer und Unternehmen durch die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit der industriellen Nachzügler verstärkt. Besonders China und Indien drängen mit gewaltigen Produktionskapazitäten (2,5 Mrd. Bevölkerung) auf den Weltmarkt. Damit formen diese beiden Länder einen neuen und dynamisch wachsenden Teil des weltweiten Industrie- und Servicemarktes: China konnte zwischen 1990 und 2003 den Anteil des Industriesektors am Bruttoinlandsprodukt (GDP) von 41,6 % auf 52,3 % erhöhen. Indien gelang eine vergleichbare Entwick63
Die Einschätzung zur Erreichung der UN Millennium Development Goals, die zur abgestimmten Bekämpfung der Armut formuliert wurden, fällt skeptisch aus (vgl. Sachs 2005). Alternativ diskutiert C.K. Prahalad in „The Fortune at the Bottom of the Pyramid“ marktwirtschaftliche Lösungsansätze für Länder und Bevölkerungsgruppen, die zurzeit an der wirtschaftlichen Entwicklung kaum partizipieren (vgl. Prahalad 2005).
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
lung in der Serviceindustrie: hier erhöhte sich der Anteil des Servicesektors am Bruttoinlandsprodukt von 40,6% im Jahr 1990 auf 50,8% in 2003 (vgl. FT 01.09.2004, 13). In vielen Bereichen der standardisierten Massenproduktion von Serviceleistungen (z. B. Call-Centern) oder Industrieprodukten, in denen auch die etablierten Industrienationen noch aktiv sind, profitieren die „latecomer“ in den nächsten Jahren von den relativ hohen Lohnkosten der fortgeschrittenen Industrieländer.64 Vor diesem Hintergrund ist es generell fragwürdig, ob die etablierten Industrieländer perspektivisch mit den industriellen Nachzüglern in der industriellen Massenproduktion und bestimmten Bereichen der arbeitskräfteintensiven Serviceleistungen konkurrieren können. Die wirtschaftlichen Schwerpunkte der etablierten Industriestaaten, und damit das gesamte Gefüge ihrer privaten und öffentlichen Organisationen, wird sich verschieben (müssen). Zum einen wird die historisch neue Form der internationalen Arbeitsteilungg dazu führen, dass Unternehmen in den etablierten Industrienationen ihre Produktionsschwerpunkte verlagern oder aufgeben. Zum anderen müssen die etablierten Industrieländer die Regeln, Instrumente und Verfahren anderer Wirtschaftszweige (u. a. Informationstechnik, Medizintechnik, Robotik, Nanotechnologie, Biotechnologie), die teilweise neue Kerne der Wissensgesellschaft bilden können, lernen und wertschöpfend einsetzen. Dabei ist es im Konkurrenzkampf zwischen den etablierten Industriestaaten und den aufstrebenden Nationen besonders in Asien noch nicht entschieden, wer in diesen neuen Kernbereichen der Wissensproduktion mittelfristig die wirtschaftliche Vormachtstellung einnehmen kann. Erstmals in der Wirtschaftsgeschichte verschiebt sich damit nicht einfach die Achse der wirtschaftlichen Vormachtstellung. Der Umbau der weltweiten Wirtschaftsfiguration erfolgt am Anfang des 21. Jahrhunderts nach modifizierten Regeln. Forschung, Entwicklung, Produktion, Logistik und Konsumption erfolgen in einer globalen Arbeitsteilung, die sich unter dem Druck des weltweiten Wettbewerbs formiert. Und da die Vernetzungen, in denen dieser Wettbewerb stattfindet, weiter zunehmen, wächst auch die Geschwindigkeit, mit der sich die Gesamtfiguration verändert. In dieser ungeplanten Dynamik der Weltwirtschaft bleibt den „Mitspielern“, den konkurrierenden Nationen und Unternehmen, immer weniger Zeit, ihre Wettbewerbspositionen einzunehmen und profilierte zu verteidigen. Damit ist die Wirkungskraft der soziotechnischen Interdependenzen als nachhaltiger Veränderungstreiber allerorts präsent. 64
Die Lohnkosten und Arbeitsbedingungen in China und Indien sind zum Teil mit der europäischen Frühindustrialisierung vergleichbar. Nur in China gibt es zurzeit ca. 100 Millionen Wanderarbeiter (vgl. FT27.09.2004, Future of Work , 4). In den alten Industrienationen entfallen hingegen 70% der Kosten eines Unternehmens auf Arbeitkosten und nur 30% auf das Kapital (vgl. McKinsey Global Institute in FT 27.09.2004, Future of Work).
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
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2.1.3 Soziale Beziehungen Die Entwicklungsphasen für die beiden nachhaltigen Veränderungstreiber Demografie und sozio-technische Interdependenzen konnten hinreichend klar herausgearbeitet werden. Die Bevölkerungsstatistiken und die Daten zu den sich ausweitenden und gleichzeitig enger werdenden Interdependenzen reduzieren damit die Beliebigkeit bei der Interpretation der Entwicklungsrichtungen erheblich. Auch wenn es bei einzelnen Fragen, zum Beispiel der Generalisierbarkeit des Modells des demografischen Übergangs oder der spezifischen Rolle der Technik in den Veränderungsprozessen, durchaus Interpretationsspielräume gibt, lassen sich die wesentlichen Entwicklungstendenzen doch eindeutig aufzeigen. Mit dem dritten nachhaltigen Veränderungstreiber, den sozialen Beziehungen, verhält es sich zum Teill anders. Ohne Zweifel verändern sich mit der Bevölkerungsentwicklung und der Transformation der sozio-technischen Verflechtungen auch die sozialen Beziehungsstrukturen. Dies lässt sich – wie unten im Text aufgezeigt wird – für die jüngere Geschichte gleichfalls mit repräsentativen Daten nachweisen. Wie eindeutig sich aus den Daten, die Veränderungen in sozialen Beziehungsstrukturen aufzeigen, auch die Veränderung des Denkens, Fühlens und Handelns ablesen lässt, ist jedoch weiterhin umstritten. Die Erklärungsansätze, wie sich Denk- und Fühlmuster entwickeln, wodurch sie verändert werden können und wann sie wie in beobachtbaren Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen, sind ähnlich vielfältig wie die Führungsmodelle und -theorien.65 Wie sich die wissenschaftstheoretischen Probleme bei der Untersuchung der sozialen Beziehungen auswirken, zeigt eindrucksvoll die wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen den Zivilisationsforschern der Eliasschen Schule auf der einen Seite und den Positionen des Ethnologen Hans Peter Duerr auf der anderen Seite. Während die Eliassche Schule in entwicklungssoziologischen und -psychologischen Studien aufzeigen konnte, wie sich aus den Veränderungen der sozialen Verflechtungen auch erkennbare Entwicklungsrichtungen der Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards ergeben (zum Beispiel die Ausdifferenzierung der Selbstkontrolle, die Psychologisierung, die Rationalisierung, die Individualisierung und Informalisierung), versucht Duerr die Entwicklungsstränge in seinen Werken zu widerlegen. Die von 1988 bis dato geführte Diskussion auf der Grundlage umfangreicher empirischer Forschung auf beiden Seiten erinnert in der Gesamtschau an eine Feststellung des renommierten Wissenschaftstheoretikers Thomas S. Kuhn66: 65 66
In dem Kapitel zur Führungspersönlichkeit wird das hier favorisierte Erklärungsmodell zur Entstehung und Entwicklung von Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards diskutiert. Vgl. auf Seiten der Zivilisationstheorie unter anderem die Arbeiten von König 1988, Schröter 1990, Rehberg (Hrsg.) 1996; auf Seiten Duerrs die zwischen 1988 und 2002
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„Der Wissenschaftler, der sich ein neues Paradigma zu eigen macht, ist weniger ein Interpret, als dass er einem gleicht, der Umkehrlinsen trägt. Er steht derselben Konstellation von Objekten gegenüber wie vorher, und obwohl er das weiß, findet er sie doch in vielen ihrer Einzelheiten durch und durch umgewandelt“ (Kuhn 1976, 134). Hans Peter Duerr vermittelt seine Analysen der historischen Materialien ausführlich und differenziert. Leider gelingt es ihm nicht, nach dem ausgedehnten Blick durch seine Umkehrlinse in Abgrenzung zur Zivilisationstheorie auch ein Erklärungsgerüst zu entwickeln, mit dem sich die Entwicklungen gegenwärtiger Verhaltensstandards in Beziehungen stimmig beschreiben lassen. Der Versuch, die zivilisatorischen Entwicklungsstränge als Mythos zu entlarven, reicht hierzu nicht aus.67 Um die Entwicklungsrichtungen der sozialen Beziehungen zu verstehen, bedarf es eines über die häufig emotionalisierenden Alltagstheorien hinausgehenden Bezugsrahmens. Diesen Bezugsrahmen liefern die Figurations- und Zivilisationsforscher. Duerrs fundierten Arbeiten kann hingegen der wichtige Hinweis entnommen werden, die beobachteten Entwicklungen sozialer Beziehungen nicht evolutionistisch, eurozentristisch und idealisierend zu beschreiben. Beiden akademischen Richtungen ist gemein, dass sie keine durchgängige Parallelität in den Entwicklungen der sozialen Beziehungen einerseits und der Entwicklung der Weltbevölkerung und der sozio-technischen Interdependenzen andererseits sehen. Grundlegende Charakteristika von Beziehungsstrukturen, zum Beispiel die Machtverteilungen, waren mit den historischen Veränderungen der Figurationen zu starken Schwankungen unterworfen, um über die letzten zwei Jahrtausende weitgehend ungebrochene Entwicklungslinien zeichnen zu können (vgl. Elias 1986, 428). Jedoch lassen sich mit der Herausbildung der modernen Staaten sowie häufigeren und längeren Friedenszeiten zumindest für die westlichen Industrieländer seit dem 19. Jahrhundert deutliche Entwicklungstendenzen in den sozialen Beziehungen erkennen. Ob und inwieweit diese Entwicklungstendenzen sozialer Beziehungen auch in anderen Weltregionen im Rahmen der Industrialisierung, Globalisierung und Vernetzung der Welt zu beobachten sind, müsste an anderer Stelle noch intensiver untersucht werden.68 Grundlegende Entwicklungstendenzen sozialer Beziehungen, die spätestens
67
68
erschienen fünf Bände über den „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ (vgl. Duerr 1988, 1990, 1993, 1997, 2002). Hans Peter Duerr widmet den vierten Band seines Buchs „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ dem erkenntnistheoretischen Anarchisten Paul Feyerabend, was vielleicht erklärt, warum Duerr seine Umkehrlinse gegen die Eliaschen Theorie wendet ohne selbst einen Orientierungsrahmen aufzulegen (vgl. Feyerabend 1980; 1983). Einige unten angeführte Entwicklungsstatistiken, zum Beispiel zur Qualifikation und der Erwerbsquote von Frauen, verweisen darauf, dass es weltweit ähnliche Entwicklungstendenzen gibt.
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seit dem 19. Jahrhundert in den westlichen Industrieländern erkennbar sind, werden auf den folgenden Seiten skizziert. Dabei wird berücksichtigt, dass es in der Managementforschung bisher wenig verbreitet ist, diesen nachhaltigen Veränderungstreiber mit den Anforderungen an die Führung in Unternehmen zu verknüpfen.69 Deshalb wird schon bei der Vorstellung der Entwicklungstendenzen durchgängiger als bei den anderen Veränderungstreibern thematisiert, wie sich die gesellschaftlichen Entwicklungen sozialer Beziehungen auch auf die Beziehungen in Unternehmen auswirken. Das Hauptziel dieses UnterDie Beziehungen kapitels ist es jedoch, die soziI. alen Beziehungen als nachhalzwischen tigen Veränderungstreiber zu Älteren und Jüngeren erschließen. II.
zwischen Männern und Frauen
III.
zwischen höher und niedriger stehenden Individuen IV.
zwischen näher und ferner stehenden Individuen V.
des Menschen zu sich selbst
Abb. 16: Zentrale soziale Beziehungstypen, (vgl. Krumrey 1982, 194; 1984, 196) 69 70
Der Anspruch, die sozialen Beziehungen als nachhaltigen Veränderungstreiber zu beschreiben, stößt unweigerlich auf die große Variabilität sozialer Beziehungen. Damit besteht ohne eine konsequente Systematisierung die Gefahr der Unübersichtlichkeit. Zur Systematisierung der vielfältigen „Spielarten“ sozialer Beziehungen hat Horst-Volker Krumrey in einer umfangreichen Untersuchung zu den Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden70 eine einfache, aber umfassende Typisierung vorgeschlagen (Abb. 16). Die Systematik der sozialen Beziehungstypen dient auf den folgenden Seiten dazu, die Entwicklungstendenzen
Auch Simon kritisiert den Mangel an „historisch-langfristiger Herangehensweise“ in diesem Zusammenhang (vgl. Simon 2004, 16). Krumrey hat die Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandards auf der Grundlage von Anstands- und Manierenbüchern für den Zeitraum 1870 bis 1970 untersucht (Krumrey 1984). Eine Zusammenfassung mit repräsentativen Zitaten liegt vor in: Krumrey 1982.
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übersichtlich zu beschreiben. Allerdings reicht die Typisierung der Beziehungen nicht aus, um die Frage zu beantworten, welche Veränderungsrichtungen die sozialen Beziehungen aufweisen. Um die zu leisten, müssen die Veränderungen wesentlicher Komponenten sozialer Beziehungen untersucht werden. Damit stellt sich die Frage, welche Komponenten in den sozialen Beziehungen besonders relevant sind? Da sich soziale Beziehungen in der Regel verändern, wenn sich das Machtgefüge zwischen den Akteuren verschiebt, wird hier zur Sichtung der Entwicklungstendenzen sozialer Beziehungstypen auf die Machtbalancen fokussiert.71 Hierzu wird auf ein Machtquellenmodell der I. Figurationstheorie zurückPhysische Machtquellen gegriffen. Diesem Ansatz (Mittel der physischen Gewalt) folgend können die Entwicklungstendenzen in den sozialen Beziehungstypen II. über fünf Haupttypen Ökonomische Machtquellen menschlicher Machtquel(Mittel zur Befriedigung ökonomischer Bedürfnisse) len erschlossen werden (Abb. 17). III.
Affektive Machtquellen (Mittel zur Befriedigung affektiver Bedürfnisse)
IV.
Positionale Machtquellen (Mittel der sozialen Macht durch zugeschriebene oder erworbene soziale Positionen) V.
Wissensmäßige Machtquellen (Mittel der sozialen Macht durch Wissen)
Abb. 17 Haupttypen menschlicher Machtquellen, (vgl. Elias 1981, 70-75; Krumrey 1982, 199)
Beide Analyseinstrumente, die zentralen sozialen Beziehungstypen und das Modell der Machtquellen, sollen genutzt werden, um in groben Zügen die Entwicklungsrichtungen der sozialen Beziehungen aufzuzeigen. Dabei folgt die Bearbeitung der oben angeführten Reihenfolge der sozialen Beziehungstypen. Zur Verdeutlichung der Tendenzen werden für jeden Beziehungstyp:
im ersten Schritt die Entwicklungstendenzen zusammengefasst; die Entwicklungstendenzen durch Zitate von Krumrey oder durch andere Beispiele, die die Verhaltenserwartungen in den Entwicklungsphasen repräsentativ widerspiegeln, belegt; 71
Einen Überblick zur hier relevanten Machtforschung bietet Neuberger 1995b, 52-74.
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79
die weiteren Verläufe der diagnostizierten Entwicklungstendenzen durch die Diskussion von Prozessen und Statistiken, die mit der Veränderung der Beziehungstypen zusammenhängen, umrissen.
Zu I. Entwicklungstendenzen in den Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren Die Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren zeigen eine Verschiebung der Machtchancen zugunsten der Jüngeren. Die jüngere Generation hat einen früheren und breiteren Zugang zu ökonomischen, positionalen und wissensmäßigen Machtquellen. Die Herrschafts- und Orientierungsfunktionen der älteren Generation haben dadurch teilweise an Kraft verloren. Der mächtigste Treiber für die Veränderung der Machtbalance zwischen Älteren und Jüngeren liegt in der Neugestaltung der sozialen Beziehungsgeflechte im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Besonders schafft die gesellschaftliche Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft neue Regeln für den Umgang mit der Wissensgenerierung, -vermittlung und -nutzung. Die veränderte Bedeutung des aktuellen Wissens führt auch in den Unternehmen zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Älteren und Jüngeren. In zwei repräsentativen Zitaten aus den Jahren 1915 und 1963 spiegeln sich die generellen Veränderungen in der sozialen Beziehung zwischen Älteren und Jüngeren in den Erwartungen an das Kommunikationsverhalten wider: „1915: ‚Wenn Ältere reden, hat die Jugend darauf zu hören und zu schweigen, bis sie zum Reden aufgefordert wird.` 1963: ‚Wie auf vielen Gebieten haben sich auch die Umgangsformen im Verkehr mit älteren Menschen wesentlich verändert. Jung und Alt sind durch gemeinsames Erleben im Krieg einander nähergerückt... Zum Teil liegt der Grund in der Verwischung der Altersstufen: die Menschen sind heute länger jung! Trotz aller Lockerungen der Umgangsformen darf es nicht dazu führen, dass junge Menschen im Verkehr mit Älteren, auch wenn sie ihnen beruflich oder rangmäßig gleichgestellt sind, einen kameradschaftlichen Ton anschlagen... Der junge Mensch braucht gegenüber Älteren nicht immer nur Ja und Armen aus Höflichkeit zu sagen; er soll aber seine Argumente ruhig und sachlich vorbringen, wenn er sie begründen kann‘“ (Krumrey 1982, 201). Die Tendenz zu ausgeglicheneren Machtbalancen zwischen Älteren und Jüngeren, wie sie in Krumreys Zitaten zum Ausdruck kommt, kann mit vielfältigen Entwicklungen in modernen Staaten in Verbindung gebracht werden (z. B. Gesetze zur Kinderarbeit, Regelung physischer Gewalt im Umgang mit Kindern, Herabsetzung des Alters für das Wahlrecht). Parallel zu diesen veränderten Regelungen der Beziehung zwischen Jüngeren und Älteren kam einer Entwicklung bei der Verschiebung der Machtbalance in den letzten Jahrzehnten eine
80
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Schlüsselrolle zu: der Vermittlung, Schaffung und Nutzung von Wissen. Hierzu fällt zunächst auf, dass die durchschnittliche Ausbildungszeit Jahre 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2 0
USA Deutschland UK Japan
1820
1870
1913
1950
1973
1992
2000 ohne Kindergarten
1,8 0 2 1,6
4 0 4,3 1,7
8 8,3 8,8 5,6
11,2 10,3 10,5 9,2
14,7 11,5 11,8 12
18 12,1 14 15
16,5 16,5 17 15,6
Abb. 18: Die Ausbildungszeit pro Person in Jahren (Horx, 2002b, 6)
vom Zeitraum des ersten oben angeführten Zitats (1913) bis zum Jahr 2000 in den USA, Deutschland, UK und Japan von 7,7 Jahren auf 16,4 Jahre angestiegen ist (vgl. Abb. 18). Besonders die Zeit für jüngere Menschen, sich wissensmäßige Machtressourcen anzueignen, hat sich in den letzten 100 Jahren in den etablierten Industrieländern für breite Bevölkerungsschichten durchschnittlich verdoppelt. Mit einem Nachhinkeffekt wurde auch der Zugang breiterer Bevölkerungsschichten zu universitären Qualifikationen ermöglicht und damit die Basis für die Erzeugung und Nutzung neuen Wissens in den Industriestaaten erweitert.72 Eine weitere gesellschaftliche Entwicklung, nämlich die schnellere Erneuerung wissenschaftlich-technischen Wissens, erhöht die Bedeutung der formalen Qualifikation. Während auf der Seite der Älteren das rapide Absinken der Halbwertzeit des Wissens dazu führt, dass ihr berufliches Wissen, aber auch das akademische Wissen schneller veraltet, wachsen aufseiten der Jüngeren die Machtchancen durch das aktuellere wissenschaftlich-technische Wissen (vgl. 72
Der Nobelpreisträger Theodore W. Schultz konnte in seiner Forschung zur Humankapitaltheorie nachweisen, dass neben dem Bevölkerungswachstum wesentlich die Investitionen in die qualitative Bevölkerungsentwicklung (besonders: Bildung) zur Entwicklung der modernen Industriestaaten beigetragen hat (vgl. Schultz 1986).
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Abb. 19). Allerdings hat sich die Veralterung des beruflichen Wissens so weit beschleunigt, dass der Wissensvorsprung über die schulische und universitäre Erstqualifikation hinaus von der grundsätzlichen Lernbereitschaft nach dem Berufseinstieg abhängt.
Relevanz des Wissens 100%
50%
0% 0 Jahre
10 Jahre
Schulwissen Hochschulwissen berufliches Fachwissen
20 Jahre Technologiewissen EDV-Fachwissen
Abb. 19: Die Halbwertzeit des Wissens (Güldenberg, S. / Myerhofer, H. / Steyrer, J. 1999, 594).
Diese Anforderung an das „lebenslange Lernen“ verweist darauf, dass in der Arbeitswelt das wissenschaftlich-technische (Hochschul-)Wissen zunehmend das tradierte handwerkliche und industrielle Wissen verdrängt. Damit sind mit besseren formalen Qualifikationen auch mehr positionale und ökonomische Machtchancen verbunden. Die wissensbedingten Verschiebungen im Machtgefüge zwischen Jüngeren und Älteren verändern auch die etablierten Figurationen in den Unternehmen. War in der Industriegesellschaft das tradierte handwerkliche und industrielle Wissen, das der Meister dem Gesellen vermitteln konnte, die berufliche Grundlage für ein klares Machtgefälle von den Älteren zu den Jüngeren hin, verkehrt sich dieses Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren tendenziell durch die Vorherrschaft des wissenschaftlich-technischen Wissens. Dies bedeutet im Übergang zur Wissensgesellschaft immer dann, wenn die Jüngeren über größere wissensmäßige, positionale und finanzielle Machtchancen verfügen als die Älteren, auch eine
82
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Krise für die etablierten Figurationen in den Unternehmen. Volkswirtschaftlich lassen sich die Verschiebungen zugunsten derjenigen, die durch eine bessere wissenschaftlich-technische Qualifikation über mehr wissensmäßige, positionale und finanzielle Machtchancen verfügen (in der Regel die Jüngeren), in der Struktur der Wirtschaft und in den Arbeitslosenstatistiken ablesen. Da die automatisierte industrielle Produktion weniger, aber qualifiziertere Arbeitnehmer benötigt (vgl. Abb. 20), dienen die Kompetenzen als Selektionsmechanismus. Das bedeutet, dass auch in der Industrie, wo wissenschaftlich-technische Produktionsformen (Computer Aided Design; Computer Aided Manufacturing) heute maßgeblich über die Produktivität entscheiden, das Qualifikationsniveau entscheidend für die positionalen und finanziellen Anteil der in der Industrie arbeitenden Bevölkerung in % 50 45 40 35 30 25 20 1960
1965 D CH A E
1970
1975
1980
1985
1990
1995
1999
USA S F GB
Abb. 20: Der Strukturwandel: Anteil der in der Industrie arbeitenden Bevölkerung in Prozent (Horx 2002b, 3)
Machtchancen ist. Im Umkehrschluss sagt dies, dass diejenigen, die über weniger wissenschaftliches oder über veraltetes Wissen verfügen, auf dem Arbeitsmarkt mehr und mehr gefährdet sind. Der relativ wachsenden Zahl finanziell attraktiver und sicherer Stellen in qualifizierten Wissensberufen steht in den etablierten Industrieländern eine kritische Arbeitslosenzahl weniger qualifizierter Menschen gegenüber (vgl. Sinn 2004, 166-176). Während die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit einem Hochschulabschluss 2001 bei durchschnitt-
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lich 2,5 Prozent lag, waren es in der Gruppe der Menschen ohne Abitur oder Berufsschulabschluss durchschnittlich 7 Prozent (ebenda, 174). Ein Teil der wachsenden Berufsgruppen, die in der Abbildung 21 „Strategen und Koordinatoren“ und „Wissensarbeiter“ genannt werden, benötigen eine möglichst gute wissenschaftlich-technische Qualifikation. Auch die Berufsgruppe der sogenannten „Datenverarbeiter und Kommunikatoren“ kann zum größten Teil nur über aktuelles Wissen die positionalen und wissensmäßigen Machtressourcen, nämlich Stellen und Gehälter, absichern. All diese Entwicklungen – je schneller % sie verlaufen, desto stärker – erhöhen die 100 4 3 13 11 10 Gefahr der Einbuße 8 13 90 von Machtressourcen 25 24 89 19 bei den Älteren und 13 80 erhöhen die wissens70 mäßigen, positionalen 70 17 27 und ökonomischen 25 60 Machtchancen der 50 Jüngeren. 51 Die Schubkraft, die die aufkommende Wis30 sensgesellschaft für 20 die Veränderung der 15 Machtverhältnisse zwi10 schen Jüngeren und 0 Älteren erzeugt, ist 1900 1930 1960 2000 2020 somit insgesamt groß. Strategen und Koordinatoren Dennoch unterliegen Wissensarbeiter die EntwicklungsrichDatenverarbeiter und Kommunikatoren Service Arbeiter tung und –geschwinArbeiter digkeit nicht einem einfachen DetermiAbb. 21: Der Anstieg des Anteils der Wissensarbeiter (Horx 2002b, 4) nismus. Denn jede Angleichung und gar Verkehrung der Machtverhältnisse erhöht zunächst die Konfliktpotenziale und sensibilisiert die Betroffenen für die Veränderungen (vgl. Simon 2000). Dies gilt auch für das Spannungsverhältnis zwischen Älteren und Jüngeren in den Unternehmen. Der Anspruch der Jüngeren, ihr geschäftsnotwendiges Wissen auch in positionale und finanzielle Macht umwandeln zu können, ist für die älteren Mitarbeiter in den Unternehmen zugleich eine Herausforderung. Vielfach konkretisiert sich der Generationenkonflikt nicht im direkten 40
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Verhalten, sondern zum Beispiel im eingeforderten Führungsstil. So ist mit der Einforderung eines demokratischen Führungsstils in der Regel eine Schwächung höherer und etablierter Machtpositionen, aber eine Stärkung nachrükkender „Anspruchsteller“ verbunden. Insgesamt führen die sich verringernden Machtunterschiede zwischen Jüngeren und Älteren in Führungsbeziehungen dazu, dass das überkommene Prinzip von „Befehl und Gehorsam“ weniger Akzeptanz findet. Stattdessen sind die Führungskräfte heute operativ verstärkt damit beschäftigt, das Spannungsverhältnis zu den Mitarbeitern psychologisch auszutarieren. Auch durch diese Veränderungen der Führungsfigurationen in den Unternehmen, die durch die Spannungsverhältnisse zwischen Älteren und Jüngeren maßgeblich geprägt werden, gewinnt somit die Arbeit an den emotionalen Beziehungen (Psychologisierung) für die Fragen der Führungsperforr mance an Bedeutung.
Zu II. Entwicklungstendenzen in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen In den Beziehungen zwischen Männern und Frauen hat sich die Machtbalance zugunsten größerer Freiheits- und Entscheidungsspielräume für Frauen verschoben. Frauen in den etablierten Industrieländern haben in den letzten 150 Jahren – von den oberen zu den unteren Gesellschaftsschichten verzögert – ihre ökonomischen, positionalen und wissensmäßigen Machtquellen sukzessive ausbauen können. Die wachsenden Machtchancen der Frauen manifestieren sich im dynamischen Anstieg der formalen Qualifikationen (vgl. Abb. 24) und der Erwerbstätigenquote (vgl. Abb. 23). Die Zunahmen wissensmäßiger und ökonomischer Machtchancen von Frauen zeigen sich unter anderem in der Veränderung der ehelichen Beziehungen (vgl. Abb. 25). Da die patriarchalische Herrschafts- und Schutzfunktion, die besonders in der Ehe verankert war, für viele Frauen obsolet ist, verliert die Ehe ihre bindende Wirkung (vgl. van Stolk & Wouters 1987). Andererseits geht mit der Auflösung der tradierten Herrschaftsbeziehung zwischen Mann und Frau auch das „Ideal der harmonischen Ungleichheit“ verloren (vgl. ebenda, 136-172). Dies führt zu der Notwendigkeit – nicht nur in Ehebeziehungen – das Rollenverständnis vom jeweils anderen Geschlecht, das Selbstverständnis und das Selbstwertgefühl neu zu bestimmen – es führt zu einer Psychologisierung der Beziehungen zwischen Frauen und Männern (vgl. ebenda). Die Rollenverteilung, der Umgang mit finanziellen Ressourcen und wichtigen Entscheidungen ist mehr und mehr eine Frage des gleichberechtigten Diskurses zwischen Frauen und Männern. Und auch diese Verschiebungen in den sozialen Beziehungstypen spiegeln sich in den Unternehmen wider. In vier repräsentativen Zitaten, die die geschlechtlichen Rollenerwartungen über eine Zeitspanne von 76 Jahren widerspiegeln, sind die Veränderungen in dem Machtverhältnis zwischen Männern und Frauen ablesbar:
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„1887: ‚Hat ein junger Mann gegenüber einer jungen Dame ernste Absichten, so ist es seine Pflicht, diese den Eltern der jungen Dame mitzuteilen, worauf er erfahren wird, was mit ihm geschieht.‘ ‚Junge Mädchen dürfen nur in Begleitung einer Person, der sie anvertraut sind, zum gemeinschaftlichen Aufenthalt bestimmte Räume des Gasthofs betreten...‘1963: ‚Ein Problem ist auch, dass Frauen berufstätig sind; sie haben die gleichen Vorrechte wie die Männer. Der Mann mit gutem Benehmen muß einspringen ... und in der Hausarbeit helfen.‘‘Heutzutage ist es schon nicht mehr unmöglich, dass zwei junge Menschen miteinander in den Ferien verreisen. Das war vor dreißig Jahren noch nicht erlaubt‘“ (Krumrey 1982, 201f.). Das in dem Zitat von 1963 als „Problem“ bezeichnete Phänomen, dass Frauen berufstätig sind, hat sich bis zum Jahr 2000 in den industrialisierten Ländern zu einem verbreiteten und weitgehend akzeptierten Lebensmodell entwickelt. Im europäischen Durchschnitt waren im Jahr 2000 im Alter zwischen 15 und 64 Jahren 53,8 Prozent der Frauen erwerbstätig (vgl. Abb. 22). Die männliche Beschäftigungsquote lag (noch) um circa 20 Prozent höher. Besonders in den Berufsgruppen, die für die zukünftige Wissensgesellschaft stehen, sind Frauen überdurchschnittlich vertreten. Weiter ist aus den Entwicklungsstatistiken ablesbar, dass junge Frauen in den Industrieländern ihre schulische und akademische Vorbereitung für eine Tätigkeit in der Wissensgesellschaft mit ansteigendem Erfolg betreiben: Der Frauenanteil beim Abitur und im Studium steigt seit 1920 dynamisch und übertrifft in einigen Ländern inzwischen den Anteil der Männer (vgl. Horx 2002b, Kapitel 3, 3-36). 90
%
80 70 60 50 40 30 20 10 0 EU15
B
DK
D
EL
E
F
IRL
I
L
NL
A
P
FIN
S
UK
Männer
72,4
69,8
80,7
72,7
71,3
69,6
68,8
75,6
67,6
75
82,1
76,2
76,2
71,1
72,6
77,9
Frauen
53,8
51,9
72,1
57,8
41,3
40,3
54,8
53,4
39,3
50
63,4
59,7
60,4
65,2
69,7
64,5
Abb 22: Die Erwerbstätigenquote bei Männern und Frauen in Europa 2000, Alter 15-64 Jahre (Horx 2002b, 27)
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100% = beruflich aktive Männer
90 80 70 60 50 40 30 20 10
1970
1980
1990
2000
2010
Industrieländer Afrika Arabische Länder Lateinamerika Asien / pazifische Region
Abb. 23: Die Zahl beruflich aktiver Frauen im Verhältnis zu Männern
Der Trend, dass Frauen ihre ökonomischen Machtressourcen durch eine steigende Erwerbsquote ausbauen, ist nicht auf Europa beschränkt, sondern gilt weltweit (vgl. Abb. 23). Die rechtliche und soziale Ausgangbasis für diese globale Entwicklungstendenz ist die oben im Text diskutierte Etablierung moderner demokratischer Staaten. Der United Nations Population Fund dokumentiert in einem Bericht 2004:
„While more than half of the 151 responding developing countries had adopted national legislation, ratified UN conventions and established national commissions for women, similar progress was not made in formulating policies and putting programmes into place“ (UNFPA state of world population 2004, 31).
Die formal-rechtlichen Rahmenbedingungen zum Ausbau der Freiheits- und Entscheidungsspielräume etablieren sich folglich weltweit. Der politische Druck, diesen formalen Gleichstellungen praktische Programme folgen zu lassen, wird von den internationalen Organisationen aufrecht erhalten. Eine weitere Ausdehnung ökonomischer und wissensmäßiger Machtressourcen von Frauen weltweit ist somit wahrscheinlich. Diese Prognose basiert auf der Beobachtung, dass – trotz der im UN-Bericht reklamierten Defizite bei der politischen und programmatischen Umsetzung der Frauenrechte – nicht nur die Zahl der beruflich aktiven Frauen ansteigt, sondern auch die Zahl der Frauen, die weiterführenden Schulen besuchen (vgl. Abb. 24). Auch für die Veränderungen der sozialen Beziehungen zwischen den Geschlechtern greift eine Regelmäßigkeit, die generell für die hier diskutierten Beziehungstypen beobachtet werden kann: Die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der sozialen Beziehungen finden ihren spezifischen Niederschlag im sozialen Gefüge der Unternehmen. Für die Tendenz der zunehmenden Machtchancen von Frauen bedeutet dies unter anderem, dass der Anteil der Frauen in Fach- und Führungspositionen besonders seit den 1960er Jahren kontinu-
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ierlich steigt, auch wenn sich diese Machtverschiebungen in oberen 100 Führungspositionen nur langsam vollzie80 hen (vgl. Parkin & Hearn 1995, 392-407; 60 Carlson & Kacmar & 40 Whitten 2006, 21-22). Dort, wo der Kontrast 20 zwischen der erreichten gesellschaftlichen An0 gleichung der Macht1980 1990 2000 2010 unterschiede zwischen Frauen und Männern Industrieländer Arabische Länder Ostasien Afrika südl. d. Sahara und der ChancengleichLateinamerika heit in den Unternehmen zu groß wird, wächst Abb. 24: Die jungen Frauen an weiterführenden Schulen die Kritik und die Ein(Horx 2002b, 5) forderung von Veränderungen. Diese Regel fand Frauen-Erwerbsquote in % Scheidungen einen eindruckvollen 90 3 Beleg in Norwegen. Um den „Nachhinkeffekt“ 2 der Unternehmen bei 60 der Gleichstellung der Frauen im Top-Manage1 ment zu beseitigen, greift in Norwegen seit dem 01. 30 0 Januar 2006 ein Gesetz, DK D E I FIN S UK das Aktiengesellschaften dazu zwingt, 40% der Scheidungen pro Tausend Frauen-Erwerbsquote 2000 Aufsichtsratspositionen mit Frauen zu besetzen. Abb. 25: Die Erwerbstätigenquote der Frauen zwischen Unternehmen, die sich 15 und 64 Jahren und Scheidungen je 1.000 Personen dieser gesetzlichen Rege(Horx 2002b, 8) lung widersetzen, droht die Auflösung. Dass sich auch in anderen Industrie- und Wissensgesellschaften die Angleichung der positionalen und damit der ökonomischen Machtchancen zwischen Frauen und Männern in den Unternehmen über ähnliche Konflikte wahrscheinlich beschleunigen wird, lässt sich aus dem Kontrast zwischen gesellschaftlicher und organisatorischer Gleichstellung ableiten. Dass gegen100% = Bildungsniveau der Männer
120
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
wärtig nur 14 Prozent der Direktoren der Fortune 500 Unternehmen und 10 Prozent der FTSE 100 Unternehmen Frauen sind, birgt vor dem Hintergrund der oben skizzierten Verschiebungen in den Machtbalancen zwischen Frauen und Männern erhebliches Konfliktpotenzial (vgl. FT 12.09.2005, 11; Sealy & Singh & Vinnicombe 2007). Die Tendenz zur beruflichen Gleichstellung der Frauen wird in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich durch die abnehmenden Bevölkerungen in den industrialisierten Ländern zusätzlich gestützt. Da die jüngeren Frauen in den Wissensgesellschaften – wie oben verdeutlicht wurde – zu der überdurchschnittlich gut qualifizierten Bevölkerungsgruppe gehören werden, wird es mittelfristig, bei einer insgesamt abnehmenden Zahl jüngerer Fachkräfte, zu einem Wettbewerbsnachteil, wenn die Unternehmen die Kompetenzen der Frauen nicht nutzen. – Damit wird nochmals deutlich, wie nachhaltige Veränderungstreiber, hier die Bevölkerungsentwicklung und die sozialen Beziehungen, ineinanderr greifen und sich wechselseitig verstärken. Weniger realistisch scheinen hingegen die ideologisch getriebenen Argumentationen, dass Unternehmen die spezifischen Führungskompetenzen von Frauen als Konkurrenzvorteil erkennen sollten. Gerade bei der Übernahme von Führungspositionen kommen Frauen in das Kraftfeld des sozialpsychologischen Mechanismus, der zunächst zur Anpassung der Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards an die machtstärkere Gruppe zwingt. Ein idealtypisches Beispiel bot die ehemalige Hewlett-Packard-Chefin Carly Fiorina, als sie im Kontext der Fusion von HP und Compaq sagte: „Ich habe nie in Kategorien wie ‘Männer tun dies, Frauen tun jenes’ gedacht. Man darf einfach nicht daran denken, eine Frau zu sein“ (Wirtschaftswoche 13.9.01, 22). Tatsächlich ist es aus zivilisationstheoretischer Sicht wahrscheinlich, dass die Verringerung der Machtunterschiede zwischen Männern und Frauen in den Unternehmen mittelfristig generell eine Verringerung der Kontraste zwischen „männlicher“ und „weiblicher“ Führung hervorbringen wird (vgl. Elias 1976, 342-351).73
73
Diese Entwicklungen spiegeln sich zum Beispiel in Deutschland in der aktuellen Gesetzgebung, besonders im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzt (AGG), wider. Zur Diskussionsverlauf in der Diversity- und Genderforschung vgl. : Peters & Bensel 2002; Bischoff 2005; Hördt 2006.
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Zu III: Entwicklungstendenzen in den Beziehungen zwischen höher und niedriger stehenden Individuen74 Die Machtbalance in der Beziehung zwischen sozial höher und niedriger stehenden Individuen hat sich in den demokratisierten Staaten tendenziell zugunsten der Untergeordneten verschoben. Da die Untergeordneten besonders in den letzten hundertfünfzig Jahren in den sich demokratisierenden westlichen Staaten vielfach wissensmäßige, positionale und ökonomische Machtquellen dazu gewinnen konnten, war die Herrschaftsfunktion der Übergeordneten in diesem Zeitraum rückläufig. Diese Tendenz zur Verringerung der Machtunterschiede zwischen den gesellschaftlichen Schichten und Positionen führt dazu, dass an die Stelle der Herrschaftsfunktionen andere Regelungsfunktionen (Psychologisierung, das heißt Einbindung und Motivation) für den Umgang miteinander treten mussten. Auch die Veränderungen dieses Beziehungstyps lassen sich durch repräsentative Zitate verdeutlichen: „1885: ‚Bei vornehmen Personen soll man sich tiefer verbeugen als vor Bekannten und Geringeren, doch nicht zu tief oder sklavenhaft. Man soll nicht zu lange in der gebückten Stellung verweilen. Je vornehmer die Person ist, um so größer muß die Entfernung sein, in der man anfängt, ihr die schuldige Ehrfurcht zu bezeigen... Wenn man mit einem Angeseheneren spazieren geht, so darf man nicht stillstehen, wenn er nicht stillsteht. Man muß sich völlig nach ihm richten. Man darf ihm nicht den Rücken, sondern muß ihm das Gesicht zukehren...‘ ‘Seinen Vorgesetzten grüßt man ehrerbietig, seinesgleichen herzlich und freundlich, seine Untergebenen leutselig und wohlwollend’“ (Krumrey 1984, 443). „1963: ‚Wenn sich ein zukünftiger Arbeitnehmer seinem Chef vorstellt, so soll er sich sehr sorgfältig und nicht auffällig kleiden. Bei einer Begrüßung durch den Chef macht man eine leichte Verbeugung und nimmt im stehenden Gespräch eine aufrechte Haltung ein. Die Hände werden am besten auf dem Rücken gehalten. Wird man aufgefordert, Platz zu nehmen, setzt man sich erst, wenn sich der zukünftige Chef gesetzt hat. Man spricht nur, wenn man gefragt wird, und antwortet überlegt und klar ... Man sieht das Gespräch als beendet an, wenn der zukünftige Chef aufsteht. Man erhebt sich ebenfalls und bedankt sich...‘“ (Krumrey 1982, 202f.) „‚Fühlt sich ein Untergebener – ob Arbeiter, Sekretärin, Angestellter – als ewig Unmündiger, so wird sich diese Missachtung seines Geistes und all seiner menschlichen Kräfte und Fertigkeiten nicht nur zu seinem Schaden, sondern zum Nachteil einer ganzen Institution auswirken...‘“(Krumrey 1984, 448). 74
Die Bezeichnung „höher und niedriger stehende Individuen“ wird in diesem Text ausschießlich als beschreibende soziologische Kategorie verwandt.
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Das Verhältnis zwischen höher und niedriger stehenden Individuen ist im öffentlichen Bewusstsein, in der Politik und Wissenschaft vielfach ideologisch belegt und stark gefühlsgeladen. Hierfür gibt es einen einfachen Grund: Die niedriger stehenden Individuen haben das starke Machtgefälle im Verhältnis zu den höher stehenden Individuen über Jahrtausende mit Blut, Schweiß und Tränen bezahlen müssen. Seit 1495 sind keine 25 Jahre ohne einen neuen Krieg vergangen; im Durchschnitt begann alle vier Jahr ein neuer Krieg (vgl. Ferguson 2002, 28). Das Bestreben der jeweiligen Herrscher (Kaiser, Könige, Staatsoberhäupter, Militärs) ihren Einfluss zu sichern oder auszubauen, bezahlten die machtschwächeren Menschen mit dem Verlust ihrer Existenzgrundlage, ihrer Gesundheit oder gar ihres Lebens. Das Leben der niedrigeren Schichten war bis zum Mittelalter auch in Friedenszeiten nicht viel besser als im Krieg. Die extreme Armut erfasste besonders Arbeitslose, Kranke, Waisen, Alte, ländliche Tagelöhner, hörige Bauern, städtische Lohnarbeiter, aber besonders verwitwete oder von ihren Männern verlassene Frauen (vgl. Ritter 1989, 29-32). Die Industrialisierung in England, Frankreich und Deutschland seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte in den ersten 100 Jahren nur wenig an der brutalen Unterdrückung, Ausbeutung und Armut der niedriger stehenden Gesellschaftsschichten (Donkin 2001). Die in den industrialisierten Städten auftretende Massenverelendung (Pauperismus) im frühen 19. Jahrhundert wurde in England und Frankreich zunächst mit der Verminderung der öffentlichen Armenhilfe beantwortet, um den Zwang zur Arbeit zu steigern (vgl. Ritter 1989, 45). Erst unter dem Druck wachsender sozialer Probleme (Kriminalität, Erkrankungen, politische Organisation der Arbeiter) kam es in England, Frankreich und Deutschland zur Verabschiedung von Armengesetzen, Arbeitsschutzgesetzen und Sozialreformen, die die gesellschaftliche Stellung der unteren Schichten verbesserten. Die starke Emotionalisierung der Machtunterschiede zwischen höher und niedriger stehenden Individuen ist somit nachvollziehbar. Das Machtgefälle, das in den Krumrey-Zitaten von 1885 zum Ausdruck kommt, zeigt, dass die soziale Distanz zwischen höher und niedriger stehenden Individuen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin ausgeprägt war. In den Zitaten von 1963 zu den erwarteten Verhaltensstandards in Organisationen zwischen Führungskraft und Mitarbeitern kommen jedoch deutliche Wandlungen zum Ausdruck. Zwar ist das Machtgefälle noch in abgeschwächter Form präsent, aber es wird schon dazu aufgefordert, die Kräfte und Fertigkeiten des Mitarbeiters hinreichend anzuerkennen. In den Verschiebungen der Machtbalancen zwischen höher und niedriger Stehenden, die in diesen Hinweisen für Führungskräfte zum Ausdruck kommen, spiegeln sich umfassendere gesellschaftliche Veränderungen im Machtgefüge.
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Die wissenschaftlich-technische Durchdringung der Produktion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit der zweiten Industriellen Revolution begann, war ein wesentlicher Treiber für die Verschiebungen im organisatorischen und gesellschaftlichen Machtgefüge. Während die Ausweitung der wissenschaftlich-technischen Produktionsformen zum Teil umfangreicheres Wissen und Fertigkeiten verlangte, stieg parallel die durchschnittliche Ausbildungszeit der Menschen in den Industriestaaten über die letzten 130 Jahre kontinuierlich an. Die Ausbildungszeit hat sich in diesem Zeitraum unter Einbeziehung immer breiterer Bevölkerungsschichten vervierfacht (vgl. Abb. 18). Diese Entwicklungen in der Produktion und der Anstieg des Bildungsniveaus haben die hierarchischen Beziehungen in den Unternehmen massiv verändert. Die Arbeitsverhältnisse in den Fabriken im 19. Jahrhundert konnte David Landes in seinem Werk über die Industrielle Revolution noch treffend mit Haftbedingungen vergleichen: „Now the work had to be done in a factory, at a pace set by tireless, inanimate equipment, as part of a large team that had to begin, pause, and stop in unison – all under the close eye of overseers, enforcing assiduity by moral, pecuniary, occasionally even physical means of compulsion. The factory was a new kind of prison; the clock a new kind of jailer” (Landes 1987, 43). Auf die Wissensfabriken des 21. Jahrhunderts lässt sich dieses Bild nicht übertragen. Um die Produktivität der Wissensarbeiter zu sichern, gelten im 21. Jahrhundert andere Regeln. Wie eine Studie des Gallup Institute75 nachweist, erwarten Mitarbeiter heute: 1. Dass ihnen die Leistungserwartungen klar erläutert werden. 2. Dass ihnen eine entsprechende Ausstattung zur Verfügung steht, um diese Erwartungen erfüllen zu können. 3. Dass sie die Möglichkeit haben, ihre Stärken einzusetzen. 4. Dass sie regelmäßig positives Feedback für ihre Arbeitsleistung erhalten. 5. Dass der Vorgesetzte sie als Personen wahrnimmt und behandelt. 6. Dass man sich um ihre Entwicklung am Arbeitsplatz kümmert. (vgl. Buckingham & Coffman 1999, 33-34). In diesen Erwartungen der Mitarbeiter an ihre Vorgesetzten und Arbeitgeber kommt ein verändertes Status- und Hierarchieverständnis zum Ausdruck. Die Mitarbeiter fordern für ihre Leistungen nicht nur die finanzielle Sicherung ihrer Existenz, sondern angemessene Rahmenbedingungen und Anerkennung. 75
Die internationale Gallup-Studie „First, Break All The Rules“ erstreckte sich über einen Erhebungszeitraum von 25 Jahren, erfasste die Meinungen von über einer Millionen Mitarbeitern und 80.000 Führungskräften (Buckingham & Coffman, 1999).
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Das Verständnis von den Beziehungen zwischen Unternehmensleitung / Führungskräften und Mitarbeitern, das in den von Gallup erfassten Erwartungen zum Ausdruck kommt, signalisiert eine Verschiebung in den Machtbalancen. Das veränderte Machtverständnis, das zum Ende des 20. Jahrhunderts in den Mitarbeitererwartungen deutlich wird, wurde als umfassenderer Trend gleichfalls von Gallup schon für den Zeitraum von 1966 bis 1980 erfasst: „Gallup and Harris public opinion polls suggest that many people continue to have faith in social institutions (such as higher education, the military, and the medical profession) but not in the people who head them. Between 1966 and 1980, the public’s trust in the authorities who head higher education declined from 61% to 33%; faith in the leadership of organized religion slipped from 41% to 20%; trust in the leaders of major companies fell from 55% to 19%; faith in the military leadership dropped from 61% to 33%; and confidence in the leaders of medical institutions plummeted from 73% to 30%“ (Meyrowitz 1986, 165). Diese Verschiebungen in der Akzeptanz von Führung in Organisationen wurden in der Managementliteratur und –praxis wenig differenziert und zielgerichtet aufgearbeitet. Die Reaktionen in der akademischen und praktischen Managementwelt seit Mitte der 1980er Jahre zeigen, dass die Veränderungen der betrieblichen Führungsprozesse nicht als Teil einer umfassenderen Transformation der sozialen Beziehungen verstanden wurden. Vielmehr bestand die Tendenz, die Verschiebung in den Machtbalancen als kurzfristig zu lösendes Problem zu sehen. Dies führt aufseiten der Managementberater zu emotional-ideologischen Attacken gegen Hierarchien in Unternehmen überhaupt. So formulierte der Managementguru Tom Peters in seinem Werk „Jenseits der Hierarchien: Liberation Management“ einen 1000-seitigen populärwissenschaftlichen Appell, den er wie folgt zusammenfasst: „Und dann geht es los: die Hierarchien abreißen, auseinanderbauen, zerstückeln, töten“ (Peters 1993,198).76 Aufseiten der Unternehmensleitungen wurden die umfassenderen Transformationen im betrieblichen Gefüge zunächst in eine Option zur Kostenoptimierung umgemünzt. Das mittlere Management wurde als teilweise überflüssige Hierarchiestufe identifiziert und entlassen. Wie eine Studie des Roffey Park Management Institute zeigt, führte die Entlassung des scheinbar überflüssig gewordenen mittleren Managements und Streichung der Hierarchieebene jedoch zu Perspektivenproblemen für den Nachwuchs, einem Abrieb bei der Arbeitsmoral und einer höheren Arbeitsbelastung (Holbeche 1994, 8-9). 76
Peters steht mit seiner Forderung Anfang der 1980er Jahr nicht alleine dar: Jochen Schmidt kündigt den ‚Todesstoß‘für die Hierarchien an, Elke Gebhardt beschreibt Hierarchien als ‚auslaufendes Modell` (vgl. Kühl 2002, 1)).
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Das Lean Management bzw. Business Reengineer60 ing kann insofern 50 eher als Reflex auf 40 die Verschiebung 30 der Machtbalance zwischen den Hier20 archien, nicht aber 10 als durchdachte 0 Antwort auf das 1971 1971–1990 1991–1993 2003 Phänomen geseh(Prognose) en werden. Denn 0 – 2 Jahre für Menschen, die 2 – 6 Jahre in der Breite über 8 Jahre und länger eine umfassendAbb. 26: Verweildauer beim ersten Arbeitgeber in Prozent, ere Qualifikation USA (Horx 2002b, 8) verfügen und rechtlich und politisch gleichgestellt sind, geht es – wie unter anderem die Ergebnisse der Gallup Studie zeigen – um ihren Handlungsspielraum und ihre Anerkennung im Prozess der Führung- und Zusammenarbeit, nicht um die Existenz einzelner Führungsebenen. Durch die Verringerung der Machtunterschiede zwischen höher und niedriger stehenden Individuen erwarten die formal machtschwächeren Individuen in den Organisationen eine positionale, ökonomische und emotionale Wertschätzung. Wie gut dies einer Führungskraft gelingt bestimmt maßgeblich, ob qualifizierte Mitarbeiter länger als 2-6 Jahre bei ihrem (ersten) Arbeitgeber verweilen (vgl. Coffman & Gonzalez-Molina 2002). 70
%
Zu IV: Entwicklungstendenzen in den Beziehungen zwischen näher und ferner stehenden Individuen Die Entwicklung der sozialen Beziehung zwischen Näher- und Fernerstehenden ermöglicht zunehmend einen leichteren Zugang zueinander. Es ist beobachtbar, dass sich die sozialen Barrieren zwischen „Fremden“ oder Etablierten und Außenseitern verringert haben. Dies lässt sich wiederum durch die historischen Zitate von Verhaltensstandarden – zumindest in Ansätzen – nachzeichnen: „1878: ‚Für die Reise selbst gelten nur die allgemeinen Gesetze des guten Tones. Eine Rücksichtnahme, wie es die Gesellschaft sonst fordert, fällt dort fort. Jeder ist sich selbst der Nächste und hat den Anderen nur so weit zu berücksichtigen, wie es die Höflichkeit vorschreibt‘“ (Krumrey 1984, 468). 1903: ‚Heute sagt man in der Stadt auch zu jedem Dienstboten Sie. Das früher
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beliebte ‚was will er‘ oder ‚wie heißt Sie‘ ist jetzt völlig ungebräuchlich‘ (ebenda, 473) 1963: ‚Das Duzen hat heute nicht mehr den Seltenheitswert, den es noch vor 30 oder 50 Jahren hatte. Es hat auch das gemeinsame Erleben zweier Weltkriege dazu beigetragen, dass die Schranken eingerissen werden, die das Sie zwischen zwei Menschen setzt...‘“ (Krumrey 1982, 203f.). In den Anweisungen zum guten Verhalten aus dem Jahr 1878 kommt noch eine ausgeprägte Distanz gegenüber den ferner Stehenden auf Reisen zum Ausdruck. Die repräsentativen Zitate aus den Jahren 1903 und 1963 können als Hinweise gelesen werden, dass sich in der deutschen Gesellschaft die soziale Distanz zwischen den Schichten und der Formalitätsgrad (Sie / Du) verringert hat. Doch weder Krumreys Zitatreihen, noch übergreifende Statistiken liefern meines Erachtens ein hinreichend umfassendes Bild, um die Entwicklung zwischen Näher- und Fernerstehenden, das heißt zum Beispiel zwischen Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Gruppen, Schichten, Ethnien oder Nationen, abschätzen zu können. Um dennoch plausibel zu erschließen, welche Entwicklungstendenzen das Verhältnis zwischen Näher- und Fernerstehenden zeigt, sollen zwei weitere Zugänge gewählt werden. Erstens wird eine fundierte Studie über die Veränderung des sozialen Raums aufgegriffen, deren Entwicklungsanalysen sich in den Jahren nach der Veröffentlichung bestätigt haben. Zweitens sollen vor dem Hintergrund der Entwicklungsmuster, die in der Studie aufgezeigt werden, zwei Weltereignisse thematisiert werden, um das Verhältnis von Näher- und Fernerstehenden zu hinterfragen. Joshua Meyrowitz, einer der renommiertesten Medienwissenschaftler der Gegenwart, hat 1985 die Studien „No Sense of Place: The Impact of Electronic Media on Social Behavior“ veröffentlicht. In diesem empirisch-theoretisch fundierten Werk zeigt Meyrowitz auf, dass: „By bringing many different types of people to the same ‘place’, electronic media have fostered a blurring of many formerly distinct social roles. Electronic media affect us, then, not primarily through their content, but by changing the ‘situational geography of social life” (Meyrowitz 1986, 6). Die Veränderung der “situativen Geografie des sozialen Lebens” durch elektronische Medien hat, nach Meyrowitz, fundamentalen Einfluss auf die Beziehungen der Menschen. Zu diesem Einfluss der Medien, besonders der Veränderung der Geografie des sozialen Lebens, kommt es dadurch, dass die Neuen Medien selbst – nicht nur die Inhalte – Wirkungen entfalten. Einen ersten analytischen Zugang, wie es zur Wirkung der Medien auf die Geografie des sozialen Lebens kommt, schafft Meyrowitz zunächst durch den Rückgriff auf einen anderen renommierten Medienforscher:
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
95
„According to McLuhan, electronic media are like extensions of our nervous systems that embrace the planet“ (ebenda, 17). Geprägt durch den Ansatz von Herbert Marshall McLuhan, der seine Interpretation zur Wirkung der Medien auch entwicklungsgeschichtlich fundiert, stellt Meyrowitz fest: Während es vor der Verbreitung der elektronischen Medien üblich war, reisen zu müssen, um den sozialen Ort der Kommunikation zu verändern, wurde diese Einheit von physischem und sozialem Ort der Kommunikation mit der Einführung des Telegrafen erstmals durchbrochen. Mit der Verbreitung weiterer Kommunikationsmedien, besonders des Fernsehers, Computers und des Internets, wurde dieser Trend verstärkt.77 Meyrowitz verweist in diesem Zusammenhang auch auf Studien aus den 1950er Jahren (!), in denen die beiden Medienwissenschaftler Donald Horton und R. Richard Wohl schon die Beobachtung formulierten, dass sich durch das Radio und den Fernseher die Beziehungen zwischen Näher- und Fernerstehenden verändern: „Horton and Wohl suggest that the new media lead to a new type of relationship which they call ‘para-social interaction’. They argue that although the relationship is mediated, it psychologically resembles face-to-face interaction. Viewers come to feel they ‘know’ the people they ‘meet’ on television in the same way they know their friends and associates. In fact, many viewers begin to believe that they know and understand a performer better than all the other viewers do. Paradoxically, the para-social performer is able to establish ‘intimacy with millions’” (ebenda, 119). Die Identifikation mit Menschen über die räumliche Distanz hinweg ist demnach möglich, weil die elektronischen Medien die Menschen informationell an den gleichen Ort bringen. Dies schafft nicht nur die Möglichkeit der Identifikation über räumliche Distanzen, sondern unterminiert andererseits auch die abgeschlossenen Identifikationsräume sozialer Gruppen (vgl. ebenda, 131-150). „Information integration makes social integration seem more possible and desirable. Distinctions in status generally require distinctions in access to situations. The more people share similar information-systems, the greater the demand for consistency of treatment” (ebenda, 133). Meyrowitz gelingt es, diese weitreichende These der Verschmelzung sozialer Räume und Identitäten zu fundieren, indem er zunächst aufzeigt, dass die Neuen Medien schon in die Sozialisation von Gruppenidentitäten eingreifen. Der Einfluss der neuen Medien auf die vormals weitgehend geschlossenen Gruppensozialisationen erfolgt durch die Auflösung gruppenspezifischer Zugänge zu 77
Als Meyrowitz seine Studie veröffentlichte, war der Computer noch nicht verbreitet und das Internet nicht in der heutigen Form eingeführt. Die Möglichkeiten der computerbasierten Internetnutzung (z.B. Webcams oder Chatrooms) unterstreichen jedoch Meyrowitz Thesen nachhaltig – was er selbst 1985 nur erahnen konnte (vgl. ebenda, 328).
96
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Informationen (vgl. ebenda, 150-160). Weiter zeigt Meyrowitz durch differenzierte Analysen, wie sich die Veränderungen in den Gruppenidentitäten in den sozialen Beziehungstypen niederschlagen. Als wichtigsten Veränderungsstrang in den Beziehungstypen diagnostiziert er die Verringerung der Machtunterr schiede. Dies weist er für die Beziehungen zwischen Männer und Frauen (vgl. ebenda, 187-225), Älteren und Jüngeren (vgl. ebenda, 226-267) und höher und niedriger Stehenden (vgl. ebenda, 268-304) nach.78 Ohne den Beziehungstyp der Näher- und Fernerstehenden explizit zu thematisieren, bietet die Kernthese der Meyrowitzschen Studie, dass die Veränderungskraft der Neuen Medien implizit in der Überbrückung der sozialen Distanz zwischen ehemals eher getrennten Gruppen und Identitäten liegt, doch eine klare Einschätzung: „Electronic media have had a tremendous impact on group identity by undermining the relationship between physical location and information access” (ebenda, 143). Vor dem Hintergrund der Meyrowitzschen Analyse zur Veränderung der sozialen Räume durch den Einfluss der Neuen Medien gewinnt die eingangs formulierte These, dass näher und ferner Stehende wechselseitig leichteren Zugang zu ihren sozialen Welten erhalten, an Plausibilität. Die Distanz zu den Fremden, das heißt zwischen den Schichten, Ethnien, Nationen, verringert sich, weil das wechselseitige Wissen über die Lebenszusammenhänge wächst. Ergänzend zu Meyrowitz‘ medienwissenschaftlichem Zugang ist anzumerken, dass sich die Annäherung zwischen Näher- und Fernerstehenden auch durch andere sozio-technische Interdependenzen verringert. Besonders die modernen Transportmittel (Zug, Auto, Schiff und Flugzeug) „verkürzen“ die Distanzen zwischen den Menschen. Die modernen Transportmittel verringern die Distanzen nicht nur räumlich, sonder auch sozial. Ob die Menschen mit teuren oder billigen Autos im Stau stehen oder mit einem Ticket erster oder zweiter Klasse auf den Zug oder das Flugzeug warten, macht keinen großen Unterschied. Und auch der Transport in der ersten Klasse sichert lange nicht mehr einen separierten Raum für die oberen Gesellschaftsschichten. Wenn die Analyse zutreffend ist, dass die weiteren und dichteren sozio-technischen Interdependenzen, die auch durch die Medien und Transportmittel erzeugt werden, die soziale Distanz zwischen Näher- und Fernerstehenden verringert, dann muss sich dies in den Verhaltensweisen der Menschen niederschlagen. Damit stellt sich die Frage: Wann und wo lassen sich diese Veränderungen von Einstellungen und Verhaltensweisen in der Breite beobachten? Ereignisse, die einen differenzierten Blick auf die Einstellungen und Verhal78
Zwischen der zivilisationstheoretischen und der Meyrowitzschen Analyse der Beziehungstypen gibt es eine starke Übereinstimmung, ohne das es m.W. eine Verbindung zwischen den Forschern gab.
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
97
tensweisen gegenüber „Fremden“ oder ferner Stehenden ermöglichen, sind Katastrophen. In diesen Situationen zeigt sich, welches Verhalten gegenüber Menschen, die schnelle Hilfe benötigen, zum Standard geworden ist. Zwei kurze Beispiele können die sozio-technisch geprägten Einstellungen und Verhaltensweisen erschließen: Im Indischen Ozean kam es am 26. Dezember 2004 zu einem Seebeben mit einer Stärke von 9,3 auf der Richterskala. Das Epizentrum vor der Nordküste Sumatras verursachte durch eine Flutwelle verheerende Schäden in den Küstenregionen am Golf von Bengalen, der Andamanensee, Südasien und in Ostafrika. Durch die Naturkatastrophe kamen vermutlich über 200.000 Menschen ums Leben, nochmals 110.000 Menschen wurden verletzt und 1.700.000 Personen wurden obdachlos. In den Wochen nach der Naturkatastrophe folgten vielfältige Rettungs- und Spendenaktionen. Die finanziellen staatlichen und privaten Unterstützungsleistungen aus den entwickelten Industrieländern beliefen sich auf circa 4,8 Mrd. USD beziehungsweise 1,5 Mrd. USD. Zum Teil kamen die privaten Spenden von vermögenden Privatpersonen. Zusätzlich versuchten die Hilfsorganisationen aus unterschiedlichen Ländern, das Leid der Betroffenen zu mildern. Parallel zu den Hilfsaktionen beschäftigten sich die Medien intensiv mit der Berichterstattung über die Katastrophengebiete. Da viele Touristengebiete betroffen waren, wurden häufig die Erlebnisberichte der eigenen Landsleute (näher Stehende) über die Leiden der ferner Stehenden gesendet. Gesteigert wurde die Betroffenheit auch dadurch, dass viele Menschen aus den Industriestaaten die betroffenen Regionen selbst schon bereist hatten und eine Beziehung zu den Menschen aufbauen konnten. In einer für die modernen Massenmedien üblichen Form der Übertreibung wurde die Betroffenheit widergespiegelt, indem von der „Schwersten Katastrophe aller Zeiten“ oder der „Jahrtausendkatastrophe“ gesprochen wurde.79 Am 29. August 2005 kam es durch die Auswirkungen des Hurrikans Katrina zum Bruch der Dämme, die New Orleans (USA) vor den Wassermassen des Lake Pontchartrain und des Mississippi schützten. New Orleans, das unter dem Wasserspiegel des Flusses, des Meeres und des Sees liegt, wurde zu 80% bis zu einer Höhe von 7,5 Metern überflutet. Die Katastrophe forderte offiziell 1.302 Tote. Weitere 3.200 Menschen wurden vermisst. Da sich diese Katastrophe in einem der reichsten Länder der Welt ereignete, war die Präsenz und weltweite Berichterstattung der Medien ausgeprägt. 79
Diese Darstellungen der Medien spiegeln eher die erwarteten Darstellungen als die Realität wider: 1887 forderte eine Überschwemmung in Henan (China) 900.000 Opfer; die Dürreperiode in Indien zwischen 1965-1967 forderte 1,5 Millionen Tote; bei dem Erdbeben in Tangshan (China) 1976 gab es offiziell 255.000 Tote (vgl. http://de.wikipedia. org/w/index.php?title=Seebeben_im_Indischen_Ozean_2004&printable=yes ).
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Dies hatte zwei wichtige Folgen: Erstens wurden die nur schleppend anlaufenden und zunächst schlecht organisierten Rettungsaktionen der zuständigen US-Behörden national und international kritisch analysiert und beurteilt.80 Zweitens baute sich schnell eine breite nationale und internationale Hilfsbereitschaft für die Betroffenen auf. Auch die US-Regierung, die zunächst wegen zögerlicher Unterstützung und schlechter Organisation scharf kritisiert wurde, stellte schließlich 10,5 Mrd. US Dollar Soforthilfe zur Verfügung und entsandte 27.000 Soldaten zur Katastrophenhilfe. Der US-amerikanische Präsident Bush musste öffentlich zugestehen, dass die Hilfsaktionen in den ersten Tagen inakzeptabel gewesen seien und seinen Chef der Bundesbehörde für den Katastrophenschutz (FEMA), Michael Brown, von seiner Koordinationstätigkeit entbinden. Das öffentliche Zugeständnis von Fehlern und disziplinarischen Konsequenzen der US-Regierung war notwendig, weil ihr unter anderem unterstellt wurde, dass die zögerliche Hilfe rassistische Hintergründe hätte.81 Beide Katastrophenfälle unterstreichen die Forschungsergebnisse von Krumrey und Meyrowitz: Die Zugänge zu den sozialen Welten der ferner Stehenden ist – besonders unterstützt durch die Neuen Medien und die Transportmittel – leichter geworden. Dadurch hat sich die Identifikation mit den „Fremden“ so weit entwickelt, dass offenkundige Not vielfach Mitleid und Hilfsbereitschaft erzeugt. Oder, wie Norbert Elias es in einer prozesssoziologischen Analyse der Wir-Ich-Balance formulierte: „Die Reichweite der Identifikation wächst. (...) Der Übergang zur Integration der Menschheit auf globaler Ebene ist gewiß noch in einem frühen Stadium. Aber Frühformen eines neuen, weltweiten Ethos, und insbesondere die weitere Ausdehnung der Identifizierung von Mensch und Mensch, sind bereits deutlich erkennbar. Es gibt viele Anzeichen für die Entwicklung eines neuartigen, globalen Verantwortungsgefühls für das Schicksal von Individuen in Not, unabhängig von ihrer Staats- oder Stammeszugehörigkeit, ihrer Gruppenidentität überhaupt“ (Elias 1987, 225). Die Ausweitung der Identifikation auf Fernerstehende führt dazu, dass Menschen, die den Anschein erwecken, anderen nicht helfen zu wollen, weil sie einer ferner 80
81
Zum Beispiel hätte nach dem Auslösen der Sturmwarnungsstufe 3 der Southeast Louisiana Hurricane Evacuation and Sheltering Plan aktiviert werden müssen und diesem folgend die autolose Bevölkerung mit den stattdessen ungenutzt versunkenen Schulbussen abtransportiert werden müssen (vgl. http://www.ohsep.louisiana.gov/plans/EOPSupplement1a.pdf ). Jesse Jackson, einer der Führer der amerikanische Bürgerrechtsbewegung, sah die Gründe in der zögerlichen Reaktion auf das Desaster in der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der schwarzen Bevölkerung (in den USA beträgt der Bevölkerungsanteil der Schwarzen 12,1 Prozent, in Groß-New Orleans liegt er bei 67%) (vgl. http://www.attac. at/2154.html ).
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
99
stehenden Bevölkerungsgruppe (zum Beispiel die überwiegend schwarzen Opfer der Katrina-Katastrophe) angehören, mit negativen Reaktionen rechnen müssen. Insofern ist die geringe Rücksichtnahme gegenüber Fernerstehenden, die Krumrey in seiner Untersuchung für das 19. Jahrhundert noch als Standard dokumentierte, heute weniger akzeptiert. Die veränderte Erwartungshaltung an den Umgang mit ferner Stehenden spiegelt sich bruchlos besonders in international agierenden Unternehmen. Im Innenverhältnis der Unternehmen gibt es zunehmend die Erwartungshaltung, dass die jeweils Etablierten auf die Lebensweisen (z. B. Essgewohnheiten, Glauben, Festtage) der unterschiedlichen Kulturen Rücksicht nehmen. Die Diskussion zu diesem Thema hat sich seit den 1990er Jahren unter dem Schlagwort „Diversity Management“ intensiviert. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs Diversity Management, der zunächst für die Erwartungshaltung einer stärkeren Beachtung der kulturellen Unterschiede stand, hat sich inzwischen ausgeweitet. Heute wird unter diesem Begriff auch die stärkere Beachtung der Gleichbehandlung von Frauen und älteren Mitarbeitern (demografische Entwicklung) diskutiert. Im Außenverhältnis haben die Verschiebungen in den Beziehungen zwischen Näher- und Fernerstehenden dazu geführt, dass sich der Anspruch an international agierende Konzerne, die Interessen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen an den Produktionsstandorten zu beachten, erhöht. Dieser Druck auf die Beachtung der Interessen von ferner Stehenden manifestiert sich nicht nur in der Herausforderung, den Gesetzen der Produktionsstandorte gerecht zu werden, sondern auch in dem Druck, durch Missachtung von ethischen Erwartungen der internationalen Öffentlichkeit nicht die Unternehmens- oder Produktmarkten zu beschädigen.
Zu V: Entwicklungstendenzen in der Beziehung des Menschen zu sich selbst In der Beziehung der Menschen zu sich selbst lässt sich in der langfristigen Entwicklung in den Industrieländern beobachten, dass der individuelle Verhaltensspielraum größer geworden ist. Die Möglichkeiten, sich für individuelle Varianten der Lebensführung und Verhaltensstandards zu entscheiden, haben zugenommen. „1885: ‚Die Füße dürfen beim Sitzen nicht zu sehr übereinander geschlagen, zu sehr vorgestreckt oder zu weit auseinander gesetzt werden. Auch wenn sie übereinander gelegt sind, dürfen sie nicht zu weit vom Sitz, den man einnimmt, entfernt werden.‘ 1961: ‚Als oberster Grundsatz beim Gehen, Stehen, Sitzen gilt, natürlich zu sein. Früher durfte man die Beine nicht übereinander schlagen, heute darf man das, wenn es dezent geschieht‘“ (Krumrey 1982, 205).
100
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Die beiden repräsentativen Zitate, die Krumreys umfangreichen Zeitreihen von Originalzitaten entnommen sind, verdeutlichen an den grundlegenden Verhaltenserwartungen (Gehen, Stehen, Sitzen), dass dem Einzelnen 1961 ein deutlich größerer Ermessensspielraum zu seinem Verhalten zugestanden wurde als 1885. Die Ausweitung der individuellen Verhaltensspielräume hängt eng zusammen mit der Verringerung der Machtunterschiede in den oben beschriebenen Beziehungstypen. Die Verringerung der Machtunterschiede eröffnet die Möglichkeit, Entscheidungen unabhängiger zu treffen und Verhaltensweisen individueller zu prägen. Bestimmt bei größeren Machtunterschieden in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren oder höher und niedriger Stehenden das Herrschaftsverhältnis den engen Verhaltenskorridor, bleibt bei geringeren Machtunterschieden in den Beziehungen noch die Restriktion des gesellschaftlich Akzeptierten. Das heißt, die direkte Verhaltenskontrolle ist schrittweise durch – mehr oder weniger – verinnerlichte Verhaltenserwartungen der Beziehungspartner und der Gesellschaft (Institutionen, Netzwerke) ersetzt worden. Dem Einzelnen bleiben somit größere Entscheidungs- und Verhaltensspielräume, sich seinen Weg (Individualisierung) in der Gesellschaft zu suchen. Mit der Verringerung der direkten Verhaltenskontrolle werden Verhaltensweisen (Kleidung, Rollenverhalten) möglich, die vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbar waren. Cas Wouters, der den Prozess der Informalisierung untersucht hat, stellt fest: „Man könnte sagen, Dinge, die einst verboten waren, sind nun erlaubt. Diese Veränderungen sind unter der Bezeichnung ‘Permissivität’ allgemein bekannt“ (Wouters 1982, 279). Jenseits der Debatte, ob mit der zu beobachtenden Individualisierung und Informalisierung der Verhaltensstandards auch eine Veränderung der Selbststeuerungsapparatur der Menschen in den westlichen Industrieländern einhergeht, sind die Veränderungen des Denkens und Verhaltens offenkundig und einschneidend.82 Die historische Transformation des Denkens und Handelns ist so grundlegend, dass Ulrich Beck in seiner Arbeit über die Risikogesellschaft zum Thema Individualisierung schreibt: „Das, was sich seit den letzten zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik (und vielleicht auch in anderen westlichen Industriestaaten) abzeichnet, ist nicht mehr im Rahmen der bisherigen Begrifflichkeiten immanent als eine Veränderung von Bewusstsein und Lage der Menschen zu begreifen, sondern – man verzeihe mir das Wortmonster – muß als Anfang eines neuen Modus der Vergesellschaftung gedacht werden, als eine Art ‘Gestaltwandel’ oder ‘kategorialer Wandel’ im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ (Beck 1986, 205). 82
Auf diesen strittigen Zusammenhang bezieht sich die oben angeführte Debatte zwischen den Zivilisationsforschern in der Tradition von Norbert Elias und dem Ethnologen Hans Peter Duerr.
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
101
Becks Feststellung, dass sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft grundlegend verändert, ist richtig. Die oben angeführten Entwicklungsstatistiken zeigen jedoch, dass die Vergesellschaftung – zum Beispiel die Länge der Ausbildung oder die Einbindung der Frauen in bezahlte Beschäftigungsverhältnisse – sich nicht erst seit den 1960er Jahren wandelt. Die Form der Vergesellschaftung, das Zusammenspiel zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, ist schon deutlich länger im Umbruch. Dies ist zum einen an den oben skizzierten Veränderungen der sozialen Beziehungstypen ablesbar, zum anderen zeigt sich diese Wandlung im Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft in den sozialen Lebensformen. So lässt sich an der Entwicklung eines Kernbereichs aller menschlichen Lebensformen, nämlich den Wohnverhältnissen, der Trend zur Individualisierung langfristig nachzeichnen: Die Haushaltsgröße, ein Kern dieser Lebensgestaltung, hat sich in den letzten hundert Jahren stark verändert. Um 1900 gab es in Deutschland noch zu 44 Prozent Haushalte, in denen 5 Personen und mehr lebten, aber nur 7 Prozent Haushalte mit einer Person. Im Jahr 2001 hatte sich dieses Verhältnis fast verkehrt: Haushalte, in denen 5 Personen und mehr lebten, gab es gerade noch zu 4,3 Prozent, Singlehaushalte hingegen zu 36,6 Prozent (vgl. Abb. 27). Die Verschiebungen in den Haushaltsgrößen sind kein spezifisch deutsches Phänomen, sondern typisch für die westlichen Industrieländer (vgl. Abb. 28). Wie die oben diskutierten Entwicklungsstatistiken belegen, greift die geografische Parallelität in den Entwicklungen nicht % der Bevölkerung 50 nur für die Haushaltsgrößen, sondern für 40 die Transformation der Lebensformen und 30 Biografiemuster in den Industriestaaten generell. Die Gründe für 20 die weitgehend einheitlichen Veränderungen 10 der Lebensformen und Biografiemuster in den westlichen Industriege1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 sellschaften liegt in der 1 Person engen Wechselwirkung 3 Personen mit dem prägenden 5 Personen und mehr Charakter der oben Abb. 27: Die Haushaltsgrößen in Deutschland (Horx 2002b, 8) beschriebenen nach-
102
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
70 60 50 40 30 20 10 0 1 Person
2 Personen
3 Personen
4 Personen
5 Personen
Deutschland 2000
36,1
33,4
Frankreich 2001
31,5
32,4
14,7
11,5
4,4
15,1
13,5
UK 2000
31,0
7,5
33,0
16,0
13,0
Finnland 1999
6,0
36,9
31,2
13,9
11,4
4,6
Österreich 2000
30,5
30,4
16,3
14,8
7,9
Schweiz 1993
32,4
31,6
14,9
14,5
6,5
Marokko 1995
1,0
4,7
7,1
11,6
15,0
6 Personen und mehr
2,1
60,5
Abb. 28: Die Haushaltsgröße ausgewählter Länder im Vergleich (Horx 2002b)
haltigen Veränderungstreiber (Bevölkerungsentwicklung und sozio-technische Interdependenzen). Vor dem Hintergrund der in den Industriegesellschaften weitgehend einheitlich wirkenden nachhaltigen Veränderungstreiber, der Parallelität der hier angeführten Entwicklungsstatistiken und der vergleichbaren Transformation von Lebensformen und Biografiemustern spricht viel dafür, dass auch die qualitative Interpretation der Individualisierung für die westlichen Industrieländer verallgemeinert werden kann. Nach seiner längeren Auseinandersetzung mit dem Thema der Individualisierung hat Ulrich Beck 2003 in einer Arbeit fünfzehn Thesen zur Individualisierung formuliert (vgl. Beck 2003). Da diese Thesen meines Erachtens die Veränderung der Beziehungen des Individuums zu sich selbst auch aus einer qualitativen Perspektive umfassend skizzieren und die Konsequenzen der Veränderungen für die Unternehmen dadurch greifbar werden, sollen die Beckschen Thesen hier stichwortartig wiedergegeben werden83: 83
Die Zitate sind der Vorveröffentlichung: „Die Theorie des eigenen Lebens“ entnommen
103
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
1. „Der Zwang und die Möglichkeit, ein eigenes Leben zu führen, entstehen in der hochdifferenzierten Gesellschaft“ (Beck 1995, 1). Da die Gesellschaft in einzelne Funktionsbereiche zerfällt, wird das Individuum als Steuerzahler, Autofahrer, Konsument, Wähler, Mitarbeiter etc. zum Wanderer zwischen diesen Funktionswelten. 2. „Das eigene Leben ist gar kein eigenes Leben“ (ebenda, 1)! Die Menschen müssen unter Bedingungen ein eigenes Leben führen, die sich weitgehend ihrer Kontrolle entziehen; größere Institutionen, Regelwerke, Gesetze, die Weltwirtschaft konstruieren die Lebensbedingungen. 3.
„Das eigene Leben ist also das durch und durch institutionalisierte Leben“ (ebenda, 1).
4. „Die Normalbiografie wird zur Wahlbiografie, zur ‚Bastelbiografie‘, zur Risikobiografie, zur Bruch- oder Zusammenbruchsbiografie“ (ebenda, 2). 5. „Trotz – oder besser: wegen – der institutionellen Vorgaben und der oft unkalkulierbaren Unsicherheit ist also fünftens das eigene Leben zur Aktivität verdammt“ (ebenda, 2; vgl. auch Abb. 29). 6. „Eigenes Leben – eigenes Scheitern“ (ebenda, 2). Die gesellschaftlichen Risiken (z. B. Arbeitslosigkeit – Konzept der „Ich-AGs“) werden individualisiert; die gesellschaftlichen Krisen erscheinen als individuelle Krisen. 7. „Die Menschen ringen um ein eigenes Leben in einer Welt, die sich immer mehr und offensichtlicher ihrem Zugriff entzieht, ja die unentrinnbar global vernetzt ist ... Das eigene ist zugleich das globale Leben“ (ebenda, 3).
97
Being responsible for your own actions Being in good health Being able to stand up for yourself Being able to communicate your feelings Having faith in God Having children Have a fullfilling job Being a good neighbour Being financially secure Being married
91 89 78 75 71 70 68 65 62
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
Abb. 29: Das neue Wertemuster in den USA (Horx 2002b, 7)
(vgl. Beck 1995). Eine ausführlichere Erläuterung zu den Thesen bieten Beck und andere in dem Buch „Eigenes Leben“ (vgl. Beck 1995).
104
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
8. „Das eigene Leben ist zugleich das enttraditionalisierte Leben“ (ebenda, 3). Dies bedeutet nicht, dass Traditionen keine Rolle mehr spielen, sondern dass sie zunehmend individuell gewählt werden müssen, weil die kollektiven Identitäten sich auflösen (vgl. hierzu die Thesen von Joshua Meyrowitz in diesem Kapitel). 9. „Fasst man Globalisierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung zusammen, dann wird klar, neuntens: Das eigene Leben ist ein experimentelles Leben“ (ebenda, 4). Die überlieferten Lebenskonzepte sind vielfach obsolet, die Lebensentwürfe können nicht mehr aus Traditionen abgeleitet werden. 10. „Das eigene Leben ist demgegenüber zehntens ein reflexives Leben“ (ebenda, 4). 11. Die Gruppenkategorien der Industriegesellschaft werden kulturell aufgehoben und transformiert (vgl. ebenda, 4). 12. „Das eigene Leben ist in diesem Sinne eine spätmoderne (...) Lebensform, welche zwölftens – hoch bewertet wird“ (ebenda, 4). Das Individuum widmet sich selbst viel Aufmerksamkeit (vgl. Abb. 30). 13. „Eigenes Leben ist so betrachtet das radikall nichtidentische Leben“ (ebenda, 5). %
80 70 60 50 40 30 20 10 0 1974
1986
1997
2001
2002
Glück und Freude Das Leben genießen Helfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen Ganz für andere da sein (Zahlen nur für Westdeutschland)
Abb. 30: Die Lebensorientierung (Horx 2002b, 4)
2.1 Nachhaltige Veränderungstreiber am Anfang des 21. Jahrhunderts
105
14. „Das eigene Leben ist durchaus ein moralisches Leben, jedenfalls ein Leben auf der Suche nach einer Moral der Selbstbestimmung, einer Moral von unten“ (ebenda, 5). 15. „Das eigene Leben ist das Diesseits-leben, sein Ende ist das Ende“ (ebenda, 5). Die in Becks 15 Thesen umfassend interpretierten Veränderungen der Beziehung des Individuums zu sich selbst beeinflussen die Unternehmen und den Führungsalltag – wie die Veränderungen der anderen Beziehungstypen – in vielfacher Hinsicht. So ist es selbstredend, dass eine Internetrecherche zu dem Thema Individualisierung heute weniger soziologische Analysen anzeigt, sondern Konzepte zur Individualisierung im Marketing, Verkauf und für DV-Programme. Individualisierung, in den 1980er Jahren noch als sperrige Kategorie der Soziologen gesehen, ist zum alltagstauglichen Begriff geworden, der das Kaufverhalten, das Mitarbeiterverhalten und eine zeitgemäße Variante variabler Führung zu beschreiben versucht. Insgesamt zeigt der Aufriss zur Entwicklung der sozialen Beziehungstypen, dass die Wirkungskraft dieses Veränderungstreibers mit dem Einfluss der Bevölkerungsentwicklung und der sozio-technischen Interdependenzen verr gleichbar ist. Die drei nachhaltigen Veränderungstreiber sind gleichzeitig die wesentlichen Entwicklungsstränge und damit auch Triebkräfte der sozioökonomischen Veränderungen. Ihre Entwicklungsrichtungen bestimmen Megatrends, Trends und vielfach auch den Erfolg oder Misserfolg kurzfristiger Lösungsversuche. Für diese Prägekraft der nachhaltigen Veränderungstreiber wurden durchgängig Beispiele angeführt. Dass die Prägekräfte der nachhaltigen Veränderungstreiber – besonders die Entwicklung der Beziehungstypen – häufig verkannt werden, hängt sicher damit zusammen, dass die Wirkungsweisen komplex sind. Verstärkt wird das Verständnisproblem dadurch, dass die Veränderungstreiber nicht – wie hier aus analytischen Gründen dargestellt – getrennt wirken. In der sozio-ökonomischen Realität greifen sie ineinander und entfalten in der wechselseitigen Verstärkung ihre Wirkungskräfte auf das sozio-ökonomische Gefüge. Im nächsten Arbeitsschritt wäre es sinnvoll, die Wirkungszusammenhänge der nachhaltigen Veränderungstreiber im Detail zu untersuchen. Dieser Anspruch ginge jedoch über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Stattdessen wird im folgenden Schritt die Frage behandelt, welche Determinanten des strategischen Wettbewerbs sich aus den Entwicklungen der nachhaltigen Veränderungstreiber ergeben. Die Ableitung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs dient dazu, notwendige Führungsleistungen und damit auch Führungsanforderungen begründeter und nachhaltiger formulieren zu können.
106
2.2
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Von den nachhaltigen Veränderungstreibern zu den Determinanten des strategischen Wettbewerbs
Die oben diskutierte Eingangsfrage, welche Arbeitsschritte notwendig sind, um einen Orientierungsrahmen für die Führung in Zeiten des Umbruchs zu entwerfen, hat zunächst zur Reflexion der nachhaltigen Veränderungstreiber geführt. Der auf diesem Wege entwickelte Bezugsrahmen der DIBs (Demografie, sozio-technische Interdependenzen, soziale Beziehungstypen) eröffnet die Möglichkeit, die Willkür bei der Identifikation wichtiger Determinanten des strategischen Wettbewerbs zu überwinden.84 Ein hinreichendes Verständnis der DIBs ermöglicht es, nachhaltig den Markt prägende Entwicklungen einordnen und abschätzen zu können. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen, die hier als Determinanten des strategischen Wettbewerbs bezeichnet werden, ist es schließlich möglich, die Anforderungen an die Führung in den Unternehmen generell zu bestimmen. Das heißt, die in der Managementliteratur je nach empfundener Aktualität oder kurzfristigen Ereignissen diskutierten Themen (z. B. Diversity, Dehierarchiesierung, Komplexität oder Stakeholder versus Shareholder) können vor dem Hintergrund der DIBs verstanden und angemessene Führungsantworten formuliert werden. Auch wenn diese Vorgehensweise nachvollziehbar erscheinen mag, ist sie nicht unstrittig. In der Managementpraxis und –lehre gibt es zumindest zwei Ansätze, die es für sinnvoll halten, die komplexen Zusammenhänge zwischen der Führung in Unternehmen und der Marktentwicklungen anders aufzulösen. Zum einen verteidigen viele Führungskräfte einen alltagstheoretischen Ansatz. Sie formulieren den Anspruch, die besten Antworten auf die vielfältigen Veränderungen und Herausforderungen des Marktes intuitiv, also aus ihren Erfahrungen heraus, geben zu können. Zum anderen versuchen auch renommierte Strategen die Komplexität der Einflussgrößen auf anderem Wege einzugrenzen. Zu den alltagstheoretischen Ansätzen ist kritisch anzumerken, dass sie nur so lange realitätsgerechtes Handeln hervorbringen können, wie die notwendigen Führungsaktivitäten als Antworten auf die sozio-ökonomischen Entwicklungen aus den bisherigen Erfahrungen ableitbar sind. Die Erfolgswahrscheinlichkeit dieses vergangenheitsorientierten Vorgehens nimmt jedoch in sich dynamisch verändernden Rahmenbedingungen schnell ab. Der Grund hierfür ist, dass die Passung zwischen neuen Einflussvariablen (Marktbedingungen, Mitarbeiter84
In neueren Veröffentlichungen zum strategischen Management, die ausdrücklich Orientierungshilfen bieten wollen, werden dem Leser gerade auf dem komplexen Feld der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen zum Teil wenig hilfreiche „Auswahlkataloge“ (vgl. Nagel & Wimmer 2002, 135-141) oder heuristische Zugänge (vgl. Müller-Stewens 2002) angeboten.
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
107
verhalten, technische Lösungen, Prozessmodelle, Kundenverhalten etc.) und alten Entscheidungsmustern und Führungshandeln bei zunehmender Veränderungsgeschwindigkeit häufig nicht mehr gegeben ist. Welche Konsequenzen es hat, wenn Führungskräfte sich trotz der beschleunigten Entwicklungen bei der Bewältigung von Marktherausforderungen auf ihre Erfahrungen berufen, wurde oben unter dem Stichwort „Logik des Misslingens“ dargelegt. Der prominenteste akademische Versuch der letzten 25 Jahre, den notwenigen Radius der Marktanalyse zu reduzieren, stammt von Michael Porter. Zwei Gründe sprechen dafür, an dieser Stelle Porters Weg, die Komplexität der Marktentwicklungen für die Führung aufzubereiten, intensiver zu behandeln. Erstens formuliert auch Porter explizit den Anspruch, die Determinanten des strategischen Wettbewerbs zu beschreiben, zweitens hat sein Ansatz nach der Veröffentlichung der Arbeit „Competetive Strategy“ Anfang der 1980er Jahre eine große Verbreitung erfahren.85 Die 1980 veröffentlichte Arbeit leitet Porter mit einer Eingrenzung des Analyserahmens ein: „The essence of formulating competitive strategy is relating a company to its environment. Although the environment is very broad, encompassing social as well as economic forces, the key aspect of the firm’s environment is the industry or industries in which it competes. Industry structure has a strong influence in determining the competitive rules of the game as well as the strategies potentially available to the firm. Forces outside the industry are significant primarily in a relative sense; since outside forces usually affect all firms in the industry, the key is found in the differing abilities of firms to deal with them” (Porter 1980, 3). In diesen einleitenden Sätzen wird deutlich, dass Porter davon ausgeht, dass Führungskräfte in Unternehmen sich darauf konzentrieren sollten, die Determinanten des strategischen Wettbewerbs jeweils branchenspezifisch zu untersuchen. Diese Sichtweise ist darauf zurückzuführen, dass Porter in der Tradition der Industrieökonomik davon ausgeht, dass der Erfolg eines Unternehmens primär von der Branchenstruktur abhängig ist. Entsprechend sieht er bei der Umweltanalyse die differenzierte Sichtung der Wettbewerbssituation in der jeweiligen Branche im Mittelpunkt. Um die Wettbewerbssituation entschlüsseln zu können, definiert Porter gleich im Anschuss an die Eingrenzung des Analyserahmens die fünf Marktkräfte, auf die sich seines Erachtens die Wettbewerbsanalyse konzentrieren sollte (vgl. Abb.: 31). Die „five forces“ wurden schon wenige Jahre nach ihrer Veröffentlichung zum 85
Porter veröffentlichte in der ersten Hälfte der 1980er Jahre zwei viel beachtete Werke: Competitive Strategy (vgl. Porter 1980) und Competitive Advantage (vgl. Porter 1985). Zur weiteren Diskussion der Porterschen Positionierungsschule und weiterer Strategieschulen vergleiche auch das Kapitel 3.2.
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Potential Entrants
Threat of new entrants
Industry Competitors Suppliers
Buyers Bargaining power of buyers
Bargaining power of suppliers
Rivalry among existing firms
Threat of subsitute products or services
Substitutes T!
