Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 561 Die Landschaft im Nichts
Landschaft im Nichts von Kurt Mahr Die Erben Terranies ...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 561 Die Landschaft im Nichts
Landschaft im Nichts von Kurt Mahr Die Erben Terranies im Paradiso nirwana Mehr als 200 Jahre lang war die SOL, das Fernraumschiff von Terra, auf seiner ziellosen Reise durch die Tiefen des Alls isoliert gewesen, bis Atlan in Kontakt mit dem Schiff kommt. Die Kosmokraten haben den Arkoniden entlassen, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Jetzt schreibt man an Bord des Schiffes den Juli des Jahres 3792, und der Arkonide hat trotz seines relativ kurzen Wirkens auf der SOL bereits den Anstoß zu entscheidenden positiven Veränderungen im Leben der Solaner gegeben – ganz davon abgesehen, daß er gleich nach seinem Erscheinen die SOL vor der Vernichtung rettete. Inzwischen hat das Generationenschiff viele Lichtjahre zurückgelegt, und die Solaner haben in dieser Zeit viele Konflikte mit Gegnern von innen und außen mehr oder weniger unbeschadet überstanden. Unter Breckcrown Hayes, dem neuen High Sideryt, hat längst eine Normalisierung des Lebens an Bord eingesetzt. Allerdings sorgen unerwartete Ereignisse immer wieder für Unruhe. So geschieht es auch auf dem weiteren Weg zur Kugelgalaxis Ploohnei. Die SOL wird plötzlich in ein scheinbares Mini-Universum verschlagen – und dort entdeckt man die LANDSCHAFT IM NICHTS …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide inspiziert das Paradiso nirwana. Sanny und Hage Nockemann - Atlans Begleiter. Breckcrown Hayes - Seine SOL wird in ein Mini-Universum verschlagen. Collinia Brackfaust - Anführerin der Erben Terranies. Tdibmufs und Euchan - Bewohner der Landschaft im Nichts.
1. Die hufeisenförmige Konsole auf dem Podest, zu dem drei Stufen hinaufführten, war eine Oase der Helligkeit inmitten des düsteren Kommandostands der SOL, dessen Peripherie von hier aus nur an den huschenden Lichtreflexen der Kontrollanzeigen zu erkennen war. Breckcrown Hayes, der High Sideryt, hatte den Blick starr auf die Anzeigen der kritischen Instrumente gerichtet. Der Flug war Routine: 1,1 Millionen Lichtjahre, per Sextadim-Triebwerk, bis zum Rand jener kugelförmigen Miniaturgalaxis, der man den Namen Ploohnei gegeben hatte. Aber was bedeutete Routine in diesem merkwürdigen Abschnitt des Universums, in dem ein ausgedehntes Sonnensystem, eingehüllt in einen unsichtbarmachenden Schirm, den Leerraum zwischen den Galaxien bevölkerte? Atlan, zu Hayes' rechter Hand sitzend, hatte es sich in seinem Kontursessel bequem gemacht und starrte zur dunklen Kuppeldecke empor. Er gab sich entspannt und wartete scheinbar mit Geduld auf das Ende des ereignislosen Sextadim-Fluges; aber tief im Innern empfand er ein nagendes Unbehagen, das er sich nicht erklären konnte. Es war wie die Ahnung einer drohenden Gefahr. Der logische Verstand versuchte, sie von sich zu weisen. Welche Gefahr konnte einem Raumschiff wie der SOL am Rand einer fremden Kleingalaxis drohen? Aber die Logik wurde des Gefühls nicht Herr. Das Unbehagen blieb.
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Bjo Breiskoll, der zu Hayes' linker Hand saß, in die Höhe ruckte. Er brachte den Sessel in halbwegs aufrechte Stellung und musterte den Mutanten. Bjo starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Halbdunkel, als sehe er dort etwas Furchterregendes. Das Gesicht war eine Grimasse. Die Lippen zuckten, als wolle er Worte sprechen, die ihm ein innerer Zwang nicht über die Lippen kommen ließ. »Was ist?« fragte der Arkonide. Bjo Breiskoll zuckte zusammen. Er wandte den Blick in Atlans Richtung und wirkte wie einer, der soeben aus der Trance in die Welt der Wirklichkeit zurückkehrte. »Es … es verändert sich«, brachte er stockend hervor. »Was verändert sich?« Die Unterhaltung spielte sich hinter Breckcrown Hayes' Rücken ab. Der High Sideryt war weiterhin ausschließlich mit seinen Instrumenten beschäftigt. »Die Umwelt«, ächzte Bjo. »Die Umwelt ist der Hyperraum«, versuchte Atlan, den Aufgeregten zu beschwichtigen. »Was kümmert uns, ob sich der Hyperraum verändert?« »Nicht so«, wehrte der Mutant ab. Das Sprechen bereitete ihm noch immer Mühe. »Wir werden … ich glaube, wir werden unser Ziel nicht erreichen!« Atlan kannte die Fähigkeiten des Mutanten zu gut, als daß er die Sache auf die leichte Schulter hätte nehmen wollen. Bjo Breiskoll war nicht nur Telepath. Er besaß eine deutlich entwickelte Empfänglichkeit für Dinge, die man mangels detaillierten Verständnisses unter dem nebelhaften Begriff »kosmische Einflüsse« zusammenfaßte. Wenn Bjo einen Einfluß spürte, der nach seiner Ansicht die SOL daran hinderte, das vorprogrammierte Ziel zu erreichen, dann war das eine Sache, die man ernst zu nehmen hatte. Der Arkonide wurde vorübergehend abgelenkt. Vor Breckcrown Hayes blinkte das Rufzeichen des Interkoms. Breckcrown drückte mißmutig eine in kräftigem Gelb leuchtende Taste und sagte: »Ich will jetzt nicht gestört werden.« »Die Sache ist dringend«, reagierte eine Robotstimme.
»Wer ruft?« wollte Breckcrown wissen. »Die Erben Terranies.« »Die wer?« Der Robot wiederholte seine Angabe. »Sie möchten dir ihre drei Thesen kundtun«, fügte er hinzu. »Und das ist dringend?« »Sie behaupten es.« Breckcrown holte Luft. Er zögerte einen Augenblick. Die Worte, die ihm zuerst in den Sinn gekommen waren, mochten sich nicht für eine Übertragung durch den Interkom eignen. »Sag ihnen, sie sollen sich ihre Thesen einstweilen aufheben«, brachte er schließlich hervor. »Ich höre sie mir an, sobald wir am Ziel sind.« Er hieb mit der Faust auf die gelbe Taste, um die Verbindung zu unterbrechen, und wandte sich an Atlan. »Die Erben Terranies?« fragte er. Der Arkonide erinnerte sich an die ersten Tage, die er an Bord der SOL verbracht hatte, nachdem er auf unerklärliche Weise aus dem Bereich der Kosmokraten zurückgekehrt war. »Valara Brackfaust ließ sich Terranie nennen«, sagte er nachdenklich. »Sie ist auf Osath von Bord gegangen, um sich dort anzusiedeln«, erinnerte ihn der High Sideryt. »Ja, ich weiß. Von den Terra-Idealisten hat man seit langer Zeit nichts mehr gehört. Die Erben Terranies müssen eine Nachfolgeorganisation sein.« Die Unterhaltung gedieh nicht weiter. Ein schriller Warn ton kündete an, daß die Sextadim-Phase in dreißig Sekunden beendet sein würde. Breckcrown Hayes wandte sich wieder seinen Instrumenten zu. Bjo Breiskoll hatte seinen Sessel aufrecht gestellt und starrte leeren Blicks vor sich hin. Atlan fühlte sein inneres Unbehagen zunehmen. Das blasse Grau der großen Bildschirme wandelte sich zu tiefem
Schwarz. Die Anzeigen auf der hufeisenförmigen Kontrollkonsole besagten, der Sextadim-Flug sei planmäßig abgeschlossen worden. Der Autopilot meldete, das angesteuerte Ziel sei innerhalb einer Toleranz von plus-minus fünf Lichtminuten erreicht. Aber die Bildschirme zeigten nur Finsternis. Keine Spur des Sternengeflimmers der Kleingalaxis Ploohnei war zu sehen. Kein einziger Lichtpunkt unterbrach das tiefe, eintönige Schwarz der Bildanzeige. So, wie es aussah, war die SOL mitten im Nichts rematerialisiert. Aus dem Halbdunkel der weiten Kommandozentrale drang bestürztes Gemurmel. Männer und Frauen hatten sich auf ihren Sesseln umgewandt und starrten zur Konsole des Kommandanten herauf, ihre Gesichter blasse Flecke in der Düsternis. In Breckcrown Hayes' zernarbter Miene rührte sich kein Muskel. Mit Handbewegungen, die so knapp und präzise waren, als würden sie von einem Automaten ausgeführt, betätigte er eine Reihe von Schaltern. Über seine Schulter hinweg sah Atlan die Buchstabenkette einer Computernachricht auf dem Sichtgerät erscheinen. SONDE AUSGESCHLEUST – KURSPROGRAMM AKTIV. »Ich brauche Schubfeldwerte, Beschleunigung, Geschwindigkeit und Kurs«, sagte Hayes. »Geradlinig bis Radiusvektor drei Lichtsekunden, dann zurück.« KURS LIEGT AN, antwortete der Computer. Daten huschten über die Videofläche. Atlan wandte sich an den Mutanten. »Ist es das?« fragte er. Bjo Breiskoll hob die Schultern. »Wahrscheinlich. Ich wußte, daß wir in einer Umgebung materialisieren würden, die nicht unseren Erwartungen entsprach. Irgend etwas hat während des SextadimFluges unseren Kurs beeinflußt.« »Was spürst du jetzt?« wollte der Arkonide wissen. »Nicht viel. Einen winzigen Betrag mentaler Strahlung, kaum
erfaßbar. Ich kann nicht erkennen, aus welcher Richtung sie kommt.« »Enthält sie Informationen?« Bjo verzog schmerzlich das Gesicht. »Informationen kann man das nicht nennen«, antwortete er. »Sie steckt voller Gehässigkeit. Das Bewußtsein, aus dem sie kommt, ist uns nicht wohlgesinnt.« Die Daten auf Breckcrown Hayes' Sichtgerät waren zum Stillstand gekommen. Die Meßsonde hatte ihre Arbeit getan. »Nichts Ungewöhnliches«, brummte Hayes. »Schub und Beschleunigung stimmen miteinander überein, Geschwindigkeit und Kurs ergeben sich durch Integration.« Er machte ein verdrießliches Gesicht. »Wir stecken im Einstein-Raum. Fragt sich nur, wo.« »Im Innern eines Raumschleierfelds?« kam eine helle Stimme von der Basis der Konsole her. Atlan beugte sich nach vorne und bekam eine zwergenhafte Gestalt zu fassen, die er behutsam aufhob und vor sich auf die Kante des Tastenfelds setzte. Sanny, die Molaatin, war ein ebenso possierliches wie liebenswertes Geschöpf. Mit ihrem dichten, grünen Pelz, dem kahlen Schädel und einer Körpergröße von sage und schreibe 47 Zentimetern wirkte sie wie ein freundlicher Troll aus einem terranischen Märchen. Die Iris der großen, kreisförmigen Augen war von strahlendem Hellblau. Als einziges Kleidungsstück trug Sanny einen Fellumhang, der über der linken Schulter durch eine verzierte Spange zusammengehalten wurde. Um den Leib hatte sie sich einen schmalen Gürtel geschnallt, der als Aufhänger für mehrere winzige Lederbeutel diente, in denen die Molaatin jenen Teil ihrer Habe mit sich herumschleppte, der ihr am wichtigsten war. »Wenig wahrscheinlich, Sanny«, sagte Atlan. »Eine der Lektionen, die die Erfahrung lehrt, besagt, daß erstaunliche Phänomene einzeln auftreten. Ein Raumschleierfeld haben wir im Roxha-Sektor erlebt. Ich glaube nicht, daß es hier schon wieder eines gibt.«
»Die Verbindung mit der Sonde war erstklassig und von der Entfernung unabhängig«, fügte Breckcrown Hayes hinzu. »Gäbe es hier ein Schleierfeld, dann hätte es sich über eine Distanz von drei Lichtsekunden bemerkbar machen müssen.« »Was also?« fragte Sanny spöttisch. »Ein materieloses EinsteinUniversum?« »Sieht so aus«, antwortete Hayes. Atlan wußte, worauf sie hinauswollte. Sanny besaß nicht nur die mutantische Begabung der Paramathematik, sie war obendrein mit den Lehren der zeitgenössischen Physik bestens vertraut. »Das gibt es nicht«, sagte er zu Hayes. »Was gibt es nicht?« »Einen Einstein-Raum ohne Materie. Die träge Masse definiert das Kontinuum. Ohne Masse kein Raum.« Falten bildeten sich auf Breckcrown Hayes' Stirn. Er war Astrogator. Er verstand, was er für seinen Beruf brauchte. Mit den Feinheiten der theoretischen Kosmologie hatte er sich niemals angefreundet. Aber er mochte irgendwo gehört haben, daß der alte Einstein einen Ausspruch dieser Art getan hatte. Es irritierte ihn, sich in einer Umgebung zu befinden, die es laut Naturgesetz nicht geben durfte. »Vielleicht stecken wir in einem Loch«, brummte er. »Die nächsten Materieansammlungen sind zu weit entfernt, als daß wir sie wahrnehmen könnten.« Atlan wies mit der Hand auf die 21-cm-Anzeige, jenes Gerät, das zur Standardausstattung jeder astrogatorischen Kontrollkonsole gehörte und die kurzwellige Strahlung ionisierten Wasserstoffs nachwies. »Wenigstens die Einundzwanzig-Zentimeter-Linie müßte vorhanden sein«, sagte er. Die Anzeige stand auf null. »Und wenn die nächste Strahlungsquelle noch so weit entfernt wäre, sie müßte sich irgendwie bemerkbar machen.« »Es sei denn, wir befänden uns in einem suprakalten Abschnitt
des Universums«, wandte Sanny ein, »in dem es keine Ionisierung des Wasserstoffs gibt.« Die Diskussion wurde unterbrochen. Aus einem Empfänger, der hoch unter der Kuppeldecke angebracht war und üblicherweise nur für wichtige Bekanntmachungen über Rundsprech benützt wurde, drang eine kräftige, klare Frauenstimme. »Hier sprechen die Erben Terranies! Der High Sideryt hat sich geweigert, uns auf dem normalen Wege anzuhören. Also müssen wir uns auf diese Weise Gehör verschaffen.«
* Die drei Männer an der Konsole des Kommandanten sahen erstaunt auf. Die Stimme fuhr fort: »Die Schiffsführung kennt unsere drei Thesen. Sie weiß, daß wir ihr vorwerfen, unfähig gehandelt zu haben. Sie läßt eine Gelegenheit nach der andern verstreichen, ihre Fehler wiedergutzumachen. Die Erben Terranies haben den Eindruck gewonnen, daß man auf ihre Belange nicht eingehen will, und greifen daher zur Selbsthilfe.« Inzwischen war Breckcrown Hayes nicht untätig gewesen. Der Computer hatte ermittelt, woher die Rundsprech-Sendung kam. Hayes tastete eine Interkom-Verbindung. Der Kommunikationsbildschirm leuchtete auf. Das Gesicht einer jungen Frau erschien. »Collinia Brackfaust!« stieß Hayes verblüfft hervor. »Fast hätte ich es mir denken können. Was hast du verrücktes Weibsbild an Bord einer Korvette zu suchen?« Das Gesicht auf der Bildfläche ließ keine Spur der Überraschung erkennen. Es war hübsch und ausdrucksvoll, mit sanft geschwungenen Brauen, einer Stirn von mäßiger Höhe, großen, intelligenten Augen, einer schlanken Nase und vollen, verächtlich geschürzten Lippen.