OUN
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Abb. 31: Forces Driving Industry Competition (Porter 1980, 4)
Standardrepertoire der Wettbewerbsanalyse und werden bis heute an vielen Business Schools vermittelt. Porter formuliert aber nicht nur den Anspruch, mit der Analyse der Five Forces die wesentlichen Kräfte des Wettbewerbs im Blick zu haben, er geht auch davon aus, dass die strategischen Antwortmöglichkeiten der Unternehmen durch die Branchenstruktur bestimmt sind. Demnach ist je nach Positionierung des Unternehmens in der Branche oder dem Markt86 eine – seltener eine Mischung – der drei generischen Strategien („1. overall cost leadership“; „2. differentiation“; „3. focus“) der optimale Weg (vgl. ebenda, 34-46). 86
Porters Trennung der Begriffe Branche und Markt ist unscharf (vgl. Porter 1980, 75-87). Das entspricht der Idee, dass Kräfte außerhalb der Branche nur von untergeordneter Bedeutung sind.
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
109
Nach der Vorstellung weiterer Analyseinstrumente, die es ermöglichen sollen, die Branchenstruktur zu entziffern und die richtigen generischen Strategien für das Unternehmen auszuwählen (vgl. Porter 1980; 1985), zeigt Porter, dass sein Ansatz auch die Erfassung der Branchendynamik ermöglicht. Dabei bewegt er sich bei der Analyse der Branchenentwicklung in dem zuvor entwickelten Rahmen zur Analyse der Branchenstruktur: „Industry changes will carry strategic significance if they promise to affect the underlying sources of the five competitive forces; otherwise changes are imporr tant only in a tactical sense“ (ebenda, 157). Als dynamische Prozesse, die alle Industrien – jedoch mit einer unterschiedlichen Geschwindigkeit und Wirkungsrichtung – beeinflussen, nennt Porter: „long-run changes in growth; changes in buyer segments served; buyers‘ learning; reduction of uncertainty; diffusion of proprietary knowledge; accumulation of experience; expansion (or contraction) in scale; changes in input and currency costs; product innovation; marketing innovation; process innovation; structural change in adjacent industries; government policy change; entries and exits” (ebenda 164). Mit den hier skizzierten Arbeit Porters und dem von ihm im 1985 veröffentlichten Werk Competetive Advantage (Porter 1985) ausdifferenzierten Instrumenten bietet Porter einen fundiert ausgearbeiteten Zugang zur Analyse des Branchenwettbewerbs. Dabei steht sein Ansatz zum einen in der Tradition der Design- und Planungsschule des strategischen Managements, zum anderen basieren seine Überlegungen auf der industrieökonomischen Forschung (Industrial Organization).87 Seit Ende der 1980er Jahre wurde der Anspruch, mit dem Structure-ConductPerformance-Paradigma, das als Grundmuster auch Porters Überlegungen 87
Vgl. zur Einordnung Porters Ansatz: Bea & Haas 2001, 24-26.
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
zugrunde liegt, die Unternehmen durch die Gewässer turbulenter Märkte manövrieren zu können, häufiger kritisiert. Auf welche Konzeptpunkte sich diese Zweifel beziehen, erläutert unter anderem Henry Mintzberg in einer ausführlicheren Diskussion der Positionierungsschule (vgl. Mintzberg & Ahlstrand & Lampel 1999, 99-145). Hier soll es hinreichen aufzuzeigen, dass Porters Modell Schwächen aufweist, die zur Formulierung eines Orientierungsrahmens für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs überwunden werden müssen. Aus dieser Perspektive müssen folgende Kritikpunkte an Porters Ansatz berücksichtigt werden: Die Analyse der relevanten sozio-ökonomischen Einflussfaktoren, auf die die Unternehmen antworten müssen, ist zu eng gefasst. Die von Porter genannten Treiber des branchenspezifischen Wettbewerbs werden selbst durch die oben skizzierten nachhaltigen Veränderungstreiber und die sich daraus ableitenden Determinanten des strategischen Wettbewerbs geprägt. Immer häufiger stehen Unternehmen vor der Herausforderung, ihre Anpassungsfähigkeit auf fundamentale Veränderungen des gesamten Marktes zu beweisen, statt nur nach den Branchenregeln optimal zu konkurrieren.88 Dies zeigt sich zum Beispiel, wenn die Digitalisierung / Virtualisierung als Bestimmungsgröße, die durch die Dynamik der sozio-technischen Interdependenzen getrieben ist, die Märkte verändert. So musste in den letzten Jahren die Musikindustrie mit dem aufkommenden Internetvertrieb von Musiktiteln ihre Geschäftsmodelle überarbeiten. Auch die Softwareindustrie und die Buchverlage wurden damit konfrontiert, dass die Digitalisierung / Virtualisierung in Verbindung mit der Demokratisierung zu neuen Produkten (z. B. Linux, Wikipedia) führten, die sogleich die Regeln des Marktes revolutionieren.89 Eine andere Bestimmungsgröße der Märkte, nämlich die Verknappung / Verteuerung von Rohstoffen, die durch die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung und sozio-technischen Interdependenzen getrieben wird, verändert gleichfalls die Spielregeln der Märkte. Beispielhaft werden die fundamentalen Wirkungskräfte der Veränderungstreiber in der Ölindustrie sichtbar: Einerseits beeinflussen die bevölkerungs- und wachstumsstarken Staaten China und Indien durch aggressive strategische Zukäufe den Markt, andererseits muss die Ölindustrie lernen, dass sie ihre Geschäftsstrategien wegen der erstarkten nationalen Interes88
89
Folgt man den Forschungsergebnissen von Kim und Mauborgne, die Porters Ansatz wiederholt als zu eng kritisieren, dann geht es heute er darum, „to challenge an industry‘s strategic logic and business model“ (Kim & Mauborgne 2005, 29). Linux, ein Betriebssystem das als „open source“ Software kostenfrei genutzt werden kann, erschüttert die Softwareindustrie; Wikipedia, ein internetbasiertes, ständig von den Benutzern erweitertes und aktualisiertes Universallexikon, wird den Markt für Enzyklopädien und andere Wissensprodukte neu definieren (vgl. Tapscott & Williams 2006).
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
111
sen von Förderländern überdenken muss. – Diese Beispiele für Zusammenhänge zwischen nachhaltigen Veränderungstreibern, Determinanten des strategischen Wettbewerbs und Veränderungen in einzelnen Märkten oder Branchen ließen sich beliebig ergänzen. Letztlich unterstreichen sie die These: Porters Bezugsrahmen zur Branchenanalyse ist fundiert und nützlich, aber für diskontinuierliche Märkte gefährlich eng angelegt. Der zu eng gefasste Ansatz zur Analyse relevanter sozio-ökonomischer Einflussfaktoren führt für die Unternehmen in turbulenten Märkten zu einer kritischen Verkürzung der möglichen Reaktionszeit. Der branchenspezifische Wettbewerb ist von der Dynamik der nachhaltigen Veränderungstreiber abhängig, das heißt ohne ein Verständnis der nachhaltigen Veränderungstreiber und der durch sie geprägten Determinanten des strategischen Wettbewerbs, kann eine notwendige Reaktionsfähigkeit der Führungskräfte auf die Marktentwicklungen nicht gesichert werden. Porter diskutiert in einer jüngeren Veröffentlichung selbst ein Unternehmensbeispiel (Southwest Airlines), an dem sich die Bedeutung des Faktors Reaktionszeit verdeutlichen lässt (vgl. Porter, 1996). Da Porter jedoch auch dieses Beispiel mit seinem statischen Modell bearbeitet, bleibt seine Erklärung der vom Management von Southwest Airlines geschaffenen Marktvorteile unvollständig. Aus seiner Sicht ist das Management durch die Analyse der Branchenstruktur zur Wahl einer generischen Strategie gekommen, die letztlich in einen optimalen „fit“ operativer Aktivitäten („operational effectiveness“) übertragen wurde. Diese Analyse des Falls Southwest Airlines ist zwar zutreffend, aber statisch und damit unvollständig. Denn entscheidend war, dass das Management der Fluggesellschaft schon 1987, als das Unternehmen gerade 5% an dem zudem kleinen Markt der Billiganbieter hielt, die Entscheidung getroffen hat, auf diesem Zukunftsmarkt die Marktführung anzustreben. Gleichfalls war es erfolgsunterstützend, dass die Entwicklung des Kerosinpreises (Verteuerung der Rohstoffe) vorweggenommen wurde und durch eine langfristige Einkaufstrategie (Hedgefondlösung) entsprechend Konkurrenzvorteile realisiert wurden. Der Erfolg von Southwest Airlines ist somit zum Teil auf die konsequente Umsetzung der gewählten generischen Strategie (Kostenführerschaft) zurückzuführen. Die harte Arbeit, die operativen Geschäftskomponenten zur Umsetzung der Strategie konsequent aufeinander abzustimmen, hätte jedoch nur wenig genutzt, wenn die Unternehmensführung nicht die Entwicklungen des Marktes über einen Zeitraum von 20 Jahren treffsicher eingeschätzt hätte. Besonders wird von Porter – geleitet durch das Structure-Conduct-Performance Paradigma – die strategische Relevanz der Führungskräfte und Mitarbeiter unterschätzt. Diskontinuierliche Märkte verlangen eine gesteigerte
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Anpassungsfähigkeit der gesamten „lebenden Organisation“.90 Diese Anpassungsfähigkeit der Organisation kann nicht ausschließlich durch eine Branchenanalyse, eine generische Strategie und operative Effizienz gesichert werden.91 Vielmehr sind hierzu das Engagement und die strategische Kompetenz gefragt, um die Überwindung eingeschliffener Kulturmuster einleiten, Innovationen fördern und die Produktivität in der Veränderung sichern oder durch Veränderungen steigern zu können.
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Durch die angeführten Kritikpunkte wird deutlich, dass die Stärke des Porterschen Ansatzes, nämlich der konzentrierte Blick auf die Branchenstruktur, zugleich die Schwächen seiner Vorgehensweise bestimmt: Die sozio-ökonomischen Einflussgrößen und die Unternehmensressourcen (besonders: kulturelle Veränderungsfähigkeit, Innovationskompetenz und Produkt hal ige V h tivitätssteuerung92) finden e c r a zu wenig Beachtung. Poren des s ant tra ter schafft so eine Branin t m chenwelt, die nur wenige Antworten der Führungskräfte Überschneidungen zu den schwerer kalkulierbaren Entwicklungen in der Gesellschaft und den Unternehmen zulässt. n te
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Tatsächlich gibt es die „Branchenmonaden“ jedoch immer weniger; die sozio-ökonomischen Interdependenzen der Unternehmen werden hingegen vielfältiger und dynamischer (vgl. Abb. 32):
Abb. 32: Porters Bezugsrahmen im Kontext der Bestimmungsgrößen für den Unternehmenserfolg insgesamt 90 91
92
Der Begriff der „Living Company“ wurde von Arie de Geus geprägt (vgl. Arie de Geus 2002). Auch für Southwest Airlines gilt – was Porter in seiner Diskussion dieses Fallbeispiels nicht diskutiert –, dass der Erfolg des Unternehmens auf einer spezifischen Unternehmenskultur, einem entsprechenden Führungsstil und einem ausgeprägten Commitment der Mitarbieter fußt (vgl. Cohen 2005 http://www.babsoninsight.com/contentmgr/ showdetails.php/id/793; Gittel 2003). Porters Ansatz zur Produktivitätssteuerung ist stark durch klassische Ansätze zur Kostenoptimierung geprägt. Die Variablen Zeit und Wissen, die für die Produktivität von Wissensunternehmen eine große Bedeutung haben, werden von ihm nicht intensiver behandelt.
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
113
„Strategic management in the innovation economy requires a new mindset, rooted in a systematic (networked, interactive) view and not a traditional (mechanistic) value-chain, industry-bound, or an existing (physical, internal) resource capacity orientation” (Davenport & Leibold & Voelpel 2006, 8). Die fortgesetzte Popularität und Nutzung des Porterschen Ansatzes trotz der veränderten Marktbedingungen ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass er die ohnehin verbreitete Gangart des Managements, den Regeln der Branche und der in diesem Rahmen für das Unternehmen jeweils angemessen erscheinenden Strategie zu folgen, theoretisch unterstützt. Diese zunehmend weniger zeitgemäße „Interpretationsallianz“ aus Porterscher Theorie und Unternehmensstrategen fördert unweigerlich die generell kritische Neigung, die Dinge beizubehalten und richtig zu tun, auch wenn es schon heute oder in absehbarer Zukunft nicht mehr die richtigen Dinge (Strategien, Strukturen, Produkte, Prozesse etc.) sind. Porters Bezugsrahmen wird damit bei unkritischer Nutzung eher zur konzeptionellen Begleitung der oben im Text unter den Stichworten „cultural lock-in“ und „active inertia“ reflektieren Probleme. Dass die „innovation economy“, wie Davenport, Leibold und Voelpel die hochgradig dynamische und interdependente Wirtschaft nennen, eine andere Innovationsorientierung benötigt, als Porters Bezugsrahmen und die verbreitete Tendenz zum „cultural lock-in“ dies fördern, zeigt auch die langfristig angelegte Innovationsforschung. Sie weist nach, dass Manager seit den 1980er Jahren verstärkt dazu tendieren, weniger in Entwicklungen zu investieren, die unter die Kategorien „Grundlagenforschung“, „Erneuerung“, „Durchbruch“ oder gar „visionäre Entwicklung“ fallen (vgl. Berth 2003, 18; Lev 2004, 44). Da die tatsächlich erzielte Rendite bei den angeführten Innovationsformen höher ist als bei der Verbesserungsarbeit und die sogenannte „Floprate“ ähnlich ausfällt, ist diese Managementpraxis nicht sachlich begründet. Hier greift eher eine Kombination aus einer psychologischen Wirkungskette (unsichere Rahmenbedingungen ↔ Verunsicherung ↔ Risikovermeidung ↔ statisches Verhalten) und nicht mehr zeitgemäßen Managementansätzen. Diese psychologische Wirkungskette im Management, dass Führungskräfte trotz diskontinuierlicher Veränderungen an den alten Regeln und etablierten Produkten, Prozessen, Strategien festhalten, wird durch die „Branchengeschlossenheit“ und Statik des Porterschen Ansatzes unterstützt. Die Konsequenzen aus dieser Kombination aus dem Stabilitätsideal des Managements und der Branchenfokussierung der Strategieberatung lassen sich in eine Regel fassen, die heute eine steigende Wirkungskraft entfaltet: Innovativere (Brachenregeln brechende) Unternehmen verdrängen verwaltende und unflexible Unternehmen schneller denn je aus dem Markt (vgl. Kim & Mauborgne 2005; Davenport & Leibold & Voelpel 2006).
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Um die Fixierungg des Managements auf den Status quo zu überwinden, muss das Verständnis der Veränderungstreiber und der die Zukunft gestaltenden Determinanten des strategischen Wettbewerbs ein ähnliches Gewicht erhalten wie die Analyse der aktuellen Wettbewerbsstrukturen, das Denken in den gegenwärtig passenden Strategien und das Arbeiten an der operativen Effizienz. Die geschäftliche Zweckmäßigkeit dieser Vorgehensweise wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Arbeit an der Frage, wie die Determinanten des strategischen Wettbewerbs im hier verstandenen Sinne das eigene Geschäft verändern, keine spekulative Beschäftigung mit unwahrscheinlichen Zukunftsszenarien ist. Die aus den nachhaltigen Veränderungstreibern ableitbaren Determinanten des strategischen Wettbewerbs stehen immer für Entwicklungen, die heute schon erkennbar sind und ihre Prägekraft verstärkt entfalten. Die Frage, wie die Determinanten des strategischen Wettbewerbs, die immer eine ablesbare Entwicklungsrichtung aufweisen, das jeweilige Geschäft beeinflussen (werden), ist damit Management der Zukunft in der Gegenwart. Und da sich Führungskräfte in Unternehmen daran messen lassen müssen, dass sie nicht nur aktuelles Geschäft abwickeln – denn dann wäre die Bezeichnung Verwalter treffender –, sondern in der Gegenwart die Zukunft des Unternehmens schaffen, ist ihre Beschäftigung mit den Veränderungstreibern und den Determinanten des strategischen Wettbewerbs eine Schlüsselaufgabe: „Performance in management, therefore, means in large measure doing a good job of preparing today’s business for the future. This is where the measurement of management performance – or at least an appraisal of it – is needed the most, especially in turbulent times” (Drucker 1980, 68). Bevor dargelegt wird, wie die Ansprüche an die Führungskräfte, nicht nur die Gegenwart zu verwalten, sondern auch in die Zukunft zu führen, realistisch in den Alltag übertragen werden können, muss der Orientierungsrahmen der Führung komplettiert werden. Hierzu werden aus den nachhaltigen Veränderungstreibern die Determinanten des strategischen Wettbewerbs abgeleitet. Die Ableitung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs erfolgt dabei auf einem Integrationsniveau, auf der sich sozio-ökonomische Entwicklungen benennen lassen, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum (mehrere Jahrzehnte) die Märkte prägen werden. Damit wird zugleich deutlich, dass es von großer Relevanz ist, auf welchem Integrationsniveau die Determinanten des strategischen Wettbewerbs abgeleitet werden. Denn das Integrationsniveau der Determinanten – dies wurde durch die Beschreibung der nachhaltigen Veränderungstreiber in diesem Kapitel verdeutlicht – bestimmt in der Regel, ob und inwiefern diese eine Aussage zur Entwicklungsrichtung, Geschwindigkeit, Reichweite (Nachhaltigkeit) und Wirkungskraft zulassen. Obgleich die Einschätzungen zu der Richtung, Geschwindigkeit, Reichweite und Wirkungskraft von marktprägenden Entwicklungen ohne Zweifel ent-
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
115
scheidend sind, kann man dennoch beobachten, dass dem Problem der Integrationsebene bei der Ableitung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs bisher in Theorie und Praxis wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird. Vielmehr ist es üblich, entweder mit sehr abstrakten Sammelbegriffen oder mit der Aufzählung von Trends, Technologien und Themen zu arbeiten.93 Die verwendeten abstrakten Sammelbegriffe repräsentieren zwar in der Regel ein einheitliches Integrationsniveau, ihre Wahl ist aber zum einen ohne einen Bezugsrahmen willkürlich und zum anderen stehen diese Sammelbegriffe nicht selbst für differenziert beschriebene Entwicklungen (vgl. Micic 2006, 65). Damit reduziert sich der Versuch, nutzbares Antizipationsmanagment zu leisten, auf die Formulierung von Trends, Technologien und Themen auf einem niedrigen Integrationsniveau. Die Arbeit mit Trends, Technologien, Themen auf einem niedrigen Integrationsniveau verspricht, sich mit Dingen zu beschäftigen, die in absehbarer Zeit Einfluss auf das Geschäft haben könnten. Die auf diesem Niveau beschriebenen Entwicklungen bieten damit den häufig trügerischen Vorteil, aus der gegenwärtig erlebten Praxis heraus verständlich zu sein. Die Führungskräfte finden in den Trendkatalogen Entwicklungen, die sie aus ihrer Tätigkeit heraus kennen und deshalb meinen abschätzen zu können. Diese für Zukunftsforscher und Führungskräfte gleichermaßen interessante und konsumierbare Antizipationsarbeit birgt jedoch kritische Fallstricke: Ohne Zuordnung der Trends, Technologien, Themen zu den eigentlich treibenden Veränderungen (Bezugsrahmen), lässt sich kaum systematisch klären, welche Entwicklungen insgesamt den Geschäftsverlauf eines Unternehmens maßgeblich beeinflussen werden. Die Richtung, Geschwindigkeit, Reichweite (Nachhaltigkeit) und Wirr kungskraftt von Trends, Technologie und Themen sind ohne einen Bezugsrahmen nicht einzuschätzen, da sie selbst von Entwicklungen auf höheren Integrationsstufe (vgl. Abb. 33). geprägt werden. Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs, das heißt die Benennung von Determinanten des strategischen Wettbewerbs, die grundsätzlich Aufmerksamkeit verdienen und aus denen sich generelle Anforderungen an Führungskräfte ableiten lassen, ist aus den Trendkatalogen nicht ableitbar. Aus der Diskussion dieser Fallstricke der Trendorientierung und aus den oben 93
Die Strukturierungsmodelle der Zukunftsforschung bewegen sich seit den 1960er Jahren auf einem vergleichbaren Niveau: zum Beispiel „Political, Economical, Social, Technological, Ecological, Legal“ (vgl. Micic 2006, 64f.) Auf der anderen Seite werden größere Zahlen von Trends, Technologien und Themen aufgelistet. Der Zukunftsforscher Pero Micic beschreibt in seinem Buch „Das ZukunftRadar“ kenntnisreich rund 80 Trends, Technologien und Themen, die er nach Arten von Zukunftsfaktoren ordnet (vgl. ebenda, 98-303 oder in ähnlicher Form: Matthias Horx 2002b).
116
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
formulierten Kritikpunkten an Porters Ansatz ergeben sich drei Orientierungshilfen für die Ableitung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs aus den nachhaltigen Veränderungstreibern: Die aus den nachhaltigen Veränderungstreibern abgeleiteten Determinanten des strategischen Wettbewerbs müssen ihre Wirkung auf drei Ebenen entfalten: erstens der Gesellschaft (Politik, Wirtschaft, Recht, Umwelt, Technik), zweitens dem Marktt (Branchen), drittens dem Unternehmensnetzwerk (Stakeholder). Durch die Ableitung von Determinanten auf einem Integrationsniveau, das die Wirkung auf allen drei Ebenen gewährleistet, kann ausgeschlossen werden, dass die Determinanten nur kurzfristig aufflammende Trends darstellen. Die Determinanten des strategischen Wettbewerbs müssen eine erkennbare Entwicklungsrichtungg und -geschwindigkeit, große Reichweite (mehrere Jahre bis Jahrzehnte) und breite Wirkungg (für alle Branchen) aufweisen. Den Determinanten des strategischen Wettbewerbs müssen Trends, Technologien und Themen zuzuordnen sein. Wenn Determinanten des strategischen Wettbewerbs diese Kriterien erfüllen, dann können sie dazu genutzt werden, mögliche Wirkungen auf das Geschäft zu antizipieren. Also stellt sich die Frage, welche Determinanten sich unter Berücksichtigung der Kriterien aus den nachhaltigen Veränderungstreibern ableiten lassen. In einem ersten Schritt lassen sich drei Determinanten ableiten, die die höchste Integrationsstufe repräsentieren94: 1. die abnehmende Bevölkerung, 2. die zunehmend engeren und weiträumigeren Interdependenzen und 3. die sich verringernden Machtdifferenziale in den sozialen Beziehungen. Die drei Determinanten beschreiben zugleich die wichtigsten Entwicklungstendenzen der nachhaltigen Veränderungstreiber (DIBs). Zwar sind auch diese sozio-ökonomischen Entwicklungen interdependent, sie stehen aber jeweils für einen nachhaltigen Veränderungstreiber. Auch sind die Wirkungen dieser Determinanten nicht ebenenspezifisch, sondern entfaltet sich auf den Ebenen Gesellschaft, Markt und Unternehmen. Die Entwicklungsrichtungen sowie die wachsende Entwicklungsgeschwindigkeitt dieser sozio-ökonomischen Prozesse wurden oben im Text beschrieben. Die zeitliche Reichweite dieser Determinanten liegt – die Konsequenzen von Kriegen, Katastrophen und Epidemien gro94
Um die Komplexität der Diskussion zu reduzieren, werden hier die Determinanten für die entwickelten Industrieländer und Wissensgesellschaften beschrieben. Einige Einflussgrößen, zum Beispiel die Bevölkerungsentwicklung, verlaufen in den Entwicklungsländern noch gegenläufig.
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
117
ßen Ausmaßes ausgenommen – bei mehreren Jahrzehnten. Die Wirkungsbreite der abnehmenden (zunehmenden) Bevölkerungsentwicklung und der engeren und weiträumigeren Interdependenzen umfasst die Menschheit; die Verringerung der Machtdifferenziale in den sozialen Beziehungen greift zumindest in den westlichen Industrieländern. Berücksichtigen wir die oben beschriebenen Prägekräfte der DIBs, dann ist davon auszugehen, dass die diversen Trends sowie die Markt- oder Branchenentwicklungen von diesen Determinanten des strategischen Wettbewerbs auf der höchsten Integrationsstufe bestimmt werden. Bevor der Blick auf Trends und Branchenbewegungen verengt werden kann, muss deshalb hinterfragt werden, welche Determinanten des strategischen Wettbewerbs mit einer ähnlichen Prägekraft identifiziert werden können. Der Anspruch, die Determinanten des strategischen Wettbewerbs in ihrer weiteren Ausdifferenzierung zu erschließen, führt auf die nächstniedrigere, die zweite Integrationsstufe (vgl. Abb.33). Die sozio-ökonomischen Entwicklungen auf dieser Ebene sind durch die übergeordneten Determinanten geprägt; ihre Charakteristika lassen sich folglich weitgehend aus ihrem Verhältnis zu den drei Determinanten auf der höchsten Integrationsstufe erklären. Das heißt die Entwicklungsrichtung und -geschwindigkeit, die Reichweite und WirNachhaltige Veränderungstreiber
Bevölkerungsentwicklung
Sozio-technische Interdependenzen
Soziale Beziehungen
1. Integrationsstufe
z. B. abnehmende Bevölkerung
z. B. zunehmend engere und weiträumigere Interdependenzen
z. B. abnehmende Machtdifferenziale
2. Integrationsstufe
instabile Sozialsysteme
z. B. zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit
z. B. Informalisierung
3. Integrationsstufe
Entwicklung von Märkten, Produkten, Dienstleistungen, Technologien
Entwicklung von Märkten, Produkten, Dienstleistungen, Technologien
Entwicklung von Märkten, Produkten, Dienstleistungen, Technologien
Abb. 33: Die Integrationsstufen der Determinanten des strategischen Wettbewerbs
118
2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
W i r k u n g Determinanten des strategischen Wettbewerbs
Bevölkerungsentwicklung
Gesellschaft Entwicklungs/ Markt / geschwindigUnternehmen keit
zeitliche Reichweite
Abnehmende Bevölkerungszahl und Arbeitskräfte
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Alternde Bevölkerung
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Instabile Sozialsysteme
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Instabile Regierungen
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Zunehmende internationale Migration
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Wachsende Umweltrisiken/-investitionen
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Primat der „Urbankultur“
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Neue Arbeitsmodelle
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Produktivitätsdruck auf Hand- und Kopfarbeit
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Gefahr der Überkapazitäten
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Verteuerung der Rohstoffe
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
...
soziale Beziehungen
Soziotechnische Interdependenzen
ja / ja / ja
gering
Jahrzehnte
Zunehmende Individualisierung
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende Informalisierung
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende Psychologisierung
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende soziale Vielfalt
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende Generationenkonflikte
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende kulturelle Vielfalt
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende Komplexität
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Zunehmende Internationalisierung
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Zunehmende Konvergenz
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Zunehmende Unübersichtlichkeit
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Zunehmende Konkurrenz
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Zunehmende Kulturkonflikte
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Potentielle Transparenz
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Steigende Informations- und Wissensdichte
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Suche nach Vereinfachung
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Erosion der Branchengrenzen
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Stärkung der Stakeholder
ja / ja / ja
mittel
Jahrzehnte
Digitalisierung/ Virtualisierung
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Anfälligerer Weltmarkt
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Produktivitätsdruck auf Hand- und Kopfarbeit
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
Abnehmende Steuerbarkeit
ja / ja / ja
hoch
Jahrzehnte
...
...
Abb. 34: Die Determinanten des strategischen Wettbewerbs
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
119
kungskraft der Determinanten auf der zweiten Integrationsebene, sind stark abhängig von den Prägekräften der übergeordneten Ebene. Die Determinanten auf der zweiten Integrationsebene lassen sich zum Teil nicht ausschließlich einem nachhaltigen Veränderungstreiber zuordnen. Auch wenn sie vordergründig in der Linie eines Veränderungstreibers stehen, wie zum Beispiel die instabilen Sozialsysteme mit der Bevölkerungsentwicklung oder die Individualisierung mit den sozialen Beziehungen, werden diese Phänomene tatsächlich durch das Zusammenwirken der Determinaten auf der höheren Integrationsstufe erzeugt. Um diese Zusammenhänge aufzuzeigen, wäre es eine nützliche Arbeit, die Determinanten des strategischen Wettbewerbs der zweiten Integrationsebene einzeln herzuleiten, differenziert zu beschreiben und ihre Wechselwirkungen untereinander zu diskutieren. Der vorgestellte Bezugsrahmen könnte durch diese Arbeit weiter vervollständigt und fundiert werden. Für den hier verfolgten Zweck, die Führungsanforderungen in Unternehmen vor dem Hintergrund der nachhaltigen Veränderungen zu formulieren, ist es jedoch hinreichend, die Entwicklungsrichtungen der Determinanten des strategischen Wettbewerbs zu benennen sowie ihre Wirkungsbreite (Gesellschaft / Markt / Unternehmen), Entwicklungsgeschwindigkeit und zeitliche Reichweite grob einzuschätzen (vgl. Abb.34). Durch die Anwendung dieser Kriterien zur Einschätzung der Wirkung wird deutlich: dass die erwähnten Determinanten ihre Wirkung grundsätzlich für das gesamte sozio-ökonomische System entfalten; dass die Entwicklungsgeschwindigkeit bei den meisten Determinanten des strategischen Wettbewerbs auf der zweiten Integrationsebene mittel bis hoch ist, nur die Verringerung der Machtdifferenziale zum Teil Nachhinkeffekte aufweist; dass die Entwicklungsrichtung und Wirkungsbreite für mehrere Jahre bis Jahrzehnte formulierbar ist. Die angeführten Determinanten des strategischen Wettbewerbs verlangen für die Anwendung in der Unternehmensstrategie eine ähnliche Handhabung wie Porters „Fünf-Kräfte-Modell“. Zwar lässt sich die generelle Bedeutung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs durch die angeführten Kriterien unterstreichen, die jeweiligen Konsequenzen für einzelne Branchen oder Unternehmen müssen jedoch individuell analysiert werden. So fallen auf der Ebene der strategischen Unternehmenssteuerung die Antworten auf die Verteuerung der Rohstoffe in einem Transportunternehmen anders aus als in einem IT-Unternehmen, und die zunehmenden Konvergenzen verlangen in einem Biotechnologieunternehmen andere Antworten als bei einem Sportartikelhersteller.
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2 Ein Orientierungsrahmen für Führungskräfte in Zeiten des Umbruchs
Anders als bei der Nutzung der bisher beschriebenen Zusammenhänge für die Unternehmensstrategie sind die Konsequenzen für die Anforderungen an die Führungskräfte weitgehend generalisierbar. Während es bei der Unternehmensstrategie um spezifische Interpretationen und Reaktionen auf die Determinanten des strategischen Wettbewerbs geht, erfordern die marktprägenden Entwicklungen bei den Führungskräften generalisierbare persönliche, strategische und operative Fähigkeiten. Ohne diese Fähigkeiten der Führungskräfte, auf die dargelegten Entwicklungszusammenhänge zu antworten, wird ihr Beitrag zur Sicherung der Überlebensfähigkeit der Unternehmen sich weiterhin kritisch entwickeln (vgl. Abb. 2).
2.2.1 Von den Determinanten des strategischen Wettbewerbs zu den Führungsanforderungen in Unternehmen In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl von Anforderungskatalogen und Managementinstrumenten entwickelt, um die Führungskräfte für die gestiegenen Anforderungen zu präparieren. Die Determinanten des strategischen Wettbewerbs, die letztlich den Anstieg der Führungsanforderungen bewirken, wurden dabei in der Regel nur unsystematisch bearbeitet. Die schlagwortartige Thematisierung der „sozio-ökomomischen Rahmenbedingungen“ dient bis heute in der Regel nur als Beiwerk zur induktiven Vorgehensweise, die eine immer größere Zahl idealtypische Anforderungen hervorbringt. Durch diesen vorherrschenden Zugang nehmen die Anforderungskataloge, die heute für durchschnittliche Führungskräfte formuliert werden, inzwischen äußerst fragwürdige Züge an (vgl. Ulrich, Zenger, Smallwood 1999, 4). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Führungsanforderungen forr muliert und implementiert werden können, um Führungskräfte dabei zu unterr stützen, die Herausforderungen der turbulenten Märkte effektiv beantworten zu können? Die konsequente Beantwortung dieser Frage muss meines Erachtens dazu führen, den Zugang zur Formulierung der Anforderungen an die Führungskräfte und die Steuerung der geforderten Führungsleistungen durch Managementinstrumente neu auszurichten. Um dies zu leisten, ist es notwendig: die Anforderungen an die Führungspersönlichkeit sowie das strategische und operative Führungsverständnis so zu formulieren, dass die Fähigkeiten zur Bewältigung der oben beschriebenen sozio-ökonomischen Entwicklungen gesteigert werden können. die komplexen Anforderungen an die Führungspersönlichkeitt sowie die strategische und operative Führung verarbeitbar zu formulieren. Dies be-
2.2 Von den Veränderungstreibern zu den Marktdeterminanten
121
deutet, dass die Anforderungen an die Führungskräfte auf einem Grundverständnis von der Führungspersönlichkeit, strategischen und operativen Führung aufsetzen müssen. Weiter gilt es, eine möglichst integrative und überschaubare Systematik zu den drei Führungskomplexen (persönlich, strategisch, operativ) zu entwerfen, um der Tatsache gerecht zu werden, dass Führung zwar durch wissenschaftliche Erkenntnisse unterstützt werden kann, aber primär eine komplexe praktische Übung ist. Managementinstrumente zu konzipieren, die die Komplexität der strategischen und operativen Führungsarbeit reduzieren. Diese Forderungen an die Formulierung von Führungsanforderungen und Managementinstrumente werden in den folgenden Kapiteln aufgegriffen. Im ersten Schritt wird das Verständnis von Führungspersönlichkeit, strategischer und operativer Führung des Leadership Asset Approaches (LAA) hergeleitet. Soweit diese Aufarbeitung eine Reformulierung etablierter Ansätze erfordert, wird diese in der Auseinandersetzung mit der verbreiteten Führungslehre und –praxis geleistet. Auf der Grundlage der ausgearbeiteten Führungskomponenten des LAA wird dann das Managementinstrument, das Leadership Asset System (LAS) kurz vorgestellt.
123
3
Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des Leadership Asset Approach (LAA)
„Sorgen wir dafür, daß der menschliche Intellekt nicht am Ende seinen Weg in einem Haufen von Einzelheiten verliert.“ (Comte bei Elias 1981, 49)
3.1
Die Führungspersönlichkeit
Der erste Schritt zur Konkretisierung von Führungsanforderungen führt auf ein historisch belastetes Feld. Auf diesem Feld stellt sich die Aufgabe, die Bedeutung der Führungspersönlichkeit zu berücksichtigen, aber gleichzeitig die lange gepflegten Mythen um die Führungspersönlichkeit aus dem Weg zu räumen. Die wissenschaftliche Aufräumarbeit, die sich auf Grundannahmen und Methoden bezieht, ist schwierig, aber notwendig95: Einerseits hat die Erforschung der Führungspersönlichkeit bisher viel widersprüchliche und zur Steuerung der Führungsperformance kaum nutzbare Ergebnisse hervorgebracht; andererseits ist im Alltag jeder Organisation erlebbar, dass das Leistungsniveau entscheidend durch die Stärken und Schwächen der Führungskräfte geprägt wird. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der erfahrbaren Relevanz der Führungspersönlichkeit im Alltag und den theoretischen Unzulänglichkeiten bei der Interpretation der Wirkungszusammenhänge muss bei dem Versuch, Orientierungshilfen für die Performancesteuerung in Unternehmen zu formulieren, aufgearbeitet werden.
3.1.1 Führungseigenschaften: theoretisch umstritten und praktisch relevant Der Beitrag zur wissenschaftlichen Aufräumtätigkeit auf dem Forschungsfeld der Führungspersönlichkeit beschränkt sich hier auf grundsätzliche theoretische, empirische und praktische Reflexionen. Dies ist der Tatsache geschuldet, dass es kaum einen Aspekt in der Geschichte der Führungsforschung gibt, der vergleichbar lange, intensiv, kontrovers und bisher ohne Konsensbildung diskutiert wurde wie die Führungspersönlichkeit. Hinzu kommt, dass die Quantität der wissenschaftlichen Arbeiten auch auf diesem Gebiet in den letzten Jahren geradezu explodiert ist.96 95 96
Zur wissenschaftlichen Aufräumtätigkeit vgl. Kuhn 1976, 38. „Grint (2005), for example, notes that there were 14,139 items relating to ‘Leadership’ on amazon.co.uk on 29 October 2003. Just two month later this had increased to
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Vor diesem Hintergrund fokussiert die Reflexion zum Thema hier zunächst auf den breitesten Forschungsstrang der schon lange währenden und umfangreichen Erforschung der Führungspersönlichkeit: nämlich den der Eigenschaftstheorie. Im Rahmen dieses Paradigmas wurde in den letzten Jahrzehnten in unzähligen Konstrukten (z. B. Intelligenz, Urteilskraft, Introversion / Extraversion, Dominanz, Verantwortungsbereitschaft, emotionale Stabilität) der Schlüssel zur Erklärung von Führungserfolg gesucht: „Inhaltlich gesehen wurde von diesen Bemühungen keine Eigenschaft ausgelassen, die nach dem jeweiligen Stand der Persönlichkeitsforschung irgendeinen plausiblen Zusammenhang zum Führungsphänomen haben könnte“ (Reber 1995, 654). Hinter der schon lange währenden Suche nach den erfolgsbestimmenden Eigenschaften von Führungspersönlichkeiten stehen stark vereinfachende Grundannahmen. Diese führten schon seit Jahrhunderten in der Führungstheorie und –praxis zu biologistischen und / oder simplifizierenden Antworten auf die reale Komplexität des Führungsprozesses. Der traditionsreiche Reduktionismus besteht im Kern aus zwei Annahmen: 1. Die einzelne Führungskraft bestimmt und prägt Kraft ihrer Persönlichkeit oder bestimmter Eigenschaften den „Lauf der Dinge“97. 2. Das führungsrelevante Profil oder die erfolgssichernden Eigenschaften sind angeboren (vorherrschender Great Man-Ansatz bis ca. 1930) oder in Form von Führungseigenschaften, -fähigkeiten oder -kompetenzen weitgehend gelernt beziehungsweise erlernbar (Eigenschaftstheorien seit 1920 bis heute). Die Gründe, warum der Great Man-Ansatz und die Eigenschaftstheorien mit ihren einfachen Grundannahmen zwar in der Geschichte der Führungsforschung wiederholt in der Kritik standen, aber dennoch in immer neuen Varianten fortleben konnten, sind ideologischer und praktischer Natur98: Zum einen spiegelt sich in der Frage nach der Bedeutung der einzelnen Führungskraft das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, Voluntarismus und Determinismus, Liberalismus und Sozialismus wider (vgl. Elias 1987). So liegt den charismatischen und transformationalen Führungsansätzen zum Beispiel die Annahme zugrunde, dass die relativ autonome Führungskraft (Great Man) durch ihre „Intelligenz“, „Willenskraft“, „Unabhängigkeit“ und „Stärke“ fähig und in der Lage ist, richtige Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen
97
98
14,610” (Jackson 2005, 1312). Vier Jahre später, am 10. November 2007, wurden schon 24.304 Buchtitel zum Thema Leadership ausgewiesen. „Eigenschaften lassen sich umschreiben als relativ breite und zeitlich stabile Dispositionen zu bestimmten Verhaltensweisen, die konsistent in verschiedenen Situationen auftreten“ (Wunderer 2003, 275). Eine Übersicht über die „pros“ und „cons“ des Eigenschaftsansatzes bietet: Grunwald 1980.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
125
(vgl. Neuberger 2002, 142-221).99 Zum anderen bieten der Great Man-Ansatz und die Eigenschaftstheorien neben der Ideologie des individualistischen Voluntarismus wichtige Verwendungsvorteile, denn sie sind einfach, verständlich und leicht zu nutzen (vgl. Neuberger 1976, 44-49). Diese Verwendungsfreundlichkeit der Eigenschaftstheorie spiegelt sich zum Beispiel in ihrer Nutzung in Persönlichkeitstests oder Assessment-Centern wider. Neben der Berücksichtigung der ideologischen und praktischen Existenzgründe der Great Man- und der Eigenschaftstheorien bleibt die Frage nach der wissenschaftlichen Fundiertheit dieser Ansätze. Oswald Neuberger hat in seiner Studie über „Führungsverhalten und Führungserfolg“ und in seinem neueren Werk „Führen und führen lassen“ die Sammelreferate von Stogdill (1948, 1959, 1974), Mann (1959), Ghiselli (1966), Kormann (1968), Bass (1981, 1990), Lord, DeVader & Alliger (1986), Fleishman, Zaccaro & Mumford (1991), Kirkpatrick & Locke (1991) und Lord & Hall (1992) zur Eigenschaftsforschung ausgewertet (vgl. Neuberger 1976, 23-37; 2002, 231-236). Er kommt zu folgenden Schlüssen: 1. „Es gibt a) Zusammenhänge zwischen Führer-Eigenschaften und Erfolg und b) Unterschiede zwischen Führenden und Geführten. 2. Im Mittel sind diese Zusammenhänge schwach und die Unterschiede gering (selten werden durch einzelne Eigenschaften mehr als 10 Prozent der Erfolgsvarianz erklärt; die Gruppen der Führenden und Geführten überlappen sich bei jeder Eigenschaft erheblich). Allenfalls für ‚Intelligenz‘ lassen sich engere Beziehungen nachweisen (s. Lord, DeVader & Allinger 1986) 3. Vielfach finden sich zwischen den Studien erhebliche Streuungen“ (Neuberger 2002, 231). Philip Sadler, der im Jahr 2003 einen Überblick der Leadership-Forschung vorlegte, kommt zu ähnlich kritischen Ergebnissen wie Neuberger: „Unfortunately, empirical studies have failed to establish a link between effective leadership and any single trait or group of traits“ (Sadler 2003, 11). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Warum verfolgt die empirische Eigenschaftsforschung beharrlich einen Ansatz, der fortwährend wenig aussagekräftige Ergebnisse hervorbringt? – Das Verharren vieler Wissenschaftler in einem fragwürdigen Forschungsparadigma hat Gründe, die über die oben angeführten ideologischen und utilitaristischen Erklärungen hinaus gehen. Die tiefer liegenden geschichtlichen Gründe für die Überlebenskraft des empirisch fragwürdigen Forschungsansatzes bestehen in der Wechselwirkung zwischen den Wissenschaften. Hier liegt der Ausgangpunkt für ein fortgesetztes methodisches Problem. Forschungsgeschichtlich haben sich die Sozialwissenschaftler 99
Zur breiten Wirkung politischer Ideologien auf Managementansätze vgl. Ghoshal 2005, 84.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
(besonders die empirische Psychologie) den traditionsreichen und prestigeträchtigen Methoden der Naturwissenschaften angeschlossen.100 Diesem Paradigma folgend nutzt man das „analytische Skalpell“, um die kleinste Einheit im Sozialgefüge (den Menschen) in noch kleinere Einheiten (Eigenschaften) zu zerlegen, um wiederum das Verhalten des Menschen hieraus zu erklären. Wie dies für langfristige Prozesse üblich ist, wurde die Adaption des naturwissenschaftlichen Paradigmas in den Sozialwissenschaften nicht rational geplant oder entschieden. Vielmehr, das zeigt Norbert Elias in seiner Studie zum „Scientific Establishment“, war die Verbreitung des naturwissenschaftlichen Paradigmas als die Methode ein Produkt aus den „unplanned long-term power and status differentials between the various specialized disciplines“ (Elias 1982, 26). Und: “Physicists […] have succeeded in propagating the belief that their own method of setting and solving problems is the only scientificc method and that research not undertaken in accordance with their prescription ought not to be accorded the status of scientific research” (ebenda, 53). Geleitet von diesem Forschungsmuster, dem atomistischen Ansatz, wurden und werden Informationen über isolierte psychologische Konstrukte und Erfolgsfaktoren generiert, die als Erklärungen für den Erfolg komplexer strategischer und operativer Führungsprozesse dienen sollen.101 Dass diese Erklärungsversuche bisher gescheitert sind, wurde ausgeführt. Dies legt den Umkehrschluss nahe, dass Führungserfolg folglich nur aus einem „komplexen Variablenmix“ heraus erklärr bar ist (vgl. Neuberger 2002, 234-236). Ungeachtet der empirischen Befunde und methodischen Bedenken, aber gestützt durch ideologische Neigungen und die einfache Nutzbarkeit, bewegt sich die Diskussion über die wichtigsten Eigenschaften einer Führungspersönlichkeit auch am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht am Wegrand der Forschung: „Despite this, the trait approach is still very much favoured in popular treatment of the subject, as we shall see later” (Sadler 2003, 11). Tatsächlich reicht ein Blick in gegenwärtig viel zitierte Managementbücher, um Sadlers Beobachtungen bestätigt zu finden. Jim Collins, einer der renommiertesten Managementgurus seit den 1990er Jahren, rekurriert letztlich ohne Einschränkungen auf seines Erachtens maßgebliche Führungseigenschaften. 100 Sumantra Ghoshal erläutert in seiner Arbeit “Bad Management Theories Are Destroying Good Manangement Practices” die kritischen Konsequenzen, die aus der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf Managementfragen ergeben können (vgl. Ghoshal 2005, 75-91). 101 Der Versuch, mit einzelnen Erfolgsfaktoren den Geschäftserfolg zu erklären, ist eine Variante des atomistischen Eigenschaftsansatzes auf der Organisationsebene – mit ähnlich unbefriedigendem Ergebnis (vgl. Nicolai & Kieser 2002).
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3.1 Die Führungspersönlichkeit
Obgleich Collins sein akademisches Unbehagen gegenüber den Eigenschaftstheorien formuliert (vgl. Collins 2001, 22), lautet seine Einführung zum populär gewordenen „Level 5 Leadership“ Modell dennoch: „This chapter will focus instead on the distinguishing traits of the good-togreat leaders – namely level 5 traits – in contrast to the comparison leaders in our study“ (ebenda, 21). In seinem „Level 5 Leadership“ Modell deklariert Collins entgegen dem bekundeten akademischen Unbehagen zwei umstrittene Eigenschaften: „Humility + Will = Level 5“ als die Erfolgsfaktoren für Unternehmenslenker auf höchstem Niveau (ebenda, 22). Damit bewegt sich Collins im theoretischen Bezugsrahmen des Great Man-Ansatzes und der Eigenschaftstheorie. Dass weder die von Collins gepriesenen Führungseigenschaften, nämlich „persönliche Bescheidenheit“ und „professionelle Entschlusskraft“, noch die weiteren bei sogenannten „Good-to-Great Companies“ identifizierten Erfolgsfaktoren („First Who...Then What“, „Confront the Brutal Facts“, „The Hedgehog Concept“, „A Culture of Dscipline“, „Technology Accelerators“) als Erfolgsrezepte für Unternehmen greifen, zeigt eine empirische Prüfung der Marktperformance der von Collins genannten Erfolgs- und VergleichsPlatz 1-500; S&P500 1 50 100 150 200 250 300 350 400 450 500 1972
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2004
Alle visionary companies; MW; N = 11 Alle comparison companies; MW; N = 11 Abb. 35: Prüfung der prognostischen Validität von Jim Collins „Good-to-Great Companies“ und „Direct Comparisons“ (vgl. Collins 2001)
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
unternehmen (vgl. Abb. 35).102 Da noch im von Collins angegebenen Untersuchungszeitraum die Vergleichsunternehmen die „Good-to-Great-Companies“ hinter sich gelassen haben, ist ein wichtiger Teil der empirischen Basis von Collins Erfolgsrezept unhaltbar. Aber nicht nur die populären Managementbücher, auch umfangreiche Bemühungen in der empirischen Führungsforschung konzentrieren sich weiterhin auf den Zusammenhang von Führungsattributen und „outstanding Leadership“. In der „Globe-Studie“, in der seit Mitte der 1990er Jahre in über 60 Ländern nach Eigenschaften von exzellenten Führungskräften gesucht wird, werden die klassischen Fragen der Eigenschaftstheorien mit den modernsten empirischen Forschungsmethoden kombiniert (vgl. Jackson 2005; Wunderer 2003, 276) Somit legt der Blick über die Landschaft der Führungsforschung die Schlussfolgerung nahe, dass sich die Eigenschaftstheorien und ihre Derivate bis dato trotz aller Bedenken auch in der Erforschung der Führungsperformance behaupten. Gleichwohl sind die kritischen Forschungsergebnisse nicht ohne Wirkung auf die Entwicklung der Eigenschaftstheorien geblieben. Vielmehr können auf diesem Forschungsfeld die von Thomas S. Kuhn in seinen wissenschaftshistorischen Forschungen herausgearbeiteten degenerativen Entwicklungen beobachtet werden (vgl. Kuhn 1973, 79-103): „Diese Wucherung von Versionen einer Theorie ist ein typisches Symptom einer Krise“ (ebenda, 83). Somit weist das Phänomen, dass die Eigenschaftstheorien sich dennoch in Theorie und Praxis weiter behaupten konnten, neben den angeführten ideologischen und praktischen Gründen, auch darauf hin, dass es einen Mangel an einer theoretischen Alternative gibt, die im Sinne von Thomas S. Kuhn auch widerspruchsfrei zu anerkannten Aspekten älterer Ansätze ist (Kuhn 1978, 422). Besonders ist es den Ansätzen in der Nachfolge zur Eigenschaftstheorie nicht überzeugend gelungen, den im Führungsalltag ständig erlebten Einfluss der Führungspersönlichkeit zu verarbeiten, ohne dem Great Man-Mythos oder den Eigenschaftstheorien fortgesetzt zu erliegen (vgl. Sadler 2003, 10-15; Neuberger 2002, 58-215; Wunderer 1997, 49-88). Diese Beobachtungen führen zu der Frage: Wie lässt sich die Wirkung der Führungspersönlichkeit im Führungsprozess erfassen, ohne sie zugleich zu über- oder unterschätzen?
102 Die Abbildung 35 basiert auf eigenen Datenanalysen, die auf Basis der S&P500 Daten von 1972 bis 2004 durchgeführt wurden. Auf dieser einheitlichen Datenbasis erfolgte auch die Prüfung weiterer „Management-Erfolgskonzepte“. Weiter unten im Text wird auf diese Auswertungen nochmals Bezug genommen.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
129
3.1.2 Strukturen – Habitusformen – Praktiken: zum Erzeugungsmodus des WAS und WIE der Führung Vor 40 Jahren hat der Begründer des modernen Managements, Peter Drucker, in seinem Werk „The Effective Executive“ einen ersten Hinweis zur Beantwortung dieser Frage gegeben. In dieser Arbeit lehnt er die Suche nach der effektiven Persönlichkeit konsequent ab (vgl. Drucker 1996, 21). Stattdessen regt Drucker an, sich bei der Suche nach dem effektiven Manager auf erlernbare Praktiken zu konzentrieren: „Effectiveness, in other words, is a habit; that is, a complex of practices. And practices can always be learned“ (ebenda, 23). Mit dem Verweis auf die erlernbaren und beobachtbaren Führungspraktiken bot Drucker schon in den 1960er Jahren einen Perspektivenwechsel für die Steuerung der Führungsperformance an. Wenn die Steuerung der Führungsperformance bei den Führungsaktivitäten ansetzt, scheint die inzwischen Jahrtausende währende Suche nach der idealen Führungspersönlichkeit oder den wichtigsten Führungseigenschaften zweitrangig. Die aktuelle Performance und der Entwicklungsbedarf der Führungskraft bestimmen sich dann über die Analyse der Führungsaktivitäten und nicht über die Beurteilung theoretischer Persönlichkeitskonstrukte. Drucker stellt mit diesem Ansatz die Messung und Entwicklung der Führungsperformance „vom Kopf auf die Füße“. Dem Vorteil, den das Verlassen des spekulativen Raums der Führungspersönlichkeit durch die Konzentration auf den Führungsoutput bietet, steht der Nachteil gegenüber, dass Erkenntnis- und Steuerungspotenziale auf Seiten der Führungspersönlichkeit ausgeklammert werden.103 Denn in der Tatsache, dass sich der menschliche Habitus104 unweigerlich in den menschlichen Praktiken äußert und folglich die Wahl und die Qualität der Praktiken von der spezifischen Konfiguration des Habitus abhängt, verweist letztlich auf die differenzierende Wirkung der Führungspersönlichkeit. Deshalb bleibt es für die Erfassung und Steuerung der Führungsperformance relevant, auch die Entstehung und Wirkungsweise der Führungspersönlichkeit oder des Führungshabitus zu verstehen. Weiter muss berücksichtigt werden, dass der Kontrast zwischen den zeitgemäßen Anforderungen an die Führungskräfte (unten thematisiert als performancerelevante Mindsets105) und den unweigerlich immer 103 Zur phänomenologischen Verkürzung des Zusammenhangs von Habitus und Praktiken vgl. Bourdieu 1987b, 49 u. 109. 104 Der Begriff Habitus steht für Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die durch dauerhafte soziale Dispositionen erzeugt werden. 105 Der Begriff Mindset wird in dieser Arbeit als notwendige begriffliche Unterscheidung zum Habitusbegriff verwandt. Die Mindsets im Leadership Asset Approach sind präskriptiv, das heißt, sie stellen ein Cluster erwarteter oder geforderter Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata dar, die mit den individuell vorhandenen Habitusformen abgeglichen werden können. Entsprechend wird in diesem Kapitel zur
130
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
schon etablierten Habitusformen darüber entscheidet, ob Anforderungen an Führungskräfte realistisch oder Entwicklungsbemühungen zu Optimierung der Führungsperformance sinnvoll sind. Das heißt, der Habitus, der das WAS und WIE der Führung beeinflusst, darf bei dem Bemühen um eine realistische Steuerung der Führungsperformance nicht zur „Black Box“ oder zur einfachen Relaisstation degradiert werden. Um dies zu vermeiden, ist es notwendig, auf einen fundierten Erklärungsansatz zur Entstehung und Wirkung des menschlichen Habitus zurückzugreifen. Einen ausdifferenzierten Ansatz zur Verknüpfung von Habitus und Praktiken bietet in der Sozialpsychologie und Soziologie Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1979, 139-202; 1987, 277-399; 1987, 97-121). Die Bourdieusche Habitustheorie rekonstruiert eine dynamische Verknüpfung von Strukturen, Habitusformen und Praktiken, um die Entstehung und Prägekraft des menschlichen Habitus zu erklären. Die auch alle Führungsaktivitäten prägenden Wechselwirkungen zwischen den Lebenswelten (Strukturen), den Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern (Habitus) und den Aktivitäten (Praktiken) fasst Bourdieu wie folgt zusammen: „Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen“ (Bourdieu 1987b, 101). Konkret lässt sich demnach die Prägung des Habitus über die Platzierung des Akteurs im sozialen Raum und den damit verbundenen Lebensbedingungen entschlüsseln. Der soziale Raum ist der Mutterboden für den sozialen Habitus, das heißt für die Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Um die genaue Stellung im sozialen Raum analysieren zu können, schlägt Bourdieu eine Theorie der Kapitalsorten vor: „Das Prinzip der primären, die Hauptklassen der Lebensbedingungen konstituierenden Unterschiede liegt im Gesamtvolumen des Kapitals als Summe aller effektiv aufwendbaren Ressourcen und Machtpotentiale, also ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital“ (Bourdieu 1987a, 196). Das Volumen und die Struktur des ökonomischen Kapitals (materieller Besitz), kulturellen Kapitals (Bildung, Titel) und sozialen Kapitals (Verwandtschaft, Beziehungen) kommt vereint im symbolischen Kapital (Kleidung, Körpersprache, Führungspersönlichkeit zunächst ein Erklärungsmodell für den Entstehungsprozess von Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards vorgelegt, bevor ein realistischer Gestaltungsanspruch (Anforderungen in Form von Mindsets) formuliert wird.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
131
Benehmen) zum Ausdruck. Schließlich strukturiert das gesamte Kapitalvolumen und die Kapitalstruktur (Akteurslaufbahn und Volumenzusammensetzung) den Habitus und die soziale Position.106. Die Anwendung dieses Erklärungsmodells auf die Entwicklung des Führungshabitus und die durch ihn erzeugten Praktiken, führt zu folgenden Einsichten: Unabhängig von der Frage, wie groß die Varianz der individuellen Habitusformen durch gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung auch ist oder wird, spiegeln sich im Habitus primär die Lebensbedingungen (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) der Kindheit und Jugend wider.107 Auf diesem frühen Prägestock aufbauend, der den Grundbestand der Denk-, Fühl-, und Wahrnehmungsmuster prägt, erfahren die Menschen in den etablierten und aufkommenden Industrieländern ihre weitere akademische und / oder frühe berufliche Prägung. Wenn schließlich die individuelle Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass gegebenenfalls die Übernahme einer Führungsposition ansteht, sind die Präferenzsysteme (Vorlieben für bestimmte Kunst, Politik, Kleidung, Essen, Beziehungen, etc.) weitgehend ausdifferenziert und etabliert (vgl. Bourdieu 1987a/b). Aus den hier skizzierten Komponenten der Bourdieuschen Habitustheorie (Strukturen-Habitusformen-Praktiken; Kapitalsortenmodell) können wichtige Konsequenzen für die Führungstheorie und –praxis, also auch für die Erfassung und Steuerung der Führungsperformance, abgeleitet werden. Diese ableitbaren Einsichten in die Entstehung und die Wirkungsmöglichkeiten der Führungspersönlichkeit können besonders zu einer sozialpsychologischen Fundierung der Anforderungen, die in dieser Arbeit in Form von Mindsets formuliert werden, beitragen.108 Bevor die Mindsets formuliert werden, sollen folglich die theoretische und praktische Konsequenzen der Habitustheorie diskutiert werden. Zwei grundlegende Konsequenzen für die Führungstheorie sind (1) die notwendige Beachtung der Homologie des (Führungs-) Habitus und (2) die notwendige Vermeidung der phänomenologischen Verkürzungen beim Verständnis von Führungsbeziehungen. Das heißt: 106 Dass diese von Bourdieu in umfangreichen empirischen Studien (vgl. Bourdieu 1987a) herausgearbeiteten Zusammenhänge auch für Führungskräfte zutreffen, belegt Hartmann in Studien zu Leistungseliten in Deutschland und Europa (vgl. Hartmann 2002 und 2007). 107 Auch die Forschungsergebnisse der neueren Hirnforschung verweisen auf die Erfahrungsabhängigkeit der menschlichen Wahrnehmung und die frühe Herausbildung der erfahrungsabhängigen Prozesse (vgl. Hirsch 2003, 83f.). 108 Der wissenschaftliche Hintergrund und das Begriffsverständnis der Mindset-Konzeption werden im Unterkapitel zu den „Performancerelevanten Mindsets“ erläutert. In diesem Teil der Arbeit werden auch die begrifflichen Parallelen und Abgrenzungen zum Habituskonzept diskutiert.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Die Habitustheorie bricht mit den Ansätzen, die Führungsleistung aus einzelnen Eigenschaften [zum Beispiel: Bescheidenheit („humility“), Entschlusskraft („will“) (Collins 2001, 22)] einer Führungskraft erklären zu wollen. Diese Ansätze, die – wie oben beschrieben – bis heute stark verbreitet sind, verkennen, dass der Führungshabitus als strukturierende Struktur homogen ist: „Die Schlüssigkeit, die in allen Produkten der Anwendung desselben Habitus zu beobachten ist, beruht auf nichts anderem als auf der Schlüssigkeit, die die für diesen Habitus konstitutiven Erzeugungsprinzipien den gesellschaftlichen Strukturen (Struktur der Beziehungen zwischen Gruppen, Geschlechtern oder Altersklassen, oder zwischen den gesellschaftlichen Klassen) verdanken, deren Produkt sie sind und die sie gern in verwandelter und unkenntlicher Form reproduzieren, indem sie diese gesellschaftlichen Strukturen in die Strukturen eines Systems symbolischer Beziehungen einfügen“ (Bourdieu 1987b, 173f.). Das Erzeugungsprinzip für Führungsaktivitäten oder einen Führungsstil sind demnach nicht einzelne Eigenschaft, sondern bestimmte Habitusformen. Was wiederum erklärt, warum die Eigenschaftstheorien – unermüdlich, aber mit begrenztem Erfolg – immer neue Eigenschaften aus dem nahezu unerschöpflichen Reservoir der Eigenschaftsbegriffe favorisieren, um endlich die Hauptdimensionen (Eigenschaften), die den Führungserfolg ermöglichen, herauszufiltern.109 In der Regel gelingt es aber – wie oben angemerkt – mit einzelnen Eigenschaften maximal 10 Prozent der Erfolgsvarianz der Führung zu erklären (Neuberger 2002, 231). Der Brückenschlag von der Habitus- zur Führungstheorie bietet die Möglichkeit, den theoretischempirisch fragwürdigen „Reduktionismus“ des Great Man-Ansatzes oder der Eigenschaftstheorien zu überwinden und die Führungspersönlichkeit dennoch berücksichtigen zu können. Mit der Erkenntnis, dass die kollektive und individuelle Geschichte homogene Habitusformen und entsprechende Praktiken erzeugt, rückt die Beachtung dieser Habitusformen bzw. führungsrelevanter Präferenzsysteme und nicht einzelner Eigenschaften in den Vordergrund. – Für die Erfassung der Führungsperformance bedeutet dies, dass die „orientierungslose“ Prüfung der statistischen Korrelationen zwischen einzelnen Merkmalen / Variablen und dem Führungserfolg abgelöst werden kann durch den Abgleich notwendiger performancerelevanter Mindsets mit den vorhandenen Habitusformen. Ist der Habitus tatsächlich strukturierte Struktur (Produkt der Lebensbedingungen) und strukturierende Struktur (Praktiken bestimmend), bietet er also einen Zugang zu einer „Theorie des Erzeugungsmodus der Pra109
Neuberger verweist darauf, dass das Reservoir möglicher Eigenschaftsbegriffe ca. 450.000 Begriffe umfasst (Neuberger 2002, 229).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
133
xisformen“ (Bourdieu 1976, 164), dann sind phänomenologische Ansätze (z. B. dyadische Führungstheorie oder Situationstheorie110) fragwürdige Verkürzungen der realen Entstehungszusammenhänge von Führungsaktivitäten. Denn diese Ansätze reduzieren die Führungsbeziehungen auf die gerade beobachtbaren Interaktionen in den Abgrenzungen einer Situation oder Gruppe. Die Habitustheorie zeigt jedoch,„dass die ‚interpersonalen‘ Beziehungen niemals, es sein denn zum Schein, Beziehungen eines Individuums zu einem anderen Individuum sind, und dass die Wahrheit der Interaktion nie gänzlich in dieser selbst gründet“ (ebenda, 181). Vielmehr treffen auch in jeder Führungsbeziehung einverleibte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata aufeinander, ohne deren Aufdeckung auch die Verhaltensweisen der Führungskraft und des Mitarbeiters nicht entschlüsselt werden können. Wie grundlegend die Berücksichtigung dieser Systeme von Dispositionen, der Habitusformen, ist, um das Verhalten auch von Führungskräften und Mitarbeitern verstehen zu können, wird in den oben thematisierten Zeiten diskontinuierlicher Veränderungen besonders deutlich. Wenn die Marktbedingungen sich schnell ändern und Unternehmen deshalb die Produkte, Strukturen, Prozesse, Steuerungsansätze und Führungsbeziehungen verändern müssen, dann gelingt es nicht jeder Führungskraft oder jedem Mitarbeiter gleich schnell, diese Veränderungen zu verstehen, zu akzeptieren und mitzugehen. Die weniger veränderungsfreudigen Menschen werden im Change Management-Jargon häufig als „Bremser“ bezeichnet. Doch warum es vielen Menschen auch in Unternehmen schwer fällt, bei dynamischen Veränderungen mitzugehen, lässt sich mit phänomenologisch verkürzenden Interaktions- oder Situationstheorien nicht erklären. Hier ist die Berücksichtigung der einverleibten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, der Habitusformen, die in Konflikt zu einer sich schneller als sie selbst verändernden Welt geraten, notwendig, um die Positionierungen dieser Menschen zu verstehen.111 Ein realistisches Bild von dem möglichen Beharrungsvermögen und der selektiven Informationsverarbeitung bestimmter Habitusformen hat sogleich auch wichtige Konsequenzen für die Beurteilung der Führungsperformance. Neben einem besseren Verständnis, wie sich eine Führungspersönlichkeit entwickelt und zur Geltung kommt, lassen sich aus der Habitustheorie weitere relevante Einsichten für die Führungspraxis ableiten. Die Mechanismen, die bei der Wahl und Durchführung von Führungsaktivitäten zur Wirkung kommen, können durch die Berücksichtigung des sozialen und individuellen Er110 Wunderer führt die Vielzahl der Führungstheorien in vier zentrale Beschreibungs- und Erklärungsansätze (Situation, Person, Interaktion, Position) zusammen (vgl. Wunderer 2003, 273f.). 111 Bourdieu beschreibt dieses Phänomen als „Hysteresis-Effekt“ (vgl. Bourdieu 1987b, 116f.).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
zeugungsprinzips, des Habitus, realistischer eingeschätzt und berücksichtigt werden. Entsprechend sollen hier relevante Folgerungen aus der Habitustheorie (besonders: aus dem Zusammenwirken von Strukturen, Habitus und Praktiken) für die Wahl (WAS) von Führungsaktivitäten und zur Qualität (WIE) der Führung umrissen werden: James March112, der sich im Rahmen der Verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorie seit den 1960er Jahren mit Entscheidungs- und Lernprozessen in mehrdeutigen und unklaren Situationen beschäftigt hat, stellt zur Frage der Präferenzen im Entscheidungsprozess fest: „In effect, we have theories of willful and intentional action without a theory of will or intention“ (March 1988, 16f.). Die Habitustheorie bietet einen wesentlichen Teil dieser „theory of will or intention“ und kann damit die Lücke bei der Erklärung von Entscheidungsfindungen weitgehend schließen: Wenn die Habitusformen grundsätzlich die gelebten Praktiken prägen, dann beeinflussen sie auch die gewollten oder intentionalen Handlungen. Hier mögen die Anhänger der „Rational-Choice-Theorie“ und vergleichbarer Ansätze113 einwenden, dass besonders komplexere Entscheidungen nicht durch die gesammelten Erfahrungen und Gefühle, sondern durch komplexere Denkleistungen vollbracht werden. Dies ist insofern richtig, als komplexe Situationen nur mit der Vernunft, also mit dem bewusstseinsfähigen Cortex des Gehirns bewältigt werden können (vgl. Hirsch 2003, 161). Mit diesen Denkleistungen, die auch den Willen und die Vorstellung der Führungskraft umfassen, sind wir jedoch noch nicht bei den relevanten Handlungen. Für diesen Schritt in die Praxis ist Folgendes entscheidend: „Das limbische System hat gegenüber dem rationalen corticalen System das erste und letzte Wort. Das erste beim Entstehen unserer Wünsche und Zielvorr stellungen, das letzte bei der Entscheidung darüber, ob das, was sich Vernunft und Verstand ausgedacht haben, jetzt und so und nicht anders getan werden soll. Der Grund hierfür ist, dass alles, was Vernunft und Verstand als Ratschläge erteilen, für den, der die eigentliche Handlungsentscheidung trifft, emotional akzeptabel sein muss. Es gibt also ein rationales Abwägen von Handlungen 112 James March steht neben Herbert Simon, Charles Lindblom, Victor Vroom, Michel Crozier und Arnold Tannenbaum für einen Ansatz in der Organisationstheorie, der Entscheidungsprozesse als Kernelement im Managementprozess untersucht (vgl. Pugh & Hickson 1989, 117-143; Pugh 1990, 179-329). 113 Auch der Ansatz der „bounded rationality“ (March & Simon 1958, 139) sieht die menschlichen Begrenzungen in der Entscheidungsfindung im rationalen Bereich, nämlich in den begrenzten Informationsverarbeitungskapazitäten. Die Begründer dieses Ansatzes haben sich jedoch in den letzten 30 Jahren Schritt für Schritt von dem „RationalModell“ distanziert und vertreten inzwischen neben anderen Forschern eher ein Modell der „organisierten Anarchie“, die Entscheidungen in der Regel ex-post begründet (vgl. Neuberger 1995b, 168-191, Möslein 2005, 56-70).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
135
und Alternativen und ihrer jeweiligen Konsequenzen, es gibt aber kein rein rationales Handeln“ (ebenda 162). Bei der Wahl (WAS) strategischer und operativer Aktivitäten spielt demnach der Führungshabitus als Sammlung individueller und kollektiver Erfahrungen eine wesentliche Rolle (ebenda 83). Von den Erfahrungen und Gefühlen, die anfangs bei der Zielformulierung und schließlich bei der Handlungsentscheidung das Denken mitbestimmen, können sich Führungskräfte nur bewusst – durch gelernte und geübte Reflexionsfähigkeit – distanzieren. Die Distanzierung verlangt, dass sie sich den Neigungen des habituellen Denkens, Fühlens und Handelns bewusst werden. Im Kern heißt dies zu erkennen, dass der Habitus als lebendige Repräsentanz der individuellen und kollektiven Vergangenheit dazu tendiert: Etabliertes und Erreichtes zu verteidigen, Risiken zu vermeiden und kurzfristigen Nutzen vorzuziehen (ebenda 163f.; vgl. auch Bourdieu 1987b, 113). Mit diesen Neigungen erfüllt der menschliche Habitus eine wichtige Funktion: Er trägt dazu bei, dass eine relativ konstante Welt von Situationen entsteht, in der er glaubt, alle Variablen zu kennen, dadurch souverän handeln kann und es somit den Akteuren ermöglicht, ihre erreichten Stellungen behaupten zu können. Die hier thematisierten veränderungsfeindlichen Tendenzen des Habitus werden erst in einer dynamischen Umwelt zum Problem. Dies ist seit einigen Dekaden und auf nicht absehbare Zeit der Fall: Da sich die Unternehmen und mit ihnen die Führungskräfte seit den 1970er Jahren in einem Markt bewegen, der sich sehr schnell verändert, wird der Habitus häufiger zum paradoxen Begleiter. Wäre es eigentlich seine evolutionäre Funktion, dafür zu sorgen, dass sich die Führungskraft (un-)bewusst richtig verhält, neigt er in Zeiten turbulenter Veränderungen dazu, hinreichend schnelle Anpassungsleistungen eher zu behindern. Um die konservativen Tendenzen des Habitus genauer verstehen und vor diesem Hintergrund die Anforderungen (Mindsets) an Führungskräfte formulieren zu können, bleibt die Frage: Warum verändern sich mit den turbulenten Märkten (Lebensbedingungen / Strukturen) nicht durchgängig die Habitusformen der Manager deutlich schneller und ermöglichen somit angemessene strategische und operative Handlungen (Praktiken), wenn das Entstehungs- und Wirkungsmodell „Strukturen-Habitusformen-Praktiken“ lautet? Um diese Frage beantworten zu können, ist ein Blick auf die Verknüpfung des individuellen Habitus mit der Führungsgemeinschaft eines Unternehmens und wie diese beiden Entitäten reagieren, wenn Veränderungskräfte wirken, hilfreich: Hier ist zunächst zu berücksichtigen, dass der sich bildende Führungshabitus keine isolierte Instanz im Gefüge des sozialen Habitus ist. Vielmehr ist der Führungshabitus nur eine Schicht in den verschachtelten Integrationsebenen
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
des sozialen Habitus (vgl. Elias 1987, 245; Knoblauch 2005, 218-226). Damit rücken andere, zum Teil früh geprägte Persönlichkeitsmuster, zum Beispiel der nationale Habitus (vgl. Elias 1990) und der schichtenspezifische Habitus (vgl. Hartmann 2002, 116-145) als integrative Bestandteile des gesamten sozialen Habitus der Führungskraft ins Blickfeld. Diese Einbettung des Führungshabitus in ein gewachsenes Ganzes, die Persönlichkeit, besagt auch, dass ein Mensch, bevor er das berufliche Einstiegsalter erreicht, sich viele grundlegende Erfahrungen und Sichtweisen zu ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Zusammenhängen schon weitgehend erarbeitet hat. Mit dem Berufseinstieg sind die Akteure dann bemüht, die vor dem Berufseinstieg angeeigneten und verfestigten Habitusschichten in der beruflichen Lebenswelt zu reproduzieren. Das heißt, sie versuchen, ihre beruflichen Denkund Handlungsmuster mit dem schon zuvor angeeigneten ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapital stimmig zu entwickeln (Bourdieu 1987a, 686ff.). Zu dieser stimmigen Entwicklung gehört es im nächsten Schritt, dass Kandidaten aus gehobenen Schichten häufiger davon ausgehen (können), dass eine Führungsposition zu ihrem „Leistungsprofil“ (Habitus) passt (vgl. Hartmann 2002, 81ff.). Folglich nicht ganz unabhängig von ihrer Herkunft (habituellen Prägung), stehen die Führungsaspiranten dann vor der Herausforderung, die Passung zwischen ihren Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards einerseits und den Erwartungen der etablierten Entscheider andererseits nachzuweisen. Dies erfolgt, indem die Anwärter auf Führungspositionen möglichst „selbstverständlich“ (durch den schichtenspezifischen Habitus erleichtert oder erschwert) mit grundlegenden organisatorischen Mechanismen, nämlich: Arbeitsteilung, standardisierten Verfahren, Herrschaft und Hierarchie, Kommunikation und Indoktrination (vgl. Kieser 1993, 138) umzugehen weiß. Versteht es der Aspirant, scheinbar eigenständig, aber nach den Vorstellungen der etablierten Führungsgemeinschaft mit den Steuerungsmechanismen und –regeln umzugehen, ist die wichtigste Karrierehürde genommen. Denn auf diesem Weg sichern die etablierten Führungskräfte, dass es auch in Zukunft zu wichtigen Führungsfragen einen Konsens gibt. Und selbst wenn dieser Konsens bei Führungsfragen nicht herzustellen ist, sichert die Prüfung der Habitusverwandtschaft den etablierten Führungskräften die Loyalität der Nachfolger und ermöglicht den Nachfolgern die Identifikation mit den Vorgesetzten.114 114 Die Gallup-Studie „First, Break All The Rules“ hat auch für den modernen Wissensarbeiter bestätigt, dass die Identifikation eines Mitarbeiters nicht primär über die Organisation, sondern über den Vorgesetzten erfolgt (vgl. Buckingham & Coffman 1999, 32-36).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
137
Auch wenn diese Absicherung von Führungsgemeinschaften über die Prüfung der Habitusverwandtschaften weiterhin funktioniert, nehmen die Widersprüchlichkeiten dieses veränderungsfeindlichen Systems zu. Die Herausforderungen, die in den turbulenten Märkten von außen an die Unternehmen herangetragen werden und immer häufiger umfassendere strukturelle und personelle Veränderungen erfordern, stellen für diese unausgesprochenen Habitusgemeinschaften der Führungskräfte in den Unternehmen immer häufiger eine Gefahr dar. Denn der selbstverständliche Konsens, was zu tun ist und wie man vorzugehen hat, wird brüchig, wenn die Habitusgemeinschaft selbst gefährdet ist: Die etablierten Führungskräfte sehen durch konsequente Veränderungen häufig ihre Positionen, ihren Status und ihr Prestige gefährdet. Wenn sie sich dennoch zu konsequenten Entwicklungsschritten entscheiden, müssen sie beachten, dass sie auch für die schon in der Organisation befindlichen Nachfolger perspektivenreiche Antworten auf die Herausforderungen des Marktes bieten, sonst fühlen sich die Nachfolger um ihre Zukunft betrogen und kündigen den psychologischen Vertrag, das heißt die Identifikation und Loyalität (die Habitusgemeinschaft), auf. Um diesen Bruch (durch die Gefährdung der Etablierten und die Perspektivenprobleme der Nachfolger) zu vermeiden, liegt häufig der Minimalkonsens bei wenig oder gar keiner Veränderung. Demnach haben die Abwehrreaktionen, die in Veränderungsprozessen bei Führungskräften zu beobachten sind, ihren Ursprung in dieser Bedrohung der etablierten individuellen und kollektiven Erfolgsmuster, die mühelos (Oberr schicht) oder mühsam (Mittel- und Unterschicht) mit der Habitusgemeinschaft abgestimmt wurden. Hier liegt der Hauptgrund für die Beharrungstendenzen der individuellen und kollektiven Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards, auch wenn sich die Lebensbedingungen (der Markt) ändern. Doch in welchen Bereichen des WAS und WIE der Führung konkretisieren sich die Widersprüche zwischen den Vorgaben und Erwartungen, die aus einer sich schnell verändernden Unternehmenswelt entstehen, und den Neigungen des tradierten Führungshabitus? Bei strategischen Führungsentscheidungen und –aktivitäten (WAS und WIE) können diese Spannungsverhältnisse entstehen zwischen: veränderten Marktanforderungen einerseits und bisher erfolgreichen und etablierten Geschäftsmodellen sowie den damit verbundenen Denk- und Handlungsmustern anderseits (vgl. Problem des „cultural lock-in“ im ersten Kapitel); verstärkter Ressourcenknappheit (Kapital, materielle Vermögenswerte, Zeit und Wissen) und einem etablierten, weniger ertragsorientierten Umgang mit Ressourcen; aktuell akzeptierten Managementansätzen und –moden (z.B. Value Based Management oder Business Reengineering, Outsourcing, Offshoring) zum einen, gelernten und als sinnvoll erachteten Steuerungsmodellen zum anderen;
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
veränderten Erwartungen von Stakeholdern auf der einen Seite und Vorstellungen über deren Bedeutung und Berücksichtigung auf der anderen Seite. Potentielle Spannungen zwischen den in einem Unternehmen etablierten Denk-, Fühl-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern und den Wirkungsmechnismen einer sich schnell verändernden Unternehmenswelt gibt es nicht nur bei strategischen Führungsaufgaben. Auch in der operativen Führungsarbeit gibt es durch die dynamischen Veränderungen verstärkt Vorgaben und Erwartungen, die den individuellen Führungshabitus, die Neigung eher das eine als das andere zu tun, in Entscheidungskonflikte bringen. In der operativen Führung können die Spannungsverhältnisse entstehen durch Vorgaben und Erwartungen: die sich aus der notwendigen Umsetzung strategischer Initiativen ergeben; die sich im modernen Management aus generell erwarteten Führungsleistungen (Entscheiden, Ziele vereinbaren, Organisieren, Kontrollieren, Mitarbeiter fördern und entwickeln) ableiten; die die Geführten und die höhergestellten Führungskräfte direkt oder indirekt zum Ausdruck bringen. Berücksichtigen wir diese Spannungsverhältnisse, in die Führungskräfte in turbulenten Märkten regelmäßig kommen, ist es – besonders für Fragen der Führungsperformance – wichtig zu verstehen, wie die Spannungsverhältnisse durch Entscheidungen und Aktivitäten aufgelöst und Unternehmensentwicklungen ermöglicht werden. Inwiefern also lösen Strukturen, Verfahren, Methoden moderner Organisationen diese Spannungsverhältnisse zwischen Veränderungsnotwendigkeit und Beharrungstendenz auf? Und welche Rollen und welcher Verhaltensspielraum verbleiben den Führungskräften in dem Konflikt zwischen Anpassung und Beharrung? In modernen Organisationen hat sich besonders in den letzten 50 Jahren eine Vielzahl von Strukturen, Verfahren und Methoden herausgebildet, um unabhängiger von den einzelnen Führungskräften die Professionalität und Reaktionsfähigkeit zu sichern. Durch Planungs-, Controlling- und Risikomanagementsysteme, aber auch durch Gremienstrukturen, Projektplanungen, Businesspläne etc. versuchen die Unternehmen, die Qualität der Führung von der einzelnen Führungskraft zu entkoppeln. Auch neuere Steuerungssysteme, die darauf abzielen, von der Zielfindung bis zur Umsetzung das Alignment in der Führungsorganisation zu gewährleisten, versuchen die individuellen und kollektiven Unzulänglichkeiten verfahrenstechnisch zu beheben.115 115 Kaplan und Norton, die seit Anfang der 1990er Jahre mit der Balanced Scorecard ein inzwischen weit verbreitetes Instrument zur Steuerung in komplexen Führungsorganisationen entwickelt haben, veröffentlichten im Jahr 2006 eine Arbeit mit dem Titel „Alignment“ (Kaplan 2006). In diesem Werk heben sie heraus, wie wichtig es ist, einen umfas-
3.1 Die Führungspersönlichkeit
139
Durch die vielfältigen Strukturen, Verfahren und Methoden, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt und zum Teil auch eingeführt wurden, versuchen Organisationen vorzustrukturieren, wer, was, wann und wie entscheiden und umsetzen kann, soll oder muss. Dadurch soll verhindert werden, dass das WAS und WIE der strategischen und operativen Führung der „organisierten Anarchie“ überlassen bleibt, die die neueren Entscheidungstheorien gerade als Realität in modernen Organisationen diagnostizieren (vgl. Möslein 2005, 66f.). – Doch wie kommt es zu diesem Widerspruch zwischen dem inzwischen aufwendig betriebenen Versuch, die „Führungsrationalität“ durch die Strukturen, Verfahren und Methoden abzusichern und den Erkenntnissen aus der Forschung zu Entscheidungsprozessen in Organisationen, die diesen Bemühungen nur begrenzten Erfolg attestieren? Als Erklärungspotenzial verbleibt die Führungskraft selbst, die alle formalrationalen Strukturen und Instrumente durch den Filter ihres nur zum Teil formalrational agierenden Führungshabitus laufen lässt.116 Ein Beispiel, das die Praxis in den meisten gegenwärtigen Unternehmen widerspiegelt, mag das kritische Zusammenspiel von einer Methode zur Ausrichtung von Mitarbeiterkapazitäten und realer Prägekraft des Führungshabitus verdeutlichen: Eine Aufgabe der Führungskräfte ist es, unternehmerische Ziele zu formulieren, sie mit den Mitarbeitern zu vereinbaren und die Zielerreichung zu kontrollieren. Dieser Prozess der Zielfindung, -vereinbarung und -kontrolle sollte eine gut geübte Führungspraxis sein. Wie die Aufgabe der Zielfindung, -vereinbarung und -kontrolle jedoch effektiv wahrgenommen wird, hängt unter anderem von dem kulturell, generativ und individuell geformten Habitus ab. Die eine Führungskraft ist im Prozess der Zielverfolgung mit den Mitarbeitern eher bestimmend, wenig diskussionsfreudig und rigoros in der Ergebnisbewertung; die andere Führungskraft ist eher kooperativ und abwägend in den Zielgesprächen. Das WIE der Führung mit Zielen fällt folglich habitusgeprägt sehr unterschiedlich aus und beeinflusst auch das Ergebnis der Bemühungen, die Mitarbeiterkapazitäten auf die Unternehmensziele auszurichten. Dieses Beispiel, das sich auf andere Methoden, aber auch Strategien und Strukturen übertragen lässt, zeigt Folgendes: Auch wenn die Freiheitsspielräume für die Ausgestaltung des WAS und WIE im Führungsprozess vielleicht geringer geworden sind, entscheiden die Führungskräfte weiterhin darüber, ob Strategien, Strukturen, Verfahren und Methoden überhaupt implementiert werden und wenn ja, wie erfolgreich dies geschieht. senden Alignmentprozess für die gesamte Organisation zu gewährleisten (vgl. ebenda, 246). 116 In seiner Arbeit über die „Funktionen des Managements“ wählt W.H. Staehle eine ähnliche Unterscheidung, wenn er schreibt: „Je nachdem, ob hierbei eher formal-bürokratische, sachbezogene Konzepte oder eher sozialpsychologische, personenbezogene Maßnahmen Verwendung finden, spreche ich von verfahrensorientiertem bzw. verhaltensorientiertem Management“ (Staehle 1992, 66).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Kontinuum der Führungsperformance Individuelle Performance der Führungskraft im Kontext der Organisation
Great Man Mythos
Führungskraft als Residualfaktor
„In 1980, the average Fortune 500 CEO made 40 times more than the average person who worked for him. Last year it was 530 times. times “*
x = n ( 2 -1) 2
n
z. B.: 20 Personen mit multiplen Beziehungen = 10.485.740 Kombinationen
Abb. 36: Die Führungskaft zwischen Great Man und Residualfaktor * Mc Donough, Chairman of the Public Company Accounting Oversight Board, FT, 24.08.2004
Umstritten bleibt hingegen, wie groß der Spielraum der einzelnen Führungskraft oder ganzer Führungsgemeinschaften in modernen Organisationen noch ist. In Abgrenzung zu den theoretischen „Extrempositionen“ kann man jedoch ohne Zweifel formulieren, dass die Wirkungsmöglichkeiten von Führungskräften irgendwo zwischen der Polarität des oben diskutierten Great Man-Mythos und des „Systemmythos“, der die Führungskraft zum Restfaktor degradiert, liegen (vgl. Abb. 36).117 Wie groß der Entscheidungs- und Handlungsspielraum genau ist, in dem die Führungskräfte ihren individuellen Führungshabitus in modernen Organisationen zur Geltung bringen können, ist bisher kaum beantwortet. Finkelstein und Hambrick, die in den 1990er Jahren eine umfangreiche Sichtung der theoretischen und empirischen Forschungsergebnisse zu dem Einfluss von Top-Füh117 Ansätze, die hier unter der Kategorie „Systemmythos“ zusammengefasst werden, sehen die Führungskraft als Residualfaktor. Bestimmend sind nach diesem Organisationsbild die Strategien, Strukturen, Systeme (vgl. Wunderer 2003, 314-316).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
141
rungskräften auf Organisationen vorgelegt haben, kommen zu dem Schluss: „Nevertheless, it also indicates that we are a long way from developing any paradigmatic focus in this area, something that might bring more coherent knowledge generation“ (Finkelstein & Hambrick 1996, 332). Dieser Erkenntnisstand ist nicht ohne Brisanz. Denn nur wenn der Spielraum einer Führungskraft groß genug ist, um sich für bestimmte Aktivitäten entscheiden und / oder Aktivitäten umsetzen zu können, kann sie auch die Unternehmensperformance beeinflussen, das heißt einen Führungsnutzen schaffen. Auch die unten in dieser Arbeit folgenden Ausarbeitungen von Führungsanforderungen sind nur sinnvoll, wenn die geforderten Denk- und Fühlhaltungen auch eine Wirkung in den Unternehmen entfalten können. Diesseits der akademischen Polarisierungen zeigt sich im Führungsalltag von Unternehmen jedoch, dass weder der oben diskutierte Great Man-Ansatz noch die Residualthese, die von einer grundsätzlichen Übermacht der Strukturen, Systeme, Prozesse gegenüber der Führungskraft ausgehen, realistisch sind. Zwischen den theoretischen Extrempositionen kann meines Erachtens ein realistisches Wirkungsmodell für die Führung in Unternehmen identifiziert werden. Dieses Wirkungsmodell fokussiert auf drei Aspekte: wen und was eine Führungskraft beeinflussen soll; welche Wechselwirkungen mit anderen Performancebereichen in dem Unternehmen sie dabei berücksichtigen muss; wie stark sie von den engeren (Unternehmenskultur) und weiteren (sozio-ökonomische Entwicklungen) Einbindungen sowie dem Zeitverlauf abhängig ist.118 In diesem Rahmen entfaltet die Führungskraft ihre persönlichen Stärken und ihre strategischen sowie operativen Aktivitäten. Dabei sind die Leistungen einer Führungskraft weder vollständig durch den individuellen Willen bestimmt (Great Man), noch ist die Führungskraft das ohnmächtige Opfer der immer übermächtigen Strukturen und Systeme (Residualthese). Vielmehr ist es möglich, auf der Grundlage dieses Wirkungsmodells gezielt zu prüfen, welche Aktivitäten eine Führungskraft wählt (WAS) und wie effektiv sie diese betreibt (WIE). Dabei kann ausgehend von diesem Wirkungsmodell auch erfasst werden, ob eine Führungskraft die von ihr zu gestaltenden Performancebereiche im Blick hat und ob sie wichtige organisatorische und sozio-technische Einflussfaktoren verarbeitet (vgl. Abb. 37). Das heißt: 118 Zu engeren Einbindungen, zusammengefasst in der Unternehmenskultur, stellt Adizes fest: „The leaders of growing organizations animate the character of their organization with their behavior. In aging organizations, culture determines the style of leadership“ (Adizes 1999, 138). Deckungsgleich sind die Beobachtungen des Organisationsforschers Edgar Schein (vgl. Schein 1991, 311-327). Die weiteren Einbindungen der Führungskräfte wurden im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutiert.