»Komm mir nicht mit deinem Steinzeit-Vokabular, Breckcrown Hayes«, sagte sie. »Uns ist es ernster, als du glaubst.« Hayes schien die Situation eher zu amüsieren als zu ärgern. Er lehnte sich bequem in seinen Sessel zurück und erklärte: »Sehen wir fürs erste davon ab, daß du dir im Handumdrehen zwei Registereinträge für Regelwidrigkeiten verschafft hast: unbefugte Benutzung des Rundsprechs und unerlaubtes Eindringen in ein Bordfahrzeug. Gehen wir lieber davon aus, daß ich vor wenigen Minuten zum ersten Mal von den Erben Terranies hörte und keine Ahnung habe, was eure drei Thesen aussagen. Vielleicht bist du dann eher bereit, mir zu erklären, was dieser Unsinn soll.« Collinia verlor kein Quant ihrer Würde. »Willst du Unwissen vorschützen, Breckcrown? Meinetwegen. Unsere erste These heißt: Der Lebensraum des Menschen ist die Oberfläche eines Planeten.« »Und die zweite?« erkundigte sich der High Sideryt. »Der Lebensraum des Menschen ist die Oberfläche eines Planeten.« Ein breites Grinsen erschien auf Breckcrown Hayes' vernarbtem Gesicht. »Laß mich raten«, sagte er. »Die dritte These heißt: Der Lebensraum des Menschen ist …« »Es gibt keinen Grund, sich darüber lustig zu machen«, fiel ihm Collinia ins Wort. »Für uns gibt es nur diese eine Wahrheit, und sie ist uns wichtig genug, daß wir sie zweimal wiederholen.« »Uns? Wer ist uns?« fragte Hayes. »Wieviel seid ihr?« Collinia verzog spöttisch den Mund. »Laß nachzählen, wenn wir uns abgesetzt haben«, antwortete sie. »Die SOL ist inzwischen so gut organisiert, daß jedes Geschöpf an Bord seinen eigenen Eintrag in der Computerdatei hat. Laß nachsehen, wer fehlt – dann weißt du nicht nur, wieviel, sondern auch wer wir sind.« »Ihr wollt die SOL verlassen?« erkundigte sich Hayes, nur mäßig
erstaunt. »Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ihr hört auf unsere Wünsche nicht. Es gab ein halbes Dutzend Gelegenheiten, uns auf einer bewohnbaren Welt abzusetzen und mit einem Minimum an Mitteln auszustatten, die wir zum Überleben brauchen. Ihr behandelt uns wie Unmündige, auf die man nicht zu hören braucht.« Ihre Stimme drang längst nicht mehr über den Rundsprech. Diese Verbindung hatte sie getrennt, als Breckcrown Hayes' Anruf sie erreichte. Sie griff zur Seite. Ein kaltes, grünes Leuchten erschien auf der Bildfläche, als sie ein scheibenförmiges Gebilde ins Blickfeld schob, über dem eine kugelförmige Energieblase schwebte. Im Innern des leuchtenden Feldes befand sich ein Brocken Erde, ein unscheinbares Gebilde von stumpfer, graubrauner Farbe. »Das, Breckcrown Hayes, ist das Symbol unseres Willens«, fuhr Collinia Brackfaust mit der Stimme einer Prophetin fort. »Ein Stück Erde, von Terra. Ich habe es von meiner Mutter geerbt, als sie uns auf Osath verließ. Der Brocken bringt zum Ausdruck, daß wir uns nicht länger mit dem Dasein als Gefangene eines Raumschiffs abfinden. Wir haben diesen Zug von langer Hand vorbereitet. Diese Korvette, die von jetzt an den Namen TERRA führen soll, ist mit allem ausgestattet, was wir für das Leben auf der Oberfläche eines erdähnlichen Planeten brauchen. Keine Angst – wir haben nichts genommen, was für euch unersetzlich wäre. Du kannst versuchen, uns am Aufbruch zu hindern. Aber ich verspreche dir: wir wehren uns bis zum letzten. Wir sterben lieber, als daß wir Sklaven dieses Metallsargs bleiben!« Sie schob den Brocken beiseite. Im Hintergrund des Bildes wurde eine Gruppe junger Männer und Frauen sichtbar, die sich herbeigedrängt hatte, als wolle sie demonstrieren, daß Collinia nicht nur für sich selbst sprach. »Du nimmst große Worte in den Mund, Mädchen«, sagte Breckcrown Hayes gelassen. »Es stirbt sich nicht so leicht – für welche Idee auch immer. Im übrigen habe ich nicht die Absicht, euch Hindernisse in den Weg zu legen. Glaubt ihr, ihr werdet eine
geeignete Welt finden?« »Ohne große Mühe«, antwortete Collinia im Ton der Überzeugung. »Ploohnei ist keine große Galaxis, aber auch unter ein paar Dutzend Millionen Sonnen muß es hunderte geben, die Planeten innerhalb der Biosphäre erzeugt haben.« Breckcrown Hayes ließ sich nicht anmerken, was ihre Worte für ihn bedeuteten. Ruhig, fast freundlich erklärte er: »Ich wünsche euch viel Glück. Niemand an Bord dieses Raumschiffs will euch übel. Irgendwann werden wir alle – eher wahrscheinlich unsere Nachfahren – auf der Oberfläche eines Planeten landen und uns dort ansiedeln. Aber ihr konntet so lange nicht warten. Mancher wird Verständnis dafür haben. Fahrt frei – und Glück auf!« »Wir werden sie nicht lange vermissen«, sagte er. »Sie waren so mit ihren Vorbereitungen beschäftigt, daß sie keine Ahnung haben, wie es draußen aussieht.« Atlan nickte lächelnd. »Über die Erben Terranies wirst du dir den Kopf nicht mehr zu zerbrechen brauchen«, antwortete er. »Keine revolutionäre Organisation überlebt eine solche Blamage.« Aber da täuschte er sich. Collinia erstarrte. Ungläubig erfaßte ihr Blick die sternenlose Schwärze, die der große Panoramaschirm abbildete. Das äußere Schott der großen Hangarhalle war zur Seite geglitten, und jenseits der Schleusenöffnung gähnte ein finsterer Abgrund, der hinab bis zum Ende des Universums zu reichen schien. Die Korvette war in Bewegung. Collinia unternahm nichts, um sie anzuhalten. Wilder Zorn stieg in ihr auf. Breckcrown Hayes hatte sie zum Narren gehalten! Die SOL war nicht am Rand von Ploohnei materialisiert, wie es der Flugplan vorsah. Je weiter der riesige Leib des Fernraumschiffs hinter der TERRA zurückblieb, desto offensichtlicher wurde es, daß sich die sternenlose Finsternis nach allen Richtungen erstreckte. Das war nicht der intergalaktische Leerraum, es war das absolute, unwiderrufliche Nichts!
Sie hörte Feslo Rakka stöhnen. Der fette, aufgedunsene Leib ihres Kopiloten hatte sich in ein erbärmliches Häufchen Elend verwandelt. Feslo hatte den Sessel weit zurückgekippt und starrte zum Panoramabild hinauf. Es zuckte in seinem feisten Gesicht. Er wollte etwas sagen und brachte doch vor Schreck kein Wort über die Lippen. Auf der anderen Seite der Pilotenkonsole waren mittlerweile auch Part One und Onko Valdiz aufmerksam geworden: Part hochgewachsen, hager und ernst, der älteste in der Gruppe, und Onko, wie üblich zurechtgemacht, als wollte er einem Straßenmädchen den Rang ablaufen. »Breckcrown Hayes, du Schuft!« stieß Collinia heftig hervor. »Das zahlst du mir heim!« »Was ist?« fragte Onko besorgt. »Wo sind wir? Warum sind keine Sterne zu sehen?« »Ich kann dir nur sagen, wo wir nicht sind«, knirschte Collinia. »Nämlich am Rand von Ploohnei. Und nirgendwo sonst in der Nähe einer Sternenballung.« »Hayes hat uns mit Absicht hierher geführt?« rief Onko empört. »Unsinn.« Part Ones Stimme war tief und mit Autorität geladen. »Breckcrown Hayes hat so wenig eine Ahnung, wo wir sind, wie wir selbst. Irgend etwas ist schiefgegangen. Wir hätten uns umsehen sollen, bevor wir unsere Proklamation vom Stapel ließen. Aber wir waren so mit den Startvorbereitungen beschäftigt, daß wir nicht mitbekamen, wie es draußen aussieht.« Ein nervöses Zucken lief über sein Gesicht. »Wenn ich mir vorstelle, wie Hayes innerlich gegrinst hat, als er Collinias Rede hörte, wird mir übel!« »Was jetzt?« erkundigte sich Feslo Rakka mit weinerlicher Stimme. »Wir folgen dem Plan«, entschied Collinia. »Breckcrown Hayes hat umsonst gelacht. Irgendwo in dieser Finsternis muß es Sterne geben. Vielleicht sind es nur Staubwolken, die die Aussicht verdecken.« »Ich glaube nicht, daß wir das tun sollten«, sagte Feslo, richtete seinen Sessel ein wenig auf und sah sich um, als erwarte er Unterstützung von der restlichen Besatzung des Kommandostands.
»Was, wenn wir wirklich in einer Zone des Nichts gelandet sind? Unser Fahrzeug hat nur eine begrenzte Reichweite. Wenn die SOL wieder Fahrt aufnimmt und wir keinen bewohnbaren Planeten finden, sind wir verloren.« »Feslo, du Schlappschwanz – kipp deinen Stuhl nach vorne und mach dich an die Arbeit«, sagte Collinia verächtlich. »Sobald wir uns auf der Oberfläche einer Welt eingerichtet haben, beginnt die Demokratie. Bis dahin gilt das Wort des Kapitäns, und der bin ich!« Feslo gehorchte. Es geschah des öfteren, daß er ein Opfer seiner eigenen Ängste wurde. Dann bedurfte es eines groben Worts, ihn wieder zur Ordnung zu rufen. Er folgte willig jedem, der fester und selbstbewußter aufzutreten verstand als er selbst. Die TERRA nahm mit höchsten Beschleunigungswerten Fahrt auf. Der Kurs war im voraus berechnet worden und zielte dorthin, wo sich eigentlich die Sternenballung der Galaxis Ploohnei hätte befinden müssen. Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Eine Richtung war so gut wie die andere. Die erste Linearetappe war auf fünfzig Lichtjahre programmiert. Collinia hatte sich inzwischen beruhigt. Sie verzichtete darauf, die SOL noch einmal anzurufen und Breckcrown Hayes ins Gesicht zu schleudern, was sie von seinem heimtückischen Verhalten hielt. Besser, ihn im unklaren zu lassen. Die Bewegungen der TERRA waren zielbewußt. Vielleicht kam der High Sideryt auf den Gedanken, die Besatzung der Korvette hätte etwas entdeckt, was den Wahrnehmungsmechanismen der SOL bisher entgangen war. Wäre das ein Spaß, dachte sie grimmig.