142
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Die Führungskraft beeinflusst nach dem hier verfolgten Modell – abhängig von den individuellen Stärken, die durch den Habitus wesentlich bestimmt werden – durch ihre auf die Mediatoren gerichteten Führungsaktivitäten die Gesamtperformance des Unternehmens. Die individuelle Führungsperformance ist dabei davon abhängig, inwieweit es der Führungskraft gelingt, die Wechselwirkungen im Unternehmen zu berücksichtigen und die engeren und weiteren Abhängigkeiten ihrer Arbeit zu reflektieren. Dass die im Wirkungsmodell dargestellten Zusammenhänge bei der Erfassung der Führungsperformance berücksichtigt werden können, wird im weiter unten vorgestellten Leadership Asset System (LAS) aufgezeigt. Damit wird so-
Führung... Mitarbeiter
Finanzen
Strukturen
...wirkt indirekt / potenziell
Prozesse
Technologie
Extern A
...wirkt in / über Verflechtungen
Extern
C J
Bereich B Bereich A
B
D K
I F L
E
M Extern
H G Extern
Extern
...wirkt kontextabhängig
Unternehme hmenskultur
sozio-ökonomische Entwicklungen
... wirkt mit Zeitverzögerung
Abb. 37: Die Einflussfaktoren der Führung
Führungsergebnis
3.1 Die Führungspersönlichkeit
143
gleich der Anspruch formuliert, dass durch die Erfassung der Führungsperforr mance mit Hilfe des LAS auch die Wirkung einer Führungskraft differenziert abgebildet werden kann. Die Abbildung der Wirkung einer Führungskraft hat sowohl mit dem LAS wie auch generell bis dato Grenzen. Die genaue Berechnung des finanziellen Nutzens der Aktivitäten einer Führungskraft gelingt bisher nicht. Der jeweilige wirtschaftliche Nutzen der einzelnen Führungskraft bleibt zunächst eine grobe Schätzung, weil die individuellen Leistungen in der Regel nur einen Beitrag zur Unternehmensperformance darstellen und dieser Beitrag von Determinanten unterstützt oder behindert wird, auf die die Führungskraft einen sehr begrenzten oder keinen Einfluss hat. So kann zum Beispiel das Zusammenwirken der unterschiedlichen Führungsbeiträge von einer übergeordneten Führungskraft nicht präzise gesteuert werden – worin ein Grund für die häufigen Planabweichungen in technisch durchaus professionell angelegten Projekten liegt. Auch sind Wechselwirkungen mit den Führungsaktivitäten anderer Führungskräfte – auch die Nachwirkungen von Vorgängern – nicht immer auszuschließen. Obgleich die Messung der Führungswirkung im Sinne der „bottom line“ folglich Probleme aufwirft, kann durch das angeführte Wirkungsmodell der Beitrag einer Führungskraft zur Gesamtperformance durchaus erschlossen werden. Indirekt lässt sich auf diesem Weg auch der Gestaltungsspielraum der einzelnen Führungskraft, durch die Wahl und die Qualität ihrer Aktivitäten einen Beitrag zur Gesamtperformance des Unternehmens zu leisten, bestimmen. Zusammenfassend d können aus der Diskussion des theoretisch umstrittenen, aber praktisch relevanten Konzepts der Führungspersönlichkeit und der Habitustheorie folgende Schlussfolgerungen für den Leadership Asset Approach (LAA) abgeleitet werden: Mit der Tradition der Eigenschaftstheorien, nach den erfolgsbestimmenden Charaktermerkmalen oder gar dem Persönlichkeitsprofil der idealen Führungskraft zu suchen, wird konsequent gebrochen. Der hier vertretene Ansatz geht davon aus, dass es die ideale Führungskraft nicht gibt. Um die Sinnhaftigkeit von individueller Performanceentwicklung und die Durchsetzbarkeit von Anforderungen an Führungskräfte einschätzen zu können, ist dennoch ein realistischer Zugang zur Führungspersönlichkeit wichtig. Die Entschlüsselung der Führungspersönlichkeit erfolgt im Leadership Asset Approach mit der Habitustheorie. Der Führungshabitus stellt demnach ein homogenes Sozialisationsprodukt und eine homogene Prägekraft dar, dessen Wirkung nicht durch einzelne Eigenschaften erklärt werden kann. Der Führungshabitus bestimmt, ob eine Führungskraft zum einen den effektiven Umgang mit den oben abgeleiteten Determinanten des strategischen Wettbewerbs unterstützt und ob sie zum anderen in den Wirkungszusammenhängen und in den Entwicklungsphasen der Organisation einen Bei-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
trag leisten kann. Somit kommt dem Führungshabitus, der das WAS und WIE der Führungsarbeit entscheidend prägt, eine ähnliche Steuerungsrelevanz zu wie dem Versuch, durch Strukturen, Verfahren und Methoden die Führungsleistung abzusichern. Dies wird besonders deutlich, wenn sich der individuelle oder kollektive Führungshabitus gegen die effektive Nutzung von Strategien, Strukturen, Methoden oder generell gegen Veränderungsprozesse wendet. Die Nichtbeachtung etablierter Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards (Habitus) führt dann schnell dazu, dass Verfahren oder Strategien im großen Stil scheitern und zu Milliardengräbern werden.119
3.1.3 Performancerelevante Mindsets: von der idealen Führungskraft zu zeitgemäßen Anforderungen Die kritische Diskussion der Eigenschaftsansätze und anderer reduktionistischer Modelle vor dem Hintergrund der Habitustheorie führt zu der Schlussfolgerung, dass der Beitrag der Führungspersönlichkeit zu strategischen und operativen Führungsaktivitäten nicht über isolierte und idealisierte Eigenschaften (Charisma, Authentizität, Demut etc.) entschlüsselt und entwickelt werden kann. Deshalb verwundert es nicht, dass die Suche nach einzelnen oder besonders bedeutsamen Eigenschaften, Kompetenzen, Charakteristiken etc. erfolgreicher Führungskräfte in den letzten Jahren zunehmend fragwürdig Züge angenommen hat: „An unfortunate consequence of this attribute approach to leadership has sometimes been the oversimplification and reduction of leadership improvement to shopping expedition. Aspirants or their guides wander through the leadership attributes warehouse, taking from the shelf first one than another trait, competency, value, and so on, then trying it out through workshops, videos, or books. When one attribute fails or wears out, the shopping recurs, and a new one replaces the old, starting the cycle all over again” (Ulrich & Zenger & Smallwood 1999, 4). Diese Handhabung des Themas Führungspersönlichkeit deutet darauf hin, dass nicht das Paradigma der Eigenschaftstheorien erneuert wurde, sondern die fragwürdigen Ansätze sich einer Spielart der modernen Konsumgesellschaft, nämlich zahlreiche Varianten von ähnlichen Produkten in einer anderen Verpackung anzubieten, bedient haben. Dies kann als Beleg für die oben mit Verweis auf Thomas S. Kuhn diagnostizierte degenerative Entwicklung der Eigenschaftstheorie gelesen werden. 119 Das 1993 von Hammer und Champy eingeführte Konzept „Reengineering the Corporation“ ist vielfach gescheitert. Auch vor diesem Hintergrund veröffentlichte Champy 1995 das Werk „Reengineering Management“ in dem er feststellt: „The only way we’re going to deliver on the full promise of reengineering is to start reengineering management – by reengineering ourselves (Champy 1995, 1).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
145
Vor diesem Hintergrund wurde im vorangehenden Unterkapitel begründet, warum ein konsequenter Bruch mit den Ansätzen, die auf isolierte und häufig idealisierte Eigenschaften von Führungskräften fokussieren, notwendig ist. Um in Abgrenzung zum Eigenschaftsparadigma der Genese und Wirkung des Denkens und Handelns, wie sie im Zusammenhang mit der Habitustheorie skizziert wurden, gerecht zu werden, müssen tatsächlich integrativere Kategorien und Ansätze genutzt werden. Der Anspruch, vor dem Hintergrund der Habitustheorie die Analyse und Entwicklungansätze der Führungspersönlichkeit zu erneuern, verlangt die Beantworr tung von drei Fragen: Wie können die präskriptiven begrifflichen Gegenstücke zum Habitusansatz abgeleitet und genannt werden? Wie können die oben skizzierten Erkenntnisse aus der Habitustheorie bei der Übertragung in eine präskriptive (methodisch-fordernde) Konzeption berücksichtigt werden? Inwiefern unterscheidet sich der hier vorgeschlagene Ansatz von den Eigenschafts- oder Kompetenzansätzen, die mit weitgehend isolierten und zum Teil idealisierten Konstrukten arbeiten? Zur Beantwortung der ersten Frage, wie sich das präskriptive Gegenstück zum Habitusbegriff herleiten lässt, ist es hilfreich, nochmals die konzeptionelle Einbettung der Habituskategorie aufzugreifen. Der Habitus ist einerseits das Produkt sozio-ökonomischer Strukturen und andererseits der Erzeugungsmodus der menschlichen Praktiken. Das institutionelle Äquivalente zu den Strukturen, die den Habitus generell prägen, sind aufseiten der Führung die sozioökonomischen Herausforderungen und die Unternehmenskultur. Auf der gestaltenden Seite stehen parallel zu den Praktiken, in denen sich der Habitus konkretisiert, in den Unternehmen die Führungsaktivitäten. Neben der Ableitung der Inputkategorien (Strukturen → sozio-ökonomische Herausforderungen und Unternehmenskultur) und Outputkategorie (Praktiken → Führungsaktivitäten) verbleibt die Frage, wie das präskriptive begriffliche Gegenstück zum Habitusbegriff lauten kann. Hier verdient das Problem des Synthese- oder Integrationsniveaus besondere Aufmerksamkeit. Da der Habitus generell ein stimmiges Phänomen (Homologie) ist, muss auch das präskriptive Gegenstück zum Habitus gleichfalls eine integrative Kategorie sein. Die integrative Kategorie muss es ermöglichen, parallel zum Habitus integrierte Cluster von Denk-, Fühl- und Verhaltenstandards zu benennen, die zur Beantwortung der Herausforderungen in den Unternehmen und des Wettbewerbs relevant sind. Wie weiter oben im Text angedeutet, wird hier die
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Deskriptiv
Präskriptiv
(komplexe Realität)
(weniger komplexe Orientierungshilfen)
Strukturen
Habitusformen
Praktiken
Sozio-ökonomische Herausforderungen / Unternehmenskultur
Performancerelevante Mindsets
Führungsaktivitäten
Abb. 38: Die Transformation deskriptiver in präskriptive Kategorien
Mindset-Kategorie als pragmatisches Äquivalent zum Habitusbegriff gewählt. Damit ist die modelltheoretische Parallele zwischen der wissenschaftlich-deskriptiven Perspektive (Strukturen, Habitusformen, Praktiken) und der methodisch-präskriptiven Perspektive (sozio-ökönomische Herausforderungen, performancerelevante Mindsets, Führungsaktivitäten) komplett (vgl. Abb. 38). Die pragmatischen Äquivalente zu den Begriffen der Habitustheorie fokussieren auf den für die Führungsperformance relevanten Teil der Wirklichkeit – auf die Unternehmen und ihre Herausforderungen. Das heißt, die in der Abbildung 38 angeführten präskriptiven Kategorien sind selektiv (Komplexität reduzierend) und normativ (performanceorientiert). Diese Eingrenzungen sind sinnvoll, da zur Steuerung der Führungsperformance nicht die gesamten sozioökonomischen Strukturen, sondern die relevanten sozio-ökonomischen Herausforderungen, nicht alle Habitusformen, sondern die performancerelevanten Mindsets und nicht alle Praktiken, sondern die im Unternehmen relevanten Führungsaktivitäten zu berücksichtigen sind. Die pragmatische Wendung des Habituskonzeptes führt zu der zweiten Frage, nämlich wie die Erkenntnisse der Habitustheorie in der Mindsetkonzeption berücksichtigt werden können? Um diese Frage hinreichend zu beantworten, ist ein kurzer Exkurs zu der Mindsetforschung sinnvoll. Einen stark komprimierten Überblick zu den Erkenntnissen der Mindsetforschung in der Kognitionspsychologie und der Organisationstheorie bieten Anil K. Gupta und Vijay Govindarajan.120 Da die Ausführungen der beiden Forscher sich mit der im 120 Im Unterkapitel zur operativen Führung „Vom aktionsorientierten Mindset zur operativen Führung: Entscheidungen kommunizieren und Ressourcen einsetzen“ werden
3.1 Die Führungspersönlichkeit
147
Leadership Asset Approach vertretenen Mindset-Konzeption weitgehend dekken, kann die Zusammenfassung der Autoren hier mit geringen Kürzungen zitiert werden: 1. „As human beings, we are limited in our ability to absorb and process information. Thus we are constantly challenged by the complexity, ambiguity, and dynamism of the information environment around us. 2. We address this challenge through a process of filtration. We are selective in what we absorb and biased in how we interpret it. The term mindset refers to these cognitive filters. 3. Our mindsets are a product of our histories and evolve through an interactive process. Our current mindset guides the collection and interpretation of new information. To the extent that this new information is consistent with the current mindset, it reinforces that mindset. From time to time, however, new information appears that is truly novel and inconsistent with the existing mindset. When this happens, we either reject the new information or change our mindset. The likelihood that our mindsets will undergo a change depends largely on how explicitly self-conscious we are of our current mindsets: the more hidden and subconscious our cognitive filters, the greater the likelihood of rigidity. 4. Every organization is a collectivity of individuals. Each individual has a mindset which continuously shapes and is shaped by the mindsets of others in the collectivity. How this shaping and reshaping of mindsets occurs depends crucially on who has how much power and who interacts with whom, in what context, for what purpose, and so forth. Hence, how the firm is organized and how decision-making power and influence are distributed within the organization play a decisive role in the shaping of the collective mindset. 5. Organisational mindsets can change and evolve in four primary ways: (1) new experiences which cause a change in the mindsets of organisational members, (2) a change in the relative power of different individuals, (3) a change in the organizational and social processes through which members meet and interact with each other, and (4) a change in the mix of members comprising the firm such that the mindsets of new members differ from those departing” (Gupta & Govindarajan 2002, 116). Obgleich die Habitustheorie Pierre Bourdieus in einer anderen Forschungstradition steht als die Mindsetforschung, sind die Erkenntnisse ähnlich.121 Die hier von Gupta und Govindarajan zusammengefassten Forschungsergebnisse, weitere Forschungsergebnisse aus der empirischen Mindsetforschung diskutiert. 121 Zum Problem der Inkommensurabilität der normal-wissenschaftlichen Traditionen vgl. Kuhn 1976, 159-169.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
besonders: dass die etablierten Denk- und Fühlmuster das Produkt der sozialen Interaktionen und Machtstrukturen sind und als Wahrnehmungsfilter agieren, dass die Denk- und Fühlmuster – je weniger hinterfragt, desto rigider – gegebenenfalls gegen Veränderungen arbeiten, dass jedoch Veränderungen der Mindsets in Organisationen möglich sind, wenn neue Erfahrungen gemacht werden, weil die Machtstrukturen, Prozesse oder Beziehungsstrukturen sich verändern, belegen, dass ein bruchloser Übergang von der Habitustheorie zu den performancerelevanten Mindsets möglich ist. Mit der Wendung „bruchloser Übergang“ ist der kritische Punkt angesprochen, dass die auf den folgenden Seiten vorgestellten performancerelevanten Mindsets zwar einen normativen Charakter haben, das heißt mit notwendigen und erwarteten Leistungen zur Beantwortung der strategischen Herausforderungen für Unternehmen verknüpft werden, aber deshalb nicht den Wirkungszusammenhängen, die in Verbindung mit der Habituskonzeption vorgestellt wurden, enthoben sind. Vielmehr muss die professionelle Erfassung und besonders die Entwicklung der Führungsperformance mithilfe der Mindsetkonzeption diese Wirkungsmechanismen gegenwärtig halten. Somit lässt sich zusammengenommen die zweite Frage bejahen: Es ist möglich, die Erkenntnisse der deskriptiv-wissenschaftliche Habitustheorie für die normativ-methodische Mindsetkonzeption zu nutzen. Dennoch bleibt als dritte Frage, ob die pragmatische Transformation von der Habitustheorie zur Mindsetkonzeption weiterhin eine Unterscheidung von den Eigenschafts oder Kompetenzansätzen, die mit weitgehend isolierten und zum Teil idealisierten Konstrukten arbeiten, ermöglicht? Um diese Frage zu klären, müssen zwei Aspekte beleuchtet werden: Erstens, ob die Mindsetkonzeption grundsätzlich das Potenzial bietet, die in der Habitustheorie herausgearbeitete Stimmigkeit (Homologie) der Denk-, Fühl- und Handlungsmuster einer Führungskraft abzubilden? Zweitens, ob die Mindsets als integrative Kategorien dennoch die Ausdifferenzierung von Leistungsanforderungen zulassen, ohne in isolierte Eigenschaftskategorien zurückzufallen? Zum ersten Aspekt ist anzumerken, dass die Mindsetkonzeption einen differenzierteren Blick auf die perr formancerelevanten Leistungen tatsächlich durch die Zerlegung der homogenen Habitusstrukturen erreicht. Damit birgt die Aufteilung des menschlichen Habitus in Mindsets das Risiko – wie dies bei dem Analysezugang über einzelne oder mehrere Eigenschaften oder Kompetenzen generell der Fall ist –, die Leistungen einer Führungskraft als isolierte psychologische Konstrukte wahrzunehmen. Diesem Risiko wirkt die Mindsetkonzeption jedoch entgegen, indem versucht wird, wichtige Vernetzungen der performancerelevanten Mindsets zur Bewältigung der sozio-ökonomischen Herausforderungen schon bei der Konzep-
3.1 Die Führungspersönlichkeit
netzwerkorientiertes Mindset
reflexives Mindset
zielorientiertes Mindset
weltgewandtes Mindset
aktionsor naktionsorien analytischtie ertes Min ndse et synoptisches ptisches Mindset Mind
innovationsorientiertes Mindset
149
tion des Leadership Asset Approaches zu berücksichtigen. Auch wenn eine vollständige Erfassung der Wechselwirkungen zwischen den Mindsets nicht möglich ist, bleibt der Anspruch, sich einer möglichst vollständigen Erfassung des Ensembles der wichtigsten Wechselwirkungen zwischen den performancerelevanten Mindsets zu nähern, realistisch. In diesem Sinne zeigt die Abbildung 39 die wesentlichen Vernetzungen der performancerelevanten Mindsets, die in den folgenden Unterkapiteln wiederholt aufgegriffen werden:
Der zweite kritische Aspekt, ob die Ausdifferenzierung der Leistungsanforderungen mithilfe der Mindsets möglich ist, ohne erneut bei immer unvollständigen Eigenschafts- oder Kompetenzkatalogen zu enden, verweist auf eine weitere Komponente der Mindsetkonzeption. Um genauer zu fassen, welche Komponente hier angesprochen wird, muss zunächst festgehalten werden, dass die hier thematisierte Ausdifferenzierung der Leistungsanforderungen zunächst nicht die Integrationsebene unter den Mindsets, die in der Abbildung 33 mit den „Führungsaktivitäten“ belegt ist, behandelt. Vielmehr geht es im ersten Schritt darum, bei der Ausdifferenzierung der Mindsets konzeptionell einen anschlussfähigen Übergang zu den beobachtbaren Führungsaktivitäten zu bieten. Der anschlussfähige Übergang von den performancerelevanten Mindsets zu den performancerelevanten Führungsaktivitäten kann nicht durch generelle Formulierungen zu Verhaltenserwartungen, wie sie heute in Anforderungsprofilen noch häufig zu finden sind (z. B.: „zeigt die Fähigkeit, mit Mehrdeutigkeiten umzugehen“ oder „zeigt Integrität“) hergestellt werden. Die ausdifferenzierten Anforderungen müssen sich im Sinne des Leadership Asset Approaches auf Leistungen, Abb. 39: Die Vernetzung der performancerelevanten Mindsets
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Beiträge, Kompetenzen beziehen, die die Antwortfähigkeit der performancerelevanten Mindsets auf Herausforderungen des Marktes sichern. Diese zur Sicherung der Marktperformance wichtigen Leistungen oder Kompetenzen der Mindsets sind jedoch ähnlich vielfältig. Es bedarf folglich integrativerer Kategorien, die die ineinandergreifenden Leistungen oder Kompetenzen der Mindsets begrifflich bündeln. Um die Leistungen der Mindsets unter entsprechenden Sammelkategorien integrieren oder synthetisieren zu können, werden hier Funktionsbegriffe genutzt. Die Leistungen, Kompetenzen und Beiträge, die einer Funktion oder Teilfunktion zugeordnet werden können, wirken miteinander und sind zum Teil funktional äquivalent. Deshalb ist es wichtig auf die Frage zu fokussieren, welche wesentlichen Funktionen die Mindsets zur Beantwortung der Determinanten des strategischen Wettbewerbs abdecken müssen. So ausgerichtet ermöglicht der Funktionsbegriff eine integrativere Beschreibung der Anforderungen an die indsets und bietet zugleich einen weniger emotionalisierenden und / oder idealisierenden Brückenschlag zu performancerelevanten Führungsaktivitäten. Auf den folgenden Seiten werden deshalb die wesentlichen Funktionen von sieben performancerelevanten Mindsets herausgearbeitet.122 Einzelne Leistungen oder Kompetenzen123 werden als Formulierungshilfen angeführt, um die unter den Funktionsbegriffen gesammelten Anforderungen an die performancerelevanten Mindstes zu verdeutlichen. Die Beschreibungen der Mindsetfunktionen ermöglicht es zudem, die Relevanz der Mindsets zu Beantwortung der im vorhergehenden Kapitel herausgearbeiteten sozio-ökonomischen Herausforderungen nachzuvollziehen (vgl. Abb. 40).
3.1.3.1 Reflexives Mindset Das Verhalten von Führungskräften – wie das von Menschen generell – erscheint aus der zeitlichen, räumlichen und sozialen Distanz heraus oftmals verwunderlich. So haben ganze Heerscharen von Führungskräften für den Außenstehenden auf unverständliche Art und Weise, aber mit effizienten und effektiven Führungsleistungen, daran mitgewirkt, ganze Völker und sich selbst in den Ruin zu führen. Ähnlich unrühmlichen Führungsleistungen haben bis in die Gegenwart auch eine Vielzahl von Organisationen ruiniert.124 Viele Eigenschaften, die in den letzten Jahrzehnten als wichtige Anforderun122 Die Mindsets und ihre Funktionen wurden in den Jahren 2000 bis 2003 als Anforderungskonzept vor dem Hintergrund der sozio-ökonomischen Enwicklungen (vgl. zusammenfassend Abb. 40) sowie im Abgleich mit anderen Ansätzen formuliert und dann seit 2003 im Rahmen der Performancemessungen mit dem LAS empirisch geprüft und optimiert (vgl. Kapitel 4.). 123 In der Kompetenzforschung gibt es keinen einheitlichen Kompetenzbegriff. Der u.a. von Rosenstiel verwendete Begriff der Schlüsselkompetenzen kommt dem hier verwandten Funktionsbegriff nahe (vgl. Erpenbeck, J. & von Rosenstiel, L. 2003, IX-XL). 124 Finkelstein stellt hierzu treffend fest: „We‘re suffering an epidemic of leadership failures“ (Finkelstein 2003, 1).
151
3.1 Die Führungspersönlichkeit
Mindsets Determinanten des strategischen Wettbewerbs reflexiv
analytischsynoptisch
zielorientiert
innovationsorientiert
weltgewandt
netzwerkorientiert
aktionsorientiert
Bevölkerungsentwicklung
Abnehmende Bevölkerungszahl und Arbeitskräfte Alternde Bevölkerung Instabile Sozialsysteme Instabile Regierungen Zunehmende internationale Migration Wachsende Umweltrisiken / -investitionen Primat der „Urbankultur“
Sozio-technische Interdependenzen
soziale Beziehungen
Kopfarbeit Gefahr der Überkapazitäten Verteuerung der Rohstoffe Abnehmende Machtunterschiede Zunehmende Individualisierung Zunehmende Informalisierung Zunehmende Psychologisierung Zunehmende soziale Vielfalt Zunehmende Generationenkonflikte Zunehmende kulturelle Vielfalt Zunehmende Komplexität Zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit Zunehmende Internationalisierung Zunehmende Konvergenz Zunehmende Konkurrenz Zunehmende Kulturkonflikte Potentielle Transparenz Steigende Informations- und Wissensdichte Suche nach Vereinfachung Erosion der Branchengrenzen Stärkung der Stakeholder Digitalisierung / Virtualisierung Anfälligerer Weltmarkt Kopfarbeit Abnehmende Steuerbarkeit Große Relevanz
mittlere Relevanz
geringe Relevanz
Abb. 40: Die Bedeutung der Mindsets für den Umgang mit den sozio-ökonomischen Herausforderungen
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
gen an Führungskräfte hoch gehandelt wurden (Authentizität, Mut, Demut, Durchsetzungsstärke, Willenskraft etc.) konnten sicher auch Führungskräfte für sich in Anspruch nehmen, die entscheidend an dem Ruin von Staaten oder Unternehmen mitgewirkt haben. Hätte nicht auch das Profil der Führungskräfte, die wenige Jahre später für große Verluste oder Konkurse verantwortlich waren, zunächst den Erwartungen der Auswählenden entsprochen, wären sie kaum in die Positionen gekommen, in denen sie dann später eine schlechte Performance abgeliefert haben. Welche Schuld Führungskräften – beste Vorsätze unterstellt 125 – rückblickend für eine ruinöse Leistung angelastet werden kann, ist ähnlich schwer zu beantworr ten wie die historische Schuldfrage überhaupt. Wahrscheinlich gilt für die meisten unrühmlichen Entscheidungs- und Handlungssituationen die soziale Regelmäßigkeit, die der Zivilisationsforscher Norbert Elias wie folgt zusammenfasst: „Was immer mit ihnen geschieht, sie können es nur von ihrem Standort in der Figuration aus wahrnehmen. Sie sind zu tief involviert, um sich selbst von außen zu sehen“ (Elias 1983b, 21). Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den offenkundig kritischen Effekten einer unreflektierten Eingebundenheit für die Führungskräfte in Unternehmen ableiten? – Um Handlungsalternativen besonders in kritischen Führungs- und Unternehmenssituationen sachgerecht prüfen zu können, sollte das reflexive Mindset so weit geübt sein, dass die Führungskräfte sich aus (krisenhaften) Einbindungen lösen und die längerfristigen Konsequenzen abschätzen können.126 Die Kernfunktionen des reflexiven Mindsets, die Distanzierungsfähigkeit und Langsicht, als Gegenmittel zur Eingebundenheit abrufbar zu entwickeln, ist ein schwieriges Unterfangen. Dies wird durch die Beobachtung unterstrichen, dass bis dato in der Regel die Mechanismen zur Entfaltung kommen, die oben im Text unter den Stichworten „cultural lock-in“ und „active inertia“ diskutiert wurden. Somit stellt sich in turbulenten Märkten zwingend die Aufgabe, Ansatzpunkte zu identifizieren, wie Führungskräfte lernen (können), Erkenntnisund Veränderungsblockaden zu überwinden.127 Ein wichtiger Ansatzpunkt, eingeschliffene Denk- und Fühlraster bei der Suche nach Lösungen zu überwinden, liegt in der Reflexion der eigenen Person und Positionen im Unternehmen und der Gesellschaft. Um zu verstehen, wie diese 125 Hier sind nicht die Führungskräfte gemeint, die zum eigenen Nutzen anderen Menschen und Organisationen vorsätzlich oder billigend Schaden zufügen (vgl. Hamilton & Micklethwait 2006). 126 Vgl. zur wissenschaftstheoretischen und soziologischen Diskussion der Kategorien und Wirkungsmechanismen von Engagement und Distanzierung: Elias 1983b. 127 Wie die Funktionen des reflexiven Mindsets auch bei der Entscheidungs- und Umsetzungsarbeit zur Wirkung kommen sollten, wird mit Bezug auf Gollwitzers empirischer Mindsetforschung im Kapitel zum aktionsorientierten Mindset (Kapitel 3.1.3.6) erläutert.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
153
Distanzierungsleistung im Führungsprozess erbracht werden kann, ist es nicht notwendig, die Untiefen der philosophischen und psychologischen Diskussion dieses Themas aufzubereiten. Die Verdeutlichung einiger Erkenntnisse zur menschlichen Reflexionsfähigkeit reicht hin, um die notwendigen Leistungen des Mindsets zu verstehen: Zunächst ist festzuhalten, dass Menschen sich bei der einfachsten Form des Selbsterkennens nicht von Schimpansen und Delfinen unterscheiden. Dies zeigt der sogenannte „Nivea-Test“. Bei diesem Test lenkt man das Tier oder Kind ab und trägt dann einen Creme-Klecks auf die Stirn oder die Brust auf. Dann platziert man das Kind oder Tier vor einem Spiegel und beobachtet, ob es den Klecks als Bestandteil des Spiegelbildes (im Spiegel) sieht oder sich selbst als „Klecksträger“ erkennt. Kinder bestehen diesen Test durchschnittlich mit 18 Monaten, Schimpansen und Delfine bestehen vergleichbare Tests gleichfalls (vgl. Roth 2003, 52). Um die menschlichen Denk- und Handlungskompetenzen von den genannten Tieren zu unterscheiden, muss das Augenmerk auf komplexere Reflexionsprozesse gelenkt werden: „Betrachten wir die Fähigkeiten, in denen der Mensch alle anderen Tiere überr trumpft, dann handelt es sich ausschließlich um solche, die mit der Tätigkeit des Stirnhirns zu tun haben, genauer: des präfrontalen und orbitofrontalen Cortex. Der präfrontale Cortex des Menschen hat – wie bereits gesagt – mit der Erfassung der handlungsrelevanten Sachlage, mit zeit-räumlicher Strukturierung von Wahrnehmungsinhalten zu tun, mit planvollem und kontextgerechtem Handeln und Sprechen und mit der Entwicklung von Zielvorstellungen. Der orbitofrontale Cortex überprüft – wie erinnerlich – die langfristigen Folgen unseres Handelns und lenkt entsprechend dessen Einpassung in soziale Erwartungen“ (ebenda 62f.). Auch wenn die einleitend kritischen Anmerkungen zu den oftmals verwunderlichen oder verhängnisvollen Entscheidungen und Handlungen der Führungskräfte dies zweifelhaft erscheinen lassen, gibt es also das spezifische menschliche Potenzial, die Angemessenheit des Denkens und Handelns zu reflektieren. Wie gut das Potenzial genutzt werden kann und ob es zu einer nützlichen Führungspraxis wird, hängt auch davon ab, ob die hierzu erforderlichen Reflexionsprozesse gelernt und geübt wurden. Den wichtigsten Ansatz für Führungskräfte, die Funktionsfähigkeit des reflexiven Mindsets zu üben und zu messen, bieten die oben vorgestellten Determinanten des strategischen Wettbewerbs. Da der Markt bestimmt, was eine Führungskraft im Blick haben sollte, sind damit auch die Ansprüche an das reflexive Mindset „outside-in“ definiert. Mit diesen sozio-ökonomischen Herausforderungen werden die Führungskräfte konfrontiert, ob sie diese Ein-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
bindungen reflektieren oder nicht. Der letzte Zweifel an der grundlegenden Relevanz des outside-in-Ansatzes bei der Entwicklung und Prüfung des reflexiven Mindsets, sollte durch die Einsicht aufgelöst werden, dass unzureichend bearbeitete Determinanten des strategischen Wettbewerbs schnell zu Scheiterungsgründen für Führungskräfte und Unternehmen werden (vgl. Becker & Freemann 2006, 17-27). Die wichtigste Frage zur Performance des reflexiven Mindsets lautet folglich: Ist die Führungskraft in der Lage, die Anschlussfähigkeit ihres Denkens, Fühlens und Handelns an die sozio-ökonomischen Entwicklungen konstruktiv zu hinterfragen? – In dieser Frage ist die Funktion der Distanzierung als Prämisse enthalten, um zwei weitere Funktionen des reflexiven Mindsets, die Antizipations- und die Adaptionsfunktion, abdecken zu können. Diese Leistungen, nämlich auf der Grundlage der Distanzierung die unternehmensrelevanten sozio-ökonomischen Entwicklungen zu realisieren und dadurch die realistische Antizipation und persönliche und organisatorische Adaption zu ermöglichen, sind aus Sicht des LAA grundlegend für eine nachhaltig erfolgreiche Führung (vgl. Sull 2006, 11). Die Bedeutung der Antizipations- und Adaptionsfunktion wird besonders offenkundig durch einen Rückbezug auf den oben im Zusammenhang mit dem Konservatismus des Habitus vorgestellten „Hysteresis-Effekt“. Dieser Effekt greift, wenn die Umwelt eines Menschen sich schneller verändert als seine Denk-, Fühl- und Handlungsweisen. Dies führt dazu, dass die Sichtweisen und Praktiken des Menschen mehr und mehr „aus der Zeit“ sind. Wenn ein vergleichbarer Nachhinkeffekt bei Führungskräften zu beobachten ist, dann sind die zu erwartenden Entscheidungen und Aktivitäten im Verhältnis zu den Markt- und Unternehmensentwicklungen nicht mehr anschlussfähig. Daraus lässt sich verallgemeinernd ableiten, dass hinter zu langsamen Anpassungen von Strategien, Strukturen, Prozessen und Produkten in Unternehmen immer ein Hysteresis-Effekt auf Seiten der Führungskraft oder Führungskräfte steht. Einen umfassenden empirischen Beleg für die bisher beschriebenen Zusammenhänge liefert Sydney Finkelstein in seiner Studie „Why smart executives fail“. Nach der Untersuchung von 40 Unternehmen, die umfassendere Geschäftskrisen erlebt haben, formuliert er „The Seven Habits of Spectacularly Unsuccessful People“: „They see themselves and their companies as dominating their environments, not simply responding to developments in those environments. They identify so completely with the company that there is no clear boundary between their personal interests and corporate interests.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
155
They seem to have all the answers, often dazzling people with the speed and decisiveness with which they can deal with challenging issues. They make sure that everyone is 100 percent behind them, ruthlessly eliminating anyone who might undermine their efforts. They are consummate company spokespersons, often devoting the largest portion of their efforts to managing and developing the company image. They treat intimidatingly difficult obstacles as temporary impediments to be removed or overcome. They never hesitate to return to the strategies and tactics that made them and their companies successful in the first place” (Finkelstein 2003, 238). Finkelstein untermauert durch seine Untersuchungen die hier als elementar beschriebenen Funktionen eines reflexiven Mindsets: Distanzierung, Antizipation und Adaption. Dies wird besonders deutlich, wenn er in seinem Kapitel über „Executive Mind-set Failures“ (vgl. ebenda 137-165) als Schüsselerkenntnis heraushebt: „But there is one blind spot that appears somewhere near the center of almost every major business disaster: a seriously inaccurate perception of reality among executives“ (ebenda, 138). Die Übereinstimmung der hier formulierten Funktionen des reflexiven Mindsets bei Führungskräften mit den Untersuchungsergebnissen Finkelsteins sind auch deshalb wichtig, weil die eigenen empirischen Studien zur Prognosevalidität von Managementansätzen ergeben haben, dass die von Finkelstein herausgearbeiteten Faktoren eine bessere Prognose zur Unternehmensperformance erlauben als zum Beispiel der oben diskutierte Ansatz von Jim Collins (vgl. Abb. 41).
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Zum einen geben sowohl die angeführten Funktionen des reflexiven Mindsets als auch die Verknüpfung mit Finkelsteins Untersuchungsergebnissen klare Hinweise, mit welchen Herausforderungen (outside-in) sich das reflexive Mindset besonders auseinandersetzen muss. Zum anderen ist in der Abbildung 40, die in der Einleitung dieses Kapitels die Verbindungen zwischen den Determinanten des strategischen Wettbewerbs und den Mindsets optisch zusammenfasst, dargestellt, welche Herausforderungen auch für das reflexive Mindset zu beachten sind. Da die Distanzierungsfähigkeitt besonders gegenüber den unterschiedlichen sozialen Einbindungen im Unternehmen und darüber hinaus hergestellt werden muss, verr wundert es nicht, dass die sozialen Beziehungen, die letztlich auch das „kollektive Mindset“ (Unternehmenskultur) prägen, für das reflexive Mindset eine gewichti-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Platz 1-500; S&P500 0 50 100 150 200 250 300 350 400 450 1972
1975
1980
1985
1990
1995
2000
2004
Alle Good Companies, MW, N=17 Alle Breakdown Companies, MW, Abb. 41: Prüfung der prognostischen Validität von Sydney Finkelsteins „Good Companies“ und „Good Companies“ und Breakdown Companies“ (vgl. Finkelstein 2003)
ge Herausforderung darstellen. Aber auch alle Entwicklungen, die für eine hohe Dynamik stehen und die Antizipations- und Adaptionsfähigkeitt herausfordern (z. B. zunehmende kulturelle Vielfalt, Veränderungsgeschwindigkeit und Internationalisierung sowie die abnehmende Steuerbarkeit) bilden Maßstäbe für die Leistungsfähigkeit des reflexiven Mindset.
3.1.3.2 Analytisch-synoptisches Mindset Die Wendung analytisches Mindset im engeren Sinne seiner Bedeutung, nämlich als Fähigkeit zur systematisch zergliedernden Untersuchung, wäre sicher weniger sperrig und sogleich zugängig, aber als performancerelevantes Mindset auch unvollständig und nicht sachgerecht. Um dieser engen Lesart entgegenzuwirken, wird hier die Bezeichnung analytisch-synoptisches Mindset gewählt. Durch diese Bezeichnung des Mindsets wird das für die Führung in Unternehmen erfolgskritische Zusammenwirken von Analyse und Synthese angemessen wiedergegeben. Doch zunächst soll als Konzession an die heute allerorts gelernte, geübte und eingesetzte Fähigkeit des systematischen Zergliederns, eine Teilfunktion des
3.1 Die Führungspersönlichkeit
157
analytisch-synoptischen Mindsets, dargelegt werden. Um die Vorgehensweisen und Schwerpunkte der analytischen Zergliederung als etablierte und weiterhin sinnvolle Managementfunktion zu verstehen, ist ein zeitlicher Rückgriff hilfreich. Denn die Wirkungspotenziale der analytischen Teilfunktion des Mindsets wurden in der Managementgeschichte besonders eindrucksvoll von Frederick Winslow Taylor (1856-1915) belegt128. Nach Taylor, der die Romantik des Handwerks zerschlug, indem er es in einfache Bewegungsabläufe zerlegte, kam es zu einer enormen Produktivitätssteigerung der Industriearbeit: „Within a decade after Taylor first looked at work and studied it, the productivity of manual worker began its unprecedented rise. Since then it has been going up steadily at the rate of 3,5 percent per annum compound – which means it has been risen fifty-fold since Taylor. On this achievement rests all the economic and social gains of the 20th century” (Drucker 2001a, 136). Die lange Kette der in den Jahrzehnten nach Taylor folgenden Optimierungsansätze (z. B. Industrial Engineering, Rationalisierung) und Methoden (z.B. Qualitätszirkel, kontinuierliche Verbesserung) konnten sich letztlich – trotz vieler kritischer Abgrenzungsversuche – nicht vom tayloristischen Paradigma lösen (ebenda, 135-141).129 Auch über 70 Jahre nach der Veröffentlichung von Taylors Werk „Principles of Scientific Management“, das die Analyse und das Management der individuellen Zeit- und Bewegungsabläufe der Mitarbeiter in den Mittelpunkt rückte, um die Effizienz der Produktion erhöhen zu können, findet sich der Denkansatz in einem viel beachteten Werk von Michael Porter wieder. In seinem 1985 veröffentlichten Werk „Competitive Advantage“ hat Porter zwar nicht die Aktivitäten des einzelnen Arbeiters im Blick, wohl aber rät er zur differenzierten Analyse der einzelnen Aktivitäten in der Wertschöpfungskette eines Unternehmens, um einen Konkurrenzvorteil herausarbeiten zu können (vgl. Porter 1985, XV). Welche notwendigen Aktivitäten durch das differenzierende, zerlegende Denken im Management von Unternehmen abgedeckt werden sollten, hat Porter treffsicher beschrieben130: 128 Überblicke zur Person Frederick Winslow Taylor und seinem aus heutiger Perspektive häufig kritisch beurteilten Ansatz bieten: Handelsblatt Management Bibliothek 2005, Band 3, 202-206, Crainer 1997, 279-283; Winzel 2002, 71ff. 129 Auch Joseph Juran, der führende Managementexperte auf dem Gebiet der Qualitätskontrolle, konstatiert, dass wir weiter an Taylors Analyseansatz festhalten, obgleich wir die Prämissen seines Systems für überholt halten (vgl. Handelsblatt Management Bibliothek 2005, Band 3, 205). Gleichfalls betont Thomas A. Stewart in seinem Werk „Intellectual Capital“ die Nachwirkungen Taylors Ansatz über die Jahrzehnte hinweg (vgl. Stewart 1997, 48). 130 Während Porter sich in dem oben kritisch diskutierten Werk „Competitive Strategy“ (vgl. Porter 1980) auf die Analyse der Branchen konzentriert, richtet er in dem ergänzenden Werk „Competitive Advantage“ sein Augenmerk auf das einzelne Unternehmen
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
„The value chain disaggregates a firm into its strategically relevant activities in order to understand the behavior of costs and the existing and potential sources of differentiation. A firm gains competitive advantages by performing these strategically important activities more cheaply or better than its competitors” (Porter 1985, 34). Demnach soll die analytische Arbeit der Führungskräfte nach Porter die Funktion abdecken, das komplexe Gefüge eines Unternehmens in beobachtbare und beeinflussbare Aktivitäten aufzugliedern. Das analytische Mindset repräsentiert also den Sachverstand der Führungskraft zu erkennen, aus welchen betrieblichen Aktivitäten sich das Unternehmen zusammensetzt und wo die einzelne Aktivität, die durch die Führungskraft angestoßen wird, in das Unternehmensgefüge eingreift. Porter geht davon aus, dass ein differenziertes Verständnis der Wertschöpfungskette eines Unternehmens überhaupt die Voraussetzung für einen gezielten (strategischen) Beitrag zur Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens ist (vgl. ebenda 33-36). Dabei sind die in Porters generischer Wertschöpfungskette (vgl. Abb. 42) dargestellten primären und unterstützenden Aktivitäten die Ausgangspunkte für eine differenziertere und unternehmensspezifische Analyse der Wertschöpfungskette (vgl. ebenda 45-47). Inbound Logistics
Operations
Outbound Logistics
Marketing & Sales
Technology Development
Procurement
Service
Primary activities Support activities Company infrastructure
Human Resource Management
Abb. 42: Die generische Wertschöpfungskette nach Porter (vgl. Porter 1985, 37)
Der Ansatz des systematischen Zerlegens der Unternehmensprozesse in Aktivitäten, die zur Wertschöpfung beitragen, hat sich bis heute gehalten und bewährt. Die wesentliche Veränderung seit Taylor besteht darin, dass in den letzten Jahrzehnten die Suche nach einer Systematik, in die sich die wichtigsten Aktivitäten in einem Unternehmen eingliedern lassen, fortgeschritten ist. (vgl. Porter 1985).
159
3.1 Die Führungspersönlichkeit
Finanzperspektive
Strategisches Ziel
Maßgrößen
Zielgrößen
Aktionen
Prozessperspektive
Kundenperspektive
Vision io & Strategie ate Strategisches Ziel
Maßgrößen
Zielgrößen
Strategisches Ziel
Aktionen
Maßgrößen
Zielgrößen
Aktionen
Lern- & Entwicklungsperspektive
Strategisches Ziel
Maßgrößen
Zielgrößen
Aktionen
Abb. 43: Balanced Scorecard nach Kaplan und Norton (vgl. Kaplan und Norton 1997, 9)
Ist es bei Porter noch der Versuch, ausgehend von einer generischen Wertschöpfungskette in unternehmensspezifische Aktivitäten zu deduzieren, haben Robert S. Kaplan und David P. Norton knapp zehn Jahre später mit der Balanced Scorecard eine Steuerungssystematik auf den Beratungsmarkt gebracht, die das Unternehmen in eine Finanz-, Kunden-, Prozess- sowie Lern- und Entwicklungsperspektive aufgliedert (vgl. Kaplan & Norton 1997).131 Auch 131 Robert S. Kaplan hat in den 1980er Jahren zunächst das Activity Based Costing (ABC)
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Kaplan und Norton sind bemüht, ihre Aufgliederung der Unternehmensfunktionen über eine die vier Grundperspektiven ergänzende Aufteilung in Ziele, Kennzahlen, Vorgaben und Maßnahmen auf die Ebene der Aktivitäten herunter zu brechen (vgl. Abb. 43). Die in den angeführten und weiteren Managementinstrumenten verarbeitete Teilfunktion des analytischen Mindsets, nämlich die systematische Zerlegung der Unternehmensprozesse in wertschöpfende Aktivitäten, bietet jedoch keine Antwort auf eine einfache, aber elementare Frage: Wie kann nach der Zerlegung in Aktivitäten das Zusammenwirken derselben gesichert werden kann? Die komplementäre Teilfunktion des analytischen Mindsets, die Synopse oder Synthese, muss deshalb gesondert erläutert werden. Auch wenn die arbeitsteilige, komplexe und zum Teil unübersichtliche Wirtschaftswelt dazu tendiert, ist das Zerlegen und Zählen alleine nicht der Garant für eine erfolgreiche Ausrichtung und Gestaltung der Wirtschaftsprozesse. Da die Komplexität des heutigen Wirtschaftsgeschehens den Nutzen des synoptischen Denkens schwerer zugängig macht, nutzt hier wiederum die Distanz der historischen Perspektive. In Naturvölkern war die Fähigkeit zum synthetischen oder ganzheitlichen Denken neben dem einfachen sprachlichen Zählen (i. d. R. nur „ein, zwei, viele“) noch üblich und besser entwickelt. Der Jesuitenmissionar M. Dobritzhoffer (1717-1791), der vor rund 200 Jahren eines der ersten ethnologischen Bücher mit dem Titel „Geschichte der Abiponen“ schrieb, beobachtete bei den Indianerstämmen des heutigen Paraguay, die über kein Zahlensystem in unserem Sinne verfügten, eine ausgeprägte Fähigkeit, Quantitäten zu erfassen: „Sowie sie beim Aufbruch zur Jagd im Sattel sitzen, schauen sie um sich herum, und wenn einer der zahlreichen Hunde, die sie hatten, fehlen sollte, so beginnen sie ihn zu rufen. ... Ich habe es oft bewundert, wie sie, ohne zählen zu können, trotz der beträchtlichen Meute auf der Stelle sagen konnten, dass ein Hund dem Ruf nicht Folge geleistet habe“ (Hartner, 1968, 86 zitiert nach Linder u. a. 1988, 17). Als Dobritzhoffer die synoptischen Fähigkeiten der lateinamerikanischen Indianer beobachtete, befand sich Europa in den Anfängen der Industriellen Revolution. Schon damals waren die Lebensbedingungen in Europa anders als bei den Indianern Lateinamerikas; heute gibt es zwischen den Bedingungen, in denen die Führungskräfte agieren müssen und den Lebenswelten des indianischen Jägers wohl kaum noch Ähnlichkeiten. Allerdings ist die Fähigkeit zum synthetischen Wahrnehmen und Denken, die in Dobritzhoffers Beschreibunentwickelt, dass als Methode des Kostenmanagements darauf abzielt, die Kosten von Produkten und Dienstleistungen entsprechend den Ressourcen anzusetzen.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
161
gen des lateinamerikanischen Jägers in einfacher Form zum Ausdruck kommt, weiterhin relevant. Das synthetische Denken ermöglicht dem Jäger wie der modernen Führungskraft das Zusammendenken der – wie auch immer gewonnenen – Fakten und sozialen Zusammenhänge sowie das Generieren von Err kenntnissen und Lösungswegen. Die wichtige Funktion des synoptischen Denkens im Management wird auch in den oben diskutierten Ansätzen von Porter und von Kaplan und Norton nicht übersehen. Porter analysiert die Beziehungen zwischen den Bestandteilen der Wertschöpfungskette, Kaplan und Norton verweisen in ihren Arbeiten regelmäßig auf die Ursache-Wirkungsbeziehungen zwischen den Perspektiven (Finanzen, Kunden, Prozesse, Mitarbeiter) und den Früh- und Spätindikatoren (vgl. Porter 1985, 317-363; Kaplan und Norton 1997, 143-156). In den (modernen) Managementansätzen und –instrumenten sind jedoch die Verfahrensweisen zur Bildung von Synthesen oder Synopsen unterentwickelt und werden häufig nur als Ergänzungen behandelt (vgl. Gomez & Probst 1995). Dabei lässt sich aufzeigen, dass ein schwer imitierbarer Wettbewerbsvorteil (Alleinstellungsmerkmal) für Unternehmen heute eher über das synoptische Denken, als über eine isolierte Prozess- oder Kostenoptimierung in Teilbereichen zu schaffen ist. Michael Porter hat dies gut zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Werkes „Competitive Advantage“, in dem die Analyse der Wertschöpfungskette im Mittelpunkt stand, in seiner Abhandlung „What is strategy“ auf den Punkt gebracht: „Strategic fit among many activities is fundamental not only to competitive advantage but also to the sustainability of that advantage. It is harder for a rival to match an array of interlocked activities than it is merely to imitate a particular sales-force approach, match a process technology, or replicate a set of product features. Positions built on systems of activities are far more sustainable than those built on individual activities” (Porter 1996b, 73). Ein Beispiel für die Schaffung eines Alleinstellungsmerkmals, das auch von Porter 1996 in seiner Abhandlung „What is strategy“ aufgegriffen wurde und zehn Jahre später weiterhin als Erfolgsmodell angeführt werden kann, ist Southwest Airlines.132 Die Führungskräfte von Southwest Airlines haben in den 1980er Jahren mit hinreichender Distanz zu den herrschenden Marktbedingungen und dem notwendigen Weitblick (reflexives Mindset) an einem neuen strategischen Fit (analytisch-synoptisches Mindset) für ihr Unternehmen gearbeitet. Das Ergebnis (vgl. Abb. 44) zeigt deutlich, dass der Output der synoptischen Teilfunktion des analytisch-synoptischen Mindsets etwas vollständig anderes hervorbringt, als die in der Regel linear angelegten Ursache-Wirkungsketten 132 Als weiteres Beispiel für einen strategischen Fit führt Porter in seiner Abhandlung das Unternehmen IKEA an (vgl. Porter 1996b, 71).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
der zerlegenden Vorgehensweise des analytischen Mindsets dies erwarten lässt. So würden in einer linearen Wertschöpfungskette, die streng an der generischen Strategie der Kostenführerschaft ausgerichtet wäre, hohe Mitarbeitergehälter als unhaltbar erscheinen. Bei der Billigfluglinie Southwest Airlines sind jedoch das Investment in relativ hohe Mitarbeitergehälter, zudem Einbindung (high employee stock ownership) und Training sowie eine Kultur des Vertrauens und Commitments Gestaltungsmerkmale des strategischen Fits.133 Das Netzwerk der unterschiedlichen Funktionen von Southwest Airlines mit den dahinter liegenden Aktivitäten stellt im Vergleich zu den linearen Ursache-
No baggage transfers
No meals
Limited Passenger Service
No seat assignments
No connections with other airlines
Limited use of travel agents
Frequent, Reliable Departures
Standardized fled of 737 aircraft
15 Minute Gate Turns Automactic Ticketing Machines
High employee compensation
Flexible union contracts
Lean, Highly Productive Ground and Gate Crews
High employee stock ownership
Short-Haul, Point-to-Point Routes Between Med-Sized Cities and Secondary Airport
Very Low Ticket Prices
High Aircraft Utilization
Abb. 44: Das Southwest Airlines Activity System (vgl. Porter 1996b, 72) 133 Vgl. Gittell 2003, Kelleher 2004.
„Southwest the low-fare airline“
3.1 Die Führungspersönlichkeit
163
Wirkungsketten eine fortgeschrittene Synopse dar, die dem hoch organisierten Unternehmensgebilde gerecht wird. Damit ist das funktionale Gegenstück zur Zergliederungsfunktion des analytischen Mindsets plastisch dargestellt. Die synoptische Leistung dieses Mindsets muss darauf gerichtet sein, wichtige Aktivitäten eines Unternehmens im Zusammenspiel zu sehen. Und da die Leistung des Unternehmens nicht beliebig durch seine stärkste Einheit, sondern durch das Zusammenwirken vieler Einheiten – auch der Schwächsten – bestimmt wird, ist die Synopse von gleichrangiger Bedeutung wie die Zergliederung.
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Das analytisch-synoptische Mindset muss besonders die Herausforderungen des internationalen und hochgradig interdependenten Marktes (u. a. Gefahr der Überkapazitäten, zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit, anfälligerer Weltmarkt) aufgreifen und in Antworten (vgl. Southwest Airline) umwandeln. Die gestiegene Komplexität des Marktes analytisch zu durchdringen und mit marktfähigen Unternehmenskonfigurationen (Strategie, Produkte, Prozesse, Marketing) zu beantworten, führt die Führungskräfte insbesondere in internationalen Konzernen zunehmend an ihre Leistungsgrenzen (vgl. PricewaterhouseCoopers 2006, 2).
3.1.3.3 Zielorientiertes Mindset Die Funktionen des reflexiven und analytisch-synoptischen Mindsets sind wichtig für die leistungsfähige Arbeit des zielorientierten Mindsets. Die Fähigkeiten, sich von kulturell eingeschliffenen Denk- und Handlungsmustern distanzieren zu können, vorausblickend und anpassungsfähig zu sein (reflexives Mindset), aber auch zu sehen, welcher gezielte Beitrag im Wertschöpfungsprozess notwendig ist und wie die Aktivitäten zusammenwirken (analytisch-synoptische Mindset), sind für eine zielorientierte Arbeit relevant. Dies zeigt, dass die Funktionen der unterschiedlichen Mindsets ineinandergreifen (vgl. Abb. 39). Zudem steht auch das zielorientierte Mindset für eigene Funktionen. Es sorgt dafür, dass Führungsarbeit eine Ausrichtungs- und eine Orientierungsfunktion übernimmt. Damit stellt das zielorientierte Mindset sicher, dass die Effizienz nicht zum Selbstzweck wird, sondern der Effektivität dient. Diese Bedeutung der Zielorientierung im Management hat Peter Drucker schon 1954 in „The Practice of Management“ unter anderem durch die Einführung des Konzepts „Management by Objectives“ (MbO) herausgestellt. Durch eine kurze „Story“ verdeutlicht er in diesem frühen Werk, woran man eine zielorientierte Führungskraft erkennt: „A favorite story at management meetings is that of the three stonecutters who were asked what they were doing. The first replied: ‚I am making of
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living.‘ The second kept on hammering while he said: `I am doing best job of stonecutting in the entire country.` The third one looked up with a visionary gleam in his eyes and said: ‚I am building a cathedral`.” The third man is, of course, the true ‚manager.` The first man knows what he wants to get out of the work and manages to do so. He is likely to give a ‚fair day’s work for a fair day’s pay.` But he is not a manager and will never be one. It is the second man who is a problem. Workmanship is essential; without it work can flourish; in fact, an organization demoralizes if it does not demand of its members the most scrupulous workmanship they are capable of. But it is always a danger that the true workman, the true professional, will believe that he is accomplishing something when in effect he is just polishing stones or collecting footnotes. Workmanship must be encouraged in the business enterprise. But it must always be related to the needs of the whole” (Drucker 1954, 122). Nach Drucker ist demnach die Eignung einer Führungskraft auch daran abzulesen, ob sie den Unterschied zwischen dem Anspruch, die richtigen Dinge zu tun und die Dinge richtig zu tun, kennt.134 Warum die primäre Orientierung an Effektivität wichtig ist, wird deutlich, wenn die Mindsets von Führungskräften primär auf die Optimierung etablierter Strategien, Strukturen und Prozesse gerichtet sind. Die primäre Fokussierung der Führungskraft auf die Optimierung des Bestehenden führt zu einer Innenorientierung und Bestandsverwaltung. Dies ist in etablierten Unternehmen, in denen die Konzentration auf die Optimierung der internen Prozesse und Produkte häufig zu beobachten ist, besonders kritisch. Denn gerade Unternehmen in einer fortgeschrittenen Phase ihres „Corporate Lifecycles“ bedürfen eher einer marktorientierten Erneuerung ihrer Strategien, Strukturen, Prozesse (vgl. Adizes 1999, 115-186). Hierzu ist bei den Führungskräften ein Mindset, das die einzelnen internen Beiträge auf ein gemeinsames Marktziel ausrichtet, entscheidend. Die Ausrichtungs- und Orientierungsfunktion des zielorientierten Mindsets muss folglich primär auf die Effektivität oder Nutzengenerierung für den Markt gerichtet sein, sekundär – als Mittel zum Zweck – auf die Optimierung von Systemen, Prozessen und Produkten. Sind die Mindsets der Führungskräfte in einem Unternehmen an einer gemeinsamen Vision (übergeordnetes Ziel) und Strategien ausgerichtet, dann kann die zweite Funktion des zielorientierten Mindsets abgerufen werden: die Selbstkontrolle. Dabei entscheidet die Führungskultur in einem Unternehmen, ob diese zweite Teilfunktion des zielorientierten Mindsets sich entfalten kann. 134 Die effiziente Arbeit ist keinesfalls unwichtig. Es gilt nur die Regel: „Effectiveness is the foundation of success – efficiency is a minimum condition for survival after success has been achieved“ (Drucker 1993, 45).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
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Ist die Führungskultur eines Unternehmens darauf gerichtet, wenig Entscheidungsspielräume zu gewähren und stark über zentrale Kontrollsysteme zu steuern, dann wird sich die Teilfunktion der Selbstkontrolle kaum entfalten. Dieser Zusammenhang ist besonders für die inzwischen gestiegene Zahl der Großunternehmen aktuell und relevant. Denn die meisten Unternehmen neigen heute dazu – seit der Jahrtausendwende zusätzlich getrieben durch verschärfte Aufsichtsgesetzte etc. – die Systeme zur Kontrolle der Führungskräfte und Mitarbeiter auszubauen. Da in diesen Unternehmen dennoch parallel zur wachsenden Kontrollapparatur häufig mit zielorientierten Systemen (z.B. Balanced Scorecard, MbO) gearbeitet wird, ist es instruktiv, auf die Ausgangsgedanken Peter Druckers zum „Management by Objectives“ aus dem Jahr 1954 zurückzuschauen: „So far in this book I have not talked of ‘control’ at all; I have talked of ‘measurement.’ This was intentional. For ‘control’ is an ambiguous word. It means the ability to direct oneself and one’s work. It can also mean domination of one person by another. Objectives are the basis of ‘control’ in the first sense; but they must never become the basis of ‘control’ in the second, for this would defeat their purpose. Indeed, one of the major contributions of management by objectives is that it enables us to substitute management by self-control for management by domination” (Drucker 1954, 131). Um zu verstehen, warum aus Druckers Sicht die Selbstkontrolle nicht nur eine wichtige Funktion, sondern eine conditio sine qua non des zielorientierten Mindsets ist, muss eine weitere Teilfunktion angeführt werden: das Commitment. Bezieht man die Funktion der Verpflichtung zunächst auf die einzelne Führungskraft selbst, dann ist sie als Selbstverpflichtung zu verstehen, die formulierten Ziele tatsächlich zu erreichen. Wird das zielorientierte Zusammenwirken von Selbstkontrolle und Verpflichtung durch Fremdkontrolle gestört, die in den Selbststeuerungsprozess eingreift, führt dies zum Ersatz der Selbstverpflichtung durch die Fremdverpflichtung. Dieser Psychologie des zielorientierten Mindsets folgend, ist jede Fremdkontrolle ein wenig produktives Störfeuer gegen die (Selbst-) Verpflichtung der Führungskraft, die Ziele engagiert zu verfolgen. Nun reicht es nicht, wenn bei der einzelnen Führungskraft die Selbstkontrolle und das Commitment funktionieren, aber die Orientierung an und Ausrichtung auf die Unternehmensziele nicht an die Mitarbeiter vermittelt wird. Wenn das zielorientierte Mindset (Ausrichtungs-, Orientierungs-, Selbstkontroll- und Commitmentfunktion) nicht auf den Vorstand und zum Teil die erste Führungsebene eines Unternehmens beschränkt bleiben soll, bleibt offen, wie die Vermittlung von Zielen ohne Fremdsteuerung über die Hierarchien hinweg funktionieren kann. Muss nicht doch bei der Ausrichtung der Mitarbeiter an den Unternehmenszielen automatisch mit dem oben aufgezeigten
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Zusammenspiel von Selbstkontrolle und Commitment gebrochen werden? George S. Odiorne greift diese Frage in seinem am MbO-Ansatz orientierten Werk „The Human Side of Management“ auf und beendet das Kapitel „Commitment: The Tie That Binds“ mit einer Umschreibung einer ergänzenden Teilfunktion, die das zielorientierte Mindset zur Auflösung des Zielvermittlungsproblems abdecken sollte: „The question as I see it is how to integrate the needs, goals, aspirations, values, and hopes of professional workers with the goals and needs of the corporation or government organization. My confidence that they can be integrated remains firm, but only if management directs its affairs in ways that pay specific attention to those employee needs. It is not a zero-sum game; both can win, if we manage our human resources competently” (Odiorne 1990, 220). Da diese Teilleistung für die Herstellung einer zielorientierten Ausrichtung eines Unternehmens wichtig ist, verdient sie grundsätzlich als Managementfrage breite Aufmerksamkeit.135 Für die hier beabsichtigte Beschreibung der wichtigsten Funktionen der performanceorientierten Mindsets ist die Feststellung hinreichend, dass ein die Mitarbeiter– und Unternehmensinteressen integrierendes Denken und Handeln eine wichtige Teilfunktion des zielorientierten Mindsets ist.
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Die Funktionen des zielorientierten Mindsets (Ausrichtungs-, Orientierungs-, Selbstkontroll- und Commitmentfunktion) sind in der Führungsarbeit generell notwendig, um eine effektive Marktorientierung der Führungskräfte zu sichern. Ein erneuter Blick auf die Abbildung 40, die hinterfragt, welche Mindsets bei der Bearbeitung welcher Herausforderungen wichtig sind, zeigt die Bedeutung des zielorientierten Mindsets. Mit den Leistungen dieses Mindsets können wichtige Führungsbeiträge zur Bearbeitung des erhöhten Produktivitätsdrucks auf Hand- und Kopfarbeit erbracht werden. Weiter müssen die im ersten Kapitel beschriebenen Entwicklungen der sozialen Beziehungen (Individualisierung, Informalisierung, Psychologisierung), die die Führungsbeziehungen stark beeinflussen, nicht nur mit dem reflexiven Mindset, sondern maßgeblich auch mit dem zielorientierten Mindset beantwortet werden. Schließlich ermöglichen die Ausrichtungs- und Orientierungsfunktion des zielorientierten Mindsets bei der Bewältigung der weiteren und dichteren sozio-ökonomischen Interdependenzen (z. B. zunehmende Unübersichtlichkeit, potenzielle Transparenz, steigende Informations- und Wissensdichte, Suche nach Vereinfachung, abnehmende Steuerbar135 Odiorne beschreibt in seinem Werk zehn Führungsaktivitäten, die eine integrative Steuerung der Mitarbeiter im Sinne des MbO-Ansatzes ermöglichen sollen (vgl. Odiorne 1990, 176). Auch Peter Drucker hat sich nicht nur 1954, sondern auch in seinen jüngsten Veröffentlichungen mit dieser Frage beschäftigt (vgl. Drucker 2001a, 131-159).
3.1 Die Führungspersönlichkeit
167
keit) wesentliche Führungsleistungen, indem sie die Komplexität der Denk- und Handlungsoptionen zeitweise zum Zweck der Effektivität reduzieren.
3.1.3.4 Innovatives Mindset Während sich die Funktionen der bisher diskutierten performancerelevanten Mindsets ohne die Gefahr allzu großer begrifflicher Missverständnisse erschließen ließen, ist dies bei dem innovativen Mindset nicht der Fall. Selbst die Übersetzung des Innovationsbegriffs – innovatio (lat.) bedeutet Neuerung, Erneuerung oder auch Neuheit – trägt wenig zu einem klaren Verständnis bei, welche Denk- und Handlungsmuster mit einem innovativen Mindset in Unternehmen verbunden sein sollten. Allzu schnell werden mit dem Begriff „innovativ“ die Leistungen verbunden, die eher den Welten der kreativen Erfinder zuzuordnen sind. Das bekannteste Beispiel für den Typus des kreativen Erfinders ist Leonardo da Vinci (1452-1519). Leonardo da Vinci erfand viele technische Dinge, zum Beispiel das U-Boot oder Fluggeräte (Hubschrauber, Fallschirme), die erst 450 Jahre später zur technischen Reife und breiten Nutzung geführt wurden. Diese Art von Erfindergeist ist hier nicht gemeint, wenn vom innovativen Mindset die Rede ist. Erstens gibt es nur selten Genies, zweitens wären die Unternehmen nicht in der Lage, geniale Ideen, die ihrer Zeit weit voraus sind, in gefragte Produkte und damit Profit zu verwandeln. Doch welche innovativen Leistungen muss das performancerelevante Mindset der Führungskräfte in Unternehmen erbringen? Die erste Funktion des innovativen Mindsets von Führungskräften in Unternehmen ist es, Veränderungen zu erkennen, zu akzeptieren und in unternehmerische Chancen zu übersetzen (vgl. Drucker, 1993, 35). Der erste Teil dieser Funktion, das Erkennen und Akzeptieren von Veränderungen, bildet die Schnittmenge zum reflexiven Mindset. Die Leistung, sich von den eigenen Einbindungen zu distanzieren und Entwicklungen zu sehen und zu akzeptieren, vermeidet den oben beschriebenen Rückzug der Führungskräfte auf überholte Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards (Hysteresis- oder Nachhinkeffekt). Der nüchterne Blick auf die im ersten Kapitel beschriebenen nachhaltigen Veränderungen und Determinanten des strategischen Wettbewerbs ebnet den gedanklichen Weg zum zweiten Teil dieser Funktion des innovativen Mindsets: die Chancenorientierung (vgl. Simon 2004, 55-74). Um in Veränderungen die geschäftlichen Chancen realistisch zu sehen, darf die Vergangenheit nicht idealisiert und die Zukunft nicht problematisiert oder idealisiert werden. Das innovative Mindset hat demnach nichts mit einer Neigung zu riskanten Geschäftsexperimenten zu tun. Es zeigt sich eher in der Kompetenz, Marktentwicklungen realistisch einzuschätzen und sich rechtzeitig von alten Strategien, Geschäftsmodellen, Prozessen, Produkten, Strukturen und Verhaltensweisen trennen zu können, um Ressourcen für neue
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Lösungen zur Verfügung zu stellen. Die Vorstellung von der ersten Funktion des innovativen Mindsets, Veränderungen zu erkennen, zu akzeptieren und als Chancen zu nutzen, wäre jedoch zu mechanistisch angelegt ohne eine zweite Funktion des innovativen Mindsets: die Bereitschaft zu lernen. Der Grund für die Ablehnung von Veränderungen und das Ignorieren von Chancen ist häufig Unsicherheit aufgrund von Unwissenheit. Deshalb ist die Bereitschaft einer Führungskraft, sich neues Wissen anzueignen, um die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen zu verstehen und unternehmerische Antworten treiben zu können, elementar. Der Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zu lernen, der Überwindung von Unsicherheit und der Mitgestaltung von Veränderung ist grundlegend für das Verständnis von Innovations- und Veränderungsarbeit. Die sozialen Abhängigkeiten der Lernfunktion, die das innovative Mindset schnell blockieren können, sind damit jedoch nur rationalistisch thematisiert. Edgar H. Schein, ein Gründungsvater der Organisationsentwicklung, hat in einer Arbeit mit dem Titel „Blut, Schweiß und Tränen – von der Angst zu lernen“ weitere Zusammenhänge thematisiert, die Innovation und Veränderung blockieren können: „Es gibt zwei Arten von Ängsten beim Lernen: die Lernangst und die Überlebensangst. Erstere resultiert aus der Angst davor, etwas Neues zu versuchen. Der Betroffene fürchtet, es könnte zu schwierig sein, er könnte sich blamieren oder er müsse die alten Gewohnheiten aufgeben, die für ihn in der Vergangenheit nützlich waren. Wenn wir etwas Neues lernen, können wir in der Gruppe, zu der wir gehören, zu Außenseitern werden. Es kann unsere Selbstachtung bedrohen und in extremen Fällen sogar unsere Identität. Es ist nicht möglich, Menschen ihre Lernängste auszureden; sie sind die Basis für den Widerstand gegen Veränderung. Angesichts der Intensität dieser Ängste würde niemand von uns jemals etwas Neues probieren, außer wir erfahren die zweite Form von Angst: die Überlebensangst – die entsetzliche Erkenntnis, sich ändern zu müssen. (...) Das Grundprinzip ist: Lernen findet nur dann statt, wenn die Überlebensangst größer ist als die Lernangst“ (Schein 2002, 77). Edgar Schein erfasst hier klar, warum der Bereitschaft zum Lernen eine Schlüsselrolle für die Entstehung des Neuen zukommt. Wie Schein anmerkt, ist die Bereitschaft zum Lernen jedoch häufig schwer zu erzeugen, weil die befürchteten Nachteile des Nicht-Lernens größer sein müssen als die befürchteten Nachteile durch das Lernen (oder: die Veränderung). Dieser Zusammenhang stellt das innovative Mindset von Führungskräften je nach Innovationstyp, der bearbeitet werden muss, vor unterschiedliche Herausforderungen.136 Geht es nur um die kontinuierliche Verbesserung mit kleinen Prozessinnovationen, sind die bisher beschriebenen Funktionen des innovativen Mindsets – eingeschlossen 136 Vgl. zu den unterschiedlichen Innovationstypen: Govindarajan & Trimble 2005.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
169
die Bereitschaft zu lernen – nicht sonderlich herausgefordert. Sind jedoch die Strategie-, Struktur-, Prozess- oder Produktinnovationen gefragt, müssen die Grundannahmen über das, was richtig ist, möglicherweise auch revidiert werden.137 Dann ist eine Form von Lernen gefordert, die Chris Agyris als „doubleloop learning“ bezeichnet hat (vgl. Abb. 45).
s
Wenn diese Form des Lernens gefordert ist, stehen die Führungskräfte und Mitarbeiter vor der wahrscheinlich schwierigsten Herausforderung in Unternehmen überhaupt: Sie müssen die Fundamente ihrer Unternehmenskultur (Werte, Grundannahmen, Geschäftsmodelle) hinterfragen und verändern. Dies gelingt nur, wenn sich die Führungskräfte eines Unternehmens op -lo bewusst den Herause bl loop ou forderungen stellen. Sie e d gl in müssen sich, wenn der Markt dies fordert, von etablierten Geschäftsmodellen, Grundannahmen, Werten distanzieren (refleErgebnisse, Konsexives Mindset), um neue, quenzen zukunftsfähige GeschäftsHandlungs sstrategien rategien modelle, Grundannahmen und Werte für das Unternehmen zu entwickeln und zu implementieren. Edgar Schein, der oben mit einer treffenden Skizze der Lernprobleme zitiert wurde, hat in dem Klassiker Ziele, Werte, „Organizational Culture Grundannahmen, Geschäftsand Leadership“ auch die modelle Funktion der Führung bei grundlegenden Veränderungsnotwendigkeiten auf den Punkt gebracht: Abb. 45: Single-loop und double-loop Learning (vgl. Argyris, C. / Schön, D. 1974)
„In fact, the endless discussion of what leadership is
137 Foster und Kaplan führen in diesem Zusammenhang aus, dass Prozessinnovationen noch mit „convergent thinking“ zu bewältigen sind, die Grundlage für weitergehende, strategische Innovationen ist das „divergent thinking“ (vgl. Foster & Kaplan 2001, 19, 116-120, 210-211).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
and is not could, perhaps, be simplified if we recognized that the unique and essential function of leadership is the manipulation of culture“ (Schein 1985, 317). Die hier thematisierte Gestalterfunktion der Führungskräfte, die alternative Wege sieht, akzeptiert und vermittelt, ist für die Veränderung in Unternehmen von großer Bedeutung.138 Besonders sind strategische Innovationen ohne die bisher beschriebenen Funktionen des innovativen Mindsets nicht denkbar. Dennoch zeigt die im ersten Kapitel thematisierte Abnahme der durchschnittlichen Lebenszeit von Unternehmen, dass die Abhängigkeit von der individuellen Performance der Führungskräfte bei der heute geforderten Innovationsgeschwindigkeit kritisch ist. Vor diesem Hintergrund war es funktional, dass die Unternehmen im 20. Jahrhundert gelernt haben, die bisher beschriebenen notwendigen Leistungen des innovativen Mindsets der Führungskräfte um einen formalisierten Prozess der Innovationsarbeitt zu ergänzen. Durch formalisierte Innovationsprozesse wird die Führungsarbeit um eine Art „institutionalisierte Lokomotionsfunktion“ ergänzt. Dies geschieht im hier verstandenen Sinne nicht nur in der Forschungs- und Entwicklungsarbeit, die sich in der Regel auf Produkte und Produktionsprozesse bezieht, sondern in den letzten Jahrzehnten zunehmend bei der Erarbeitung und Implementierung von neuen Strategien und Strukturen.139 Diese strategische Innovationsarbeit vollzieht sich in der Regel in Projekten und Stabsstellen neben der klassischen Linienorganisation. Dadurch werden die oben beschriebenen Innovationsbarrieren (Lern- und Veränderungsbarrieren) mit institutionell verankerten Innovationsverfahren konfrontiert. Neben den offiziellen Funktionen dieser Prozesse bzw. Verfahren, Neuerungen zu generieren und zu implementieren, dienen diese Verfahren auch der Legitimation von Veränderungen.140 Das heißt, die Innovationsverfahren entlasten die Führungskräfte: Der generierte und implementierte Veränderungsbedarf wird vom System selbst geschaffen, nicht von einer einzelnen Führungskraft initiiert. Innovationsprozesse, die heute häufig in Projekten organisiert werden und neue Geschäftsmodelle, Strategien und Strukturen entwickeln und implementieren beziehungsweise treiben, können zudem als Professionalisierung des Manage138 Die wohl bekannteste Beschreibung dieser Führungsfunktion hat 1996 John P. Kotter in seinem Werk „Leading Change“ vorgelegt. Kotter thematisiert auch den Zusammenhang von „Leadership and Lifelong Learning“ (vgl. Kotter 1996, 175-186). Die Arbeit von James M. Kouzes und Barry Z. Posner behandelt ähnliche Führungsfunktionen, jedoch differenzierter als Kotter und basierend auf einer umfangreicheren empirischen Studie (vgl. Kouzes & Posner 1995). 139 Vgl. hierzu die Studie zur Gestaltung von Veränderungsprozessen: Cap Gemini Ernst & Young 2003. 140 Vgl. hierzu die soziologische Reflexion zu der Legitimationsfunktion von Verfahren bei Luhmann 1983.
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3.1 Die Führungspersönlichkeit
mentprozesses interpretiert werden. Dies ist daran abzulesen, dass oben angeführte Funktionen des innovativen Mindsets, die über die personelle Steuerung nur schwer plan- und steuerbar sind, feste Bestandteile eines üblichen Innovationsprozesses geworden sind. Sowohl die Sichtung von Veränderungserfordernissen, als auch die Bewertung und Umsetzung von Ideen ist somit der Subjektivität der einzelnen Führungskraft teilweise entzogen (vgl. Abb. 46):
Veränderungserfordernisse erkennen
Ideenfindung Ideenbewertung Bearbeitung des Sicherstellung zur Bewältigung und LösungsLösungsweges der Umsetzung der Veränderung auswahl
Veränderungserfolg prüfen
Abb. 46: Die Prozesskette Innovationsmanagement141
Aus der Verschiebung der Innovationsprozesse in Projekte oder ähnliche Organisationsformen können auch Leistungsanforderungen an das innovative Mindset der Führungskräfte abgeleitet werden. Als dritte Funktion des innovativen Mindsets wird hier folglich die Ausrichtung auf professionelle Verfahren und Methoden der Innovationsarbeit angeführt. Diese Funktion des innovativen Mindsets wirkt nicht nur wie die Entzauberung von der individuellen Kreativität, sie soll es auch sein. Denn Innovationsarbeit muss systematisch erfolgen, um notwendige Anpassungen an den Markt sichern zu können, und sie muss machtvoll (Verfahren, Legitimation) durchgeführt werden, um die oben beschriebenen Veränderungsbarrieren überwinden zu können.
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Die abschließende Frage, welchen Beitrags das innovative Mindset zur Beantwortung der sozio-ökonomischen Herausforderungen bietet, lenkt das Augenmerk besonders auf eine für die Unternehmen überlebenswichtige Leistung: Die hinreichend schnelle und variable Antwortfähigkeit auf Marktveränderun141 Es gibt heute eine Vielzahl unterschiedlicher Modelle für die Gestaltung von Innovationsprozessen (vgl. Herstatt & Verworn 2000; Becker & Reinhardt 2006).
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gen zu gewährleisten. So kann das innovative Mindset die Antworten auf die massiven Marktveränderungen durch die Bevölkerungsentwicklung generieren oder dazu beitragen, die unternehmensspezifischen Konsequenzen aus den weiträumigeren und engeren Interdependenzen (zunehmende Veränderungsgeschwindigkeit; zunehmende Konkurrenz; Digitalisierung / Virtualisierung) zeitgemäß zu bearbeiten.
3.1.3.5 Weltgewandtes Mindset In den einleitenden Sätzen dieser Arbeit wurde darauf hingewiesen, dass die Finanzwirtschaft und die Wissensproduktion heute in globalen Netzwerken stattfinden. Durch die anknüpfenden Ausführungen zum nachhaltigen Veränderungstreiber „sozio-technischen Interdependenzen“ konnte weiter aufgezeigt werden, dass die wirtschaftlichen Netzwerke ein wichtiger Teil der langfristig und mit großer Schubkraft wachsenden weltweiten Verflechtungen sind. In diesen sich dynamisch entwickelnden Interdependenzen sind die Unternehmen wiederum unterschiedlich große Netzwerkpunkte. Die in den Unternehmensnetzwerken arbeitenden Führungskräfte, die gestern noch Kapitäne auf kleiner Fahrt in nationalen Gewässern waren, finden sich durch die Entwicklungen der sozio-technischen Interdependenzen nun – gewollt oder ungewollt – auf den Weltmeeren wieder. Wie fundamental sich die wirtschaftlichen Abhängigkeiten, in denen die Führungskräfte agieren müssen, geändert haben, fasst Marc Levinson in einer Geschichte des Containers zusammen: „ In 1956, the world was full of small manufacturers selling locally; by the end of the twentieth century, purely local markets for goods of any sort were few and far between“ (Levinson 2006, 5).142 Die Internationalisierung der Wirtschaft verlangt nach Führungskräften mit einem weltgewandten Mindset, denn die Performancemaßstäbe für die Mindsets der Führungskräfte werden dort gesetzt, wo die Konkurrenten sind: weltweit.143 Damit ist klar, welche Bedeutung dem weltgewandten Mindset heute zukommt und wo die Benchmarks für die Performance dieses – und der anderen – Mindsets und Führungsaktivitäten gesucht werden müssen. Neben der Begründung des räumlichen Bezugsrahmens des weltgewandten Mindsets bleibt noch zu erläutern, an welchen spezifischen Leistungen sich das Mindset messen lassen muss. Um die wichtigsten Funktionen des weltgewandten Mind142 Die Geschichte des Containers ist ein wichtiger Baustein der modernen Wirtschaftsgeschichte, weil sie unter anderem verdeutlicht, dass die Globalisierung der Weltwirtschaft nicht nur auf moderne Informations- und Kommunikationstechniken zurückzuführen ist. 143 Drucker betont in seinen Ausführungen zu den „Challenges for the 21st Century“ die Relevanz der „Global Competitiveness“ (Drucker 1999, 61-63). Zum Benchmarking mit den „Klassenbesten“ vgl.: Rau 1996.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
173
sets bestimmen zu können, muss differenziert hinterfragt werden, vor welche veränderten Herausforderungen sich die Führungskräfte gestellt sehen, wenn ihr Unternehmen die geschäftlichen Aktivitäten auf andere Länder ausweitet. Die Kernherausforderung, vor die sich Führungskräfte bei dem Start geschäftlicher Auslandsaktivitäten gestellt sehen, ist leicht erkennbar: Unabhängig von dem Treiber für die Internationalisierung, ob es die Suche nach günstigeren Rohstoffen oder Produktionsstandorten, nach neuen Absatzmärkten oder Wachstum durch internationale Zukäufe ist, führen diese Aktivitäten zunächst zu vielfältigen Wissensfragen. Und wenn ein Unternehmen das kurzfristige Scheitern seiner Auslandsaktivitäten verhindern will, ist eine professionelle Erschließung dieses Wissens wichtig. Damit ist sogleich die erste Funktion des internationalen Mindsets bestimmt: ein kompetenter Umgang mit Informationen über ausländische Märkte (vgl. Chatterjee 2005, 42). Diese einfach klingende erste Antwort auf die Herausforderung der Internationalisierung birgt zwei Fallstricke: Erstens darf die Erfassung der „Märkte“ nicht zu eng angelegt sein, da Regulatoren, soziale Trends, rechtliche Rahmenbedingungen, Qualifikationsfragen und andere Rahmenbedingungen die Geschäftsmöglichkeiten wesentlich bestimmen können. Zweitens darf das notwendige Informationsmanagement über die neuen Märkte nicht als mehr oder weniger technische Bearbeitung von Daten und Fakten missverstanden werden. Das kompetente Wissensmanagement für ausländische Märkte kann nicht alleine über ein distanziertes Studium von Daten und Fakten betrieben werden. Um die Konsequenzen der nüchternen wirtschaftlichen Expansionsbestrebungen, nämlich die quantitative (Zahl der Interdependenzen) und qualitative (kulturelle) Ausweitung der Abhängigkeiten erfolgreich managen zu können, ist eine spezifische Ausprägung der oben als analytisch und synoptisch beschriebenen Leistungen gefragt. Diese Varianten des analytischen und synoptischen Denkens, die sich mit den Begriffen Differenzierung und Integration beschreiben lassen, sind Voraussetzungen, um die kulturelle und prozessuale Vielfalt, die durch die Internationalisierung des Geschäfts entsteht, aufnehmen, interpretieren und nutzen zu können.144 Welche Denk- und Fühlleistungen mit den Differenzierungs- und Integrationsleistungen des weltgewandten Mindsets verbunden sind, lässt sich über drei weit verbreitete Weltsichten erschließen: Das ethnozentrische Weltbild hält den jeweiligen nationalen Weg zu leben und zu wirtschaften für den überlegenen und richtigen. Dieses Mindset ist wenig differenzierend, aber national integrierend. 144 Vgl. hierzu Gupta & Govindarajan 2002, 117; zu den weiteren Fragen des internationalen Managements vgl. Kutschker & Schmid 2006.
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Das polyzentrische Weltbild sieht die Stärken und Schwächen des Denkens und Handelns auf der Welt verteilt und ist damit deutlich differenzierender, wenn auch nicht integrativer als das ethnozentrische Weltbild. Das geozentrische Weltbild hält keine nationale Lebens- und Wirtschaftsweise für überlegen, ist also differenzierend und zudem offen für integrative Lösungen.145 Wie ein geozentrisches Denken in effektives Wirtschaften übersetzt werden kann, verdeutlichen Gupta und Govindarajan an dem strategischen Ansatz eines schnell wachsenden amerikanischen Haushaltswarenherstellers: „The CEO, an immigrant from China, summarized the company’s strategy
Broad
Ability to absorb diversity, and values and vision
Highly global integration with low functional competency
Highly integrated global imagination with high mastery of business processes
M3
Highly bureaucratic; low value adding
M4
High functional focus; low global imagination
M1
Limited
Ability to absorb complexity and specialized processes
M2
Broad
Abb. 47: The Framework of Global Mindset (Chatterjee 2005, 40) 145 Eine entwicklungssoziologische Untersuchung zu den unterschiedlichen Weltsichten und Identitäten bietet Norbert Elias 1987, 209-315.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
175
succinctly as ‘combining Chinese costs with Japanese quality, European design, and American marketing“ (Gupta & Govindarajan 2002, 118). Samir Chatterjee hat die spezifischen Leistungen des weltgewandten Mindsets, die kulturellen Spezifika zu erkennen und in die Strategie, Struktur und Unternehmensprozesse zu integrieren, in einen einfachen Bezugsrahmen übertragen (vgl. Abb. 47). Die Vierfeldermatrix zeigt: „Global mindset becomes natural in quadrant M4 where openness to and awareness of diversity of cultures and systems can be easily comprehended and synthesized. The globality of mindset is evidently missing in quadrant M1, with the organizational focus being completely on routine task performance only” (Chatterjee 2005, 40). In Verbindung mit dem Bezugsrahmen für ein globales Mindset verweist Chatterjee auf die Gefahr, dass sich bei einem weniger international entwickelten Mindset die Integration auf eine rigide Standardisierung von Prozessen und damit eher auf eine Bürokratisierung als auf eine Internationalisierung richten kann (vgl. ebenda 40). Als Beispiel für den häufig schwierigen Lernprozess vom Quadranten M1 bis zum Quadranten M4 verweist Chatterjee auf die Entwicklung IBM‘s. Hier wurde in den 1960er Jahren versucht, die Unterschiedlichkeit der internationalen Geschäfte durch rigide Standardisierung einzudämmen. Erst über einen längeren Lernprozess erkannten die Führungskräfte, dass ein differenziertes Verständnis (weltgewandtes Mindset) der Märkte produktiver ist als ein Set bürokratischer Regeln. Auch Bartlett und Ghoshal betonen in ihrem anerkannten Werk „Managing Across Boarders“, dass eine „transnational mentality“ der Schlüssel zum Management eines internationalisierten Unternehmens ist (vgl. Bartlett & Ghoshal 1999, 63, 72, 120, 204). Für eine erfolgreiche Internationalisierung des Geschäfts – aus welcher der oben beschriebenen Gründe auch immer – reicht es demnach nicht, die formalen Leistungen des analytisch-synoptischen Mindsets zur Bearbeitung des Wissens über die ausländischen Märkte abzurufen. Um Informationen aus oder über einen neuen Markt differenziert zu verstehen und in marktgerechte Lösungen überführen zu können, ist eher die Form des Verstehens notwendig, die Gosling und Mintzberg anhand des Lernprozesses eines Managers in Indien beschreiben146: „‘Wie können Sie überhaupt in diesem Verkehr zurechtkommen?’ fragte eine amerikanische Marketingmanagerin von Lufthansa einen indischen Professor nach einer abenteuerlichen Fahrt vom Flughafen. ‘Ich begebe mich einfach in den allgemeinen Strom’, war seine Antwort. Der Lernprozess begann: Auf den Straßen Indiens herrscht kein Chaos, sondern lediglich eine andere Logik. 146 Die Form des Verstehens, das Gosling und Mintzberg einfordern, kommt dem Verständnis des soziologischen Denkens nach Max Weber nahe (vgl. Weber 1985, 1-11).
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Wenn Sie das erkannt haben, sind Sie schon viel weltgewandter geworden“ (Gosling & Mintzberg 2004, 54). Die wichtigen Funktionen, ein kompetenter Umgang mit Informationen über internationale Märkte und die Fähigkeit zur kulturell-geschäftlichen Differenzierung und Integration sind demnach im weltgewandten Mindset eng verknüpft. Die Frage nach weiteren performancerelevanten Funktionen des weltgewandten Mindsets führt im Rahmen der hier vorliegenden Mindsetkonzeption zu folgender Antwort: Teilweise können weitere Kompetenzen angeführt werden, die sich an die Differenzierungs- und Integrationsfunktion angliedern lassen; teilweise sind für die weltgewandte Führung in Unternehmen Leistungen relevant, die als Funktionen anderer Mindsets gesehen werden können. Da der hier verfolgte Ansatz die Erstellung immer unvollständiger Eigenschaftsoder Kompetenzlisten zugunsten einer integrativeren Arbeit mit wesentlichen Funktionen vermeidet, werden der Differenzierung- und Integrationsfunktion des weltgewandten Mindsets keine weiteren Eigenschafts- oder Kompetenzlisten zugeordnet. Stattdessen soll hinterfragt werden, welche Verknüpfungen es zu den Funktionen anderer Mindsets gibt: Bei der Prüfung der Wechselwirkung des weltgewandten Mindsets mit den Funktionen der anderen Mindsets fällt zunächst der Zusammenhang zwischen den oben diskutierten Weltsichten und der Distanzierungsfähigkeit als Funktion des reflexiven Mindsets ins Auge. Ohne eine hinreichende Distanzierungsfähigkeit gegenüber der national-kulturellen Einbindung ist es unwahrscheinlich, dass eine Führungskraft sich von dem ethnozentrischen Weltbild lösen wird, um die Arr beitsweisen, Werte und Ziele anderer Kulturen als gleichwertig anzuerkennen und in die Steuerung des Geschäfts einzubinden. Auch ist die Funktion des reflexiven Mindsets, durch die Fähigkeit zur Langsichtt die kurzfristige Absicherungs- und Nutzenorientierung zu überwinden, wichtig, um die notwendige unternehmerische Risikobereitschaft für ein Auslandsengagement aufzubringen. Auf die Parallele zwischen den Kernfunktionen des analytisch-synoptischen Mindsets und der Differenzierungs- und Integrationsfunktion wurde bereits hingewiesen. Während die Leistung des analytischen Zerlegens von Prozessen und des Zusammendenkens von unternehmerischen Aktivitäten besonders kognitiv fordert, kommt bei der Differenzierungs- und Integrationsleistung des weltgewandten Mindsets sicher ein hoher kulturell-emotionaler Anspruch (Distanzierungsfähigkeit) hinzu. Weiter kann der geschäftliche Schritt in andere Kulturen die etablierten Sichtweisen ähnlich in Frage stellen, wie dies durch Innovationsprozesse geschehen kann. Daher verwundert es nicht, dass die zwei unter dem innovativen Mindset diskutierten Leistungen, Veränderungen erkennen, akzeptieren und
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als Chance sehen sowie die Bereitschaft zu lernen, auch für das weltgewandte Mindset von großer Bedeutung sind. Die noch zu diskutierenden Mindsets, nämlich das netzwerkorientierte und das aktionsorientierte, bieten mit den dort beschriebenen Funktionen der Vernetzung, Fokussierung und der Gestalterhaltung weitere Leistungen, die mit dem weltgewandten Mindset assoziiert werden können. Insgesamt verweisen die hier angeführten Verknüpfungen zwischen dem weltgewandten und den anderen Mindsets auf die einleitend angeführte Einsicht, dass die Mindsets untereinander ein Set bilden.
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Abschließend soll auch hier hinterfragt werden, welche Rollen dem weltgewandten Mindset bei der Bearbeitung wesentlicher Entwicklungen des strategischen Wettbewerbs zukommen. Da die Internationalisierung der sozio-ökonomischen Interdependenzen die Bedingungen des strategischen Wettbewerbs massiv und vielfältig beeinflusst, scheint vorweg die übergreifende Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass dem weltgewandten Mindset generell eine wachsende Bedeutung zukommt. Dies kann durch den Verweis auf zwei Cluster von Determinanten des strategischen Wettbewerbs, auf die Unternehmen zum Teil Antworten bieten müssen, unterstrichen werden. Der erste Cluster setzt sich zusammen aus den Entwicklungen der zunehmenden internationalen Migration, der zunehmenden kulturellen Vielfalt und zunehmenden Kulturkonflikten. Um als Führungskraft in dem dichter und spannungsreicher werdenden kulturellen Umfeld national und international sicher agieren zu können, sollte das weltgewandte oder geozentrische Weltbild gut entwickelt sein. Obgleich – je nach Internationalität des Unternehmens – dieser „Kulturcluster“ schon komplexe Herausforderungen in sich birgt, fordert der zweite Cluster das weltgewandte Mindset ähnlich stark. Dieser zweite Cluster von Determinanten des strategischen Wettbewerbs fordert vom weltgewandten Mindset ein hinreichendes Verständnis für die wichtigen Konsequenzen der zunehmende Internationalisierung, das heißt für die weiträumigeren Interdependenzen. Nur wenn die internationalen Abhängigkeiten des jeweiligen Geschäfts angemessen eingeschätzt werden, ist ein vorausblickendes und erfolgreiches Management des Produktivitätsdrucks auf Hand- und Kopfarbeit, der Gefahr der Überkapazitäten, der Verteuerung der Rohstoffe und des anfälligeren Weltmarktes zu erwarten. Hierzu sind die oben beschriebenen Funktionen des weltgewandten Mindsets, aber auch das skizzierte Zusammenwirken mit den Funktionen der anderen Mindsets notwendig. Zusammengenommen sind die Ansprüche an das weltgewandte Mindset besonders hoch. Zum einen korrespondieren die Differenzierungs- und Integra-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
tionsfunktionen des Mindsets zum Beispiel bei der notwendigen Reflexion der Weltsicht (ethnozentrisch, polyzentrisch oder geozentrisch) mit grundlegenden Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards. Zum anderen ist der Zugriff auf Leistungen der anderen Mindsets notwendig und ausgeprägt. Diese Ansprüche sind jedoch nicht durch vermeidbare innerorganisatorische Komplexität geschaffen, sondern im Zuge der Internationalisierung der Wirtschaft unverr meidbare Ansprüche des Marktes an die Führungskräfte.
3.1.3.6 Netzwerkorientiertes Mindset In dem Kapitel über die Entwicklung der sozio-technischen Interdependenzen wurde die Lesart von Manuel Castells übernommen, der die sich seit den 1970er Jahren durchsetzende Wirtschaftsform in drei Attributen zusammenfasst: informationell, global und vernetzt. Diese Begriffe, die für eine global vernetzte Wissensgesellschaft stehen, stellen auch das Verständnis, wie Unternehmen aufzubauen sind und geführt werden müssen, in Frage: „Tradierte Vorstellungen über die Konstruktion und das Funktionieren von Unternehmen sind zu revidieren. Unternehmen werden immer seltener als gegenüber der Umwelt relativ gut abgrenzbare, dauerhafte, integrierte und raumzeitlich klar definierte Gebilde aufzufassen sein“ (Picot & Reichwald & Wigand 1996, 7). Die zunehmend internationale Vernetzung der Wirtschaft verändert die Unternehmen und die Anforderungen an die Führungskräfte. Die Leistungen des weltgewandten Mindsets können helfen, einen Teil dieser Veränderungen zu bewältigen; das netzwerkorientierte Mindset soll es den Führungskräften ermöglichen, die speziellen Herausforderungen, die sich durch die weniger integrierten, aber – im Vergleich zu den im 20. Jahrhundert üblichen Unternehmensstrukturen – stärker vernetzten Unternehmen ergeben, zu bearbeiten. Um die Kernfunktionen des netzwerkorientierten Mindsets in den Blick zu bekommen, müssen die zum Teil veränderten Führungsrollen durch die Entwicklung zum vernetzten Wissensunternehmen beachtet werden. Überall dort, wo sich neue Organisationsformen etablieren (z. B. in Form von Projektarbeit, internationale Teamarbeit, Konzernstrukturen, Joint Ventures, strategische Allianzen, Konsortiallösungen), sind Führungsleistungen gefragt, deren Wirkung nur teilweise oder gar nicht durch hierarchische Strukturen und disziplinarische Steuerung abgesichert ist. Wie kritisch die neuen Netzwerkstrukturen aus dem Blickwinkel des klassischen Führungsverständnisses sind, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass die neuere Netzwerkforschung die Steuerbarkeit von Netzwerken grundsätzlich bezweifelt (vgl. Aderhold / Wetzel 2005, 18). Tatsächlich funktionieren die Führungsstandards hierarchischer Organisationen, wie zum Beispiel die disziplinarische Durchsetzung von Entscheidungen, in Netzwerkstrukturen teilweise
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nicht und müssen durch andere Formen der Führung ersetzt werden (vgl. v. d. Eichen & Hinterhuber & Mirow & Stahl 2003, 101).147 Gleichwohl gibt es grundlegende Führungsfunktionen in Unternehmen, die durch die neuen Netzwerkstrukturen nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt haben. Die wichtigste dieser Führungsfunktionen stellt sicher, dass Ressourcen möglichst effizient für das Erreichen von Zielen eingesetzt werden. Diese Führungsfunktion bekommt bei der Arbeit in Netzwerkstrukturen jedoch einen eigenen Zuschnitt. Hier besteht die Leistung der Führungskräfte darin, Mitarr beiter, Kooperations- oder Netzwerkpartner über klassische Grenzen (hierarr chisch, organisatorisch, kulturell) hinweg auf eine gemeinsame Zielerreichung bei begrenzter Ressourcennutzung auszurichten. Sicher sind hierzu die unter dem zielorientierten Mindset beschriebenen Funktionen (Ausrichtungs-, Orientierungs-, Selbstkontroll-, Commitment- und Integrationsfunktion) wieder relevant. Aber das netzwerkorientierte Mindset der Führungskräfte muss in kooperativen Netzwerkbeziehungen diese Funktionen zum Teil anders ausgestalten. In individuellen Zielvereinbarungen sind die meisten Funktionen abgedeckt, wenn die Interessenbalance zwischen dem vereinbarten individuellen Beitrag und der entsprechenden Gegenleistung des Unternehmens hergestellt sowie die Ressourcennutzung und die Gestaltungsspielräume geklärt sind. In Netzwerkbeziehungen – und das gilt schon in einer Organisation bei abteilungsübergreifenden Projekten – funktioniert der Interessenausgleich nur, wenn ein gemeinsamer Grundnutzen hinreichend transparent gemacht werden kann. Das netzwerkorientierte Mindset einer Führungskraft muss folglich die Leistung erbringen, für eine Netzwerkarbeit den gemeinsamen Grundnutzen zu bestimmen und diesen durch hinreichende Kommunikation für die Netzwerkmitglieder transparent zu machen. Dieser gemeinsame Grundnutzen ist das Äquivalent zur Vision und den strategischen Zielen in den klassischen Organisationsformen. Als Führungsinstrument ist die transparente Kommunikation des gemeinsamen Grundnutzens in Netzwerken wichtig, denn: „In this world of connectivity, collaboration, and blurring, executives no longer have control over most things that matter, sometimes even including their own business processes. They must provide true leadership inside and outside the organization to successfully implement new ways of working, while skirting the associated risk“ (Dawson 2003, 6). Wenn das netzwerkorientierte Mindset der Führungskraft die Leistung ermöglicht, den gemeinsamen Grundnutzen des jeweiligen Netzwerks transparent zu kommunizieren, dann hat dies in der Regel ähnliche Steuerungseffekte wie die individuelle Zielvereinbarung. Denn die Bereitschaft, an dem gemeinsamen Ziel mitzuwirken, signalisiert zugleich die Verpflichtung, im Dienste einer 147 Eine differenziertere Aufbereitung der veränderten Anforderungen an die Führung in Wissensunternehmen bietet das Kapitel 3.3 zur operativen Führung.
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produktiven Kooperation gemeinsame Standards und Werte einzuhalten, das heißt selbstkontrolliert mitzuarbeiten. Die hier beschriebenen Wirkungsmechanismen werden heute häufig skeptisch gesehen und als Projektion eines idealistischen Menschenbildes angezweifelt. Ein Blick in die Praxis erfolgreich gesteuerter Netzwerke widerlegt diesen Idealisierungsverdacht. Die eindrucksvollsten Belege für die Funktionsfähigkeit der hier beschriebenen Führungsleistungen und Wirkungsmechanismen finden sich in der Entwicklung von Open Source-Softwarelösungen. „Open source software is one of the most intriguing – and important – development in recent economic history. Products based on highly skilled labor working for free may have seemed unlikely to become a major force in a capitalist society, but that is exactly what is changing the entire shape of the software industry” (ebenda 98). Das seit den 1990er Jahren bekannte Beispiel für eine solche Open Source Software ist das von Linus Torvalds initiierte LINUX. Gegen viele Regeln der üblicherweise formal organisierten und straff geführten Softwareentwicklung, aber mit der Kommunikation eines gemeinsamen Grundnutzens, nämlich ein kostenloses Betriebssystem als Alternative zu kommerziellen Lösungen zu entwickeln, wurde LINUX als leistungsfähiges System von einer großen Internetcommunity entwickelt. Ähnliches gilt für die weniger bekannte Webserver Software „Apache“, die jedoch über einen noch größeren Marktanteil verfügt als LINUX (vgl. ebenda 99). Doch wie bei den Open Source-Projekten die oben angeführten Funktionen des netzwerkorientierten Mindsets der Führung zur Wirkung kommen, zeigt am besten die am 15. Januar 2001 von dem Philosophiedozenten Larry Sanger angestoßene Internetlösung „Wikipedia“. „Wikipedia ist eine von freiwilligen Autoren verfasste, mehrsprachige, freie Online-Enzyklopädie“ (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia ). Der gemeinsame Grundnutzen – der kostenlose Zugang zu enzyklopädischem Wissen – ist transparent. Die Verpflichtung auf gemeinsame Standards (z. B. GNU-Lizenz für freie Dokumentationen) und Werte (z. B. keine kommerzielle Werbung) ist aus der Gründungsidee entstanden und funktioniert. In dieses neuzeitliche Projekt sind zurzeit 214.000 angemeldete Nutzer und eine unbekannte Zahl anonymer Mitarbeiter eingebunden, die bis dato circa 4 Millionen Artikel in das System eingespeist haben. Doch warum ist besonders Wikipedia ein Lehrstück für das netzwerkorientierte Mindset von Führungskräften? Weil die Steuerung von Wikipedia, die heute durch die Non-Profit-Organisation Wikipedia Foundation repräsentiert wird, zeigt, dass eine große produktive Dynamik in der Netzwerkarbeit liegt, wenn durch ein netzwerkorientiertes Mindset bestimmte Führungsleistungen
3.1 Die Führungspersönlichkeit
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in neuen Organisationsformen erbracht werden. Die Führungsleistungen, die Larry Sanger von Beginn an in das Netzwerk Wikipedia eingebracht hat, waren ein klar kommunizierter gemeinsamer Grundnutzen (warum lohnt es sich, an dem Ziel mitzuarbeiten), die Verpflichtung auf gemeinsame Standards und Werte und das dadurch geschaffene Vertrauen in die Netzwerkpartner. Hierzu könnte man einwenden, dass hinter den für wesentlich gehaltenen Funktionen des netzwerkorientierten Mindsets als eigentliche Triebkraft eine Art ideologischer Zusammenschluss Gleichgesinnter im Non-Profit-Bereich steht. Dass jedoch diese Führungsfunktionen des netzwerkorientierten Mindets, die hier an einem Beispiel aus dem Non-Profit-Bereich verdeutlicht wurden, keine wettbewerbsferne Motivation erfordern, sondern auch in der Konkurrenzwirtschaft wirken, zeigt jedoch das Beispiel des etablierten Netzwerks der sogenannten „Star Alliance“. Die Star Alliance ist ein Zusammenschluss von Fluglinien, die durch das Geschäftssystem der Netz-Carrier versuchen, besonders im Konkurr renzkampf mit den Low-Cost-Carriern (Billigflieger) Konkurrenzvorteile zu erzielen. Die Manager der Star Alliance müssen zur Steuerung ihres Netzwerkes auf die gleichen Führungsmechanismen zurückgreifen und vertrauen, wie sie für Wikipedia beschrieben wurden. Christoph Klingenberg, ein für das Netzwerk der Star Alliance mitverantwortlicher Manager, beschreibt den klar kommunizierten Grundnutzen der Fluglinienallianz: „Der Leim, der die Star Alliance zusammenhält, ist die Fähigkeit, durch Optimierung der Flugpläne den Marktanteil für die Allianz zu steigern“ (Klingenberg & Gaitanides 2005, 41). Damit der Netz-Carrier pro Tag über 10.000 Städteverbindungen funktionsfähig anbieten kann, müssen gemeinsame Standards eingehalten und eine verr trauensvolle Kooperation möglich sein. Ansonsten wäre das Modell, das den Kunden Zeit- und Servicevorteile gegenüber den Low-Cost-Carrieren bieten muss, nicht überlebensfähig (ebenda 39). Auch die hier herausgestellten Funktionen des netzwerkorientierten Mindsets, die auf die Entwicklung und Einsteuerung eines gemeinsamen Grundnutzens sowie gemeinsamer Standards gerichtet sind, lassen sich um lange Listen nützlicher Eigenschaften und Kompetenzen ergänzen (z. B. Konsensfähigkeit, Arbeitsgenauigkeit, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, Extrovertiertheit, Offenheit, Konfliktfähigkeit, Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit, Fairness, Synergiedenken, Flexibilität, Toleranz). Nur wird sich selten endgültig klären lassen, welche dieser Eigenschaften und Kompetenzen in welcher Konstellation und Ausprägung für Netzwerke funktionskritisch sind. Deshalb ist es auch für die Entwicklung und Steuerung des netzwerkorientierten Mindsets sinnvoller, die wichtigsten Funktionen herauszuarbeiten, ihre Performance zu prüfen und gezielt zu entwickeln. Ob eine Führungskraft, die die performancerelevanten Leistungen der Mindsets erbringt, auch vorgeblich relevante Eigenschaften
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oder Kompetenzen abdeckt, ist weniger wichtig. Denn in der Führungspraxis wirken letztlich weder isolierte Eigenschaften, noch einzelne Mindsets. Vielmehr müssen bei der Bewältigung von Führungsaufgaben die grundlegenden Leistungen der Mindsets in vielfältigen Kombinationen abgerufen werden. Deshalb soll auch hier kurz reflektiert werden, welche Leistungen der anderen Mindsets die Performance des netzwerkorientierten Mindsets unterstützen: Schon erwähnt wurde die Überschneidung mit den Funktionen des zielorientierten Mindsets. Die Ausrichtungs- und Orientierungsfunktion des zielorientierten Mindsets wird durch die klare Kommunikation des gemeinsamen Grundnutzens vom netzwerkorientierten Mindset in einer netzwerkfähigen Variante bedient. Durch die variierte Kommunikation eines gemeinsamen Ziels erbringen beide Mindsets die Leistung, die Commitment- und Selbstkontrollfunktion bei den Menschen zu aktivieren. Der wesentliche Unterschied dieser Mindsets besteht folglich darin, dass sie eine effektive Führung unterschiedlicher Zielpersonen bzw. –gruppen in unterschiedlichen Kooperationsbedingungen sichern. Das zielorientierte Mindset unterstützt mit den beschriebenen Funktionen in der direkten Führung, mit Teams und in organisatorisch klar abgegrenzten Verantwortungsbereichen das Führungshandeln. Zunehmend wichtiger wird jedoch die effektive Führungsarbeit in der indirekten (nicht disziplinarischen) Führung, mit „virtuellen“ Teams, in sich überschneidenden Verantwortungsbereichen oder Netzwerken diverser Art. In diesen Führungskonstellationen wird die Netzwerkfunktion so entscheidend, dass das netzwerkorientierte Mindset selbst danach benannt wurde. Auch mit Funktionen anderer Mindsets gibt es wichtige Wechselwirkungen: Da eine Win-win-Situation als Synonym für den gemeinsamen Nutzen steht, ist es wichtig, dass eigene Lösungen hinterfragt und alternative Vorschläge anerkannt und akzeptiert werden können (reflexives Mindset). Arbeiten Netzwerke international, geht der Anspruch an die Reflexionsfähigkeit über die kulturellen Grenzen hinaus und muss durch die Differenzierungs- und Integrationsfunktion des weltgewandten Mindsets unterstützt werden. Für Projekte oder in Entwicklungsteams, die in Netzwerkstrukturen arbeiten, ist es zudem erfolgskritisch, dass der Promotor des Netzwerks (die Führungskraft) die Verknüpfung der Aktivitäten zu einer Gesamtleistung (analytisch-synoptisches Mindset) effektiv unterstützt (vgl. Borkenhagen u. a. 2004, 45).
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Neben den Wechselwirkungen des netzwerkorientierten mit den anderen Mindsets bleibt zu hinterfragen, welchen Beitrag das netzwerkorientierte Mindset zum Umgang mit den Determinanten des strategischen Wettbewerbs leistet. Bei
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der Prüfung dieses Zusammenhangs zeigt sich zunächst, dass das netzwerkorientierte Mindset besonders gefordert ist, um die durch „zunehmende Internationalisierung“, „zunehmende kulturelle Vielfalt“, „zunehmende Konvergenz“ und „Erosion der Branchengrenzen“ entstehenden „neuen Arbeitsformen“ erfolgreich nutzen zu können. Um in den neuen Netzwerken erfolgreich agieren zu können, müssen die oben beschriebenen integrierenden Funktionen des Mindsets greifen. Dies kann nur funktionieren, wenn die Führungskräfte verstehen und akzeptieren, dass in den neuen Arbeitsformen hierarchische Machtunterschiede weniger relevant sind („abnehmende Machtunterschiede“; „Informalisierung“). Auch sind die Standards in der „digitalisierten / virtualisierten“ Welt häufig neu zu verhandeln, und zusätzlich müssen die Interessen des einzelnen („Individualisierung“) durch den klar kommunizierten gemeinsamen Grundnutzen abgedeckt werden. Obgleich die angeführten Bedingungen für das Netzwerkmanagement zugleich die Entwicklung zur „abnehmenden Steuerbarkeit“ verständlich machen, muss die Arbeit in den neuen Netzwerken genutzt werden, um die Frage des Produktivitätsdrucks auf Hand- und Kopfarbeit zu beantworten.148 So werden die alten Widersprüche in den Arbeitsorganisationen – zum Beispiel die kooperative Verpflichtung im disziplinarischen Unterstellungsverhältnis – durch neue Widersprüchlichkeiten ersetzt.
3.1.3.7 Aktionsorientiertes Mindset Die Erläuterungen zu den performancerelevanten Denk- und Fühlmustern von Führungskräften wurden mit den Ausführungen zum reflexiven Mindset eingeleitet. Es wurde die Position des LAA formuliert, dass es für die Performance von Führungskräften maßgeblich ist, dass sie sich von etablierten Lösungen und Verr änderungsblockaden distanzieren können, um somit die Anschlussfähigkeit ihres Denkens, Fühlens und Handelns an die sozio-ökonomischen Entwicklungen zu sichern. Demnach soll eine hinreichende Performance des reflexiven Mindsets absichern, dass Führungskräfte in strategischen und operativen Entscheidungsfindungen die Leistungen des eigenen Unternehmens im Verhältnis zu den sich dynamisch verändernden Märkten realistisch einschätzen können.149 Das reflexive Mindset ist aber nur eine Seite der „Performanceklammer“, die aus Sicht des LAA für eine effektive persönliche Führung konstitutiv ist. Die andere Seite dieser „Performanceklammer“ verkörpert das aktionsorientierte Mindset. Erst wenn das reflexive und das aktionsorientierte Mindset ihre unterschiedlichen 148 Auf der ersten Seite des ersten Kapitels wurde auf internationale Entwicklungsteams verwiesen, die die Zeitverschiebung nutzen, um Rund um die Uhr produktiv sein zu können. 149 Zur „Realitätsorientierung“ des reflexiven Mindets liegen durch die Forschung zur „mindset theory“ von Gollwitzer (er verwendet den Begiff: „deliberative Mindset“) eine Vielzahl empirischer Studien vor, die die hier formulierten Positionen des LAA stützen (vgl. Bayer 1999; Bayer& Gollwitzer 2005).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Leistungen erbringen, dann sind die grundlegenden persönlichen Voraussetzungen gegeben, um auch die anderen hier beschriebenen Mindsets für eine effektive Führung zu nutzen. Henry Mintzberg, der in seiner Konzeption gleichfalls diese beiden Mindsets berücksichtigt, merkt hierzu an: „(…) everything an effective manager does is sandwiched between action on the ground and reflection in the mind. Reflection without action is passive; action without reflection is thoughtless. Effective managers thus function at the interface of these two mindsets: where reflective thinking meets practical doing” (Mintzberg 2004, 282). Da – wie Mintzberg betont – die Leistungen des reflexiven und des aktionsorientierten Mindsets eine untrennbare Voraussetzungen für die effektive Führung sind, werden die wesentlichen Leistungen des aktionsorientierte Mindset über das Zusammenwirken mit dem reflexiven Mindset erschlossen. Das Zusammenwirken der beiden Mindsets und das daraus ableitbare Verständnis des aktionsorientierten Mindsets wird in der „Mindset Theory“ von Gollwitzer auf einer breiten empirischen Forschungsgrundlage erschlossen (vgl. Gollwitzer 2003; Freitas & Gollwitzer & Trope 2004; Bayer & Gollwitzer 2005; Fujita & Gollwitzer & Oettingen 2006). Vor diesem Hintergrund wird – trotz der wissenschaftstheoretischen Unterschiede zum LAA – auf die instruktiven Forschungserr gebnisse von Gollwitzer u.a. zurückgegriffen: Peter Gollwitzer verwendet in seinem Mindset-Ansatz die Unterscheidung in „deliberative mindsets“ und „implemental mindsets“. Im Abgleich mit dem LAA verweisen die Charaktisierungen des „deliberative mindset“ zum Teil auf die Leistungen, die vom reflexiven Mindset gefordert werden und entsprechend die Charakterisierungen des „implemental mindset“ teilweise auf die vom aktionsorientiertes Mindset geforderten Leistungen. Die beiden Mindsets, das “deliberative mindset” und das “implemental mindset”, werden nach Gollwitzers empirisch-theoretischen Forschungsergebnissen in den unterschiedlichen Phasen der Zielverfolgung (“action phases”) aktiviert. Dabei ist jede Phase der Zielverfolgung durch bestimmte Herausforderungen charakterisiert. Als die zwei wichtigsten Herausforderungen, die auch zur Unterscheidung der Phasen dienen können, nennt Gollwitzer die Wahl des Ziels und die Realisierung des Ziels. Entsprechend den Herausforderungen der unterschiedlichen Phasen der Zielverfolgung zeigen die Mindsets nach Gollwitzer unterschiedliche Charakteristika: „Thought-sampling research (Heckhausen & Gollwitzer, 1987; Puca & Schmalt, 2001; Taylor & Gollwitzer, 1995) has shown that the thoughts of individuals in a deliberative mindset are tuned to expectancy-value considerations, focusing on issues of goal desirability and feasibility. The thoughts of those in implemental mindsets, on the other hand, are dominated by thought
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of the when, where, and how of goal implementation. […] Indeed, a great deal of research has shown that the implemental mindset, as compared to the deliberative mindset, leads to more biased positive evaluation and higher expectations of goal success (Armor & Taylor, 2003 & Gagné & Lydon, 2001; Gollwitzer & Kinney, 1989; Puca, 2001; Taylor & Gollwitzer, 1995). Taylor and Gollwitzer (1995, Study 3) have shown, for example, that in contrast to individuals in a deliberative mindset who engage in balanced considerations of pros and cons while making a decision, individuals in an implemental mindset consider pros five times more frequently than cons. Those in implemental mindset are also more likely to overestimate the amount of control they have over their environment (“illusions of control”; Gollwitzer & Kinney, 1989) and how well they can perform on various tasks (Puca, 2001), whereas those in deliberative mindsets are more realistic (i.e. accurate)” (ebenda, 2). Das “deliberative mindset” ermöglicht demnach eine abwägende Denk- und Fühlhaltung und – wie Bayer und Gollwitzer an anderer Stelle berichten – auch eine distanziertere Einschätzung der eigenen Lage und Leistung (vgl. Bayer & Gollwitzer 2005). Die Anforderungen, die im LAA an das reflexive Mindset gestellt werden, können damit nach Gollwitzer in einer bestimmten Phase der Zielverfolgung, in der das deliberative mindset aktiv ist, erfüllt werden. Aus diesen empirischen Forschungsergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass es nicht nur sinnvoll ist, die Funktionen des LAA einzufordern, sondern diese auch – wie im Kapitel zum reflexiven Mindset gefordert – gezielt geübt werden können. Allerdings muss zu den Forschungsergebnissen von Gollwitzer aus der dynamischen und figurativen Sicht des LAA eine kritische Einschränkung formuliert werden. Das statische Phasenmodell von Gollwitzer berücksichtigt nicht, dass das reflexive Mindset in der Unternehmenspraxis fortwährend einer einflussreichen Figurationsdynamik ausgesetzt ist. Das heißt, das reflexive Mindset wird in reifen Unternehmen mit eingefahrenen Strukturen, Prozessen und Produkten und damit einhergehenden Denk-, Fühl- und Handlungsmustern konfrontiert, die sich perpetuieren wollen. Die Beharrlichkeit dieser etablierten Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die oben im Text unter den Kategorien „cultural lock-in“ oder „active inertia“ thematisiert wurde, erzeugen einen erheblichen Druck in den Führungsfigurationen auf die Führungskraft und erschweren es somit in Alternativen zu denken.150 150 Die systematische Verhinderung des Denkens in Alternativen in etablierten Unternehmen lässt sich auch gut über die 1972 von Irving Janis eingeführte Kategorie des „Gruppendenkens“ (Group think) erklären. Er benutzt diesen Begriff, um „eine Art des Denkens von Menschen zu beschreiben, die stark in eine Gruppe mit engem Zusammenhalt eingebunden sind und bei denen das Streben der Gruppenmitglieder nach Übereinstimmung so wichtig wird, dass es die realistische Einschätzung von Alternativen überlagert“ (Buchanan & O‘Connell 2006, 16).
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Welche Schlussfolgerungen können aus dieser selektiven Sichtung und kritischen Kommentierung der Mindsetforschung von Gollwitzer für das Verständnis des Zusammenwirkens des reflexiven und aktionsorientierten Mindsets und besonders für die Entschlüsselung der spezifischen Funktionen des aktionsorientierten Mindsets gezogen werden? 1. Der Rückgriff auf Gollwitzers empirisch fundierte Mindsettheorie verdeutlicht, dass in den unterschiedlichen Phasen der Zielverfolgung unterschiedliche Denk- und Fühlmuster abgerufen werden. 2. Die Leistungen des „deliberative mindsets“ (open-mindedness, cognitive tuning und Realitätsorientierung) (vgl. Bayer 1999, 8) und parallel des reflexiven Mindsets (Distanzierung, Antizipation, Adaption) können sich nicht enfalten, wenn durch die Mechanismen des „cultural lock-in“ oder der „active inertia“ immer zugleich etablierte Denk- und Handlungsweisen greifen, die das Abwägen von Handlungsalternativen verhindern. 3. Das „implemental mindset“ zeigt spezifische Leistungen (u.a. closed-mindedness, ins Positive verzerrende Informationsverarbeitung) (vgl. ebenda, 9), die für ein erfolgreiches Umsetzungsverhalten wichtig sind. Die Diskussion ausgewählter Aspekte der Mindsettheorie nach Gollwitzer unterstreicht die Sichtweisen von Mintzberg und dem hier vorgestellten LAA, dass auch in Führungsprozessen in der reflektierenden und aktionsorientierten Phase unterschiedliche, aber sich ergänzende Leistungen gefragt sind. Da für die spezifischen Leistungen in diesen Phasen des Führungsprozesses unterschiedliche Mindsets benötigt werden, ist es kritisch, wenn in den Denk- und Handlungsphasen die „falschen“ Mindsets eine prägende Rolle spielen. Soweit konnten die Forschungsergebnisse Gollwitzers bruchlos genutzt werden, um das Zusammenspiel zwischen reflexiven und aktionsorientierten Mindset zu klären. Zur Erläuterung der ersten Funktion des aktionsorientierten Mindset, nämlich der Unterstüzung eines effektiven Entscheidungsdenkens, - fühlens und –handelns, muss das Verständnis des LAA durch eine Unterscheidung zum Phasenmodell von Gollwitzer verdeutlicht werden. Hierzu sei nochmals darauf hingewiesen, dass nach Gollwitzers Mindsettheorie die Leistung des Abwägens im deliberative mindset und die des Planens im implemental mindset stattfinden. Ohne, dass diese empirisch unterlegte Differenzierung von Gollwitzer aufgehoben werden muss, ergibt sich aus der Führungsperspektive für das aktionsorientierte Mindset doch eine andere Schwerpunktsetzung: Zwar soll auch das reflexive Mindset auf der Grundlage der Distanzierung, Antizipation und Adaption mögliche Handlungsalternativen marktorientiert abwägen. Der für die Führung wichtigste Schritt, nämlich die eigentliche Entscheidung für eine bestimmte Handlungsalternative und die damit einhergehenden Festlegungen zur Ressourcenallokation, werden im LAA jedoch im Unterschied zu
3.1 Die Führungspersönlichkeit
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Gollwitzers Ansatz als wichtige Funktion des aktionsionsorientierten Mindsets gesehen. Auch wenn eine klare Trennung zwischen den Mindsets im LAA nicht gesehen wird, da diese in der Realität hochgradig interdependent agieren, ist diese Zuordnung der eigentlichen Entscheidung und der Kopplung von Entscheidung und Ressourceneinsatz (Umsetzung) essenziell für eine effektive Führung. Die Begründung dieser Sichtweise kann durch eine Beobachtung der Balanced Scorecard-Erfinder Kaplan und Norton verdeutlicht werden: „Thus, with failure rates reported in the 70 percent to 90 percent range, we can appreciate why sophisticated investors have come to realize that execution is more important than good vision (Kaplan & Norton 2001, 1). Der Leadership Asset Approach vertritt deshalb die Position, dass die eigentliche Entscheidung für eine bestimmte Handlungsalternative oder ein unternehmerisches Ziel nicht von der Ressourcenallokation getrennt werden kann. Ohne die gleichzeitige Entscheidung über den Ressourceneinsatz bleibt die Entscheidung im Reflexionsprozess stecken – sie ist im Sinne der unternehmerischen Zielverfolgung nicht effektiv. Eine Entscheidung ist damit immer auch eine Fokussierung der Ressourcen oder – negativ gewendet – eine Entscheidung gegen eine andere Handlungsalternative und Ressourcenverwendung. Die Entscheidungsfunktion des aktionsorientierten Mindsets sollte – ganz im Sinne der empirischen Untersuchungsergebnisse von Gollwitzer (vgl. Bayer & Gollwitzer 2005) – nicht mit der Klärung von Handlungsalternativen belegt werden. Diese reflektorische und innovative Zielfindung sollte im gesamten Entscheidungsprozess früher stattfinden und möglichst abgeschlossen sein, wenn durch die Entscheidung und die damit einhergehenden Ressourcenallokation ins Handeln übergeleitet wird. Ein wichtiger Grund für die heute häufig beklagten Umsetzungsdefizite liegt darin, dass die Entscheidung nicht klar als Umsetzungsvorbereitung mit Konsequenzen für die Ressourcenverteilung im Unternehmen gesehen wird, sondern als Beitrag in einem Abwägungsprozess. Um dieses Umsetzungsproblem zu vermeiden, ist es nützlich, einen umfassenderen Blick auf den Entscheidungs- oder Führungsprozess anzuwenden (vgl. Abb. 48): Der Blick auf den Geamtprozess zeigt, dass sich die Mindsets des LAA grob den Phasen des Entscheidungsprozesses zuordnen lassen. In Verbindung mit dem aktionsorientierten Mindset, das der Fokussierung und Umsetzung dient, kommt dem zielorientierten Mindset eine Rolle zu, die auf die zweite Funktion des aktionsorientierten Mindsets verweist. Die zweite notwendige Denkausrichtung des aktionsorientierten Mindsets bezieht sich auf den effektiven Umgang mit den Ressourcen. Besonders für Wissensunternehmen, die – wie in dieser Arbeit mehrfach dargelegt wurde – das Bild der wirtschaftlich leistungfähigeren Nationen am Anfang des 21.
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Jahrhunderts bestimmen, bedeutet dies, dass Führungkräfte die Umsetzung von Entscheidungen mit einer kommunikativen und qualifikatorischen Sicht in Verbindung bringen. Ohne diese aktionsorientierte Denkbrille, das wurde auch bei der Erläuterung des innovativen Mindsets herausgearbeitet, gelingt es in der Regel nicht, Menschen für die entschiedene Handlungsalternative zu gewinnen. Denn die Umsetzung von Handlungsalternativen bedeutet für die beteiligten Menschen eine teilweise oder vollständige Abkehr von etablierten Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern. Deshalb reicht es nicht, wenn die Führungskraft über die Leistungen des reflexiven und innovativen Mindsets eine wettbewerbsfähige Handlungsalternative erarbeitet. Die Handlungsalternative
Schritte im Entscheidungsprozess
Analyse, ob das geschäftliche 1. Problem grundsätzlicher oder spezieller Natur ist.
2.
Einschätzung der Rahmenbedingungen / des Entscheidungsspielraums (boundary conditions) und Spezifikation der Anforderungen
3.
Klärung von Handlungsalternativen und deren Risiken
4.
Entscheidung, Ressourcenallokation und Umsetzung
5.
Sicherung von Feedback zur Umsetzung der Entscheidung
Performancerelevante Mindsets
reflexives, analytisch-synoptisches
reflexives, analytisch-synoptisches, netzwerkorientiertes
reflexives, analytisch-synoptisches, zielorientiertes, innovationsorientiertes, weltgewandtes
zielorientiertes, aktionsorientiertes
reflexives, analytisch-synoptisches
Abb. 48: Schritte im Entscheidungsprozess und performancerelevante Mindsets (vgl. Drucker 1993e, 113-142)
3.1 Die Führungspersönlichkeit
Funktion, dient dazu ... Distanzierung etablierte Lösungen zu hinterfragen Antizipation, um durch hinreichende Langsicht Antworten auf Veränderungen zu geben Adaption, um den Anschluss an veränderte Rahmenbedingungen zu halten Analyse, um Wertschöpfungsprozesse zu verstehen und zu planen Synthese, um Aktivitäten zu einer Gesamtleistung zu verknüpfen Ausrichtung, um die Ressourcen für die Erreichung eines Marktziels zu koordinieren Orientierung, um Menschen zu verdeutlichen, wofür sie arbeiten Selbstkontrolle, um die Verpflichtung (Commitment) auf das Ziel und die Übernahme von Verantwortung zu sichern Veränderungsbereitschaft, um die Entwicklungen des Marktes in Chancen zu übersetzen Lernen, um sich auf die Veränderungen schnell genug einzustellen
weltgewandtes
Information, um eine fundierte Entscheidungsbasis zu schaffen
netzwerkorientiertes
Planen, um neue Ideen effizient zu entwickeln und effektiv umzusetzen
Nutzenkommunikation, um gemeinsame Zielverfolgung attraktiv zu machen
aktionsorientiertes
innovationsorientiertes
zielorientiertes
analytischsynoptisches
reflexives
Mindsets
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Entscheidung, um Ressourcen allokieren und die Organisation ausrichten zu können
Differenzierung, um kulturelle Unterschiede einschätzen und geschäftliche Stärken und Schwächen erkennen zu können Integration, um kulturelle Stärken nutzen zu können
Standards, um das Vertrauen in den Arbeitsprozess und die Zusammenarbeit zu sichern
Umsetzung, um durch Kommunikation, Qualifizierung und Ausrichtung eine Wirkung für den Markt zu generieren
Abb. 49: Die Funktionen der Mindsets im Überblick
muss durch eine zielorientierte Umsetzungarbeit in Denk-, Fühl- und Handlungsausrichtung der Mitarbeiter übersetzt werden. Hier liegt aber der Kern der zweiten Funktion des aktionsorientierten Mindsets und der korrespondierenden Rolle des zielorientierten Mindsets. Die Ressourcen des Unterneh-
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mens, in Wissensunternehmen besonders die Menschen, müssen für das mit der Handlungsalternative verbundene (Markt-) Ziel gewonnen werden. Das aktionsorientierte Mindset sollte folglich „Hand in Hand“ gehen mit dem zielorientierten Mindset, um eine gemeinsame Zielverfolgung zu sichern.
Mindset & Determinanten des strategischen Wettbewerbs Das aktionsorientierte Mindset muss bei dem Umgang mit den Determinanten des strategischen Wettbewerbs eine besondere Rolle übernehmen. Die erfolgreiche unternehmensspezifische Bewältigung der „zunehmenden Komplexität“, „zunehmenden Veränderungsgeschwindigkeit“, „zunehmenden Unübersichtlichkeit“, der „steigenden Informations- und Wissensdichte“ und der „Suche nach Vereinfachung“ setzt nicht nur voraus, dass Alternativen generiert und abgewogen werden, sondern dass letztlich konsequent gehandelt und dadurch für alle Beteiligten eine Zielorientierung in dieser neuen Unübersichtlichkeit erreicht wird. Nur durch eine hinreichende Umsetzungsorientierung als Teil des Entscheidungsprozesses lässt sich die Veränderungsgeschwindigkeit sichern sowie die Komplexität und damit die Unübersichtlichkeit zeitweise reduzieren. Diese Leistungen sind für die Unternehmen überlebenswichtig. Dass die zielorientierte Umsetzung nicht „kopflos“ erfolgt, wird durch die Funktionen der anderen Mindsets gesichert. Sie sorgen dafür, dass Handlungsalternativen entschieden in die Umsetzung gehen, die marktfähig sind und die Stärken des Unternehmens nutzen.
3.1.4 Von den performancerelevanten Mindsets zu den Führungsaktivitäten Durch die Diskussion der sieben performancerelevanten Mindsets wurde herausgearbeitet, welche Funktionen eine Führungspersönlichkeit in Unternehmen heute abdecken sollte, um leistungsfähig auf die sozio-ökonomischen Herausforderungen antworten zu können. In diesem Sinne können die beschriebenen Funktionen der performancerelevanten Mindsets als geschäftsnotwendige Anforderungen an eine Führungspersönlichkeit gelesen werden. Der konzeptionelle Schritt, die geschäftsrelevanten Anforderungen über performancerelevante Mindsets zu erschließen, dient somit dazu, sich von der Suche nach der idealen Führungspersönlichkeit distanzieren zu können, ohne die Relevanz der Führungspersönlichkeit ignorieren zu müssen. Die Suche nach der idealen Führungspersönlichkeit kann durch die Erfassung des Leistungsniveaus und die Entwicklung von performancerelevanten Mindsets ersetzt werden. Denn die oben vorgestellten Funktionen der performancerelevanten Mindsets können von ganz unterschiedlichen Führungspersönlichkeiten ähnlich gut abgedeckt werden. Ob eine Führungskraft zum Beispiel eher introvertiert oder extrovertiert, eher zögerlich oder spontan, eher intellektuell oder pragmatisch, eher nervös oder gelassen, mit einer hohen oder niedrigen Frustrationstoleranz aus-
3.1 Die Führungspersönlichkeit
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gestattet und / oder eher individualistisch oder gruppenorientiert ist, entscheidet nicht darüber, ob sie für ein Unternehmen die richtigen Dinge tut. Vielmehr muss jede Führungskraft in der ihr eigenen Art in der Lage sein, die beschriebenen Funktionen der performancerelevanten Mindsets abzudecken, um die Marktfähigkeit des Unternehmens zu erhalten. Warum es performancerelevant ist, bestimmte Mindsetfunktionen zur Beantwortung der Marktentwicklungen abzudecken, wurde ausführlich erläutert. Es spricht viel dafür, dass diese Funktionen der performancerelevaten Mindsets zeitgemäße Anforderungen an Führungskräfte darstellen. Im Sinne des Leadership Asset Approaches sind diese geforderten Leistungen der performancerelevanten Mindsets damit einerseits relevant, aber andererseits dennoch nicht hinreichend zur Erfassung und Entwicklung einer geschäftsnotwendigen Führungsperformance. Diese relative Bedeutung der Mindsets hat einen einfachen Grund: Führungsperformance bemisst sich letztlich daran, ob die richtigen Dinge effizient getan werden. Gerade an dieser konzeptionellen Schnittstelle, die den Übergang von der Führungspersönlichkeit zur Führungsperformance beschreibt, herrscht jedoch nicht die Klarheit, die hier durch die kurze Feststellung, woran sich Führungsperformance bemisst, suggeriert wird. In Forschung und Praxis wird die abhängige Variable Führungsperformance heute häufig anhand der Gehaltsentwicklung, der Vorgesetztenbeurteilung oder der Arbeitszufriedenheit gemessen (vgl. Neuberger 2002, 306). Dies steht im Widerspruch zu dem oben benannten Zugang zur Messung von Führungsperformance. Insofern wird hier bezweifelt, dass Führungsperformance mit diesen häufig genutzten abhängigen Variablen überhaupt gemessen werden kann: Für den Gehaltsanstieg gibt es viele Gründe (Unternehmenswechsel, Verweildauer, Verhandlungsführung, Sympathie etc.), die wenig oder nichts mit Führungsperformance zu tun haben. Auch die Vorgesetztenbeurteilung für sich genommen ist fragwürdig und muss mit den Einschätzungen anderer Stakeholder und mit den tatsächlichen Führungsleistungen abgeglichen werden. Die Arbeitszufriedenheit bei Mitarbeitern oder Führungskräften ist ein irreführender Maßstab, denn sie kann auf einem hohen Niveau sein, während die Performance zur gleichen Zeit gering sein kann. Warum wählt die etablierte Führungsforschung solche wenig plausiblen Maßstäbe für den Führungserfolg? Vielleicht weil ansonsten deutlich würde, dass die heute häufig gewählten Eigenschaften, zum Beispiel die „Big Five“-Persönlichkeitsfaktoren (extraversion, agreeableness, conscientiousness, emotional stability, openness), unabhängige Variablen (Variablen, die die Führungsperr formance bestimmen sollen) von zweifelhafter Bedeutung sind (vgl. Judge & Bono 2000). Die angeführten „big five“ als erklärende Variablen für tatsächlich beobachtbare Führungsperformance oder geschäftliche Performance, zum
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Beispiel den Erfolg bei der Erarbeitung von strategischem Alignment in einem Unternehmen, das effektive Management von Durchlaufzeiten oder ein erfolgreiches Anlagemanagement heranzuziehen, erscheint schon bei grober Kenntnis der Wirkungszusammenhänge sehr gewagt. Doch welche Variablen sind im Sinne der oben angeführten Definition von Führungsperformance aussagekräftiger? Die Antwort auf diese Frage wirkt auf den ersten Blick einfach: Die von einer Führungskraft geleisteten operativen und strategischen Führungsaktivitäten. In der Effektivität und Effizienz, mit der die Führungsaktivitäten dazu beitragen, die strategischen und operativen unternehmerischen Herausforderungen zu bewältigen, liegt der Maßstab für die Führungsperformance. In den von einer Führungskraft geleisteten strategischen und operativen Führungsaktivitäten liegt jedoch nicht nur der einzig relevante Maßstab für die Performance. Die geleisteten strategischen und operativen Führungsaktivitäten liefern auch die einzig relevanten Hinweise zu dem Entwicklungsstand der performancerelenvaten Mindsets. Damit ist auch die Frage nach der konzeptionellen Verbindung von Führungspersönlichkeit und Führungsperformance im Leadership Asset Approach beantwortet: Die performancerelevanten Mindsets einer Führungskraft sollen bestimmte Funktionen abdecken, um die Antwortfähigkeit auf die Herausforr derungen des Marktes zu sichern. Ob und inwieweit diese performancerelevanten Leistungen der Mindsets erbracht werden, zeigt sich in den beobachtbaren strategischen und operativen Führungsaktivitäten. Wenn hier die These vertreten wird, dass die Führungsaktivitäten auch als Indikatoren für das Leistungsniveau der perforancerelevanten Mindsets herangezogen werden müssen, dann bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Mindsets das WAS und WIE der Führungsaktivitäten beeinflussen (Strukturen, Habitusformen → Praktiken). So bestimmt das individuelle und kollektive Präferenzsystem, also die Mindsets, welche strategischen Führungaktivitäten, die für die Handlungsrichtung sowie die Allokation und Konfiguration der Ressourcen (Assets151) im Unternehmen sorgen, ausgewählt und in einer bestimmten Form umgesetzt werden: „In 1984, Hambrick and Mason presented a more formalized theory, the ‘upper echelons’ perspective, proposing that senior executives make strategic choices on the basis of their cognitions and values and that the organization becomes a reflection of its top managers. In the same year, Gupta and Govindarajan (1984) conducted a systematic study of division general managers, finding that their business units performed well to the extent that the manag151 Mit dem Aufkommen der Wissensunternehmen verschiebt sich das Gewicht von den materiellen zu den immateriellen Vermögenswerten. Vgl. zur Geschichte der „Intangible Assets“ und des Intellectual Capital (IC): Stewart 1997; Sullivan 2000, 13-16 u. 238245; Daum 2002.
3.1 Die Führungspersönlichkeit
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ers’ experiences and personalities aligned with the critical requirements posed by the chosen strategy of the business” (Finkelstein & Hambrick 1996, 6). Die Wechselwirkung zwischen Mindsets und strategischer Führung ist folglich eng. Dies verhält sich bei der operativen Führung, die sich schwerpunktmäßig in personalen oder interaktiven Führungsaktivitäten konkretisiert, nicht anders. In der Regel dienen die operativen Führungsaktivitäten dazu, im Zusammenwirken mit anderen Menschen die Zielvorstellungen des Unternehmens zu realisieren. In den meisten operativen Führungsaktivitäten kommt es damit zu einer interaktiven Übersetzung der Mindsets, das heißt die operative Führung ist zumeist direkt auf andere Menschen gerichtet. Diese direkte Übersetzung der Mindsets in einen großen Teil der operativen Führung ermöglicht es, die Performancebereiche der operativen Führung, die wiederum alle einzelnen operativen Führungsaktivitäten umfassen, aus den Mindsets abzuleiten. Die Mindsets, so lässt es sich bildlich fassen, stellen die „Projektionsapparatur“, die die „Handlungsfolien“, ob strategische oder operative, ausleuchten. Der LAA geht demnach davon ausgeht, dass die Leistungen der Mindsets im Hintergrund als prägende Kraft ständig aktiv sind und sich in den Leistungen der strategischen und operativen Führung niederschlagen. Um zu erfassen, wie die individuelle Projektionsapparatur funktioniert, ist ein spekulativer Zugang zu den performancerelevanten Mindsets, wie er durch die oben kritisierten Variablen erfolgt, unnötig – eine Erfassung der strategischen und operativen Führungsaktivitäten reicht aus. Dieser einfach klingende Zugang zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance gewinnt jedoch erneut an Komplexität, wenn auf den folgenden Seiten der Blick auf die Welt des strategischen und operativen Managements gelenkt wird. Das grundsätzliche Verständnis von strategischer und operativer Führung, aber auch wer diese wie, mit welchen Schwerpunkten und auf welchem Niveau zu leisten hat, geht in der Forschung und der Praxis heute noch weit auseinander. Wenn aber das Leistungsniveau der Führung nur über die konkreten strategischen und operativen Führungsaktivitäten erfasst werden kann, dann muss auch das zugrundeliegende Verständnis von strategischer und operativer Führung – gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Sichtweisen – offengelegt werden. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen deshalb auch diese Forschungsfelder beschritten und die Positionen des Leadership Asset Ansatzes formuliert werden. Dieser Notwendigkeit folgend wird zunächst das Verständnis von strategischer Führung im LAA aufbereitet. Dabei wird auf die Mindsets, deren konstanter Einfluss hier herausgestellt wurde, nicht durchgängig Bezug genommen. Dies erfolgt aus den angeführten Gründen bei der Aufbereitung der operativen Führung und in der Übersetzung des LAA in das LAS (Leadership Asset System).
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3.2
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Strategische Führung
Wie in der Überleitung von den performancerelevanten Mindsets zur strategischen und operativen Führung angedeutet, können die Sichtweisen des Leadership Asset Approach nur im Dialog mit den vorliegenden Forschungsbemühungen fundiert formuliert werden.152 Dieser Dialog ist schwierig, da das Forschungsfeld der strategischen Führung in Unternehmen noch jung ist und die Begriffe, Ansätze und wissenschaftlichen und praktischen Einflussbereiche entsprechend umstritten sind.153 Die Turbulenzen auf diesem jungen Forschungsfeld werden jedoch verarbeitet, indem die Strömungen in Form wichtiger Begriffe, Argumente und Positionen herausgearbeitet und schließlich für die Formulierung des Leadership Asset Approach‘ genutzt werden.
3.2.1 Begriffe und Ansätze Der Begriff der strategischen Führung (wie verwandte und alternative Begriffe: Strategisches Management, Unternehmensführung, Unternehmenspolitik, General Management, Strategic Leadership) ist mit unterschiedlichen, sich zum Teil auch widersprechenden Bedeutungsinhalten belegt (vgl. Quinn 1996, 3; Hoskission 1999, 417; Hugenberg 2001, 3). Eine ähnliche Einschätzung kann zur Theoriebildung auf dem Feld des strategischen Managements, von der die jeweiligen Begriffsverständnisse in der Regel abhängig sind, formuliert werden. Bea und Haas fassen den Entwicklungsstand treffend zusammen: „Betrachtet man den gegenwärtigen wissenschaftlichen Status des Strategischen Managements, so bietet sich ein verwirrendes Bild von unterschiedlichen Ansätzen und Paradigmen“ (Bea / Haas 2001, 23). Bei diesem Entwicklungsstand ist der Versuch, über eine breite Diskussion von Definitionen und Theorien ein klares Verständnis von strategischer Führung zu erarbeiten, wenig erfolgversprechend. Die Heterogenität der Begriffsverständnisse und Theorien würde eher zu der wenig fruchtbaren, aber verständlichen Reaktion führen, auf den Begriff der strategischen Führung ganz verzichten zu wollen.154 Folglich wird das Begriffspaar strategische Führung zur Verwen152 Vgl. hierzu Thomas S. Kuhns Kriterien zur Erarbeitung einer wissenschaftlichen Theorie: Kuhn 1978, 422-444. 153 Eine lange und etablierte Tradition kann die strategische Führung im militärischen Bereich vorweisen (vgl. Hart 1991). In der Geschäftswelt scheiterte Peter Drucker noch in den 1960er Jahren mit dem Versuch, das unter dem Titel „Managing for Results“ erschienene Buch mit dem Titel „Business Strategy“ zu veröffentlichen. Ihm wurde entgegnet: „ ‘Strategy’, we were told again and again, ‘belongs to military or perhaps to political campaingns but not to business’ “ (Drucker 1993, vii). 154 Vor dem Hintergrund der Begriffsvielfalt diskutiert Neuberger diese Option für den Führungsbegriff generell (vgl. Neuberger 1995a, 7).
3.2 Strategische Führung
195
dung im Leadership Asset Approach auf einem anderen Weg hinreichend geklärt. Diese Begriffsklärung erfolgt in zwei Schritten: Da die unterschiedlichen Verständnisse von strategischer Führung und verr wandten Begriffen f sich immer im Kontext von wissenschaftlichen Erklärungsansätzen und Alltagstheorien bewegen, sollen im ersten Schrittt zwei Systematisierungsversuche reflektiert werden: erstens Mintzbergs Strategieschulen und zweitens die Aufteilung in drei etablierte Grundausrichtungen des strategischen Managements. Hierdurch wird anhand zweier etablierter Orientierungsraster die unübersichtliche Landschaft des der theoretischen und praktischen Sichtweisen zum strategischen Management geordnet. Um eine weitere Synopse der diversen Perspektiven zu erreichen, werden die Ansätze und Begriffsverständnisse zur strategischen Führung über einen neuen Zugang, nämlich die Herausarbeitung von drei Paradigmagemeinschaften der Wissenschaft und Praxis, erschlossen.155 Durch die Diskussion der drei Paradigmagemeinschaften, denen sich die Strategieschulen und etablierten Grundausrichtungen bruchlos zuordnen lassen, kann deutlicher aufgezeigt werden, welche forschungs- und praxisleitenden Grundannahmen jeweils charakteristisch sind. Zweitens wird der dem Leadership Asset Approach (LAA) zugrunde liegende Begriff der strategischen Führung – auch im Dialog mit den skizzierten Strategieschulen, Grundausrichtungen und Paradigmagemeinschaften – genau bestimmt. Dies geschieht im zweiten Teil dieses Kapitels in Form einer Erläuterung der wichtigsten Bestandteile der Definition der strategischen Führung. Im Rahmen dieser Erläuterungen werden auch die wichtigsten Funktionen der strategischen Führung auf einem hohen Integrationsniveau formuliert. Damit wird – im Sinne des empirisch-theoretischen Bezugsrahmens – die Voraussetzung geschaffen, um die insgesamt notwendigen strategischen Führungsleistungen in Unternehmen bestimmen zu können.156
3.2.1.1 Strategieschulen nach Mintzberg als heuristisches Raster Die einleitend zu diesem Kapitel angeführte Feststellung von Bea und Haas, 155 Der Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn, der den Paradigmabegriff Anfang der 1960er Jahre in die wissenschaftliche Begriffswelt einführte, nutzt den Begriff in zwei Varianten. Die weiter gefasste Variante des Paradigmabegriffs, nämlich „...die ganze Konstellation von Meinungen, Werten, Methoden usw., die von den Mitgliedern einer gegebenen Gemeinschaft geteilt werden“ (Kuhn 1976, 186), wird hier zugrunde gelegt. 156 Zur Erfassung und Steuerung der strategischen Führungsperformance ist die Erläuterung der wichtigsten Funktionen der strategischen Führung nicht hinreichend. Hierzu bedarf es einer differenzierten Formulierung generischer und spezifischer strategischer Führungsaktivitäten zur Sicherung des Unternehmenserfolgs. Dies wurde zwar zur Entwicklung des Leadership Asset Systems, das im 4. Kapitel zusammenfassend dargestellt wird, geleistet, kann aber im Rahmen dieser Arbeit nicht entfaltet werden.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
dass die Forschung zum strategischen Strategieentwicklung Schule Management geals... genwärtig ein verwirrendes Bild von konzeptioneller Prozess Designschule unterschiedlichen Ansätzen und Paradigmen bietet, verwunformaler Prozess Planungsschule dert nicht, wenn wir davon ausgehen, dass Wunderers Diagnose Positionierungsanalytischer Prozess schule zum Entwicklungsstand der Führungsforschung insgesamt Unternehmervisionärer Prozess schule zutrifft. Demnach existiert bis heute „eine Führungstheorie mentaler Prozess kognitive Schule im anspruchsvollen wissenschaftstheoretischen Sinne weder im sich herausbildender Lernschule Prozess Bereich der Betriebswirtschaftslehre noch im Rahmen anderer Verhandlungsprozess Machtschule Wissenschaftszweige“ (Wunderer 1997, 31f.; vgl. auch Neuberger kollektiver Prozess Kulturschule 2002, 6). Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen Henry reaktiver Prozess Umweltschule Mintzbergs seit den späten 1980er Jahren, die theoretische und KonfigurationsTransformationsprozess schule damit auch begriffliche Unübersichtlichkeit auf dem Felde der strategischen MaAbb. 50: Die Charakterisierungen der Strategieschulen nagementforschung (Mintzberg 1999, 17) zu klären, besonders hilfreich.1577 Hierzu hat Mintzberg seit 1990 seine Systematik der Strategieschulen weiterentwickelt und differenziert erläutert (vgl. Mintzberg 1990, 1994, 1999 157 „Die dazugehörige Literatur hat enorme Ausmaße angenommen, und seit 1980 explodiert ihr Umfang geradezu“ (Mintzberg 1999, 33).
3.2 Strategische Führung
197
a / b). Dass Mintzbergs Systematisierungsversuch durchaus Ansatzpunkte für Kritik bietet (vgl. grundlegend Müller-Stewens / Lechner 2001, 54-57) oder der Untersuchungsgegenstand anders systematisiert werden kann (vgl. z. B. Knyphausen-Aufseß 2000, 40) liegt nahe, wenn wir Wunderers Zusammenfassung zum Stand der Führungsforschung insgesamt berücksichtigen. Gleichwohl bietet Mintzbergs Systematik der Strategieschulen m. E. ein fundiertes Orientierungsraster, das zum hier gewählten Weg der Sichtung von Ansätzen und Begriffen der strategischen Führung beitragen kann. Besonders herauszuheben sind Mintzbergs Bemühungen, durch die kritische Analyse der Strategieschulen gegen eine zu einseitige Belegung des strategischen Managementbegriffs zu immunisieren: „Wie wir bereits in unserer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Schulen in manchmal harscher Form zu verdeutlichen versucht haben, stellten sich die größten Fehlschläge des strategischen Managements dann ein, wenn die Manager einen bestimmten Standpunkt zu ernst nahmen. Da war zunächst die Besessenheit von der Planung. Dann galt es, unbedingt ausgehend von einer sorgfältigen Planung, eine generische Position einzunehmen. Nun sind alle verr rückt nach der lernenden Organisation, die irgendwie mit unablässiger Veränderung in Einklang gebracht werden soll. ‘Lernt alle’, scheinen die Gelehrten zu sagen, ‘aber tut es verflucht noch mal schnell und abrupt.’ Kein Wunder, daß so große Verwirrung herrscht“ (Mintzberg 1999, 412f.). Statt zu schnell dem Röhrenblick einer Strategieschule zu verfallen, verweist Mintzberg auf die unterschiedlichen, aber nicht überschneidungsfreien Perspektiven der Strategieschulen: Als weitere Orientierungshilfe zur Systematisierung der Strategieschulen und des Strategiebegriffs bietet Mintzberg die Clusterung in präskriptive und deskriptive Schulen an: „Unsere zehn Schulen lassen sich drei Gruppen zuordnen. Die ersten drei sind ihrer Natur nach präskriptiv. Sie schreiben mehr oder weniger vor, wie Strategie formuliert werden sollten, erklären nicht, wie sie sich tatsächlich bilden. (...) Die nächsten sechs Denkschulen konzentrieren sich jeweils auf spezifische Teilbereiche des Strategieentwicklungsprozesses. Sie diskutieren nicht, worin das ‘ideale’ strategische Verhalten bestehen sollte, sondern sie beschreiben, wie Strategien tatsächlich zustande kommen. (...) Unsere letzte Gruppe besteht nur aus einer Schule, obwohl man argumentieren könnte, dass sie in Wirklichkeit alle anderen in sich vereint“ (Mintzberg 1999,17-19). Mit der Unterscheidung in deskriptive und präskriptive Schulen eröffnet Mintzberg zugleich einen Zugang zu grundlegend unterschiedlichen Verständnissen vom Begriff der strategischen Führung oder des strategischen Managements. Denn die Frage, ob der methodische Zugang zum strategischen Management
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
eher beschreibend (deskriptiv) oder methodisch-vorschreibend (präskriptiv) sein muss, spaltet bis heute die Fronten – zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion. Während die deskriptiven Schulen vielfach die Macht emergenter oder ungeplanter Prozesse und interdependenter Faktoren beschreiben, die häufig zu nicht-intendierten Strategien führen, formulieren die Anhänger präskriptiver Ansätze abgrenzend: „... das Emergenzprinzip, welches mehrere Modelle betonen, ist – wie Schreyögg (1999, S. 399f.) treffenderweise bemerkt - ‘kein Handlungsprinzip und daher für Strategiezwecke unbrauchbar ... Ohne Orientierungsprinzip verliert die Idee der strategischen Steuerung jeden Sinn.’“ (Müller-Stewens / Lechner 2001, 57). Mit dieser deutlichen Reaktion der Vertreter des präskriptiven Ansatzes auf das Emergenzprinzip zeigen sich die scharfen Kanten eines etablierten Paradigmas im Sinne von Th. S. Kuhn: „Jede Gruppe verwendet ihr eigenes Paradigma zur Verteidigung eben dieses Paradigmas“ (Kuhn 1976, 106). Die Abgrenzungsreaktionen der etablierten Schulen – hier der präskriptiven Strategieschulen158 – werden besonders deutlich, wenn diese Ansätze mit sich anhäufenden Problemen zu kämpfen haben [hier besonders: geringe Erfolgsquote bei der Strategieimplementierung (vgl. Kaplan / Norton 2001, 1)] und durch andere Erklärungsansätze, seit den 1990er Jahren besonders durch die Lernschule, langsam an Einfluss verlieren (vgl. Kuhn 1976, 104-146). Auch wenn die Unterteilung der Strategieansätze in deskriptive und präskriptive Schulen ein wesentliches Differenzierungsmerkmal aktueller Strategieschulen und -begriffe darstellt, wird damit von wichtigen Grundannahmen, die mit den unterschiedlichen Strategiebegriffen einhergehen, stark abstrahiert. Die weiter unten beschriebene Zuordnung der strategischen Führungsbegriffe zu drei Paradigmagemeinschaften versucht dennoch nicht, Mintzbergs Clusterung anhand der Kategorien deskriptiv / präskriptiv zu widerlegen, sondern die Paradigma- und damit Begriffsgemeinschaften weniger formal, sondern praxeologisch zu erfassen. Bevor dies geschehen kann, soll der zweite etablierte Systematisierungsversuch strategischer Ansätze und der damit einhergehenden strategischen Führungsbegriffe skizziert werden.
3.2.1.2 Der strategische Führungsbegriff in den etablierten Grundausrichtungen des strategischen Managements Neben die Unterscheidung in präskriptive und deskriptive Managementschu158 Die präskriptiven Schulen dominieren bis heute die Literatur und Praxis deutlich (vgl. Mintzberg 1999, 34).
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3.2 Strategische Führung
len, die für ein hinreichendes Verständnis der strategischen Führungsschulen und -begriffe relevant ist, tritt die in der aktuellen Literatur zum strategischen Management verbreitete Differenzierung in drei Grundausrichtungen: den marktorientierten Ansatz (Market-based View), den ressourcenorientierten Ansatz (Resource-based View) und den Wertsteigerungsansatz (Value-based View). Diese drei in Theorie und Praxis etablierten Grundausrichtungen der strategischen Führung / des strategischen Managements können zum Teil als variierte Clusterungen der Mintzbergschen Strategieschulen interpretiert werden, da sie weitgehend die in den Schulen üblichen Sichtweisen und Methoden widerspiegeln (vgl. Abb. 51). Darüber hinaus thematisiert diese Trilogie der Grundausrichtungen jedoch noch eine andere Perspektive als die Clusterung der Strategieschulen anhand der Unterscheidung deskriptiv und präskripResource-based s View
Market-based View w Hamel / Prahalad
Porter
Rappaport Copeland Value-based View Abb. 51: Die Grundrichtungen strategischer Führung (Hahn 1997, 4)
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
tiv. Während sich die Dichotomie deskriptiv versus präskriptiv im Fahrwasser wissenschaftstheoretischer Grundsatzfragen bewegt, reflektieren die drei Grundausrichtungen eher die theoretische und praktische Perspektivenfrage, ob sich strategische Führung erfolgreicher aus einer Inside-out-Perspektive (Resource-based View) oder einer Outside-in-Perspektive (Market-based View und Value-based View) betreiben lässt. Während die Diskussion über die Fundiertheit und den Nutzen der deskriptiven und präskriptiven Ansätze in der wissenschaftlichen Arena des strategischen Managements ausgetragen wird, spalten sich über die Zuordnung zu den drei angeführten Grundausrichtungen des strategischen Managements auch die mit Strategiefragen beschäftigten Gruppierungen in den Unternehmen. Abhängig von der Unternehmenskultur, den funktionalen Zuständigkeiten und den individuellen Mindsets der Führungskräfte gibt es klare Präferenzen für die Outside-in-Perspektive oder die Inside-out-Perspektive. In den Unternehmen ist es ein gerne explizit formulierter Teil der beruflichen Identität, dass man die Perspektive des Kunden (üblich bei Vertriebsführungskräften) oder die Relevanz der internen Ressourcen (üblich bei HR-Führungskräften oder Betriebsorganisatoren) betont. Warum die unterschiedlichen Unternehmensfunktionen zu bestimmten Grundausrichtungen neigen, wird verständlicher, wenn man sich die Kerngedanken der Ansätze vergegenwärtigt. Deshalb sollen vor der Auflistung der strategischen Führungsbegriffe der drei Grundausrichtungen zunächst die Kerngedanken zusammengefasst werden. Hierzu ist es sinnvoll, auf Ideen und Ausführungen der Mitbegründer dieser Ansätze zurückzugreifen. Porter fasst die zentrale Grundannahmen des Market-based view zusammen, wenn er schreibt: “At the broadest level, firm success is a function of two areas: the attractiveness of the industry in which the firm competes and its relative position in that industry” (Porter 1991, 99f.). In den Ausführungen von Barney sind die Grundannahmen des Resourcebased View auf den Punkt gebracht: „... sustained competitive advantage derives from the resource and capabilities a firm controls that are valuable, rare, imperfectly imitable, and not substitutable. These resources and capabilities can be viewed as bundles of tangible and intangible assets, including a firm’s management skills, its organisational processes and routines, and the information and knowledge it controls“ (Barney 2001, 1). Schließlich formuliert Rappaport die Grundannahmen des Value-based View, wenn er schreibt: „Kurzum: Der Prozeß der Strategieformulierung identifiziert Strategien, die vielleicht Wert schaffen, während der Shareholder Value den Standard repräsentiert, auf Grund dessen die optimalen Strategien zu wählen sind“ (Rappaport 1999, 87). Diese Grundannahmen zur strategischen Führung, die die drei angeführten Strö-
3.2 Strategische Führung
201
mungen in der Theorie und Praxis des strategischen Managements charakterisieren, finden auch direkten Niederschlag in den jeweiligen Begriffen der strategischen Führung, die sich wie folgt zusammenfassen lassen (vgl. Abb. 52): Durch die oben angeführte Aufgliederung in präskriptive und deskriptive Strategieschulen und die hier beschriebenen Grundausrichtungen strategischer Führung wird – wenn auch idealtypisch – zusammengefasst, welche Denkansätze bei der strategischen Führungsarbeit in der Wissenschaft und Praxis zurzeit präferiert werden. Die Systematisierungsversuche durchdringen grob, welche Verständnisse des strategischen Führungsbegriffs mit diesen Schulen und Ausrichtungen einhergehen. Dem Anliegen zu verstehen, welche Grundannahmen hinter den strategischen Führungsbegriffen stehen, werden diese Systematisierungen jedoch nur teilweise gerecht. Wie in den folgenden Ausführungen aufgezeigt wird, lassen sich die Strategieschulen und etablierten Grundausrichtungen über die Abfrage der Grundannahmen hinter den strategischen Führungsbegriffen klar bestimmten Paradigmagemeinschaften zuordnen. Strategische Begriff strategischer Grundrichtung Führung Die Begründung, warum die Zuordnung der strategischen 1. Market-based View Das General Management Führungsbegriffe zu bestimmmuss aus der Perspektive des Absatzmarktes (Outsideten Interpretations- und Verin-Perspektive) die Wettbewerbskräfte analysieren und wendungsgemeinschaften von eine geeignete GrundstraBedeutung ist, rekurriert auf tegie (Kostenführerschaft, Differenzierung, Nischenproden grundsätzlichen Zweck der dukte) planen. hier geführten Theorie- und 2. Resource-based View Begriffsdiskussion. Die Auseinmuss die Qualität der interandersetzung mit den strateginen Ressourcen (Inside-outschen Führungsbegriffen und Perspektive) aufbauen und weiterentwickeln, um dauerGrundannahmen der Strategiehaften Erfolg des Unternehmens zu gewährleisten. schulen dient als Vorlauf zur Formulierung der Leadership Asset 3. Value-based View Approach. Ohne die intensivere „Beginnen wir mit dem CEO und anderen FührungskräfAufbereitung der Grundannahten auf Unternehmensebene. Ihre primäre Verantwortung men und Interpretationsraster besteht in der Maximierung der Paradigmagemeinschaften der gesamten Eigentümerrendite aus Dividenden plus wäre es wahrscheinlich, dass Kurswertsteigerungen der Unternehmensaktien“ * das hier vorgelegte System die gewachsene „hidden agenda“ eines bestimmten BegriffsverAbb. 52: Die strategischen Grundausrichtungen ständnisses unreflektiert überund Begriffe der strategischen Führung nimmt. Um dies zu vermeiden, * Rappaport 1999, 134 müssen die wesentlichen Annah-
202
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
men der kurz vorgestellten Strategieschulen und Grundausrichtungen über das, was strategische Führung ausmacht, herausgearbeitet werden. Der distanzierte Blick auf die gegenwärtig verbreiteten Grundannahmen zur strategischen Führung ermöglicht es, nach der Herausarbeitung der performancerelevanten Mindsets in der Auseinandersetzung mit dem Eigenschaftsparadigma, das Verständnis von strategischer Führung im LAA in ähnlicher Form zu erarbeiten.
3.2.1.3 Der strategische Führungsbegriff in drei Paradigmagemeinschaften „BASIC ASSUMPTIONS ABOUT REALITY are the PARADIGMS of social science, such as management. They are usually held subconsciously by the scholars, the writers, the teachers, the practitionersin the field. Yet those assumptions largely determine what the discipline – scholars, writers teachers, practitioners – assumes to be REALITY.” (P. Drucker 2001a, 3) Um im Sinne von Th. S. Kuhn die Meinungen, Werte und Methoden, die mit den strategischen Führungsbegriffen verknüpft sind, reflektieren zu können, wird neben den oben vorgestellten Systematisierungen der strategischen Führungsschulen und Grundausrichtungen eine Unterscheidung in drei Paradigmagemeinschaften der Wissenschaft und Praxis vorgestellt. Damit wird die These vertreten, dass sich die Vielfalt der Schulen und Richtungen, die von Wissenschaftlern und Praktikern vertreten wird, zu drei Paradigmagemeinschaften verdichten lässt. Diese drei Paradigmagemeinschaften tendieren zu unterschiedlichen Strategiebegriffen, nämlich: zu einem planungstechnischen und / oder strukturellen Begriff des strategischen Managements, General Managements, der Unternehmensführung oder der strategischen Führung, zu einem personifizierenden / individualisierenden, visionären, charismatischen und / oder motivationalen Begriff der strategischen Führung oder des Strategic Leadership oder zu einem sozio-ökonomischen, deterministischen, lern-, kultur- oder umweltorientierten Begriff der strategischen Führung oder des strategischen Managements. Welche Bezüge die Paradigmagemeinschaften der strategischen Führung zu Mintzbergs Strategieschulen, der Dichotomisierung in deskriptiv / präskriptiv und zu den etablierten Grundausrichtungen des strategischen Managements
3.2 Strategische Führung
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aufweist, zeigt im Überblick die Abbildung 53. Nicht alle in der Matrix erfassten Bezüge sind jedoch von gleicher wissenschaftlicher und praktischer Relevanz für die begrifflich-theoretische Fundierung des Leadership Asset Approach‘. Folglich werden in der weiteren Diskussion des strategischen Führungsbegriffs nicht systematisch die Bezüge der Strategieschulen und Grundausrichtungen des strategischen Managements zu den Paradigmagemeinschaften aufbereitet, sondern die Zusammenhänge thematisiert, die zur Reflexion grundlegender Fragen der strategischen Führung beitragen können. Als erste der drei Paradigmagemeinschaften, die hier zur vertiefenden Diskussion des strategischen Führungsbegriffs skizziert werden sollen, wird – der Geschichte des strategischen Managements folgend – das planungsorientierte Paradigma thematisiert. Daran anschießend wird die personifizierende Paradigmagemeinschaft der strategischen Führung diskutiert. Die Tatsache, dass sich diese letztgenannte Gemeinschaft von Meinungen, Werten und Methoden bis heute großer Beliebtheit erfreut, verweist nochmals auf die Aktualität des oben im Text diskutierten Eigenschaftsparadigmas. Als „klassischer Gegenpol“ zur personifizierenden Interpretations- und Verwendungsgemeinschaft wird die sozio-ökonomische Paradigmagemeinschaft beschrieben. Obgleich die Sichtweisen dieser Interpretationsgemeinschaft in dieser Arbeit bisher weniger ausführlich behandelt wurden als der personifizierende Zugang, kann diese Paradigmagemeinschaft auf eine ähnlich lange und mächtige Tradition in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zurückblicken (vgl. Elias 1987).
3.2.1.3.1 Die planungsorientierte Paradigmagemeinschaft159 Die Wissenschaftler- und Praktikergruppe, die hier als planungsorientierte Interpretations- und Verwendungsgemeinschaft beschrieben wird, neigt dazu, die Begriffe strategische Führung und strategisches Management gleich zu setzen oder mit starken Überschneidungen zu verwenden. Der Leitgedanke, der zur weitgehenden Gleichsetzung der Begriffe führt, wird meines Erachtens ungewollt deutlich in einem Grundlagenartikel zur strategischen Führung von Kreikebaum. Zwar bemüht sich der Autor explizit um eine begriffliche Abgrenzung, formuliert aber dennoch eine Gleichsetzung der inhaltlichen Schwerpunkte: „Die strategische Planung bildet den Kernpunkt der SF“ (strategischen Führung, Anm. des Autors). [...] „Kernstück eines strategischen Managements ist mit anderen Worten die strategische Planung.“ (Kreikebaum 1995, 2006). 159 Eine umfassende entwicklungsgeschichtliche Analyse und Kritik des planungsorientierten Paradigmas bietet Mintzberg in „The Rise and Fall of Strategic Planning“ (Mintzberg 1994).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Differenzierung der Strategieschulen nach Henry Mintzberg
Bezeichnung
präskriptiv
deskriptiv
Etablierte Grundausrichtungen des strategischen Managements in Theorie und Praxis Marketbased View
Resource -based View
Valuebased View*
Paradigmagemeinschaften des strategischen Managements in Theorie und Praxis planungsorientiert
personifizierend
sozioökonomisch
Designschule Planungsschule Positionierungsschule Unternehmerschule Kognitive Schule Lernschule Machtschule Kulturschule Umweltschule Konfiguratiosschule Strategieschule lässt sich charakterisieren als ... Strategieschule lässt sich teilweise charakterisieren als ...
Abb. 53: Strategieschulen nach Mintzberg, etablierte Grundausrichtungen und Paradigmagemeinschaften des strategischen Managements * Der Value-based View kann in die Strategienmodelle der gekennzeichneten Schulen integriert werden und wird z. T. auch seit den 1990er Jahren verstärkt berücksichtigt.
Der Schlüssel zur Gleichsetzung des strategischen Managements und der strategischen Führung ist hier die strategische Planung. Noch akzentuierter erfolgt die Gleichsetzung von strategischem Management und strategischer Führung, wenn Hugenberg in seinem Lehrbuch zum Strategischen Management in Unternehmen bei der Beschreibung der Objekte und Prozesse des strategischen Managements als Hauptquelle eine Arbeit von Hahn über die Konzepte strategischer Führung nennt (vgl. Hugenberg 2001, 6). In der Arbeit von Hahn finden sich dann tatsächlich unter der Überschrift „Konzepte strategischer Führung“ Beschreibungen zu den wichtigsten Entwicklungstendenzen des strategischen Managements in Theorie und Praxis (vgl. Hahn 1998, 563-579). Beide Autoren subsumieren strategische Führung und strategisches Management unter „Entscheidungen über Strategien, Strukturen und Systeme“ (Hugenberg 2001, 16 und Hahn 1998, 564). Die von den Autoren selbst thematisierte Notwendigkeit, das strategische Führungsverhalten zu berücksichtigen, verblasst in den ausgearbeiteten Modellen letztlich zu einem wenig ausdifferenzierten Bezugsrahmen (vgl. das Modell von Hahn in: Hahn / Simanek 2000, 32) oder zu einem nur beiläufig beschriebenen
3.2 Strategische Führung
205
Ergänzungsaufwand (vgl. das Modell der „Three Planning Level“ von Hax und Majluf in Hahn / Simanek 2000, 23).160 Insgesamt zeigt sich hier die Tendenz einer Wissenschaftlergruppe, die Begriffe des strategischen Managements und der strategischen Führung vorrangig planungstechnisch und strukturell zu verwenden.161 Warum diese und andere Autoren in ihren Arbeiten strategische Führung und strategisches Management stark planerisch-strukturell bearbeiten, die Handlungs- bzw. Implementierungsproblematik aber ein Schattendasein fristet, ist auch hier nur entwicklungsgeschichtlich zu erklären.162 Im Rahmen der angestrebten Analyse der wesentlichen Grundannahmen ist deshalb ein kurzer Blick auf einen speziellen Aspekt der Wissenschaftsgeschichte des strategischen Managements, nämlich den „Pendelschlag“ von den anfänglichen Ausrichtungen zu einem anderen Schwerpunkt in der Forschung und Lehre, sinnvoll: Beschäftigten sich die Wegbereiter des strategischen Managements (C.I. Barnard; P. Selznick, E.T. Penrose, H.A. Simon) in den 1930er bis 1950er Jahren noch intensiv mit der Beeinflussung interner Prozesse und der Rolle des Managements hierbei, verschoben sich durch die bahnbrechenden Arbeiten der drei Mitbegründer des strategischen Managements (u. a. A.D. Chandler, H.I. Ansoff, K. Andrews) langsam die Schwerpunkte und Perspektiven in der wissenschaftlichen Arbeit (vgl. Moore 1992; Hoskission 1999). Mit dem Aufkommen der Planungs- und Designschule in den 1960er und 1970er Jahren, die durch die gerade erwähnten Mitbegründer des strategischen Managements geprägt wurden, und der Positionierungsschule in den 1980er Jahren, die wesentlich von M. Porter (vgl. Porter 1996a und 1996b) formuliert wurde, wuchs – wahrscheinlich auf der Grundlage eines bis zum Scientific Management zurückreichenden Entwicklungsstrangs (vgl. Staehle 1999, 22; Hugenberg 2000, 51) – ein technokratischer Planungsfokus. Der Kern der planungstechnischen Vorstellungen, wie die Organisationswelt geschaffen oder beeinflusst werden kann, findet sich in allen drei angeführten Managementschulen (vgl. Mintzberg 1999, 100). Henry Mintzberg, selbst ein früher Protagonist auf der akademischen Bühne des strategischen Managements, fasst den Kern des zwischen den 1960er und 1980er Jahren entstandenen Planungsprimats in einer Beurteilung 160 Das klassische Übergewicht der Planung wirkt bei Hahn widersprüchlich, weil er selbst in einer historischen Skizze der strategischen Managementforschung den strategischen Planungsfokus als Phänomen der 1970er Jahre beschreibt. 161 Für den angelsächsischen Raum schreibt zum Beispiel Fred R. David in der achten Ausgabe seines Lehrbuchs zum Strategischen Management unter der Überschrift „Defining Strategic Management“: „The term strategic management in this text is used synonymously with the term strategic planning“ (David 2001, 5). 162 Dass die Handlungs- bzw. Implementierungsfragen bis Ende der 1990 Jahre in der Disziplin des strategischen Managements generell wenig Beachtung fanden, betont auch AlLaham in einer Studie zur Implementierung von Strategien in deutschen Unternehmen (Al-Laham 2000, 262f.).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
der Designschule zusammen: „Unsere Bemerkung kreist um ein zentrales Thema: um das Gewicht, das diese Schule auf das vom Handeln unabhängige Denken legt, indem sie die Strategieentwicklung vor allem als Prozess der Konzeption, nicht als Prozess des Lernens betrachtet“ (Mintzberg 1999, 48). Diese in den einflussreichsten Managementschulen zwischen den 1960er und 1990er Jahren angelegte Trennung zwischen Strategieformulierung und Strategieimplementierung, Konzept und Lernen, Planung und Handlung hat bis heute starken Einfluss auf das Begriffsverständnis von strategischer Führung und strategischem Management in Theorie und Praxis.163 Das heißt auch, dass viele heute etablierte Führungskräfte und Berater geprägt sind durch eine Sichtweise, die strategisches Management als eine Form von professionalisierter technokratischer Planung, weniger aber als Umsetzungsarbeit versteht. Der Verbreitungsgrad dieses akademisch geleiteten (Begriffs-) Verständnisses und die damit im Zusammenhang stehende Schwerpunktbildung im strategischen Management kann nicht zuletzt daran abgelesen werden, dass die Planungsund Controllingapparatur den strategischen Managementprozess heute zwar mit ausdifferenzierten und etablierten Tools und Techniken begleiten kann, die Professionalisierung der Umsetzungsarbeit aber nachhinkt. Den deutlichsten Beleg für die Fokussierung der Forschung, Beratung und des Managements auf das Planungsdenken in Verbindung mit der strategischen Führungsarbeit liefert eine umfangreiche Studie zur Akzeptanz, Anwendung und zum Nutzen von Management-Tools (vgl. Bain & Company 2001). In dieser Studie, die über acht Jahre in 20 Ländern (Nordamerika, Europa, Asien, Afrika und Südamerika) durchgeführt wurde, zeigt sich bis 2001 bei den am häufigsten genutzten Tools eine klare Präferenz für Planungs- und Marktanalyseinstrumente (vgl. Abb. 54). Diese Rekonstruktion des Pendelschlags in der Geschichte des strategischen Managements von den handlungsorientierten Anfängen zu den planungstechnischen Modellen erklärt die heute noch verbreitete Vorliebe für die Planungsorientierung im strategischen Management. Offenkundig hat dieser Pendelschlag im strategischen Management das Denken vieler Führungskräfte so stark geprägt, dass am Anfang des 21. Jahrhunderts weiterhin die Generalkritik, die Henry Mintzberg 1994 in „The Rise and Fall of Strategic Planning“ anführte, zutrifft: „Ask anyone, planner or otherwise, What is strategy? and you will almost cerr tainly be told that (a) strategy is a plan, or something equivalent – a direction, 163 G. Schreyögg kommt in einer Arbeit über strategisches Management und Steuerungstheorien zu einer ähnlichen Diagnose. Auch er wählt zur Charakterisierung der „klassischen Theorie der Unternehmenssteuerung“ die Wendung „Primat der Planung“ (Schreyögg 2000, 391).
207
3.2 Strategische Führung
1st Year Capture Usage
2000 Usage
2000 Rank
1999 Rank
Strategic planning
83%
76%
1
1
Mission and vision statements
88%
70%
2
2
Benchmarking
70%
69%
3
3
Outsourcing
71%
63%
4
5
Customer satifaction meas.
86%
60%
5
4
a guide or course of action into the future, a path to get from here to there, etc.” (Mintzberg 1994, 23).
Die planungsorientierte Paradigmagemeinschaft ist folglich Growth strategies 61% 55% 6 7 Strategic alliances 62% 53% 7 8 etabliert. Sie verfügt Pay-for-performance 70% 52% 8 6 über eine vierzigjähriCustomer segmentation 60% 51% 9 9 ge ForschungstraditiCore competencies 52% 48% 10 10 on, eine institutionalisierte Unterstützung Abb. 54: Die Entwicklung der Nutzung der beliebtesten in der Wissenschaft, Management-Tools (vgl. Bain & Company 2001) den Beratungsgesellschaften und den Unternehmen. In dieser Interpretations- und Verwendungsgemeinschaft gilt es als weithin selbstverständlich, strategisches Management, strategische Führung und angrenzende Begriffe (u. a. General Management, Unternehmensführung, Betriebspolitik) mit planerischen, strukturellen und technischen Aspekten zu belegen. Wie weit die Grundannahme, dass der planerische Fokus den strategischen Führungsbegriff bestimmen sollte, hier mitgetragen wird, soll im zweiten Schritt der Begriffsklärung, wenn es darum geht, den hier gewählten Begriff von strategischer Führung zu bestimmen, geklärt werden. Zunächst ist es sinnvoll, die weiteren Interpretations- und Verwendungsgemeinschaften, die teilweise als Opposition zum planerischen Verständnis gesehen werden können, kurz zu beleuchten.
3.2.1.3.2 Die personifizierende Paradigmagemeinschaft Die personifizierende Interpretations- und Verwendungsgemeinschaft neigt im Gegensatz zur planungsorientierten Paradigmagemeinschaft dazu, die Begriffe Management und Leadership voneinander abzugrenzen. Diese Unterscheidung der Begriffe ist im angelsächsischen Raum nicht neu; die Dichotomie lautete zunächst nicht Leadership und Management, sondern „leadership“ und „headship“ (vgl. Neuberger 2002, 48). In der distanzierteren Nutzung g der aktuellen Begriffsvariante dient der Leadershipbegriff dazu, personale und interaktionale Aspekte zu beschreiben, der Managementbegriff wird hingegen für strukturelle und institutionelle Aspekte genutzt (ebenda, 48). Eine durchgängige Differenzierung der beiden Begriffe in strategische und operative Funktionen oder Führungsleistungen ist hingegen nicht zu erkennen. Als ein Charakteris-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
tikum der personifizierenden Paradigmagemeinschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch ein wertender Umgangg mit den beiden Begriffen verbreitet. Dabei wird der Begriff Leadership164 häufig mit den erwünschten oder als besonders relevant erachteten Merkmalen, der Begriff Management mit den zum Teil unerwünschten oder weniger relevanten Kategorien belegt (vgl. Abb. 55). Die Begründung für die so geartete Unterscheidung zwischen Management und Leadership liefert einer der prominentesten akademischen Vertreter des New Leadership Approach‘165, John P. Kotter, wenn er zur Führung in Veränderungsprozessen schreibt: „This distinction is absolutely crucial for our purposes here: A close look at exhibits 2 and 3 shows that successful transformation is 70 to 90 percent leadership and only 10 to 30 percent management“ (Kotter 1996, 26). Auch James M. Kouzes und Barry Z. Posner, ähnlich bekannte Vertreter des New-Leadership-Approach‘, halten diese begriffliche Differenzierung für wichtig: „The critical difference between management and leadership is reflected in the root meaning of the two words – the difference between what it means to handle things and what it means to go places. The unique role of leaders is to take us to places we’ve never been before“ (Kouzes / Posner 1997, 36). Der Autor des „Managementklassikers“ Build to Last, Jim Collins, der die idealisierende Abgrenzung des Leadership- vom Managementbegriff nicht teilt, legt einen wichtigen Aspekt der „hidden agenda“ der personifizierenden Interpretationsgemeinschaft offen, wenn er schreibt: „To use an analogy, the ‘Leadership is the answer to everything’ perspective is the modern equivalent of the ‘God is the answer to everything’ perspective that held back our scientific understanding of the physical world in the Dark Ages“ (Collins 2001, 21). Die hier von Collins angeführte historische Parallele von Leadership- und Gottglauben wirft die kritische Frage auf, ob 50 Jahre nach der Blütezeit des GreatMan-Ansatzes die umfangreiche empirisch-theoretische Führungsforschung Eingang gefunden hat in das Leadershipverständnis der personifizierenden Pa164 Auch im deutschen Sprachraum wird der Begriff „Leadership“ häufig verwandt. Wahrscheinlich, um der Übersetzung mit dem Begriff „Führerschaft“ wegen der geschichtlichen Erblast der faschistisch-totalitären Führeridee auszuweichen (vgl. die kritische Anmerkung hierzu von Malik 2000, 32f.). Der Gebrauch des Begriffs „Führerschaft“ (Leadership) wurde in Deutschland in einigen Redaktionen mehrere Jahre verboten (vgl. Simon 2004, 38). 165 Der „New Leadership Approach“ kann in drei Perspektiven unterteilt werden: der Unterscheidung von Management und Leadership, transformationaler und transaktionaler Führung und der Analyse von charismatischer Führung (vgl. Steyer 1998, 1).
3.2 Strategische Führung
209
radigmagemeinschaft? Erste kritische Untersuchungen zu den charismatischen, visionären und transformationalen Leadership-Ansätzen zeigen, dass die wissenschaftstheoretischen Prämissen weithin ähnlich voluntaristisch, personifizierend und idealisierend sind, wie dies für die ehemaligen Great-Man-Ansätze charakteristisch war (vgl. Nur 1998; Steyer 1998, Malik 2000, 31; Neuberger 2002, 215221). Collins kritische historische Parallele und die Untersuchungen zum New Leadership Approach können dazu beitragen, die MeiManagerInnen FührerInnen nungen, Werte und ... verwalten ... innovieren Methoden der personifizierenden Paradig... erhalten ... entwickeln magemeinschaft mit ... imitieren ... kreieren hinreichender Distanz wahrnehmen zu kön... sind Kopien ... sind Originale nen. Dies ist notwen... akzeptieren den Status quo ... fordern den Status quo heraus dig, da die Positionen der Vertreter des New ... fokussieren auf das System ... fokussieren sich auf Menschen Leadership Approach‘ gegenwärtig eine mäch... verlassen sich auf Kontrolle ... setzen auf Vertrauen tige Unterstützung er... sind auf kurzfristigen Erfolg aus ... denken langfristig halten durch Autoren populärer Manage... fragen nach wie und wann ... fragen nach was und warum mentbücher, von Ma... sind rational und kontrolliert ... sind begeistert und begeisternd nagement-Journalisten und nicht selten durch ... haben die Bilanz im Auge ... haben die Vision im Herzen das Management selbst. ... machen Dinge richtig ... machen die richtigen Dinge Besonders die Neigung der Paradigmagemeinschaft, den Begriff der Innen im Sinne des New Leadership Approach (Neuberger strategischen Führung 2002, 49) letztlich mit den Kompetenzen und der Verantwortung der obersten Führungskräfte zu verknüpfen, wird nur noch wenig hinterfragt. Die Versuche, die Erfolge und Niederlagen von zum Teil sehr komplexen Unternehmungen hauptsächlich mit den Leadershipleistungen eines CEO‘s oder weniger Top-Führungskräfte zu erklären, ist in dieser
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Interpretationsgemeinschaft fest verankert. Die personifizierende Sichtweise, die in der Managementlehre zwischenzeitlich als veraltet und überwunden galt, ist in Theorie und Praxis heute gleichwohl allgegenwärtig. Ein Forschungsteam der Internationalen Business Schools Ashridge und HEC, die zwischen 1999 und 2003 diese personifizierten Erwartungen genauer untersucht haben, stellt fest: „We found in our research that the heroic idea of leadership was pervasive – for leaders and followers. Everywhere we went we met it. It exists as an idea, often as an accusation. `Here’s what I – or my leaders – ought to be.’ The transformational hero idea sits on the shoulders of managers as a sense of what they ought to be doing as leaders – even if they cannot quite live up to the ideal” (Binney & Wilke & Williams 2005, 25). Auch wenn die Topmanager immer häufiger bei wenig ruhmreichen Pleiten ihre strategische Alleinherrschaft bestreiten oder ihr alleiniger Einfluss auf den Unternehmenserfolg nachweisbar begrenzt ist (vgl. Neuberger 1995a, 213f.; Finkelstein / Hambrick 1996, 20-22), reicht die Kraft des alten Great-Man und des New Leadership Approach‘, um gestützt durch eine weltweite mediale Marketingmaschine (Zeitschriften, Bücher, Videos, Internet, Hörspielkassetten etc.) den Erfolg von Organisationen mit einzelnen Persönlichkeiten zu verknüpfen. Besonders die angelsächsisch geprägte Managementliteratur trägt zu einer am New Leadership Approach orientierten Auslegung des (strategischen) Leadership- und Führungsbegriffs bei. In weltweit vermarkteten Büchern, die die herausragenden Führungsattribute166 von CEOs großer Unternehmen (in den USA z.B. Lee Iacocca, Jack Welch, Bill Gates; in Europa z.B. Richard Branson, Pery Barnevik, Jürgen Schremp) feiern, werden die Führungsvorstellungen der personifizierenden Interpretationsgemeinschaft hinterlegt. In dieser Begriffsgemeinschaft ist (strategische) Führung codiert über bestimmte Persönlichkeitsattribute, die zur Bewältigung komplexer Steuerungsaufgaben in Organisationen hilfreich sein sollen. Zu diesen Attributen gehören unter anderem: visionäre Kraft, Charisma, Inspiration, Energie, Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit, Gradlinigkeit, Authentizität (vgl. Grunwald / Rudolph 1992, 227; Ulrich 1999, 7-13; Kouzes / Posner 1995, 18). In der Regel verankert in der Tradition der einfachen Eigenschaftstheorie, gehen diese Sichtweisen davon aus, dass diese Persönlichkeitsmerkmale maßgeblich für den Unternehmenserfolg sind. Die Rolle der anderen Führungskräfte und Mitarbeiter, die Einordnung der kulturellen und situativen Kräfte sowie die Dynamik des Führungsprozesses verlieren sich neben der Wirkungskraft des Leaders in der Bedeutungslosigkeit. Über die Eigenschaften der einzelnen Füh166 Ulrich u.a., die einen Überblick über die verbreiteten „Leadership Attributes“ bieten (Ulrich / Zenger / Smallwood 1999, 7-13) konstatieren: „Under the rubric of leadership attributes falls a large array of sometimes confusing and often overlapping terms, including habits, traits, competencies, behavior, style, motives, values, skills, and character (ebenda, S. 4).