* »Sie brechen tatsächlich auf«, sagte Breckcrown Hayes ein wenig enttäuscht. »Was hattest du erwartet?« fragte Sanny. »Daß Collinia in die Knie
geht und an Ort und Stelle ihre Unfähigkeit zugibt?« »Wir werden sie bald wiedersehen«, erklärte Atlan zur Überraschung seiner Zuhörer. »Wie meinst du das?« erkundigte sich Breckcrown Hayes verblüfft. »Sanny hier wird dir erklären«, antwortete der Arkonide, »daß die Ausdehnung eines Universums sich nach der in ihm enthaltenen Masse richtet. Nach gängigem kosmologischen Wissen ist jedes Universum ein Schwarzes Loch, und seine Dimension ist der Schwarzschild-Radius. Gegeben, daß in diesem merkwürdigen Kontinuum so gut wie keine Masse existiert, kann man sich ausrechnen, daß seine Abmessungen wenig imposant sind.« »Das mag der und jener verstehen«, brummte Breckcrown Hayes unwillig. Sein Blick fiel auf die Anzeigen, die Aufschluß über die Bewegungsgrößen der SOL gaben. »Wir fliegen nach wie vor mit dreißig Prozent Licht. Irgendwann muß etwas in Sicht kommen.« »Relativ wozu?« erkundigte sich Atlan nicht ohne Spott. »Es gibt keinen Bezugspunkt. Die Geschwindigkeit wurde relativ zum Rand der Ploohnei-Galaxis errechnet und ergibt sich aus dem Energieverbrauch während des Sextadim-Fluges. Kein Ploohnei, keine Geschwindigkeit.« »Schafft mir eine Verbindung mit dem Buhrlo-Quartier«, fuhr Hayes die Computer-Verbindung an. Der Kommunikationsbildschirm leuchtete auf. Ein Buhrlo, erkenntlich an der transparenten, rötlich schimmernden Hautschicht, die seinen Körper umgab, erschien auf der Videofläche. »Bora«, sagte Hayes ungeduldig. »Ich will mir Bora St. Felix sprechen.« Der Buhrlo machte eine zustimmende Geste und verschwand von der Bildfläche. Kurze Zeit später tauchte die Sprecherin der Weltraummenschen auf. Ihre Epidermis unter der gläsernen Buhrlos-Haut war von dunkler, braunschwarzer Tönung. Sie
musterte Hayes mit mißtrauischem Blick. »Ich wollte dir vorschlagen, daß du mit deinen Leuten einen Spaziergang unternimmst«, sagte der High Sideryt. »Wir hatten erst einen vor kurzer Zeit«, antwortete Bora St. Felix. »So oft brauchen wir nicht hinaus. Du übertreibst die Sorge um unser Wohlergehen.« Der Spott in ihren Worten war unüberhörbar. »Es geht mir nicht um euer Wohlergehen«, sagte Hayes. »Ich brauche Informationen.« »Aha!« grinste Bora. »Du willst wissen, was das für ein schwarzer Höllenpfuhl ist, in dem wir gelandet sind. Und für den Fall, daß dort draußen nicht alles mit rechten Dingen zugeht, brauchst du die Buhrlos als Versuchskaninchen.« Breckcrown Hayes winkte ab. »Bevor ich mir dein Geschwätz anhöre, versuch' ich's lieber auf andere …« »Halt!« fiel die Buhrlo-Frau ihm scharf ins Wort. »Wir gehen! Ich stelle eine Mannschaft zusammen. Wir brauchen Transportplattformen und eine Handvoll von Sicherheitsvorkehrungen, falls draußen etwas schiefgeht.« Hayes nickte. »Du bekommst, was du brauchst. Melde dich, wenn ihr zum Ausschleusen fertig seid.« Danach erteilte er eine Reihe anderer Anweisungen. Ein halbes Dutzend Fahrzeuge, zwei Korvetten und vier Space-Jets, machten sich startbereit. Sonden verließen die SOL und begannen, den finsteren Raum in der Umgebung des großen Schiffes zu erforschen. Breckcrown Hayes ließ sich nicht einschüchtern. Er ging dem Geheimnis, das ihn umgab, mit allen Mitteln zu Leibe, die ihm zur Verfügung standen.
* Stunden
vergingen.
Robotsonden
und
bemannte
Fahrzeuge
durchstreiften die endlose Finsternis; eine Schar von Buhrlos tummelte sich in der Nähe der SOL. Ungewöhnliche Phänomene wurden nicht registriert. Der Raum, in dem sich das Schiff befand, war so normal wie irgendein Abschnitt des Einstein-Universums. Nur, daß es ihm an Materie mangelte und er nach den Grundsätzen der Kosmophysik eigentlich nicht hätte existieren dürfen. Atlan, Sanny und Bjo Breiskoll hatten sich nach Sol-City zurückgezogen. Im Gemeinschaftsraum wurde die Lage diskutiert. Joscan Hellmut überwachte die Kommunikation mit der Kommandozentrale. Es häuften sich Nachrichten, daß in einigen Quartieren des Schiffs Unruhe entstanden war. Die Solaner fühlten sich verunsichert. Die vergangenen Wochen waren voll aufregender und gefährlicher Ereignisse gewesen. Die Mannschaft sehnte sich nach Ruhe und Ausgeglichenheit. Der Anblick der abgrundtiefen Schwärze auf den Bildschirmen hatte Schrecken erregt, mentale Sicherungen durchbrennen lassen. Die Meldung vom Aufbruch der Erben Terranies hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Decks und Korridore, Farmen und Wohnquartiere, Maschinen- und Lagerhallen verbreitet. Immer mehr Menschen vertraten die Ansicht, man könne sich auf die Schiffsführung nicht mehr verlassen, sondern müsse aus eigener Kraft ums Überleben kämpfen. Breckcrown Hayes hatte den Umschwung der Stimmung rechtzeitig erkannt und die großen Hangarhallen der Bordfahrzeuge durch Robottruppen sichern lassen. Die Maßnahme kam um keine Minute zu früh. Menschenmengen drängten sich in die Hangarräume in der Absicht, irgendein Fahrzeug zu kapern und mit ihm das Weite zu suchen. Robotpatrouillen wiesen die Eindringlinge zurück. In der Mehrzahl der Fälle genügte ihre bloße Anwesenheit, den Eifer der verstörten Menschen zu dämpfen. Warnende Nachrichten, die pausenlos über Rundsprech abgestrahlt wurden, taten das Ihrige. Nur in einem einzigen Fall kam es zum Einsatz von Waffen. Die Angreifer fluteten zurück, nachdem ihre Führer unter dem Einfluß der Paralysatoren zusammengebrochen
waren. Bjo Breiskoll spürte die primitive Angst, die sich der Menschen an Bord des Fernraumschiffes bemächtigt hatte. Seine Berichte gingen in regelmäßigen Abständen an Breckcrown Hayes. Der High Sideryt erkannte, daß die Lage in wenigen Stunden unhaltbar werden würde, wenn es nicht gelang, eine Ablenkung zu schaffen, die die Verängstigten ihre Furcht wenigstens vorübergehend vergessen ließ. Inzwischen war bei der Diskussion in Sol-City zum ersten Mal das Argument aufgetaucht, es könne sich bei dem umgebenden Raum womöglich um ein völlig abgeschlossenes Paralleluniversum handeln, nicht um einen Seitenarm des bekannten Kontinuums, wie man bisher angenommen hatte. War dies der Fall, dann traf Atlans Argument in noch weitaus deutlicherem Maß zu: es konnte sich nur um ein Mikrouniversum von höchst bescheidenen Dimensionen handeln – um ein Universum, das so winzig war, daß die SOL es ohne große Mühe vermessen konnte. An diese Hypothese klammerte sich Breckcrown Hayes. In seinen Äußerungen hütete er sich, von einem abgeschlossenen Paralleluniversum zu sprechen. Die Frage, wie man aus diesem in den bekannten Einstein-Raum zurückkehren wollte, hätte nur mehr Angst und Unruhe erzeugt. Er ließ jedoch verlauten, daß man eine Methode entwickeln wolle, sich in der Sternenlosen Finsternis zurechtzufinden. Es sei dem Atlan-Team gelungen, so sagte er, eine Theorie zu entwickeln, die sich ohne nennenswerten Aufwand testen ließ. Falle der Test positiv aus, so sei damit der erste Schritt auf dem Weg der Rückkehr ins bekannte Universum getan. Die Vorbereitungen begannen sofort und wurden mit dem gehörigen Nachdruck publiziert. Nachrichtenstationen beschrieben jeden Schritt des Experiments. Die gewünschte Wirkung trat ein. Die Menschen gewannen die Hoffnung zurück und vergaßen für den Augenblick ihre Angst. Die SOL schleuste eine schwere Hypersonde aus, die in der Nähe des Schiffs verankert wurde und in regelmäßigen Abständen eine Serie charakteristisch modulierter
Hyperfunksignale abstrahlte. Es gab sechs Abstrahlrichtungen längs der positiven und negativen Achsen eines kartesischen Koordinatensystems. Die SOL beabsichtigte, sich entlang der willkürlich definierten, positiven X-Achse von der Sonde zu entfernen und anhand des Empfangs der Signale auf die räumlichen Eigenschaften des finsteren Universums zu schließen. Die Spannung wuchs, je näher der Augenblick des Ausbruchs heranrückte. Breckcrown Hayes hatte der Öffentlichkeit nicht mitgeteilt, daß die Sonde außer den Experimentalimpulsen auch eine Nachricht für die TERRA ausstrahlte, für den Fall, daß die aufrührerischen Erben Terranies die Unsinnigkeit ihres Vorhabens erkannten und zurückkehrten. Sie wurden angewiesen, zu warten, bis die SOL ihren Versuch abgeschlossen hatte und sich wieder am Ausgangstor einfand. Es war psychologisch geschickter, den aufgeregten Solanern Collinia Brackfaust und ihr waghalsiges Unternehmen in diesem Augenblick nicht wieder in Erinnerung zu bringen. Die Triebwerke taten einen kurzen Probelauf und stellten ihre Einsatzbereitschaft unter Beweis. Breckcrown Hayes stand im Begriff, den Startbefehl zu geben, da trat ein höchst erstaunliches Ereignis ein, das den Beginn des Experiments um mehrere Stunden verschob.
* Allmählich begannen die Kräfte der Hoffnung zu schwinden. Verzweiflung stieg in Collinia Brackfaust auf und würgte sie mit kaltem Griff. Zwei Linearetappen hatte die TERRA bereits hinter sich, und der Raum, den die Bildschirme zeigten, war so finster und leer wie zu Anfang. Verbissen starrte sie vor sich hin. Es war totenstill im Kommandostand der Korvette. Die Angst ging um. Collinia machte
sich Vorwürfe. Sie hätte diesen Vorstoß nicht unternehmen dürfen. Er war sinnlos. Es gab keinen Hinweis darauf, nicht einmal die geringste Möglichkeit einer logischen Extrapolation auf der Grundlage anderer, bekannter Situationen, daß in diesem Kontinuum Materie zu finden sei, wenn man nur lange genug suchte. Leere Räume waren eine Unmöglichkeit gemäß dem noch auf Einstein beruhenden Postulat der Kosmophysik. Aber wer mochte sagen, ob nicht gerade dieser Teil der Einstein'schen Theorie ein Fehlschluß war? Ihre Aufgabe als verantwortliche Sprecherin der Erben Terranies wäre es gewesen, das Vorhaben sofort aufzugeben und umzukehren, als sie die erschreckende Leere dieses Raumes erkannte. Gewiß, sie wäre erniedrigt worden. Breckcrown Hayes hätte ihr beißenden Spott übers Haupt geschüttet. Aber es wären ihr und ihrer Gefolgschaft die Angst und die Verzweiflung der vergeblichen Suche erspart geblieben. Und der Erniedrigung entrann sie trotzdem nicht. Wenn sich auch die nächste Etappe als erfolglos erwies, würde sie umkehren. Und Breckcrown Hayes würde darauf warten, sie in Empfang zu nehmen. »Eine weitere Etappe – einhundertzwanzig Lichtjahre«, sagte sie bitter. »Einhundertzwanzig!« staunte Feslo. »Das ist ein gewaltiger Sprung. Was, wenn wir dabei etwas übersehen?« »Hör nicht auf ihn, Collinia«, sagte Part One. »Du bist der Kapitän!« Unter Collinias verächtlichem Blick zuckte Feslo Rakka zusammen. Mit eiligen Wurstfingern nahm er die nötigen Schaltungen vor. Ein akustischer Befehl an den Autopiloten: die TERRA begann zu beschleunigen und erreichte nach kurzer Zeit die Schwellengeschwindigkeit für den Übertritt in den Linearraum. Auf den Bildschirmen glomm das konturlose Hellgrau des für menschliche Begriffe nicht faßbaren Zwischenkontinuums. Die Minuten verstrichen träge. Die TERRA bewegte sich mit einem
Überlichtfaktor von 3.000.000. »Wenn wir diesmal wieder keinen Erfolg haben, kehren wir um«, sagte Collinia zu niemand im besonderen. »Du hast recht«, antwortete Part One. Niemand kannte seinen wahren Namen. Er nannte sich Part One, solange sie auf der Suche nach einer neuen Heimat waren. Sobald sie gelandet waren und sich eingerichtet hatten, sagte er, würde er seinen Namen zu Part Two ändern. Das war seine Art, auszudrücken, für wie wichtig er die Grundsätze der Organisation der Erben Terranies hielt. »Ich glaube nicht, daß es in diesem Raum etwas für uns zu finden gibt.« »Und was wird dann?« fragte Onko Valdiz besorgt. Du denkst doch nur ans Bett, ging es Collinia bitter durch den Sinn. Du hast dich uns angeschlossen, weil du hinter Part One her bist. Was kümmert's dich? »Menschen können irren«, antwortete sie ernst. »Aber unser Glaube ist unanfechtbar. Der Lebensraum des Menschen ist die Oberfläche eines Planeten. Niemand kann an dieser Idee rütteln, und eines Tages werden wir sie in die Wirklichkeit umsetzen. Auf dem Weg dorthin erleben wir Fehlschläge wie diesen. Aber wir geben nicht auf. Das Universum ist voller Welten, die darauf warten, daß der Mensch sich auf ihnen niederläßt.« Ein heller Summton war zu hören: Austritt aus dem Linearraum in dreißig Sekunden. Collinia klammerte sich an die Armlehnen ihres Sessels, als erwarte sie einen kräftigen Ruck. Die große Panoramabildfläche flackerte. Das Grau verschwand und wurde von eintönigem Schwarz ersetzt. Der Anblick drang ihr wie ein Stich durch die Seele. Finsternis, soweit der Blick reichte. Die übliche Serie rascher Messungen: die Umgebung war so normal, wie man sie sich wünschen konnte. Ein Einstein-Raum reinsten Wassers – nur ohne Materie. Sie riß sich zusammen. Nur jetzt keine Schwäche zeigen, oder Feslo Rakka fing an zu lamentieren und machte ihr die ganze Besatzung kopfscheu.