3.2 Strategische Führung
211
rungskräfte lässt sich – diesem Modell folgend – der Erfolg des Unternehmens erklären (vgl. Abb. 56). Einige Varianten des New Leadership Approach, die die Abgrenzung zum Management eher über die Wendungen charismatische oder transformationale Führung suchen, unterscheiden sich in den Grundannahmen kaum von den populären Ansätzen: „Some scholars on managerial leadership, chiefly John Kotter and Abraham Zaleznik, shy away from using such qualifying terms as ‘charisma’, preferring instead to Eigenschaften des UnternehmensCEOs oder der stick to plain leadership. erfolg Top-Führungskräfte However, when they contrast management to leadership, charisma is invariably implied for the latter“ (Nur 1998, Abb. 56 Das Erfolgsmodell des personifizierenden 1) (…) „Thus, Kotter’s Paradigmas ‘leadership’, Bass’s ‘transformational leadership’, and the term ‘charismatic leadership’ basically connote the same qualities managers are supposed to aspire to if they are to succeed in effectively motivating their subordinates“ (Nur 1998,6). Die kurze Analyse zum Leadership- bzw. Führungsbegriff der populären Managementliteratur und der New Leadership Ansätze zeigt, dass der GreatMan-Ansatz – 50 Jahre nach seiner ersten Blütezeit – in diesen Strömungen weiter präsent ist. Die anhaltende Präsenz des personifizierenden Paradigmas beschränkt sich jedoch nicht auf diese Ausläufer des Great-Man-Ansatzes. Das personifizierende Paradigma hat auch in der empirisch-theoretischen Forschung zur strategischen Führung, besonders im angelsächsischen Bereich, erhebliches Gewicht. In einer umfangreichen Monografie von Finkelstein und Hambrick zum Forschungsgebiet des Strategic Leadership wird deutlich, dass strategische Führung weiterhin überwiegend mit dem „single leader“ in Zusammenhang gebracht wird (vgl. Abb. 57).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Number of Works 60 50 45
50
40 35 30 31
25 20
25
23
15 10
13
11
5 0 CEO
TMT*
Board
Firm
SBU**
Unspecified Executive
NOTE: Some works have been assigned to multiple categorys, so the total number of works can exceed 146. * Top Management Team ** Strategic Business Unit
Abb. 57: Die Untersuchungseinheiten in der Strategic Leadership-Forschung zwischen 1980 und 1994 (Finkelstein / Hambrick 1996, 329
„As is evident from this figure, a majority of the works in our sample employed an individual unit of analysis – either the CEO, the SBU manager, or unspecified top executives (86 works, or 59 percent)“ (Finkelstein & Hambrick 1996, 328).167 Zusammenfassend können wir festhalten, dass bei den Vertretern des personifizierenden Paradigmas die Führungspersönlichkeit mit ihren überlegenen Eigenschaften im Mittelpunkt steht. Die Gründe für die bis heute große Popularität dieser Meinungen und Methoden wurden oben im Text in der Diskussion der Eigenschaftstheorie angeführt. In der kritischen Auseinandersetzung mit der Eigenschaftstheorie und der Herleitung der performancerelevanten Mindsets über die Habitustheorie wurde auch eine Einschätzung zu dem personifizierenden Paradigma formuliert: Aus Sicht des Leadership Asset Approach‘ 167 Auch in einer Financial Times Serie Ende 2002 zu Thema Leadership, in der renommierte Experten zu Wort kommen, lautet 17 Jahre nach Druckers Feststellung, „I soon learned that there is no ‘effective personality’ (Drucker 1996, 21) die Antwort: „Personality has returned to the forefront of management and leadership ...“ (Financial Times 2002, November 8, Mastering Leadership, S. 2).
3.2 Strategische Führung
213
sind die neuzeitlichen Varianten des Great-Man-Ansatzes für eine nachhaltig erfolgreiche Führung in Unternehmen unhaltbar. Für Unternehmen ist letztlich entscheidend, dass Führungskräfte bestimmte strategische und operative Führungsleistungen erbringen. Führungsleistungen, die die Führungskräfte in der Regel nur dann erbringen, wenn sie über performancerelevante Mindsets verfügen, die die notwendigen Leistungen ermöglichen. Auch aus Sicht des LAA ist die Führungspersönlichkeit demnach wichtig, allerdings nicht als Quelle für heroische Transformationsleistungen, sonders als Führungspersönlichkeit, bei der die Funktionen performancerelevanter Mindsets hinreichend entwickelt sind oder entwickelt werden können.
3.2.1.3.3 Die sozio-ökonomische Paradigmagemeinschaft Die Wissenschaftler und Praktiker der sozio-ökonomischen Interpretationsund Verwendungsgemeinschaft grenzen sich von den voluntaristischen Denkrichtungen der planungsorientierten und personifizierenden Paradigmen ab, indem sie (auch) determinierende, ungeplante Prozesse und Mechanismen betonen. Dabei fällt zunächst auf, dass sich dieser Paradigmagemeinschaft mehr Schulen zuordnen lassen als den anderen Paradigmen. Konnte der oben beschriebenen planungsorientierten Gemeinschaft aus Wissenschaft und Praxis die Design-, Planungs- und Positionierungsschule zugeordnet werden, lassen sich in die personifizierende Paradigmagemeinschaft gleichfalls drei, nämlich die Unternehmer-, die Kognitions- und teilweise die Machtschule, eingliedern. Obgleich das personifizierende Paradigma die oben beschriebene breite Wirkung in der Wissenschaft und Praxis entfaltet, lassen sich zumindest in der strategischen Führungsforschung dem sozio-ökonomischen Paradigma mehr Strategieschulen nach Mintzbergs Unterteilung zuordnen (vgl. Abb. 59): dies sind die Lern-, Kultur- und Umweltschule, zum Teil aber auch die Machtschule. In Abgrenzung zu Mintzbergs Aufteilung in deskriptive und präskriptive Schulen berücksichtigt die Positionierungsschule nach Einschätzung des Autors soweit determinierende Variablen bei der Aufbereitung strategischer Managemententscheidungen, dass dieser Ansatz methodisch auch der sozio-ökomomischen Paradigmagemeinschaft zugeordnet werden kann. Um erläutern zu können, warum sich diese unterschiedlichen Ansätze unter das sozio-ökonomische Interpretationsmuster subsumieren lassen, wird diese Paradigmagemeinschaft stärker als die anderen Paradigmen über die Reflexion der Schulen erschlossen. Bei diesem Zugang zur Erläuterung des Paradigmas ist zunächst die variierende Zuordnung der Positionierungsschule von Bedeutung, weil in der Unter nehmenspraxis zwei Schulen, die Positionierungs- und die Lernschule, bisher starken Einfluss ausgeübt haben beziehungsweise ausüben (vgl. Abb. 58 und 59). Deshalb sollen die Grundannahmen und damit einhergehende Begriffsver-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
ständnisse dieser Ansätze besonders thematisiert werden. Die Positionierungsschule, deren Vertreter oben im Text schon dem planungsorientierten Paradigma zugeordnet wurden, konstruiert scheinbar ein Paradoxon. Einerseits 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 basiert dieser Ansatz auf der Grundannahme der Planungsschule Designschule Analysierbarkeit und Positionierungsschule Planbarkeit strategischer Optionen; andererseits Abb. 58: Die präskriptiven Schulen nach Henry Mintzgeht das structure-conberg (Mintzberg 1999, 395) duct-performance-Modell Aktivität (Publikationen und Relevanz im strategischen Managment) (S-C-P-Modell) der Positionierungsschule davon aus, dass die Unternehmensperformance wesentlich durch das Branchenumfeld des Unternehmens bestimmt ist.168 M. Porter, der wichtigste Vertreter der Positionierungsschule, löst diesen scheinbaren 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 Widerspruch zwischen Analyse der MarktdeterUnternehmerische Schule Kulturschule Kognitive Schule Umweltschule minanten (deskriptiv) und Lernschule Konfigurationsschule dem Planungsanspruch Machtschule (präskriptiv) auf, indem Abb. 59: Die deskriptiven Schulen nach Henry Mintzer schlussfolgert, dass die berg (Mintzberg 1999, 395) Unternehmensleitung aus der Analyse des Branchenumfelds die angemessene übergeordnete (generische) Strategie ableiten muss. Da sich die strategischen Optionen der Unternehmensleitung damit aber auf wenige generische Strategien [i.d.R. Cost Leadership, Differentiation oder Focus (vgl. Porter 1998, 11-26) beschränken, liegt die Hauptaufgabe in der treffsicheren Analyse des Branchenumfelds. Aktivität (Publikationen und Relevanz im strategischen Managment)
168 Sicher liegt in der Porterschen Zweigleisigkeit, neben die methodischen Empfehlungen der Planungs- und Designschule auch differenziertere Analysen zu den möglichen Strategieoptionen treten zu lassen, ein Grund für die breite Resonanz in den 1980er Jahren.
3.2 Strategische Führung
215
Der diesem Ansatz immanente strategische Führungsbegriff begründet schließlich auch eine Zuordnung der Vertreter der Positionierungsschule in die sozio-ökonomische Paradigmagemeinschaft. Denn gerade der Entscheidungsspielraum für die strategische Führung ist hier auf die Analyse und Wahl der richtigen generischen Strategien beschränkt und damit stark prädisponiert. Der daran anknüpfenden Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit der strategischen Führung kommt nach Porter eine relativ untergeordnete Bedeutung zu (vgl. Porter 1998, 1-25).169 Ähnlich der Positionierungsschule in den 1980er und frühen 1990er Jahren hat die Lernschule in den gesamten 1990er Jahren erheblichen Einfluss in Theorie und Praxis aufgebaut und den vorherrschenden Begriff der strategischen Führung um eine Schattierung erweitert. James Brian Quinn, der den Ansatz des Logischen Inkrementalismus formulierte, steigerte den Bekanntheitsgrad der Lernschule durch seine konsequente Abgrenzung von der etablierten Design-, Planungs- und Positionierungsschule (vgl. Quinn 1980). Er vertrat in seinem Werk „Strategies for Change: Logical Incrementalism“ die These: „Die tatsächliche Strategie entwickelt sich meist, indem interne Entscheidungen und externe Ereignisse zusammenfließen, was zur Folge hat, dass sich zwischen den wichtigsten Mitgliedern der Unternehmensleitung ein neuer, allgemein geteilter Handlungskonsens entwickelt. In gut geführten Organisationen lenken die Manager diese Handlungs- und Entscheidungsströme aktiv, so dass inkrementell eine bewusste Strategie entsteht“ (Quinn 1980, 15). Peter Senge, der in den 1990er Jahren mit seinem Werk „The Fifth Dscipline“ (Senge 1990) zum bekanntesten Vertreter der Lernschule wurde, fasst in einem neueren Werk170 auch das Führungsverständnis dieser Schule zusammen: „In diesem Buch entwerfen wir ein anderes Bild von Leadership. Wir betrachten es als die Fähigkeit einer Gemeinschaft, ihre Zukunft selbst zu gestalten und insbesondere den dafür unverzichtbaren Prozeß der Veränderung aufrechtzuerhalten“ (Senge 2000, 25). Der Rahmen, in dem die Führungskräfte [genauer: die „Leadership Communities“ (Senge, 2000, 25; Senge / Käufer 2000, 247-269)] die Organisation gestalten können, ist jedoch nach der Lerntheorie stark determiniert: 169 Wahrscheinlich beeinflusst durch den in den 1990er Jahren aufkommenden Resourcebased view relativiert auch Porter in jüngeren Veröffentlichungen sein in den 1980er Jahren ausgeprägten Market-based view: „But the essence of strategy is in the activities – choosing to perform activities differently or to perform different activities than rivals” (Porter 1996b, 64). 170 Senge u.a. verfassten dieses neuere Werk „The Dance of Change: Ein Fünfte-Disziplin-Arbeitsbuch“ nach eine Vielzahl von Unternehmensprojekten, die sie mit dem Team vom Center for Organizational Learning an der Sloan School of Management am MIT, durchgeführt hatten.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
„In diesem Buch werden wir uns eine biologische Sicht der Wachstumsprozesse und –beschränkungen zu eigen machen, um strategisch über die Aktivitäten von Führungspersönlichkeit zu sprechen“ (Senge 2000, 29).171 Durch die hier von Senge herangezogene Parallele zur Biologie (Determiniertheit) wird deutlich, dass sich der Lernschule folgend die Chance, Unternehmen mit planungstechnischen Verfahren zielsicher zu steuern, auf ein Minimum reduziert. Die Komplexität moderner Organisationen und Umwelten erfordert hiernach vielmehr kollektive Lernprozesse, deren Verlauf und Ergebnisse nicht beliebig planbar sind (vgl. Mintzberg 1999, 205). Diesem Grundverständnis von der begrenzten Steuerbarkeit komplexer und dynamischer Organisationen folgen auch die evolutionären Ansätze des strategischen Managements. Als eine biologisch / kybernetisch durchformte Variante der Lernschule halten auch die Vertreter des evolutionären Managements (u.a. H.Ulrich, F.A. Hayek, F. Malik, G.J.B. Probst, W. Kirsch) statt einer plandeterminierten Unternehmensführung eher einen Versuch-Irrtum-Prozess, der entsprechende Lernaktivitäten auslöst, für ein angemessenes Steuerungsmodell in komplexen und eigendynamischen Organisationen (vgl. Bea / Haas 1999, 29). Gisela Bolbrügge, die das evolutionäre Steuerungsmodell differenziert analysiert, bietet auch eine Zusammenfassung des Führungsverständnisses dieser Schule: „Soziale Systeme wie Unternehmen sind viel weniger planbar und kontrollierbar, wie sich das manche Führungskräfte vorstellen. Unternehmen sind soziale Systeme, ‘die auch durch noch so großartig konzipierte Einzelhandlungen nicht gestaltet und gelenkt werden können’“ (Bolbrügge 1997, 65).172 Die Varianten der Lernschule sehen folglich in Mechanismen und Prozessen die entscheidenden Kräfte, die ihre Dynamik weitgehend unabhängig von den Vorstellungen der strategischen Planer entfalten, aus denen ein gut geführtes Unternehmen jedoch lernt. An die Stelle des Planungs- oder personifizierten Gestaltungsideals tritt bei den Lernschulen ein kollektiver oder (systemischer) Netzwerkprozess, dessen produktive Eigendynamik in singleoder double-loop Lernprozessen173 kanalisiert und dadurch wertschöpfend 171 In dieser Formulierung wird der Einfluss von Arie des Geus auf Senges Ansatz deutlich (vgl. hierzu Arie de Geus 1997, VII-XI). 172 Bei einer differenzierteren Würdigung der evolutionären Ansätze vor dem Hintergrund der Dichotomie Determinismus und Voluntarismus zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den evolutionären Ansätzen (vgl. hierzu Probst / Naujoks 1995, 915-926). Auch kann die Lernschule – als Umkehrung der hier gewählten Darstellung – ggf. als Variante des evolutionären Ansatzes gesehen werden. 173 Nach Argyris und Schön vollziehen Unternehmen eine single-loop-learning Schleife, wenn zwar organisatorische Fehler aufgedeckt und bearbeitet werden, die gegenwärtige Politik und Zielsetzungen aber beibehalten werden; bei einer double-loop-learning Schleife führt die Aufdeckung von organisatorischen Fehlern hingegen zur Änderung zugrundeliegender
3.2 Strategische Führung
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gestaltet werden muss. Die strategische Führung muss sich demnach nicht auf den bewussten Entwurf neuer Strategien ausrichten, sondern den Prozess des strategischen Lernens so managen, dass neue, marktfähige Strategien entstehen können. Ist der Führungsbegriff der Lernschulen mit der Vorstellung belegt, dass der strategische Gestaltungsauftrag in der Organisation kollektiver Lernprozesse liegt, reduziert sich im Kontext der Kultur- und Umweltschule der Ausrichtungs- und Gestaltungsspielraum der Führungskräfte noch weiter. Edgar H. Schein bringt die Lesart der Kulturschule auf den Punkt, wenn er in seinem Werk „Organizational Culture and Leadership“ schreibt: „As scholars we must understand this paradox: Leaders create cultures, but cultures, in turn, create their next generation of leaders“ (Schein 1991, 313). Die operative und strategische Prägekraft etablierter Organisationen (Systeme, Kulturen) betont auch Ichak Adizes, der im Rahmen seiner Theorie zum Corporate Lifecycle formuliert: „The leaders of growing organizations animate the character of their organisations with their behavior. In aging organizations, culture determine the style of leadership“ (Adizes 1999, 138). Damit übernimmt strategische Führung – gewollt oder ungewollt – aus Sicht der Kulturschule in etablierten Unternehmen mehr und mehr die Funktion, die kulturellen Muster zu reproduzieren. Die Alternative strategischer Führung besteht – wenn die Machtpotentiale hierzu hinreichen und wirkliche Veränderung gewollt ist – in der Überwindung der kulturellen Muster (vgl. Mintzberg 1999, 319). Ob dieser radikale Umbau der Organisation notwendig ist, definieren aus dem Blickwickel der Umweltschule allein externe Faktoren. Denn die Möglichkeit der strategischen Führung, erfolgreich zu handeln, reduziert sich aus Sicht der Umwelttheoretiker auf eine angemessene Deutung der Umwelt und entsprechende Anpassungen der Organisation. Insgesamt wird deutlich, dass die Anhänger des sozio-ökonomischen Paradigmas zu einem strategischen Führungsbegriff tendieren, der in Bezug auf den Gestaltungsspielraum, der den Führungskräften zugesprochen wird, als mehr oder weniger strukturdeterminiert bezeichnet werden kann. Das klassische Akteur-Struktur-Dilemma174 der Sozialwissenschaften löst diese Interpretationsgemeinschaft dadurch auf, dass sie die prägenden Interdependenzen oder Strukturen (als geronnene Interdependenzen) analysiert und somit der angemessenen Reaktion zugängig macht. Normen, Verfahren und Ziele (vgl. Argyris / Schön 1978 und Abb. 44). 174 Zur Reflexion dieses Dilemmas in Verbindung mit dem Thema Management vgl. Schienstock 1993, 8-46.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Der strategische Führungsbegriff des sozio-ökonomischen Paradigmas beinhaltet somit den Gegenentwurf zu den zuvor beschriebenen Paradigmagemeinschaften, die von voluntaristischen Grundannahmen ausgehen. Dieses Spannungsverhältnis von Voluntarismus versus Determinismus in der strategischen Führung – das auch durch Mintzbergs Dichotomie deskriptiv versus präskriptiv thematisiert wird – muss bei der Klärung des strategischen Führungsbegriffs des LAA bearbeitet werden, da die Beobachtungen und Interpretationen der erwähnten Interpretations- und Verwendungsgemeinschaften nicht kategorisch zurückgewiesen werden können. Soweit konnte aufgezeigt werden, dass die drei Paradigmagemeinschaften, denen sich die Strategieschulen und Grundausrichtungen des strategischen Managements zuordnen lassen, für unterschiedliche Grundannahmen und damit auch für unterschiedliche strategische Führungsbegriffe stehen: Die planungsorientierte Paradigmagemeinschaft geht davon aus, dass strategisches Management seinen Schwerpunkt in planerischen, strukturellen und technischen Aspekten sehen sollte. Eine gelungene Managementleistung kann demnach wesentlich durch ein gelungenes Konzept und einen guten Plan abgesichert werden. Die personifizierende Paradigmagemeinschaft sieht die Bestimmungsfaktoren für den Erfolg strategischer Führung wesentlich in der persönlichen Gestaltungskraft und dem nahezu unbegrenzten Gestaltungsspielraum der Führungskraft. Die sozio-ökonomische Paradigmagemeinschaft identifiziert die bestimmenden Größen für die strategische Führung in dem engeren (Unternehmenskultur) oder weiteren (Wirtschaft / Gesellschaft / Umwelt) Kraftfeld, das die Führungskraft umgibt. Die angeführten Paradigmagemeinschaften erfüllen in den Wissenschaften und der Praxis wichtige Funktionen für ihre Mitglieder: Sie sichern Akzeptanz und Legitimation von Interpretationen und Entscheidungen. Sie teilen jedoch das Problem, dass sie einzelne Bestimmungsfaktoren der strategischen Führung häufig überbetonen oder verabsolutieren (vgl. Mintzberg 1996,19). Bei der folgenden Erläuterung des strategischen Führungsbegriffs des Leadership Asset Approach‘ wird diese problematische Reduktion der tatsächlichen Komplexität der strategischen Führung reflektiert. Hierzu wird der strategische Führungsbegriff des LAA zunächst in einer synoptischen Definition vorgestellt. Da sich in den Schüsselbegriffen der synoptischen Definition zum Teil die Aufbereitung und kritische Abgrenzung von den oben diskutierten Ansätzen spiegelt, wird ihr jeweiliger Bedeutungsgehalt differenziert erläutert. Durch diese Erläuterungen wichtiger Aspekte des Verständnisses strategischer Führung werden Positionierungen des LAA zum WER, WAS und WIE der Führung geklärt. Dabei
3.2 Strategische Führung
219
werden auch die wichtigsten Funktionen strategischer Führung – wie einleitend zu diesem Kapitel erläutert – auf einem hohen Integrationsniveau behandelt.
3.2.2 Strategische Führung im LAA: Führungsaktivitäten als Antworten auf die Marktentwicklungen Die bisher formulierte mehrstufige Sichtung des Forschungs- und Praxisverständnisses von strategischer Führung soll dazu dienen, wichtige Aspekte, die auf diesem Arbeitsfeld in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet wurden, kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls berücksichtigen zu können. Insofern fußt die folgende Definition strategischer Führung im Sinne des LAA zum Teil auf etablierten Perspektiven. Nur dort, wo das Verständnis von strategischer Führung fragwürdig einseitig (z. B. Planungsorientierung) oder konzeptionell grundsätzlich bedenklich (z. B. Great Man Mythos) erscheint, beinhaltet das strategische Führungsverständnis des LAA andere Sichtweisen. Vor diesem Hintergrund kann das Strategieverständnis des LAA in folgender Definition verdichtet werden: Strategische Führung in Unternehmen heißt im hier verstandenen Sinne, durch Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten geplantt oder emergentt in Perforrmancebereichen rechtzeitig die Potenziale zu schaffen, um auf die Entwicklungen des Marktes effektiv antworten zu können. In dieser Definition spiegelt sich unweigerlich der komplexe Gesamtprozess der strategischen Führung wider. Um die entsprechende Komplexität dieser Definition wieder aufzulösen und die theoretischen und praktischen Konsequenzen des Strategieverständnisses im LAA offenzulegen, werden auf den folgenden Seiten die hervorgehobenen Komponenten der Definition erläutert. Die Kategorie „Performancebereiche“ wurde hier zwar nicht drucktechnisch hervorgehoben, ist aber für die Systematisierung der strategischen Führung im LAA dennoch von Bedeutung. Deshalb wird die Systematik der strategischen Performancebereiche nicht an dieser Stelle – wo die Diskussion des Strategieverständnisses im Vordergrund steht – behandelt, sondern in der Zusammenfassung des Leadership Asset System (LAS) dargelegt. Dies ist sinnvoll, da die Systematik der Performancebereiche ein wichtiger Bestandteil des Erfassungsund Steuerungsinstrumentes (Leadership Asset System) ist, das auf der theoretischen Grundlage des LAA entwickelt wurde. Die Erläuterungen der drucktechnisch herausgehobenen Begriffe beginnen mit dem letzten Teil der Definition, d. h. mit der Festlegung, dass die wichtigste Funktion der strategischen Führung darin besteht, die Antwortfähigkeit auf die Entwicklungen des Marktes zu sichern. Diese Reihenfolge der Erläuterungen mag im ersten Moment irritieren, sie entspricht aber der Argumentationslinie des LAA. – Die Argumentationslinie wurde im ersten Kapitel mit der
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Herausarbeitung der nachhaltigen Veränderungstreiber und der Determinanten des strategischen Wettbewerbs eröffnet. Sie wurde dann im zweiten Kapitel unter anderem mit den Ausführungen zu den performancerelevanten Mindsets fortgesetzt. Bei der Erläuterung dieses performancerelevanten Mindsets wurde betont, dass diese die Denk-, Fühl- und Handlungsausrichtungen bei den Führungskräften ermöglichen müssen, um auf die Entwicklungen (Determinanten) des strategischen Wettbewerbs effektiv antworten zu können. Somit eröffnen die Mindsets die Handlungsoptionen, die sich dann in den konkreten strategischen Führungsaktivitäten manifest müssen. Ob die von den Mindsets angeleiteten strategischen Führungsaktivitäten schließlich eine konkurrenzfähige Performance zeigen, beweist sich zunächst über die grundsätzliche und konsequente Marktausrichtung des Führungshandelns.
3.2.2.1 Antwortfähigkeit auf Marktentwicklungen Strategische Führung ist dann effektiv, wenn sie die Antwortfähigkeit des Unternehmens auf die Entwicklungen bzw. Anforderungen des Marktes sichert. Damit wird deutlich, dass für die Frage, was ein Unternehmen strategisch zu leisten hat, nicht die Inside-out-Perspektive maßgeblich sein kann. Die Agenda für die strategischen Führungsaktivitäten schreiben hingegen fortwährend die Marktentwicklungen. Die vorrangige Aufgabe des Top-Managements ist es deshalb, diese Marktagenda zu verstehen und die richtigen Prioritäten für die Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit für das Unternehmen abzuleiten, zu kommunizieren und durchzusetzen (Outside-in-Perspektive). Wendy M. Becker und Vanessa M. Freeman fassen die Relevanz der Outside-in-Perspektive bei der Ableitung der notwendigen strategischen Führungsaktivitäten in einer Studie mit dem Titel „Going from global trends to corporate strategy“ treffend zusammen: „An executive’s ability to read trends accurately in a rapidly changing business environment can make all the difference between riding the currents of opportunity and paddling upstream against them” (Becker & Freemann 2006, 17-27). Dieser marktorientierte Ansatz zur Ableitung notwendiger strategischer Führungsaktivitäten ist grundlegend für den Leadership Asset Approach. Dabei ist der Kerngedanke: Führungskräfte sichern nur dann die Antwortfähigkeit eines Unternehmens auf die Herausforderungen des Marktes und führen somit strategisch effektiv, wenn sie die relevanten Marktentwicklungen für ihr Unternehmen identifizieren und in strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten mit einer konkurrenzfähigen Performance übersetzen. Damit hat strategische Führungsarbeit im Sinne des LAA zwei notwendige
3.2 Strategische Führung
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Teilleistungen zu erbringen: Erstens gilt es, die wichtigsten Marktentwicklungen für das Unternehmen zu identifizieren; zweitens müssen die für das Unternehmen relevanten Marktentwicklungen durch strategische Führungsaktivitäten mit einer konkurrenzfähigen Performance beantwortet werden. Die Vorgehensweise zur Identifikation der wichtigsten Marktentwicklungen im Sinne des LAA wurde im ersten Kapitel dieser Arbeit vorgestellt. Hier wurde darauf hingewiesen, dass gerade bei der Identifikation geschäftsrelevanter Marktentwicklungen ein weitgehend willkürliches „Trendsurfing“ kritisch ist. Unter diese kritische Kategorie des „Trendsurfings“ fällt meines Erachtens auch die Vorgehensweise zur Identifikation geschäftsrelevanter Trends, wie sie in der oben zitierten Studie von Becker und Freemann gewählt wurde und heute weit verbreitet ist. Becker und Freemann haben – ohne einen erkennbaren Bezugsrahmen – einige Trends aufgelistet und dann 3470 Führungskräfte befragt, welche drei Trends für das globale Geschäft in den nächsten fünf Jahren am wichtigsten sein werden. Diese Art von „Trendforschung“ und „Managementberatung“ ist fragwürdig, weil die Auswahl der Trends ohne empirisch-theoretischen Bezugsrahmen willkürlich ist und die Richtung, Geschwindigkeit, Reichweite und Wirkungskraft der Trends so nicht eingeschätzt werden können. Auch der Weg, Führungskräfte nach ihrer spontanen Einschätzung der Trends zu fragen, fußt wohl auf dem unhinterfragten Mythos, eine hinreichend große Zahl von Befragungsteilnehmern führe automatisch zur richtigen Einschätzung. Die Alternative ist die Formulierung eines nachvollziehbaren und kritisierbaren empirisch-theoretischen Bezugsrahmens für die Umweltanalyse. Ein erster Ansatz hierzu wurde mit der Herausarbeitung der nachhaltigen Veränderungstreiber (Demografie, soziale Beziehungstypen, sozio-technische Interdependenzen) und der Determinanten des strategischen Wettbewerbs vorgelegt.175 In diesem Bezugsrahmen sind die Marktentwicklungen auf einem Integrationsniveau formuliert, das es jedem Unternehmen ermöglicht, die Implikationen für das jeweilige Geschäft zu hinterfragen. Damit bietet der Leadership Asset Approach einen Zugang zur ersten notwendigen Teilleistung einer marktorientierten strategischen Führung, nämlich der Identifikation von geschäftsrelevanten Marktentwicklungen. Die Antwortfähigkeit auf die geschäftsrelevanten Marktentwicklungen wird jedoch erst durch die zweite notwendige Teilleistung der marktorientierten strategischen Führung hergestellt. Diese Teilleistung besteht darin, die Antwortfähigkeit des Unternehmens auf die Marktentwicklungen durch strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten auf einem hinreichenden 175 Ein „branchenfokussierter“ Bezugsrahmen wurde von Porter entwickelt und im ersten Kapitel dieser Arbeit diskutiert. Weitere Ansätze werden differenziert dargestellt u. a. von Müller-Stevens & Lechner 2001, 113-154; David 2001, 75-121.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Performanceniveau zu sichern. Die strategischen Führungsaktivitäten werden damit zum differenzierten Instrumentarium zur Beantwortung der Marktentwicklungen. Damit die strategischen Führungsaktivitäten stimmige Antworten auf die Marktentwicklungen bieten können, sollte eine Differenzierung, die in der etablierten Strategielehre zu finden ist, beachtet werden. Die etablierte Strategielehre unterteilt in der Regel nach Unternehmensstrategien und Geschäftsbereichsstrategien (vgl. Bea / Haas 2001, 106-186; Hugenberg 2001, 61-426).176 Diese Unterteilung wird hier deshalb aufgegriffen, weil sie auf den Zusammenhang verweist, dass sich bei größeren Unternehmen das gesamte Tätigkeitsfeld als ein Portfolio von Geschäftsfeldern darstellen lässt (ebenda, 327). Dies kann gegebenenfalls bedeuten, dass es die Zielmärkte und dazu passenden Geschäftsmodelle der Geschäftsfelder erfordern, bei den strategischen Führungsaktivitäten unterschiedliche Schwerpunkte zu bilden. Diese Justierung der strategischen Führung durch die Outside-in-Perspektive kann das ganze Ausrichtungs- und Gestaltungsspektrum – von der Geschäftsfeldstrategie bis zur Steuerung der strategischen Ressourcen – betreffen. Damit betont auch der LAA die grundlegende Bedeutung der Outside-in-Perspektive. Im Unterschied zum oben (vgl. Kapitel 1.2.2) diskutierten Structure-Conduct-Performance Paradigma, das als marktdeterministisch beschrieben werden kann, ist aus Sicht des LAA die Analyse der sozio-ökonomischen Entwicklungen und Märkte notwendig, um durch die Gestaltung der internen Performance nicht nur reagieren, sondern auch Märkte gestalten zu können (vgl. Kim & Mauborgne 2005). Der LAA vertritt folglich keinen einseitigen Market-based View oder Resource-based View, sondern einen konsequenten Sowohl-als-auch-Ansatz. Da die Frage, worauf strategische Führungsaktivitäten letztlich gerichtet sein müssen, in den oben diskutierten Strategieschulen, strategischen Grundausrichtungen oder Paradigmagemeinschaften nicht einheitlich beantwortet wird, wurde diese Grundfrage hier im Sinne des LAA geklärt. Die bisherige Strategieforschung konnte auch zu den weiteren Fragen, nämlich wo strategische Führung im Unternehmen geleistet wird bzw. werden muss, worauff sie sich bezieht, wie sie zusammenwirkt und welche Performanceanforderungen für sie formuliert werden müssen, keine einheitlichen Sichtweisen herausarbeiten. Durch die Erläuterungen der weiteren Komponenten der hier vorgeschlagenen Definition strategischer Führung werden deshalb diese umstrittenen Aspekte gleichfalls im Bezugsrahmen des LAA beantwortet.
176 Bea & Haas wählen zusätzlich die Differenzierung in Funktionsbereichsstrategien (vgl. Bea & Haas 2001, 181-186).
3.2 Strategische Führung
223
3.2.2.2 Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten Der Markt bestimmt die Agenda, welche strategischen Führungsleistungen auf welchem Niveau von Unternehmen gefordert sind, um sich im Wettbewerb behaupten zu können. Die vom Markt definierten Handlungsfelder und Performanceansprüche für die strategische Führung müssen in den Unternehmen dann in eine effiziente Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit übersetzt werden. Wie gut dies gelingt, hängt wesentlich von dem Verständnis der Strategieentwicklung ab. Diesen Einfluss des Strategieverständnisses auf die strategische Umsetzungsarbeit konnte der Autor aus der Perspektive des teilnehmenden Beobachters in diversen Strategieprozessen in verschiedenen Unternehmen seit dem Jahr 1990 feststellen. Bei strategischen Initiativen, zum Beispiel der Durchführung von Reengineeringprojekten oder der Einführung des Value Based Managements, kam es durch das etablierte Strategieverständnis, das klar dem planungsorientierten Paradigma zugeordnet werden konnte, zu erheblichen Implementierungsproblemen. Da die etablierten Prozesse, Strukturen und Humanressourcen vielfach unterschätzt, die emergenten Strategieprozesse ignoriert oder als vorübergehendes „Störfeuer“ interpretiert wurden, war das Verständnis für notwendige Führungsaktivitäten zur Implementierung der Initiativen nicht differenziert genug. Die Fragen, wie zum Beispiel zur Einführung des Value Based Managements bei den Führungskräften zunächst ein hinreichendes Commitment erzeugt und ein entsprechender Kompetenzaufbau betrieben werden kann, wie darauf folgend ein wertorientiertes Projektportfolio und ein entsprechendes Kundenmanagement aufzubauen sind, wurden nicht konsequent erörtert, entschieden und implementiert. Die strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit wurde so schnell zur „geplanten Ineffizienz“. Da sich die hier vom Autor beobachteten Probleme der strategischen Führungsarbeit auch in diversen Fallbeschreibungen in der Managementliteratur wiederfinden, soll vor diesem Hintergrund gefragt werden, welches Verständnis von strategischer Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit effizienter sein kann. Die Sichtung der strategischen Managementliteratur zeigt, dass der Begriff Ausrichtungsaktivitäten bisher zwar kein feststehender Begriff ist, aber das hier mit diesem Begriff verbundene Verständnis schon länger einen prominenten Platz einnimmt. So schreibt schon Gutenberg in seinem erstmals 1951 erschienen Standardwerk der Betriebswirtschaftslehre: „Nun sind aber in einem Unternehmen viele Kräfte am Werk, die koordiniert werden müssen, wenn der Unternehmenszweck erreicht werden soll. Die Kräfte tendieren von sich aus keineswegs immer in die gleiche Richtung“ (Gutenberg 1983, 137). Den Ausführungen von Gutenberg in den 1950er Jahren ist zu entnehmen,
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
dass, schon bevor der Strategiebegriff in der betriebswirtschaftlichen Literatur verwandt wurde, in der Koordination und Ausrichtung der betrieblichen Ressourcen eine entscheidende Funktion strategischer Führung gesehen wurde. Spätestens 50 Jahre später hat sich dieses Verständnis von strategischer Führung – sicher befördert durch die gestiegene Komplexität in den Unternehmen und am Markt – nicht nur in der Lehre, sondern auch in der Praxis etabliert: „When talking about how they achieved these breakthrough results, the executives continually mention two words: alignment and focus“(Kaplan / Norr ton 2001, 7). Demnach erlangt die strategische Führungsarbeit wesentlich dadurch ihre Wirksamkeit, dass sie die Ressourcen und Prozesse im Unternehmen auf ein marktwirksames Ziel (z. B. Kostenminimierung, Marktexpansion) ausrichtet. Inwieweit es gelingt, diese Klarheit in der strategischen Ausrichtung herzustellen, hängt davon ab, ob das Top-Management über den Weitblick177 sowie die Handlungskonsistenz und –konsequenz verfügt, um die Führungsaktivitäten in den Performancebereichen des Unternehmens aufeinander abzustimmen (strategischer Fit). Ausrichtungsarbeit als Teilfunktion der strategischen Führung findet demnach immer dann statt, wenn unternehmerische Aktivitäten, die zur Erreichung bestimmter Zielsetzungen relevant sind, in eine stimmige, der Zielsetzung dienende Handlungskette einfügt werden. 178 Im Sinne des LAA darf diese Definition von strategischer Ausrichtungsarbeit nicht zu der Lesart verleiten, dass Ausrichtungsaktivitäten immer sogleich mit einer intendierten Zielsetzung verknüpft sind oder sein müssen. Zum einen ist dies in der Unternehmenspraxis häufig nicht der Fall, zum anderen ist es nicht durchgängig notwendig. Die Ausrichtungsaktivitäten können sich auch aus internem oder externem Druck, durch opportunistische Nutzung von Marktchancen oder aus der Verfolgung einer innovativen Geschäftsidee entwickeln. Damit folgt das Verständnis von strategischer Ausrichtungsarbeit des Leadership Asset Approach nicht den voluntaristischen Vorstellungen des präskriptiven Schemas, sondern der Beobachtung, dass strategische Führungsaktivitäten zum Teill in eine Richtung strömen können, bevor sie auch explizit zur Zielsetzung gerinnen und geplanten Anstrengungen unterliegen. 177 Der oben zitierte Erich Gutenberg schreibt in seinem im deutschsprachigen Raum renommierten Werk „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“ in diesem Zusammenhang vom „ökonomischem Horizont“ (Gutenberg 1983, 135). 178 Auch Kaplan und Norton, die Erfinder der Balanced Scorecard, betonen in ihrem Buch mit dem Titel „Alignment“ die besondere Relevanz der Ausrichtung der gesamten Organisation auf die unternehmensstrategsichen Ziele durch eine Vielzahl von strategsichen Führungsaktivitäten (vgl. Kaplan & Norton 2006, 3).
3.2 Strategische Führung
225
Dass dieses Verständnis von strategischer Ausrichtungsarbeit realistischer ist als die Vorstellungen von einem einfachen Top-down-Planungsprozess, konnte vom Autor am Anfang der 1990er Jahre im Zusammenhang mit dem Aufkommen des strategischen Wettbewerbs in der deutschen Versicherungsbranche beobachtet werden. Der Marktführer Allianz verlor zu dieser Zeit durch eine statische Produkt- und Preispolitik Marktanteile in der Kraftfahrzeugversicherung. Die Führungskräfte und Verkäufer vor Ort reagierten unabgestimmt mit Rabattmodellen und Kundensegmentierungen. Die Unternehmensleitung hingegen erhöhte zunächst die Prämien weiter, bis sie – deutlich verzögert – mit einem neuen Tariff system auf die strategische Ausrichtungsarbeit der Basis einschwenkte. Das Beispiel verdeutlicht neben dem Zusammenwirken von emergenten und top-down geplanten Ausrichtungsprozessen noch einen weiteren Aspekt: Strategische Ausrichtungsarbeit hat ihren Ausgangpunkt nicht durchgängig in den Köpfen von CEOs oder anderen Top-Führungskräften.179 Vielmehr sprechen empirische Befunde dafür, dass die Strategieformulierung nur zu einem geringen Prozentsatz direkt den Köpfen der Unternehmensleitung entspringt.180 Ausrichtungsaktivitäten, die den Markterfolg des Unternehmens wesentlich beeinflussen können, dürfen folglich nicht nur in expliziten Strategieformulierungen des Top-Managements gesehen werden, sondern zeigen sich nachhaltig und klar in diversen Führungsaktivitäten, die zur Erreichung eines Unternehmensziels beitragen können. Damit rekurriert die LAA-spezifische Lesart strategischer Führung nicht nur auf Ausrichtungsaktivitäten, die im formalen und geplanten Prozess der Strategieformulierung geleistet werden, sondern auf alle strategischen Aktivitäten, die einen Leistungsbeitrag zur unternehmerischen Zielerreichung sichern.181 Dies scheint besonders mit Blick auf die oben skizzierten Probleme, die aus dem geschichtlichen Pendelschlag zur übersteigerten Planungsorientierung in der Strategiearbeit entstanden sind, wichtig. In Abbildung 61 wird der funda179 Die Anhänger der „Kognitiven Schule“ versuchen strategische Prozesse weiterhin über die kognitiven Leistungen des Strategen zu entschlüsseln (vgl. hierzu Mintzberg 1999, 175-202). 180 Einer empirischen Studie von Nett zufolge entsprechen gerade 15 % strategischer Entscheidungsfindungsprozesse dem theoretischen Referenzmodell, dass die Phasen „Formulation, Concept Development, Detailing, Evaluation und Implementation (vgl. Welge u.a. 1999, 8) vorsieht. 181 Dieser Zugang ist bis dato nicht üblich, da die Strategieformulierung in der Strategieforschung und Praxis noch eine übermächtige Rolle spielt (vgl. AL-Laham 2000, 262). Auch M. Porter, dessen Ansatz oben im Text wegen seiner breiten Beachtung in Theorie und Praxis diskutiert wurde, sieht strategische Führung ausschließlich in der Formulierung der im Konkurrenzkampf mit anderen Unternehmen differenzierenden Aktivitäten (vgl. Porter 1996b, 68) –, d.h. in einer geplanten Vorgehensweise.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
mentale Unterschied zwischen dem Strategieverständnis der Design-, Planungsund Positionierungsschule und dem Leadership Asset Approach deutlich. Während sich die strategische Führungsarbeit dieser Ansätze auf den Schritt der Strategieformulierung konzentriert, liegt die strategische Führungsarbeit im Sinne des LAA nicht weniger in der Strategieimplementierung. Nach diesem Verständnis vom Gesamtprozess der strategischen Führung sind die Ausrichtungsaktivitäten von den Gestaltungsaktivitäten (Ressourcen allokieren, aufbauen, sichern, optimieren) nur analytisch, nicht praktisch zu trennen. Denn die Ausrichtung auf ein unternehmerisches Ziel schließt in der praktischen Konsequenz auch immer die gezielte Beeinflussung von Ressourcen ein. Der Erfolg strategischer Führung ist demnach von der einfachen Formel: effektive Ausrichtung (Eingliedern unternehmerischer Aktivitäten in eine zielorientierte Handlungskette) plus effiziente Gestaltung (Allokation, Aufbau, Sicherung und Optimierung von Ressourcen) abhängig.182 Dies lässt sich bruchlos in die Sprache der oben diskutierten aktuellen Grundausrichtungen des strategischen Managements übersetzen: Die vom Markt her angestoßenen beziehungsweise abgeleiteten Strategien (Market-based View, Value-based View) erfordern zu ihrer Umsetzung die Entwicklung, Absicherung oder Verbesserung bestimmter Kompetenzen, Techniken oder Verfahren (Resource-based View).183 Greifen wir zur Verdeutlichung auf das oben angeführte Beispiel aus der Versicherungswirtschaft in den 1990er Jahren zurück, bedeutet dies: Um die strategische Neuausrichtung „zielgruppenspezifische Ausdifferenzierung des Produkts Kraftfahrzeugversicherung“ marktfähig leisten zu können, mussten durch diverse strategische Führungsaktivitäten u. a. die Datenerfassung, Kundensegmentierung, Verwaltungsprozesse und das Verkaufsverhalten optimiert werden. Die strategischen Gestaltungsaktivitäten untermauern die strategische Ausrichtungsarbeit somit durch die Sicherung eines marktfähigen Leistungsniveaus der Ressourcen und entscheiden dadurch wesentlich über den Markterfolg der strategischen Führungsarbeit. Die Berücksichtigung der strategischen Gestaltungsarbeit als unabdingbaren Bestandteil des Strategieprozesses (Implementierungsphase) kann auch dazu beitragen, gegen wirklichkeitsferne Führungsansätze zu immunisieren. Dies gelingt bisher nur mäßig, wie die Verbreitung zum Beispiel des transformationalen Leadershipansatzes und anderer moderner Great-Man-Mythen zeigt. 182 Aufgrund dieses Zusammenhangs ist die von Michael Porter geforderte Trennung von differenzierender Strategie und operativer Effektivität untragbar (vgl. Porter 1996b). 183 Auch Hinterhuber und Friedrich plädieren in ihrem strategischen Führungsansatz für eine vergleichbare Integration der markt- und ressourcenorientierten Ansätze (vgl. Hinterhuber / Friedrich 1999, 991-1018).
3.2 Strategische Führung
227
Die magisch-mystische Fixierung auf den „transforming hero“ (Binney & Wilke & Williams 2005, 25) lenkt bis heute erfolgreich davon ab, dass eine strategische Ausrichtung in eine mühsame strategische Gestaltung der Ressourcen übersetzt werden muss, um einen produktiven Beitrag für das Unternehmen zu sichern. Dass es aber genau an dieser Verknüpfung von Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit heute in den Unternehmen vielerorts mangelt, zeigen nicht nur Studien zur Strategieimplementierung (vgl. Kaplan & Norton 2001, 1), sondern auch Produktivitätsstudien (vgl. Abb. 60).
Reasons for lost productivity 2001
2002
2003
Cost of wasted labour by country
Insufficient management planning and control
43%
43%
41%
Australia $ 42.72bn or 10,4% of GDP
Inadequate supervision
22%
23%
26%
France $ 104bn or 7,3% of GDP
Poor working morale
14%
12%
11%
Germany $ 224.34bn or 11,3% of GDP
Inappropriately qualified workforce
6%
IT-related problems
8%
8%
7%
Ineffective communication
7%
7%
6%
7%
9%
UK $ 32.11bn or 10% of GDP US $ 1,067.96bn or 10,3% of GDP
Abb. 60: Die Bedeutung von strategischer Führungsarbeit für die Produktivität (Proudfoot Consulting, Oktober 2003)
Letztlich ist es eine größere, aber – wie im letzten Kapitel aufzuzeigen sein wird – keine unüberschaubare Zahl von Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten, die in den Phasen der Strategieformulierung und –implementierung zur strategischen Führungsleistung insgesamt beiträgt. In Abbildung 61 sind beispielhaft sowohl für die Strategieformulierung, als auch für die Strategieimplemtierung Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten angeführt, die Führungskräfte in ihren Verantwortungsbereichen mit einer hinreichenden Performance erbringen müssen.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Strategieformulierung (emergent & geplant)
Strategieimplementierung (emergent & geplant)
Ergebnisse der Strategiearbeit
Führungsaktivitäten
Führungsaktivitäten
• Entwicklung einer differenzierenden Strategie
• Antwortfindung auf Marktentwicklungen
• Sicherung der Kommunikation und Akzeptanz der formulierten Ziele
• Strategie wird mit Ressourcen und Handlungsprioritäten abgestimmt • ...
C A
B
• Nutzen von modernen Arbeits- und Organisationsformen, die Qualität, Flexibilität und Geschwindigkeit steigern, ggf. Kosten minimieren
• Wachstum • Profitabilität • Marktanteile • ...
• ...
D
im LAA
3.2.2.3 Geplante und emergente Führungsaktivitäten Im vorangegangenen Unterkapitel wurde mehrfach erwähnt, dass es weniger entscheidend ist, ob sich strategischen Führungsleistungen zunächstt geplant oder emergent vollziehen. Wichtiger ist, dass die Aktivitäten mit konkurrenzfähigem Ressourceneinsatz zur (gezielten) Beantwortung von Marktherausforderungen beitragen. Dieser gerade in Auseinandersetzung mit dem planungsorientierten und dem personifizierenden Paradigma relevante Aspekt zum Verständnis des LAA soll hier differenzierter behandelt werden. Oben im Text wurde skizziert, dass die planungsorientierte Paradigmagemeinschaft stark die verfahrenstechnischen, formalisierenden und strukturellen Aspekte im Fokus hat, wenn sie von strategischem Management oder strategischer Führung spricht. Die personifizierende Paradigmagemeinschaft hat hingegen einzelne (seltener: mehrere) Führungspersonen, ihre Eigenschaften, Rollen und Wirkungsmöglichkeiten im Blick, wenn sie das Thema strategische Führung bearbeitet. Entsprechend unterschiedlich sehen diese Paradigmagemeinschaften die Rollenverteilungen zwischen dem strukturierenden Manager
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3.2 Strategische Führung
und dem motivierenden Leader, wenn die intendierte strategische Führungsarbeit diskutiert und betrieben wird (vgl. Abb. 62): 184 Planungsorientierte Sichtweise Planungsorie
Leadership
Management
Personifiziere zierende Sichtweise
Management
Leadership
Abb. 62: Die intendierte strategische Führung aus planungsorientierter und personifizierender Sicht
Obgleich diese beiden Sichtweisen unterschiedliche Meinungen, Werte und Methoden vertreten, sind ihre Vertreter doch in der Regel deutlich den präskriptiven Schulen zuzuordnen, d. h., sie sind davon überzeugt, dass der strategische Führungsprozess weitgehend aus geplanten oder intuitiv-zielorientierten Willensakten (Voluntarismus) besteht. Der LAA teilt die Vorstellung, strategische Führung in Unternehmen könne und / oder müsse durchgängig als zielorientierter Planungsakt verstanden werden, nur begrenzt. Dort, wo im Sinne der obigen LAA-Definition von der geplanten Ausrichtung- und Gestaltungsarbeit in Performancebereichen gesprochen wird, ist gemeint, dass es der beharrliche Anspruch der gesamten Leadership Community eines Unternehmens sein muss, eine Organisation auszurichten und zu gestalten. Um die mit diesem beharrlichen Anspruch verbundenen Herausforderungen jedoch realistisch einzuschätzen, müssen die Wirkungszusammenhänge im strategischen Führungsprozess vollständiger erfasst werden. 184 Teilweise verläuft die Strategiearbeit aus Sicht der personifizierenden Paradigmagemeinschaft intuitiv und entzieht sich damit (oder: bedarf nicht) einer transparenten, nachvollziehbaren Planung.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Die strategischen Aktivitäten, so gut sie auch geplant sein mögen, treffen auf die immer schon vorhandene betriebliche Kultur, das heißt, sie werden im Wirkungsprozess durch andere Aktivitäten, die vorher platziert wurden, beeinflusst. Und, abhängig vom Lebensalter des Unternehmens, verschiebt sich das Kräfteverhältnis zwischen den strategischen Bemühungen der Führungskräfte und der etablierten Kultur zugunsten der letzteren. Das heißt die gealterte Organisation erschwert die geplante strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit. I. Adizes bringt diese für die strategische Führung entscheidende Verschiebung im Kräfteverhältnis zwischen Organisation und Führung unter der Fragestellung „Who leads whom?“ auf den Punkt: „The leaders of growing organizations animate the character of their organization with their behavior. In aging organizations, culture determines the style of leadership” (Adizes 1999, 138). Die von Adizes zusammengefasste Regelmäßigkeit für die Entwicklungsbeziehung von Führungskraft und Organisation verweist darauf, dass ein wirklichkeitsgerechter Begriff der strategischen Führung die wechselseitige Prägekraft von Individuum (Führungskraft) und Struktur (Unternehmen) abbilden muss. Etablierte Begriffe des strategischen Managements versperren zum Teil eher den Blick auf diesen dynamischen Wirkungszusammenhang von Individuum und Organisation, als ihn für die Analyse und Steuerung zugänglich zu machen. Dies gilt zum Beispiel für die von A. Chandler 1962 in die Diskussion eingebrachte Dichotomie Strategie versus Struktur (vgl. Chandler 1962). Bis in die 1990er Jahre zirkulierte die von Chandler angestoßene Diskussion, ob in der Praxis die Struktur häufiger der Strategie (Chandlers kritische Beobachtung) oder die Strategie der Struktur (u. a. Hitt / Ireland / Hoskission 1995, 309-311) folgt bzw. folgen sollte. Erst wenn die abstrakte Diskussion dieses Begriffspaars wieder auf diejenigen zurückgeführt wird, die Strategien entwickeln und umsetzen, nämlich die Führungskräfte und Mitarbeiter, dann löst sich auch das „abstrakte Rätsel“, ob die Strategie der Struktur oder die Struktur der Strategie folgt, auf. Denn es sind letztlich die denkenden, fühlenden und handelnden Führungskräfte und Mitarbeiter, die Unternehmen prägen und von diesen geprägt werden. Abhängig von der Reife des Unternehmens und seinem „strategischen Gedächtnis“ (Kultur), sind die entwickelten Strategien von den Führungskräften in die vorhandenen Strukturen mehr oder weniger schwer einzubringen, weil sie in der Regel von den eingeschliffenen Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards konterkariert werden. Durch diesen Blick auf die strategisch handelnden Menschen in den Unternehmensstrukturen ergibt sich jedoch ein Bild, dass nicht die Polarität von Strategie und Struktur zeigt, sondern eine dynamische Wechselwirkung offenlegt: Einerseits hinterlässt jede strategische Führungsaktivität einer Führungskraft Spuren im Unternehmen, das heißt, sie prägt Strukturen, Prozesse und Human-
3.2 Strategische Führung
231
ressourcen; andererseits ist das Führungshandeln aber auch mehr oder weniger determiniert durch die gewachsenen Strukturen, Prozesse und Humanressourcen. Daraus kann nicht geschlussfolgert werden, dass der Anspruch, geplante strategische Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeiten zu betreiben, grundsätzlich in der Konfrontation mit den etablierten Techniken, Strukturen, Prozessen und Kulturmustern aufgegeben werden muss. Jede Planungsaktivität am „grünen Tisch“185 muss jedoch gegenwärtig halten, dass strategische Führung im entscheidenden Schritt – der Implementierung – in eine umfangreiche Interaktion mit der bisherigen Geschichte der Organisation tritt. Die Versuche, die bisher geschaffene betriebliche Infrastruktur zu ignorieren, beantworten die etablierten Techniken, Strukturen, Prozesse und Kulturmuster, die immer durch konkrete Menschen repräsentiert werden, mit mehr oder weniger deutlichen „Gegenbewegungen“. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Effektivität geplanter strategischer Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit entscheidend dadurch bestimmt wird, wie konsequent die Einwirkung auf die etablierte betriebliche Infrastruktur ausfällt. Damit ist gemeint, dass konsequente strategische Führung die betriebliche Infrastruktur durchaus prägen oder radikal verändern, aber nicht unabhängig von ihr agieren kann. Das bekannteste Beispiel für diese Lesart aus den letzten Jahrzehnten ist die Leistung von Jack Welch. Welch entließ als CEO bei General Electric in den frühen 1980er Jahren 100.000 Mitarbeiter und verkaufte Unternehmensteile im Wert von 8,5 Milliarden US-Dollar (vgl. Tichy 1997, 9-22). Es ersparte ihm jedoch nicht die beharrliche Arbeit an der strategischen Infrastruktur, um die verbleibenden und neuen Ressourcen und Prozesse effektiv auszurichten und zu gestalten. Er erkannte dies früh und investierte in Crontenville, die erste und größte Unternehmensuniversität der Welt, jährlich bis zu 500 Millionen US-Dollar, um das „betriebliche Gedächtnis“ der Organisation zu bearbeiten. Diese „Doppelstrategie“ aus Prägen und Berücksichtigen der betrieblichen Infrastruktur führte GE unter Welch‘ strategischer Führung 1997 zu einem Marktwert von 230 Milliarden US-Dollar. Den zwei Seiten der effektiven strategischen Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit, nämlich der Berücksichtigung der Unternehmenskultur und der konsequenten Einwirkung auf dieselbe, kann nicht mit einem rein voluntaristischen Verständnis von strategischer Führung entsprochen werden. Gleichwohl versteht der LAA die geplanten Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten als notwendigen Anspruch, die Unternehmung zielorientiert zu entwickeln. Dieser 185 Die fragwürdige Vorstellung, man müsse die etablierte betriebliche Infrastruktur ignorieren, vertraten Hammer und Champy in ihrem einflussreichen Konzept des Reengineerings, indem sie die „Tabula rasa“ als eine hilfreiches Bild für den Umbau eines Unternehmens vermittelten (vgl. Champy 1995).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
reflektierte Voluntarismus steht für eine realistische Sicht auf den notwendigen Gestaltungsanspruch der Führungskräfte und der gleichzeitigen Berücksichtigung der Rahmenbedingungen, in denen diese Leistungen erbracht werden müssen. Er verweist auf der einen Seite auf die vielfachen Abhängigkeiten der strategisch handelnden Führungskraft von anderen Akteuren und deren Prägekraft (betriebliche Infrastruktur), sieht aber andererseits die Möglichkeit, durch den Einsatz diverser Führungstechniken (z. B. von motivatorischen Instrumenten bis hin zur Herstellung von Alignment über strukturelle Aktivitäten) die Performancebereiche des Unternehmens zu managen. Um letztlich eine hinreichende strategische Einwirkung auf die betriebliche Infrastruktur zu entfalten, müssen die Führungskräfte über ausgeprägte Leistungsfähigkeiten zur Ausrichtung und Gestaltung verfügen. Auch wenn diese Wirkungszusammenhänge der strategischen Führung schon aus der planungsorientierten Perspektive komplex erscheinen mögen, sind damit keinesfalls die relevanten Prozesse vollständig skizziert. Eine Vielzahl strategisch relevanter Aktivitäten, die den unternehmerischen Prozess ähnlich stark beeinflussen wie die geplanten strategischen Führungsaktivitäten, kann als emergenter Teil des strategischen Gesamtprozesses bezeichnet werden. Dabei charakterisiert der Begriff „emergent“ (lat. Emergo: auftauchen machen od. lassen; bildlich aus dem Dunkel emporkommen, zum Vorschein kommen, vgl. Heinichen 1881, 289) diese Aktivitäten des strategischen Gesamtprozesses treffender als die Begriffe ungeplant, nicht intendiert oder zufällig. Denn die vielen Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten mit strategischer Relevanz, die von Führungskräften oder Mitarbeitern in Unternehmen geleistet werden, können nur aus einer autokratischen Sicht als nicht überlegt, ungeplant oder gar zufällig bezeichnet werden. Wie das oben beschriebene Beispiel aus der deutschen Versicherungswirtschaft verdeutlicht, können diese emergenten Strategien durchaus den geplanten vorausgehen bzw. diese befördern. Ein Unternehmensbeispiel und eine Grafik von Henry Mintzberg können ergänzend dazu dienen, das Zusammenfließen von geplanten und emergenten Strategien zu verdeutlichen: „ ‘In four years [Lou] Gerstner has added more than $ 40 bn to IBM’s share value’, proclaimed Fortune magazine in 1997. All by himself! (…) According to one report, IBM got into e-business because a programmer with an idea conveyed it to a staff manager with more insight than budget, and he stitched together a team that drove the change. And what role did Mr Gerstner play? When he eventually heard about the initiative, he encouraged it. That’s all. Instead of setting direction, he supported the direction setting of others” (Mintzberg 2004, 8). Diese kurze Geschichte zeigt den nicht untypischen Prozess, dass die strategische Ausrichtung – hier bei IBM, das E-Business als Geschäftsausrichtung aufzugreifen und auszugestalten – weniger top-down geplant, sondern eher
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3.2 Strategische Führung
emergent entsteht. Wie in den Erläuterungen und Beispielen aufgezeigt, scheint es insgesamt angemessener, den strategischen Führungsprozess als ein dynamisches Ineinandergreifen von geplanten und emergenten Aktivitäten zu sehen, die sich – bestenfalls – in eine wettbewerbsrelevante Richtung kanalisieren (lassen) (vgl. Abb. 63). Dabei kann weder den geplanten noch den emergenten Führungsaktivitäten unterstellt werden, dass sie per se eine produktive Wirkung erzielen und zur Wettbewerbsfähigkeit beitragen (vgl. Mintzberg 1994). Gerade emergente Führungsaktivitäten in großen Unternehmen weichen häufiger von den geplanten Strategien ab. Wenn dies geschieht, sind diverse Leadershipleistungen (vgl. Lern- und Machtschule) gefragt, um einen effizienten Umgang mit den Ressourcen zu sichern.
Deliberate Strategy Intended Strategy
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Unabhängig von diesen divergenten Tendenzen der emergenten strategischen Führungsaktivitäten schaffen diese Aktivitäten betriebliche Potenziale, deren Performance und Zusammenwirken mit den anderen Führungsaktivitäten letztlich über die Antwortfähigkeit des Unternehmens auf die Anforderungen des Marktes entscheiden (vgl. Bower & Gilbert 2007).
3.2.2.4 Potenziale Auch wenn strategische Führung im Sinne des LAA nicht nur Ausrichtungsaktivitäten, sondern auch konkretisierende Gestaltungsarbeit (Allokation, Aufbau, Sicherung, Optimierung von Ressourcen) umfasst, schafft sie dadurch in der Regel keinen direkten betrieblichen Output, sondern erzeugt zunächst die Potenziale hierzu. Dieser Zusammenhang, der traditionell von dem oben beschriebenen planungsorientierten Paradigma unterschätzt wird, ist grundle-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
gend für den strategischen Führungsbegriff des LAA.186 Grundlegend deshalb, weil bei der Leistungsbeurteilung und Entwicklung der strategischen Führung nicht übersehen werden darf, dass strategische Führungsaktivitäten mit einer variablen Zeitverzögerung ihre operative Wirkung entfalten. Um die Potenziale der strategischen Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten genauer verstehen und erfassen zu können, müssen daher folgende Aspekte berücksichtigt werden: Das Wirkungspotenzial strategischer Führungsleistung lässt sich auf zwei Wegen bestimmen. Erstens, indem das Leistungsniveau der Führungsaktivitäten mit denen in wissenschaftlich fundierten Performancestudien als Benchmarks herausgearbeiteten Führungsaktivitiäten abgeglichen wird. Das Leistungsniveau der Führungsaktivitäten kann als Frühindikator (Leistungstreiber) für eine zu erwartende betriebliche Performance gelesen werden. Der zweite Weg, die strategischen Führungsleistungen einzuschätzen, konzentriert sich darauf, mit Kennzahlen zu erfassen, wie konsequent strategische Führungsaktivitäten ausrichtend und gestaltend in die betrieblichen Wertschöpfungskette eingreifen. Über die so angelegte Kombination von Früh- und Prozessindikatoren lässt sich erfassen, inwieweit eine Organisation über die strategischen Führungsaktivitäten konkurrenzfähige Potenziale schafft und inwieweit diese schon entsprechenden betriebswirtschaftlichen Nutzen generieren. Die indirekte Wirkung und das komplexe Zusammenspiel strategischer Führungsaktivitäten ermöglicht es jedoch nicht, die Performance strategischer Führungsleistungen einzelner Führungskräfte über klassische Spätindikatoren (Ergebniskennzahlen) abzubilden. Strategische Führungsaktivitäten wirken immer im unternehmensspezifischen Kontext. Damit können selbst Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten, die in einem Unternehmen deutlich zu einer Ergebnissteigerung beitragen, in einem anderen Unternehmen von geringer Bedeutung sein. So ist zum Beispiel die Initiative, mit ausgeprägter Konsequenz an einem gemeinsamen Verständnis und der einheitlichen Ausrichtung an einer formulierten Strategie (strategic alignment) zu arbeiten, in einem älteren, bürokratisch gewordenen Unternehmen für eine Neuausrichtung erfolgsentscheidend. Für ein junges Unternehmen, das sich in der Aufbauphase befindet und über eine Produktidee und einen klar formulierten Marktzugang verfügt, ist die notwendige strategische Ausrichtung in der Regel gegeben und bedarf keiner zusätzlichen strategischen Ausrichtungsarbeit. Hier würden vergleichbare Ausrichtungsund Gestaltungsaktivitäten wie in einem älteren, bürokratischen Unterneh186 Wäre den Vertreter der planungsorientierten Ansätze der „Potenzialcharakter“ strategischer Führung hinreichend bewusst, würden sie der Implementierungsthematik mehr Gewicht beimessen.
3.2 Strategische Führung
235
men wahrscheinlich wenig Akzeptanz finden. Diese unternehmensspezifische Relevanz strategischer Führungsaktivitäten, die besonders davon abhängt, in welcher Lebensphase sich das Unternehmen befindet, aber auch in welcher Branche es sich bewegt und welchen strategischen Fokus es gewählt hat, spielt für die Einschätzung des Wirkungspotenzials von strategischen Führungsaktivitäten eine gewichtige Rolle. Dass diese unternehmensspezifische Gewichtung der strategischen Führungsaktivitäten nicht selbstverständlich ist, belegen seit zwei Jahrzehnten die empirischen Studien auf Grundlage des Upper-Echelon-Ansatzes. Diese Studien zeigen, dass obere Führungskräfte ihre strategischen Führungsaktivitäten häufig nicht nach den unternehmensspezifischen Notwendigkeiten ausrichten, sondern ihrer intellektuellen und frühen beruflichen Schwerpunktbildung (z. B. Vertriebs-, Controlling- oder Mitarbeiterschwerpunkt) folgen (vgl. Finkelstein / Hambrick 1996). Durch diese sozialisierte Fokussierung werden dann wichtige „Potenzialhebel“ der strategischen Führung in dem jeweiligen Unternehmen häufig nicht genutzt. Schließlich ist für das Verständnis des Potenzialcharakters strategischer Führung aus Sicht des LAA wichtig, dass einzelne Führungsaktivitäten ihre Potenziale in der Regel im Zusammenspiel mit anderen Ausrichtungsund Gestaltungsaktivitäten entfalten. Die Entwicklung einer ausgefeilten Kundendatenbank einzuleiten stellt zum Beispiel für sich genommen kaum einen besonderen Werthebel dar. Erst wenn darauf fußend eine wertschöpfungsorientierte Kundensegmentierung, ein damit abgestimmtes Provisionssystem für die Verkäufer und ein effektiver Informationsfluss zwischen Innen- und Außendienst sichergestellt werden, kann man davon ausgehen, dass die strategischen Führungspotenziale in der Kombinatorik auch Wirkungskraft entfalten. Der hier dargestellte Potenzialcharakter strategischer Führung bildet einen begrifflichen Kern des LAA. Dieses Charakteristikum des strategischen Führungsbegriffs wird von Bea und Haas treffend zusammengefasst: „Sie (die strategische Führung, Anm. des Autors) stellt die Voraussetzung für die Entwicklung, Pflege und Nutzung operativer Kompetenzen dar, ist somit auf einer übergeordneten Ebene angesiedelt und kann daher auch als Metakompetenz bezeichnet werden“ (Bea / Haas 2001, 505).
3.2.3 Vom strategischen zum operativen Führungsbegriff des LAA In dem Kapitel zum Begriff der strategischen Führung wurde aufgezeigt, dass sich nach Henry Mintzberg die Strategieforschung zur Schaffung von Übersichtlichkeit in zehn Strategieschulen aufteilen lässt. Die unterschiedlichen Perspektiven der Strategieschulen haben nach Mintzberg einen einfachen Grund:
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
„It is a curiosity of the management literature that its best-known writers all seem to emphasize on particular part of the manager’s job to the exclusion on the other” (Mintzberg 1996, 19). Aus diesen partikularen Blickwinkeln speisen sich die unterschiedlichen Verständnisse von strategischer Führung. Mit den Kategorien „präskriptiv“ (eher voluntaristisch) und „deskriptiv“ (eher deterministisch) gelingt Mintzberg eine erste Clusterung der unterschiedlichen Strategieschulen und Begriffsverständnisse. Ergänzend zu Mintzbergs Systematisierungsversuch wurden die Sichtweisen strategischer Führung vorgestellt, die als etablierte Grundausrichtungen des strategischen Managements bezeichnet werden können. Auch zu diesen Grundausrichtungen, nämlich dem Value-based View, Market-based View und Ressource-based View, gibt es diverse Varianten, die andere Schüsselbegriffe für die strategische Führung verr wenden. Wie eingangs begründet, ist es im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht sinnvoll, diese Begriffsvarianten der Grundausrichtungen ausführlich zu diskutieren. Statt der weiteren Auflösung der Grundausrichtungen in Begriffsvarianten und Detailfragen wurde im Fortgang des Kapitels begründet, warum sich die vorgestellten Schulen und Grundausrichtungen der strategischen Führung drei Paradigmagemeinschaften zuordnen lassen. Diese Paradigmagemeinschaften, die planungsorientierte, die personifizierende und die sozio-ökonomische, stehen jeweils für bestimmte Erklärungsmuster, das heißt, sie bilden Interpretations- und Verwendungsgemeinschaften. Vor dem Hintergrund der systematisierenden Sichtung der Verständnisse und Begriffe der strategischen Führung wurde anschießend der strategische Führungsbegriff des LAA vorgestellt. Demnach konkretisiert sich strategische Führung in Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten, die klar auf ein marktorientiertes Ziel beziehungsweise die Beantwortung von Marktherausforderungen gerichtet sind und hierzu ein hinreichendes Leistungsniveau der vorhandenen Ressourcen (Mitarbeiter, Techniken, Prozesse, Organisation) sichern. Nach dieser Definition beschäftigt sich die strategische Ausrichtungsarbeit (z. B. Formulierung und Kommunikation von Vision und Strategie, Kultursteuerung) und Gestaltungsarbeit (Schaffung technischer, prozessuraler und organisatorischer Rahmenbedingungen) mit personalen und strukturellen Aufgaben. Wie im nächsten Kapitel aufgezeigt wird, gilt dies auch für die operative Führung. Zwar stehen hier interaktive Führungsaufgaben im Mittelpunkt, aber die finanziellen, qualitätssichernden und planenden Führungsaufgaben können nicht vernachlässigt werden. Die in der deutschsprachigen Führungsforschung häufig verwendete Unterscheidung von struktureller und interaktiver Führung ist folglich generell nützlich, wird aber hier nicht als Grundmodell übernommen (vgl. Wunderer 2003, 75; Neuberger 2002, 450ff.). Neben der angeführten Begründung für die hier bevorzugte Unterscheidung zwischen strategischer und operativer Führung
3.2 Strategische Führung
237
soll ergänzend darauf hingewiesen werden, dass die Trennung von struktureller / indirekter und interaktiver / direkter Führung den Theoretisierungseffekt begünstigt, strukturelle Führung von interaktiven Prozessen zu entkoppeln. Personale Führung wird diesen Vorstellungen zufolge schnell zur „Feuerwehrübung“, die nur benötigt wird, wenn die strukturelle Steuerung versagt. „Das hat Luhmann dazu bewegt, die Institution der personalen Führung als ‘Lückenbüßer der Organisation’ zu etikettieren: nur wenn die ansonsten err folgreiche ‘same procedure as every year’ nicht funktioniert, muss interveniert werden“ (Neuberger 2002, 43).187 Wichtige Funktionen der operativen Führung unter der Kategorie „Lückenbüßers“ zu subsumieren, ist aus Sicht des LAA wirklichkeitsfern. Folgt man der oben im Text zitierten Studie des Gallup Institutes zur Produktivität von Wissensarbeitern, spräche viel dafür, die Luhmannsche Theorie der Substitution direkter Führung durch Strukturen und Prozesse eher durch eine Theorie der Substitution indirekter Führung durch interaktive Leistungen zu ersetzten (vgl. Buckingham & Coffman 1999; Wunderer 2003, 315-318). Diese abgrenzende Polarisierung von struktureller und personeller Führung wird den Anforderungen an die strategische und operative Führung in den Unternehmen jedoch nicht gerecht. So wie die strategische Führung sich darüber beweisen muss, dass sie die Determinanten des strategischen Wettbewerbs für das Geschäft entziffert und in strukturelle und personelle Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten für das Unternehmen übersetzt, muss die operative Führung sicherstellen, dass die zur Verfügung stehenden Ressourcen effizient und effektiv genutzt werden. Anknüpfend an die Diskussion des strategischen Führungsverständnisses des LAA soll auf den folgenden Seiten herausgearbeitet werden, welches Verständnis von operativen Führungsleistungen im Leadership Asset Approach vertreten wird und wie im Sinne dieses Ansatzes die wichtigsten Funktionen der operativen Führung abgeleitet werden können. Um den Nutzen des LAA als Orientierungsrahmen für die Führung in Unternehmen zu verdeutlichen, wird bei der Behandlung der operativen Führung die systematische Ausarbeitung der wichtigsten Führungsfunktionen und deren Verknüpfung mit den performancerelevanten Mindsets dargelegt.
187 Berücksichtigt man zu Beispiel die wichtigen kommunikativen Führungsleistungen, die von Führungskräften besonders in Veränderungsprozessen zu leisten sind, stellt sich die Frage, ob Luhmanns Sicht der personalen Führung als „Lückenbüßer“ im Sinne der oben angeführten „Upper-Echelons-Theory“ eher seine frühe berufliche Prägung in der öffentlichen Verwaltung widerspiegelt als dem Anspruch gerecht zu werden, die Realitäten in modernen Unternehmen abzubilden.
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3.3
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Operative Führung188
3.3.1 Begriffe und Ansätze Im Kapitel zur strategischen Führung wurde das breite Spektrum aus Definitionen und Theorien über mehrere Schritte für die Verarbeitung im LAA erschlossen. Auch das Forschungsfeld der operativen Führung bietet eine große Zahl an Definitionen, Hypothesen, Modellen und Theorien. Im Vergleich zur strategischen Führungsforschung, die sich seit den 1970er Jahren in identifizierbaren Schulen und Grundausrichtungen entwickelt hat, vermitteln die Beiträge zur operativen Führung eher das Bild eines losen Bündels diverser Hypothesen, Modelle, Theorien und Moden. Teile dieses Forschungssammelsuriums wurden in dieser Arbeit schon in dem Kapitel zur Führungspersönlichkeit diskutiert. Die Zahl der Theorien und Modelle, die mit dem hier angelegten Verständnis der operativen Führung in Verbindung gebracht werden können, ist jedoch deutlich größer als die in dem Kapitel zur Führungspersönlichkeit thematisierten Ansätze. Wolfgang H. Staehle merkt in seinem Standardwerk zur aktuellen verhaltenswissenschaftlichen Managementforschung an: „Vielmehr kann derzeit von einer fast unüberschaubaren Theorievielfalt die Rede sein – und die meisten Ansätze bieten ihre spezifischen Einsichten und Erkenntnisse in bzw. für das Management in und von Organisationen“ (Staehle 1999, 66). Neben den Arbeiten mit einem wissenschaftlichen Anspruch gab es in den letzten Jahrzehnten eine stark wachsende Zahl von Veröffentlichungen zu unterschiedlichen Themen (zum Beispiel zur Delegation, Kommunikation, Selbstmanagement, Veränderungsmanagement, Verhandlungsführung), die sich (auch) der operativen Führung zuordnen lassen. Diese Veröffentlichungen zu Führungsthemen folgen keiner Forschungssystematik, sondern sind häufig von aktuellen Managementmoden oder „busswords“ (Coaching, Diversity, Wissensmanagement usw.) beeinflusst. Der Anspruch, etablierte Erkenntnisse zur operativen Führung bei der Entwicklung des LAA zu nutzen, muss folglich auf einem noch unübersichtlicheren Feld eingelöst werden, als dies schon für die Aufbereitung der strategischen Führungsforschung festgestellt wurde. Eine wissenschaftliche Hilfestellung gibt es hauptsächlich in Form von fundierten Zusammenfassungen der bekanntesten 188 Wie dies bis in die 1960er Jahre auch für die Kategorie „strategische Führung“ galt, wird die Wendung „operative Führung“ in der deutschprachigen Managementliteratur bis heute wenig genutzt (vgl. Drucker 1993, vii). Im neuen St. Galler Management-Modell, das von Rüegg-Stürm erstmals 2002 veröffentlicht wurde, ist das „operative Management“ / die „operative Führung“ jedoch eine Schlüsselkategorie (vgl. Rüegg-Stürm 2003, 64-79). Üblich ist die Wendung heute auch im militärischen Bereich. Hier wurden 1999 die „Operativen Leitlinien für den Einsätze der Streitkräfte“ formuliert (vgl. C. Millotat 2003, 63).
3.3 Operative Führung
239
Definitionen und Theorien unter dem Begriff der Mitarbeiterführung. Die systematischen Übersichten zum Beispiel von Oswald Neuberger und Rolf Wunderer decken sich zwar nicht mit der Aufteilung des LAA in persönliche, strategische und operative Führung, sie bieten aber – wie Mintzbergs Strategieschulen zur strategischen Führung – heuristische Raster, die den gedanklichen Weg durch die unübersichtliche Landschaft der Führung erleichtern.189 Beide Autoren gliedern ihre Aufbereitungen des Führungsthemas in ausgewählte Perspektiven / Themen einerseits und die Diskussion von Führungstheorien andererseits (vgl. Neuberger 2002; Wunderer 2003). Einige von den beiden Autoren diskutierte Perspektiven / Themen werden weiter unten im Text behandelt. Zunächst werden jedoch eine Zusammenstellung von Definitionen und eine Systematisierung von Theorien dieser Autoren genutzt. Dieser Einstieg über die Arbeiten Neubergers zum Führungsbegriff und anschließend über die Übersicht zu den Führungstheorien nach Wunderer ist sinnvoll, da es eine große Schnittmenge zwischen dem operativen Führungsbegriff des LAA und dem aufbereiteten Material der Autoren gibt. Diese Schnittmenge oder konzeptionelle Nähe ergibt sich im Wesentlichen dadurch, dass sich die von Neuberger zusammengestellten Definitionen und die von Wunderer in eine Systematik gefassten Theorien wesentlich auf die Mitarbeiterführung beziehen: Oswald Neuberger hat in seinem über mehrere Auflagen erweiterten Werk „Führen und führen lassen“ 38 Definitionen zur Führung zusammengetragen.190 Zehn dieser Definitionen werden hier in einer chronologischen Folge wiedergegeben, und um eine weitere aktuelle ergänzt. Durch die Kursivschrift, die in die Zitate eingefügt wurden, werden die Kernbotschaften herausgehoben. „Führung [ist] der Prozess der Beeinflussung der Aktivitäten einer organisierten Gruppe in Richtung auf Zielsetzung und Zielerreichung“ (Stogdill 1950,4). „… organisatorische Führung besteht aus Unsicherheitsreduktion“ (Bavelas 1960, 492). Führung ist jede zielbezogene, interpersonelle Verhaltensbeeinflussungg mit Hilfe von Kommunikationsprozessen“ (Baumgarten 1977, 9). „Führung von Menschen wird ausgeübt, wenn Personen mit bestimmten Motiven und Zielen im Wettbewerb oder im Konflikt mit anderen die institutionellen, politischen, psychologischen und anderen Ressourcen so mobilisieren, so dass sie die Motive der Geführten wecken, verpflichten und befriedigen“ (Burns 1978, 18). 189 Zusammenfassung von Führungstheorien aus unterschiedlichen Perspektiven bieten auch: Hentze & Kammel & Lindert 1990, 113-642; Staehle 1999, 22-69; Weibler 2001; Möslein 2005, 9-112; Steinle 2007, 570-582. 190 Vgl. für den englischsprachigen Raum: Sadler 2003, 5-7.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
„Führung wird aufgefasst als Beeinflussung der Einstellungen und des Verr haltens von Einzelpersonen sowie der Interaktion in und zwischen Gruppen, mit dem Zweck, gemeinsam bestimmte Ziele zu erreichen. Führung als Funktion ist eine Rolle, die von den Organisationsmitgliedern in unterschiedlichem Umfang und Ausmaß wahrgenommen wird“ (Staehle 1980, 338). „Führung in Organisationen: Zielorientierte soziale Einflussnahme zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben in/mit einer strukturierten Arbeitssituation“ (Wunderer & Grunwald 1980, Bd. I, 62). „Führung soll heißen, Anweisungen zu geben, die befolgt werden, weil die Untergebenen sich mit ihnen identifizieren“ (Baecker 1994, 32). „Führungsaktivitäten wären dann definitorisch alle Aktivitäten, die der Koordination von Zielen und Mitteln in Gruppen und Organisationsformen dienen“ (Scholl 1995, 1753). „Man könnte sagen, dass Führungskräfte Energien zu managen haben. Tatsächlich besteht ihre Hauptaufgabe darin, den effektivsten Weg zu finden, um die in ihren Organisationen dominierende Energie in den Dienst eines gemeinsamen Ziels zu stellen“ (Kets de Vries 1998, 177). „Ein Führer ist jemand, der Menschen dazu bringt, Dinge zu schaffen, die sie allein nicht schaffen würden“ (Simon 2004, 38). Neuberger bietet eine differenzierte Analyse der 38 Definitionen (vgl. Neuberger 2002, 15-47).191 Er stellt auch die Frage, „ob es exklusive Führungshandlungen gibt, also Handlungen, die nur von Führungskräften ausgeführt werden können / dürfen und durch die sich jemand eindeutig als Führende(r) qualifiziert“ (ebenda, 32). Schließlich arbeitet er aus den Führungsdefinitionen 27 Prädikate heraus, die Führung handlungstheoretisch beschreiben. Da auch der LAA als handlungstheoretischer Ansatz charakterisiert werden kann, sollen die in diesem Sinne von Neuberger aus den Definitionen herausgefilterten Prädikate hier angeführt werden: „informieren, kommunizieren, Richtung weisen, (Verhalten und / oder Wahrnehmung) steuern, Interaktionen strukturieren, zielorientiertes Verhalten auslösen, instruieren, motivieren, lenken, energetisieren, beeinflussen, begeistern, initiieren, (auf Ziele) ausrichten, modifizieren, Konflikte handhaben, Probleme lösen, Konsens erreichen, Zielübereinstimmung herstellen, fordern und fördern, sich durchsetzten, koordinieren, strukturieren, konditionieren, mobilisieren, übereinstimmende Interpretationen herstellen“ (ebenda, 33). 191 Einen anderen Ansatz zur Analyse und Differenzierung anglo-amerikanischer und deutscher Führungsdefinitonen bietet Claus Steinle (vgl. Steinle 1995, 523-533).
3.3 Operative Führung
241
Eine ergänzende Sichtung der von Neuberger zusammengetragenen Definitionen zeigt, dass nur die Festlegung von Führung als „zielorientierte Verhaltensbeeinflussung von Menschen“ sich in der Hälfte der Definitionen (in 19 von 38) wiederfindet. Insgesamt unterstreichen die Vielzahl der von Neuberger in den Führungsdefinitionen identifizierten Prädikate und die Beobachtung, dass nur die „zielorientierte Verhaltensbeeinflussung“ von einer Mehrzahl der Autoren übereinstimmend für ein wesentliches Charakteristikum der Führung gehalten wird, Neubergers Schlussfolgerung: „Ohne ein theoretisches Paradigma bleiben Definitionen beliebig und können bestenfalls stilistisch (Sind sie elegant, verständlich, ästhetisch, vollständig?) oder konventionalistisch (Entsprechen sie verbreitetem Gebrauch?) kritisiert werden. Theoretisch nicht verankerte Ausführungen bleiben abstrakt, so als gälten sie universell, ohne Bezugnahme auf eine bestimmte Praxis oder Forschungstradition“ (ebenda, 46). Diese Schlussfolgerung Neubergers leitet über von der Zusammenstellung von Definitionen zur Mitarbeiterführung hin zu einer Systematisierung von Führungstheorien, die Wunderer vorgelegt hat. Diese Theorien zur Mitarbeiterführung, die Wunderer vor dem Hintergrund seiner zentralen Führungsdimensionen der strukturell-systemischen (indirekte) und personal-interaktiven (direkte) Führung als besonders bedeutsam identifiziert (vgl. Wunderer 2003, 273), ordnet er nach folgenden Überlegungen: „Die hier ausgewählten Theorien sind in einem Bezugsrahmen zusammengefasst. Dieser differenziert – in Abhängigkeit vom jeweiligen Fokus der Betrachtung (Person, Position, Interaktion oder Situation) – zwischen vier zentralen Beschreibungs- und Erklärungsansätzen. Die Zuordnung der einzelnen Theorien zu einer der vier Kategorien erfolgt anhand ihrer schwerpunktmäßigen Ausrichtung. Dabei ergeben sich häufiger Parallelen und Überschneidungen. In einigen Fällen wäre auch eine Mehrfachnennung angebracht“ (ebenda, 273f.) (vgl. Abb. 64). Bei dem Vergleich der in Wunderers Systematik erfassten Ansätze mit den in den Kapiteln zur Führungspersönlichkeit und strategischen Führung diskutierten Ansätze, Schulen, Grundausrichtungen und Paradigmagemeinschaften fällt auf, dass es auch hier vielfach Überschneidungen gibt. Dies gilt besonders für Theorien, die Wunderer unter den Kategorien „Person“, „Situation“ (hier: „Makroansätze“) und „Position“ (hier: „Machttheorie“) behandelt. Wie sich der Leadership Asset Approach zu diesen Führungsansätzen verhält, wurde in den Kapiteln zur Führungspersönlichkeit und zur strategischen Führung zum Teil erläutert. Um trotz dieser Überscheidungen mit den in der LAA-Systematik diskutierten Ansätzen, die nach Wunderer besonders breit rezipierten Führungstheorien bei der Klärung des operativen Führungsverständnisses des LAA und der in diesem Sinne performancere-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Situation
Makroansätze Mikroansätze Evolutionsansätze Reifegradtheorie Kontingenztheorie Systemansätze Substitutionstheorie
Interaktion
Ideosynkrasie-KreditTheorie Dyadentheorie
Position
Person
Rollentheorie Machttheorie Ökonomische Theorie Property-Rights-Theorie Principal-Agent-Theorie Transaktionskostentheorie
führerzentriert Eigenschaftstheorie Charisma-Theorie Tiefenpsychologische Theorie Entscheidungstheorie
geführtenzentriert Weg-Ziel-Theorien Attributionstheorien Lerntheorien
Abb. 64: Die Führungstheorien – ein Bezugsrahmen (Wunderer 2003, 274)
levanten operativen Führungsaktivitäten zu beachten, wird im Folgenden selektiv auf die Sammelkategorien (Situation, Person, Interaktion, Position) sowie die zugeordneten Theorien Bezug genommen. Die Erschließung der operativen Führung aus Sicht des LAA erfolgt demnach nicht über einen systematischen Abgleich mit den von Wunderer angeführten Theorien, sondern in zwei thematisch orientierten Arbeitsschritten: Erstens werden grundlegende Aspekte der operativen Führungg beleuchtet, da diese Sichtweisen wesentlich bestimmen, was von einer Führungskraft wie im operativen Geschäft erwartet und getan wird. Um bei der Bear-
3.3 Operative Führung
243
beitung grundlegender Führungsfragen die LAA-Positionen klar benennen und begründen zu können, werden diese Aspekte in Form von Thesen und Erläuterungen behandelt. Zweitens werden die wichtigsten operativen Führungsfunktionen aus Sicht des LAA beschrieben. Die Beschreibung erfolgt auf einem Integrationsniveau, das eine handlungsorientierte Kopplung an die Funktionen der Mindsets ermöglicht. Ob und wie diese Führungsleistungen erbracht werden, entscheidet letztlich über eine effiziente und marktorientierte Nutzung der Unternehmensressourcen. In beiden Arbeitsschritten werden neben den Bezügen zu den von Wunderer angeführten Ansätzen auch die Argumentationslinien des LAA, die in den Kapiteln zu den performancerelevanten Mindsets und der strategischen Führung angelegt wurden, wieder aufgegriffen.
3.3.2. Grundlegende Aspekte der operativen Führung Als grundlegende Aspekte der Führung in Unternehmen werden hier verstanden: das Menschenbild, die Gestaltungen von sozialen Beziehungen und der Umgang mit dynamischen Interdependenzen. Diese grundlegenden Aspekte der (operativen) Führung bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln der Führungskräfte im Alltag. Sie prägen die vielfältigen Führungsaktivitäten, ohne dass eine Führungskraft dies im Alltagsgeschehen ständig reflektieren könnte. Auch in den Führungstheorien konkretisieren sich diese Aspekte in Grundannahmen und beeinflussen Schlussfolgerungen (vgl. Staehle 1999, 191196). Zudem bestimmen diese in den Führungstheorien vertretenen Sichtweisen entscheidend die Akzeptanz der Theorien in unterschiedlichen Zielgruppen (Paradigmagemeinschaften) und beeinflussen maßgeblich, wie wirklichkeitsgerecht die Orientierungshilfen letztlich sind. Sicher sind die hier diskutierten grundlegenden Aspekte gleichfalls für die strategische Führung relevant. Da die operative Führung jedoch im Wesentlichen aus dem direkten Umgang mit Menschen besteht, ist es sinnvoll, die in den vorangehenden Kapiteln schon beiläufig angeführten Positionierungen des LAA zu diesen Themen nochmals ausführlicher zu behandeln.
3.3.2.1 Führung von Menschen Operative Führung ist besonders in Wissensunternehmen192 nur effizient und 192 Folgt man den Untersuchungsergebnissen der Gallup Organization, die in ihren Befragungen die Meinungen von einer Millionen Mitarbeitern aus unterschiedlichen Branchen erfasst hat, dann spricht viel dafür, dass diese These nicht nur für Wissensunternehmen, sondern für Organisationen moderner Wissensgesellschaften insgesamt formuliert werden kann (vgl. Buckingham & Coffman 2001).
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effektiv, wenn sie die wichtigste Funktion in der professionellen Einbindung von Menschen in eine gemeinsame Zielverfolgung sieht. Zur Erläuterung dieser These sollen zwei Aspekte differenziert behandelt werden: Erstens wird thematisiert, wie grundlegend Menschenbilder das Verständnis von Führung in Theorie und Praxis bestimmen.193 Nach der Klärung dieser Frage wird zweitens reflektiert, warum besonders in Wissensunternehmen die Kernherausforderung der operativen Führung in der professionellen Einbindung von Menschen besteht. Die Behandlung des ersten Aspektes kann mit einer etablierten Erkenntnis der Führungsforschung eingeleitet werden: „Beinahe jede Bemühung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften oder in der Psychologie beinhaltet letztlich eine große Zahl von Annahmen über die Natur des Menschen. Jede psychologische und soziologische Theorie, jedes Führungs- und Organisationsmodell reflektiert diese Einstellungen und Überr zeugungen in vielfältiger Weise“ (Weinert 1995, 1498). Auch wenn diese grundsätzliche Erkenntnis kaum noch bestritten wird, heißt dies nicht, dass die Reflexion über ein wirklichkeitsgerechtes Menschenbild in der Führungsforschung soweit gediehen ist, dass es zu einem homogenen Menschenbild geführt hätte. Bisher lässt sich eher beobachten, dass die vorherrschenden Menschenbilder auch in der Führungsforschung (vom tayloristischen bis zum postmaterialistischen Menschenbild) den Zeitgeist widerspiegeln (vgl. ebenda, 1499; Staehle 1999, 193). Keinesfalls bedeutet dies jedoch, dass ältere Menschenbilder, die in den Führungstheorien explizit wurden, heute in Theorie und Praxis nicht mehr anzutreffen wären. Vielmehr konnte zum Beispiel Weinert in einer empirischen Studie 1984 zeigen, dass sich auch 24 Jahre nach der Veröffentlichung des dualistischen Ansatzes von McGregor (Theorie X und Y; vgl. Abb. 65), die scheinbar differenzierr ten Grundbilder vieler Führungskräfte klar in positive und negative Menschenbilder aufteilen lassen. Insofern hat Weinert eine empirische Bestätigung der dualistischen Theorie von McGregor aus den 1960er Jahren geliefert (vgl. Staehle 1999, 196). Doch nicht nur in den Köpfen von Führungskräften wirken Menschenbilder, die zwischenzeitlich als simplifizierend und veraltet bezeichnet wurden. In der modernen Führungsforschung, die sich heute im Kern mit der Führung von Wissensarbeitern auseinandersetzen sollte, lassen sich Menschenbilder finden, die Taylors industriellem Menschenbild des frühen 20. Jahrhunderts entsprechen (vgl. Neuberger 2002, 79). Welche theoretischen Konsequenzen dieses tayloristische Menschenbild impliziert, lässt sich an den von Wunderer unter der Kategorie „Position“ angeführr 193 Systematischere Diskussionen des Einflusses unterschiedlicher Menschenbilder auf die Führungstheorie bieten: Weinert 1995, 1495-1510; Staehle 1999, 191-196; Neuberger 2002, 69-97.
3.3 Operative Führung
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ten ökonomischen Führungsmodellen aufzeigen. Diese Führungsmodelle gehören zur Forschungsrichtung der Institutionenökonomie. Um zu erschließen, wie diese Ansätze dazu kommen, sich nicht mit Menschen, sondern mit „Akteursfiktionen“ (vgl. Neuberger 2002, 637) im Führungsprozess zu beschäftigen, soll hier zunächst auf eine treffende Zusammenfassung der Prämissen dieser Ansätze von Köhne zurückgegriffen werden:
Theorie X
Theorie Y
• Der Mensch hat eine angeborene Abscheu vor der Arbeit und versucht, sie so weit wie möglich zu vermeiden.
• Der Mensch hat keine angeborene Abneigung gegen Arbeit, im Gegenteil, Arbeit kann eine wichtige Quelle teil der Zufriedenheit sein.
• Deshalb müssen die meisten Menschen kontrolliert, geführt und mit Strafandrohungen gezwunden werden, einen produktiven Beitrag zur Erreichung der Organisationsziele zu leisten.
• Wenn der Mensch sich mit den Zielen der Organisation identifiziert, sind externe Kontrollen unnötig; er wird Selbstkontrolle und eigene Initiative entwickeln.
• Der Mensch möchte gerne geführt werden, er möchte Verantwortung vermeiden, hat wenig Ehrgeiz und wünscht vor allem Sicherheit.
• Die wichtigsten Arbeitsanreize sind die Befriedigung von Ich-Bedürfnissen und das Streben nach Selbstverwirklichung. • Der Mensch sucht bei entsprechender Anleitung eigene Verantwortung. Einfallsreichtum und Kreativität sind weit verbreitete Eigenschaften in der arbeitenden Bevölkerung; sie werden jedoch in industriellen Organisationen kaum aktiviert.
„Die neue Institutionenökonomie stellt kein einheitliches Theoriengebäude dar, ihre unterschiedlichen Ansätze sind jedoch durch weitgehend identische Annahmen über das menschliche Verhalten gekennzeichnet: individuelle Nutzenmaximierung, begrenzte Rationalität und opportunistisches Verhalten der Akteure. Das gemeinsame Forschungskonzept ist der methodologiche Individualismus, d. h., soziale Gebilde wie Unternehmen werden aus der Perspektive des Individuums und seiner Entscheidungen untersucht und erklärt“ (Köhne 2006, 65).
Abb. 65: Die Annahmen der Theorie X und Y nach McGregor (Staehle 1999, 192)194 194 Der dualistische Ansatz von McGregor aus den 1960er Jahren wird hier in kritischer Absicht abgebildet, weil er sich nach der oben angeführten Untersuchung von Weinert beharrlich in dem Denken der Manager zu halten scheint. Ob sich andere Menschenbilder, zum Beispiel das postmaterialistische Menschenbild, im Management heute in ähn-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Von diesen Prämissen ausgehend formulieren die institutionenökonomischen Ansätze – in ihren weniger mathematisierten Grundvarianten – in der Regel einfache, rationalistische Austauschmodelle (vgl. Wunderer 2003, 301-306). Die Führenden und Geführten sind in diesen Ansätzen keine realen Menschen, sondern künstliche Akteure in künstlichen Beziehungen. Diese „Akteursfiktionen“ unterstellen, dass die Beteiligten im Führungsprozess über hinreichende Informationen verfügen und weitgehend rationale und freiwillige Entscheidungen treffen. Weiter fällt auf, dass die Ursache-Wirkungs-Beziehungen dieser Theorien mechanistisch sind. So geht der Property-Rights-Ansatz zum Beispiel davon aus, dass die Übertragung umfassender Verfügungsrechte das Interesse und die Bereitschaft zum unternehmerischen Handeln automatisch erhöht (Wunderer 2003, 302). Dieses reduktionistische Modell verneint weitgehend mögliche Unterschiede in der Selbststeuerungskompetenz und den Selbststeuerungsmöglichkeiten von Führungskräften und Mitarbeitern. Das in der Praxis von Umstrukturierungen zu beobachtende Phänomen, dass Mitarbeiter signifikante Erweiterungen ihrer Vollmachten (zum Beispiel: Zeichnungsvollmachten) teilweise ablehnen, weil sie die größere Verantwortung nicht übernehmen wollen, sieht das mechanistische Modell des Property-Right-Ansatzes nicht vor. Auch die in der Unternehmensrealität häufig anzutreffenden Situationen, dass Mitarbeitern und Führungskräften die Verantwortungswahrnehmung durch unklare Informationslagen und Strukturen oder mikropolitische Prozesse erschwert wird, berücksichtigen diese Ansätze nicht. Vor diesem Hintergrund fasst Staehle zusammen: „Die Leistungsfähigkeit der hier nur kurz skizzierten mikroökonomischen Ansätze ist äußerst umstritten. Vor allem die neoklassisch-liberalistische Annahme von der prinzipiellen Wahlfreiheit wirtschaftlicher Akteure erweist sich als empirisch völlig unhaltbar“ (vgl. Staehle 1999, 424).195 Neben den einfachen, rationalistischen Austauschmodellen bieten die von Wunderer angeführten Führungstheorien noch weitere reduktionistische Menschenbilder. Auch die dyadischen Ansätze und rationalistischen Entscheidungstheorien tendieren dazu, die individuellen Prägemuster der Menschen und ihre sozialen Einbindungen zu ignorieren und als Ersatz die zeitlosen, „entsozialsierten“ Mitarr beiter und Führungskräfte zu konstruieren. Diese Ansätze fußen damit auf einem Menschenbild, das letztlich für die operative Führung wenig realistische Orientierungshilfen bietet. Die in der Herleitung der performancerelevanten Mindsets aufgezeigten Zusammenhänge, dass nämlich die Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards von Führungskräften durch ihre bisherigen Lebensbedingungen beeinflusst licher Verbreitung wie McGregors Denkmuster finden lassen, müsste genauer untersucht werden. Vgl. zu weiteren Modellen des Menschen: Grunwald & Moldenhauer 1978; Staehle 1999, 191-196. 195 Vgl. auch die wesentlichen Kritikpunkte an der Tansaktionskostentheorie von Köhne 2006, S. 69.
3.3 Operative Führung
247
(strukturierte Struktur des Habitus) sind, passen nicht in die Menschbilder dieser Ansätze. Stattdessen operieren diese Modelle und Theorien mit dem Bild der psychologischen Monade („homo clausus“ oder – als ökonomistische Variante – „homo oeconomicus“), die als theoretisches Konstrukt – weitgehend unbeeinflusst von einer menschlichen Geschichte und Prägung – entscheiden kann, was sie will. Durch dieses Menschenbild, das den hier kritisierten Ansätzen zugrunde liegt, wird ein handlungstheoretischer Mythos geschaffen. Aus diesen reduktionistisch-voluntaristischen Menschenbildern entsteht für die strategische und operative Führung ein in der Praxis häufig zu beobachtendes Kernproblem: Die Komplexität und der Aufwand von individuellen und kollektiven Beeinflussungs- oder Veränderungsprozessen werden unterschätzt. Es wird übersehen, dass die strukturellen, rationalistischen oder mechanistischen Steuerungs- und Veränderungsideen, denen immer bestimmte Menschenbilder zugrunde liegen, in der Führungspraxis auf das reale Beharrungsvermögen der individuellen und kollektiven Prägemuster (Habitus, Kultur) treffen. – Letztlich führen die wegen ihrer einfachen Menschenbilder und Erklärungsmodelle beliebten Theorien im Führungsalltag regelmäßig auf den „Parkplatz der langsamen Einsicht“. Dort reift in der Endphase von strategischen Initiativen oder größeren Projekten in der Regel die kostenintensive Erkenntnis, dass man sich rechtzeitig und professionell auf die kommunikative Arbeit mit den Menschen hätte einstellen und einlassen müssen. Die fortgesetzte Beliebtheit reduktionistischer Menschenbilder, aber besonders ihr Scheitern in der modernen Führungswelt, kann nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen verstanden werden. Denn neben den generell fragwürdigen wissenschaftstheoretischen Prämissen, die den Menschenbildern der hier kritisierten Ansätze zugrunde liegen, sind diese Menschenbilder erst für eine effektive Führung in der heutigen und zukünftigen Wissensgesellschaft eindeutig kontraproduktiv. Das reduktionistische Menschenbild, das die Mitarbeiter, Führungskräfte und Führungsbeziehungen in einzelne Interaktionsund Handlungsschritte zerlegen und dadurch steuerbar machen will, passte durchaus in das tayloristisch-fordistische Produktionsmodell (vgl. Hirsch & Roth 1986, 53-64). Warum das tayloristische Menschenbild durch den Übergang zur Wissensgesellschaft jedoch entfunktionalisiert wird, erläutert Peter Drucker in einer 2002 mit dem Titel „They‘re Not Employees, They‘re People“ erschienen Arbeit: „What made the traditional workforce productive was the system – whether it was Frederick Winslow Taylor’s ‘one best way, ‘ Henry Ford’s assembly line, or Ed Deming’s Total Quality Management. The system embodies the knowledge. The system is productive because it enables individual workers to perform without much knowledge or skill. In fact, on the assembly line (but also in Deming’s Total Quality Management), greater skill on the part of
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
an individual worker is a threat to co-workers and to the entire system. In a knowledge-based organisation, however, it is the individual worker’s productivity that makes the system productive. In a traditional workforce the worker serves the system; in a knowledge workforce the system must serve the worker” (Drucker 2003a, 124f.). Druckers historische Analyse verweist darauf, dass die Angemessenheit von Menschenbildern in organisatorischen Führungsprozessen nicht zeit- und kontextfrei ist. Passte das reduktionistische Menschenbild durchaus zum tayloristischen Produktionssystem, ist es in Wissensunternehmen nicht hilfreich. In Wissensunternehmen besteht die wichtigste Funktion einer effektiven operativen Führung in der professionellen Einbindung von Menschen in eine gemeinsame Zielverfolgung. Inwiefern hier neue Herausforderungen für das WIE der Führung greifen wird deutlich, wenn man auf die Vorgehensweisen, mit denen Wissensarbeitern zu einer produktiven Arbeit geführt werden können, mit den Verfahren vergleicht, mit denen die produktiven Leistungen der Mitarbeiter in tayloristischen Produktionen abgesichert werden konnten und können (vgl. Abb. 66).
Industriearbeit / Effizienz
19. Jahrhundert Produktivitätssteuerung über Kapital (Werkzeug, Maschinen, etc.)
Wissensarbeit / Effektivität
20. Jahrhundert
21. Jahrhundert
Produktivitätssteuerung über „time and motion“ (F.W. Taylor) und folgende Managementmethoden
Produktivitätssteuerung von Wissensarbeitern über die Steuerung operativer Rahmenbedingungen:
Management konzentriert sich auf Kosten, Zeit, Quantität; Steigerung der Produktivität seit Taylor um das 50-fache.
• Autonomiegrad der Mitarbeiter managen, • kontinuierliche Innovation managen, • ständige Weiterbildung managen, • Produktivitätsfaktor Qualität managen.
Produktionsfaktor Handarbeit
Vermögenswert Wissensarbeit
Abb. 66: Die Steuerung produktiver Arbeit im 19., 20. und 21. Jahrhundert
3.3 Operative Führung
249
Im Gegensatz zur tayloristischen Produktionswelt, die einzelne, reproduzierbare und einfach kontrollierbare Handlungen vom Mitarbeiter abforderte, verlangt die wissensintensive Arbeit die Einbindung des Menschen mit seinen Denk-, Fühl- und Handlungskompetenzen. Führungskräfte, die Mitarbeiter durch die Denkbrille des Taylorismus betrachten, sie als Kostenverursacher statt als produktive Mitgestalter („Asset“) sehen, werden sich kaum die Zeit nehmen, um die Produktivität ihrer Wissensarbeiter wirklich zu steigern. Die heute unter dem Stichwort „Führungsökonomik“ verbreiteten Lehren (Property-Rights-Ansatz, Principal-Agent-Ansatz, Transaktionskostenansatz) fördern gerade für die operative Führung ein Menschenbild, das die Führungskräfte von den eigentlichen Herausforderungen ablenkt, nämlich: „The one way to achieve leadership in the knowledge-based-business is similarly to spend time with the promising knowledge professionals: to get to know them and to be known by them; to mentor them and to listen them; to challenge them and to encourage them. These people may no longer legally be the organization’s employees. But they will still be the organization’s resource and capital and the key to its performance” (Drucker 2003a, 128). Dieses Führungsverständnis, das Peter Drucker hier als förderlich für die Performance im Unternehmen beschreibt, ist stimmig mit den Erwartungen von Mitarbeitern in der Wissensgesellschaft, wie die umfangreichste Performancestudie der letzten Jahrzehnte zeigt (vgl. Buckingham & Coffman 1999, 58-67). Die von Drucker beschriebenen und von den Rezipienten der operativen Führung (den Mitarbeitern) erwarteten Führungsleistungen, vertragen sich weder mit den oben diskutierten reduktionistischen Menschenbildern noch mit einem schwerpunktmäßig indirekten / strukturellen Führungsansatz. Sicher gehört es auch zu den notwendigen Leistungen der operativen Führung dafür zu sorgen, dass die Mitarbeiter nicht durch unklare Verantwortungen und Arbeitsverteilung, Qualitätsprobleme oder mikropolitische Prozesse an einer effizienten Arbeit gehindert werden. Das Engagement von Mitarbeitern hängt heute aber entscheidend davon ab, dass sie das Gefühl haben, von der Führungskraft als Mensch wahrgenommen zu werden, hinreichend Rückmeldung zu bekommen und entsprechend ihrer Fähigkeiten entwickelt zu werden bzw. sich entwickeln zu können (vgl. ebenda, 34). Dass diese Erwartungen der Mitarbeiter gegenwärtig häufig nicht erfüllt werden, findet seinen Niederschlag darin, dass sich im Jahr 2006 in Deutschland nur noch 13 Prozent von 1826 befragten Mitarbeitern stark mit ihrem gegenwärtigen Arbeitgeber verbunden fühlen (vgl. Abb. 67). Die Auswirkungen dieser geringen Identifikation mit dem Arbeitgeber sind – folgt man der seit 2001 jährlich wiederholten Gallup-Studie, die den Prozentsätzen in der Abbildung 67 zugrunde liegt – weitreichend. Sie beeinflussen nicht nur das Engagement am Arbeitsplatz und die Loyalität mit dem Unternehmen, sondern auch das
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Innovationsklima in den Unternehmen. Die Ursachen für dieses folgenreiche Engagementdefizit in deutschen Unternehmen liegen dieser Studien zufolge im Management. Besonders werden von den Mitarbeitern (1.) das zu geringe Interesse der Vorgesetzten an den unterstellten Menschen, (2.) eine als nicht hinreichend empfundene Anerkennung der geleisteten Arbeit und (3.) eine als unzureichend wahrgenommene persönliche Entwicklung bemängelt (vgl. Coffman & Gonzalez-Molina, 2002).196 Die Erfolgsformel für die operative Führung scheint demnach einerseits einfach, andererseits schwer zu realisieren. Die Führungskräfte müssen bereit und in der Lage sein, sich mit dem Denken, Fühlen und Handeln ihrer Mitarbeitern auseinanderzusetzen, um sie für eine engagierte Zielverfolgung gewinnen zu können. Da die Bereitschaft, sich mit den Mitarbeitern hinreichend zu beschäftigen, unweigerlich durch das Menschenbild bestimmt ist, das die Führungskraft im Kopf hat, ist ihre operative Performance davon abhängig, dass sie ihr Menschenbild und die daraus resultierenden Handlungsmuster reflektiert. Damit stehen nicht die Personalressource oder ein abstraktes Akteurs- oder Systemkonstrukt im Mittelpunkt der operativen Führung, sondern die konkreten Menschen mit ihren unterschiedlichen Denk- Fühl- und Handlungsmustern, auf die die Führungskraft sich einstellen muss. Der Leadership Asset Approach plädiert folglich dafür, die kommunikative Auseinandersetzung mit dem Denken, Fühlen und Handeln der Mitarbeiter zum Zweck der Einbindung in eine gemeinsame Zielverfolgung als wichtigste Herausforderung der operativen Führung zu definieren. Dieses Verständnis von operativer Führung wird damit begründet, dass es – auch aus empirischer Sicht – der effektivste Weg ist, die wichtigste Ressource von Wissensunternehmen (die Mitarbeiter) für die gemeinsame Zielverfolgung zu gewinnen.
3.3.2.2 Führung in sich verändernden sozialen Beziehungen Die operative Führung findet gegenwärtig in sich schnell verändernden sozialen Beziehungen statt; nur eine operative Führung, die den Entwicklungen der sozialen Beziehungen gerecht wird, kann bei der Einbindung der Menschen in die gemeinsame Zielverfolgung effektiv sein. Im vorhergehenden Unterkapitel zur Bedeutung des Menschenbildes in der Führung wurden die Ergebnisse des Gallup Engagement Index (vgl. Abb. 67) reflektiert. Unabhängig davon, wie weit diese Statistiken bis in den zweistelligen Prozentbereich die Realität abbilden, legen die Daten vieler Befragungen die Schlussfolgerung nahe, dass es der (operativen) Führung gegenwärtig mä196 Diese Ergebnisse der Gallup-Studie decken sich mit den Beobachtungen der oben zitierten Studie zu den Gründen für Produktivitätsdefiziten von Proudfoot Consulting aus dem Jahre 2003 (vgl. Abb. 59).
3.3 Operative Führung
251
ßig gelingt, die Mitarbeiter für die Unternehmen 16% 15% 12% 13% 13% 13% zu gewinnen. Dass die Defizite in der Führungs80 performance nicht ohne 60 Auswirkungen auf die 69% 69% 70% 69% 69% 68% Produktivität bleiben, 40 wurde durch die in der Abbildung 60 darge20 stellten Ergebnisse der 15% 16% 18% 18% 18% 19% Proudfood-Studie ver0 deutlicht. Um dieses kri2001 2002 2003 2004 2005 2006 tische Leistungsbild von hohe Bindung geringe Bindung keine Bindung der operativen Führung in den aufkommenden Wissensgesellschaften zu Abb. 67: Der Gallup Engagement Index 2006, erklären, reicht es nicht, (The Gallup Organisation, 2006) auf ein fortlebendes tayloristisches Menschenbild zu verweisen. Sicher wirkt das Menschenbild wie eine Art vorstrukturierte Folie, auf der die sozialen Beziehungen im operativen Führungsprozess erarbeitet werden. Wie stark das jeweilige Menschenbild das Handeln der Führungskraft determiniert oder wie viel Spielraum es bei der Gestaltung von sozialen Beziehungen lässt, kann nicht genau erschlossen werden. Letztlich entscheiden die konkreten Aktivitäten, genauer: die zeitgemäße Gestaltung der sozialen Beziehungen, ob die Einbindung der Mitarbeiter in eine gemeinsame Zielverfolgung gelingt. %
100
Ungeachtet dieses einfachen Zusammenhangs gibt es in der Unternehmenspraxis ein bemerkenswertes Phänomen: Die Tatsache, dass es sich bei Führungsbeziehungen um eine spezifische Variante sozialer Beziehungen handelt, wird nicht mit der gleichen Konsequenz durchdacht und berücksichtigt, wie die Notwendigkeit der fachlichen Expertise. Das Wissen, welche Fähigkeiten zur Gestaltung von Führungsbeziehungen in der Wissensgesellschaft wichtig sind, gehört noch nicht zum Kanon des etablierten Führungswissens in der Unternehmenspraxis. Vielmehr wird die Frage, was bei der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften beachtet werden sollte, zumindest für Positionen unterhalb des Vorstandes gerne an den HR-Bereich delegiert. Dabei lässt sich durch einen Blick auf die Führungspraxis – von der Auswahl der Führungskräfte bis zum Führungsprozess – nachzeichnen, warum die Fähigkeiten, Führungsbeziehungen effektiv zu gestalten, breitere Beachtung finden sollten. Eine Einstiegbetrachtung zu zwei Aspekten, der Führungskräfteauswahl und der generellen Bedeutung von sozialen Beziehungen im Führungsprozess, bie-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
tet Linda A. Hill in ihrem Einführungswerk für junge Führungskräfte. Hill, die über zehn Jahre Führungskräfte in ihrem ersten Jahr in einer Führungsfunktion begleitet hat, unterstreicht die im Forschungsprozess gesammelten Erkenntnisse jeweils durch repräsentative Zitate der begleiteten Führungskräfte: „Building effective relationships with their subordinates was unequivocally the most difficult task the new managers faced. They were surprised to discover just how daunting it could be and how vulnerable they were: ‘ I thought if you had the product skills and answers, that was all you would need. You need interpersonal skills and attitude projection to be successful. The personnel side. No, let’s not call it personnel, it is the art of managing people…that is probably the hardest part of the job to learn to do well. After all, you’re promoted to the job because you’ve been successful in marketing` “(Hill 2003, 87). Tatsächlich ist die von Hill beobachtete Tendenz, diejenigen Mitarbeiter, die ihre operativen Aufgaben sehr gut bewältigt haben, auch für geeignete Führungskräfte zu halten, in der Praxis aus Sicht des Autors weithin verbreitet. Dass der Wechsel in eine Führungsposition auch spezielle Anforderungen an die Gestaltung von sozialen Beziehungen (z. B. Herstellung von Akzeptanz als Führungskraft, produktive Einbindung der Mitarbeiter, Fähigkeit zur Erkennung und Nutzung von Stärken anderer, Förderung von Kooperations- und Innovationsverhalten etc.) bedingt, wird weiterhin häufig übersehen. Und diese Problemlage greift nicht nur bei den Besetzungen auf den unteren Stufen der Karriereleiter. Bei der Besetzung oberer Führungspositionen wird die gleiche Problemlage in der Regel nur anders erzeugt. Denn bei der Auswahl für diese Ebenen ist zwar weithin akzeptiert, dass der Gestaltung von sozialen Beziehungen eine Schlüsselrolle zukommt.197 Allerdings erfolgt die Auswahl von geeigneten Kandidaten deshalb in der Regel nicht professioneller als für die unteren Ebenen, sondern weitgehend als Reproduktion der habituellen Präferenzen (Wahlverwandtschaften) der Unternehmensleitung (Hartmann 2002, 145-149). Durch die Konstellationen, dass bei der Besetzung von Vorstandspositionen, besonders der des Vorsitzenden, die Auswahl aus kleineren und häufig etablierten Netzwerken erfolgt, wirken diese kritischen Abwehrmechanismen auch bei Besetzungen der Unternehmensleitungen. Über diese Einstiegsbetrachtung des Auswahlprozesses hinaus zeigt ein Blick auf den Führungsprozess noch deutlicher, in welchen Handlungssituationen die Geringschätzung der sozialen Beziehungsarbeit sich zu Fallstricken für das Management verwandeln kann. Eine grobe Skizze wichtiger Führungsleistungen zeigt, wo diese Fallstricke im Führungsprozess potenziell greifen: 197 Vgl. hierzu z.B. das Kompetenzmodell für unterschiedliche Führungsebenen von Bartlett & Ghoshal 1998, 70-97.
3.3 Operative Führung
253
Um die strategische Ausrichtung des Unternehmens innerorganisatorisch marktfähig zu gestalten, müssen die Führungskräfte die Produktivität der Finanzen, Organisation, Technik, Prozesse und Mitarbeiter sichern. Um dies zu erreichen, ist die Konzeption und Kommunikation der Vision, Mission, Strategie und Werte ein erster Schritt, die wertorientierte Allokation der Ressourcen ein weiterer. Wenn die Prozesse dennoch nicht akzeptabel laufen, die Qualitätt nicht stimmt oder die Kosten zu hoch sind, müssen Führungskräfte die Gründe herausfinden (analysieren), über Lösungsalternativen entscheiden, die Umsetzung delegieren und koordinieren, die Ergebnisse prüfen und Leistungen anerkennen. Aber selbst dann, wenn die Prozesse funktionieren, die Qualitäts- und Kostenziele erreicht sind, enden die strategischen und operativen Anstrengungen damit in markwirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht. Die erfolgreiche operative Führung löst nicht nur Probleme oder ist der „Lückenbüßer der Organisation“, sondern sie muss proaktiv sein. Wichtige Aufgaben der operativen Führung sind deshalb, regelmäßig zu fragen, wie Prozesse besser laufen können, die Qualität der Produkte verbessert werden kann und die Kosten reduziert werden können. Dieser Aufriss zu wichtigen Führungsleistungen bietet 10 potenzielle Fallstricke (vgl. kursiv gesetzten Text im vorherigen Absatz), die sich bei einem nicht professionellen Umgang mit den Führungsbeziehungen zuziehen. Um die Fallstricke zu überwinden, stehen die Führungskräfte fortwährend vor einer wesentlichen Führungsaufgabe: Um die Mitarbeiter für die Bewältigung der Aufgaben zu gewinnen, müssen sie die Führungsbeziehungen zeitgemäß gestalten. Denn ohne Anschlussfähigkeit an die Erwartungen der Geführten können die Führungskräfte die notwendige Einbindung zur gemeinsamen Zielverfolgung nicht erreichen. Damit wird die Frage aufgeworfen, was unter einer zeitgemäßen Gestaltung von Führungsbeziehungen zu verstehen ist? Mit der zeitgemäßen Gestaltung von Führungsbeziehungen ist im Rahmen des LAA gemeint, dass die Führungskräfte die im Kapitel 2.1.3 beschriebenen Entwicklungen sozialer Beziehungen – bewusst oder unbewusst – erfassen und in ihrem Führungshandeln berücksichtigen. Welche Entwicklungen sozialer Beziehungen von den Führungskräften berücksichtigt werden müssen198, wurde auf einem höheren Integrationsniveau unter den in dieser Arbeit beschriebenen Determinanten des strategischen Wettbewerbs zusammengefasst. Demnach müssen die Führungskräfte verstehen, dass: die abnehmenden Machtunterschiede in den Führungsbeziehungen, 198 Diese Formulierung steht nicht für eine normative oder ideologische Einschätzung der Entwicklung sozialer Beziehungen, sondern für den Hinweis, dass bei dem Anspruch einer effektiven Führungsarbeit wesentliche Einflüsse auf die Führungsbeziehungen nicht unberücksichtigt bleiben können.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
die Individualisierung der Mitarbeiter (und Führungskräfte), die Informalisierung des Umgangs, die Psychologisierung von Selbstwahrnehmung und sozialen Beziehungen, die soziale Vielfalt und die Spannungen zwischen den Generationen die Koordinaten der Führungsbeziehungen verändert haben und weiter verändern werden. In seinem Grundlagenwerk zum Thema Führung hat Oswald Neuberger diese Entwicklungen an gut sichtbarer Stelle, nämlich im Titel des Buches, zusammenfassend herausgehoben. Die erste Auflage seines Buches lautete 1984 „Führen“, die dritte bis fünfte Auflage (1990 / 1995) hat er umbenannt in „Führen und geführt werden“. Für die neueste Auflage im Jahr 2002 hat Neuberger vor dem Hintergrund der angesprochenen Veränderungen den Titel „Führen und führen lassen“ gewählt (Neuberger 2002, V-VI). Dass Neuberger in der neuesten Ausgabe die Wendung „führen lassen“ hinzugenommen hat, ist zeitgemäß. Denn besonders die in der vorliegenden Arbeit aufgezeigte generelle Abnahme der Machtunterschiede in den sozialen Beziehungen führt in den Führungsbeziehungen dazu, dass die Bereitschaft, sich führen zu lassen, nicht einfach durch die positionale Macht oder „Amtsautorität“ gegeben ist, sondern durch Führungsstärke (heute besonders: Einsatz affektueller und wissensmäßiger Machtressourcen) hergestellt werden muss. Wie sich diese Veränderungen der Führungsbeziehungen in der Praxis auswirken, lässt sich durch einen Rückgriff auf die oben herausgehobenen potenziellen Fallstricke in typischen Führungsprozessen verdeutlichen: Als erste strategische und operative Führungsaufgaben, die zu Fallstricken werden können, wenn die Führungsbeziehungen nicht zeitgemäß gestaltet werden, wurden die Konzeption und Kommunikation der Vision, Mission, Strategie und Werte angeführt. – Ein großer Teil der Mitarbeiter und Führungskräfte begleiten die Leistungen des Top-Managements in diesen Führungsbereichen heute selbstbewusst, kritisch und zum Teil kenntnisreich. Das heißt konkret, dass die Mitarbeiter eine möglichst frühzeitige Einbindung bei der Entwicklung sowie eine offene Auseinandersetzung bei der Vermittlung der Vision, Mission, Strategie und Werte erwarten. Um den Einbindungsund Kommunikationserwartungen gerecht werden zu können, müssen die Führungskräfte ihre eigenen Sichtweisen zur Konzeptions- und Kommunikationsarbeit reflektieren (reflektierendes Mindset). Durch ein reflektiertes, das heißt bewusstes und möglichst professionelles Vorgehen, können die Führungskräfte die veränderten Erwartungen in den Führungsbeziehungen, hier besonders zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, erkennen und zeitgemäß beantworten.
3.3 Operative Führung
255
Als weitere Führungsaufgabe, die zu einem Fallstrick werden kann, wenn die Führungsbeziehungen nicht zeitgemäß gestaltet werden, soll die Anerkennung von Leistungen aufgegriffen werden: Sind die heutigen Erwartungshaltungen an die Entwicklung und Kommunikation der Vision, Mission, Strategie und Werte eher auf die sich verringernden Machtunterschiede in den Führungsbeziehungen zurückzuführen, greifen bei den Erwartungen an die Leistungsanerkennung die Prozesse der Individualisierung und Psychologisierung. Wie im Kapitel 2.1.3 dargelegt, gehört es heute bei einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung in den hochindustrialisierten Ländern zum Profil der Individualisierung, dass die Menschen für ihre Aufgaben selbst verantwortlich sein wollen und Erfüllung in ihrer beruflichen Tätigkeit suchen (vgl. Kapitel 2.1.3). Diese Beobachtungen können durch die Forschungsergebnisse ergänzt werden, dass es eine von den sechs wichtigsten Erwartungen von Mitarbeitern ist, regelmäßige Anerkennung ihrer Leistungen durch die Führungskraft zu erhalten (Buckingham & Coffman 2001, 34). Die regelmäßige Anerkennung von Leistungen ist für die Mitarbeiter eine wichtige Voraussetzung, um sich in ihrer Arbeit akzeptiert und eingebunden zu fühlen. Berücksichtigt man, dass diese Erwartungen von vielen Mitarbeitern, nämlich einer eigenverantwortlichen Tätigkeit nachgehen zu können, Erfüllung im Job zu finden und eine regelmäßige Rückmeldung zu ihren Leistungen zu erhalten, einen engen Zusammenhang zu der zu erwartenden Arbeitsleistung aufweisen (ebenda und Coffman & Gonzalez-Molina 2002), dann lässt sich schlussfolgern: Führungskräfte, die diese Erwartungen nicht abdecken, führen nicht zeitgemäß und deshalb nicht effektiv. Umgekehrt: Um zeitgemäß und effektiv führen zu können, müssen die Entwicklungen der sozialen Beziehungen verstanden und in das Führungshandeln bzw. die Führungsbeziehung übersetzt werden. Die auch hier zunächst für die Führungspraxis untersuchte Frage, inwiefern die Entwicklungen sozialer (Führungs-) Beziehungen und ihre Relevanz für die Effektivität Beachtung finden, soll in einem zweiten Schritt auch an die Führungstheorien gerichtet werden, die oben in der Systematik von Wunderer erfasst wurden. Die zusammenfassende Antwort auf diese Frage fällt widersprüchlich aus: Aspekte sozialer Beziehungen werden in den etablierten Führungstheorien vielfach behandelt; die Entwicklung von Führungsbeziehungen, wie sie hier verstanden wird, findet in den Führungstheorien jedoch kaum Beachtung. Der Versuch, diese Widersprüchlichkeit zu erklären, führt zu zwei grundsätzlichen Kritikpunkten an den von Wunderer systematisierten Führungstheorien: In einigen Führungstheorien treten die Führungskräfte oder Mitarbeiter nur als autonome, rationale, selbst- oder fremdbestimmte Monaden in die Verhältnisse zu anderen ein. Zudem sind die sozialen Beziehungen in den meisten Führungstheorien geschichtslos (d. h. unberührt von der Sozio- und Psychogenese) und damit statisch.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Einige Führungsansätze, die sich mit sozialen Beziehungen beschäftigen, zum Beispiel dyadische und ökonomische, wurde in dieser Arbeit schon mehrfach reflektiert und kritisiert. Deshalb wird nun noch ein ergänzender Blick auf die von Wunderer angeführten Ansätze geworfen, um einerseits die grundsätzlichen Kritikpunkte zu begründen, aber andererseits auch die Notwendigkeit zur differenzierten Würdigung einiger Ansätze zu unterstreichen: Schauen wir zunächst auf die führerzentrierten Ansätze (Eigenschaftstheorie der Führung, Charismatische Führungstheorien, Tiefenpsychologische Führungstheorien, Entscheidungstheoretische Ansätze) in Wunderers Systematik (vgl. Wunderer 2003, 274-287). Abgesehen von den Entscheidungstheorien, die weiter oben diskutiert wurden, arbeiten diese Ansätze weitgehend aus der einseitigen Perspektive des Führenden; das diesen Ansätzen zugrunde liegende Beziehungsmodell ist folglich einseitig gerichtet. Auch berücksichtigen diese Ansätze nicht das Ineinandergreifen von Sozio- und Psychogenese, das heißt, sie sind statisch und individualisierend. Ähnliche theoretische Mängel, nur aus einem anderen Blickwinkel, können für die geführtenorientierten Ansätze (Weg-Ziel-Theorie der Führung, Attributionstheorie der Führung, Soziale Lerntheorie der Führung) festgestellt werden. Sie behandeln die Führungsbeziehungen zum Teil ausschließlich und zum Teil ergänzend aus der Mitarbeiterperpektive (vgl. ebenda, 287-293). Trotz der einseitigen Perspektive müssen zwei geführtenorientierten Ansätzen, der Weg-Ziel-Theorie und der sozialen Lerntheorie, erhebliche heuristische Potenziale zugesprochen werden. Die Weg-Ziel-Theorie bringt die Akzeptanz von Führung mit der Erzeugung von Arbeitszufriedenheit in Verbindung. Auch wenn dieser Ansatz von rationalistischen Prämissen ausgeht (vgl. ebenda, 289), werden einige Zusammenhänge dieser Theorie unter anderem durch die oben angeführten breiten empirischen Untersuchungen von Coffman gestützt (vgl. Buckingham & Coffman 2001 und Coffman & Gonzalez-Molina 2002). Die soziale Lerntheorie ist als „situativer Ansatz“ zwar enger gefasst als die zur theoretischen Fundierung der performancerelevanten Mindsets diskutierte Habitustheorie, sie bietet aber unter anderem zum Verständnis der sozialen Prägung von Mitarbeiter- und Führungsverhalten wichtige Zugänge. – Für beide einseitigen Theorierichtungen, die führer- und die geführtenzentrierten Ansätze, ist jedoch als Kernkritik aus Sicht des LAA festzuhalten, dass eine interdependenztheoretische Perspektive, die die Abhängigkeiten und Wechselwirkungen in den sozialen Beziehungen systematisch aufbereitet, nicht konsequent eingeschlagen wird (vgl. Neuberger 2006 b, 64-79 und 2006). Zwei Ansätze, die Wunderer unter der Kategorie „Position“ subsumiert, sollen hier hingegen nicht abgrenzend, sondern aus LAA-Sicht als ergänzungsbedürftig bewertet werden. Denn wichtige Überlegungen, die den rollentheoretischen und machtheoretischen Führungsansätzen zugrunde liegen, übernimmt auch
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3.3 Operative Führung
der LAA bei der Interpretation von Führungsbeziehungen. So ist es aus rollenwie aus interdependenztheoretischer Sicht des LAA wichtig, systematisch zu erfassen, mit welchen Erwartungen eine Führungskraft in ihren spezifischen Beziehungsgeflechten konfrontiert wird. Wie fruchtbar dieser Ansatz ist, hat der renommierte Managementtheoretiker Henry Mintzberg schon in seinen frühren empirischen Studien aufgezeigt (vgl. Mintzberg 1980, 54-99). Seine aktionsorientierte Rollenforschung, die von der Frage ausging, „Welches Führungsverhalten zeigen Führungskräfte tatsächlich?“, liefert instruktive Orientierungsraster, die mit dem Funktionsmodell des LAA eng verwandt sind (vgl. Abb. 68).
THE MANAGERIAL ROLES
• Figurehead
Interpersonal • Leader
Provide
Inf
o
rm
• Liaison
ati
n
Feedback
on
• Monitor
Informational • Disseminator
r Process Info
ma
tio
• Spokesman
Decisional
• Disturbance Handler • Resource Allocator
n
• Entrepreneuer
or Use Inf
ma
tio
• Negotiator
Abb. 68: Die Führungsrollen nach Henry Mintzberg (Mintzberg 1980, 54-99)
258
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Ähnlich verhält es sich mit den machtheoretischen Ansätzen. Wie in dem Kapitel zur Entwicklung sozialer Beziehungen ausgeführt, geht auch der LAA davon aus, dass Macht zwar nicht als Besitz-, aber als Beziehungskategorie elementar ist, um Führungsbeziehungen verstehen zu können. Besonders hilft ein differenziertes Machtquellenmodell, wie es in dieser Arbeit eingeführt wurde, eindimensionale oder einseitig rationalistische Erklärungen für Führungsphänomene zu vermeiden (vgl. Wunderer 2003, 298-301; Neuberger 1995b, 52-74 und 2006). Weitere von Wunderer angeführte Theorien liefern Aspekte und Perspektiven, die im Erklärungsansatz des LAA eingebaut wurden. Die Idiosynkrasie-Kredit-Theorie verweist auf den Zusammenhang, dass eine Führungskraft oder ein Mitarbeiter eine Art Vertrauensvorschuss (Idiosynkrasie-Kredit) erwerben muss, um bei der Abweichung von den Gruppenerwartungen nicht sogleich sanktioniert zu werden (vgl. ebenda 307). Diese Überlegungen finden sich im LAA zum Beispiel in der Form wieder, dass es zu den elementaren Funktionen der operativen Führung gehört, besonders in den sich ausbreitenden Netzwerkorganisationen dafür sorgen, dass die Mitglieder der Führunsfiguration Vertrauen in den gemeinsamen Grundnutzen und die gemeinsamen Standards entwickeln (vgl. Kapitel 3.3.3.6). Zu frühe und grundlegende Missachtung dieser Führungsfunktionen verhindert den Aufbau des Ideosynkrasie-Kredits und gefährdet die Arbeitsfähigkeit des Netzwerks. Die Reifegradtheorie der Führung steuert den Hinweis ein, dass bei der Zuweisung von Aufgaben beachtet werden sollte, dass die Fähigkeiten und die Motivation den Führungsstil bestimmen sollten (vgl. ebenda, 310). Diesen empirisch bisher wenig bestätigten Ansatz (vgl. ebenda, 311) greift der LAA insofern auf, als es demnach zu einer Funktion der operativen Führung, besonders der effektiven Innovationsarbeit, gehört, gezielt auf die Entwicklungsnotwendigkeiten bei den Mitarbeitern einzugehen (vgl. Kapitel 3.3.3.4). Weitere Mikroansätze der Führung, Fiedlers Kontingenzmodell und die Substitutionstheorie, wurden weiter oben diskutiert und liefern aus Sicht des Autors keinen zusätzlichen heuristischen Nutzen. Die abschließend auch in diesem Kontext zu erwähnenden Makroansätze der Führung (vgl. ebenda, 318f.), die versuchen, die Führung in Organisationen in einen breiteren Rahmen zu stellen, indem sie organisationsexterne Einflussfaktoren berücksichtigen, wurden im Kapitel zur strategischen Führung differenzierter besprochen. Der Leadership Asset Approach versucht durch den Gesamtaufbau des Ansatzes (vgl. Abb. 1 in Einleitung), das heißt durch die Nutzung der Habitustheorie (Struktur-Habitus-Praktiken) für die Fundierung der performancerelevanten Mindsets und durch die Prägung des Begriffs der Führungsfiguration199, dem von den Makroansätzen thematisierten Ineinander199 Der Figurationsbegriff wurde oben im Text vorgestellt. Er beschreibt nach Elias die
3.3 Operative Führung
259
greifen der Makro-, Meso- und Mikroebene der Führung Rechnung zu tragen. Durch die Diskussion der in Wunderers Systematik angeführten Führungstheorien wird deutlich, dass die Theorien in der Regel aus einer stark eingegrenzten Perspektive heraus arbeiten. Diese Präferenz für einen bestimmten Blickwinkel oder Aspekt der operativen Führung wurde oben im Text auch schon für die strategischen Führungstheorien diagnostiziert. Damit liefern die Führungstheorien zwar interessante Beiträge zu Einzelfragen der strategischen und operativen Führung, aber keinen Bezugsrahmen der Führung, der Orientierungen zu den wichtigsten Komponenten und Zusammenhängen anbietet. Hinzu kommt die Beoabachtung, dass es bisher keine entwickelte Interdependenztheorie der Führung gibt, die die dynamischen Führungsbeziehungen oder -figurationen in ihrem Verhältnis zu den umfassenderen Figurationen erklärt. Der LAA liefert einen ersten Zugang zu einem umfassenderen und dynamischen Bezugsrahmen der Führung. Ein Teil dieses Bezugsrahmens wurde erarbeitet, indem die Entwicklungstendenzen der Führungsbeziehungen aus den Entwicklungen der sozialen Beziehungen insgesamt (gesellschaftliche Figurationen) abgeleitet wurden. Durch diese konzeptionelle Eingliederung der Führungsbeziehungen in die Entwicklung der sozialen Beziehungen in der Gesellschaft (Verschiebung von Machtbalancen, Individualisierung, Psychologisierung, etc.), werden reale Entwicklungen menschlicher Beziehungen in den Mittelpunkt der Führungstheorie gerückt. Die Arbeit an Akteursfiktionen oder einseitigen Modellen wird vermieden. Weiter unten wird belegt, dass dieser Zugang letztlich zur praktikablen Ableitung von operativen Führungsfunktionen beitragen kann. Bevor jedoch – unter anderem vor dem Hintergrund der Entwicklung von Führungsbeziehungen – die wichtigsten Funktionen operativer Führung erörtert werden, soll aufgezeigt werden, welchen Einfluss die im Kapitel 2.1.2 herausgearbeitete Dynamik der sozio-technischen Interdependenzen auf die operative Führung hat.
3.3.2.3 Führung in und von dynamischen Interdependenzen Die (operative) Führung vollzieht sich in zunehmend komplexen und dynamischen Interdependenzen. Ein professioneller Umgang mit diesen unternehmensinternen und -externen Abhängigkeiten ist grundlegend für eine hohe Führungsperformance. Die Entwicklung sozialer Interdependenzen wurde in dieser Arbeit bisher aus zwei Perspektiven thematisiert. Im ersten Kapitel wurden die sozio-techniStrukturen, die interdependente Menschen in Gruppen oder Individuen miteinander bilden; der Begriff der Führungsfiguration soll entsprechend die Beziehungsstrukturen beschreiben, die Führungskräfte durch ihre funktionalen Abhängigkeiten mit andern Gruppen oder Individuen bilden.
260
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
schen Interdependenzen als einer der drei nachhaltigen Veränderungstreiber beschrieben. Im zweiten Kapitel wurden unter der Bezeichnung „netzwerkorientiertes Mindset“ grundlegende Funktionen thematisiert, die Führungskräfte mit ihren Denk-, Fühl- und Handlungsmustern abdecken müssen, um in Netzwerken effektiv zu arbeiten. Die im ersten Kapitel beschriebene Gesamtentwicklung der sozio-technischen Interdependenzen hat in den letzten Jahrhunderten eine stetig zunehmende Dynamik gezeigt. Von der mit diesen Entwicklungen einhergehenden räumlichen Ausweitung und sozio-technischen Vielschichtigkeit der Interdependenzen blieb kein Bereich der hochindustrialisierten Gesellschaften unbeeinflusst. Besonders deutlich ist jedoch die Schubkraft der Interdependenzentwicklung in der sich internationalisierenden Wirtschaft seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die ausgeprägte Dynamik, die durch die sozio-technischen Interdependenzen in der Marktwirtschaft entsteht, unterstreicht auch Harmut Rosa in seinem Werk „Beschleunigung: Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne“: „Nun muss man in der Tat nicht lange suchen, um ein konstitutives Element der modernen Gesellschaft zu identifizieren, das die beiden Prinzipien – Beschleunigung und qualitative Steigerung bzw. Beschleunigung zum Zweck der Steigerungg – in sich vereinigt und in einer gemeinsamen Handlungslogik verbindet: das System der kapitalistischen Wirtschaft, in dem Beschleunigungg zu einem unentrinnbaren, in die materialen Strukturen der Gesellschaft eingelassen Sachzwang wird“ (Rosa 2005, 257f.). Die Unternehmen und ihre Mitarbeiter sind zugleich Gestalter und Opfer der wachsenden sozio-technischen Interdependenzen und Dynamik in der Wirtschaft. Im besonderen Maße sind dabei die Führungskräfte – je exponierter die Position, desto stärker – Gestalter und Opfer der wachsenden Abhängigkeitsgeflechte.200 Warum dies so ist, lässt sich durch die Definition201 und kurzen Erläuterungen von Castells zu Netzwerken verdeutlichen: „Ein Netzwerk besteht aus mehreren untereinander verbundenen Knoten. [...] Die von Netzwerken definierte Topologie bringt es mit sich, dass die Distanz (oder die Intensität und Häufigkeit der Interaktionen) zwischen zwei Punkten (oder sozialen Positionen) geringer (oder häufiger oder intensiver) ist, wenn beide Punkte Knoten in einem Netzwerk sind, als wenn sie nicht zum selben Netzwerk gehören“ (Castells 2004, 528). 200 In einer Studie, die das Beratungsunternehmen PriceWaterhouseCoopers im Jahr 2006 mit 1400 CEOs durchführte, wurde herausgearbeitet: „77% of global CEOs say that the level of complexity in their organisations is higher than it was 3 years ago“ (PriceWaterhouseCoopers 2006, 32). 201 „Eine einheitliches Verständnis darüber, was Netzwerke sind, existiert nicht“ (Köhne 2006, 35).
3.3 Operative Führung
261
Damit Führungskräfte ihre Kernaufgaben wahrnehmen können, nämlich für die Ausrichtung des Unternehmens zu sorgen und das Performanceniveau der Ressourcen zu sichern (strategische Führung), aber auch die Mitarbeiter in diese zielorientierte Arbeit einzubinden (operative Führung), müssen sie nicht nur im Sinne von Castells interaktionsintensive Netzwerkpunkte in mehreren Netzwerken belegen, sondern darüber hinaus dafür sorgen, dass diese Netzwerke zielorientiert für das Unternehmen arbeiten. Ausgehend von dieser funktionalen Positionierung der Führung, kommt es im Zusammenspiel mit der räumlichen Ausdehnung und Dichte der wirtschaftlichen Netzwerke in den letzten Jahrzehnten für die Führungskräfte in den Unternehmen zu einer steigenden Intensität und Häufigkeit der Interaktionen. Paradoxe Indikatoren für die hier diagnostizierte Interdependenz- und Komplexitätsentwicklungen in Führungspositionen sind die in den letzten 20 Jahren populär gewordenen Instrumente für das Zeit- und Aufgabenmanagement. Paradox sind diese Instrumente deshalb, weil Führungskräfte, die ihre Kernfunktion als „interaktiver Knotenpunkt“ effektiv wahrnehmen wollen, dem steigenden Interaktionsaufwand kaum entgehen können. Sie müssen hingegen unweigerlich eine soziale Position einnehmen, die besonders häufige und intensive Interaktionen erfordert, das heißt sie organisieren und treiben einerseits unweigerlich den Figurationsdruck, den sie durch Zeit- und Aufgabenmanagementtechniken andererseits zu minimieren versuchen. Durch den Blick auf die spezifische soziale Position der Führungskraft in den sich räumlich ausdehnenden und verdichtenden ökonomischen Interdependenzen wird deutlich, dass es eine sich dynamisch verändernde Aufgabe der (operativen) Führung ist, die sich schnell wandelnden unternehmensinternen und –externen Interdependenzen effektiv zu managen. Um diese Herausforderungen der Führung, die sich aus der Einbindung in sich schneller verändernde unternehmensinterne und –externe Abhängigkeitsgeflechte ergeben, noch besser erfassen zu können, kann der oben eingeführte Begriff der Führungsfiguration genutzt werden. Warum dies hilfreich ist, Führung in Unternehmen als Führung in und von Interdependenzen zu denken, lässt sich an einer wichtigen Veränderung der Unternehmenslandschaft in den letzten Jahrzehnten verdeutlichen: In vielen Industrien hat in den letzten Jahrzehnten die Wertschöpfungstiefe (Fertigungstiefe) kontinuierlich abgenommen. Besonders deutlich ist diese Entwicklung in der etablierten Großindustrie, zum Beispiel der Automobilindustrie, zu erkennen. Am Anfang des 21. Jahrhunderts produziert das Unternehmen Porsche seine Sportwagenmodelle 911 und Boxter mit einer Fertigungstiefe von ca. 20%, den Cayenne mit 10% und den für 2009 geplanten Panamera wahrscheinlich mit einer Eigenfertigung von 15% (vgl. www.wikipedia.de). Aber auch in der Versicherungswirtschaft, die noch in den 1990er
262
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Jahren hoch integriert gearbeitet hat, sinkt seitdem die Wertschöpfungstiefe (vgl. Abb. 69). Die sinkenden Fertigungstiefen haben vielfältige Konsequenzen für den Unternehmensaufbau, die Gestaltung der Wertschöpfungsketten und die Führungsorganisation (vgl. Picot & Reichwald & Wigand 1996, 199-306; MüllerStewens & Lechner 2001, 354-362). Grob zusammengefasst kann in einigen Branchen und / oder Unternehmenstypen schon von einem Übergang vom integrierten und hierarchisch organisierten zum vernetzten Unternehmen gesprochen werden.202 Abhängig davon, wie weit diese Veränderungen des Unternehmensaufbaus fortgeschritten sind, verändern sich die Führungsfigurationen, das heißt die funktionalen Abhängigkeiten, in denen Führungskräfte agieren müssen, grundlegend. Während die Führungskräfte sich im 20. Jahrhundert noch in hierarchisch aufgebauten und weitgehend autonom produzierenden Unternehmenseinheiten bewegt haben, werden die Führungsfigurationen in stärker vernetzten Organisationen durch vier komplexe, aber gleichgerichtete Veränderungsprozesse beeinflusst: die Grenzen der Unternehmenseinheiten (horizontal), der Hierarchien (vertikal), die Unternehmen selbst (extern) und der Länder, in denen die Unternehmen ihren Hauptsitz haben (geografisch), öffnen sich zunehmend (vgl. Ashkenas & Ulrich & Jick & Kerr 1998, 11-13). Diese Öffnung der Unternehmen, die unter anderem mit der sinkenden Wertschöpfungstiefe einhergeht, erweitert die funktionalen Abhängigkeiten der Führungskräfte im Alltagsgeschäft und steigert den Abstimmung- und Kommunikationsaufwand deutlich. Warum die Kommunikationsleistung in den offeneren und vernetzten Unternehmen steigen muss, wenn der Steuerungsanspruch nicht aufgegeben werden soll, zeigt eine Regelmäßigkeit, die Norbert Elias in seinen Studien sozialer Interdependenzen herausgearbeitet hat: „Aber in welcher Form auch immer, diejenige Figuration in der Hierarchie der Figurationen, die die höchste Stufe der Integration und der organisierten Macht repräsentiert, ist zugleich die Einheit mit der höchsten Fähigkeit, ihren eigenen Kurs zu steuern. [...] Und es ist die Struktur und Entwicklung dieser Integrationseinheit, die in letzter Instanz die Struktur und Entwicklung ihrer Teileinheiten, einschließlich ihrer individuellen Mitglieder, bestimmt“ (Elias 1983b, 53). Das heißt, wenn Unternehmen bei der Herausbildung von Netzwerkstrukturen, wie sie in der Abb. 70 für drei Unternehmen dargestellt sind, stärker desintegrieren, als dies für die homogenen Strukturen industrieller Unternehmensorganisationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich war, dann steigt der Interaktionsaufwand der Führungskräfte, um bei der Einbindung 202 Wieweit schon in den 1980er und 1990er Jahren die Kooperationsnetzwerke in der Halbleiterindustrie und der Automobilindustrie fortgeschritten waren, zeigen in anschaulichen Netzwerkdarstellungen Picot & Reichwald & Wigand 1996, 282.
3.3 Operative Führung
Wertschöpfungstiefe in der Automobilindustrie nach Magna Steyr
Zielverfolgung erfolgreich zu sein.203
31% 24% X% Hersteller • Markenmanagement • Design • Entwicklungsintegration • Fertigungsentwicklung • Rohbau • Lackierung • Fertigung • Supply Chain Management • Einkauf • Vertrieb • After Sales
Lieferanten
Hersteller • Markenmanagement • Design • Vertrieb • Dienstleistung
Systemintegrator System- / ModulLieferant Lieferant
1990
2000
2010
Wertschöpfungstiefe in der Assekuranz nach Detecon Projekterfassung
100% 80% Versicherer • Antragsbearbeitung • Bestandsbearbeitung • Schadensbearbeitung • Marketing / Produktentwicklung • Risikosteuerung • Vertrieb • Kapitalanlage • Controlling / Rewe • Personal • IT • Zentrale Dienste
Externe Dienstleister (Assistance, Call Center)
1990
2000
263
X% Versicherer • Marketing / Produktentwicklung • Risikosteuerung • Vertrieb Teile von • Controlling • Personal • IT Externe Dienstleister (Kapitalanlagen, Assistance, IT, Verwaltung, Call Center, etc.)
2010
Die neuere Netzwerkforschung bezweifelt grundsätzlich, dass diese Interaktions- und Koordinationsleistung zur zielorientierten Beeinflussung von komplexeren Netzwerken von Führungskräften geleistet werden kann (vgl. Aderhold & Wetzel 2005, 19). Diese These der Netzwerkforschung lässt sich gegenwärtig nicht abschließend prüfen. Es lässt sich Abb. 69: Entwicklung der Wertschöpfungstiefen in der Automobilindustrie und der Versicherungswirtschaft von 1990-2010 (Magna Steyr, Detecon)
203 „Today’s most valuable workers undertake business activities that economists call ‘interactions’: in the broadest sense, the searching, coordinating, and monitoring required to exchange goods or services” (vgl. Johnson & Manyika & Yee 2005, 23).
264
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
hingegen nachweisen, dass komplexere Unternehmensnetzwerke eine hohe Eigendynamik aufweisen (vgl. Bolbrügge 1997). Gleichwohl gelingt es Führungskräften ohne Zweifel in und mit diesen stark vernetzten Unternehmen, auch gezielt wirtschaftliche Erfolge zu generieren. Da nicht davon auszugehen ist, dass die angestrebten wirtschaftlichen Erfolge nur zufällig erreicht werden, kann man schlussfolgern, dass der wirtschaftliche Erfolg vieler Netzwerkunternehmen durch Führungskräfte und neue Formen von Führungsfigurationen (zum Beispiel unternehmensübergreifende Führungsnetzwerke) gezielt beeinflusst wird204. Um jedoch die gezielte Beeinflussung von Netzwerken durch Führung – entgegen den gegenwärtigen Annahmen der Netzwerkforschung – zu etablieren, muss der Umgang mit den sich schnell ändernden internen und externen Unternehmensnetzwerken weiter professionalisiert werden. Durch diese Feststellung wird jedoch nicht die generelle Skepsis der Netzwerkforschung gegenüber der Steuerbarkeit von Netzwerken unterstrichen, sondern auf den normalen Prozess der Professionalisierung verwiesen, den die Führung in hierarchischen Organisationen auch über viele Jahrzehnte – mit mehr oder weniger großen Erfolg – durchlaufen musste. Dass gegenwärtig die Führungstheorie dieser Professionalisierung der Führung von Netzwerken skeptisch gegenübersteht verwundert nicht, wenn man dieses Forschungsfeld in den Rahmen der gesamten wirtschaftswissenschaftlichen Forschung eingliedert: „Yet, despite the importance of networks to economic activity, they have not been a central concern of economists until recently. Sociologists have studied networks for many years, but generally in the context of sociopolitical relationships rather than economics. Traditionally Economics has tended to gloss over networks because they don’t fit neatly into the equilibrium paradigm. Traditional models typically assume that agents only interact through auctions (or some other setting mechanism) or in one-on-one negotiations. This assumption came about because auctions and two-person games can be portrayed as equilibrium systems, while larger groups of people involved in complex interactions are much more difficult to model mathematically and in many cases require computer simulation” (Beinhocker 2007, 141f.). Vor diesem Hintergrund ist es wenig fruchtbar, wie bei der Erläuterung der beiden anderen grundlegenden Aspekte operativer Führung (dem Menschenbild und den sozialen Beziehungen) hier nochmals die von Wunderer angeführten Führungstheorien zu ihrem Beitrag zum Verständnis von Netzwerken und Interdependenzen differenziert zu befragen.205 Damit ist nicht gesagt, dass 204 In dem Kapitel über das netzwerkorientierte Mindset wurde das wirtschaftlich durchaus erfolgreich agierende Unternehmensnetzwerk „Star Alliance“ als Beispiel diskutiert. 205 Für einige Theorien leistet dies zum Beispiel Köhne 2006, 63-86; eine umfangreichere Analyse der Literatur zur peronalen Führung in Netzwerken bietet: Winkler 2006.
265
3.3 Operative Führung
es zum Thema Netzwerke wenig Forschungsaktivitäten gäbe.Vielmehr ist die Forschungssituation in diesem Spezialgebiet kaum anders als in den anderen Forschungsgebieten, die in dieser Arbeit thematisiert wurden: „Quantitativ ist die Netzwerkforschung, vor allem in Bezug auf die empirische Forschungslandschaft, seit langem kaum noch überschaubar; zu einem Satz an konsistenten Aussagen, bzw. zu einem grundsätzlichen Theorierahmen hat sie noch nicht gefunden“ (Aderhold & Wentzel 2005, 18). Die Gründe, warum auch auf diesem Feld die Theoriebildung wenig Erkenntnisfortschritte zu verzeichnen sind, obgleich die sich stark verändernden Bedingungen für die Führung in Netzwerkorganisationen schon in den frühen
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Abb. 70: Die Unternehmensnetzwerke am Anfang des 21. Jahrhunderts
266
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
1990er Jahren herausgearbeitet werden konnten (vgl. Picot & Reichwald & Wigand 1996, 429-505), wurden in der oben zitierten forschungsgeschichtlichen Einordnung der Netzwerktheorien von Beinhocker zusammengefasst. Ähnliche Gründe für die geringen Fortschritte in der Theoriebildung sehen Jens Anderhold und Ralf Wentzel: „So operiert die Netzwerkforschung im Wesentlichen auf der Grundlage klassischer organisationstheoretischer Prämissen, ohne vorab zu prüfen, inwieweit sie noch angemessen sind. Zu diesen Prämissen gehört etwa der methodologische Individualismus und der zumeist ökonomisch ausgelegte Rationalismus“ (Aderhold & Wetzel 2005, 18). Die Gründe für die verbreitete Anwendung des methodologischen Individualismus und atomistischer Ansätze wurden in dieser Arbeit mehrfach kritisch reflektiert. Dass auch die Netzwerkforschung diese methodischen Ansätze weiterhin wählt, führt – abgesehen von den grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Bedenken – noch aus einem anderen Grund zu einer fragwürdigen Entwicklung: Die Veränderung des Untersuchungsgegenstandes vollzieht sich hier schneller als die Anpassung der Forschungsansätze. Wie grundlegend sich der Untersuchungsgegenstand im Übergang von der hierarchischen zur Netzwerkorganisation verändert hat, zeigt die Gegenüberstellung „zentraler Koordinationsmerkmale“ für die Figurationenformen „Markt“, „Hierarchie“ und „Netzwerke“ bei Köhne (vgl. Abb. 71). Die von Beinhocker, Aderhold und Wetzel beschriebenen „klassischen“ Forschungsparadigmen führen zu einem Auseinanderdriften von Führungspraxis und Netzwerkforschung. Während die Führungskräfte akzeptieren müssen, dass sich Rollen und Regeln der Führung durch die Entwicklung der sozialen Beziehungen und wirtschaftlicher Netzwerke verändern, zeigt die Forschung bei der Verarbeitung der neuen Unternehmens- und Führungswelten einen Nachholbedarf. Führungskräfte müssen für eine effektive Führung in den dynamischen und komplexeren Interdependenzen akzeptieren, dass die Kategorien wechselseitige Abhängigkeit, faire Kommunikation, Vertrauen, Umgang mit Unterschiedlichkeit, Suche nach Stärken, Aushandlung von Standards etc. wichtiger werden. Wenn die Forschung einen Beitrag zur effektiven Steuerung von dynamischen und komplexen Interdependenzen liefern möchte, dann wird sie sich mit ähnlichen Kategorien auseinandersetzen und individualisierende sowie rationalistische Konzepte aufgeben müssen.206 206 Die Kritik am methodologischen Individualismus, der grundsätzlich das Individuum als wissenschaftliches Konstrukt (z.B. homo oeconomicus) in den Mittelpunkt stellt, heißt nicht, dass in dieser Arbeit der methodologischen Kollektivismus (oder: methodologischen Holismus) vertreten wird. Die Theorien von Pierre Bourdieu (StrukturenHabitusformen-Praktiken) und von Norbert Elias (Figurationstheorie), auf die in dieser Arbeit zurückgegriffen wurde, bieten wissenschaftliche Alternativen zu den ideologisch
267
3.3 Operative Führung
Zentrale Merkmale
Markt
Hierarchie
Netzwerk
Vertrag / Eigentumsrechte
Anstellungsverhältnis / unterschiedliche soziale Beziehungen + Verhältnisse
komplementäre Eigenschaften
Kommunikationsmittel
Preise
Verfahrensregeln
Vertrauen
Methodik der Konfliktlösung / Sanktionen
Verhandlung / rechtliche Durchsetzung
Ermächtigung / Überwachung / Zwang
gegenseitige verbindliche Normen / Reputation
hoch
niedrig
mittel
niedrig
mittel-hoch
mittel-hoch
Verhandlungsatmosphäre
sachlich und / oder misstrauisch
formell / bürokratisch
offen / zum gegenseitigen Vorteil
Grad der Abhängigkeit der Präferenzen der Akteure
unabhängig
abhängig
interdependent
Normative Basis
Flexibilitätsgrad Verpflichtungsgrad zwischen den Akteuren
Abb. 71: Die zentralen Koordinationsmerkmale von Markt, Hierarchie und Netzwerk (Köhne, S. 37)
Für den Leadership Asset Approach wird die Schlussfolgerung gezogen, dass die Herausforderung für die Führungskräfte, zunehmend komplexe und dynamische Interdependenzen zu managen, von grundlegender Bedeutung ist. Es ist demnach eine Schlüsselaufgabe der operativen Führung in Unternehmen, die sozialen Interdependenzen im Sinne einer effektiven Ressourcennutzung zu steuern. Das heißt letztlich nichts anderes, als dass die vielfältigen Verhaltensstandards, Interessen und Konkurrenzverhältnisse, die Menschen in Unternehmen hervorbringen, effektiv kanalisiert werden müssen. Der Versuch der klassischen Betriebswirtschaftlehre in Deutschland (von Gutenberg bis Wöhe), Managementaufgaben aus „rein“ ökonomischen Erkenntnissen abzuleiten, versperrt den Blick für diese Herausforderungen der operativen Führung (vgl. Hopfenbeck 1991, 6). Deshalb verweist die operative Führung im Sinne des LAA darauf, dass die Steuerung der menschlichen Abhängigkeiten zum größten Teil durch interaktive Führungsaktivitäten geleistet werden muss. Ergänzt wird dieser interaktive Teil der operativen Führung um Aktivitäten, die zur Sicherung der Ausstattung, Qualität und Kontrolle dienen. Für Führungskräfte, die alltäglich mit den komplexen und dynamischen Interdependenzen von Unternehmungen konfrontiert sind, überrascht die Herausarbeitung des Managements von Interdependenzen als grundlegenden Asgeprägten Polarisierungen.
268
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
pekt der operativen Führung nicht. Gleichwohl fehlt es auch in der Praxis an Wissen, um in den komplexeren und dynamischen Unternehmensfigurationen effektiv zu führen. Von den etablierten Führungstheorien ist hier kaum Abhilfe zu erwarten, da sie durchgängig einen Mangel aufweisen: Es fehlt eine entwikkelte Interdependenztheorie der Führung.207 Gerade vor dem Hintergrund dieser praktischen und theoretischen Probleme im Umgang mit den komplexeren und dynamischen Netzwerken muss der grundlegenden Aufgabe, diese neuen Führungsfigurationen professionell zu managen, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zusammen mit den beiden anderen grundlegenden Aspekten der (operativen) Führung, der Reflexion des Menschenbildes und der Gestaltung von sozialen Beziehungen, bildet der professionelle Umgang mit den dynamischen Interdependenzen deshalb den Orientierungsrahmen für die folgende Formulierung der wichtigsten Funktionen der operativen Führung.
3.3.3 Die wichtigsten Funktionen operativer Führung Für die Mindsets wurden die wichtigsten Funktionen oben im Text beschrieben. Dies soll hier für die operative Führung geschehen.208 Dabei wird der Funktionsbegriff wieder als integrative Kategorie verwendet, unter der sich eine größere Zahl von Teilleistungen angliedern lässt. Konzeptionell bietet die durchgängige Nutzung des Funktionsbegriffs den Vorteil, dass die operativen Führungsleistungen auf einem ähnlichen Integrationsniveau formuliert werden können wie die Funktionen der performancerelevanten Mindsets. Somit wird eine sachgerechte Verbindung dieser beiden leistungsprägenden Funktionsbereiche einer Führungskraft möglich. Wie Abb. 72 zeigt, sind die Funktionen der operativen Führung, die unten vorgestellt werden, nicht als statische Systemfunktionen formuliert, sondern als interaktive Leistungen in Führungsfigurationen. Die übliche Beschreibung von Managementfunktionen, z. B. Planung, Organisation, Führung, Kontrolle, 207 Auf die Forschungen im Rahmen der Figurationstheorie wurde mehrfach verwiesen. Wichtige Aspekte zu einer Interdependenztheorie der Führung liefert Elias in seiner Studien über die höfische Gesellschaft (vgl. Elias 1983a). Auch gibt es schon länger Ansätze zu einer Theorie strategischer Abhängigkeiten (vgl. Neuberger 1995b, 76). Jedoch gilt bisher selbst für kleine Führungsfigurationen: „Die gruppendynamische Führungstheorie gibt es nicht (...)“ (Neuberger 2002, 410). 208 Ein alternatives Konzept, Führungsleistungen integrativ darzustellen, bietet die Rollentheorie (vgl. grundsätzlich: Dahrendorf 1977; im Zusammenhang mit der Führungstheorie: Neuberger 2002, 313-388). Eine breitere Gegenüberstellung beider Zugänge würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die zwei wesentlichen Schwächen des funktionalistischen Ansatzes, der zu einer entpersonalisierenden und systemstatischen Sicht verleiten kann, werden hier durch die Einbettung in eine dynamische Interdependenztheorie entschärft (vgl. hierzu die Hinweise in der Einleitung zu dieser Arbeit).
3.3 Operative Führung
269
legitimierende Absicherung von Managementhandeln nach innen und außen (vgl. Staehle 1992, 67)209, erfüllen zwar den Zweck, einen Überblick über die allgemeingültigen Führungs- oder Managementfunktionen (WAS der Führung) zu geben, sie entpersonalisieren aber soweit, dass sie von Kernherausforderungen der operativen Führung zugleich ablenken. Denn die Effektivität der operativen Führung ist abhängig von der Qualität der Kommunikation in der Führungsfiguration. Auch wenn es scheinbar darum geht, Sachaufgaben wahrzunehmen, wie zum Beispiel die Qualitätssicherung oder die Planung des Ressourceneinsatzes, so bedeutet dies für die operative Führung die Vermittlungg von Standards bzw. die Erläuterungg der Ressourcenverteilung. Folglich werden die Funktionen der operativen Führung im LAA weitgehend als umfassendere interaktive Leistungen beschrieben. Die beschriebenen Funktionen dienen zu einem wesentlichen Teil dazu, Menschen in die gemeinsame unterr nehmerische Zielverfolgung einzubinden und diese Zielverfolgung zu managen. Die in der Abb. 72 aufgelisteten Funktionen der operativen Führung in Unternehmen sind die notwendigen Führungsleistungen zu diesem unternehmerischen Zweck210. Die operativen Führungsfunktionen stellen keine strenge Führungssystematik dar, die sequenziell abgearbeitet werden könnte. Wie die performancerelevanten Mindsets in der Führungspraxis je nach Situation variabel ineinandergreifen, müssen auch die Funktionen der operativen Führung je nach Führungsherausforderung in vielfältigen Verknüpfungen abgerufen werden. Insofern gibt es zwar sachlogische Begründungen für die Zuordnung der operativen Führungsfunktionen zu den jeweiligen Mindsets, diese Zuordnung darf jedoch nicht zu der Annahme verleiten, diese zweckdienlichen Leistungen kämen in der Führungspraxis ausschließlich in der angeführten Zuordnung zum Einsatz.
3.3.3.1 Vom reflexiven Mindset zur operativen Führung: Interessen kanalisieren, Chancen verdeutlichen und Veränderungen anregen Bei der Erläuterung des reflektierenden Mindsets wurden die Kernfunktionen der Distanzierung und der Langsicht beschrieben. Diese Funktionen des reflexiven Mindsets ermöglichen es, sich den Veränderungen des Markets zu stellen, statt unhinterfragt einmal geschaffene Lösungen (Strategien, Prozesse, 209 Fredmund Malik zum Beispiel spricht in seinem populäre gewordenen Managementbuch „Führungen, Leisten, Leben“ zwar von Management-Aufgaben, nennt aber ähnliche Kategorien wie Staehle. 210 Auf der Seite 145 wurde darauf hingewiesen, dass die Mindsets und Funktionen der operativen Führung als konzeptionelle Antwort auf die herausgearbeiteten sozio-ökonomischen Entwicklungen formuliert wurden. Eine empirische Prüfung im Sinne des Kritischen Rationalismus wurde im Rahmen der Anwendung des LAS zum Teil schon geleistetet und wird kontinuierlich fortgesetzt.
270
Funktionen der Mindsets
Funktionen operativer Führung
Distanzierung
Interessen kanalisieren
Antizipation
Chancen verdeutlichen
Adaptation
Veränderungen anregen
Analyse
Zusammenhänge erklären
Synthese
Aktivitäten verbinden
Ausrichtung
Menschen einbinden
Orientierung
Orientierung vermitteln
Selbstkontrolle
Aufgaben delegieren
Veränderung
Marktsicht einfordern
Lernen
Entwicklungen ermöglichen
Planung
Innovationen planen
Informieren
Entscheidungsbasis schaffen
Differenzierung
Unterschiede einschätzen
Integration
Stärken nutzen
netzwerkorientiertes
Nutzenvermittlung
Nutzen vermitteln
Standardisierung
Standards schaffen
aktionsorientiertes
3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Entscheidung
Entscheidungen kommunizieren
Umsetzung
Ressourcen einsetzen
weltgewandtes
innovationsorientiertes
zielorientiertes
analytischsynoptisches
reflexives
Mindsets
Abb. 72: Funktionen der operativen Führung
3.3 Operative Führung
271
Produkte) fortzuschreiben. Das reflexive Mindset thematisiert im LAA damit eine Distanzierungsleistung, die als Anforderung an das Denken und Fühlen der Führungskraft formuliert werden kann. Im operativen Führungsprozess, das heißt hauptsächlich in der kommunikativen Arbeit mit den Mitarbeitern, ermöglicht die Distanzierungsfunktion des reflektierenden Mindsets ähnlich wichtige Leistungen:
Interessen kanalisieren Führungskräfte müssen im (operativen) Führungsprozess die Argumentationsstränge der Beteiligten zunächst distanziert hinterfragen, um den möglichen Nutzen der Beiträge für die gemeinsame Zielverfolgung einschätzen zu können. Diese Leistung, unterschiedliche Sichtweisen sachlich abzuwägen, ist bei der Führung von Wissensarbeitern aus folgenden Gründen wichtig: Zunächst erwarten die Mitarbeiter heute in den stärker demokratisierten Führungsbeziehungen, dass die Führungskraft ihre Argumente aufgreift und über nachvollziehbare Begründungen zu Entscheidungen kommt. Geschieht dies nicht, kann die Führungskraft nicht mit einem fortgesetzten Commitment ihrer Mitarbeiter rechnen. Um die Beiträge der Mitarbeiter einerseits integrativ, andererseits zielorientiert verarbeiten zu können, muss eine Führungskraft zunächst die notwendige Distanzierungsfähigkeit zeigen, statt sogleich engagiert eine einseitige Sichtweise zu vertreten. Die Distanzierungsleistung ermöglicht es der Führungskraft, mit den diversen Individual- und Gruppeninteressen, die Argumentationen, Positionen oder Konzepte in der Regel beeinflussen, produktiv umzugehen. Gerade für den operativen Führungsprozess stellt sich jedoch die Frage, wie diese Führungsleistung erbracht werden kann? Um die Distanzierungsleistung zu erbringen, ist es nicht notwendig, dass die Führungskraft im Einzelnen analysiert, welche Interessen hinter einer Positionierung stehen, zumal dies im operativen Geschäft in der Regel nicht zu leisten ist. Es reicht hingegen aus, wenn eine Führungskraft konsequent die Frage stellt: Inwiefern dient dieser Arbeitsbeitrag tatsächlich der gemeinsamen unternehmerischen Zielerreichung?211 Diese distanziertere Frage eröffnet im Unternehmen einen legitimen Weg, die diversen Argumentationsinteressen mit einer distanzierteren Sachlogik zu konfrontieren. Der Hinweis auf diese versachlichende Frage basiert jedoch nicht auf dem Glauben, mit einer einfachen Kommunikationsformel sei der Mythos vom „homo oeconomicus“ beliebig in eine reale Führungswelt zu verwandeln. Die Positionierungen, mit denen eine Führungskraft im operativen Alltag umgehen muss, bleiben mehr oder weniger engagiert, das heißt mit Erfahrungen, Interessen und Emotionen verbunden. Deshalb geht es in der Gestaltung von Führungsbeziehungen – wie 211 Die Nutzung dieser Frage in der operativen Führung verdeutlicht die Notwendigkeit, die strategische Führung mit der operativen Ressourcennutzung eng zu verknüpfen (vgl. Kaplan & Norton 1997, 2001, 2006).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
in menschlichen Beziehungen generell – nicht um die realitätsferne Frage, ob eine Position oder eine Argumentation im absoluten Sinne rational oder irrational ist, sondern um die mühsame Justierung des Denkens, Fühlens und Handelns auf dem Kontinuum zwischen Engagement und Distanzierung (vgl. Elias 1983b). Insofern dient die Frage nach dem Beitrag zur gemeinsamen Zielverfolgung, die eine Führungskraft in vielfältigen Varianten in den Arbeitsprozess einbringen kann, dazu, eine produktive Balance zwischen den Polen der engagierten Interessenvertretung und des distanzierten Analysierens herzustellen. Gelingt einer Führungskraft die Justierung auf dem Kontinuum zwischen Engagement und Distanzierung nicht, indem sie zu emotional, zu wertend, das heißt zu wenig distanziert in ihrer Führungsfiguration agiert, dann wird sie die Arbeitsprozesse kaum überblicken und effektiv steuern können. Ist sie hingegen zu wenig den Mitarbeitern zugewandt und in die Themen eingebunden, das heißt zu wenig einfühlend nachempfindend und engagiert, dann wird sie kaum überzeugen und inspirieren können. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Regel formulieren: Will eine Führungskraft vermeiden, zu unreflektiert mit den Erfahrungen, Interessen und Emotionen der anderen umzugehen, dann muss sie zum distanzierten Zuhören, Reflektieren und Vermitteln in der Führungsfiguration fähig sein. Diese kommunikativen Leistungen ermöglichen es, die Interessen der Mitarbeiter und anderen der Führungskräfte begründet zu kanalisieren und dann engagiert auf die gemeinsame Zielerreichung auszurichten.
Chancen verdeutlichen und Veränderungen anregen Die Distanzierungsfunktion ist darüber hinaus der Schlüssel zu weiteren Leistungen, die für eine effektive Führung maßgeblich sind, nämlich für die Vermittlung der Chancenorientierung und für die Anregung von Veränderungsbereitschaft. Die Verknüpfung dieser Führungsleistungen mit der Distanzierungsfunktion mag zunächst irritieren, weil diese Felder in der populäre Leadershipdiskussion vornehmlich mit stark emotionalisierenden Kategorien belegt werden (vgl. Kotter 1996, 26; Kouzes & Posner 1995, 18). Die populären Lesarten lenken jedoch davon ab, dass es zunächst darum geht, eine distanzierte Haltung gegenüber etablierten Lösungen einnehmen zu können. Nur wenn eine Führungskraft hierr zu in der Lage ist, dann kann sie die Marktfähigkeit der Strategien, Strukturen, Prozesse, Produkte und des Führungsverhaltens aus einer Outside-in-Perspektive einschätzen und den internen Veränderungsbedarf rechtzeitig antizipieren. Ohne diese Distanzierungsfähigkeit (hier: Outside-in-Perspektive) ist die Führungskraft so stark eingebunden, dass sie ihre Herausforderungen ausschließlich arin sieht, Störungen im Alltagsgeschäft zu beheben –, das heißt sie agiert als reiner Problemlöser. Zwar ist diese Problemlösungsarbeit ein unvermeidbarer Teil ihres Führungsalltags, sie sichert aber nur den gegenwärtigen Bestand, nicht aber die Überlebensfähigkeit des Unternehmens in der Zukunft: „Results are obtained by exploiting opportunities, not by solving problems.
3.3 Operative Führung
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All one can hope to get by solving a problem is to restore normality. All one can hope, at best, is to eliminate a restriction on the capacity of the business to obtain results. The results themselves must come from the exploitation of opportunities” (Drucker 1993c, 5f.). Um zu vermeiden, dass sich das operative Führungshandeln ausschließlich auf die Erhaltung von Strategien, Prozessen, Produkten richtet, die für die Märkte von gestern und zum Teil noch heute erfolgsrelevant waren und sind, muss neben der Marktorientierung auch das Denken in Alternativen gestärkt werden. Hierzu müssen Führungskräfte einen Teil der Ressourcen auf das Erkennen und Vermitteln von Alternativen oder Chancen richten. Da die Neigung, hinreichende Ressourcen auf unternehmerische Alternativen zu richten (Distanzierungsproblem) in der Regel gering ist, müssen diese Aktivitäten gezielt gefördert werden (vgl. Schein 2002, 72-79).212 Bei den Führungskräften kann der Blick für Entwicklungsoptionen und das Denken in Alternativen zum Beispiel durch die Teilnahme an externen Wissensnetzwerken, die entsprechende Benchmarks liefern, geschärft werden. Einen anderen Weg, die Bereitschaft von Führungskräften zu steigern, Veränderungschancen zu ergreifen, liegt in der gezielten Einsteuerung von regelmäßigen Funktionswechseln.213 Durch diese Maßnahmen kann die Distanzierungsfähigkeit der Führungskräfte gegenüber etablierten Lösungen gefördert und die Bereitschaft der Chancenorientierung gestärkt werden. Die bei den Führungskräften selbst ansetzenden Maßnahmen zur Förderung des Denkens in Alternativen sind (nur) ein erster, wenn auch notwendiger Schritt. Durch die gezielte Distanzierung von internen Lösungen und den Blick vom Markt in das Unternehmen (Outside-in-Perspektive) kann die Führungskraft eine Art Grundhaltung zum Chancen- und Veränderungsmanagement entwikkeln. Eine Grundhaltung, deren Zweck Peter Drucker in seiner Arbeit „Management Challenges for the 21st Century“ treffend zusammengefasst hat: „One cannot manage change. One can only be ahead of it“ (Drucker 2001a, 73). Die Führungsleistung („...be ahead of it“) ist eine wichtige Voraussetzung, um als Führungskraft glaubwürdig Veränderungen von den Mitarbeitern fordern zu können. Aus dieser Positionierung heraus ist es der Führungskraft möglich, Mitarbeitern zu verdeutlichen, dass es Perspektiven eröffnet, wenn nicht nur 212 Untersuchungen zur Schwerpunktbildung in der betrieblichen Innovationsarbeit zeigen die geringe Neigung, Ressourcen auf die Schaffung und Entwicklung von geschäftlichen „Erneuerungen“ oder „innovativen Durchbrüchen“ zu verwenden (vgl. Berth 2003, 18; Lev 2004, 44; Kim & Mouborgne 2005). 213 Mit Blick auf die notwendige fachliche Expertise und Komplexität der meisten Führungsaufgaben bezweifelt der Autor jedoch, dass eine kürzere Verweildauer als drei bis fünf Jahre in einer Führungsposition sinnvoll ist.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
etablierte Bestandteile der Wertschöpfungsketten effektiv genutzt, sondern auch rechtzeitig nach verbesserten oder anderen Produkten und Prozessen gesucht und an ihrer Verwirklichung gearbeitet wird. Dabei kann diese Führungsleistung, die in der Veränderung liegenden Chancen zu verdeutlichen und damit Veränderungsbereitschaft anzuregen, nicht durch strukturelles Management eingesteuert werden. Dies ist vielmehr „the unique and essential function of leadership“ (Schein 1991, 317). Mit dieser Formulierung ist sogleich das Verständnis des LAA zusammengefasst: Die Verdeutlichung von Chancen und Anregung von Veränderungen sind Anforderungen an das individuelle und kommunikative Verhalten der Führungskraft. An diesen Verhaltensweisen ist ablesbar, ob ein reflexives Mindset performance- oder marktorientiert gelebt wird.214 Die kommunikative Führungsfunktion, den Mitarbeitern aus einer marktorientierten Perspektive rechtzeitig Veränderungschancen zu verdeutlichen, ist zunächst mit Leistungen (Motivation, Inspiration, Richtung geben) verbunden, die der Kategorie „Leadership“ in Abgrenzung zum „Management“ in der populären Managementliteratur eine positive Konnotation gegeben haben (vgl. Kouzes & Posner 1995, 18, Kotter 1996). Die Führungsleistungen „Chancen zu erkennen“ und „Veränderungen anzuregen“ sind aber nicht nur mit diesen positiv assoziierten Aktivitäten verbunden. Die Gründe, warum es sowohl in der strategischen als auch in der operativen Führungsarbeit schwer fällt, Chancen zu erkennen und sie in das Unternehmen hineinzutragen, liegen nicht weniger in den negativ empfundenen Konsequenzen dieses Handelns. Die Kehrseite der Chancenorientierung oder der Einführung neuer Lösungen ist das Loslassen vom Alten und Gewohnten. In den Unternehmensprozessen heißt dies, die Führungskräfte müssen den Mitarbeitern nicht nur Chancen aufzeigen, sondern auch die Konsequenzen der Wahrnehmung von Chancen, nämlich das Loslassen von nicht mehr marktgerechten Lösungen, vermitteln. (vgl. Schein 2002, 72). Auch diese in der Regeln negativ empfundene Seite der Veränderung muss zunächst im Top-Management bewältigt werden: Hier muss bei grundlegenden strukturellen oder strategischen Fragen mit verfestigten Denk-, Fühl- und Handlungsmustern gebrochen werden. Dabei muss die wichtigsten Stütze der etablierten Denkmuster, nämlich die Verteidigung von Machtinteressen, besonders bedacht und bearbeitet werden. Für die operative Führung ist die Herausforderung nur in einem Punkt anders gelagert: Bevor in der Breite operative Führungsaktivitäten gefragt sind, 214 Edward E. Lawler bietet einen umfassenderen Ansatz und verweist auf einige Instrumente, um ein gesamtes Unternehmen marktorientiert und anpassungsfähig auszurichten (vgl. Lawler & Worley 2006). Zur Beeinflussung von Organisationskultur durch Führung hat Edgar H. Schein das Grundlagenwerk „Organizatinal Cultur and Leadership“ verfasst (vgl. Schein 1991).
3.3 Operative Führung
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sind die strategischen Entscheidungen in der Regel gefallen. Ansonsten sind die operativen Führungsherausforderungen, die sich bei der Chancenorientierung und Veränderungsarbeit stellen, über die Hierarchiestufen gleich. Es geht durchgängig darum, die Veränderungsbereitschaft bei den unterstellten Führungskräften und Mitarbeitern als Gegenbewegung zu den etablierter Denk-, Fühl-, Handlungsmuster und Interessen zu stärken. Warum dies generell eine komplexe Aufgabe ist, wurde durch die Erläuterungen zum Konservatismus des menschlichen Habitus und den Konsequenzen für die Mindsets oben im Text dargelegt. Eric D. Beinhocker bietet in seinem Werk „The Origin of Wealth“ eine Zusammenfassung dieses Problems aus Sicht der Kognitionswissenschaften: „How well an organization adapts is partly a function of the adaptability of the minds of individuals in it. This is a question not only of the minds at the top, but also of the minds up and down the hierarchy – it doesn’t help much if the CEO “gets” the need for change but no one else does, or if the young managers see it but the codgers on the executive committee don’t. But “getting it” is challenging. Recent work in cognitive science shows that people tend to learn within the context of a mental model. And while humans are good at adding new information to their existing mental model, they have more difficult time changing those models at a more fundamental level. In short, we tend to get stuck in our ways” (Beinhocker 2007, 357) Damit bleibt die Frage, was Führungskräfte systematisch tun können, um den Konservatismus des eigenen Habitus zu hinterfragen und vorbildlich die Veränderungsbereitschaft bei den unterstellten Führungskräften und Mitarbeitern anzuregen? Hierzu verweist Beinhocker auf vier Felder, die zur Steigerung der Bereitschaft und Fähigkeit zur Antizipation (Erkennen von Chancen) und Adaption (Anpassung an Veränderungen) über die Hierarchien hinweg bearbeitet werden müssen (vgl. ebenda, 357-379): d der eigenen Person oder der Die Neigung, den erreichten Leistungsstand Organisationseinheit zu optimistisch einzuschätzen, muss durch einen realistischen Blick entgegengewirkt werden. Die vom Nobelpreisträger Daniel Kahneman als „delusional optimism“ beschriebene Tendenz, die eigene Konkurrenzfähigkeit zu überschätzen, müssen Führungskräfte durch eine Outside-in-Perspektive bei der Formulierung von Leistungsstandards und durch entsprechende Ziele und Feedbacks entgegenwirken.215 Eine weitere Hürde, die auf dem Weg zur Chancenorientierung überwun215 Beinhocker verweis in diesem Kontext auf eine von Lovallo und Kahneman diskutierte Studie, in der eine Millionen Studenten nach ihrer Selbsteinschätzung zu Führungsfähigkeiten befragt wurden. 70 Prozent der Studenten schätzen ihre Führungsfähigkeiten über dem Durchschnitt ein, nur 2 Prozent schätzten hingegen ihre Führungsfähigkeiten als unterdurchschnittlich ein (Beinhocker 2007, 358).
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
den werden muss, ist das Risikoverständnis. Durch die Aufbereitung des Risikothemas in der modernen Betriebswirtschaft (Risk Management) ist die paradoxe Situation entstanden, dass Risikovermeidung nicht mehr als Hürde auf dem Weg zum unternehmerischen Erfolg, sondern als Sprungbrett dorthin gesehen wird. Damit hat die evolutionär geprägte Neigung, Verluste oder Risiken zu vermeiden, ihre psychologische Rationalisierung216 in der modernen Betriebswirtschaft gefunden. Dadurch sind jedoch die strategischen und operativen Probleme, Chancen zu erkennen und Veränderungen zu treiben, nicht professionell verringert, sondern eher durch Schlüsselbegriffe wie „Risikominimierung“ oder gar „Risikovermeidung“ vergrößert worden. Denn: “To try to eliminate risk in business enterprise is futile. Risk is inherent in the commitment of present resources to future expectations. Indeed, economic progress can be defined as the ability to take greater risks. The attempt to eliminate risks, even the attempt to minimize them, can only make them irrational and unbearable. It can only result in that greatest risk of all: rigidity” (Drucker 1993b , 512). Was Drucker hier aus Sicht heutiger Risk Manager als wahrscheinlich wenig akzeptable Position zum unternehmerischen Risikomanagement formuliert, ist hingegen ohne Frage eine notwendige psychologische Justierung für das Chanceund Veränderungsmanagement. Um im operativen Führungsprozess ein starres und steifes Denken und Handeln (rigidity) zu vermeiden, muss die Bereitschaft, etwas Neues zu „riskieren“, ständig geübt werden. Dies ist unter anderem dadurch zu sichern, dass Führungskräfte dazu auffordern, erreichte Arbeitsstände ständig zu optimieren und nach spätestens zwei bis drei Jahren die Aufgaben der Mitarbeiter zu verändern (Aufgaben ergänzen oder wechseln). Die Führungsherausforderung, das Chancendenken und die Veränderungsbereitschaft zu fördern, erfordert auch einen überlegten Umgang mit der „Last der Erfahrung“. Wie in dem Kapitel zur Führungspersönlichkeit dargelegt, sorgt der Habitus, in dem sich unsere Erfahrungen unweigerlich niederschlagen, für Handlungssicherheit bei konstanten Rahmenbedingungen. Die Bereitschaft, in veränderten oder neuen Produkten, Prozessen, Strukturen und Strategien die Zukunft zu sehen und sie aktiv mitzugestalten, impliziert jedoch eine Veränderung der Rahmenbedingungen und etablierten Handlungsmuster und damit entsprechende Handlungsunsicherheiten. Dieser Zusammenhang erklärt, warum es jüngeren Mitarbeiter in der Regel leichter fällt, aktiv an Veränderungen in Organisationen mitzuwirken. Diese 216 Die Psychoanalyse definiert Rationalisierung als ein „Vorgehen, durch welches das Subjekt versucht, einer Verhaltensweise, einer Handlung, einem Gedanken, einem Gefühl etc., deren wirkliche Motive nicht erkannt werden, eine logisch kohärente oder moralisch akzeptable Lösung zu geben“ (Laplanche & Pontalis 1973, 418).