»Das war's also«, sagte sie. »Wir haben unser Möglichstes getan. Das Schicksal verweigert uns den Erfolg. Wir kehren um!« »Ortung!« sagte in diesem Augenblick Onko Valdiz mit schriller Stimme. »Ein hyperenergetisches Streufeld direkt voraus!« Es ging wie ein Seufzen durch den halbdunklen Raum. Collinia brauchte sich nicht umzusehen; sie wußte, daß ringsum Gesichter im Widerschein neuerwachter Hoffnung zu strahlen begannen. »Langsam mit dem Optimismus!« rief sie warnend. Sie schaltete sich in den Orterkreis ein und musterte die Anzeige, auf die Onko aufmerksam geworden war. »Der Reflex hat sämtliche Charakteristiken eines Raumfahrzeugs, das mit leerlaufenden Aggregaten vor Anker liegt.« Sie bestimmte die Entfernung zu annähernd dreißig Lichtjahren, dicht an der Grenze der Reichweite, die die Orter der TERRA besaßen. In einem von Sternen und Planeten erfüllten Universum wäre der schwache Reflex hoffnungslos untergegangen. Daß sie ihn überhaupt empfingen, verdankten sie nur der finsteren Leere. Sie leitete die Daten der Orteranzeige dem Bordcomputer zu und beauftragte ihn, die übliche Analyse durchzuführen. Im Kommandostand herrschte atemlose Spannung. Das Ergebnis erschien auf der Bildfläche des Datengeräts. Collinia starrte es zwei Sekunden lang an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und begann zu lachen, schrill und hilflos wie eine Wahnsinnige. Tränen rannen ihr über die Wangen, und schließlich erstarb das Gelächter in einem erstickten Schluchzen. Part One löste bedächtig die Gurte und stand auf. Collinia war in sich zusammengesunken. Er konnte ihr nicht helfen. Für den Augenblick war es besser, wenn man sie alleine ließ. Er warf einen Blick auf das Datengerät und wandte sich um. Hohl klang seine tiefe Stimme durch den halbdunklen Raum: »Es ist die SOL! Wir sind rings um diesen verdammten Mikrokosmos geflogen.«
3. Die Buhrlos waren wieder an Bord, die ausgeschleusten Sonden und Fahrzeuge ergebnislos zurückgekehrt. An Bord der SOL herrschte gespannte Ruhe. »Start in zwanzig Sekunden«, sagte Breckcrown Hayes. Eine Robotstimme machte den Countdown. Hayes blickte vor sich hin. Er hatte nichts zu tun. Der Autopilot übernahm die Steuerung der SOL. Die Beschleunigungsphase war auf eine Dauer von 510 Sekunden angesetzt. Nach dieser Zeit war der Schwellenwert für einen energiesparenden Übertritt in den Linearraum erreicht. Er hatte längst begriffen, daß in einem Raum ohne Bezugspunkte der Begriff Geschwindigkeit seinen Sinn verlor. Er verstand das Naturgesetz nicht, das es trotzdem erforderlich machte, die SOL zu beschleunigen, bis sie ohne unnötigen Aufwand in den Linearraum überführt werden konnte. Der einzige Referenzpunkt war die Hypersonde, die in der Nähe des Fernraumschiffs verankert worden war. Es war ein künstlich erschaffener Punkt, der vorher nicht existiert hatte. Bedurfte es dessen, um die Gültigkeit der Naturgesetze zu wahren, die in Wirklichkeit weiter nichts als die Formulierung einer Modellvorstellung darstellten, die der Mensch sich vom Wirken der Natur angefertigt hatte. Was wäre, wenn es die Sonde nicht gäbe? Müßte die SOL dann immer noch beschleunigen, um auf möglichst wirtschaftliche Art und Weise in den Linearraum überwechseln zu können? Aus den Augenwinkeln erfaßte er ein rotes Blinken. Er wandte den Blick und sah auf der Datensichtscheibe eine knappe Meldung: ORTER ERFASST FREMDES OBJEKT, DISTANZ 25 LICHTJAHRE. »Countdown stop!« reagierte er noch in derselben Sekunde. Die Robotstimme verstummte. Gemurmel klang auf. Breckcrown Hayes aktivierte die dreidimensionale Orteranzeige. Ein schwacher Reflex erschien an
der Grenze des äußersten Koordinatenkreises. Der Computer hatte inzwischen die Komponenten des Radiusvektors ermittelt. Hayes überflog die Daten mit neugierigem Blick – und stutzte. Er wandte sich an Vorlan Brick, den Chefpiloten. »Auf welchem Kurs ist Collinia Brackfaust davongeflogen?« wollte er wissen. Brick rief die entsprechenden Daten aus dem Speicher ab. Breckcrown Hayes verglich sie mit den Werten des Vektors, der aus der Orteranzeige errechnet worden war, und grinste. Wenn man den Kurs, den die Korvette TERRA eingeschlagen hatte, durch die SOL hindurch auf die andere Seite verlängerte, dann erreichte man in einer Entfernung von 25 Lichtjahren das Objekt, das den Orterreflex erzeugte. Es befand sich genau in der entgegengesetzten Richtung, in der die TERRA sich entfernt hatte. Er griff nach den Kontrollen des Hyperfunks. Aber bevor er den Sender einschalten konnte, verschwand der Reflex von der Anzeige. Das überraschte ihn nicht. Er wartete geduldig, während man sich in der Umgebung über sein seltsames Verhalten den Kopf zerbrach. Ein paar Minuten vergingen, da sprach der Orter von neuem an. Der Reflex war diesmal kräftiger, außerdem befand er sich in unmittelbarer Nähe des Koordinatenursprungs. Der Hypersender lief an. Breckcrown Hayes zog den schimmernden Energiering des Mikrophons zu sich heran und sagte in überraschend freundlichem Tonfall: »SOL an TERRA. Willkommen, ihr Rückkehrer!« Collinia Brackfausts Erniedrigung fand nicht statt. Breckcrown Hayes und seine Mitarbeiter verhielten sich zurückhaltend und gingen mit keinem Wort auf die Regelwidrigkeit des Verhaltens der Erben Terranies ein. Vorerst, dachte Collinia und machte sich darauf gefaßt, daß das dicke Ende eines Tages noch nachkommen werde. Der Flug der TERRA würde dafür um so eingehender diskutiert. An dem Gespräch beteiligten sich Atlan und Sanny. Was Collinia und ihre Begleiter erlebt hatten, war einfach genug zu deuten. Sie
hatten geglaubt, sich auf geradem Kurs von der SOL zu entfernen, waren in Wirklichkeit jedoch der starken Raumkrümmung des fremden Mikrokontinuums gefolgt. Sie hatten, um genau zu sein, das Mikrouniversum zur Gänze umrundet und sich schließlich der SOL »von der anderen Seite her« wieder genähert. Zu einem Zeitpunkt, als sie das Fernraumschiff 220 Lichtjahre hinter sich wähnten, tauchte es plötzlich 30 Lichtjahre vor ihnen wieder auf. Die Maximaldimension des sternenleeren Mikrokosmos ergab sich somit zu rund 250 Lichtjahren. Der Flug der TERRA beantwortete einen Teil der Fragen, auf die Breckcrown Hayes' Experiment hatte Antworten liefern sollen. Andere Unklarheiten bestanden nach wie vor. War das Mikrouniversum sphärisch im vierdimensionalen Sinn, oder besaß es unregelmäßige Form? War die Raumkrümmung überall gleich? Gab es irgendwo ein »Loch«, durch das die SOL das unfreundliche, finstere Kontinuum verlassen konnte? Die Bordöffentlichkeit erfuhr von der Rückkehr der TERRA. Gleichzeitig wurde ihr mitgeteilt, daß das von Breckcrown Hayes geplante Experiment nach mehreren Stunden Verzögerung nun endlich doch durchgeführt werden solle. Gelegentlich einer Nachrichtensendung, die überall an Bord ausgestrahlt wurde, zeigten sich der High Sideryt und einige seiner Stabsspezialisten zusammen mit Collinia Brackfaust und demonstrierten freundliche Eintracht. Die allgemeine Stimmung in den drei Bestandteilen des Fernraumschiffs war weiterhin labil; aber es herrschte Ruhe. Die SOL setzte sich in Bewegung, nachdem die Hypersonde in Betrieb genommen und die für das Experiment erforderlichen Nachweisgeräte kalibriert worden waren. Die Impulsfolge, die die Sonde ausstrahlte, begann jeweils mit einem »Zählwort«, das Aufschluß darüber gab, wieviel Impulsserien der gegenwärtigen bereits vorausgegangen waren – so enthielt zum Beispiel das Zählwort der ersten Serie den Wert null. Damit und anhand des bekannten Impulsintervalls konnten Laufzeiten ermittelt und Entfernungen errechnet werden.
Breckcrown Hayes hatte zwei Linearetappen zu je fünfzig Lichtjahren angesetzt. Schon kurz nach der Rematerialisierung am Ende der ersten Etappe registrierten die Empfänger zwei Impulsserien – eine, die wie erwartet hinter der SOL hereilte, und eine zweite mit kaum merklich geringerer Signalstärke, die aus der entgegengesetzten Richtung kam. Der Laufzeitunterschied betrug etliche Mikrosekunden und bestätigte, was die TERRA gefunden hatte: die Maximaldimension des Mikrouniversums betrug zwischen 240 und 250 Lichtjahre. Das Phänomen wiederholte sich am Ende der zweiten Linearetappe. Von da an tastete sich die SOL mit kurzen Spürungen von jeweils zwei Lichtjahren weiter vor. Die Prozedur war umständlich und zeitraubend. Es verging ein halber Tag, bevor jener Punkt erreicht wurde, dessen Existenz Atlan und Sanny vorausgesagt hatten. Anstatt zwei Impulsfolgen registrierten die Empfänger deren sechs. Die SOL befand sich an dem Ort, an dem infolge der Raumkrümmung sämtliche sechs Abstrahlrichtungen der Hypersonde konvergierten. Man hatte die Hälfte der Maximaldimension des dunklen Mikrokosmos abgeflogen. Aus dem mit größter Sorgfalt gemessenen Energieverbrauch errechnete sich eine zurückgelegte Distanz von 122 Lichtjahren. 244 Lichtjahre waren mithin die größte Entfernung, die ein Objekt in diesem Kontinuum zurücklegen konnte, bevor es wieder an den Ausgangspunkt seines Fluges gelangte. Eine Analyse der aus sechs verschiedenen Richtungen empfangenen Impulsserien ergab, daß der Raum innerhalb der Meßgenauigkeit homogen war. Die Raumkrümmung hatte überall denselben Wert; die Zählworte zu Beginn einer jeden Impulsfolge waren identisch. Es gab keinen Laufzeitunterschied. Breckcrown Hayes blickte mit steinerner Miene vor sich hin, als ihm das Ergebnis der Auswertungen unterbreitet wurde. »Es war nötig, daß wir uns diese Kenntnis verschafften«, sagte er mißmutig. »Aber jetzt, da wir sie haben – was fangen wir damit
an?«
* Sanny hatte den Ablauf des Experiments von ihrer Unterkunft aus verfolgt. Auf ihren Wunsch hin waren dort die entsprechenden Anzeigegeräte installiert worden. Mit Hilfe ihrer paramathematischen Begabung errechnete die Molaatin die Dimensionen des fremden Kontinuums rascher als Breckcrown Hayes' Analysecomputer, der ein Ableger SENECAs war. Sie hatte sich aus dem Tumult der Kommandozentrale zurückgezogen, weil sie allein sein wollte. Das Experiment als solches interessierte sie nur am Rande. Das wichtigste der Ergebnisse war schon im vorhinein bekannt, und man brauchte kein Prophet zu sein, um die restlichen Resultate qualitativ vorauszusagen. Es ging nur noch um den exakten Zahlenwert für die Ausdehnung des Mikrokosmos und eine Angabe über die Homogenität des Raumes. Sannys Gedanken bewegten sich in der Zukunft. Gleichgültig wie aussichtslos die gegenwärtige Lage der SOL erscheinen mochte, sie zweifelte nicht daran, daß es eines Tages gelingen werde, aus der Falle des sternenlosen Mikrouniversums zu entkommen und in das bekannte Kontinuum zurückzukehren. Die Jagd nach Hidden-X, den die Roxharen den geistigen Faktor nannten und dem sie jetzt endlich die Loyalität aufgesagt hatten, ging weiter. Sie traute der Tatkraft Atlans und der mit ihm Verbündeten zu, daß sie die gegnerische Macht, die sich in Hidden-X verkörperte, bezwangen. Das Rätsel der verschwundenen Molaatenvölker würde gelöst, der Wiederaufbau der von den Nickeldieben zerstörten Welten fortgesetzt und abgeschlossen werden. Damit war für die fünf Molaaten, die die Solaner von einem Trümmerstück in der Sternenballung Bumerang gerettet hatten, der
Zeitpunkt des Abschieds gekommen. Es gab keinen Anlaß mehr, weiterhin an Bord der SOL zu bleiben. Sie wurden beim Wiederaufbau gebraucht. War das wirklich so? Für Oserfan, Drux, Filbert und Pina, die vier anderen Mitglieder der Gruppe, mit denen Sanny während der vergangenen Tage nur noch oberflächlichen Kontakt gehabt hatte, traf diese Überlegung sicherlich zu. Sie äußerten sich nicht darüber; denn sie teilten nicht den Optimismus, mit dem Sanny daran glaubte, daß die Lösung des Rätsels der verschwundenen Molaaten nur noch eine Frage der Zeit sei. War die Lösung jedoch erst gefunden, davon war Sanny überzeugt, würden weder Geld noch gute Worte die vier an Bord der SOL halten können. Und sie selbst? Zum ersten Mal wurde ihr in diesen Stunden der Einsamkeit mit aller Konsequenz deutlich, welche Wandlung sich in ihr während der vergangenen Monate vollzogen hatte. Sie hatte Atlans Bemühungen um die Einrichtung einer Friedenszelle in der Galaxis All-Mohandot miterlebt; sie war ein wesentlicher Bestandteil seiner Aktivitäten gewesen. Sie verstand die These des Arkoniden, wonach sich in diesem Fall des Universums die Auseinandersetzung zweier gegnerischer Superintelligenzen anbahnte. Das Wüten der Nickeldiebe, die im Grund ihres Wesens harmlose, liebenswerte Geschöpfe waren, der hilflose Superpazifismus der Pluuh, der verheerende Einfluß von Hidden-X, auf dessen Konto die Greueltaten der Nickelräuber gingen – all das waren letztlich Werke der fremden Superintelligenz Seth-Apophis. Ihr gegenüber stand ein Wesen, das bestrebt war, Ordnung und Frieden in seinem Sektor des Universums zu schaffen. Atlan nannte es ES und bezeichnete es als Beschützer der Menschheit, von der die Solaner abstammten. Er war überzeugt, von den Mächten jenseits der Materiequelle, denen er den Namen Kosmokraten gab, einen Auftrag erhalten zu haben. Der Auftrag besaß eine verwirrende Fülle verschiedener Aspekte, und manchmal wußte selbst der Arkonide nicht, ob die Tätigkeit, die er gerade verübte, im Sinn der
Kosmokraten war oder nicht. Aber im großen und ganzen lief sein Legat offenbar darauf hinaus, dem Bemühen der Superintelligenz ES durch die Einrichtung von Friedenszellen in einem Raumsektor, der »Limbus« genannt wurde, Vorschub zu leisten und ein Bollwerk gegen die Übergriffe des Fremdwesens Seth-Apophis zu schaffen. Sanny hatte sich von einem Hauch kosmischen Ahnens berührt gefühlt, als sie die Beweggründe des Arkoniden begriff und seine Handlungen zu verstehen begann. Hier war, repräsentiert durch Atlan, eine Kraft am Werk, die größer war als alles, was sie sich bisher hatte vorstellen können. Er hatte ihre Bereitschaft, mit ihm zusammenzuarbeiten, dankbar angenommen, und sie war im Lauf weniger Wochen zu einem wichtigen Mitglied des Teams geworden, das im Sinn der Kosmokraten arbeitete. Sie enthielt sich jeder Überheblichkeit; denn mutantische Fähigkeit, die sie in die Lage versetzt hatte, dem Arkoniden zu helfen, war eine Gabe der Natur, die sie sich durch nichts verdient hatte. Atlan würde sie weiterhin brauchen. Verließ sie die SOL, dann wurde seine Aufgabe schwieriger. Wollte sie aber die SOL überhaupt verlassen? Empfand sie wirklich nur die moralische Verpflichtung, Atlan in dieser schwierigen Lage nicht im Stich zu lassen – oder gab es daneben noch eine andere Regung, einen zugegebenermaßen nicht eben altruistischen Nervenkitzel, eine verhaltene Begeisterung darüber, daß ihr diese Möglichkeit, an der Begradigung kosmischer Verhältnisse mitzuarbeiten, quasi in den Schoß gefallen war? Sie dachte darüber nach. Sie war ehrlich. Sie wog das eine gegen das andere, das Große gegen das Kleine, die Mitarbeit am kosmischen Plan gegen ihre Pflicht als Molaatin. Und sie kam zu einem Entschluß. Mochten Oserfan, Filbert, Drux und Pina gehen, wohin es sie zog, sie selbst würde bei Atlan bleiben. Es erfüllte sie mit einem frohen Gefühl der Erleichterung, die nagende Ungewißheit endlich überwunden und einen klaren Entschluß gefaßt zu haben. Sie sah auf die Anzeigen der
verschiedenen Bildschirme. Das Experiment war abgeschlossen. Die SOL hing bewegungslos in einem Raum, in dem sich Bewegung nicht definieren ließ. Gab es einen besseren Zeitpunkt als diesen, dem Arkoniden mitzuteilen, wie sie entschieden hatte?