3.3 Operative Führung
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Mitarbeiter leiten ihre Leistungsfähigkeit noch weniger aus habitualisierten betrieblichen Verhaltensweisen ab. Bei jüngeren Mitarbeitern ist deshalb in den ersten Jahren bei notwendige Veränderungen nicht sogleich mit einer größeren Handlungsunsicherheit und somit auch mit weniger Abwehrreaktionen zu rechnen. Dass dies bei erfahrenen Mitarbeitern und Führungskräften anders ist, hat weitreichende Konsequenzen: “Firms tend to be organized as hierarchies, with the people who are most experienced sitting at the top. This arrangement presents a trade-off: the mental models at the top are likely to be some of the best for the purpose of execution in stable environment, but less capable of exploring , and less likely to adapt to environmental shifts. The result can be significant inertia in an organization when environmental change does occur” (Beinhocker 2007, 360). Um diese Last der Erfahrung einerseits und die Risiken der Unerfahrenheit andererseits bei der Chancenorientierung und dem Veränderungsmanagement ausbalancieren zu können, muss Vielfalt im mehrfachen Sinne organisiert und genutzt werden. Über alle Hierarchiestufen und Projektaktivitäten muss eine möglichst große Mischung unterschiedlicher Altersgruppen, Geschlechter, Typen (Gestalter, Verwalter), Qualifikationen, Unternehmens- und Branchenerfahrungen genutzt werden. Dies ist der effektivste Weg, die veränderungsfeindlichen Habitusmuster kontinuierlich im Arbeitsprozess mit anderen Erfahrungen zu konfrontieren und damit für das Denken in Alternativen zu öffnen. Schließlich müssen Führungskräfte (oder deren Vorgesetzte) mit einem hinreichend distanzierten Blick reflektieren, welche „Gangart“ sie wählen (sollen), um Chancen zu vermitteln und Veränderungen anzuregen. Sicher liegt hier eine der größten Herausforderungen der Führung. Denn die persönlichen Möglichkeiten einer Führungskraft, ihre individuelle Gangart zu wählen, sind begrenzt. Wie eng die Gangart, Veränderungen strategisch und operativ zu treiben, mit dem gesamten Habitus der Menschen einhergeht, verdeutlichen bekannte Beispiele. Die einen Führungskräfte stehen in der Politik (z. B. Margaret Thatcher) oder Wirtschaft [z. B. Jack Welch(General Electric)] für eine rigorose Gangart, die anderen [z. B. Angela Merkel, Bill Clinton oder Louis V. Gerstner (IBM)] eher für eine flexible oder evolutionäre Vorgehensweise. Ob eine Führungskraft eine den Unternehmenserfordernissen angemessene Gangart anschlagen kann, hängt damit von der Passung von Persönlichkeit und organisatorischen Herausforderungen ab (vgl. Abb. 37) oder davon, wieweit eine Führungskraft ihr chancen- und veränderungsorientiertes Denken und Handeln reflektieren kann. Wie groß die Herausforderung zur Justierung der notwendigen Veränderungsgangart für Führungskräfte sein kann, fasst Adizes in seiner Arbeit zum Management des „Corporate Lifecycles“ zusammen: “During the growing stages, people follow their leaders. As the organiza-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
tion ages, the flow of energy changes: Now, the leaders follow the people” (Adizes 1999, 138). Zusammenfassend zeigt sich, dass die notwendigen operativen Führungsaktivitäten zur Übersetzung des reflexiven Mindsets: zwar kommunikativ und psychologisch anspruchsvoll sind, weil sie mit verbreiteten und konstanten Neigungen des Menschen (emotionale Interessenbindung; Bewahrungstendenz; Erfahrungsorientierung; Riskiovermeidung) produktiv kanalisierend umgehen müssen, aber für die gesamte operative Führungsperformance grundlegend sind, weil die Übersetzung des reflexiven Mindsets in die operativen Führungsleistungen eben die generell häufig im Führungsprozess kritischen Denk-, Fühl- und Handlungsfelder anspricht.
3.3.3.2 Vom analytisch-synoptischen Mindset zur operativen Führung: Zusammenhänge erklären und Aktivitäten verbinden. Durch die Diskussion der Kernfunktionen des analytisch-synoptischen Mindsets oben im Text konnte aufgezeigt werden, dass die formal- und sachlogischen Fähigkeiten einer Führungskraft besonders gefordert sind, wenn es darum geht, die wertschöpfenden Unternehmensprozesse zu analysieren und ihre Verknüpfungen zu verstehen.
Zusammenhänge erklären Im operativen Führungsprozess reicht jedoch die Teilleistung, gedanklich Unternehmensprozesse analysieren und integrieren zu können, nicht aus. Denn zu der gedanklichen Leistung kommt hier die notwendige Vermittlung der Erkenntnisse und Entscheidungen hinzu. Wenn eine Führungskraft in ihrem Verantwortungsbereich, der sich mit einem Teil der Wertschöpfungskette beschäftigt, Probleme oder Entwicklungsmöglichkeiten erkennt, dann beginnt nach dieser kognitiven Leistung die eigentliche operative Führung. Die Führungskraft steht dann vor der Aufgabe, den Mitarbeitern oder Kollegen, die für denselben oder einen anderen Teil der Wertschöpfungskette verantwortlich sind, ihre Diagnose zu erklären. Auch muss die Führungsleistung erbracht werden, Mitarbeiter aus dem eigenen Führungsbereich oder anderen Führungsbereichen für die notwendigen Arbeiten zu gewinnen. Wenn es um kleine Optimierungsschritte geht, sind diese operativen Führungsleistungen einfach zu erbringen; müssen umfangreichere Veränderungen eingeleitet werden, sind komplexere Führungsleistungen gefragt, die heute zum Teil unter dem Sammelbegriff „Changemanagement“ diskutiert werden.217 217 Eine empirische Studie zum Change Management in Deutschland aus dem Jahr 2003 zeigt, dass die Führungsthemen, die unter diesem Begriff zusammengefasst werden, sehr breit angelegt sind (vgl. Cap Gemini Erst & Young 2003).
3.3 Operative Führung
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Die Leistung, Mitarbeitern oder Kollegen die Einsichten aus der Analyse der Geschäftsprozesse zu erklären, gehört zum täglichen Geschäft einer Führungskraft und ist folglich grundlegend; die kommunikative Leistung, die analytischen Einsichten in die Zusammenhänge des Geschäftsprozesses erklären zu können, prägt damit maßgeblich die operative Führungsperformance. Vor diesem Hintergrund ist es kritisch, dass die Notwendigkeit der effektiven Kommunikation der analytischen Leistungen als Kernfunktion der operativen Führung bisher in akademischen Qualifikationsprozessen wenig Berücksichtigung findet, wie die Schwerpunktbildungen in der gefragtesten „Managementausbildung“ der Gegenwart, dem MBA, deutlich zeigen. Welche Vorstellungen in diesen Qualifikationsprozessen vom Management vermittelt werden, hat Henry Mintzberg in seiner Studie „Managers Not MBAs“ zusammenfasst: „Separating things into parts, unloosening them from the whole, is what MBA programs are about. Business becomes a collection of functions; strategy, a set of generic strategies and competitive analyses; even people become analytical things” (Mintzberg 2004, 36). Die Schulung des analytischen Denkens, wie sie nach Mintzberg in den MBAStudiengängen schwerpunktmäßig betrieben wird, stärkt die formal-planerischen Kompetenzen der Teilnehmer. Ohne die oben herausgehobenen kommunikativen Führungsleistungen sind diese Qualifikationen jedoch kaum nutzbar: „Indeed, a study of graduate business education quoted almost two-thirds of the graduates surveyed as reporting that they used their MBA skills marginally or not at all in their first management assignments“ (Hill 2003, 258). Die Gründe für die begrenzte Anwendbarkeit der in den MBAs vermittelten formal-planerischen Kompetenzen in der operativen Führung können letztlich in einer unzureichenden oder fehlenden Verknüpfung der analytischen Kompetenzen mit den oben im Text diskutierten grundsätzlichen Aspekten der operativen Führung gesehen werden: Demnach müsste im operativen Führungsprozess der Umgang mit den Menschen, die Gestaltung von sozialen Beziehungen und das Management von Interdependenzen stärker im Mittelpunkt stehen. Erst in der Verknüpfung der analytisch-planerischen mit den kommunikativen Leistungen in der Führungsfiguration entsteht ein realistisches Bild von den Anforderungen an die operative Führung. Dass dieser fundamentale Zusammenhang bisher nicht konsequent in der Konzeption von MBAs und ähnlichen Ausbildungen berücksichtigt wurde, erstaunt auch deshalb, weil das Zusammenwirken von Sach- und Mitarbeiterorientierung als Grundlage für eine effektive Führung seit Jahrzehnten nachgewiesen wird. So wird die Bedeutung dieser Kombination von aufgabenori-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
entierter und mitarbeiterorientierter Führung schon in den Ergebnissen der Ohio-Führungsstudien aus den 1950er Jahren aufgezeigt. Danach hat dieser Zusammenhang unter anderem Eingang gefunden in populäre zweidimensionale Managementinstrumente, zum Beispiel in das „Managerial Grid“ von Blake und Mouton oder den situativen Führungsansatz von Hersey, Blanchard und Johnson (vgl. Neuberger 2002, 397-410; Hersey & Blechard & Johnson 2001). Schließlich findet sich dieser Dualismus auch in einer Übersicht, die Linda Hill als Zusammenfassung in ihrer empirischen Untersuchung zu den tatsächlichen Herausforderungen der operativen Führung als „Essential competencies“ vorgelegt hat (vgl. Abb. 73).
Operative principle Key players Source of power
Reality Interdependecy
Subordinates
Include those outside your formal authority
Formal authority
„Everything but“
Managing one-on-one
Managing one-on-one and leading the team
Control through compliance
Commitment through empowerment
Cope with complexity
Cope with complexity and change
Technical
Technical, human, conceptual
Focus Desired outcome
Myth Authority
Key challenges Essential competencies
Abb. 73: What it really means to manage (Linda Hill 2002, 268)
Aktivitäten verbinden Hill verweist in ihrer Übersicht „What it really means to manage“ (vgl. Abb. 73) jedoch nicht nur unter der Kategorie „Essential competencies“ auf die schon lange diskutierte, aber unzureichend berücksichtigte Verknüpfung der analytischen oder sachorientierten Kompetenzen mit der Mitarbeiterorientierung, sie thematisiert unter der Kategorie “operative principle“ auch den – in der vorliegenden Arbeit ausführlich diskutierten – Treiber für den steigenden Kommunikationsanspruch: die wachsende Bedeutung des Managements von Interdependenzen. Das heißt für die operative Führung, dass die Umsetzung des zweiten Teils des analytisch-synoptischen Mindsets, nämlich die Abstimmung von wertschöpfenden Aktivitäten in Unternehmen, als grundlegende und wachsende Herausforderung gesehen werden muss. Obgleich auch hier – wie bei Berücksichtigung des Zusammenspiels von Sach- und Mitarbeiterorientierung – noch eine erhebliche Lücke zwischen Erkenntnis und Anwendung besteht, kann man festhalten, dass die Koordinationsfunktion aus Sicht der Managementlehre heute ähnlich selbstverständlich zu den grundlegenden Führungsleistungen gehört wie die gerade angeführte Balance von Sach- und Mitarbeiterorientierung (vgl. Staehle 1999, 555-579). Beide operativen Umsetzungen des analytisch-synomptischen Mindsets, die Erklärung von Zusammenhängen in der Wertschöpfungskette und die Koordination von Wertschöp-
3.3 Operative Führung
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fungsprozessen, können deshalb als zweckdienliche Leistungen bezeichnet werden, die Führungskräfte erbringen müssen. Gerade vor dem Hintergrund der unzweifelhaften Bedeutung dieser zwei Führungsfunktionen muss darauf hingewiesen werden, dass es in den letzten Jahrzehnten zunehmend schwieriger geworden ist, eine hohe Führungsperformance bei den Koordinations- oder Abstimmungsleistungen zu erbringen.218 Dass diese grundlegenden operativen Führungsleistungen, die abstrakt häufig unter dem Begriff des Organisierens gefasst werden, eine wachsende Herausforderung darstellen, hat zwei Gründe: Erstens ist die Vorstellung, Wissensarbeiter könnten durch Amtsautorität zur effektiven Kooperation und Koordination ihrer Arbeiten gebracht werden, nicht mehr zeitgemäß. Die im Kapitel 2.1.3 beschriebenen Veränderungen der sozialen Beziehungen bedeuten auch eine Demokratisierung der Führungsund Kooperationsbeziehungen. In diesen veränderten Führungsfigurationen die Leistungen effektiv zu koordinieren, heißt: „Managing interdependencies is about building mutual expectations, trust, and influence with a diverse group of people. Doing so requires considerable conceptual and human capabilities. Much of this work involves cultivating effective one-on-one relationships. But managing interdependencies also involves working with groups of people in collaboration – an even more difficult task that requires skill with both interpersonal and team processes” (Hill 2003, 262f.). In diesem Zitat wird herausgehoben, dass die kognitiven Anforderungen an das analytisch-synoptische Mindset nach dem neuen „operative principle“ der Führung, nämlich der stärkeren Vernetzung, durch kommunikative und sozialpsychologische Anforderungen ergänzt werden müssen. Der Mythos, im formalen Top-Down-Ansatz die planerischen Verknüpfungen (strategischer Fit) mit operativen Anweisungen (hierarchische Führungsorganisation) bruchlos umsetzen zu können, muss heute einer Realität weichen, in der die Führungskraft die operativen Rahmenbedingungen für Kooperation schaffen und zudem die Mitarbeiter zur Kooperation durch gemeinsame Zielvorstellungen gewinnen muss. Zweitens wird die operative Führungsleistung, Aktivitäten eines Führungsbereichs effektiv zu verbinden, durch die Veränderung der Unternehmensorganisation beeinflusst (vgl. Kapitel 3.3.2.3). Mit den organisatorischen Verän218 Staehle nennt mit Verweis auf Kotter, Schlesinger und Sathe fünf Einflussfaktoren auf das notwendige Ausmaß an Koordination, nämlich die Interdependenzen zwischen den Abteilungen, die Differenzierungen zwischen den Abteilungen, der Grad an Vertrauen zwischen den Abteilungen, die Größe der Organisation und die räumliche Distanz zwischen den Organisationseinheiten (vgl. Stahle 1999, 556).
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derungen, so zum Beispiel durch die Abnahme der Wertschöpfungstiefe oder die Verringerung der Führungsebenen, verändern sich auch die Koordinationsbeziehungen. Nicht selten befinden sich die „Mitarbeiter“, die eine Führungskraft in die gemeinsame Zielverfolgung einbinden soll, nicht mehr in einem formalen Unterstellungsverhältnis. In größeren Unternehmen oder in Unternehmensnetzwerken wird die Abstimmung von Aktivitäten dadurch verstärkt zur operativen Netzwerkgestaltung. Die Funktionen der operativen Führung, Leistungen im Unternehmen abzustimmen oder zu koordinieren, finden folglich in sich dynamisch verändernden sozialen Beziehungen und Führungsorganisationen statt. Dies verändert zwar nicht die Bedeutung des WAS der Führung (Abstimmung, Koordination), wohl aber die qualitative Ausgestaltung dieser und anderer Führungsfunktionen (WIE).
3.3.3.3 Vom zielorientierten Mindset zur operativen Führung: Menschen einbinden, Orientierung vermitteln, Aufgaben delegieren Der Umsetzung des zielorientierten Mindsets in die operative Führung kommt eine besondere Bedeutung zu. Während die strategische Führung die Leistungen erbringen muss, das Unternehmen auf die Beantwortung der Marktherausforderungen auszurichten und für ein hinreichendes Leistungsniveau der wichtigsten Ressourcen (tangible und intangible Ressourcen, Human-Ressourcen) zu sorgen, stellt sich für eine effektive operative Führung die Ausgangsfrage: Was ist zu tun? Oder genauer: Welche Ressourcen müssen wann und wie zur Zielverfolgung eingesetzt werden?
Menschen einbinden Die Nutzung der Ressourcen durch die Führungskräfte und Mitarbeiter ist durch den am Anfang des 21. Jahrhunderts erreichten Entwicklungsstand der Produktionssysteme in einigen Unternehmens- und Aufgabenbereichen weitgehend festgelegt. Dies ist besonders in den stark durch Routinetätigkeiten geprägten Unternehmensbereichen der Fall.219 Hier nimmt die Führungskraft die strukturell reduzierte Funktion wahr, eine effektive Nutzung zum Beispiel der IT-Programme abzusichern. Der strukturelle Ersatz von Führungsleistungen durch Systeme und Prozesse bietet nach Wunderer (Wunderer 2003, 316) folgende Vorteile: 219 Gutenberg formulierte schon in dem 1951 erschienenen Werk „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre“ das Substitutionsprinzip: „Die Tendenz zur generellen Reglung nimmt mit abnehmender Variabiltität betrieblicher Tatbestände zu“ (Gutenberg 1983, 240). Inzwischen wurde die weiter oben im Text diskutierte Substitutionstheorie auch in der Führungsforschung weiter entwickelt (vgl. Wunderer 2003, 314-316).
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„Entlastung der Führungskräfte, Verringerung von Schwankungen im Führungsverhalten, Reduzierung von Ungerechtigkeiten, Senkung von Transaktions-, insbesondere Kontrollkosten, Unterstützung neuer Organisations- und Arbeitskonzepte, Empowerment der Mitarbeiter und größere Gestaltungsspielräume für Mitarbeiter“. Dass sich die strukturelle Führung mit diesen Vorteilen in den letzten Jahrzehnten weiter ausdifferenzieren konnte, wird durch einige in dieser Arbeit beschriebene sozio-ökonomische Entwicklungen weiter verstärkt. Da diese Zusammenhänge hier nicht vollständig rekonstruiert werden können, soll beispielhaft auf zwei Entwicklungen verwiesen werden: Zum einen hat die in dieser Arbeit ausführlich behandelte Entwicklung der sozio-ökonomischen Interdependenzen die Komplexität der Abhängigkeiten innerhalb der Unternehmen, zwischen den Unternehmen und zwischen den Unternehmen und anderen gesellschaftlichen Bereichen deutlich erhöht. Um zum Beispiel die neue Komplexität zwischen der IT und den Fachabteilungen aufzufangen, bedarf es heute häufig eines eigenen Schnittstellenmanagements; um die neuen Vernetzungen der unterschiedlichen Unternehmen, die an einem Wertschöpfungsprozess beteiligt sind, zu steuern, ist in der Regel ein aufwendiges Supply Chain Management (SCM) notwendig; um die in den letzten Jahren verstärkt diskutierte Rechtskonformität des Managements zu sichern, sind differenziertere Corporate Governance- und Compliancesysteme220 entwickelt worden. Diese unternehmerischen Abhängigkeiten in den operativen Führungsprozess einzubauen, ist besonders in größeren Unternehmen ohne entsprechende Systeme, Strukturen und Prozesse kaum noch effizient leisten. Zum anderen greifen diese Vorteile der strukturellen Führung durch Systeme, Strukturen und Prozesse auch deshalb, weil sie zum Teil dem Streben nach Selbststeuerung der Mitarbeiter (die direkte Fremdsteuerung durch die Führungskraft ist minimiert) in den insgesamt demokratisierten Führungsprozessen entsprechen. Zudem könnte man aus einer formal-organisatorischen Sicht begründen, dass zwei der wichtigsten Erwartungen von Mitarbeitern, für die sich auch eine Korrelation zur Performance nachweisen lässt, nämlich dass die Mitarbeiter wissen, was von ihnen erwartet wird und dass sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben einen gut ausgestatteten Arbeitsplatz haben (Buckingham & Coffmann 2001, 33), besonders durch eine gute strukturelle Führung erfüllt werden können. 220 Die Bedeutung und Herausforderung, funktionierende Compliancesysteme in Großunternehmen zu gewährleisten, wurde zum Beispiel durch den Korruptionsskandal bei der Siemens AG im Jahre 2007 deutlich.
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Auch wenn diese Entwicklungen den Nutzen der strukturellen Führung unterstreichen, kann auf diesem Weg nur ein Teil der Führungsleistungen erbracht werden, die notwendig sind, um einen effektiven Mitarbeitereinsatz zu sichern. Zwei wesentliche Herausforderungen im dynamischen Wettbewerb der Wissensunternehmen können durch die strukturelle Führung nicht abgedeckt werden: Erstens reicht ein Routinebetrieb aufgrund der vom Markt geforderten Variabilität und notwendigen Suche nach kontinuierlicher Verbesserung nicht aus, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Führungskräfte müssen sicherstellen, dass die unterstützenden Strukturen, Systeme und Prozesse keine Systemstatik erzeugen, sondern flexibel genug eingesetzt werden, um wettbewerbsfähige Antworten zu bieten. Diese Herausforderung, die strukturellen Führungssysteme dynamisch zu nutzen, kann in der Regel nicht durch die ständige und hinreichend schnelle Anpassung der Systeme selbst geleistet werden. Dies ist zum Beispiel bei umfangreicheren IT-Lösungen häufig zu kosten- und zeitintensiv. Gefordert ist dann die operative Einsteuerung flexibler Lösungen, um den Wettlauf im beschleunigten Wettbewerb bei der Produktentwicklung oder dem Kundenservice nicht zu verlieren. Zweitens erfordert der effektive Einsatz des wachsenden Anteils von Wissensarbeitern (vgl. Abb. 21) nicht nur die formalisierte Vorgabe von Arbeitsanforderungen und einen gut ausgestatteten Arbeitsplatz, sondern die individualisierte Führungsarbeit. Wissensarbeiter sehen sich nicht als Teil einer Maschinerie, sondern als Menschen, die ihre Stärken nutzen wollen, Anerkennung für ihre Leistungen sowie Unterstützung und Förderung erwarten (ebenda, 34). Um die Ressourcen der Wissensarbeiter gezielt nutzen zu können, müssen deshalb durch individuelle Einbindungsarbeitt ihre Erwartungen mit den Unternehmensanforderungen in Einklang gebracht werden. Diese Einbindungsarbeit zur Verfolgung gemeinsamer Ziele ist zu einem wesentlichen Teil eine qualifizierte kommunikative Führungsleistung. Der allgemeine Verweis auf die Notwendigkeit einer qualifizierten kommunikativen Führungsleistung neben der strukturellen Führung führt zu der differenzierenden Frage: Welche individuellen Führungsleistungen sind von besonderer Relevanz, um Mitarbeiter in die gemeinsame Zielverfolgung einzubinden? Die Frage muss durch den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft für viele Mitarbeiter heute zum Teil anders beantwortet werden als noch vor wenigen Jahrzehnten. Dabei führt die Veränderung der Arbeitswelten durch die aufkommende Wissensgesellschaft nicht zu einer neuen Definition, was eine Führungskraft zu leisten hat, wohl aber, wie die wichtigsten operativen Führungsfunktionen ausgefüllt werden müssen.
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Orientierung vermitteln, Aufgaben delegieren Mit Blick auf das WAS der Führung können weiterhin zwei Führungsfunktionen herausgehoben werden, die für eine effektive Ressourcennutzung und eine gemeinsame Zielverfolgung wichtig sind. Die Vermittlung von Orientierung (wozu die Leistung dienen soll) und die Delegation von Aufgaben (welcher Beitrag wird mit welcher Qualität erwartet) sind sowohl in der industriellen Produktion als auch in Wissensunternehmen wesentliche Führungsfunktionen zur Sicherung eines effektiven Mitarbeitereinsatzes. WIE diese Führungsfunktionen ausgestaltet werden müssen, hat sich jedoch grundlegend verändert. Im Herzstück der industriellen Produktion, der stark arbeitsteiligen Massenoder Fließbandproduktion, sind die Orientierungs- und Delegationsleistungen, die Führungskräfte gegenüber ihren Mitarbeitern zu erbringen haben, entsprechend den Arbeitsprozessen grundsätzlich stark vorstrukturiert. In den ersten Jahrzehnten des Taylorismus wurden auf der Grundlage von Zeit- und Bewegungsstudien (vgl. Barnes 1949), dann bis heute durch angepasste Managementmethoden (TQM, Kaizen, etc.) genaue Produktivitätserwartungen formuliert und damit zugleich feste Arbeitsquantitäten delegiert. Die Einhaltung der Produktionsleistungen können im industriellen System durch die klar strukturierten Vorgaben gezielt vom Vorarbeiter, Teamleiter oder vollautomatische Feed-backsystemen überwacht werden. Dennoch konnte für die industriellen Arbeitsprozesse, die scheinbar wenig Spielraum für motivationale Einflüsse lassen, schon früh in den Hawthorne Experimenten (1924-1932) nachgewiesen werden, „daß nämlich effiziente Organisation und Führung ohne Beachtung der sog. sozialen Dimension bzw. informaler Phänomene nicht zu erzielen sind“ (Staehle 1999, 33 ff.). Diese Forschungsergebnisse der Hawthorne-Studien, die für die standardisierte Massenproduktion noch überraschend waren, sind für die Dienstleistungs- und Wissensunternehmen der Gegenwart maßgebend.221 Die wachsende Bedeutung der „sog. sozialen Dimension“ in den Dienstleistungs- und Wissensunternehmen ist darauf zurückzuführen, dass die in diesen Unternehmen relevanten Berufsgruppen, nämlich „Strategen und Koordinatoren“, „Wissensarbeiter“, „Datenverarbeiter und Kommunikatoren“ und „Servicearbeiter“, deren Anteil an der gesamten Arbeitnehmerschaft im Jahr 2000 bei 62% lag und bis 2020 auf ca. 80 % ansteigen soll (vgl. Abb. 21), die Welt der Führung und Zusammenarbeit im Vergleich zur industriellen Fließbandproduktion radikal verändert haben. Ein großer Prozentsatz dieser Berufsgruppen verfügt über akademische Qualifika221 Schon einige Jahre vor den Hawthorne-Experimenten hat die frühe Managementautorin Mary P. Follett in ihren Veröffentlichungen darauf hingewiesen, dass es die Aufgabe des Management ist, zu verstehen, „wie sich in Organisationen soziale Gruppen bilden und wie sie sich am besten zu einer produktiven Gemeinschaft (einem sozialen System) entwickeln können“ (Staehle 1999, 33).
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tionen. Die Arbeitsplätze lassen es in der Regel zu, dass diese Mitarbeiter ihre Kenntnisse und Fertigkeiten in stark variierender Qualität abrufen können. Damit ist auch die mögliche Schwankungsbreite der jeweiligen Produktivität groß, das heißt der Leistungsbeitrag des einzelnen Wissensarbeiters kann bei vergleichbaren Positionen und ähnlicher Vergütung stark unterschiedlich ausfallen. Unter diesen Produktionsbedingungen sind die Anforderungen an die Führungskräfte, wie die Orientierungs- und Delegationsfunktionen auszufüllen sind, deutlich anspruchsvoller als in der automatisierten Massenproduktion. Die Führungskräfte in Wissensunternehmen müssen die Produktionspotenziale der Mitarbeiter abrufen, indem sie in mehr oder weniger strukturierten Arbeitsprozessen eine klare Orientierung vermitteln, welchen Beitrag sie von dem jeweiligen Mitarbeiter erwarten. Die Vermittlung einer klaren Orientierung im operativen Führungsprozess kann bei Wissensmitarbeitern aber nicht durch die Delegationsformen „Befehl und Gehorsam“ oder „Anweisung und Umsetzung“ erfolgen. Dies wäre zum einen nicht sachgerecht, weil der Vorgesetzte von Wissensmitarbeitern häufig selbst die besten Arbeits- oder Lösungswege nicht kennt. Zum anderen wäre es aber auch psychologisch falsch, weil eine Führung, die am Anfang des 21. Jahrhunderts ausgeglicheneren Machtbalancen zwischen den Hierarchiestufen nicht berücksichtigt, kaum die Einbindung von Wissensarbeitern erreicht wird (vgl. Odiorne 1990, 174-182). Da unabhängig von dem Selbststeuerungsanspruch der Wissensarbeiter bei vielen Tätigkeiten dennoch nicht automatisch klar ist, was in welcher Form und Geschwindigkeit erwartet wird, muss die Führungskraft dies im Dialog mit den Mitarbeitern klären. Sie muss in der Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern die Produktivitätserwartungen in Zielformulierungen übertragen (ebenda, 75-90). Die Ausführungen verdeutlichen, dass der Übergang von den klassisch industriellen Führungsbeziehungen zu den Führungsfigurationen in Wissensunternehmen teilweise eine Überarbeitung der Regeln für den effektiven Ressourceneinsatz, die Vermittlung einer gemeinsamen Orientierung und die Aufgabendelegation erfordert. Wie grundlegend sich insgesamt der Führungsprozess von der Industrie- zur Wissensarbeit verändert hat, zeigt der direkte Vergleich: Die Zeit- und Bewegungsstudien des Fließbandarbeiters müssen durch die professionalisierte Auswahl oder Entwicklung von Mitarbeitern mit den richtigen performancerelevanten Mindsets ersetzt werden; die kontinuierliche Produktionskontrolle wird durch die Verpflichtung auf Ziele, in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Qualität abzuliefern, abgelöst; die hauptsächlich quantitative Ergebnismessung muss durch eine qualitative Einschätzung und ein möglichst differenziertes Feedback zum Zielerreichungsgrad durch die Führungskraft ergänzt werden.
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Neben diesen Veränderungen durch den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, die bei der Klärung der gemeinsamen Ziele (Orientierung) und der erwarteten Leistungen (Delegation) berücksichtigt werden sollten, gibt es noch einen weiteren Aspekt, der die Effizienz und Effektivität des Einsatzes von Wissensmitarbeitern (Einsatz von Ressourcen) wesentlich beeinflusst. Gemeint ist die Konzentration und Nutzung der jeweiligen Stärken der Mitarbeiter. Die drei hier besprochenen Führungsleistungen: der effektive Ressourceneinsatz, die gemeinsame Zielorientierung (Orientierungsfunktion) und die Aufgabendelegation, können nicht erfolgreich erbracht werden, wenn die Führungskraft nicht die Bereitschaft und Fähigkeit zeigt, die jeweiligen Stärken der Mitarbeiter gezielt einzusetzen und zu entwickeln. Die Zielsetzung der drei hier diskutierten Funktionen, den Mitarbeitern eine möglichst hohe Produktivität zu ermöglichen, kann hingegen gelingen, wenn die Führungskraft sich soweit mit den Mitarbeitern auseinandersetzt, dass sie erkennen kann, wer welchen Beitrag liefern kann oder wer welche Leistungsfähigkeit mittelfristig entwickeln könnte.222 Für die operative Führung von Wissensarbeitern liegt hier einer der wichtigsten Zugänge zur Leistungssteuerung und -förderung. In der Unternehmenspraxis kann hingegen regelmäßig beobachtet werden, dass dieser Zugänge zum Leistungsmanagement durch ein mechanistisches Menschenbild, Zeitmangel, Konfliktängste oder einen unflexiblen Mitarbeitereinsatz blockiert wird.
3.3.3.4 Vom innovativen Mindset zur operativen Führung: Marktsicht einfordern, Entwicklungen ermöglichen, Innovationen planen Helmut Maucher, der in knapp zwei Jahrzehnte als CEO wichtige Beiträge auf dem Weg Nestlés zum Brachenprimus der Nahrungsmittelindustrie geleistet hat, verabschiedete sich von den oberen 300 Führungskräften des Konzerns mit den Worten: „Was immer Sie tun in der Entwicklung neuer Strategien, neuer Prozesse, der Verr besserung der Systeme, behalten Sie eines im Auge: ‘Be close to your products, be close to your people and be close to your customers.“ (Maucher 2007, 53). Mauchers „Erfolgsformel“ für die Führungsarbeit im Nestlé-Konzern beinhaltet – in anderer Reihenfolge – die Führungsfunktionen, die der LAA für grundlegend hält, um das innovative Mindset in Unternehmen effektiv umzusetzen.
Marktsicht einfordern Aus strategischer Sicht muss das innovative Mindset sicherstellen, dass die geschäftliche Ausrichtung die Marktveränderungen verarbeitet. Das heißt, 222 Die Führungsleistung, die Stärken der Mitarbeiter gezielt zu nutzen, wird im Unterkapitel 3.5.5.5 nochmals differenzierter aufgegriffen.
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das innovative Mindset muss die unternehmerische Handlungsfähigkeit unterstützen, von den Marktentwicklungen gefährdete Produkte oder Geschäftsbereiche zu verändern, abzustoßen oder zu schließen, um in wachstumsstärkere Geschäfte investieren zu können. Wie gut die Umsteuerung aus nicht mehr markfähigen Produkt- oder Geschäftsbereichen gelingt, hängt schließlich von der operativen Frage ab, inwieweit die gesamte Organisation bereit ist, die Marktveränderungen zu sehen und entsprechend Anpassungen oder Erneuerungen des Geschäftes zu erarbeiten. Entsprechend fasst Helmut Maucher in seinem „Management Brevier: Ein Leitfaden für unternehmerischen Erfolg“ auch diese Innovationsanforderung an das gesamte Unternehmen treffend zusammen: „Das Innovationserfordernis bezieht sich nicht nur auf neue Produkte, sondern auf alle Gebiete des Unternehmens – die Technologie, die Methoden, die Orr ganisation, die Personalpolitik, den Führungsstil und so weiter. Eine ganz besondere Rolle spielt Innovation natürlich bei der Schaffung oder Verbesserung bestehender Produkte. Oft wird gefragt, woher denn die Ideen und Anregungen für neue Produkte kommen sollen. Die Antwort lautet: von überall. Vom Markt, von der Marktforschung, von Mitarbeitern aus allen Abteilungen, von Kunden, von Lieferanten, der Wissenschaft, Beratern, und natürlich auch von der Forschung im Unternehmen“ (ebenda, 127f.). Die Feststellung Mauchers, dass die Ideen und Anregungen für Innovationen von überall kommen müssen, ist für die Sicherung der Veränderungsbereitschaft und –fähigkeit des gesamten Unternehmens wichtig. Dass der Maßstab für die notwendige Innovationsarbeit der Markt und die Kunden sind, ist überlebenswichtig. Wenn ein Unternehmen die Entwicklungen des Markes nicht erkennt und verarbeitet, dann produziert es bald Produkte, die immer weniger Kunden kaufen (vgl. Beispiele: Drucker 1993a, 46-56). Erkennt und nutzt ein Unternehmen die technologischen Entwicklungen nicht, zeigen sich früher oder später im Verhältnis zu den Konkurrenten Qualitäts-, Kosten- und / oder Flexibilitätsprobleme. Und wenn ein Unternehmen die Entwicklungen am Arbeitsmarkt nicht versteht, kann die Personalbeschaffung, -betreuung und -entwicklung bald ihren Beitrag zur Performance der Mitarbeiter und Führungskräfte nicht mehr erbringen. Diese Verbindungen lassen sich für alle Unternehmensbereiche als notwendige Denkrichtung formulieren. Damit wird deutlich, dass aus Sicht des LAA die Marktsicht für alle Unternehmensbereiche operativ eingefordert werden muss, um die Marktfähigkeit des Unternehmens zu sichern. Die Schlussfolgerung für die Führungsarbeit ist klar: Die Einforderung der Marktsicht ist eine strategische und operative Funktion, die jede Führungskraft wahrnehmen muss. Die Fragen, wie mit Blick auf den Markt das Unternehmen insgesamt auszurichten und die Unternehmensbereiche zu gestalten sind, müssen im Strategieprozess kollektiv erarbeitet werden. Die
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Wirksamkeit der unternehmensspezifischen Marktausrichtung entscheidet sich jedoch über den stimmigen Einsatz der Ressourcen des Unternehmens (vgl. Kaplan & Norton 2006). Um die Fähigkeit und Bereitschaft zu sichern, sich der notwendigen Marktausrichtung anzupassen, müssen Führungskräfte die Funktion wahrnehmen, kontinuierlich bei den Mitarbeitern die Marktsicht zu fördern. Dies schafft die Bereitschaft, mit den operativen Handlungsoptionen, die sich aus den Marktentwicklungen ergeben, aktiv umzugehen. Ein inzwischen in vielen Branchen etablierter Weg, differenziertere Marktkenntnisse als interne Steuerungsgrundlage einzuführen, ist das Benchmarking (vgl. Hindle 2001, 21-24). Warum die Vorgehensweise des wettbewerbsorientierten Benchmarkings, das auf den Vergleich der Standards des einen Unternehmens mit denen konkurrierender Unternehmen abzielt, keine kurzatmige Managementmode ist, kann aus den Ausführungen Peter Druckers zum globalen Wettbewerb abgeleitet werden: „No institution, whether a business, a university or a hospital, can hope to survive, let alone to succeed, unless it measures up to the standards set by the leaders in its field, anyplace in the world“ (Drucker 1999, 61). Das Arbeiten mit Benchmarks ist jedoch in der jeweiligen Branche zu eng, um hinreichend innovativ auf die Marktentwicklungen zu antworten. W. Chan Kim hat vier Fragen formuliert, die zwar marktorientiert sind, aber über eine zu enge Konkurrenzanalyse hinaus gehen: “Which of the factors that the industry takes for granted should be eliminated? Which factors should be reduced d well below the industry’s standard? Which factors should be raised d well above the industry’s standard? Which factors should be created d that the industry has never offered?” (Kim & Mauborgne 2005, 29). Die von Kim formulierten Fragen lassen sich strategisch und operativ nutzen. Strategisch können sie zur Hinterfragung des Geschäftsmodells und der benötigen Ressourcen beitragen. Operativ können sie dazu dienen, den Einsatz der Ressourcen ggf. marktorientiert zu überdenken. Eine Führungskraft, die nach wettbewerbsorientierten Benchmarks sucht und die angeführten marktorientierten Entwicklungsfragen beharrlich stellt, sorgt bei sich selbst und den Mitarbeitern für die notwendige Innovations- und Veränderungsbereitschaft, die die Überlebensfähigkeit des Unternehmens sichern hilft. – Im Umkehrschluss wird die Bedeutung der Führungsfunktion, eine hinreichende Markt- und Wettbewerbsorientierung einzufordern, besonders klar: Führungskräfte, die
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hier keine gute Performance zeigen, managen zwar den Bestand des Unternehmens, führen es aber nicht in die Zukunft.
Entwicklungen ermöglichen Woran kann es liegen, wenn eine Führungskraft die oben beschriebenen Aktivitäten, in ihrem Verantwortungsbereich für marktorientierte Veränderung (Innovationen) zu sorgen, nicht effektiv wahrnimmt? Dies kann – neben den nicht zu unterschätzenden Restriktionen einer innovationsfeindlichen Unternehmens- und Führungskultur – zwei Gründe haben: Der erste Grund kann in der bewahrenden Tendenz des individuellen Führungshabitus liegen. Welche Felder bearbeitet werden müssen, um diese in der Konsequenz innovationsfeindliche Neigung des Habitus zu überwinden, wurde im Zusammenhang mit den operativen Funktionen des reflexiven Mindsets („Chancen verdeutlichen“ und „Veränderungen anregen“) erläutert. Der zweite Grund liegt in einem nicht hinreichenden Wissen über die (aktuellen) Markt- und Unternehmensentwicklungen. Hierzu wurde weiter oben im Text angemerkt, dass das Verständnis der Führungskräfte für den Markt durch die Nutzung externer Netzwerke und der Orientierung am Customer Value gestärkt werden kann. Auch hier ist es (nur) ein erster Schritt, die Marktsicht und Innovationskompetenz der Führungskräfte selbst zu entwickeln. Die eigentliche operative Führungsleistung besteht darin, die Mitarbeiter in die marktorientierte Innovationsarbeit einzubinden. Damit dies gelingt, reicht es nicht aus, regelmäßig die Leistungen, die im Führungsbereich erbracht werden, mit den Marktstandards zu vergleichen. Dieser Vergleich stößt ggf. auf Unverständnis bei den Mitarbeitern, wenn die am Markt zu beobachtenden Leistungen von den Mitarbeitern Wissen und Fertigkeiten abverlangen, die sie nicht haben oder leisten können. Um vor diesem Hintergrund die Innovationsbereitschaft der Mitarbeiter nicht durch Abwehrreaktionen zu ersticken, müssen rechtzeitig marktorientiert Kompetenzentwicklungen ermöglicht werden. Diese Kompetenzentwicklung der Mitarbeiter muss sich auf zwei unterschiedlich zugängige Entwicklungsbereiche richten: Erstens sollten hinreichende Informationen über die aktuellen Markt- und Unternehmensentwicklungen kommuniziert und darauf aufbauend neues Handlungswissen vermittelt werden. Zweitens sollte die verbreitete und generelle Habitusproblematik, sich auf die heute in fast allen Industrien erreichte Veränderungsgeschwindigkeit einzulassen, durch beharrliche Perspektivenkommunikation bearbeitet werden.. Während die Habitusblockaden gegen Innovationen und damit einhergehende Veränderungen nur durch beharrliche Führungsarbeit bedingt auflösbar sind (vgl. Schein 2002), ist die Vermittlung des marktorientierten Handlungswissens als Treiber für Innovation und Veränderung planbar.
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Innovationen planen Die Vermittlung von marktorientiertem Handlungswissen kann wiederum in zwei unterschiedliche Formen systematisch betrieben werden: Zum einen können über eine fundierte Auseinandersetzung mit den nachhaltigen Veränderungstreibern und den Determinanten für den strategischen Wettbewerb die Entwicklungsnotwendigkeiten für das Unternehmen rechtzeitig identifiziert werden. Das heißt, die für das jeweilige Geschäft ableitbaren Konsequenzen aus: den demografischen Entwicklungen, den sozio-technischen Interdependenzen und den Veränderungen der sozialen Beziehungen lassen bei einer systematischen Kombination aus strategischer und operativer Planung- und Umsetzungsarbeit hinreichend Zeit , um die Mitarbeiter auf notwendige Innovationen und Veränderungen vorzubereiten. Die für das jeweilige Unternehmen zu spezifizierende Lern- und Entwicklungsarbeit, die aus den nachhaltigen Veränderungstreibern abgeleitet werden kann, hat nicht nur den Effekt, dass Mitarbeiter die Antwortfähigkeit der Unternehmen auf diese Entwicklungen offensiver unterstützen, sondern beeinflusst die Innovationsund Veränderungskultur des Unternehmens. Dies ist wiederum maßgeblich für die Sicherung des geplanten (und planbaren) Umgangs mit kurzfristigeren Veränderungen. Die kurzfristigen Entwicklungen, die für eine innovative Bearbeitung weniger Zeit lassen und deshalb die richtige Antwortbereitschaft (Unternehmenskultur) voraussetzen, lasse sich nach Drucker in vier Bereiche unterteilen: „The unexpected d – the unexpected success, the unexpected failure, the unexpected outside event; The incongruity – between reality as it actually is and reality as it is assumed to be or as it ‚ought to be‘; Innovation based on process need; Changes in industry structure or market structure that catches everyone unawares” (Drucker 1993a, 35). Um die Nutzung dieser Innovationsquellen zu sichern, kann jede Führungskraft – neben der rechtzeitigen Förderung der Antwortbereitschaft durch die strategische und operative Arbeit – in ihrem Führungsbereich Innovationsprozesse einüben. Das heißt, die Schritte und Instrumente, mit denen modifizierte oder neue Lösungen geschaffen und eingeführt werden können, müssen im Führungsalltag vermittelt werden. Diese Vermittlung des geplanten innovativen Umgangs mit kurzfristigen Veränderungen ist jedoch keine akademische Übung. Vielmehr
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muss die Führungskraft darüber nachdenken, wie sie immer wieder an etablierten Prozessen und offenkundigen Widersprüchen im Arbeitsprozess kurzfristige aber systematische Optimierungen oder konsequente Veränderungsmöglichkeiten verdeutlicht und dadurch eine entsprechend Arbeitskultur fördert (vgl. Kaizen).
3.3.3.5 Vom weltgewandten Mindset zur operativen Führung: Entscheidungsbasis schaffen, Unterschiede einschätzen, Stärken nutzen Als wichtigste Funktionen des weltgewandten Mindsets wurden der kompetente Umgang mit Informationen über internationale Märkte und die Fähigkeit zur kulturell-geschäftlichen Differenzierung und Integration beschrieben. Auch hier stellt sich die Frage: In welche wichtigsten operativen Führungsleistungen müssen sich diese Funktionen des weltgewandten Mindsets übertragen, um einen effektiven Ressourceneinsatz zu sichern? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss gerade bei dem Thema der Internationalisierung auf das Zusammenwirken der strategischen und operativen Führung aus Sicht des LAA hingewiesen werden. Die strategische Führung beschäftigt sich mit den Fragen, in welche Länder das Geschäft verlagert oder ausgeweitet werden soll und welche Ressourcen zur Entwicklung des Geschäftes benötigt werden (vgl. Leitl 2007). Unternehmen, die sich mit internationalen Geschäftsinitiativen beschäftigen, beantworten diese Fragen abhängig von dem internen Wissen, den internationalen Erfahrungen und der eingekauften Beratungsqualität mehr oder weniger professionell. Gegebenenfalls können sich die Marktanalysen und Geschäftsprognosen als unzutreffend, die Wahl der Geschäftspartner als Fehlgriffe oder die Vertragsabschlüsse als nachteilig erweisen. Abgesehen von diesen und ähnlichen strategischen Ausrichtungsund Gestaltungsfehlern entscheidet die operative Führung, ob die internationalen Geschäfte nachhaltig erfolgreich betrieben werden.
Entscheidungsbasis schaffen Die Begründung dieser These führt zu den operativen Funktionen des weltgewandten Mindsets. Dabei kann ein Beispiel helfen zu verdeutlichen, warum die operative Führungsperformance, das heißt, der effektive Einsatz von Ressourcen, wesentlichen Einfluss auf den Erfolg bei der Internationalisierung von Unternehmen hat: Der Leiter einer Corporate University eines bis vor wenigen Jahren national ausgerichteten Unternehmens berichtete mir bei einem europäischen Netzwerktreffen über seine ersten Versuche, den Geschäftsaufbau in Singapur durch die Einführung eines in Europa etablierten Managementnachfolgesystems zu
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unterstützen. Die Führungskraft traf ihre operative Entscheidung, ihre Managementnachfolgesystem in der gewohnten Weise zu nutzen, vor dem Hinterr grund, dass ein zügiger Auf- und Ausbau des Geschäftes in Asien geplant war. Auch fehlte es nicht an strategischer Einsicht, dass für diesen Geschäftsaufbau das Schaffen von Managementkapazitäten eine Schlüsselherausforderung war. Insofern schienen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Unterstützung des Geschäftsausbaus in Singapur gegeben. Dennoch scheiterte die Führungskraft im ersten Anlauf mit der Einführung des Managementnachfolgesystems. Der Scheiterungsgrund war nicht eine grundsätzliche Ablehnung eines System zur Förderung von Managementnachwuchs in Singapur. Die Förderung von Mitarbeitern und Führungskräften ist heute eine weithin akzeptierte Managementaufgabe. Deshalb stand weder die Zielsetzung in Zweifel, noch mangelte es organisatorischen Kompetenzen. Die Probleme lagen am Anfang der operar tiven Handlungskette, nämlich in einer kommunikativ nicht hinreichend vorbereiteten Entscheidung. Die Führungskraft musste lernen, dass die Vorstellungen, wie Nachfolgemanagement ablaufen sollte und wer wie eingebunden werden muss, in Asien zum Teil anders sind als in Europa. Die Führungskraft hat im ersten Anlauf unterschätzt, dass die Führungsfunktion, eine möglichst fundierte Entscheidungsbasis zu schaffen, auch eine kulturspezifische Herausforderung darstellt. Während wir in den Kulturen, in denen wir aufgewachsen sind, zum Teil ein intuitives Verständnis von den sozialen Standards in Wirtschaft und Gesellschaft (Hierarchieverständnis, Beförderungsregeln, Entscheidungsverhalten etc.) haben, fehlt uns dieser „selbstverständliche“ Zugang in fremden Kulturen. Das kann schnell dazu führen, dass die richtigen Dinge falsch getan werden. Um in anderen Ländern erfolgreich Geschäfte zu betreiben, reicht es nicht, die strategischen Entscheidungen zum geschäftlichen Engagement und über die entsprechende Ressourcenallokation fundiert zu betreiben. Der nachhaltige Erfolg des Auslandsgeschäfts entscheidet sich durch die operative Führung, das heißt über den Umgang mit den Führungskräften, den Mitarbeitern, den Kunden, den Konkurrenten, den Zulieferern und den Regulatoren vor Ort. Deshalb muss zur Absicherung eines effektiven Führungsverhaltens das Handlungswissen über die Unterschiede in geschäftsrelevanten sozialen und wirtschaftlichen Standards rechtzeitig hergestellt werden. Im internationalen Geschäft erfahrene Unternehmen wissen, dass diese kulturellen Entscheidungs- und Handlungskompetenzen bei Führungskräften nur aufgebaut werden können, wenn Lernprozesse in den jeweiligen Ländern ermöglicht werden. Kulturspezifische Handlungskompetenzen für andere Länder durch das Studium von Zahlen, Daten und Fakten aufzubauen, ist begrenzt möglich. Durch das Studium rechtlicher und kultureller Informationen kann eine erste Vorstellung entwickelt werden, wo Unterschiede
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im Managementalltag berücksichtig werden müssen. Die Handlungskompetenz, mit kulturell unterschiedlichen Verhaltensstandards umzugehen, die – wie im obigen Beispiel verdeutlicht wurde – den Erfolg von Führungsleistungen entscheidend beeinflussen können, kann hauptsächlich in der reflektierten Praxis entwickelt werden. Dies entspricht auch den Ergebnissen der vielbeachteten Studien „Managing across boarders“ von Bartlett und Ghoshal, die zu Sicherung des Unternehmenserfolgs auf die notwendigen Schritte verweisen: „...to broaden perspectives, build experiences, and develop relationships that result in management flexibility and close interunit linkages“ (Bartlett & Goshal 2002, 212). Haben Führungskräfte nicht die Möglichkeit oder sehen nicht die Notwendigkeit, sich im Rahmen ihrer operativen Führung in einem anderen Land neben den fachlichen Fragen auch mit den kulturspezifischen Standards der sozialen Beziehungen und der sozialen Netzwerke zu beschäftigen, werden sie ihre bisher geübte Entscheidungs- und Umsetzungsarbeit in die neuen Rahmenbedingungen übertragen. Auch wenn auf dieser Grundlage Entscheidungen fachlich fundiert durchgeführt werden, bleibt das Risiko groß, dass ohne einen kompetenten Umgang mit der sozialen Infrastruktur, die Entscheidung nicht der erste Schritt zur Mobilisierung der organisatorischen Kräfte zur Umsetzung, sondern der Anstoß zu Abwehrreaktionen sein wird. Führungskräfte, die ausschließlich das WAS der Führung (Analysieren, Ziele formulieren, Entscheiden, Organisieren, Kontrollieren) im Blick haben, tendieren gerade in anderen Kulturen oder generell im Umgang mit unterschiedlichen Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards zu typischen „WIE-Fehlern“. Da sich aus der räumlichen und / oder sozialen Distanz – die hier wirkt wie die optische Distanz – Führung auf die professionelle Anwendung der immer gleichen Praktiken reduziert, wird das differenzierende WIE, das heißt der Umgang mit den Beziehungsstandards und Interdependenzen, nicht hinreichend reflektiert.223 Wie kritisch diese „WIE-Fehler“ sind, zeigt sich jedoch nicht nur im internationalen Geschäft, sondern – in den letzten Jahren verstärkt – in vielen Führungsprozessen. Dabei verweisen die Gründe, warum die „Wie-Fehler“ nicht nur in der internationalen Führungsarbeit, sondern für die Führungsarbeit generell relevant werden, auf die im zweiten Kapitel dieser Arbeit beschriebenen nachhaltigen Veränderungstreiber und Determinanten des strategischen Wettbewerbs. Denn durch die Herausforderungen, die in den nationalen Kulturräumen durch die 223 Empirische Studien zum Cage-Distanz-Schema (Cage steht als Abkürzung für „cultural, administrativ, geographic, and economic distance) belegen die Bedeutung der Distanzdimensionen für das unternehmerische Handeln (vgl. Ghemawat 2002, 82-94).
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zunehmenden internationalen Abhängigkeiten und die dynamischen Veränderungen der sozialen Beziehungen (abnehmende Machtdifferenziale, Individualisierung, Psychologisierung, Informalisierung) entstehen, kommt es zu den Ähnlichkeiten mit den Herausforderungen internationaler Führungseinsätze. Die sozio-ökonomischen Veränderungen führen auch in den gewohnten Kulturräumen zu erheblichen Adaptionsproblemen bei etablierten Führungsverständnissen. Zwar werden die Führungskräfte bei ihrer Arbeit in den angestammten Kulturräumen nicht mit der gleichen Intensität mit anderen sozialen Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards konfrontiert, aber die Geschwindigkeit der sozio-ökonomischen Entwicklungen führt auch national zunehmend zur Konfrontation mit ungewohnten sozialen Standards. Dass die Transformation und Ausdifferenzierung der Verhaltensstandards in den nationalen Kulturräumen zwar beschleunigt, aber dennoch evolutionär abläuft, erschwert es den Führungskräften, die Veränderungen zu realisieren. In den Unternehmen und Regionen fällt dieses „Realisierungsproblem“ kontextabhängig unterschiedlich aus: In international agierenden Konzernen und Weltstädten sind die sozialen Transformationen unverkennbar, während sie im Mittelstand und kleineren Städten weniger offenkundig sind und ggf. auch langsamer sichtbar werden.
Unterschiede einschätzen Trotz dieser kontextabhängigen Erfahrung von Führungskräften spiegelt sich im Sprachgebrauch, besonders in der Verbreitung und Differenzierung von Managementbegriffen in Theorie und Praxis, die Wahrnehmung von Führungsherausforderungen generell wider.224 Dies soll – als Hinleitung zur nächsten grundlegenden Funktion der operativen Führung – am Beispiel des in den letzten Jahren häufiger und differenzierter verwendeten Begriffs „Diversity(managements)“ verdeutlicht werden. Der Begriff „Diversity“ wurde in der Wirtschaft mit dem Wandel der wahrgenommenen Herausforderungen in den letzten 50 Jahren mit deutlich unterschiedlichen Bedeutungen und konzeptionellen Hintergründen genutzt. Von den 1950er bis in die 1980er Jahre wurde der Begriff in der Wirtschaftswelt im Sinne der Diversifikation (Diversification), das heißt für die strategische Ausweitung des Geschäftsportfolios, verwendet (vgl. Drucker 1993b, 679727; Hindle 2001, 65-67). Mit dem Begriff war der Glaube an ein einfaches Erfolgsrezept verbunden: „Yet for a long time the belief has been held widley that the business that ‘diversifies’ into many areas is likely to do better than the business that con224 Eine nützlich Forschungsfrage, die m.W. bis heute nicht empirisch bearbeitet wurde, müsste klären, ob sich in der Verwendungshäufigkeit von (neuen) Managementbegriffen zum Beispiel in Zeitungen und / oder Zeitschriften die aufkommende praktische Bedeutung von Managementfragen abzeichnet (vgl. zur Methodik: Naisbitt 1986, 11-17).
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centrates on one area” (Drucker 1993b, 680). Welche Breitenwirkung dieser Glaube hatte, dass die mit dem Begriff verbundene Geschäftskonzeption eine angemessene Antwort auf die geschäftlichen Herausforderungen der Zeit darstellte, ist offenkundig: „Zwischen 1960 und 1980 stieg der Anteil der Mischkonzerne unter den Fortune 500, den führenden US-amerikanischen Unternehmen, von 50 auf 80 Prozent“ (Hindle 2001, 66). Seit den 1990er Jahren hat sich die Glaubensrichtung mehrheitlich gewandelt: nicht mehr die Vielfalt (Diversity) des Geschäftes gilt als Erfolgsrezept, sondern die Fokussierung auf das Kerngeschäft (vgl. Hamel. & Prahalad, 1994; Kaplan & Norton 2001). Mit diesem Wandel der strategischen Glaubensrichtung wandelte sich auch die schwerpunktmäßige Nutzung des Begriffs. Durch die dynamische Entwicklung der Interdependenzen (hier besonders: Internationalisierung) und der sozialen Beziehungen (hier besonders: Beziehungen in der Führung und Zusammenarbeit) rückten die hiermit verbundenen Herausforderungen stärker in den Blickpunkt. Die Antworten auf diese Herausforderungen werden in den letzten 20 Jahren verstärkt unter der Begrifflichkeit „Diversity Management“ oder „Managing Diversity“ formuliert. Die mit dem neuen Begriffsverständnis verbundene Wahrnehmung, dass die zunehmende Heterogenität in den sozialen Arbeitsbeziehungen eine besondere Führungsherausforderung darstellt, ist aus Sicht des LAA kein Managementmythos wie der Glaube an die Erfolgssicherung durch die Diversifikation des Geschäfts, sondern eine sachgerechte Reaktion auf die im zweiten Kapitel dieser Arbeit als Orientierungsrahmen beschriebenen sozio-ökonomischen Entwicklungen. Die Antworten auf diese Entwicklungen, die durch die Konzepte zum Diversity Management gegeben werden sollen, fallen bisher jedoch unterschiedlich aus (vgl. zu den theoretischen Ansätzen: Weheliye 2007). Dennoch zeichnet sich die Tendenz ab, dass die Bestrebungen, nach dominanten oder einheitlichen Standards zu suchen (Homogenisierungsstrategie), von der Anerkennung und Nutzung der Vielfalt (learning-and-effectiveness paradigm) abgelöst wird (vgl. Vedder 2006). Entgegen der akademischen Neigung zu polarisierenden Modellen lässt sich – wie durch die Diskussion diverser strategischer und operativer Führungsthemen in dieser Arbeit aufgezeigt werden konnte – die Führungspraxis nur selten in idealtypischen Modellen (hier: Homogenisierungsstrategie versus Anerkennung und Nutzung von Vielfalt) abbilden. Zudem drängt sich gerade bei der Diversitydebatte der Eindruck auf, dass es teilweise eher um den Widerstreit ideologischer Positionen als um effektive Managementansätze geht. Eine distanzierte Klärung, welche Leistungen Führungskräfte erbringen müssen, um mit unterschiedlichen Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards in nationalem
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und internationalem Kontext effektiv umgehen zu können, wird durch eine ideologische Diskussion erschwert. Diesseits der Polarisierung zwischen Homogenisierungs- und Heterogenisierungsideal stehen Führungskräfte zunächst vor der Aufgabe, die unterschiedlichen sozialen Standards, mit denen sie konfrontiert werden, vor dem Hintergrund der gemeinsamen Zielverfolgung einschätzen zu können. Die Herausforderung, angesichts der zunehmenden sozialen Vielfalt in Wirtschaft und Gesellschaft die kulturellen und individuellen Unterschiede im operativen Führungsprozess einschätzen zu können, lässt sich in drei Kernfragen übersetzen: Welche kulturellen Spezifika in den sozialen Beziehungen (zwischen Frauen und Männern, älteren und jüngeren Mitarbeitern, Führungsebenen, Nationen / Kulturen, Etablierte / Außenseiter, sozialen Schichten oder im Selbstverständnis der Individuen) müssen im Führungsprozess berücksichtigt werden? Welche individuellen Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster bestimmen das Leistungsbild der Mitarbeiter?225 Welche Unterschiede im Wissen und Können (Handlungsfähigkeiten) lassen sich beobachten? Besonders für die ersten beiden Fragen ist festzuhalten, dass die einfache Antwort, auch diese sozialen Differenzierungen müssten sich in marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen letztlich einem effizienten und effektiven Führungsprozess fügen, zwar grundsätzlich richtig ist, aber gleichwohl zu kurz greift. Wie oben im Text herausgearbeitet wurde, liegt die Antwort hier eher im WIE der Führung. Der komfortable Mythos der formal-rationalen Führung, der sich auf das WAS konzentriert, verkennt die tatsächlichen Herausforderungen, die sich aus den nationalen und internationalen sozialen Differenzierungen ergeben. Unter den Bedingungen wachsender sozialer Vielfalt sind produktive Lösungen und wirtschaftlicher Erfolg zunehmend davon abhängig, die sozialen Unterschiede und ihre Implikationen auf die Effizienz und Effektivität einschätzen zu können. So verstanden entscheidet die grundlegende operative Führungsleistung, soziale Unterschiede einschätzen zu können, darüber, ob „Diversity“ letztlich zum Performanceproblem oder –treiber wird.
Stärken nutzen Für einen effektiven Umgang mit der wachsenden sozialen und kulturel225 Buckingham und Clifton behandeln diese Fragestellung unter dem Begriff „Talent“ in ihrer Studie „Now, Discover Your Strengths“: „Talent is any recurring pattern of thought, feeling, or behavior that can be productively applied“ (Buckingham & Clifton 2002, 48). Diese Definition des Begriffs Talent gleicht dem oben im Text diskutierten Habitusbegriff.
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len Vielfalt ist die operative Führungsleistung, Unterschiede einschätzen zu können, ein erster notwendiger Schritt in einer Handlungskette. Kann eine Führungskraft die unterschiedlichen Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards in ihrer Führungsfiguration einschätzen, gelingt es ihr eher, Ablehnung, Konflikte und Demotivation zu vermeiden. Diese Führungsleistungen sind ohne Zweifel wichtig, auch wenn sie eher der Problembehandlung und –vermeidung zuzuordnen sind. Damit die Führungsleistung, Unterschiede einschätzen zu können, auch im aktiven Sinne zur Zielverfolgung beiträgt, muss sie mit einer weiteren Führungsleistung kombiniert werden: der Nutzung von Stärken. Bei der Nutzung der diversen kulturellen und individuellen Stärken ist die Leistung, unterschiedliche Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards differenziert einschätzen zu können, eine wichtige Vorarbeit, um dann die unterschiedlichen Arbeitsleistungen gezielt einsetzen zu können. Warum dieser differenzierende Blick auf die Stärken von Mitarbeitern erfolgskritisch ist, fast Drucker zusammen: „Individuals can acquire very divergent kinds of knowledge and highly disparate skills. But they cannot change their temperaments” (Drucker 1993e, 79). Was Drucker hier unter den Begriff „temperaments“ fasst, wurde weiter oben im Text als Habitus diskutiert. Es sind Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster, die zwar nicht biologisch determiniert, aber dennoch schwer veränderbar sind. Deshalb ist es für eine effektive Arbeit wichtig, bei Führungskräften und Mitarbeitern nicht nur das unterschiedlich Wissen und die Handlungskompetenzen, sondern auch die performancerelevanten Mindsets im Blick zu haben. Die sich daraus ergebenden Stärken, bestimmte Dinge zu können, wollen und tatsächlich zu tun, führen zu Leistungsunterschieden bei der gemeinsamen Zielverfolgung. Diese unterschiedlichen Leistungsfähigkeiten gezielt einzusetzen, sollte „selbstverständlich“ das Bestreben performanceorientierter Unternehmen sein. Eine breit angelegte Untersuchung führte jedoch zu dem Ergebnis, dass die Realität zurzeit noch anders aussieht: „Globally, only 20 percent of employees working in the large organizations we surveyed feel that their strengths are in play every day. Most bizarre of all, the longer an employee stays with an organization and the higher he climbs the traditional career ladder, the less likely he is to strongly agree that he is playing to his strengths” (Buckingham & Clifton 2002, 6).226 Wenn Führungskräfte im operativen Geschäft dafür sorgen wollen, die Stärken der Mitarbeiter gezielter zu nutzen, als dies nach der Gallup-Studie bisher der 226 Die Studie von Buckingham und Clifton basiert auf der Datenbasis einer Untersuchung von The Gallup Organization, an der 1,7 Millionen Mitarbeiter aus 101 Unternehmen in 63 Nationen beteiligt waren.
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Fall ist, dann sollten sie drei Fragen stellen, die die oben angeführte Differenzierung nach Wissen, Handlungskompetenzen und Mindsets aufgreift, nämlich: „What has he (or she) done well? What, therefore, is he likely to be able to do well? What does he have to learn or to acquire to be able to get full benefit from his strengths” (Drucker 1993e, 86)? Diese performanceorientierten Fragen ermöglichen es einer Führungskraft, mit den wachsenden sozialen und kulturellen Unterschiedlichkeiten zielorientiert umgehen. Wie diese produktive Nutzung von Diversity im operativen Führungsprozess aussehen kann, soll an zwei Beispielen für den nationalen und internationalen Raum verdeutlicht werden: Im Kapitel zur Entwicklung der sozialen Beziehungen (vgl. 2.1.3) wurde herr ausgearbeitet, dass langfristig in den Beziehungen zwischen sozial höher und niedriger stehenden Individuen, in Unternehmen folglich zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, eine Abnahme der Machtunterschiede zu beobachten ist. Dies zeigt sich in den Unternehmen unter anderem in dem Anspruch der Wissensmitarbeiter, als Personen wahrgenommen zu werden und ihre Stärken einsetzen zu können, statt einfach Anweisungen entgegennehmen und Aufgaben mechanisch erledigen zu müssen. Um diese Erwartungen der Mitarbeiter, in denen auch die gewachsenen Machtpotenziale im Verhältnis zum Vorgesetzten zum Ausdruck kommen, produktiv nutzen zu können, müssen Führungskräfte lernen, die dadurch entstehende Meinungs- und Anspruchsvielfalt produktiv zu nutzen. Dies gelingt, wenn eine Führungskraft durch Beobachtung und im Dialog mit den Mitarbeitern klärt, in welchen Arbeitsfeldern überdurchschnittliche Beiträge (Nutzung der Stärken) erbracht werden können. Auf diesem Weg wird den Mitarbeitern signalisiert, dass ihre Person und ihre Stärken anerkannt werden. Dadurch kann eine Verpflichtung zur Nutzung der individuellen Stärken erreicht und zudem die Identifikation des Mitarbeiters durch die Mitgestaltung gestärkt werden. Letztlich ist es eine einfache Formel, die hinter diesem effektiven Führungsansatz für Wissensmitarbeiter steht. Wie schon in dem Kapitel zur operativen Umsetzung des zielorientierten Mindsets besprochen wurde, geht es im Kern um die individuelle Auseinandersetzung der Führungskraft mit den Mitarbeitern – also: um eine „post-tayloristische Führung“. Bei dem Umgang mit der Vielfalt in den „nationalen Kulturräumen“, die durch die Veränderungen der sozialen Beziehungen, zum Beispiel zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, entsteht, müssen die Führungskräfte die drei oben angeführten Performancefragen in zeitgemäßer Form (WIE der Führung) im
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
operativen Führungsalltag nutzen. Dabei wird der modus operandi, also die Art des Führungshandels, durch die sozialen Beziehungsstandards bestimmt. Diese wichtige Regel, die soziale Standards und Entwicklungen sehen und verarbeiten zu müssen, um effektiv managen zu können, gilt in gleicher Form im internationalen Geschäft. Um dies zu verdeutlichen, soll als Beispiel die chinesische Geschäftskultur angeführt werden. Diese hochentwickelte Geschäftskultur basiert auf persönlichen Beziehungen. Die spezifischen Formen der chinesischen Geschäftsbeziehungen werden als „Guanxi“ bezeichnet (vgl. Ghemawat 2002, 88). Um als „Nicht-Chinesen“ in China geschäftlich erfolgreich zu sein, müssen Führungskräfte für sich selbst und eingesetzte Mitarbeiter konsequent fragen, ob sie ihre Stärken in dieser spezifischen Form, Geschäfte zu betreiben, sofort oder zum Beispiel nach dem Erlernen einer Landessprache einsetzen können. Auch hier spricht viel dafür, dass ohne die Leistungen, Unterschiede zu verstehen und sie gezielt (mit Wissen, Handlungskompetenz und passenden Talenten) zu beantworten, der wirtschaftliche Erfolg gefährdet ist. Dies könnte eine Erklärung sein, warum im Geschäft mit und in China die Mißerfolgsquote hoch ist (vgl. ebenda). Insgesamt ist der Weg vom weltgewandten Mindset zur operativen Führung bei jedem Schritt davon abhängig, dass Führungskräfte sich von angestammten Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards distanzieren (können). Ohne diese Stärke werden Führungskräfte mit der wachsenden nationalen und internationalen Vielfalt im Alltag nicht flexibel umgehen können. Sie müssen sich für neues Entscheidungswissen öffnen, Unterschiede einschätzen und diverse Stärken nutzen, ohne zu schnell eigene soziale Standards zu generalisieren. Diese Leistungsanforderungen bei der Umsetzung des weltgewandten Mindsets unterstreichen nochmals das Ineinandergreifen der Mindsets. Denn ohne die Leistungen des reflexiven Mindsets sind diese operativen Führungsleistungen des weltgewandten Mindsets nicht zu verwirklichen.
3.3.3.6 Vom netzwerkorientierten Mindset zur operativen Führung: Nutzen vermitteln, Standards schaffen Die wachsende Bedeutung von Netzwerken für die Führung in Unternehmen wurde in dieser Arbeit in drei Schritten hergeleitet und aufbereitet: Zunächst wurde die langfristige Entwicklungsdynamik der sich räumlich und sozioökonomisch ausweitenden und gleichzeitig dichter werdenden Netzwerke beschrieben. Zweitens wurde das netzwerkorientierte Mindset als eine handlungstreibende Denkbrille thematisiert, über die eine Führungskraft zur Beantwortung der Marktentwicklungen verfügen sollte. Drittens wurde die Führung in und von dynamischen Interdependenzen als ein grundlegender Aspekt der operativen Führung herausgehoben. Zur Klärung der Frage, welche operativen Funktionen bei dem Management
3.3 Operative Führung
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von Netzwerken im Kern abzudecken sind, soll eine Kernthese des dritten Arbeitsschritts zu diesem Thema wieder aufgegriffen werden. Hier wurde thematisiert, dass die Kommunikationsleistung in den offeneren und vernetzteren Unternehmen steigen muss, wenn der Steuerungsanspruch nicht aufgegeben werden soll. Diese These verweist darauf, dass die Übersetzung der Funktionen des netzwerkorientierten Mindsets in die operative Führung eine spezifische Kommunikationsherausforderung ist. Damit ist nicht gemeint – um dem wichtigsten Missverständnis vorzubeugen –, dass durch eine einfache Steigerung der quantitativen Interaktionen der Steuerungsanspruch in Netzwerken abgedeckt werden kann. Die Abdeckung der zwei wichtigsten Funktionen der operativen Führung, die Vermittlung von einem gemeinsamen Nutzen und die Erarbeitung von gemeinsamen Standards, verlangt mehr und zum Teil andere Führungaktivitäten als nur die Steigerung der Kommunikationsdichte (vgl. Cross & Nohria & Parker 2002, 68f.). Warum die Vermittlung von Nutzen und Standards gerade in Netzwerken nicht nur über die häufigere Kommunikation der Führungskraft mit den Netzwerkpartnern funktionieren kann, wurde in dem Kapitel über die sozio-technischen Interdependenzen als nachhaltige Veränderungstreiber (vgl. Kapitel 2.1.2) begründet. Hier wurde in der Abbildung 10 aufgezeigt, dass sich die Zunahme von Beziehungsmöglichkeiten bei wachsenden Interdependenzen exponentiell vollzieht. Damit sind die Möglichkeiten einer Führungskraft, in größeren Netzwerken durch direkte Kommunikation zu steuern, natürlich begrenzt.
Nutzen vermitteln Die natürlichen Grenzen der direkten Kommunikation sind in Unternehmensnetzwerken jedoch kein unüberwindbares Problem. Um zu verstehen, warum eine effektive Netzwerkführung trotz der quantitativen Grenzen der direkten Kommunikation möglich ist, muss man zunächst mit dem Mythos brechen, dass die unterschiedlichen Formen wirtschaftlicher Netzwerke (strategische Netzwerke, Wissens-, Projekt-, Lieferanten-, Innovations- und Produktionsnetzwerke) nur von dem Vertrauen und Wir-Gefühl leben, das in der direkten Mensch-Mensch-Begegnung entsteht und gepflegt werden muss. Aus Sicht des LAA sind Vertrauen und Wir-Gefühl förderliche soziale Ergebnisse einer effektiven Führung von Netzwerken, aber nicht die wesentlichen Treiber. Der wichtigeste Treiber für die effektive Gestaltung von Netzwerken ist – wie schon bei den notwendigen Orientierungen des netzwerkorientierten Mindsets dargelegt – die Vermittlung eines gemeinsamen Grundnutzens. Dass dies so ist, konnte oben durch die Beispiele von profitorientierten Netzwerken (z. B. StarAlliance) und Non-Profit-Netzwerken (z. B. Wikipedia) aufgezeigt werden. Warum der gemeinsame Grundnutzen das Fundament für funktionierende Netzwerke ist, ergibt sich aus einem erweiterten Verständnis des ökonomischen Tausches.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Hierzu formuliert Pierre Bourdieu grundsätzlich: „Die Theorie der eigentlichen ökonomischen Praktiken ist ein Sonderfall einer allgemeinen Theorie der Ökonomie der Praktiken“ (Bourdieu 1987b, 222). Diese bei von Bourdieu durch ethnologische und soziologische Studien (vgl. Bourdieu 1976; 1987) fundierte Erkenntnis öffnet den Blick dafür, dass auch ökonomische Netzwerke dem Regelwerk einer „Ökonomie der Praktiken“ unterworfen sind. Das heißt: Netzwerke sind komplexe Tauschgeschäfte. Allerdings folgen diese Tauschgeschäfte nicht dem rationalistisch-reduktionistischen Regelwerk der oben im Text diskutierten Führungsökonomik (PropertyRights-Ansatz, Pricipal-Agent-Ansatz, Tranaktionskostenansatz); stattdessen sind diese Tauschgeschäfte über einen komplexeren Schlüssel von Kapitalien codiert (vgl. Beinhocker 2007). Die theoretische Fundierung des LAA bietet zwei Zugänge, diesen komplexeren „Kapital-Code“ von Netzwerken zu erschließen. Den ersten Zugang bietet das im Kapitel 2.1.3 diskutierte Machtquellenmodell von Norbert Elias und Volker Krumrey. Übersetzt man dieses Machtquellenmodell in ein Kapitalsortenmodell, was aus Sicht des Autors bruchlos möglich ist, dann lässt sich in der operativen Führung von Netzwerken der gemeinsame Grundnutzen besonders über die Absicherung und Erweiterung physischen, ökonomischen, affektiven, positionalen und wissensmäßigen Kapitals einsteuern. Als zweiter Zugang kann das im Kapitel 3.1.2 erläuterte Kapitalsortenmodell von Pierre Bourdieu genutzt werden. Bourdieu definiert die Kapitalsorten wie folgt: Ökonomisches Kapital (materieller Besitz) Kulturelles Kapital (Bildung, Titel) Soziales Kapital (Verwandtschaft, Beziehungen) Symbolisches Kapital (Kleidung, Körpersprache, Benehmen). Wird den Partnern in (ökonomischen) Netzwerken ein hinreichender Nutzen im Sinne des Austausches dieser Kapitalsorten geboten, dann ist dies für die erste Phase, der Entstehung eines Netzwerks, der wesentliche Schritt. Erst
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3.3 Operative Führung
durch die Vermittlung des gemeinsamen Grundnutzens, also der Sicherung oder Ausweitung der Kapitalsortenkonfiguration, wird die Basis für das Vertrauen in das Netzwerk geschaffen. Durch diesen Zusammenhang wird der häufig in Verbindung mit Netzwerken verklärende Begriff des individuellen Vertrauens (vgl. Aderhold & Wetzel 2005, 19) entschleiert und auf den notwendigen gemeinsamen Nutzen oder das „Systemvertrauen“ (vgl. Luhmann 2000) verwiesen. Auch zeitlich und organisatorisch kann eine Führungskraft dieses Systemvertrauen – wie oben beschrieben – nicht alleine durch individuelle Kommunikation aufbauen. Sie muss sich des multiplikativen Effekts des gemeinsamen Nutzens, der persönlicher, operativer und / oder strategischer Natur sein kann, bedienen (vgl. Abb. 74).
Operativ
Persönlich
Strategisch
Zweck des Netzwerkes
die Arbeit effizienter erledigen; die von der Gruppe verlangten Ressourcen wahren
Verbessern der persönlichen und beruflichen Entwicklung; Verweise zu hilfreichen Informationen und Kontakten
künftige Prioritäten und Herausforderungen erkennen; Unterstützung durch Stakeholder organisieren
Umfang und Zeithorizont
meist interne Kontakte, die sich an aktuellen Anforderungen orientieren
meist externe Kontakte, die an aktuellen Interessen und künftigen potenziellen Interesse ausgerichtet sind
interne und externe Kontakte; zukunftsorientiert
Akteure und ihre Rekrutierung
wichtigste Kontakte sind vorgegeben; sind meist durch die Aufgaben und die Organisationsstruktur definiert
wer wichtig ist, liegt im eigenen Ermessen; nicht immer klar, wer relevant ist
die wichtigsten Kontakte ergeben sich aus dem strategischen Kontext und der Umgebung der Organisation; die spezifische Mitgliedschaft ist dem eigenen Ermessen überlassen; nicht immer klar, wer relevant ist
Eigenschaften und typisches Verhalten
Tiefe: Aufbau starker Beziehungen im Arbeitsumfeld
Breite: Reicht bis zu Kontakten, die Empfehlungen aussprechen können
Hebelwirkung: interne und externe Kontake werden miteinander verknüpft
Abb. 74: Die drei Networking-Strategien (Ibarra & Hunter 2007, 48)
Ist der Nutzen, der von Ibarra und Hunter unter den Kategorien operative, persönliche und strategische Zwecke zusammengefasst und der im LAA über die Absicherung oder Erweiterung der Kapitalsorten entschlüsselt werden kann, gegeben, kann der kommunikative Aufwand mittels dieser Medien (der Formen des Nutzens / Kapitalien) von einer Führungskraft auch in größeren Netzwerken geleistet werden.
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Standards schaffen Die zweite Phase im Management von Netzwerken stellt die Führungskraft vor die Herausforderung, die Basis für die Verstetigung der Netzwerkarbeit zu schaffen. Dieser Bereich der operativen Führung bleibt nach Elzholz u. a. in der bisherigen Netzwerkforschung „systematisch unberücksichtigt“ (vgl. Elzholz u. a. 2006, 56). Im Sinne einer effektiven oder produktiven Führung ist jedoch gerade die Verstetigung von Netzwerken ein wichtiger Schritt. Denn die Investitionen in den Aufbau von Netzwerken zur Bearbeitung von Produkten, Projekten oder Initiativen muss sich, wie der Aufbau anderer Organisationsformen, mittelfristig durch eine entsprechende Wertschöpfung amortisieren. Um die gewünschte Nachhaltigkeit oder Verstetigung in Netzwerken zu erreichen, müssen nach der empirischen Studie von Elzholz u. a. mehrere Führungsleistungen erbracht werden, die die Forscher in sechs Binnenstrategien für Netzwerke zusammenfassen: 1. „Klare Arbeitsstrukturen schaffen: Übereinkünfte über bestimmte etablierte und erarbeitete explizite Arbeitsstrukturen können den Steuerungsaufwand und somit die weitere Netzwerkarbeit entlasten“ (ebenda, 39). 2. „Routinen entwickeln: Eine ähnliche Strategie besteht darin, verstärkt Routinen der Zusammenarbeit zu entwickeln und so das Netzwerkmanagement weiter zu entlasten“ (ebenda, 40). 3. „Dezentralisierung: Um den Netzwerkmanager als zentralen Akteur zu entlasten, können Ansätze zur stärkeren Dezentralisierung der Netzwerkarbeit geeignet sein“ (ebenda, 41). 4. „Ansprüche reduzieren: Eine weitere Strategie besteht darin, die Netzwerkarbeit bewusst zu reduzieren und damit an knapper gewordene Ressourcen anzupassen“ (ebenda, 42). 5. „Transferfähige Methoden entwickeln: Netzwerke benötigen für ein einwandfreies Funktionieren Wissensströme und einen Know-how-Transfer, den es zu erfassen und deutlich zu machen gilt“ (ebenda, 43). 6. „Stärkere interne Verankerung: Eine Doppel-Strategie, die sowohl in das Netzwerk wirkt, als auch auf Außenwirkung zielt, besteht darin, sich gezielt um eine stärkere Verankerung des Netzwerkes bei den Netzwerkpartnern zu bemühen. Dabei geht es darum, die Netzwerkarbeit weniger stark von einzelnen Personen, den jeweiligen Netzwerkakteuern, abhängig zu machen“ (ebenda, 44). Im Sinne des LAA lassen sich diese Leistungen zur nachhaltigen operativen Gestaltung von Netzwerken unter der integrativen Leistung, nämlich Standards zu schaffen, angliedern. Führungskräfte können die von Elsholz u. a. empirisch her-
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ausgearbeiteten Leistungen nutzen, um gemeinsam mit den Partnern Regelungen für die Funktionsfähigkeit, Effektivität des Netzwerks zu vereinbaren. Welcher dieser Leistungen im Netzwerkmanagement situativ ein besonders Gewicht zukommt, lässt sich – parallel zu den Persönlichkeitseigenschaften, Kompetenzen, etc., die den Mindsetfunktionen zugeordnet werden können – nicht sagen. Deshalb ist es aus Sicht des LAA für die operative Umsetzung des netzwerkorientierten Mindsets wichtig, dass Führungskräfte sich die Funktion von Standards für Netzwerke generell bewusst machen, um dann mit dieser grundsätzlichen Handlungsausrichtung nach geeigneten Aktivitäten zu suchen. Die Forschungsergebnisse von Elsholz u.a. thematisieren neben den Teilfunktionen zur nachhaltigen Funktions- und Effektivitätssicherung von Netzwerken noch einen weiteren Handlungsbereich, der für die operative Führung von Netzwerken wichtig ist. Durch die ergänzende Formulierung von „Außenstrategien“ weisen die Forscher darauf hin, dass Netzwerke immer nur Teilfigurationen sind, die in einem mehr oder weniger komplexen Abhängigkeitsverhältnis mit anderen Personen und Netzwerken existieren. Treffend verweist die Forschergruppe in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit, entlang den oben angeführten Machtquellen bzw. Kapitalsorten, „Außenstrategien“ zu betreiben, die sie wie folgt zusammenfassen: 1. „Entscheidungsträger einbinden: Netzwerke leben oft davon, dass in ihnen auch Entscheidungsträger wirksam sind, die über finanzielle und personelle Ressourcen (mit-) entscheiden können“ (ebenda, 45). 2. „Netzwerk als Machtfaktor etablieren: Netzwerke können eine spezifische Netzwerk-Kompetenz entwickeln, die von außen nachgefragt wird und die zur Entwicklung einer gewissen Machtstellung führen kann“ (ebenda, 46). 3. „Nutzen von PPI zeigen: Durch die Prozesse und die Ergebnisse der Entwicklungen von Netzwerk-PPIs (Netzwerk-Output in Form von Produkten, Projekten und Initiativen) profitieren nicht nur die Netzwerkpartner, sondern auch Außenstehende“ (ebenda, 47). 4. „Folgestrukturen schaffen: Die Verstetigung von Netzwerkarbeit muss nicht immer in der gleichen Kooperationsform erfolgen wie die ursprüngliche Netzwerkarbeit. Wichtig erscheint es, geeignete Folgestrukturen frühzeitig zu konzipieren und zu gegebener Zeit zu realisieren“ (ebenda, 48). Diese sogenannten Außenstrategien stellen in der Begriffswelt des LAA weitere Steuerungsleistungen dar, die zum Teil zusätzlichen Nutzen für das Hauptnetzwerk und verbundene Personen oder Netzwerke schaffen. Die „Außenstrategie“ ist im Sinne der Nachhaltigkeit eine antizipierende Leistung, die flexible
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
Ablösung nicht mehr funktionaler Standards durch Neue darstellt. Grundsätzlich ermöglicht die Konzentration auf die hier beschriebenen wichtigsten Funktionen die operative Führung von Netzwerken. Die Netzwerkforschung, die mit dem Verweis auf Dilemmata (Vertrauens-, Besitz-, Konflikt-, Subventionsdilemma) die Steuerbarkeit von Netzwerken grundsätzlich bezweifelt (vgl. Aderhold & Wetzel 2005, 19-20), übersieht, dass in und zwischen Unternehmen die Netzwerkarbeit wertschöpfend als Alltagsgeschäft betrieben wird. Dass diese Arbeit – wie die Führung in hierarchischen Strukturen – von Paradoxien, Dilemmata und Unzulänglichkeiten durchzogen ist, belegt weniger die Unmöglichkeit der Führung von Netzwerken, sondern die Notwendigkeit einer ausbalancierenden Performance bei der Führung von Netzwerken (vgl. Neuberger 2002, 354-371).
3.3.3.7 Vom aktionsorientierten Mindset zur operativen Führung: Entscheidungen kommunizieren und Ressourcen einsetzen In den Erläuterungen zum aktionsorientierten Mindset wurde betont, dass dieses Mindset zusammen mit dem reflexiven Mindset eine Art „Performanceklammer“ bildet. Damit wurde auf die übergreifende Bedeutung der Leistungen dieser Mindsets verwiesen. Das heißt, dass die Performance dieser Mindsets auf die Leistungen der anderen Mindsets und auf ihre operative Umsetzung einen entscheidenden Einfluss haben. So sorgt ein gut performendes reflexives Mindset für die Fähigkeit, sich von etablierten Lösungen distanzieren zu können, wodurch die Leistung des innovativen Mindsets, die Entwicklungen des Marktes in Chancen zu übersetzen, erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht wird. Ein gut funktionierendes aktionsorientierte Mindset, dass Entscheidungen mit den entsprechenden Konsequenzen für die Ressourcenallokation gewährleistet, sichert begleitend zu der Ausrichtungs- und der Orientierungsfunktion des zielorientierten Mindsets den Umsetzungsbezug.
Entscheidungen kommunizieren Diese Beispiele verdeutlichen, dass das aktionsorientierte Mindset und seine operative Übersetzung für die Effektivität der mit den anderen Mintsets verbundenen Leistungen sorgen müssen. Die Mindsets, die sich im Kern darauf beziehen, neue Marktchancen zu identifizieren (reflexives Mindset), die Wertschöpfungskette zu überdenken (analytisch-synoptisches Mindset), neue Ziele zu formulieren (zielorientiertes Mindset), Innovationen zu planen (innovatives Mindset), sozio-kulturelle Unterschiede zu erkennen und nutzen zu können (weltgewandtes Mindset) und die Kooperationsregeln von Netzwerken zu verstehen, können ihre differenzierten Leistungen in der operativen Führung nur dann effektiv zur Wirkung bringen, wenn sie mit den Entscheidungen über die
3.3 Operative Führung
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Ressourcennutzung (aktionsorientiertes Mindset) verbunden werden. Damit wird klar, warum die operative Umsetzung des aktionsorientierten Mindsets der andere Teil der „Performanceklammer“ ist: Weil durch die Entscheidungen über die Handlungsalternativen und im hier verstandenen Sinne zugleich über die notwendigen Ressourcen zur Umsetzung die Verbindung von den reflektierenden und kommunikativen Aktivitäten zu der richtungsweisenden und allokierenden Führung vollzogen wird. Zeigt sich bei einer Führungskraft, dass sie die operative Führungsfunktion des Entscheidens nicht mit einer hinreichenden Performance ausfüllt, dann wird damit die Wirksamkeit der anderen Führungsleistungen untergraben. Fredmund Malik hat dies in seiner Aufarbeitung des Themas treffend zusammengefasst: „In der Entscheidung läuft alles zusammen, wird alles gewissermaßen auf den Punkt gebracht. Entscheiden ist nicht die einzige, aber es ist die kritische Aufgabe der Führungskraft – the task which makes or breaks the manager“ (Malik 2000, 202). Dort, wo im Führungsprozess alles zusammenläuft, entsteht Druck – Entscheidungsdruck. Dieser Entscheidungsdruck hat in der operativen Führung zwei Quellen: Erstens muss die Führungskraft das Risiko tragen, die Ressourcen für die Verfolgung einer ausgewählten Handlungsalternative einzusetzen. Zweitens muss sie durchsetzen, dass aktuelle Strategien, Systeme, Prozesse und / oder Produkte ersetzt werden, weil ihre Marktchancen im Vergleich zu den neuen Lösungen als geringer eingeschätzt werden (vgl. Drucker 1993a, 143-149; 1993b, 93-94). Führungskräfte müssen diesem Druck besonders in der unweigerlich mit den Entscheidungen verbundenen Auseinandersetzung über die Ressourcen standhalten. Denn erst mit der expliziten Entscheidung, die Ressourcen des Unternehmens weiterhin für bestehende oder für andere Lösungen einzusetzen, werden die Überlegungen der Führungskraft wirksam – sie werden entscheidend. Hier, in der Kommunikation der Entscheidungen, liegt ein wesentlicher Teil der Aufgabe, „which makes or breaks the manager“. Insofern ist eine grundlegende operative Funktion des aktionsorientierten Mindsets die Kommunikation der Entscheidung.
Ressourcen einsetzen Mit der Leistung, die Entscheidungen im Führungsalltag soweit zu kommunizieren, dass die Handlungsalternativen akzeptiert werden, ist die Voraussetzung für die zweite grundlegende Funktion des aktionsorientierten Mindsets geschaffen: die Sicherung des produktiven Einsatzes der Ressourcen zur Entscheidungsumsetzung. Die Sicherung des produktiven Ressourceneinsatzes ist für eine effektive Füh-
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3 Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des LAA
rung ein fester Bestandteil eines umfassenderen Entscheidungsprozesses (vgl. Malik 2000, 208). Dass diese Funktion des aktionsorientierten Mindsets in den Unternehmen häufig nicht hinreichend wahrgenommen wird (vgl. Kaplan & Norton 2001, 1), hat – gerade unter den Bedingungen der in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen Handlungsgeschwindigkeit (vgl. Rosa 2005) und des kurzfristigen Ergebnisdrucks – damit zu tun, dass die konsequente Entscheidungsumsetzung zeitintensiv ist: „While thinking through the boundary conditions is the most difficult step in decision-making, converting the decisions into effective action is usually the most time-consuming one“ (Drucker 1993 e, 136). Um den Widerspruch zwischen der generell gestiegenen Handlungsgeschwindigkeit und dem Ergebnisdruck einerseits und der Zeitintensität einer konsequenten Entscheidungsumsetzung andererseits auflösen zu können, wäre eine hohe Professionalität in der Umsetzungsarbeit notwendig. In den letzten Jahrzehnten verhindern jedoch zwei Denk- und Handlungstraditionen, dass die Umsetzungsarbeit besonders in Wissensunternehmen professioneller und damit auch schneller gleistet werden kann: Erstens hat sich seit den 1960er Jahren im Top-Management ein Führungsverständnis herausgebildet, das parallel zu den Schwerpunktbildungen der meisten Managementansätze und –schulen stark auf die Bereiche der Entscheidungsfindung und der Planung fokussiert. 227 Die operative Umsetzungsarbeit, besonders die Auflösung struktureller Widersprüche nach Veränderungsentscheidungen und die produktive Auflösung von Widerständen gegen Veränderungen, haben im Vergleich zur strategischen Entscheidung und Planung weiterhin einen untergeordneten Stellenwert. Um diese Transferlücke von der Planung zur Umsetzung (vgl. Vaupel 2002, 167-169) zu schließen, muss die Erwartungshaltung oder Anforderung an das aktionsorientierte Mindset der Führungskräfte verändert werden. Das Verhältnis von Entscheidungsfindung und Planungsaktivitäten zu den Umsetzungsaktivitäten muss sich, bezogen auf die Ressourcen Geld und Zeit, signifikant zugunsten der Umsetzung verschieben. Nur dann besteht die Chance, das kritische Zeitproblem bei der Entscheidungsumsetzung operativ besser zu bewältigen. Die zweite Denk- und Handlungstradition, die eine effektive Entscheidungsumsetzung in Wissensunternehmen erschwert, ist die Übergewichtung des Managements von industriellen Ressourcen, nämlich Kapital und Arbeit / Technik. Die beiden Ressourcen, die im Wettbewerb am Anfang des 21. Jahrhunderts maßgeblich die erfolgreiche Umsetzung von Entscheidungen beeinflussen, sind hingegen Wissen und Zeit. Dabei besteht die Verbindung zwischen den beiden Ressourcen Wissen 227 Diese Schwerpunktbildungen der strategischen Managementforschung und –lehre werden im Kapitel zur strategischen Führung ausführlicher bearbeitet.