4. Er hatte die Möglichkeit des öfteren in Erwägung gezogen und sie wieder beiseite geschoben, weil er keine entsprechenden Anhaltspunkte finden konnte. Jetzt aber, als die Resultate des Experiments vor ihm lagen, wurde sie ihm zur Gewißheit. Er wandte sich an Breckcrown Hayes. »Da es einen Raum wie diesen nicht geben kann«, sagte er, »sehen wir ihn entweder nicht in seiner wahren Gestalt, oder er ist ein künstliches Gebilde, erschaffen von einem Unbekannten für den Zweck – ja, für welchen Zweck wohl?« Hayes nahm den Ball, den der Arkonide ihm zuspielte, geschickt auf. Ein Leuchten des Verständnisses erschien in seinen Augen. »Hidden-X!« stieß er hervor. »Es gibt keine andere Macht in diesem Abschnitt des Universums, die imstande wäre, einen künstlichen Mikrokosmos zu erschaffen. Und ihre Absicht ist klar. Sie will uns unschädlich machen.« »Woraus folgert«, fuhr Atlan an seiner Stelle fort, »daß die Zeit der Untätigkeit bald vorüber sein wird. Hidden-X wird erfahren wollen, ob sich der Fisch planmäßig in der Reuse gefangen hat.« »Es sei denn, es hätte die Absicht, uns hier einfach verrotten zu lassen. In einem finsteren Mikrokosmos, aus dem es keinen Ausweg gibt.« Der Arkonide schüttelte den Kopf. »Ich kenne Hidden-X nicht«, sagte er. »Aber nach allem, was wir bisher beobachtet haben, kann seine Mentalität von der unseren nicht allzu verschieden sein. Was empfändest du, wenn du eine Falle präpariert hättest und darauf
wartetest, daß sich etwas darin finge?« »Neugierde.« »Ja, und zwar nicht nur, ob sich etwas gefangen hat, sondern auch was. Wir haben Hidden-X zwei empfindliche Schlappen beigefügt: die Vertreibung aus dem Ysterioon und die Übereinkunft mit den Roxharen. Es muß sich fragen, wer das ist, der ihm da so eifrig am Zeug flickt. Es kennt uns ebensowenig wie wir es kennen. Es will uns unschädlich machen, gewiß. Aber vorher liegt ihm daran, zu erfahren, wer wir sind.« An dieser Stelle wurde die Unterhaltung unterbrochen. Ins Halbdunkel der großen Kommandozentrale fiel ein seltsames, fremdartiges Licht. Ein eigentümliches Raunen erhob sich im Hintergrund. Jemand stieß einen halberstickten Schrei aus. Atlan fühlte ein merkwürdiges Prickeln auf der Haut. Es war ihm, als sträubten sich die Nackenhaare. Und dann hörte er die fremde, flüsternde Stimme, von der er nicht wußte, ob sie der Gehörsinn erfaßte oder die Worte unmittelbar in seinem Bewußtsein materialisierten: »Chybrain, Chybrain …«
* Das Kristallei schwebte inmitten des weißen Runds, dicht über dem Boden. Buntes Leuchten ging von ihm aus. Die Oberfläche des Eies, das eine kleine Handspanne lang war und in aufrechter Haltung reglos verharrte, bestand aus hellrot und hellgrün glitzernden Sechsecken, die nahtlos ineinander übergingen. Niemand wußte, woher das seltsame Gebilde kam und welche Funktion es versah. Man nannte es Chybrain, nach den wispernden Lauten, die es von sich gab. Atlan betrachtete Chybrain als einen Helfer, den eine freundlich gesinnte Macht an Bord der SOL delegierte, wenn diese sich in einer kritischen Lage befand.
Chybrain schien weder aus Materie, noch aus Energie zu bestehen. Er war nicht ortbar, konnte nicht angefaßt werden und durchdrang jede Substanz, als sei sie nicht vorhanden. Der Arkonide vermutete, daß Chybrains Wesenheit ähnliche Charakteristiken besaß wie die »Jenseits-Materie«, die von Hidden-X erzeugt wurde. Die Farbgebung und das schwebende Verhalten wiesen darauf hin. Anfangen konnte er mit dieser Vermutung jedoch nichts. Chybrain wurde ihm dadurch um keine Nuance verständlicher. Im Hintergrund der weiten Halle öffnete sich ein Schott. Eine zwergenhafte Gestalt schob sich durch die hell erleuchtete Öffnung und kam mit trippelnden, raschen Schritten auf die zentrale Konsole zu. Atlan bückte sich und wollte Sanny aufheben, wie es seine Art war. Aber die Molaatin winkte ab und trat auf das glitzernde Ei zu. Ein paar Sekunden lang musterte sie es, als wolle sie sich über seine Natur klar werden. Oder als höre sie ihm aufmerksam zu, schoß es dem verblüfften Arkoniden durch den Kopf. Gespannte Stille herrschte ringsum. Chybrain hatte aufgehört zu wispern. Jedermann ahnte, daß etwas Ungewöhnliches im Gang war. Und dann geschah es. Sanny streckte die zierliche Hand aus. Atlan erwartete, sie geradewegs durch das glitzernde Ei hindurchgreifen zu sehen. Aber die Molaatin wölbte die hohle Hand zu einer Schüssel, berührte die untere Kuppe des Eies und hob Chybrain in die Höhe! Sie konnte ihn anfassen! Für sie war die Jenseits-Materie berührbare Substanz! Chybrain schwebte in die Höhe, löste sich aus Sannys Griff und trieb quer durch die Kommandozentrale auf die Wand zu. Den hochverdichteten Stahl der Wand durchdrang er ohne Mühe. Ein letztes Wispern war zu hören: »Chybrain, Chybrain« dann war das eigenartige Wesen verschwunden. Atlan rührte sich nicht. Er beobachtete, die Molaatin, die vor sich hinstarrte, als sei sie in Trance versunken. Aus den Augenwinkeln sah er Breckcrown Hayes an seiner Konsole hantieren. Er gab Anweisungen, daß man nach Chybrain forsche. Die Suche würde
ergebnislos bleiben, das war dem Arkoniden klar – und auch wohl Hayes. Aber zumindest ein Versuch mußte unternommen werden. Sanny erwachte aus ihrer Starre. Sie reckte Atlan die Arme entgegen und ließ sich von ihm aufnehmen. Er setzte sie auf die Kante eines Tisches. »Ich habe die Koordinaten«, sagte sie versonnen. »Welche Koordinaten?« wollte er wissen. »Die Koordinaten des Kurses, der uns aus diesem Raum hinausführt.« Sie sah zu Atlan auf. Ihr Blick war wach, das Blau ihrer Augen intensiver als je zuvor. »Seltsam, deswegen bin ich eigentlich gar nicht gekommen!« Dem Arkoniden brannten Dutzende von Fragen auf der Zunge. Sie alle betrafen den seltsamen Zwischenfall mit Chybrain. Aber er ließ Sanny gewähren. Er fürchtete, sie werde vergessen, was sie hatte sagen wollen, wenn er sie mit seiner Neugierde bestürmte. So sagte er nur: »Sondern aus welchem Grund?« Sie zögerte einen Augenblick, dann schüttelte sie heftig den Kopf – eine Geste, die sie von den Solanern gelernt hatte. Ein Ausdruck der Verwirrung erschien in ihren hellen Augen. »Ich habe nachgerechnet«, sagte sie, Atlans Frage völlig ignorierend. »Das Ziel, das Chybrain genannt hat, liegt in einer Entfernung von dreihundertsiebzehn Lichtjahren. Eine solche Distanz läßt sich in diesem Mikrouniversum nicht verwirklichen!« »Wir legen SENECA die Daten vor«, versuchte Atlan sie zu beruhigen. »Er soll die Entscheidung treffen.« Und zu guter Letzt gewann trotz aller standhaften Vorsätze die Neugierde die Oberhand. »Was sonst hat Chybrain zu dir gesagt? Wie teilte er sich dir mit? Wer ist er? Wer schickt ihn? Was ist seine Funktion? Warum läßt er uns …« Sanny hob die Hand und unterbrach den Fluß seiner Rede. Sie lächelte. »Ich kann deine Fragen nicht beantworten«, sagte sie. »Außer
einer. Chybrain hat mir nichts über sich selbst mitgeteilt. Er war hier und sprach zu meinem Bewußtsein. Dann verschwand er wieder, und ich weiß nicht, wo er jetzt ist.« Breckcrown Hayes gestikulierte von der Konsole des Kommandanten her. Atlan verstand ihn: die Suche nach Chybrain war erfolglos geblieben. Das fremde Wesen hatte sich, wie bei früheren Begegnungen, spurlos entfernt. »Außer einer«, erinnerte Atlan die Molaatin. »Welches ist diese eine Frage, die du beantworten kannst?« »Was Chybrain zu mir sagte«, reagierte Sanny. »Er sprach eine Warnung aus. Du sollst dich vor dem Schalter in acht nehmen!«
* Der Schalter. Wochen waren vergangen seit jener Begegnung mit dem geheimnisvollen Geistwesen Oggar, bei dem die Bewußtseine von Sternfeuer, Cpt'Carch und Insider sich vermutlich angesiedelt hatten. Beim Abschied hatte Oggar ihn wissen lassen, man werde einander wiedertreffen, wenn Atlan dem Schalter begegne. Sanny wußte von jener letzten Botschaft, die Oggar ihm hatte zukommen lassen. Es war müßig, darüber zu spekulieren, auf welche Weise Chybrain mit der Molaatin kommuniziert hatte und ob der Begriff »Schalter« wirklich erwähnt oder nur durch eine Verkettung zufälliger Umstände wieder an die Oberfläche ihrer Erinnerung gespült worden war. Der Arkonide entschloß sich, die Warnung ernst zu nehmen. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die gegenwärtige Lage aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Die SOL war in der Tat nicht »aus Versehen« in dieses allen Naturgesetzen widersprechende Mikrouniversum geraten. Der Flug des Fernraumschiffs folgte einen bestimmten Plan – mochte er nun von
Hidden-X oder jemand anderem ausgeheckt worden sein. In diesem Nichts, so deutete Atlan Chybrains Warnung, würde die Begegnung mit dem Schalter stattfinden, vermutlich an dem Ort, der durch Sannys Koordinaten bezeichnet wurde. Das finstere, sternenlose Kontinuum war entweder künstlich erzeugt, oder es sorgten besondere Vorkehrungen dafür, daß seine wahre Natur von der SOL aus nicht erkannt werden konnte. Unter diesem Aspekt mußte der Umstand gewertet werden, daß der Punkt, den Sannys Koordinaten definierten, weiter von der SOL entfernt lag, als die Maximaldimension des Mikrouniversums zuließ. Der Raum, in dem sich die SOL befand, ließ sich anhand der Gesetze, die sich auf die natürliche Entstehung von Universen bezogen, nicht erklären. Eine Entfernung von 317 Lichtjahren in einem Universum, dessen Maximalausmaß 244 Lichtjahre betrug, erschien nicht mehr sinnlos, wenn man in Erwägung zog, daß das Universum von einer fremden Macht manipuliert wurde. Diese Überlegungen teilte er Breckcrown Hayes mit und riet ihm dazu, sich getrost auf Sannys Koordinaten zu verlassen – gleichgültig, wie unsinnig sie auf den ersten Blick erscheinen mochten. Seiner Ansicht schlossen sich andere Mitglieder des AtlanTeams, darunter besonders Hage Nockemann, nachhaltig an. Das gab schließlich den Ausschlag; denn die Meinung unter den Stabsspezialisten war geteilt. Um seiner Sache vollkommen sicher zu sein, legte Hayes die Frage, ob man den von Chybrain benannten Punkt anfliegen solle, SENECA vor. Die Hyperinpotronik entschied, ein solcher Versuch könne nicht schaden. Einer aber war da, den die Vorbereitungen mit Unbehagen erfüllten: Bjo Breiskoll. »Wir gehen einer großen Gefahr entgegen«, sagte er zu Atlan, als er sicher war, daß niemand sonst ihn hören konnte. »Die fremde Mentalstrahlung ist so intensiv wie zuvor. Das Bewußtsein, von dem sie ausgeht, ist uns feindlich gesinnt. Es wartet auf uns. Es hat uns eine Falle gestellt!«
Atlan antwortete nicht sofort. Er wußte, daß er die Warnung des Mutanten ernst nehmen mußte. Schließlich sagte er: »Wir fliegen das unbekannte Ziel nicht an, weil wir vorwitzig unseren Hals riskieren wollen, sondern weil uns keine andere Wahl bleibt. Der einzige Weg aus diesem Mikrouniversum führt geradewegs in die Falle, von der du sprichst. Welches wäre unsere Alternative? Hierzubleiben, bis wir verdorren?« Bjo schüttelte traurig den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Aber es wäre gut zu wissen, daß wir uns der Gefahr mit der nötigen Vorsicht nähern. Die Öffentlichkeit darf nicht informiert werden, weil sie sonst die Nerven verliert. Wer garantiert uns, daß nicht irgendein Hitzkopf eine Dummheit begeht, die die SOL geradewegs in die Hände des Gegners spielt?« »Niemand«, antwortete der Arkonide hart. »Wir müssen die Augen offen halten, das ist alles.« Die SOL nahm Fahrt auf. Sie kehrte zunächst an den Ort zurück, an dem die Hypersonde ausgeschleust worden war, und nahm diese wieder an Bord. Dann erst setzte sie Kurs auf den Punkt, der von Chybrains Koordinaten bezeichnet wurde. SENECA selbst nahm die entsprechende Programmierung des Autopiloten vor. Da das geheimnisvolle Kristallei die Informationen in Form von Sprungdaten für den Linearflug übermittelt hatte, wurde angenommen, daß die gesamte Distanz in einer einzigen Linearphase zurückgelegt werden solle. Das widersprach menschlichem Empfinden. Atlan ebenso wie Breckcrown Hayes wäre lieber unterwegs ein- oder zweimal »aufgetaucht«, um sich zu orientieren – falls Orientierung überhaupt möglich war. Aber Chybrains Koordinaten waren eindeutig. Das einzige Zugeständnis, das dem intuitiven Unbehagen gemacht werden durfte, bestand darin, daß man den Überlichtfaktor für die Linearphase auf den geringen Wert von 1.000.000 ansetzte. Der Flug würde somit rund zweiunddreiviertel Stunden dauern. Bjo Breiskolls Warnung stand zuvorderst im Bewußtsein des
Arkoniden, als das mächtige Raumschiff bis zur Schwellengeschwindigkeit beschleunigte und in den Linearraum überwechselte. Sie befanden sich auf dem Weg in die Falle, die ein unbekannter Gegner ihnen gestellt hatte. Daß es sich bei dem Widersacher mit großer Wahrscheinlichkeit um Hidden-X handelte, machte die Lage nicht übersichtlicher. Hidden-X war ein Name – ausgedacht, um zum Ausdruck zu bringen, wie wenig die Solaner über das rätselhafte Wesen wußten. Hidden-X war ein Geheimnis. Es war ihnen gelungen, ihm eine Reihe von Niederlagen zu bereiten. Es hatte sich zurückgezogen. Aber jetzt befand es sich in seinem angestammten Bereich. Es hatte aus den bisherigen Schlappen gelernt. Es würde sich vorgesehen haben, daß es diesmal die Oberhand behielt. Breckcrown Hayes ließ die Halbraumspürer spielen. Sie fanden nichts. Jenseits der Hülle des Fernraumschiffs dehnte sich das absolute Vakuum, eine bodenlose Finsternis bar jeden Anhaltspunkts. Träge schlichen die Minuten dahin. Wajsto Kölsch und Brooklyn meldeten gespannte Ruhe in ihrem Kommandobereichen, den Solzellen 1 und 2. Gallatan Herts kontrollierte von seinem Schaltpult aus die Decks, Hallen und Korridore des zylindrischen Mittelteils und berichtete, daß auch hier die Menschen sich ruhig verhielten. Aber es war nicht die lockere, leicht gelangweilte Ruhe, wie sie sonst während ausgedehnter Linearphasen herrschte. Die Atmosphäre war von Spannung erfüllt. Die Menschen – und die Fremdwesen – an Bord der SOL schienen zu ahnen, daß am Ende dieser Etappe etwas Ungewöhnliches auf sie wartete. Sie spürten die näherkommende Gefahr. Die Distanz von 244 Lichtjahren wurde überwunden, ohne daß die Halbraumspürer etwas Ungewöhnliches registrierten. Die SOL hatte die längste Strecke zurückgelegt, die in diesem absonderlichen Mikrokosmos definiert werden konnte. Was war geschehen? Kreiste sie noch immer in dem aus Finsternis und Vakuum bestehenden Raum, oder hatte sie ein Loch gefunden, durch das sie in ein
anderes Kontinuum vorgestoßen war? Als das durchdringende Signal der Dreißig-Sekunden-Warnung verklang, war in der weiten, halbdunklen Kommandozentrale kein Laut mehr zu hören. Augen waren starr auf die kritischen Meßinstrumente gerichtet. Blicke fraßen sich an der mattschimmernden Oberfläche des Panorama-Bildschirms fest. Atlan ertappte sich dabei, wie er den Atem anhielt. Und dann – ein Licht! Das konturlose Hellgrau des Linearraums verschwand, machte der Schwärze des vierdimensionalen Alls Platz, und inmitten der Schwärze schien ein Licht! Ein einziger Stern, verloren fast in der endlosen Finsternis, sandte der SOL seine gelblichen Strahlen entgegen. Der Computer wertete die Tasterimpulse selbsttätig aus und errechnete die Entfernung der fremden Sonne: 50 Lichtminuten. Die SOL wäre mit ihrer Restfahrt seitwärts an ihr vorbeigeschossen. Aber der Autopilot handelte nach der Programmierung, die ihm von SENECA vorgegeben worden war, und brachte das große Schiff binnen weniger Minuten zum Stillstand – relativ zu der gelben Sonne, die die Spektralanalyse inzwischen als einen G2-Typ identifiziert hatte. Die zweite Entdeckung ließ nicht lange auf sich warten. Die Massetaster erfaßten ein Objekt, das in der Art eines Planeten um den fremden Stern kreiste. Bereits die ersten Messungen ergaben, daß der Satellit eine Reihe höchst bemerkenswerter Eigenschaften aufwies. Als Breckcrown Hayes der erste Satz Auswertungsdaten vorgelegt wurde, rief er überrascht aus: »Ein Planet so verrückt wie dieser ist mir mein ganzes Leben lang noch nicht vor Augen gekommen!« Und das wollte, angesichts der Erlebnisse um Roxha und das Ysterioon, eine ganze Menge heißen.
*
Die Mikrosonde betrachtete die fremde Welt aus einer Entfernung von wenigen tausend Kilometern. Ungewöhnliche Erregung hatte sich der Beobachter bemächtigt. Breckcrown Hayes' erstaunter Ausruf klang ihnen noch in den Ohren – und bei Gott, der High Sideryt hatte recht gehabt! Der »Planet« war eine kreisförmige Scheibe von 1822 km Durchmesser und einer Dicke von knapp dreizehn Kilometern (12,7 km war das Ergebnis der exakten Messung). Die Scheibe bestand, soweit sich das erkennen ließ, aus nacktem, natürlich gewachsenem Fels. Auf einer ihrer beiden Oberflächen bot sich dem Blick des Betrachters eine Landschaft dar, wie sie paradiesischer und erdähnlicher nicht gedacht werden konnte. Eine Bergkette, deren höchster Gipfel 4800 m über das Nullniveau der Scheibe emporragte, säumte den Rand der weiten Ebene im Halbkreis. Am Fuß der Berge wechselten Prärien und bewaldetes Gelände, Seen und kultivierte Flächen miteinander ab. Die Sonde identifizierte eine Reihe von Ansiedlungen, die offenbar von intelligenten Lebewesen bewohnt wurden. Ebenfalls in der Nähe der Berge lag eine Zone, die von dichtem Nebel bedeckt war, so daß die Sonde ihre eigentliche Beschaffenheit nicht erkennen konnte. Auf der Scheibe herrschte offenbar ein künstliches Schwerefeld. Die Sonde konnte davon nichts feststellen; aber aufrecht wachsende Vegetation und Seen bilden sich nur dort, wo ein Mindestmaß an Gravitation existiert. Eine Atmosphäre war ebenfalls vorhanden. Von der Zusammensetzung her war sie ein Duplikat der Lufthülle Terra – und der Atmosphäre, die an Bord der SOL herrschte. Sie reichte ohne nennenswerte vertikale Druckunterschiede bis zu einer Höhe von 14,2 Kilometern und endete dort abrupt. Eine Reihe anderer Züge wies ebenfalls darauf hin, daß der Erschaffer dieses seltsamen Gebildes die Erde im Sinn gehabt haben mußte. Die riesige Scheibe bewegte sich mit einem mittleren Bahnradius von 149.000.000 km um ihr Zentralgestirn, das selbst wiederum der terranischen Sonne so ähnlich war wie ein Ei dem
anderen. Anstelle einer Eigenrotation führte die Scheibe eine eigenartige Torkelbewegung aus. Sanny war die erste, die erkannte, daß es sich dabei in Wirklichkeit um eine simultane Drehung um alle drei geometrischen Achsen handelte. Damit nicht genug: die Torkelbewegung hatte zur Folge, daß ein »Tag« auf der Oberfläche der Scheibe eine Dauer von 24 Standardstunden hatte und sich in zwei zwölfstündige Perioden von Helligkeit und Dunkelheit unterteilte. All dies ermittelte Sanny aufgrund ihrer paramathematischen Begabung, ohne Unterstützung durch einen Computer. Sie setzte ihrem rechnerischen Werk die Krone auf, indem sie willkürlich das Zentrum der halbkreisförmigen Bergkette als NORD definierte, woraus sich ergab, daß die Sonne über der paradiesischen Landschaft im Osten auf- und im Westen unterging. Inzwischen hatte Breckcrown Hayes versucht, auf funktechnischem Weg Verbindung mit der Zivilisation aufzunehmen, die die Oberfläche der Scheibe bevölkerte. Ein Erfolg stellte sich jedoch nicht ein. Die Sonde ging ein paar hundert Kilometer tiefer und inspizierte die Objekte, die als Siedlungen identifiziert worden waren, mit besonderer Sorgfalt. Es stellte sich heraus, daß sie durchweg aus Gebäuden primitiver Bauart bestanden. Daraus ließ sich ableiten, daß die Bewohner dieses Teils der Scheibe die Methoden der elektromagnetischen oder gar hyperenergetischen Kommunikation noch nicht entwickelt hatten. Eine Vermessung des Spektrums des scheibenförmigen Planeten ergab überdies, daß es rein thermischer Natur war und keine von der Technik intelligenter Wesen hinzugefügten künstlichen Komponenten aufwies. Die Beobachtung der Scheibe und die Fülle erstaunlicher Beobachtungsergebnisse hatten in der Kommandozentrale der SOL beträchtliche Aufregung erzeugt. Nur einer blieb ruhig und musterte das Bild, das die Sonde übertrug, mit einer Zurückhaltung, die Unbehagen widerspiegelte: Bjo Breiskoll. Atlan entging die Verdrossenheit des Mutanten nicht. Aber er hütete sich, ihn
anzusprechen. Bjo würde sich von selbst zu Wort melden, wenn es an der Zeit war. Er tat es, als Breckcrown Hayes Befehl gab, die Sonde einzuholen. »Und jetzt«, sagte Bjo zu Atlan, »werdet ihr nichts Eiligeres zu tun haben, als diese Landschaft im Nichts anzufliegen und euch an Ort und Stelle umzusehen, nicht wahr?« Die Landschaft im Nichts! Er sprach die Worte bitter, fast mit Abscheu. Aber die, die in der Nähe saßen, hatten ihn gehört. Der Name würde bleiben. Treffender hätte niemand die fremde Kunstwelt bezeichnen können. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, antwortete der Arkonide. »Wir haben keinen anderen Anhaltspunkt. Das ist die Falle, von der du sprachst. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns hineinzuwagen.« »Die feindliche Strahlung ist so intensiv wie noch nie zuvor«, sagte der Mutant. »Aber ich kann nicht erkennen, woher sie kommt. Ich habe eine Bitte, die du mir hoffentlich nicht als Ausdruck der Feigheit auslegen wirst.« »Ich kenne keinen Menschen, dem es in den Sinn kommen würde, Bjo Breiskoll einen Feigling zu nennen«, erklärte Atlan. »Du willst an dem Spähtrupp nicht teilnehmen?« »Das ist es«, bestätigte Bjo. »Ich traue dieser Scheibe nicht, solange ich nicht feststellen kann, woher die fremde Mentalstrahlung kommt. Von hier aus kann ich mich eingehender mit ihr befassen. Auf der Landschaft im Nichts wären mir die Bewußtseine der Eingeborenen im Weg.« »So soll es sein«, entschied Atlan. »Du bleibst hier, während wir uns die Scheibe aus der Nähe ansehen. Sobald du erkennst, aus welcher Richtung uns Gefahr droht, schickst du uns eine Warnung.«
5.