3.3 Operative Führung
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und Zeit in der Entscheidungsumsetzung darin, dass eine höhere Geschwindigkeit nur dann erreicht wird, wenn das Wissen der beteiligten Menschen fundiert und aktuell (Qualifikation) ist, um die gewünschten modifizierten oder neuen Leistungen erbringen zu können. Um die Defizite in der Entscheidungsumsetzung und dem effektiven Management der Ressourcen in Wissensunternehmen zu vermeiden, sollten die Führungskräfte einige Schlüsselfragen stellen: „Converting a decision into action requires answering several questions: Who has to know of this decision? What action has to be taken? Who is to take it? And what does the action have to be so that people who have to do it can do it? The first and the last of these are too often overlooked – with dire results” (Drucker 1993 e, 136). Werden diese Schlüsselfragen gestellt, fokussiert sich die Entscheidungsumsetzung auf die Ressourcen, die in Wissensunternehmen maßgeblich sind: die Menschen. Diese Kernaussage verneint nicht die Herausforderung, dass auch die Kosten, Technik, Strukturen und Prozesse an den Entscheidungen ausgerichtet werden müssen. In der wachsenden Zahl von Unternehmen, die von den oben im Text beschriebenen Formen von Wissensarbeit abhängig sind, kann die Umsetzungsperformance von Optimierungs- oder Veränderungsentscheidungen nicht beliebig durch den Einsatz von Kapitel oder physischen Ressourcen gesichert werden. Die Ressource, die zur Bearbeitung von marktorientierten Veränderungen nicht ersetzt werden kann, ist das Wissen der Menschen; das Wissen der Mitarbeiter muss vielmehr von den Führungskräften effektiv eingesetzt und damit in Performance umgewandelt werden. Beide Funktionen des aktionsorientierten Mindsets verweisen darauf, dass Entscheidungen im Führungsprozess nicht mit einem „freischwebenden Planungsprozess“ verwechselt werden dürfen. Die Entscheidung über die Verwendung von Ressourcen sowie die Kommunikation von notwendigen Arbeitsschritten, aber auch die Befähigung, diese Arbeitsschritte leisten zu können, koppeln den Entscheidungsprozess unmittelbar an die Veränderungsarbeit. Bildlich gefasst sind die zwei operativen Funktionen des aktionsorientierten Mindsets der Führung, nämlich die Kommunikation der Entscheidung und Ressourcenallokation einerseits und die Sicherung der Qualifikation und Veränderung von Verhalten andererseits, die beiden Beine, auf denen sich der Entscheidungsprozess bewegt. Die Umsetzung des aktionsorientierten Mindsets bemisst sich folglich daran, inwiefern eine Führungskraft – über den kognitiven Teil der Entscheidungen hinaus – dazu in der Lage ist, sich selbst, die Ressourcen und besonders die Mitarbeiter im Sinne der Entscheidung auszurichten. Erst wenn die Führungskraft dies leistet, ist der Entscheidungsprozess wirksam abgeschlossen und für die Marktbearbeitung relevant.
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Vom Leadership Asset Approach (LAA) zum Leadership Asset System (LAS) – Die Entwicklung eines Managementinstruments in einer Managementakademie eines internationalen Finanzdienstleisters
In den ersten drei Kapiteln dieser Arbeit wurde mit dem LAA ein Bezugsrahmen formuliert, der die Ableitung von Führungsanforderungen in Unternehmen am Anfang des 21. Jahrhunderts ermöglicht. Diese Arbeit erfolgte in drei Schritten: Zuerst wurde dargelegt, dass die Führungsperformance in den gegenwärtig turbulenten Märkten immer häufiger unzureichend ist, um den Bestand der Unternehmen zu sichern (vgl. Abb. 2). Die Gründe, warum es den Führungskräften schwer fällt, auf die schnellen und diskontinuierlichen Marktentwicklungen hinreichend effektiv und effizient zu antworten, wurden aus prozesstheoretischer Perspektive erschlossen. Vor dem Hintergrund dieser Problemskizze wurde die Notwendigkeit aufgezeigt, neue Orientierungsmittel für die Führung zu entwickeln. Im zweiten Schritt wurde die Schaffung der neuen Orientierungsmittel durch das Schließen der konzeptionellen Lücke zwischen den sozio-ökonomischen Entwicklungen und den Führungsanforderungen systematisch vorbereitet. Konkret wurde dies durch die Rekonstruktion der nachhaltigen Veränderungstreiber (Demografie, sozio-technische Entwicklungen, soziale Beziehungen) und der durch die Veränderungstreiber geprägten Determinanten des strategischen Wettbewerbs geleistet. In einem dritten Schritt wurden schließlich die persönlichen, strategischen und operativen Führungsfunktionen (Führungsleistungen) beschrieben, die zur Beantwortung der Herausforderungen, die sich aus den nachhaltigen Veränderungstreibern und den deduzierten Determinanten des strategischen Wettbewerbs ergeben, erbracht werden müssen. Durch die dreistufige entwicklungssoziologische und –psychologische Fundierung des LAA wurde die willkürliche Ableitung von Führungsanforderungen überwunden. Stattdessen wurde durch den empirisch-theoretischen Bezugsahmen (LAA) die Herleitung der Führungsanforderungen soweit begründet, dass ein fundierter wissenschaftlicher Diskurs über die Weiterentwicklung des Ansatzes und der abgeleiteten Führungsanforderungen (notwendige persönliche, strategische und operative Führungsfunktionen) möglich ist.
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4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
Das hier vorgestellte LAA bietet folglich eine empirisch-thoretische Fundierung wichtiger Führungsanforderungen, die in dieser Arbeit in der Form von Führungsfunktionen (zweckdienliche Leistungen) vorgestellt wurden. Das LAA bietet damit Orientierungsmittel für die Führung in Unternehmen am Anfang des 21. Jahrhunderts generell und für die Erfassung von Führungsperformance im Besonderen. Jedoch kann das LAA nicht unmittelbar genutzt werden, um die Erfassung und Steuerung von Führungsperformance zu leisten. Hierzu wird ein Instrument benötigt, das die Orientierungshilfen, die im LAA als Anforderungen an die persönliche, strategische und operative Führung formuliert werden, praktisch handhabbar aufbereitet. Dieses Managementinstrument, das Leadership Asset System (LAS), wurde ergänzend zum LAA in der ersten Fassung (LAS 1.0) von 2001-2003 und in der zweiten Fassung (LAS 2.0) von 2005-2007 entwickelt.228 Bei der Erstellung des LAS wurde das LAA dazu genutzt, wichtige Leitfragen229 zu formulieren. Diese Leitfragen, auf die bei den Erläuterungen des LAS Bezug genommen wird, lauteten unter anderem: 1. Leitfrage: Wie muss das LAS aufgebaut sein, um die komplexen Anforderungen an die persönliche, strategische und operative Führung mit den tatsächlich erbrachten Leistungen von Führungskräften abgleichen zu können? 2. Leitfrage: Wie können bei der Performanceerfassung die Wirkungszusammenhänge zwischen den performancerelevanten Mindsets, der strategischen und operativen Führung (Trilogie der Führung) hinreichend berücksichtigt werden? 3. Leitfrage: Wie kann das LAS die tatsächlich erbrachten Leistungen in Unternehmen mit den Marktbenchmarks ins Verhältnis setzen? 4. Leitfrage: Wie kann neben den performancerelevanten Mindsets auch über die Konkretisierung der strategischen Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten erfasst werden, ob und auf welchem Performancelevel die Führungskräfte ihre Beiträge zur Bewältigung der sozio-ökonomischen Herausforderungen liefern? 5. Leitfrage: Wie kann erfasst werden, ob die vorhandene Führungsperformance in bestimmten unternehmerischen Steuerungsfeldern (Kundenmanagement, Kostenmanagement, Change Management usw.) hinreichend entwickelt ist, um strategische Initiativen erfolgreich zu gestalten und umzusetzen? 228 Die Erarbeitung des LAS wurde von dem Autor im Rahmen der Leitung einer Managementakademie eines internationalen Finanzdienstleisters initiiert und gesteuert. 229 Einige der angeführte Leitfragen sind auch konstitutiv für die Erstellung von Management-Audits (vgl. Samland 2001, 21 u. 35-64).; ein anderer Teil ergibt sich speziell aus dem hier vorgestellten Bezugsrahmen (LAA).
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
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6. Leitfrage: Wie kann das Zusammenwirken von individueller und kollektiver Führungsleistung berücksichtigt werden? 7. Leitfrage: Wie können die strategischen Schwerpunkte des Unternehmens bei der Erfassung der individuellen Führungsleistungen berücksichtigt werden? 8. Leitfrage: Wie kann das LAS berücksichtigen, dass in den unterschiedlichen Entwicklungsstufen von Unternehmen (Corporate Lifecycles) teilweise unterschiedliche Führungsleistungen mit einer unterschiedlichen Gewichtung performancerelevant sind? 9. Leitfrage: Wie muss das LAS eingesetzt werden, um einen Beitrag zur marktorientierten und zeitgemäßen strategischen und operativen Führung zu erbringen? Diese und – in der Ausdifferenzierung – weitere relevante Fragen mussten bei der Übersetzung des LAA in das LAS beantwortet werden. Zusätzlich war eine Auseinandersetzung mit den Stärken und Schwächen anderer Managementinstrumente im Allgemeinen und den Instrumenten zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance im Besonderen notwendig, um hieraus konzeptionelle Anforderungen für das LAS ableiten zu können. Die Motivation, sich der Aufgabe zu stellen, den LAA und Anregungen aus anderen Instrumenten zur Erfassung und Steuerung in das LAS zu übersetzen, entstand aus der Leitung der Managementakademie eines internationalen Finanzdienstleisters. Hier stand der Autor vor der Herausforderung, für die strategieunterstützende Führungskräfteentwicklung ein klares Bild von der Performance bestimmter Zielgruppen zu erarbeiten. Bei dem Start der Akademie im Jahre 2001 konnten die Fragen des CEOs, wie die Kompetenzen und die Leistungsfähigkeit der zu entwickelnden Führungskräfte in strategisch relevanten Handlungsfeldern einzuschätzen sind, jedoch nicht hinreichend beantwortet werden. Um diese grundlegende Informationslücke schließen zu können, war folglich zu klären, wie sich die Führungsperformance in Zukunft umfassender und differenzierter erfassen und steuern lässt. Da eine mehrmonatige Sichtung existierender Instrumente am Markt zur Beantwortung der oben angeführten Fragen zu keinem befriedigenden Ergebnis führte, wurde die Eigenentwicklung beschlossen. Die Komplexität, die sich aus dieser Herauforderung und der damit einhergehenden Übersetzung des LAA in ein Instrument zur Erfassung und Steuerung von Führungsperformance ergab, konnte schon nach kurzer Zeit nur noch in einer geeigneten IT-Lösung abgebildet werden. Auf den folgenden Seiten wird skizziert, welcher Aufbau und welche Verfahren für das LAS, ein IT-gestütztes System zur Erfassung und Steuerung von Führungsperformance, erarbeitet wurden.
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4.1
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
Das Leadership Asset System
Bevor die wichtigsten Gestaltungsmerkmale des LAA umrissen werden, wird ein Exkurs zu anderen Managementinstrumenten eingefügt. Dieser Exkurs erfüllt den gleichen Zweck wie die Diskussionen der verbreiteten Führungsansätze zur persönlichen, strategischen und operativen Führung oben im Text. Denn das LAS fußt zwar einerseits auf den empirisch-theoretischen Vorarbeiten des LAA, es berücksichtigt jedoch andererseits Einsichten, die aus der Sichtung anderer Managementinstrumente gewonnen werden konnten. Mit Blick auf die Vielzahl der Managementinstrumente und die diversen Zugänge zur Optimierung der Führungs- und Unternehmensperformance, die diese Tools, Methoden und Ansätze wählen, wird nicht der Versuch unternommen, eine systematische Besprechung der populärsten Managementinstrumente zu leisten. Stattdessen werden aus der Beschäftigung mit diesen Managementinstrumenten in Theorie und Praxis grundlegende Beobachtungen festgehalten, die für die Entwicklung des LAS relevant erscheinen.
4.2
Managementinstrumente zwischen kritischem Reduktionismus und unbewältigter Komplexität
Die Nutzung und Akzeptanz von gegenwärtig verbreiteten Managementinstrumenten in Forschung und Praxis legt die Vermutung nahe, dass es einige wissenschaftlich gestützte Managementtools und -methoden ermöglichen, die Verknüpfungen zwischen den Marktveränderungen und den notwendigen Führungsaktivitäten soweit herzustellen, dass Unternehmen mit ihrem Einsatz sicher durch die komplexen Anforderungen der sich rasant verändernden Wirtschaft und Gesellschaft steuern können. Wie in dieser Arbeit aufgezeigt wurde, ist diese Vermutung jedoch haltlos. Trotz der vielfältigen Tools, die besonders in Großunternehmen Verwendung finden, gelang es den Führungskräften in den letzten Jahren häufig nicht, auf die diskontinuierlichen Veränderungen der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen am Ende des 20. Jahrhunderts rechtzeitig und effektiv zu reagieren. Selbst Unternehmen, die sich nach Jim Collins und Jerry Porras durch ein nachhaltig erfolgreiches Management auszeichnen (vgl. Collins & Porras 1997), können sich zur Wende zum 21. Jahrhundert kaum noch erfolgreicher am Markt behaupten als die von den Autoren gescholtenen Konkurrenten (vgl. Hamel & Välikangas 2004, S.7). Damit drängt sich die Frage auf, ob unter veränderten Rahmenbedingungen auch bestimmte Defizite bei den bisher verbreiteten Managementtools zum Tragen kommen und diese Instrumente eine effektive strategische und operative Führungsarbeit auch gefährden können?
4.2 Managementinstrumente
315
Der kritische Blick auf die Sammlung der Managementtools und -methoden legt tatsächlich mehrere Gründe frei, warum der Nutzen dieser Instrumentarien für die nachhaltige Überlebenssicherung der Unternehmen begrenzt ist. Zunächst fallen zwei Aspekte auf, die auf eine problematische Komplexitätsreduktion der verbreiteten Orientierungsmittel für Manager hinweisen: Erstens dient die überwiegende Zahl der Managementansätze – ganz in der Tradition Taylors – dazu, die internen Arbeitsweisen, Strukturen, Prozesse und Techniken zu optimieren. Ein weiterer Teil der Managementansätze beschäftigt sich – in der Regel in der Tradition der Industrieökonomie – auch mit der Analyse der Markt- und Branchenstruktur. Eine Sichtung der in der Abbildung 75 angeführten Ansätze, Methoden und Instrumente für das Management zeigt, dass 51 auf die internen Prozesse, Strukturen, Techniken und weitere 22 auf die klassische Markt- und Branchenanalyse gerichtet sind (Tools zum Teil für beide Bereiche nutzbar). Fragt man jedoch, wie viele der Orientierungsmittel dazu beitragen, auch die branchenübergreifenden und gesellschaftlichen Entwicklungen, aus denen sich die neuen Herausforderungen für die Überlebenssicherung von Unterr nehmen wesentlich ableiten (vgl. Nagel & Wimmer 2002, 15), aufzubereiten, ist das Ergebnis unbefriedigend: 4 Managementtools. Die hier deutlich werdende isolierte wirtschaftliche und organisatorische Perspektive der Managementansätze ist in Zeiten, in denen viele gesellschaftliche Bereiche grundlegende Veränderungen erleben und die Wirtschaft auf diese Entwicklungen reagieren muss, besonders kritisch. Durch die Abhängigkeiten vom sozio-ökonomischen Gefüge ist die Wahrscheinlichkeit, dass gesellschaftliche Veränderungen die Relevanz, Akzeptanz oder Wirksamkeit von strukturellen und personalen Managementkonzepten, die aus einem engen organisatorischen oder industrieökonomischen Blickwinkel entstanden sind, verringern oder aufheben, groß (vgl. Drucker 2003 b, XI und Simon 2004, 110). Was mit dieser Abhängigkeit der Unternehmen von gesellschaftlichen Veränderungen gemeint ist, wurde oben im Text behandelt. Hier kann vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen festgestellt werden, dass diese Entwicklungen für die meisten verbreiteten Managementtools außerr halb des Interpretationsrahmens liegen. Zweitens neigen die Managementansätze der letzten Jahrzehnte zum Teil konzeptionell, aber besonders in ihrer Anwendung dazu, auf bestimmte Bereiche oder Stakeholder [z. B. Lean Management = Führungsstruktur, Total Quality Management (TQM) = Qualität, Reengineering = Prozesse, Customer Relationship Management (CRM) = Kunden, Value based Management (VBM) = Kapitalgeber] zu fokussieren. Die Führungskräfte erreichen deshalb mit diesen Managementansätzen – bei kultureller Anschlussfähigkeit und konsequenter Durchführung – gelegentlich Optimierungsschübe in bestimmten Unternehmensfunktionen, aber erzeugen (wie bei jedem Tool) auch systematisch „blinde Flecken“ und damit Risikopo-
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4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
tenziale in anderen Bereichen (Simon 2004, 109). Diese Optimierungen einzelner Bereiche durch den Einsatz von Managementinstrumenten können für das Gesamtgefüge des Unternehmens durchaus kritisch sein, da sich der nachhaltige Erfolg von Unternehmen aus der marktgerechten Performance wichtiger Unternehmensfunktionen und deren Zusammenwirken ableitet (Gutenberg 1983, 137ff. Porter 1996b, 73ff., Nohria, Joyce & Roberson 2003). Das seit Mitte der 1990er Jahre unter anderem wegen der Mehrdimensionalität populär gewordene Managementtool Balanced Scorecard (BSC) von Kaplan und Norton vermeidet bewusst das Problem der einseitigen Steuerung und Optimierung. Die Autoren fordern dazu auf, dass Zusammenwirken der Perspektiven Lernen- und Entwicklung, interne Prozesse, Kunden und Finanzen zu beachten (vgl. Kaplan & Norton 1997). Auch thematisieren sie die Notwendigkeit, die zu den Perspektiven formulierten Strategien mit den operativen Prozessen im Unternehmen zu verknüpfen (vgl. Kaplan & Norton 2001). Um diese Qualitätsmerkmale der BSC zu leben, sollen die Unternehmen das zunächst einfache konzeptionelle Gerüst der Balanced Scorecard mit ihren spezifischen Inhalten füllen und auf allen Ebenen berücksichtigen. Damit vermeidet die Balanced Scorecard zwar einige Probleme eindimensionaler Managementinstrumente, sie löst aber dennoch mehrere unbeabsichtigte Nebeneffekte aus, die für die gegenwärtig verbreiteten Managementtools typisch sind: Sie beantwortet die wachsende Komplexität des strategischen Wettbewerbs mit einem modelltheoretisch einfachen, in der Umsetzung aber komplexen Steuerungsverfahren. Die BSC führt entsprechend bei einer umfangreicheren Nutzung in der Führungspraxis zu einem hohen Abstimmungsaufwand. Die notwendige Konzentration auf das komplexe formale Procedere über die Führungsebenen führt unweigerlich zu einer Behinderung der heute erfolgskritischen Flexibilität. Auch vermittelt die Balanced Scorecard – wie andere Managementtools – schnell den Eindruck, dass mit dem aufwendigen System alle wichtigen Steuerungsparameter erfasst würden. Dieser Eindruck trügt, da auch die BSC die oben problematisierte Ausklammerung wichtiger Marktentwicklungen nicht gezielt vermeidet. Die hier umrissenen Risiken gegenwärtig verbreiteter Steuerungsverfahren und Tools, führt häufig dazu, dass am Ende aufwendiger „Nutzungsversuche“ häufig nur die Kosten für die Implementierungsarbeit bleiben (vgl. hierzu Miller & Hartwick 2002, Rust 2003 und Simon 2004). Dieser kritische Blick auf die Managementtools, aber auch die Feststellung, dass diese gerade in sich schnell verändernden Rahmenbedingungen wichtige Orientierungsund Legitimationsfunktionen für die Führungskräfte erfüllen (vgl. Kieser 2004), führt zu zwei widersprüchlichen Schlussfolgerungen: Erstens stellt die Unzulänglichkeit der (populär-) akademischen Orientierungsmittel ohne Zweifel neben dem Wettbewerbsrisiko ein zusätzliches Risikopotenzial für
317
4.2 Managementinstrumente
Activity-Based Costing Management by Objectives Total Quality Management JIT OVA Shareholder Value Analysis CPR SPC Virtual Teams Reengineering Mass Customization System Dynamics Creative Destruction Concurrent Engineering Zero-Based Budgets PIMS Analysis Quality Circles Market Disruption Analysis Portfolio Analysis Experience Curves Mission and Vision Stmts. Cycle Time Reduction
Pay-for-Performance Customer Satisfaction Meas. Visioning Core Competencies Baldridge Award Micro-Marketing MRPI and MRPII Technology S-Curves Delphi Technique Gung Ho! ISO 9000 7-Ss 6-Sigma 5-Forces 4-Ps 3-Cs 2x2 Matrices 1-Minute Managing 0-Defects CRM Strategic Alliances Corporate Venturing
Self Directed Teams Strategic Planning Merger Integration Teams Balanced Scorecard Benchmarking Life Cycle Analysis Permission Marketing Scenario Planning Growth Strategies One-to-One Marketing Learning Organizations Data Mining Continuous Improvement Value Chain Analysis Nominal Group Technique Conjoint Analysis Competitive Gaming Customer Retention Groupware Psychographics Loyalty Management Service Guarantees
erfassen branchenübergreifende und gesellschaftliche Entwicklungen klassische Markt- und Branchenanalyse zur Optimierung von Arbeitsweisen, Strukturen, Prozessen, Techniken und Kosten
Abb. 75: Die Managementtools nach Anwendungsbereichen (in Anlehnung an: Bain & Company, 2003)
die Unternehmen dar. Zweitens werden die Führungskräfte im strategischen Wettbewerb, der massiven Zeit-, Kosten- und Innovationsdruck bedeutet, weiter auf Managementinstrumente der kritisierten Prägung zurückgreifen, weil sie die gewünschten Steuerungs- und Arbeitshilfen versprechen. Um diese Bedarfslage zu decken und die immanenten Risiken der aktuellen Managementansätze zu reduzieren, reicht es nicht, die Defizite der Managementansätze aufzudecken. Dadurch entstehen noch keine neuen Orientierungs- und Arbeitsinstrumente für die Führungskräfte. Ohne diese Instrumente finden sich Führungskräfte in der komplexen Wirtschaftswelt aber nur noch schwer zurecht. Damit stellt sich die Frage: Wie kann ein alternatives Instrument zur Erfassung und Steuerung von Führungsperformance aussehen, das die angeführten Problemfelder von Managementinstrumenten möglichst minimiert oder vermeidet? Aus der hier vertretenen Sicht muss ein solches Instrument zur Unterstützung der Führungsleistung besonders vermeiden, nur kurzfristige Optimierungshilfen zur Bewältigung des internen und externen Wettbewerbs zu bieten. Statt
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4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
der kurzatmigen instrumentellen Förderung der Konkurrenzfähigkeit muss die Führungsperformance in allen wichtigen Bereichen, das heißt in der persönlichen, strategischen und operativen Führung, marktorientiert und kontinuierlich verbessert werden. Genau diese Zielsetzung verfolgt die Transformation des Leadership Asset Approach in das Leadership Asset System, dessen Aufbau und Einsatzmöglichkeiten auf den folgenden Seiten zusammenfassend dargestellt werden.
4.3
Das Grundmodell des LAS
Abgeleitet aus dem oben reflektierten Leadership Asset Approach, besteht das Grundmodell des Leadership Asset Systems aus drei Basiskomponenten: 1. performancerelevante Mindsets, 2. strategische Führungsaktivitäten, 3. operative Führungsaktivitäten. Die Führungsleistungen, die nach dem LAA in diesen Bereichen gefordert sind, werden zunächst differenziert erfasst. Schon hierbei – wie unten erläutert wird – und bei der anschließenden Darstellung der gesamten Führungsperformance (vgl. Abb. 80) werden die Basiskomponenten des LAS miteinander verknüpft. Damit wird sogleich eine Antwort auf die oben formulierte Leitfrage, wie die Wirkungszusammenhänge zwischen den drei Basiskomponenten berücksichtigt werden können, gegeben (vgl. 2. Leitfrage). Die konzeptionelle Bedeutung, die der Verknüpfung der drei Basiskomponenten zur Trilogie der Führung zukommt, kann exemplarisch über die kritische Abgrenzung von Ansätzen zur Führung und Führungskräfteentwicklung, die in den letzten Jahren populär geworden sind, unterstrichen werden. Dabei richtet sich die kritische Argumentation darauf, dass viele Ideen, Konzepte, Modelle und Theorien zum Thema Führung von den realen Wirkungszusammenhängen abstrahieren oder Bestandteile der hier sogenannten Basiskomponenten herr auslösen und überhöhen. Durch diese Ansätze werden zum Teil eher Theoretisierungseffekte und Idealisierungen als ausgewogene Beiträge zur Steuerung der Führungsperformance formuliert. Ein Beispiel für die Überhöhung einzelner Führungsaktivitäten ist der 1996 veröffentlichte Bestseller von John P. Kotter „Leading Change“. Kotter vertritt in seiner Arbeit die These, Unternehmen seien wesentlich „overmanaged“ und „underlead“. Seine These untermauert Kotter, indem er den klassischen Managementaktivitäten („Planning and budgeting“; „Organizing and staffing“;
4.3 Das Grundmodell des LAS
319
„Controlling and problem solving“) negative Wirkungspotenziale zuordnet, den Leadershipaktivitäten („Establishing direction“; „Aligning people“; „Motivating and inspiring“) hingegen durchgängig positive Wirkungen unterstellt (vgl. Kotter 1996, 28ff.). Warum diese Überhöhung grundsätzlich wichtiger Leadershipaktivitäten in Abgrenzung zu den Managementaktivitäten kritisch ist, zeigte sich schon vier Jahre nach der Veröffentlichung von Kotters „Leading Change“: Durch die Entwicklung der New Economy mit den unzähligen Firmenpleiten und Fehlinvestitionen in Milliardenhöhe wurde deutlich, dass die von Kotter geforderte Mischung aus 70-90 Prozent Leadership und 1030 Prozent Management (vgl. ebenda, 26) kein Erfolgsrezept ist. Denn vielen unternehmerischen Initiativen – ob Neugründungen oder strategische Engagements etablierter Unternehmen – mangelt es nicht an Inspiration, sondern an fundiertem strategischen und operativen Management (vgl. Porter 2001, 1-50). Obgleich Kotters Managementrat in den folgenden Jahren häufig generalisiert wurde und auch das Buch keine klare Eingrenzung vollzieht, könnte man arr gumentieren, dass sich seine Leadershipformel nur auf Veränderungsherausforderungen bezieht – wie der Titel des Buches schon besagt. Doch selbst bei dieser Prämisse bleibt seine „Formel“ eine irreführende Übersteigerung der Leadershipfunktionen. Auch in Veränderungsprozessen ist eine Gewichtung dieser Funktionen zu 70-90 Prozent kritisch, da die gleichfalls aufwendigen und wichtigen Managementaufgaben, nämlich die Planung, die Organisation und das Controlling, durch diese Gewichtung vernachlässigt würden. Das Grundmodell des LAS ist darauf angelegt, die Überhöhung einzelner Führungsfunktionen zu vermeiden. Die von Kotter geforderten Leadershipaktivitäten werden bei der Erfassung und Steuerung der Führungsperformance mit dem LAS im ausgewogenen Verhältnis mit den performancerelevanten Managementaktivitäten gesehen. Denn in der Führungspraxis ist grundsätzlich zu beobachten, dass Leadershipaktivitäten, die nicht auf den unterschiedlichen Managementebenen professionell vor- und nachbereitet werden, schnell ihre Glaubwürdigkeit verlieren. Andererseits führt ein technokratischer Fokus auf Planung, Organisation und Controlling schnell dazu, dass der Organisation die motivationale Energie verloren geht. Neben der Übersteigerung der Leadership- oder Managementfunktionen ist auch die Abstrahierungg von den Basiskomponenten der Führung (persönliche, strategische und operative Führung) und den damit verbundenen konkreten Führungsleistungen problematisch. Ein Beispiel für eine verbreitete Abstrahierungg von den realen Leistungen und Wirkungszusammenhängen im Führungsprozess ist die analytische Aufgliederung der zu erfassenden praktischen Führungsleistungen in personale, aktivitäts- und umsetzungsorientierte, fachlich-methodische, sozial-kommunikative Kompetenzen (Erpenbeck & von Rosenstiel 2003, XVI). Obgleich von Rosenstiel diese Aufteilung in grundlegen-
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4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
de Kompetenzklassen für sinnvoll hält, muss er in der Einführung zu seinem Übersichtsband „Handbuch Kompetenzmessung“ feststellen, dass dieses Orientierungsraster der Kompetenzklassen in der Managementdiagnostik bisher nicht zur Identifizierung und Analyse relevanter Kompetenzen geführt hat: „Die von psychologischer Seite zur Verfügung stehenden Methoden zur Diagnose von Managementkompetenzen erfassen mehrheitlich Kompetenzkorr relate auf der Ebene von Persönlichkeitseigenschaften und kognitiven Leistungsfähigkeiten; sie können daher nicht unmittelbar auf die Diagnose von Kompetenzen angewandt werden“ (ebenda, XXVII). Generell ist die Abstrahierung von den realen Wirkungszusammenhängen der Führung, die in vielen bisherigen Kompetenzmodellen zum Ausdruck kommt, wohl die Erklärung dafür, warum die mit diesen Modellen verbundenen Listen potentiell relevanter Kompetenzen nur selten klare Verbindungen zur geschäftlich relevanten strategischen und operativen Führung erkennen lassen (vgl. Neuberger 2002, 296-306). Um eine haltlose Abstrahierung zu vermeiden, müssen die Kompetenzmodelle einen direkten Bezug zu Herausforderungen aufweisen, die Unternehmen und damit die Führungskräfte in den Unternehmen zu bewältigen haben. Sogenannte „Schlüsselkompetenzen“230 stellen folglich nur dann einen Schüssel zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance dar, wenn sie nicht die unreflektierten Ausläufer psychologischer Testbatterien sind.231 Statt der freischwebend (ohne empirisch-theoretischen Bezugsrahmen) formulierten „Kompetenzkorrelate auf der Ebene von Persönlichkeitseigenschaften und kognitiven Leistungsfähigkeiten“ (Erpenbeck & von Rosenstiel 2003, XXVII), stellt das LAS die Frage, wie die performancerelvanten Mindsets aussehen müssen, um einen effektiven Umgang mit den Herausforderungen des Marktes zu gewährleisten. Diese Mindsets stellen – wie oben im Text ausführlich dargelegt wurde, nicht den Versuch dar, durch die Aufzählung diverser (Schlüssel-) Kompetenzen eine ideale Persönlichkeit zu konstruieren und sie mit den Profilen der Führungskräfte abzugleichen. 230 „Allein in der deutschsprachigen Aus- und Weiterbildungsliteratur werden zumindest 654 unterschiedliche Schlüsselkompetenzen unterschieden. Auch der Begriff der Schlüsselkompetenzen scheint also nicht zu einer genaueren Bestimmung des Kompetenzbegriffs beizutragen“ (Lang-von Wins 2003, 586). 231 Die heute vielfach verwendeten und favorisierten „psychologischen Testverfahren“ stehen in der ungebrochenen Verlängerung von Testverfahren, die häufig keinen (systematischen) Zusammenhang zwischen den Führungsanforderungen und den Marktherausforderungen herstellen (vgl. zur Diskussion von 15 in der Personalarbeit verbreiteten Persönlichkeitstests: Simon 2006. Philip Sadler stellt in seinem Leadership-Buch mit Bezug auf eine größere Zahl von Validierungsstudien von Blinkhorn und Johnson fest: „... they concluded that there were no grounds for supposing that personality tests predict performance at work to any useful extent” (Sadler 2003, 90).
4.4 Erfassung der Führungsperformance
321
Über das LAS wird hingegen geprüft, ob Führungskräfte durch strategische und operative Führungsaktivitäten, die zur effektiven Steuerung des Unterr nehmens notwendig sind, zeigen, dass sie wahrscheinlich über performancerelevante Denk-, Fühl- und Handlungsmuster (Mindsets) verfügen. Die performancerelevanten Mindsets und die performancerelevanten Führungsaktivitäten sind im LAS wie Kopf und Hand verknüpft, das heißt sowohl die Erfassung als auch die Steuerung von Führungsperformance erfolgen auf einer realistischen Basis, weil das performancerelevante Denken und Fühlen über das performancerelevante Handeln entschlüsselt wird. Im Grundmodell des LAS abstrahieren die Mindsets folglich nicht von den strategischen und operativen Führungsaktivitäten, sondern sind konzeptionell fest mit ihnen verknüpft. Damit berücksichtigt das LAS, dass die Trilogie der Basiskomponenten über ihre Wechselwirkungen die Antworten auf die nachhaltigen Veränderungstreiber und die Determinanten des strategischen Wettbewerbs generiert. Das Grundmodell des LAS ist kein idealtypisches Konstrukt einer nicht existierenden Führungskraft, sondern ein variables Instrument zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance, das die Antwortfähigkeit auf die Marktentwicklungen sichert (vgl 4. Leitfrage).
4.4
Erfassung der Führungsperformance
Das LAS-Grundmodell sichert für die Erfassung der Führungsperformance eine realistische Verknüpfung der performancerelevanten Mindsets mit der operativen und strategischen Führung. Bei allen Entwicklungsschritten, die zum Aufbau der Erfassungssystematik notwendig waren, wurde das reale Zusammenwirken der drei Komponenten beachtet. Dadurch ermöglicht die Erfassungssystematik eine Interpretation der Wechselwirkung zwischen den drei Komponenten des Grundmodells und eine zusammenfassende Sicht auf die Führungsleistung (vgl. 2. Leitfrage).
4.4.1 Die Erfassungseinheiten232 Die klare Festlegung der Erfassungseinheiten, mit denen sich das LAS beschäftigt, ist ein notwendiger Schritt, um die Analyseergebnisse zuordnen zu können. Bei der Erfassung der Führungsperformance ist aber dieser grundlegende Schritt zum Aufbau einer Erfassungssystematik mit einigen Unwägbarkeiten 232 Folgt man der Nomenklatur der empirischen Sozialforschung, müsste hier zwischen „Erhebungseinheit“ (hier: Unternehmen) und „Untersuchungseinheiten“ (hier: Führungskräfte) unterschieden werden (vgl. Friedrich 1980, 126f.; Mayntz 1978, 38f; Schnell & Hill & Esser 1999). In der Systematik des LAS haben wir uns für den Begriff Erfassungseinheiten entschieden.
322
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
verbunden. Wie schon in der Einleitung zu dieser Arbeit dargelegt, kann für die Unternehmensergebnisse (abgesehen von einer Ein-Personen Gesellschaft) nicht eine einzelne Führungskraft, sondern nur ein Führungsteam verantwortlich sein. Diese Realität wird jedoch häufig ausgeblendet. Durch eine voluntaristische Zuweisung der Gesamtverantwortung zu einer Person (in der Regel dem CEO) wird die Komplexität irreführend reduziert. Diesem illusorischen Reduktionismus kann eine realistische Erfassung und Steuerung der Führungsperformance nicht folgen. Die Erfassungssystematik des LAS bietet deshalb eine variable Festlegung der Erfassungseinheit, abhängig von der Frage, welche oder wessen Führungsperformance erfasst und gesteuert werden soll. Um die Erfassung der Führungsperformance realistisch zu gestalten, wurden zunächst – mit der Möglichkeit zur Ergänzung – folgende Erfassungseinheiten unterschieden (vgl. 6. Leitfrage). Konzern / Unternehmen: Um die Führungsperformance eines Konzerns / Unternehmens abbilden zu können, erfolgt die vollständige Erfassung der Basiskomponenten der Führung bei den Mitgliedern der Geschäftsführung. Es wird eine gleichartige Erfassung bei den Führungskräften der ausgewählten Stabs- und Linienfunktionen der 1. und 2. Führungs- bzw. Berichtsebene und eine zum Teil stärker operativ ausgerichtete Erfassung der Performance ausgewählter Stabs- und Linienfunktionen der 3. und ggf. 4. Führungs- bzw. Berichtsebene durchgeführt. Strategische Geschäftseinheiten: In einem Konzern können die strategischen Geschäftseinheiten einzelne Unternehmen sein. Ist dies der Fall, dann greift der Erfassungsmodus, der für Unternehmen beschrieben wurde. Handelt es sich nicht um Unternehmen in einem Konzern, sondern um Bereiche eines Unternehmens (z.B. Werke, Produktions- oder Dienstleistungseinheiten), sollte vom zuständigen Vorstand abwärts die Erfassung durchgeführt werden, wie sie auch für Unternehmen beschrieben wurde. Gibt es starke funktionale Vernetzungen mit anderen Unternehmensbereichen, die starken Einfluss auf die Führungsperformance in dem untersuchten Bereich haben, dann muss auch die Führungsperformance dieses Unternehmensbereichs erfasst werden, um zu einem realistischen Gesamtbild zu kommen. Führungskräfte: Die Abbildung der Führungsperformance einzelner Führungskräfte erfordert grundsätzlich die vollständige Erfassung der Basiskomponenten der Führung. Bestehen besonders in Performancebereichen der strategischen Führung starke Abhängigkeiten von der Performance anderer Führungskräfte, ist es sinnvoll, bei diesen Führungskräften gleichfalls Performanceerfassungen durchzuführen, um mögliche Interdependenzen offenlegen zu können. Gibt es bei einer Führungskraft spezielle Entwick-
323
4.4 Erfassung der Führungsperformance
lungsziele, die sich deutlich einer Basiskomponente des LAS zuordnen lassen, kann ggf. die Erfassung der operativen oder strategischen Führungsperformance ausgeklammert werden.
4.4.2. Die Analyse der Basiskomponenten Der Erfassungssystematik des LAS folgend wird mit den Führungskräften, die jeweils als zu erfassende Einheiten benannt wurden, zu den drei Basiskomponenten der Führung eine Analyse durchgeführt. Dabei stehen die Basiskomponenten auch bei der Analyse in dem Verhältnis, das im Rahmen des LAA aufgezeigt wurde. Das heißt, dass sich die Performance der Mindsets und das Bild von der Gesamtperformance (Leadership Value Faktor) über die strategischen und operativen Führungsleistungen erschließen. Das Modell zur integrierten Erfassung lässt sich vereinfachtt wie folgt darstellen (vgl. Abb. 76):
& Operative Führungsaktivitäten
Strategische Führungsaktivitäten
Performancerelevante Mindsets
Leadership Value Faktor (Faktor für die gesamte Führungsperformance)
Abb. 76: Das Modell zur integrierten Erfassung der Führungsperformance
3 (middle performance) 4 (high performance) 5 (top performance)
324
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
Der Performancelevel 5 ist über den Zugang codiert, dass jede Organisation in den für sie wettbewerbskritischen Bereichen Bestleistungen erbringen muss. Entsprechend ist dieser Performancelevel der Benchmark für die jeweilige Führungsleistung, das heißt zur Einstufung auf diesem Level müssen alle Erfolgsfaktoren, die nach Managementstudien zu dieser Führungsleistung formuliert werden können, abgedeckt werden. Der Performancelevel 1 bildet den Kontrastpunkt zu dieser Bestleistung, das heißt es wird keine oder eine erkennbar kontraproduktive Führungsleistung erbracht. Die Performancelevel 2, 3 und 4 repräsentieren Abstufungen, die über Erfolgsfaktoren geschlüsselt sind. Das Modell zur integrierten Erfassung der Basiskomponenten und die Performancelevel bilden ein wichtiges Grundgerüst zur Erfassung der Führungsperformance. Ein differenzierteres Bild von der Erfassung der Führungsperformance mit dem LAS erschließt sich aber erst über die Frage, welche Führungsleistungen im Einzelnen wie erfasst werden und nach den gerade angeführten Performanceleveln eingeschätzt werden. Zu erfassen, ob bestimmte, für den Verantwortungsbereich relevante Führungsleistungen erbracht werden, ist entscheidend, da es bei der Untersuchung der Führungsperformance – wie im LAA erläutert – nicht nur darum geht zu klären, ob die Dinge richtig getan werden, sondern auch, ob die richtigen Dinge getan werden. Um die Erfassung der jeweils relevanten Führungsleistungen zu ermöglichen, muss die Erfassungssystematik des LAA folglich um ein Customizing der Führungsaktivitäten ergänzt werden.
4.4.2.1 Das Customizing der strategischen und operativen Führungsaktivitäten Das Customizing der Führungsaktivitäten wird durch die Erarbeitung von zwei Systemkomponenten möglich: Erstens wurde ein Pool generell relevanter Führungsaktivitäten vor dem Hintergrund des LAA konzipiert. Zur Absicherung der Vollständigkeit der zu erfassenden Führungsaktivitäten wurden für die strategische und operative Führung jeweils spezifische Systematiken genutzt und zudem die Relevanz der Führungsaktivitäten über empirischen Studien, Experteninterr views und Praxisfeedbacks (Einsatz des LAS) geprüft: Befragung von mehr als 80 internen und externen Experten aus dem In- und Ausland Berücksichtigung von fast 100 empirischen nationalen und internationalen Management-Studien und Metaanalysen mit einem Stichprobenumfang von mehr als 1,1 Mio. Teilnehmern
4.4 Erfassung der Führungsperformance
325
Berücksichtigung von über 150 Arbeiten international renommierter Experten aus Theorie und Praxis Entwicklung und ständige Optimierung in der Praxis eines internationalen Finanzdienstleisters Zweites wurde ein mehrstufiger Selektions- und Gewichtungsprozess entwikkelt, der über den Pool der Führungsaktivitäten gelegt wird, um die speziellen Bedingungen des Unternehmens und des Führungsbereichs berücksichtigen zu können. Der Aufbau der Systemkomponenten wird nun in drei Punkten zusammengefasst, indem zunächst die zwei Systematiken zur Ableitung der strategischen und operativen Führungsaktivitäten dargelegt werden und anschließend das Konzept zur Selektion und Gewichtung von Führungsaktivitäten umrissen wird. Die erste Systematik, die dazu dient, die Vollständigkeit der relevanten strategischen Führungsaktivitäten zu sichern, basiert auf folgenden Überlegungen: Die strategischen Ausrichtungs- und Gestaltungsaktivitäten lassen sich bestimmten Unternehmens-, Leistungs- oder Performancebereichen zuordnen. Aus diesen Performancebereichen lässt sich eine Grundsystematik erstellen. Dieser Grundsystematik folgend können fünf strategische Performancebereiche der internen Performance eines Unternehmens unterschieden werden: Personal, Vision / Strategie Finanzen / Steuerungsverfahren, Technik / Prozesse / Organisation und Produkte / Dienstleistungen. Für die Marktperformance eines Unternehmens werden vier ergänzende strategische Performancebereiche im LAS berücksichtigt: Kapitalgeber, Kunden, Lieferanten / Kooperationspartner, Öffentlichkeit / Gesellschaft Bei der Bestimmung der Performancebereiche im LAA waren zwei Begründungszusammenhänge besonders wichtig: Erstens werden die Perspektiven der wichtigsten Stakeholder (Mitarbeiter, Kunden, Kapitalgeber, Zulieferer, Öffentlichkeit
326
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
/ Gesellschaft) berücksichtigt. Die Aufnahme dieser Performancebereiche strategischer Führung ins LAS folgt der im ersten Kapitel formulierten Einsicht, dass Führungskräfte zur Sicherung der internen Performance und des Markterfolgs die vielfach interdependenten Perspektiven der Stakeholder verstärkt im Blick haben müssen. Obgleich sich diese Stakeholderperspektive im Widerspruch zum Ansatz des klassischen Liberalismus bewegt (vgl. Wunderer 2002, 32 ff.) und damit auch eine ideologiekritische Dimension einschließt, rekurriert diese Sichtweise hier grundsätzlich auf einen breiten Konsens in den Forschungsbemühungen der letzten zwei Jahrzehnte (vgl. Kotter / Heskett 1992; Geus 1997; Berman u.a. 1999). Zudem wird die Sachlogik der Stakeholderperspektive des LAS bei der Bestimmung der Performancebereiche strategischer Führung besonders dadurch untermauert, dass moderne Ansätze zur Unternehmensführung, die zunächst hauptsächlich einen Stakeholder im Blick haben, bei der Untersuchung der Erfolgsfaktoren für die Implementierung strategischer Initiativen auch andere Stakeholderperspektiven aufgreifen (vgl. z.B. Haspeslagh / Noda / Boulos 2002).233 Über die Stakeholderperspektive hinaus werden die unter der Internen Perforr mance zusammengefassten Bereiche als weitere Komponenten der Wertschöpfungskette der strategischen Führung im LAA berücksichtigt. Zur Bestimmung dieser Komponenten der Wertschöpfungskette der strategischen Führung kann Porters „Generic Value Chain“ nur noch begrenzt als Strukturierungshilfe herangezogen werden. Porter untergliedert die relevanten strategischen Aktivitäten in Primäre- und Unterstützungsaktivitäten. Demnach sind die primären Aktivitäten darauf gerichtet, Produkte herzustellen und an den Markt zu bringen, die unterstützenden Aktivitäten hingegen darauf, für einzelne oder alle primären Aktivitäten allgemeine Ressourcen (Technik, Personal, Infrastruktur) zur Verfügung zu stellen, um die Produktion leisten zu können (vgl. Porter 1998, 33-61). Besonders für den hier thematisierten Kontext der strategischen Führung – aber wahrscheinlich aus heutiger Sicht generell – ist Porters Wertkettenmodell zu stark am industriellen Produktionsprozess ausgerichtet. Aus diesem Blickwinkel werden die Ressourcen-, Entwicklungs- und Potenzialperspektive als Unterstützungsfunktionen gesehen. Dies wird den in internationalen Netzwerken agierenden High-Tech- und Wissensunternehmen kaum mehr gerecht (vgl. Picot u.a. 1996, 422f.; Conklin & Tapp 2000, 289-306, Davenport, Th. H. / Leibold, M. / Voelpel, S. 2006). In vielen Unternehmen der Wissens-, High-Tech- oder Netzwerkgesellschaft stehen die Netzwerke (z.B. für Internetfirmen wie eBay oder Amazon) oder die Kombinationen aus Technik- und Humanressourcen (z.B. Microsoft, SAP oder 233 Über die Notwendigkeit hinaus, in einer modernen Unternehmensführung die wichtigsten Stakeholder ausbalanciert zu berücksichtigen, wird weiter unten bei der Beschreibung des Aufbaus des LAS eine Gewichtungssystematik vorgestellt, die eine firmenspezifische Berücksichtigung der Performancebereiche ermöglicht.
4.4 Erfassung der Führungsperformance
327
für Firmen der Medizin- und Gentechnik) selbst für grundlegende Erstellungsund Distributionsprozesse. Hier haben sich die Wertschöpfungsmodelle in vielen Wirtschaftsbereichen von der klassischen Konfiguration der Zulieferung plus Verarbeitung von Rohstoffen und Auslieferung der Endprodukte hin zu technik- und humanressourcengetriebenen Netzwerken mit neuen Zulieferungs-, Err stellungs-, Auslieferungs- und Marketingprozessen verschoben. Diese Veränderungen in den Wertschöpfungsmodellen wichtiger Wirtschaftsbereiche erfordern es, dass die strategische Führungsarbeit ihre Ausrichtungs- und Gestaltungsbemühungen nicht an überkommenen Industriemodellen ausrichtet. Nicht zuletzt werden in Porters Konzept die Perspektiven der unterschiedlichen Stakeholder, die den Wertschöpfungsprozess der Unternehmung – wie oben ausgeführt – heute empfindlich beeinflussen können, ausgeblendet. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen ist es sinnvoll, die für das LAS gewählte Konfiguration von Perforr mancebereichen der strategischen Führung zu berücksichtigen, wenn die interne Performance und Marktperformance erfasst und entwickelt werden soll. Nach der Erarbeitung der Systematik der Performancebereiche wurde durch breite Auswertung empirischer Forschungsarbeiten, Experteninterviews und Praktikerfeedbacks abgesichert, dass nur solche Führungsaktivitäten unter die Performancebereiche eingegliedert wurden, die grundsätzlich für die Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeit relevant sein können. Diese wertschöpfenden strategischen und operativen Führungsaktivitäten stellen den Pool potenziell relevanter Aktivitäten des LAS dar. Die zweite Systematik erfüllt – wie die Performancebereiche der strategischen Führung – den Zweck, die Vollständigkeit der operativen Führungsaktivitäten, mit denen die Führungsperformance erfasst werden soll, zu sichern. Dieser Systematik liegen folgende Überlegungen zugrunde: Zunächst wurde ein LAS-spezifischer Managementregelkreis, wie er von der Drucker-Schule in ähnlicher Form vertreten wird (vgl. z. B. Malik 2000, 171-274; 2007, 69), genutzt. Da sich die sieben Aufgabenfelder auf einem vergleichbaren Integrationsniveau wie die Performancebereiche der strategischen Führung bewegen, wurden sie parallel als operative Performancebereiche in die LAS-Systemtik übernommen. Diese sieben operativen Performancebereiche sind: Analysieren, Planen, Entscheiden, Ziele vereinbaren, Organisieren, Kontrollieren, Reflektieren & Optimieren.
328
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
Im Rahmen der LAA-Konzeption wurde kritisiert, dass sich die hier als Perr formancebereiche adaptierten Aufgabenfelder der Führung auf einem zu hohen Integrationsniveau bewegen, um für die operative Führung hinreichende Orientierung zu bieten. Um die wichtigsten operativen Führungsaktivitäten auf einem weniger hohen Integrationsniveau zu systematisieren, wurden im LAA die performancerelevanten Mindsets genutzt, um von diesen ausgehend die operativ relevanten Funktionen der Führung zu rekonstruieren. Zur Erschließung der mit dem LAS zu erfassenden operativen Führungsaktivitäten wurde auf beide Systematisierungshilfen, nämlich die hier angeführten operativen Performancebereiche und die Funktionen der operativen Führung, zurückgegriff fen. Durch diese Vorgehensweise konnte eine Matrix erstellt werden, in der für jeweils einen operativen Performancebereich in der Kombination mit den passenden Funktionen der operativen Führung geprüft werden konnte, welche operativen Führungsaktivitäten zur Erfassung durch das LAS abgeleitet werden können. Neben dem systematisch erarbeiteten Pool der generell wichtigen strategischen und operativen Führungsaktivitäten bietet das LAS einen Selektions- und Gewichtungsprozess, um die speziellen Herausforderungen der Führung in einem Unternehmen hinreichend berücksichtigen zu können. Der Selektions- und Gewichtungsprozess, der auf den Pool der systematisch erschlossenen strategischen und operativen Führungsaktivitäten aufsetzt, stellt sicher, dass nur die Aktivitäten in die Performanceerfassung einfließen, die für die zu analysierenden Einheiten (Führungskräfte, strategische Geschäftseinheit oder Unternehmen) relevant sind. Das heißt, der Pool strategischer Führungsaktivitäten wird einem fundierten, aber zeitlich und technisch praktikablen Customizing unterzogen: Selektion der Führungsaktivitäten Gewichtung der Führungsaktivitäten gemäß des Corporate Lifecycles234 Gewichtung der Führungsaktivitäten gemäß des Verantwortungsbereiches Implementierung kundenspezifischer strategischer Führungsaktivitäten Gewichtung der Führungsaktivitäten gemäß des strategischen Fokus Branchenspezifischer Gewichtung der Performancebereiche Dieses Customizing erfolgt für eine Führungskraft, indem im ersten Schritt bestimmte Performancebereiche, abhängig von der Branchenspezifik235 und dem 234 Als Beispiel für die Durchführung des Customizing wurde der Fragebogen zur Diagnose des Corporate Lifecycles angefügt. Die Beantwortung dieses Beispielfragebogens und der weiteren Fragebögen erfolgt i.d.R. online, die Auswertung der Fragebögen erfolgt vollständig automatisiert (vgl. Anhang). 235 Das Gewichtungskriterium „Branchenspezifik“ darf nicht mit der oben kritisierten Branchenfokussierung zum Beispiel des Porterschen Ansatzes verwechselt werden. Hier geht es darum, dass zum Beispiel dem strategischen Performancebereich Lieferanten /
4.4 Erfassung der Führungsperformance
329
strategischen Fokus des Unternehmens, stärker gewichtet werden als andere. Damit wird berücksichtigt, dass die strategischen und die operativen Führungsaktivitäten nicht im kontextfreien Raum erbracht werden, sondern dann effektiv sind, wenn sie sich im strategischen Alignment mit den Schwerpunkten des Unternehmens befinden (vgl. 7. Leitfrage). Ergänzend zur Gewichtung g des Unternehmenskontextes auf der Ebene der Perrformancebereiche wird der Corporate Lifecycle des Unternehmens berücksichtigt. Die Zuordnung zu einer bestimmten Lebensphase im Corporate Lifecycle ermöglicht die Selektion und Gewichtung strategischer und entsprechend zugeordneter operativer Führungsaktivitäten. In der Start-up-Phase eines Unternehmens müssen zum Beispiel die Aktivitäten im Performancebereich „Kunden“ mit entsprechender Ressourcenbindung professionell betrieben werden. Eine vergleichbare Schwerpunktbildung im Controlling wäre in dieser Entwicklungsphase von Unternehmen eher kritisch (vgl. Adizes 1999 und 8. Leitfrage). Neben dem Customizing der Führungsaktivitäten mithilfe der Branchenspezifik, des strategischen Fokus und des Corporate Lifecycles wird zudem geklärt, ob es aufgrund von unternehmens- oder funktionsspezifischen Bedingungen notwendig ist, Führungsaktivitäten aus dem generell relevanten Pool der Aktivitäten herauszunehmen oder ergänzend hinzuzufügen. Die Komplexität des Customizings, die sich aus der hier angeführten Selektions- und Gewichtungssystematik ergibt, ist weitgehend in die „Dunkelverarbeitung“ der IT-Lösung des LAS verlagert. Durch die IT-Lösung wird nicht nur das Customizing, sondern auch die Auswertung und Ergebnispräsentation schnell, fehlerfrei und praktikabel durchführbar. Neben diesen Vorteilen eröffnet die IT-Lösung auch die Möglichkeit zum letzten Customizingschritt: Zeigt sich im Erfassungsprozess, dass die Nicht-Zuständigkeit für eine strategische Führungsaktivität in den vorlaufenden Selektionsprozessen nicht berücksichtigt wurde, dann kann dies noch korrigiert werden.
4.4.2.2 Das Customizing der performancerelevanten Mindsets Wie in den Kapiteln zum Leadership Asset Approach (LAA) ausführlich dargelegt wurde, liegt dem Leadership Asset System (LAS) kein psychologisches Idealprofil einer Führungskräfte zugrunde. Stattdessen bezieht sich auch das LAS in der Erfassungssystematik auf die im LAA erarbeiteten performancerelevanten Mindsets. Die Analyse dieser Basiskomponente erfolgt nicht über die typischen selbstreferenziellen Zugänge der Persönlichkeitstests, die von der Erfassung der performancerelevanten Leistungen zur Erzielung von Kooperationspartner – auf absehbare Zeit – in der Automobilindustrie eine deutlich größere Bedeutung (Gewichtung) zukommt als in der Finanzdienstleistung.
330
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
Geschäftsergebnissen weit entfernt sind236. Wie in der Konzeption des LAA angelegt und begründet, erfolgt die Erfassung der Mindset-Performance über eine Verknüpfung der Funktionen der Mindsets mit den Führungsaktivitäten (vgl. Abb. 77). Die Erfassungssystematik des LAS geht demnach davon aus, dass nur über eindeutig performancerelevantes Verhalten und Outputgrößen (Validierungskennzahlen) erschlossen werden kann, ob eine Führungskraft über eine performanceorientierte Denk- und Fühlhaltung verfügen (vgl. Abb. 78 zur Abgrenzung der Verhaltens- und Outputorientierung des LAS gegenüber anderen Ansätzen zur Performancemessung). Die Arbeit mit isolierten Persönlichkeitsdimensionen (Eigenschaften, Wissenskategorien) ist in ihrer Wirkungsverknüpfung zu einer effektiven Führung hingegen unklar oder gar widersprüchlich, wie dies an den Kategorien „Charisma“ oder „Authentizität“ besonders deutlich wird (vgl. 1. & 2. Leitfrage). Durch die generelle Systematik, die Performance der Mindsets über die Führungsaktivitäten zu erfassen, ist sogleich auch das Customizing der performancerelevanten Mindsets festgelegt. Das heißt, die Selektion und Gewichtung der strategischen und operativen Führungsaktivitäten sichert gleichzeitig, dass die Performance der Mindsets sachgerecht nur über die Führungsleistungen erfasst wird, die von Führungskräften in ihrer generellen und spezifischen Führungsverantwortung erwartet werden können.
Strategische Führungsaktivitäten • Strategic Alignment sichern • Entwicklung und Erhaltung wettbewerbsfähiger Kernkompetenzen • ...
Operative Führungsaktivitäten
zielorientiertes Mindset
• legt Wert darauf, dass die Mitarbeiter ihre Ziele erreichen • zeigt den Mitarbeitern auf, welche ihrer Ziele mit der Strategie verknüpft sind • ...
Performance Low Under Middle High Top
236 Vgl. zu den Persönlichkeitsmodellen und –tests: Erpenbeck & Rosenstiel 2003; Simon 2006, 18-60; zur kritischen Einordnung: Neuberger 2002, 303f.
4.4 Erfassung der Führungsperformance
System Type
Characteristics
Strengths
Weaknesses
• Simple to conduct evaluation
• Simple to conduct evaluation
Trait-Based
Assumption that certain traits drive performance • Emphasis is on personality / style / values • Traits are generic and may apply to all employees / groups • Evaluation based on perception
• Can apply to different employee groups • Communicates important traits up front
• Can apply to different employee groups • Communicates important traits up front
Results-Based
Knowledge- or Skill-Based
Behavior-Based
Rating tied to degree / frequency trait is exhibited
Assumption that certain behaviors drive performance • Behaviors are specific to the work environment • Tailored to different jobs / groups • Evaluation based on demonstrated actions
• Can be tailored to specific jobs • Helps employees understand specifically how job is to be done • Behaviors help reinforce culture / values
• Time-consuming to develop and evaluate • Must be able to observe and measure discrete behaviors • Behaviors may not produce desired results
• Rating tied to degree / frequency behavior is exhibited
Assumption that certainknowledge / skills drive performance • Emphasis on employee capabilities
• Competency required on each job
• Tailored to each knowledge / skill area
• Reinforces cross-training and flexibility
• Evaluation based on acquisition of knowledge / skills Rating tied to degree / diversity of knowledge / skill achieved Knowledge / skill tied to organizational objectives
• Direct link to pay system
• Employee may not use certain knowledge / skills
• Strategic view: pay for competencies required in the future
• Difficult to measure diverse skills
• Assumes link between knowledge / skills and results
Assumption that achievement of objectives drives performance • Objectives tied to job or organization goals
• Tailored to specific jobs / organization
• Develop objectives specific to individual / group by which performance is measured
• Emphasizes results
• Evaluation based on results achieved
• Encourages dialogue and employee buy-in if goals are jointly established
• Time-consuming to develop and evaluate • Limited to work where specific objectives can be established and measured • Debate between short-term and long-term emphases
• Rating tied to degree of achievement
Abb. 78: Der Vergleich von Ansätzen zur Performancemessung (Berger, L. A./Berger, D. R. 2004, 87-88)
331
332
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
4.4.3 Die Methoden zur Erfassung der Führungsperformance Die Erfassung der erbrachten und rezipierten Führungsleistungen erfordert einen Methodenmix, da sich die strategischen Führungsleistungen über einen anderen Zugang optimal erschließen als die operative Führung und die daraus insgesamt erschließbare Performance der Mindsets (vgl. Abb. 79). Die Nutzung mehrerer Methoden im LAS ist möglich, weil die Erfassungsprozesse durch die oben erwähnte IT-Lösung zeitlich und logistisch unterstützt werden. Zur Vereinfachung der Darstellung soll der Methodenmix zur Erfassung der Führungsperformance für eine Führungskraft umrissen werden. Dabei wird – abgesehen von der grafischen Darstellung in der Abbildung 77 – auf die Ableitung der Mindset-Performance verzichtet, da diese über die strategischen und operativen Führungsaktivitäten und damit auch über die Methoden zur Erfassung dieser Führungsleistungen decodiert wird. Die Erfassung der strategischen Führungsperformance erfolgt mit vier Methoden: Zunächst wird die Performance der generischen Führungsaktivitäten durch ein circa zweistündiges strukturiertes und IT-unterstütztes Interview erfasst. Während des Interviews wird mithilfe indikativer Fragen geprüft, ob grundlegende Erfolgsfaktoren bei der Ausübung der Führungsaktivitäten berücksichtigt wurden. Der Interviewer nutzt die indikativen Fragen, die auf den jeweiligen Interviewmasken links neben den strategischen Führungsaktivitäten (vgl. das Beispiel in Abb. 77) stehen, um strukturiert die Berücksichtigung der jeweiligen Erfolgsfaktoren durch die Führungskraft prüfen zu können. Wird ein Erfolgsfaktor in den hinterfragten Führungsaktivitäten berücksichtigt, dann wird dieser Erfolgsfaktor durch den Interviewer markiert. Die entscheidende Zuordnung der Führungsaktivitäten zu einem bestimmten Performancelevel erfolgt automatisch nach abschließender Prüfung der Erfolgsfaktoren in der „Dunkelverarbeitung“. Die mit dieser Methode erfassten Führungsaktivitäten sind Leistungen, die von allen Führungskräften erbracht werden müssen. Die überwiegende Zahl der generischen strategischen Führungsaktivitäten wird den Performancebereichen Personal und Vision entnommen. Zusätzlich gibt es wenige generische Führungsaktivitäten in den Performancebereichen Finanzen und Technik / Prozesse / Organisation. Ergänzend werden die funktionsspezifischen Führungsaktivitäten, für die eine Führungskraft aufgrund ihrer Position im Unternehmen eine umfassende Verantwortung tragen muss, durch zwei Fragebögen (Selbst- und Fremdeinschätzung) erfasst und bewertet. Schließlich werden zwei Methoden zur Validierungg der Interview- und Fragebogenergebnisse eingesetzt. Die Validierungsschritte ermöglichen es zu prüfen, ob die im Interview erfassten Performancelevel der Führungsaktivitäten rea-
333
4.4 Erfassung der Führungsperformance
Operative Führungsperformance
Operative Führungsaktivitäten
Fragebogen
Kennzahlen (5er-Skala)
Dokumentenanalyse
• Selbsteinschätzung • Fremdeinschätzung (5 Grp.)
Strategische Führungsperformance
Strategische Führungsaktivitäten
Interview (generisch)
Fragebogen (spezifisch)
Kennzahlen (5er-Skala)
Dokumentenanalyse
• Selbsteinschätzung • Fremdeinschätzung (5 Grp.)
Abb. 79: Der Methodenmix zur Erfassung der Führungsperformance im LAS
334
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
listisch sind. Hierzu werden zum einen vorliegende Materialien / Dokumente abgefragt und nach einem vorgegebenen System analysiert (Dokumentenanalyse). Zum anderen werden zur Validierung der Ergebnisse für ganze Performancebereiche spezielle LAS-Kennzahlen (Kennzahlenanalyse) eingesetzt. Die operative Führungsperformance wird durch ein technisch optimiertes 360° Verfahren erfasst. Dies ist sinnvoll, da zur operativen Zielverfolgung hauptsächlich mit den Stakeholdern (Vorgesetzte, Mitarbeiter, Kollegen, Zulieferer, Kunden) kommuniziert werden muss. Folglich ist es entscheidend, wie die Führungsaktivitäten von den Stakeholdern aufgenommen und reflektiert werden. Hier zeigt sich, ob und inwieweit es der Führungskraft gelingt, die Stakeholder durch die Führungsaktivitäten effektiv in den Produktionsprozess und die Zielverfolgung einzubinden (vgl. Kapitel 3.3 zur operativen Führung im LAA). Zur Validierung der operativen Führungsperformance wurden gleichfalls Kennzahlen entwickelt, die optional eingesetzt werden können.
4.5
Die Steuerung der Führungsperformance
Die integrierte Erfassung der Führungsperformance ist eine wichtige Leistungskomponente des Leadership Asset Systems. Darüber hinaus bietet die Auswertungs- und Steuerungssystematik des LAS einen erheblichen Nutzen. Da hier nicht alle Auswertungs- und Steuerungsoptionen ausführlich beschrieben werden können, sollen wiederum hauptsächlich die Möglichkeiten bezogen auf die einzelne Führungskraft umrissen werden.
4.5.1 Auswertung und Dokumentation der Führungsperformance Die Auswertung der erfassten Performancedaten und ihre Übertragung in eine präsentable Form erfolgen zu einem großen Teil durch ein IT-gestütztes Auswertungsmodul. Dieses Vorgehen ermöglicht eine objektive, fehlerfreie, umfangreiche und schnelle Verarbeitung der Daten im ersten Auswertungsschritt. Dabei ist die Verknüpfung der erfassten Performancedaten mit geschäftskritischen Strategien und Initiativen von besonderer Relevanz. So können zum Beispiel Auswertungen generiert werden, die aufzeigen, wie effektiv eine Führungskraft gegenwärtig die Einführung eines wertorientierten Managements, die angestrebte Kostenminimierung oder ein professionelles Kundenmanagement unterstützt. Mit welchen strategischen Ansätzen und Initiativen (im LAS: Steuerungsfelder) die Performance der Führungskraft abgeglichen wird, ergibt sich aus dem vorausgegangenen Customizing. Insgesamt sind gegenwärtig 17 typische Steuerungsfelder hinterlegt, die in eine Auswertung zur Führungsperformance einbezogen werden können, wie zum Beispiel:
4.5 Die Steuerung der Führungsperformance
335
Umsetzung der Unternehmensstrategie Implementierung von Value Based Managements (VBM) Optimierung des Prozessmanagements Optimierung der organisatorischen Integration Optimierung des Innovationsmanagements Steigerung der Produktivität Implementierung von Customer Relationship Management (CRM) Sicherung einer strategischen Marktorientierung Auf der Basis der IT-unterstützten Aufbereitung der Performancedaten und ihrer Verknüpfung mit geschäftskritischen Fragestellungen werden Schlussfolgerungen zu Stärken, Schwächen und zu priorisierenden Entwicklungsaktivitäten formuliert. Diese Schlussfolgerungen werden zwar durch die technische Aufbereitung der Daten optimal unterstützt, erfordern aber zur sachgerechten Erstellung eines Performanceberichts hinreichend theoretisches und praktisches Führungswissen. Je nach Komplexität des Verantwortungsbereichs wird für jede Führungskraft ein Performance-Report mit einem Umfang von 15-30 Seiten erstellt, zusammengesetzt aus den Teilen: Executive Summary (vgl. Abb. 80) Differenzierte Auswertungen nach Mindsets und Führungsaktivitäten Differenzierte Auswertung nach Steuerungsfeldern Handlungsempfehlungen Entwicklungsempfehlungen Reviewplanung
4.5.2 Feedbackprozesse zur Führungsperformance Unabhängig von dem avisierten Verwendungszweck des Performance-Reports (z. B. Auditierung, Performance-Coaching, Nachfolgeplanung), soll schon zu Beginn des Erfassungsprozesses klar kommuniziert werden, dass zuerst die Führungskraft selbst eine Rückmeldung zu den Analyseergebnissen erhält. Dies sichert auf der einen Seite die Erfassungsqualität und auf der andern Seite den Grad an Fairness und Respekt, den jeder Mitarbeiter erwarten kann. Wird das LAS eingesetzt, um ein gezieltes Performance-Coaching für eine einzelne Führungskraft durchzuführen, bietet der Performance-Report eine pro-
336
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
fessionelle Ausgangsbasis, um relevante Entwicklungsbereiche und sinnvolle Optimierungsschritte aufzuzeigen. Auch kann mit der Führungskraft das Zusammenwirken der performancerelevanten Mindsets mit der operativen und strategischen Performance differenziert bearbeitet werden. Durch den Blick auf die Trilogie der Führungsperformance wird – das haben die praktischen Erfahrungen gezeigt – schnell deutlich, wo Hebel zur Optimierung der gesamten Führungsperformance liegen (vgl. Abb. 80). Auch kann auf der Grundlage des Performance-Reports genau vereinbart werden, mit welcher Priorisierung und Zeitplanung an den Optimierungen gearbeitet werden soll (vgl. 9. Leitfrage).
Abb. 80: Die Executive Summary im LAS-Reporting
4.6
Praxis und Perspektiven der Performanceerfassung mit dem LAS
Die empirisch-theoretischen Herausforderungen, die mit dem Anspruch einherr gehen, ein System zur Erfassung und Entwicklung der Führungsperformance zu entwickeln, wurden ausführlich diskutiert. Diesen Schwierigkeiten stehen die Relevanz und die Potenziale eines solchen Systems gegenüber. Ohne fundierte Ansätze zur Erfassung und Steuerung der Führungsleistung fußt jede strategi-
4.6 Praxis und Perspektiven der Performanceerfassung mit dem LAS
337
sche Initiative oder jedes operative Gestaltungsziel auf unsicherem Fundament. Denn der Erfolg jeder Geschäftsidee oder jedes strategischen Plans steht und fällt mit umsetzenden Ausrichtungs- und Gestaltungsarbeiten der Führungskräfte. Im Umkehrschluss heißt dies, dass Unternehmen in Zukunft einen Konkurrenzvorteil haben werden, wenn sie in der Lage sind, die möglicherweise wichtigsten Intangible Assets, nämlich die Führungsleistungen, differenziert zu steuern. In bisher 160 Einsätzen des LAS konnten Erfahrungen gesammelt werden, inwiefern das bisher entwickelte System den Erfassungs- und Steuerungsansprüchen nachkommen kann. Das System wurde in Führungskräfteentwicklungsprogrammen von der mittleren Führungsebene bis zum Top-Management, für Einzelanalysen im Top-Management und in Analysen über mehrere Führungsebenen in Geschäftsbereichen eingesetzt (vgl. Abb. 81 zum Einsatz des LAS im Talent Management). Die Praxiserfahrungen mit dem LAS konnten genutzt werden, um Adjustierungen an einigen Systemteilen vorzunehmen. So mussten zum Beispiel die Formulierungen von strategischen und operativen Führungsaktivitäten, die über die oben beschriebenen Wege als relevant herausgefiltert wurden, angepasst werden, um von Führungspraktikern vollständig und möglichst einheitlich verstanden zu werden (Reliabiltät). Auch die Praktikabilität des IT-Systems, das den Erfassungs- und Auswertungsprozess unterstützt, wurde ständig wei5 Top Performer
Doer Operativer Führungsfaktor
4 Middle Performer
3 2
Low Performer
Designer
1 1
2
3
4
5
Strategischer Führungsfaktor
Customizing des Systems
Analysephase
Auswertung
Erarbeitung einer
Abb. 81: Die Nutzung des LAS im Talent Management
Eingang der Ergebnisse in den Talent-Pool
Review
338
4 Vom Leadership Asset Approach zum Leadership Asset System
terentwickelt, um die Durchführungs-, Auswertungs- und Interpretationsobjektivität zu erhöhen. Viele dieser Optimierungsarbeiten am LAS wären ohne hinreichende Praxiseinsätze nicht möglich gewesen. Grundsätzlich waren die Rückmeldungen der Führungskräfte, deren Führungsperformance mit dem System erfasst und entwickelt wurde, von Beginn an gut. Die Führungskräfte wurden nach dem Einsatz des LAS mündlich und die Mehrheit auch schriftlich gefragt, ob sie Verbesserungsmöglichkeiten sehen. Nach vier Jahren Praxiseinsatz kommen inzwischen nur noch wenige Anregungen zur Verbesserung des Systems. Insofern kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die erste Phase des Praxistests des LAS erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Inzwischen werden die vier Jahre Praxiserfahrungen mit dem LAS 1.0 in einem neuen technischen System verarbeitet. Das LAS 2.0 soll weniger von der Kenntnis der zwei Erfinder und Entwickler abhängig sein und für neue Anwendungsfelder geöffnet werden. Das System kann, wie ausgeführt wurde, heute schon ausgereift zur Unterstützung einer gezielten Führungskräfteentwicklung (u. a. Performance-Coaching und individuelle Entwicklungsplanung) eingesetzt werden und die Nachfolgeplanung unterstützen. In Zukunft wäre aber auch eine Kopplung mit Vergütungssystemen, der Einsatz in Merger & Acqusitions oder im Rahmen des Risikomanagements möglich. Insgesamt bietet das LAS das Potenzial, eine umfassende Erfassung und Steuerung der Führungsperformance aus einer empirisch-theoretisch fundierten Outside-in-Perspektive (LAA) und mithilfe einer praktikablen IT-Lösung zu betreiben.
Zusammenfassung und Ausblick
In der vorliegenden Arbeit wurde die Frage behandelt, welche Handlungsanforderungen an Führungskräfte gestellt werden müssen, um Unternehmen strategisch und operativ mit nachhaltigem Erfolg durch die turbulenten Märkte führen zu können. Weiter wurde die Fragestellung bearbeitet, wie ein Managementinstrument aufgebaut sein muss, um vor dem Hintergrund fundiert abgeleiteter Anforderungen an die persönliche, strategische und operative Führung die vorhandene Führungsperformance erfassen und steuern zu können. Ohne eine wissenschaftlich reflektierte Beantwortung dieser Fragen bleibt die Absicherung des Unternehmenserfolgs durch hinreichende Führungsleistungen ein spekulatives Unterfangen. Um so verwunderlicher ist es, dass es zwar ein fortgeschrittenes Detailwissen und entsprechende Anforderungen in vielen Bereichen des Managements gibt und die Zahl der Veröffentlichungen zu Führungsthemen unüberschaubar ist, aber umfassendere Antworten auf die oben gestellten Fragen bisher nicht vorliegen. Ganz im Gegenteil: Hinreichende Klarheit über die kollektive Leistung der Führungskräfte in den Unternehmen gibt es heute nur rückblickend für den negativsten Fall, nämlich den Konkurs. Gemessen an diesem Indikator fällt die Rückmeldung zur kollektiven Führungsleistung statistisch jedoch zunehmend kritisch aus. Wie die Abbildung 2 zeigt, ist die durchschnittliche Lebensdauer der S&P 500 Unternehmen auf unter 20 Jahre gefallen. Etwas früher, aber häufig nicht eindeutig und differenziert, kann der Erfolg oder Misserfolg des kollektiven Führungshandelns in der Bilanz oder am Börsenkurs abgelesen werden. Alle drei Ansatzpunkte zur Messung und Steuerung der Führungsperformance – „post mortem“ (nach dem Konkurs), bilanziell oder börsentechnisch – sind sehr begrenzt zur Messung und Steuerung der Performance einzelner Führungskräfte geeignet, denn: Erstens ist der Unternehmenserfolg- oder -misserfolg in der Regel nicht einzelnen Führungskräften zuzuordnen, sondern zeigt unter anderem die Gesamtleistung der Führungskräfte eines Unternehmens. Zweitens kommen die angeführten Ansätze zur Erfolgsmessung für eine Steuerung der Führungsleistung relativ spät bzw. zu spät. Drittens liefern die finanziellen Erfolgsmessungen wenige Informationen für eine differenzierte Steuerung und Entwicklung der Führungsleistung. Um die Führungsleistung wirklich performanceorientiertt (das heißt marktund ergebnisorientiert) erfassen und entwickeln zu können, mussten die Eingangsfragen neu beantwortet werden. Die Antworten wurden in vier Arbeitsschritten vorgelegt: Im ersten Kapitel wurde für Sichtweise sensibilisiert, dass die Herausforde-
340
Zusammenfassung und Ausblick
rungen der Führung nicht ausschließlich über einen individuellen oder innerorganisatorischen Zugang verstanden werden können. Es konnte aufgezeigt werden, dass sich Führungskräfte heute häufig im Spannungsverhältnis zwischen einem in Zeiten kontinuierlicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung sozialisierten Stabilitätsideal einerseits und einem wachsenden Veränderungsdruck durch gesellschaftliche und wirtschaftliche Diskontinuitäten andererseits bewegen. Besonders eine bislang ungekannte räumliche Ausweitung und gleichzeitige Verdichtung der sozio-technischen Interdependenzen und die damit einhergehende Beschleunigung auch der Wirtschaftsprozesse stellt die Führungskräfte vor neue Herausforderungen. Die neue Komplexität und Geschwindigkeit, mit der die Führungskräfte umgehen müssen, kommt in den zunehmenden Ansprüchen der Stakeholder und der Globalisierung des Geschäftes besonders deutlich zum Ausdruck. Die Antwort auf die Frage, wie gut es den Führungskräften gelingt dem Veränderungsdruck standzuhalten, fällt – übergreifend – klar aus: Die durchschnittliche Lebenszeit ist in den letzten drei Jahrzehnten so rapide gefallen, dass es berechtigt erscheint, von einer Logik des Misslingens zu sprechen. Es wurde dargelegt, dass eine hinreichende Erklärung und Auflösung dieser Logik des Misslingens wiederum nicht über einen individualisierenden Zugang geleistet werden kann. Die Gründe für die Probleme, die Unternehmen durch Führungsleistungen marktfähig zu halten, liegen in den im ersten Kapitel beschriebenen Wechselwirkungen zwischen einer veränderten Marktdynamik und etablierten Denk-, Fühl- und Verhaltensstandards der Führungskräfte in einem spezifischen kulturellen Gefüge. Nach der Sensibilisierung für die Notwendigkeit, die komplexen Entwicklungszusammenhänge bei der Formulierung von Führungsanforderungen zu berücksichtigen, wurde im zweiten Kapitel ein Orientierungsrahmen vorgestellt, der einen ersten Systematisierungsschritt bietet, um die Outside-in-Perspektive (Berücksichtigung sozio-ökonomischer Entwicklungen) bei der Formulierung von Führungsanforderungen berücksichtigen zu können. Durch den Orientierungsrahmen konnte im ersten Schritt die Unübersichtlichkeit der vielfältigen sozio-ökonomischen Entwicklungen aufgelöst werden, indem prozesssoziologisch und –psychologisch drei nachhaltige Veränderungstreiber herausgearbeitet wurden, die alle weiteren sozio-ökonomischen Entwicklungen auf einem niedrigeren Integrationsniveau prägen. Die Prägekraft der nachhaltigen Veränderungstreiber wurde besonders mit Blick auf drei Aspekte beschrieben: ihre Wirkungskraft auf gesellschaftliche Prozesse, ihre Entwicklungsgeschwindigkeiten und ihre historisch transformierenden Wirkungen. Aufsetzend auf der für diese Zwecke hinreichenden Rekonstruktion der nachhaltigen Veränderungstreiber wurde die konzeptionelle Verknüpfung zu den Determinaten des strategischen Wettbewerbs hergestellt. Das Verständnis dieser Determinanten konnte unter anderem in der theoretischen Auseinanderset-
Zusammenfassung und Ausblick
341
zung mit dem Ansatz von Porter geschärft werden. Dabei zeigte sich im Abgleich mit Porters Ansatz, aber auch mit Blick auf die Trendforschung, dass bei der Untersuchung sozio-ökonomischer Entwicklungen der Berücksichtigung der Integrationsebene (vgl. Abb. 33) eine besondere Bedeutung zukommt. An der kritischen Schnittstelle zwischen dem im zweiten Kapitel konzipierten Orientierungsrahmen und der Ableitung von Führungsanforderungen wurden zwei Punkte herausgehoben: Erstens müssen die Führungsanforderungen als Antworten auf die dargelegten nachhaltigen Veränderungstreiber und die Determinanten des strategischen Wettbewerbs formuliert werden. Nicht hingegen – wie dies im Text mehrfach kritisiert wurde – können die Führungsanforderungen, wenn sie einen Bezug zur Führungswirkung ausweisen sollen, primär aus individualpsychologischer, semantischer und / oder methodischer Perspektive abgeleitet werden. Zweitens muss das Anforderungskonzept umfassend (ganzheitlich), aber systematisch, überschaubar und anwendbar sein. Lange Kataloge von möglichen (Kern-) Kompetenzen erfüllen diese Kriterien nicht. Bei der Diskussion der Führungsanforderungen in Unternehmen aus Sicht des Leadership Asset Approach im dritten Kapitel wurden diese Kriterien berücksichtigt. Mit der Trilogie der Führung konnte ein weiterer Bestandteil des LAA vorgelegt werden, der zur persönlichen, strategischen und operativen Führung ein marktorientiertes und vollständiges Anforderungsgerüst bietet. Bei der Erstellung dieser Anforderungskonzeption wurde die Führungsforschung in diesen drei häufig isoliert behandelten Bereichen als Grundlage für den Entwurf des eigenen Ansatzes reflektiert. Dabei zeigte sich, dass die Forschungstraditionen teilweise in den LAA integriert werden konnten, teilweise mit den etablierten Ansätzen (zum Beispiel mit den Forschungstraditionen zur Führungspersönlichkeit) aber auch konsequent gebrochen werden musste. Die wissenschaftliche Fundierung der zum Teil in Abgrenzung zu etablierten Sichtweisen formulierten Führungsanforderungen des LAA, die sich in den Funktionen der Mindsets, der strategischen und operativen Führung konkretisieren, erfolgte zum einen durch die konzeptionelle Verknüpfung mit dem Orientierungsrahmen des LAA und zum anderen durch den Abgleich mit der Führungsforschung. Wesentlich zur empirischen Fundierung des LAA ist darüber hinaus die Übersetzung und Anwendung des LAA in das Leadership Asset System (LAS). Einen Aufriss zur Übersetzung des LAA in das LAS, ein Managementinstrument zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance, wurde im vierten Kapitel vorgelegt. Hier wurden das IT-basierte System beschrieben und Komponenten, die für die Anwendung seit vier Jahren genutzt werden, dargestellt. Es wurde angeführt, dass die Durchführungsobjektivität im Jahr 2007 durch eine Überarbeitung des technischen Einsatzes verbessert werden konnte. Auch wurde ausgeführt, wie die Fragen der Validität, Reliabilität und Normie-
342
Zusammenfassung und Ausblick
rung des LAS bearbeitet werden. Im Vergleich zu den üblichen Persönlichkeitsmodellen und –tests, die in der Performancemessung und Personalentwicklung eingesetzt werden, wurde die Leistungsfähigkeit des LAS in dieser Arbeit jedoch nicht hauptsächlich über seine methodisch und statistische Qualität begründet, sondern über seine empirisch-theoretische Fundierung durch den Leadership Asset Approach. Deshalb wurden zwei aufeinander abgestimmte Ansätze vorgelegt: der Leadership Asset Approach (LAA) als Orientierungsrahmen zu den Anforderungen an die Führungsperformance und das Leadership Asset System (LAS) als Managementinstrument zur Erfassung und Steuerung der Führungsperformance. Gerade aus dem wissenschaftstheoretischen Verständnis, das dieser Arbeit zugrunde liegt, sind beide Ansätze als Schritte in einem Forschungs- und Praxisprozess zu sehen, der weiteres Engagement auf drei Feldern erfordert: Erstens bedarf es aus Sicht des Autors weiterer systematischer Forschung, um den Einfluss der nachhaltigen Veränderungstreiber und der aus diesen ableitbaren Determinanten des strategischen Wettbewerbs auf die Unternehmensperformance differenzierter zu verstehen. Zweitens müsste – um den hier entfalteten Bezugsrahmen des LAA weiter zu entwickeln – neben einem differenzierten Verständnis dieser marktgestaltenden Kräfte immer zugleich hinterfragt werden, welche Konsequenzen sich für die Anforderungen an die persönliche, strategische und operative Führung ableiten lassen. Werden die Verbindungen zwischen diesen Komponenten im Forschungsprozess nicht weiterverfolgt, wäre dies ein Rückfall in zwei aus Sicht des Autors verbreitete grundlegende Fehler der gegenwärtigen Führungsforschung, nämlich in eine einseitige Inside-out-Perspektive und eine „atomistische“ Führungsforschung. Vor dem Hintergrund dieser Forschungsbemühungen können – drittens – das skizzierte Managementinstrument (das Leadership Asset System) und ergänzende Tools (weiter-) entwickelt werden, die die Führungskräfte dabei unterstützen, moderne Organisationen möglichst überlebensfähig und menschenfreundlich zu gestalten.
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373
Anhang Fragebogen zur Diagnose des Corporate Lifecycles Sehr geehrte Damen und Herren, wie jedes Unternehmen durchläuft auch Ihres unterschiedliche Entwicklungsphasen. Jede dieser Phasen hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten, mit der Folge, dass Management-Tools, die in der einen Phase den Erfolg steigern, diesen in der anderen Phase behindern können. Mit Hilfe dieses Fragebogens möchten wir abklären, in welcher Phase Sie sich mit Ihrem Unternehmen derzeit befinden. So kann sichergestellt werden, dass die Handlungsempfehlungen, die Ihnen nach der Analyse mit dem Leadership Asset System (LAS) unterbreitet werden, zu Ihrer spezifischen Situation passen und Ihnen einen möglichst großen Mehrwert bieten. Wir bitten Sie, alle Aussagen in diesem Bogen zu bearbeiten. Sollten Sie sich bei einzelnen Aussagen nicht eindeutig entscheiden können, wählen Sie bitte die Alternative, die Ihrer Meinung und Erfahrung nach am ehesten in Frage kommt. ja 1.
Wir haben infolge einer Kapitalunterdeckung wiederkehrende Probleme.
2.
Unser Unternehmen wird es wahrscheinlich nicht überstehen, wenn unser Gründer / CEO / Geschäftsführer unser Unternehmen verlassen würde.
3. 4.
5. 6. 7. 8.
Wir haben keine Zeit für viele Meetings. Wir bringen des Öfteren unsere Produkte bzw. Dienstleistungen auf den Markt auch wenn sie noch nicht ausreichend entwickelt sind. Bei wichtigen Entscheidungen, die die Führungskräfte treffen, legt unser Gründer / CEO / Geschäftsführer oft sein Veto ein. Viele Mitarbeiter sind mit Aufgaben überlastet und arbeiten ohne klare Prioritäten. Unser Gründer / CEO / Geschäftsführer beschäftigt sich häufiger mit Aufgaben, die nicht unmittelbar unternehmensbezogen sind. In unserer Organisation ist es unklar, wer wofür genau verantwortlich ist.
nein
374
Anhang
ja 9. 10.
Die disziplinarische Verantwortung ist nicht klar abgegrenzt oder verändert sich häufig. Wir haben Schwierigkeiten, genug qualifizierte Mitarbeiter zu finden, um alle unsere Aktivitäten zu managen.
11.
Wir nutzen jede Chance (etwa zur Expansion), die sich uns am Markt bietet.
12.
In unserem Management-Team bestehen ungelöste Konflikte; speziell zwischen dem Gründer / CEO / Geschäftsführer und dem „zweiten Mann“.
13.
Wir haben zur Zeit wenig Kontrolle über die Arbeitskosten.
14.
Wir haben im Top-Management-Bereich einen häufigen Wechsel.
15.
In unserer Organisation gibt es Grüppchenbildungen, etwa altgediente Mitarbeiter gegen neue Mitarbeiter.
16.
In unserer Organisation gibt es (sehr viele) verschiedene Entlohnungs- und Anreizsysteme.
17.
Wir haben Systeme, Methoden und Verfahrensweisen, die ein sehr effizientes Arbeiten gestatten.
18.
Wir haben eine klar kommunizierte Vision und dazugehörige Verfahren implementiert, mit deren Hilfe wir diese Vision gemeinsam erreichen.
19.
In den letzten Jahren setzen wir uns sehr hohe Ziele und haben sie regelmäßig erreicht.
20.
Wir gründen kontinuierlich neue Organisationen, die wir regelmäßig zum Erfolg führen.
21.
Wir wissen nachweisbar, wie wir in unseren Märkten erfolgreich bleiben können und sind stets bemüht, neue Märkte zu erschließen.
22.
Wir haben viele Prozesse und Verfahren systematisiert und lassen allen Mitarbeitern viel Raum für Kreativität und ihr unternehmerisches Handeln.
23.
Im Unternehmen gibt es eine Reihe „politisch“ motivierter Entscheidungen.
nein
375
Anhang
ja 24. 25.
Der Bereich Finanzen und Controlling hat in unserer Organisation einen höheren Stellenwert als z.B. die Marketingabteilung. In unserer Organisation herrscht die Maxime: „Business as usual“.
26.
Wir arbeiten profitabel, aber wir verlieren Marktanteile.
27.
Wir haben eine starke Tradition und diese ist für uns wichtig.
28. 29. 30.
Unsere Leistungsträger genießen sehr viele Annehmlichkeiten. Wenn unsere Kosten steigen, erhöhen wir die Preise, solange der Markt dies zulässt. Unsere Organisation verfügt über eine hohe Liquidität.
31.
Unsere zukünftigen Wachstumserwartungen liegen leicht über dem Marktdurchschnitt.
32.
Unser Top-Management hat keine einheitliche Ausrichtung bezüglich der Unternehmensziele, der Prioritäten und der (erfolgversprechenden) Strategie.
33.
Es fällt uns innerhalb unserer Organisation ausgesprochen schwer, neue und kreative Ideen zu akzeptieren.
34.
Wir haben sehr viele interne Konflikte und „Revierkämpfe“.
35.
Unser Umsatz geht zurück.
36.
In unserer Organisation werden viele Dinge getan, weil es „nun einmal so ist“ und in der Vergangenheit auch funktionierte.
37.
Ohne finanzielle Unterstützung (sei es innerhalb des Konzerns oder durch staatliche Subventionen) könnten wir wahrscheinlich nicht überleben.
38. 39.
Unsere gelebte Kundenorientierung könnte erheblich verbessert werden. In unserer Organisation sind die einzelnen Bereiche / Abteilungen g untereinander schlecht informiert.
nein