»Wie kommt's, daß sie ausgerechnet dich als Piloten gewählt haben, Großer?« erkundigte sich Uster Brick spöttisch. »Wo doch jeder weiß, daß ich von uns beiden der Bessere bin?« Vorlan Brick, sechs Fuß und ein paar Zoll groß, musterte seinen Zwillingsbruder mit mitleidigem Blick. »Sie wissen, wie schwer es dir fällt, dich von deinem Mädchen loszureißen«, antwortete er. »Deswegen haben sie mit mir vorliebgenommen.« »Was für ein Mädchen?« regte Uster sich auf. »Ich weiß von keinem Mädchen!« »Du meinst, du hast mir gestern wieder einen Bären aufgebunden, als du mir von deiner neuesten Liebe erzähltest?« erkundigte sich Vorlan lachend. Uster verzog mißmutig das Gesicht. Er schüttelte den Kopf; aber dann reckte er sich auf die Zehenspitzen und versetzte dem Bruder einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Ich sollte inzwischen gelernt haben, daß es zu nichts führt, wenn ich mich mit dir anbinde, Großer«, sagte er resignierend. »Du bist zu schlau für mich. Also mach's gut!« »Und du benimm dich, Kleiner, während ich weg bin«, reagierte Vorlan. Ohne freundliche Kabbelei ging es bei den Brick-Zwillingen nicht ab. Sie waren beide Chefpiloten, und auf ihrem Fachgebiet stand der eine dem andern in nichts nach. Trotzdem war es ihnen zur Gewohnheit geworden, einander wegen vermeintlicher Unfähigkeit zu verspotten, wobei jeweils der eine behauptete, ein besserer Pilot als der andere zu sein. Sie waren kräftige, negroide Gestalten mit pechschwarzem Haarwuchs, leicht wulstigen Lippen und samtbrauner Hautfarbe. Zum weiblichen Geschlecht besaß keiner der beiden Brüder eine feste Bindung – wiederum ein Anlaß zu manch spöttischer Bemerkung. In Wirklichkeit aber waren sie ein Herz und eine Seele, was sie stets dann unter Beweis stellten, wenn Not am Mann war.
Atlan hatte eine Mannschaft zusammengestellt. Sie bestand – neben ihm selbst – aus Vorlan Brick, der die Rolle des Piloten übernahm, Sanny, Hage Nockemann, dem kauzigen GalaktoGenetiker, und der ehemaligen Magnidin Curie von Herling, die seit der Umorganisation der SOL-Hierarchie das Funk- und Ortungswesen leitete. Außerdem hatte sich der Arkonide trotz schwerwiegender Bedenken bereit erklärt, Collinia Brackfaust und fünf ihrer Anhänger von der Organisation »Erben Terranies« mitzunehmen. Collinias Versicherungen, daß man sich genau an seine Anweisungen halten werde, hatten ihn nicht überzeugt. Aber für den Fall, daß sie wirklich geneigt war, mit ihm zusammenzuarbeiten, war von Vorteil, daß er es mit Menschen zu tun hatte, die frei von jener Phobie waren, die die meisten Solaner gegenüber dem Aufenthalt auf der Oberfläche eines Himmelskörpers empfanden. Als Fahrzeug stand ihm eine Korvette mit der offiziellen Bezeichnung SZ-2-11 und dem Eigennamen FRESH zur Verfügung. Das kleine Raumschiff legte um 14:28 Uhr Bordzeit am 16. Juli 3792 von der SOL ab und nahm Kurs auf den eigenartigen, scheibenförmigen Planeten, der inzwischen auch offiziell den Namen »Landschaft im Nichts« erhalten hatte.
* Die FRESH näherte sich der fremden Welt mit geringer Geschwindigkeit. Atlan hatte die Kommandokonsole in der Zentrale der Korvette übernommen. Die ständig wechselnden Anzeigen der Meßinstrumente hielten ihn beschäftigt. Nur selten fand er Zeit, aufzublicken und sich in seiner Umgebung umzusehen. Collinia Brackfaust hatte die Funktion der Kopilotin übernommen. Sie war eine attraktive und zugleich resolute junge Frau. Atlan erinnerte sich gern an Valara, die Collinia als ihre Mutter
bezeichnete, ohne beweisen zu können, daß die Verwandtschaft in der Tat existierte. In Valaras Begleitung hatte er seine ersten Tage an Bord der SOL verbracht – damals, kurz nachdem die Kosmokraten ihn entlassen hatten. Auf der Flucht vor den Häschern, die Chart Deccon und die Magniden hinter ihnen hersandten, hatten sie unter vielen Gefahren weite Bereiche des großen Raumschiffs durchquert. Collinia besaß eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit der Frau, die sie ihre Mutter nannte – im Aussehen sowohl wie im Gehabe; und allein aufgrund dessen war Atlan bereit, sie für Valaras Tochter zu halten. Aber was für Begleiter hatte sie sich ausgesucht! Gar nicht zu reden von den zwei ebenso unscheinbaren wie unbedarften Gestalten, die sie zu irgendwelchen Aufgaben in den Laderäumen der Korvette delegiert hatte: wie war sie zu diesen Menschen gekommen, die sie stolz ihre »Leutnante« nannte – Feslo Rakka, einem fetten jungen Kerl, dessen Verhalten gegenüber Frauen von einer stark entwickelten, jedoch selten befriedigten Libido zeugte und der während dieses kritischen Fluges weiter nichts zu tun hatte, als Onko Valdiz mit reichlich eindeutigen Blicken zu mustern – dann Part One, der einen relativ nüchternen und überlegten Eindruck machte, jedoch offensichtlich an einer Macke merkwürdigster Art litt – und schließlich Onko Valdiz selbst, die ihrerseits nur aufdringliche Blicke für Part One übrig hatte. Was waren das für Leutnante? Und was hatte es mit den Erben Terranies wirklich auf sich? Atlan war bereit, Collinia zuzugestehen, daß ihre Absicht ehrlich, ihre Motive aufrichtig seien. Aber der Mehrzahl ihrer Anhänger traute er nicht über den Weg, und er fürchtete obendrein, daß Collinia im Begriff stand, ihrem Einfluß zu verfallen. Curie von Herling las mit eintöniger Stimme die Anzeigen der Orter und Taster, während die FRESH sich der Landschaft im Nichts mit einer verhaltenen Geschwindigkeit von 80.000 km/sec. näherte. Das war überflüssig, denn die automatische Auswertung spielte die Daten auf jedes Videogerät; aber es gab ihr in diesen
Stunden der Untätigkeit etwas zu tun. Vorlan Brick oblag seiner Aufgabe als Pilot mit jener Art gemessenen Eifers, die ihm ein einwandfrei funktionierender Autopilot ermöglichte. Hage Nockemann saß an einer Konsole, die mit einer Handvoll weit vorab schwebender biophysikalischer Sonden gekoppelt war, und Sanny, die sich gegen sein Datensichtgerät lehnte, leistete ihm Gesellschaft. Aus einer Entfernung von dreißig Lichtminuten hatte der Bordcomputer der FRESH die zunächst überwältigende Auswahl geeigneter Landeplätze bis auf drei eingeengt. Die Kriterien, nach denen er sich richtete, waren die üblichen: Ebenheit und Übersichtlichkeit des Geländes, geringe Besiedlungsdichte, maximale Dauer der Helligkeitsperiode. Jetzt traf er seine endgültige Entscheidung. Die Landschaft, die er als optimales Zielgelände definierte, wurde von einem See beherrscht, dem aufgrund der glitzernden Erscheinung seiner Oberfläche, von der die Sonden ein lebhaftes Bild vermittelten, der Name »Kristallsee« gegeben worden war. Der Kristallsee lag im südlichen Teil der Planetenscheibe. Unweit seiner Ufer lag ein kleines Dorf, das die einzige Ansiedlung im Umkreis von dreißig Kilometern darstellte. Die Entscheidung des Bordcomputers wurde der SOL automatisch mitgeteilt. Etwa in diesem Augenblick geschah es, daß Collinia Brackfaust einen Anruf von ihren anderen beiden Begleitern erhielt, die in einem der Laderäume mit der Bereitstellung von Bodenfahrzeugen beschäftigt waren. Sie waren auf Schwierigkeiten gestoßen. Atlan erfuhr nicht, welcher Art diese waren; er ließ es auch widerspruchslos geschehen, daß Collinia ihre »Leutnante« Part One und Feslo Rakka nachsehen schickte. Erst als Rakka und Part One wenige Minuten später weitere Hilfe anforderten, wandte er sich an die junge Frau und erklärte: »Ich verlasse mich darauf, daß du unser Abkommen einhältst und keine Unternehmungen auf eigene Faust durchführst.« Collinia Brackfaust erwiderte seinen Blick gelassen. »Ich habe nichts dergleichen im Sinn«, erwiderte sie.
Er glaubte ihr; aber gleichzeitig wuchs in ihm die Überzeugung, daß sie nicht mehr Herrin ihrer eigenen Entschlüsse war. Collinia und Onko Valdiz verließen die Zentrale, um im Laderaum nach dem Rechten zu sehen. Wenige Sekunden später meldete sich Bjo Breiskoll über Hyperkom. »Ich bin eigentlich mit anderen Dingen beschäftigt«, sagte er. »Aber es entgeht mir nicht, daß einige der Mitglieder deiner Expedition einen Aufstand planen.« »Collinia?« fragte Atlan zurück. »Nein, sie ist unschuldig. Aber es bleibt ihr nichts übrig, als den anderen fünf zu folgen. Es sieht so aus, als sei ihre Rolle als Anführerin der Erben Terranies ausgespielt.« »Das ist bedauerlich«, sagte der Arkonide. »Von allen Erben die ich bis jetzt kennengelernt habe, ist sie die einzige, die ein normales Gehirn im Kopf hat. Sie wollen die FRESH verlassen?« »Mit einer Space-Jet«, bestätigte der Mutant. »Die Vorbereitungen sind getroffen. Das Öffnen der Schleuse wird auf der Zentralkonsole nicht angezeigt werden. Sie haben ein paar Spezialisten dabei, die sich auf ihr Fach verstehen.« Das mußten die beiden unscheinbaren Gestalten sein, dachte Atlan mißfällig. »Sie mögen sich an der Landschaft im Nichts die Schädel einrennen«, antwortete er dem Mutanten. »Du willst sie nicht aufhalten?« »Wozu? Ich brauche keine unsicheren Kantonisten, die mir die Arbeit erschweren. Mögen sie vorausreisen. Vielleicht erhalten wir durch ihr voreiliges Handeln ein paar brauchbare Hinweise.«
* Der Ortungsreflex erschien wie hingezaubert inmitten des Koordinatengitters. Er war deutlich und lichtstark – das Abbild
eines Fahrzeugs, das sich in unmittelbarer Nähe der FRESH befand. Die Erben Terranies mußten damit gerechnet haben, daß die FRESH sie sofort anrufen und ihnen nachsetzen würde. Aber Atlan tat ihnen den Gefallen nicht. Er ließ sie gewähren. Die Space-Jet hielt mit höchster Beschleunigung auf die Landschaft im Nichts zu. Es vergingen vierzig Sekunden. Die Jet erreichte den Halbierungspunkt ihrer Bahn und begann mit dem Bremsmanöver. Sie bewegte sich mit hochrelativistischer Geschwindigkeit. Der Hyperkom sprach an. Der Bildempfänger leuchtete auf. Part Ones markantes Gesicht erschien. »Wir melden uns, die Erben Terranies«, sagte er. »Wir nehmen die Gelegenheit wahr, uns auf der Oberfläche des einzigen Planeten anzusiedeln, den dieses Universum enthält.« »Ihr seid schlimmere Narren, als ich gedacht hatte«, antwortete Atlan ernst. »Warum sprichst du zu mir, und nicht Collinia?« Part Ones Augen blitzten. »Collinia stimmt völlig mit uns überein!« erwiderte er gereizt. »Sie hat mich beauftragt, zu dir zu sprechen.« »Das lügst du!« schleuderte der Arkonide ihm entgegen. »Du weißt, daß du mich nicht hinters Licht führen kannst. Mir stehen Mittel zur Verfügung, zu erfahren, wie Collinia in diesem Augenblick empfindet.« »Mehr habe ich nicht zu sagen«, erklärte Part One düster und trennte die Verbindung. Der Orterreflex der Space-Jet blieb noch eine Zeitlang sichtbar, dann verschmolz er mit dem hundertfach intensiveren Bild der Landschaft im Nichts. Matte Streuimpulse wurden weiterhin empfangen. Aus ihnen ging hervor, daß die Jet in derselben Gegend zu landen gedachte, die auch die FRESH sich als Ziel ausgesucht hatte. Atlan verzichtete darauf, das Fahrzeug der Erben Terranies durch Sonden verfolgen zu lassen. Es genügte ihm, festzustellen, daß die Space-Jet offenbar eine völlig normale Landung vollzog. Die Triebwerke erstarben; dann herrschte Ruhe im Äther.
Die SOL war längst in Kenntnis gesetzt. Es gab von dort keinen Kommentar. Atlan allein hatte zu bestimmen, wie er mit seiner Mannschaft zurechtkam. Trotzdem wandte sich der Arkonide an Bjo Breiskoll. »Ich weiß, daß du Wichtigeres zu tun hast«, sagte er. »Aber paß ein wenig auf sie auf. Sie sind Narren und Lügner, aber wenn Hidden-X ihnen an den Kragen will, müssen wir eingreifen.« Die FRESH setzte ihre gemächliche Fahrt fort. Nach etlichen Stunden bezog sie eine Position zehn Kilometer über dem Gewässer, das den Namen Kristallsee erhalten hatte. Die Teleskope erfaßten die Space-Jet, mit der die Erben Terranies auf der Landschaft im Nichts gelandet waren. Sie stand in unmittelbarer Nähe der kleinen Siedlung, die bereits zuvor ausgemacht worden war. Von der Besatzung ließ sich vorläufig keine Spur finden. Innerhalb des Dorfes jedoch herrschte reger Betrieb. Ausschnittsvergrößerungen zeigten humanoide Wesen, die bis auf silbern schimmernde, umhangähnliche Objekte, die sie über Schultern und Rücken drapiert hatten, nackt zu sein schienen. Eine Aufnahme, nahe der Auflösungsgrenze der Teleskope, zeigte eine menschliche Gestalt in einer lindgrünen Montur. Das Bild war verschwommen; aber für Atlan bestand kein Zweifel daran, daß die Besatzung der Space-Jet von den humanoiden Bewohnern des Dorfes freundlich aufgenommen worden war. Die FRESH hing in der Blase eines künstlichen Schwerefelds, die das Feldtriebwerk erzeugte. Aus dem Energieverbrauch ließ sich errechnen, daß die Gravitation der Landschaft im Nichts genau ein Gravo betrug, den terranischen Standardwert. Auch hier wieder ein Hinweis darauf, daß beim Entwurf des Kunstplaneten ein Modell der Erde Pate gestanden hatte. Oder das Modell SOL? Atlan hatte nach kurzem Überlegen entschieden, daß trotz aller positiven Anzeichen weiterhin Vorsicht geübt werden müsse. Die FRESH würde auf ihrer jetzigen Position verharren, während eine zweite Space-Jet die Landschaft im Nichts anflog und dort zu
landen versuchte. Die Besatzung der Jet bildete Hage Nockemann, Sanny und er selbst. Curie von Herling übernahm das Kommando über die Korvette. Auch Vorlan Brick blieb an Bord. Sekunden vor dem Start der Space-Jet nahm er noch einmal Verbindung mit Bjo Breiskoll auf. »Es gibt nichts Neues«, versicherte ihm der Mutant. »Die feindliche Strahlung ist nach wie vor vorhanden, aber ich weiß noch immer nicht, woher sie kommt. Wenn du mich fragtest, ob ich ihren Ursprung irgendwo innerhalb der Landschaft im Nichts vermute, könnte ich dir nicht einmal diese Frage beantworten.« »Wir gehen nach unten«, entschied der Arkonide. »Es hat keinen Zweck, die Sache weiter hinauszuzögern.« »Nimm dich in acht«, warnte Bjo. Das Hangarschott glitt auf. Die Space-Jet glitt in die lichterfüllte Atmosphäre des Kunstplaneten hinaus.
6. Collinia Brackfaust war zornig. »Ich habe Atlan mein Wort gegeben!« explodierte sie. »Ihr habt kein Recht, hinter meinem Rücken …« »Du vergißt unseren Irrflug mit der Korvette TERRA«, fiel ihr Part One ernst ins Wort. »Was ist damit?« fuhr sie auf. »Dein Ansehen hat gelitten. Die Erben Terranies sind nicht mehr rückhaltlos davon überzeugt, daß du die geeignete Sprecherin bist.« Collinia bäumte sich in ihrem Sessel auf. Part One und die andern hatten sie an Bord der Space-Jet geführt – angeblich, um ihr etwas Erstaunliches zu zeigen. Sie hatten sie dazu gebracht, sich in den Sessel des Kopiloten zu setzen, und ihr die Gurte angelegt. Gurte, deren Verriegelung sich nicht auf die übliche Art und Weise lösen ließ. Die ganze Sache war von langer Hand vorbereitet.
»Ich bin Valara Brackfausts Tochter und Erbin!« schrie sie voller Wut. Part One wiegte bedächtig den Schädel. »Selbst darüber sind sich die Leute nicht ganz im klaren«, sagte er. »Bist du's wirklich?« »Ich habe den Brocken!« »Es gibt vielerlei Spekulationen, wie du ihn an dich gebracht haben könntest, ohne Valaras Tochter zu sein«, hielt ihr Part One entgegen. »Du bist ein Lügner und ein Scheusal!« spie sie ihn an. »Meinetwegen«, lächelte er. »Aber ich vergesse unsere Ziele nicht.« Er wies auf die Bildfläche, die vorläufig noch von den Aufnahmegeräten der FRESH versorgt wurde. »Dort schwebt der einzige Planet, den dieses Universum enthält – eine paradiesische Welt, wie geschaffen für den Aufenthalt von Menschen, die von Terra stammen. Wieviele Gelegenheiten haben wir schon versäumt? Wollen wir auch diese ungenutzt verstreichen lassen?« Feslo Rakka schob sich vorbei. Er war kein Freund lauter Auseinandersetzungen. »Sieh doch auch die Vorteile«, bat er Collinia, das feiste Gesicht zu einem maskenhaften Lächeln verzerrt. »Wir erreichen endlich unser Ziel. Wir lassen uns auf der Oberfläche eines Planeten nieder …« »Auf der Oberfläche eines Planeten, der als Falle für uns gedacht ist!« fiel ihm Collinia ins Wort. »Wer mag das sagen? Atlans Theorien haben für uns keine Gültigkeit. Dort läßt sich leben – das ist das Wichtigste.« Ein lüsterner Ausdruck erschien in seiner Miene. »Und du und ich, wir können vielleicht …« »Laß mich aus dem Spiel und mach deine Pläne mit jemand anderem, du Fettwanst!« fauchte Collinia ihn an. Part One schüttelte den Kopf. »Sie läßt sich jetzt nicht beruhigen«, stellte er fest. »Wir machen uns besser auf den Weg, bevor der Arkonide Verdacht schöpft.« Das Ausschleusmanöver war längst vorprogrammiert. Part One
überließ keine Phase dieses Unternehmens dem Zufall. Er hatte erwartet, von der FRESH sofort angesprochen, wahrscheinlich sogar verfolgt zu werden. Daß die Korvette sich völlig ruhig verhielt, als hätte sie den Aufbruch der Space-Jet nicht bemerkt, verwirrte ihn eine Zeitlang und machte ihn unsicher. Er wartete, bis er die Hälfte der verbleibenden Distanz zurückgelegt hatte, bevor er sich meldete. Die kurze Unterhaltung mit Atlan machte ihn zornig. Er wußte, daß der Arkonide recht hatte. Er konnte ihn nicht täuschen. Sein unheimlicher Verbündeter – Bjo Breiskoll, der Mutant – wachte über die Bewußtseine derer, die sich dem Gebot der Schiffsführung nicht widerspruchslos beugten. Er schob die finsteren Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die grüne Scheibe des fremden Planeten, der ihm aus der Finsternis des Alls heraus entgegenwuchs.
* Eine Szene sonnendurchtränkter Friedlichkeit breitete sich unter der Space-Jet aus, als das kleine Raumfahrzeug am Südwestrand des Kristallsees zur Landung ansetzte. Langhalmiges Gras bewegte sich träge unter einer sanften Brise, die gekräuselte Wellenmuster auf die Oberfläche des Sees malte. Büsche, besetzt mit großen, bunten Blüten ragten hier und dort aus dem Gras empor. Ein Pfad führte von links her aus der Prärie herbei, umrundete das Südufer des Sees und strebte in Richtung des Dorfes. Tiefe Ruhe überkam Collinia Brackfaust bei diesem Anblick. Es kam ihr in den Sinn, daß sie Part One womöglich Unrecht getan hatte. Wenn die Landschaft im Nichts so friedlich war, wie sie aussah, dann war sie vielleicht doch der richtige Ort für die Erben Terranies. Sie hatte die Gurte inzwischen ablegen dürfen. Part One hatte die übrigen Mitglieder der Gruppe befragt. Sie waren alle dafür
gewesen, daß Collinia ihre Freiheit wiedererhielt mit einer Ausnahme: Onko Valdiz. Collinia verstand sie. Sie sah in ihr die Widersacherin. Einer Frau wie Onko konnte nichts Herrlicheres widerfahren, als mit vier Männern auf einem gottverlassenen Planeten zu stranden. Sie brauchte keine Konkurrenz. Collinia machte ihr Verhalten wenig aus. Männer waren in Wirklichkeit nicht so dumm, wie Frauen sie gerne hinstellten. Sie würden über kurz oder lang herausfinden, was von Onko Valdiz zu halten war. Bewegung am Rand der Bildfläche erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah Gestalten, die den Trampelpfad entlanggelaufen kamen – und noch zwei, die mit Hilfe glitzernder Schwingen dicht über das Gras hinwegglitten. Sie sah Wesen, die von Gestalt und Aussehen her wie Menschen wirkten – nur hatte die Natur sie mit Flügeln ausgestattet. Sie waren Bewohner des Dorfes, das unweit des vorgesehenen Landeplatzes am Ufer des Sees lag. Sie kamen, um das landende Fahrzeug zu begrüßen, daran bestand kein Zweifel. Sie waren unbewaffnet, und an ihren Bewegungen ließ sich erkennen, daß sie Freude und Begeisterung empfanden. Part One ließ die Space-Jet durchsacken und fing sie dicht über dem Boden wieder auf. Collinia reagierte auf seine Handlungsweise mit einem dankbaren Blick. Das Feldtriebwerk erzeugte eine geringfügige Ionisation der umgebenden Atmosphäre. Der Effekt war für Menschen ungefährlich; aber man wußte nicht, wie die Eingeborenen darauf reagieren würden. Part Ones Manöver zielte darauf ab, allen Schaden von ihnen fernzuhalten. Sie wußte seine Rücksichtnahme zu schätzen. Die Space-Jet setzte auf. Das halblaute Rauschen des Triebwerks erstarb. Gurte lösten sich mit leisem Klirren. Feslo Rakka stemmte sich ächzend aus seinem Sessel in die Höhe und sah sich fragend um. Collinia begriff, was in diesem Augenblick durch seinen langsamen Verstand ging, und ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Bring mir einen Translator«, fuhr sie ihn an. »Rasch! Wir dürfen die Begrüßungsdelegation nicht warten lassen, sonst meinen die
Eingeborenen, wir hätten Angst vor ihnen.« Feslo warf einen fragenden Blick in Richtung des Pilotenpults. Aber Part One reagierte nicht. Collinia war ihm um eine Sekunde zuvorgekommen. Seit sie gegen ihren Willen an Bord der Space-Jet gebracht worden war, stand die Frage offen, wer von nun an der Anführer der Expedition sein werde. Part One hatte sich für das Amt stark gemacht, aber als er die Gurte der Gefangenen erst nach demokratischer Umfrage lockerte, war ein Teil des Respekts, den ihm die anderen zollten, wieder davongeschwommen. Anführer veranstalten keine Umfragen; sie treffen ihre Entscheidungen aus eigener Kraft. Onko versuchte, Feslo in seiner Verwirrung zu Hilfe zu kommen. »Laß dir von ihr nichts sagen!« rief sie schrill. »Sie hat hier nichts …« »Du hältst den Mund!« schrie Collinia sie an. »Du bist die letzte, von der ich etwas hören will.« Onko duckte sich und schwieg. Feslo Rakka schlich sich betreten davon und kehrte wenige Augenblicke mit einem Translator zurück. Inzwischen lagen die letzten Auswertungsergebnisse vor. Die Atmosphäre der Landschaft im Nichts war in der Tat identisch mit der an Bord der SOL. Atemgeräte brauchten nicht getragen zu werden. Der Stand der Sonne bezeichnete annähernd dreizehn Uhr – Collinia sorgte dafür, daß einer der Bordchronometer entsprechend kalibriert wurde. Die Außentemperatur betrug 24 Grad. Sie hängte sich den Translator um den Hals und schritt auf die Schleuse zu, als hätte es nie einen Zweifel daran gegeben, daß sie die Leiterin dieses Unternehmens war. Die Schotte fuhren nacheinander auf. Ein schimmernder Energiesteg bildete sich automatisch und senkte sich auf das grasbewachsene Land hinab. Die Luft war warm und von fremdartigen, berauschenden Düften erfüllt. Von rechts her kamen helle, aufgeregte Stimmen. Die Restionisation der Luft erlosch mit leisem Knistern. Die beiden
schwebenden Gestalten glitten herbei und landeten unweit der Space-Jet. Collinia erkannte, daß ihre Flügel zu zwei Paaren angeordnet waren und in ihrem Verhältnis zur Körperlänge an Libellenschwingen erinnerten. Collinia Brackfaust hatte ihr Leben lang keine einzige Libelle jemals zu Gesicht bekommen. Aber als Sprecherin der Erben Terranies war sie verpflichtet, über alles Leben informiert zu sein, das auf Terra existierte; und mit den Mitteln, die ihr an Bord der SOL zur Verfügung standen, hatte sie diese Verpflichtung ernst genommen. Weitere Eingeborene erschienen aus der Mündung des Trampelpfades. Ihre Erscheinung war durchaus menschlich. Sie waren alle mit Libellenflügeln ausgestattet, nicht nur die beiden, die sich schwebend genähert hatten. Ihre Körpergröße variierte zwischen 1,60 und 1,80 Meter. Die silbrig glitzernden Flügel, die sich im inaktiven Zustand wie ein straffes Cape über Schultern und Rücken drapierten, stellten ihre einzige Bedeckung dar; ansonsten waren sie nackt. Collinia zählte insgesamt achtzehn Mitglieder der Begrüßungsdelegation. Acht davon waren weiblich. Sie hörte hinter sich ein lautes Schnaufen und fühlte Feslo Rakkas warmen Atem im Nacken. Mein Gott, wie soll das ausgehen? dachte sie verzweifelt. Die gesamte Mannschaft der Space-Jet hatte sich inzwischen hinter ihr versammelt. Sie stand am oberen Ende des Energiestegs und wartete voller Spannung darauf, daß die Eingeborenen zu sprechen begannen. Wie anders sollte der Translator seine Aufgabe versehen können? Er brauchte Input, bevor er die fremde Sprache entschlüsseln konnte! Einer der beiden Schweber, die in unmittelbarer Nähe der SpaceJet gelandet waren, entfaltete die Flügel und kam noch um ein paar Schritte näher. Er sah zu Collinia auf, und ein freundliches Lächeln erschien auf seinem sonnengebräunten Gesicht. Er öffnete den Mund und begann zu sprechen – und Collinia verstand ohne Zuhilfenahme des Translators:
»Willkommen auf unserer Welt! Ihr seid unsere Freunde und Gäste. Alles, was wir zu bieten haben, steht zu eurer Verfügung.« »Interkosmo«, murmelte Collinia verwirrt. »Sie sprechen Interkosmo!« Niemand hörte auf sie. »Das nenne ich einen Empfang!« krähte Feslo Rakka. Und Onko Valdiz fügte mit unverhohlenem Eifer hinzu: »Ich nehme den Burschen, der ganz rechts steht.« Sie drängten Collinia beiseite und stürmten den Energiesteg hinab. Drunten wurden sie von den Eingeborenen umringt und umarmt. Eine Freudenszene spielte sich ab, die Collinia so unwirklich vorkam, daß sie unwillkürlich einen Schauder empfand. Onko Valdiz, Feslo Rakka und die beiden Techniker wurden von den geflügelten Menschen in Richtung des Dorfes fortgeführt. Die Gruppe von Eingeborenen und Solanern bildete einen dichten und verwirrenden Haufen, aus dem laute und aufgeregte Stimmen erklangen. Einige der Geflügelten – Libellenmenschen hatte sie Collinia inzwischen bei sich genannt – hoben sich mit schwirrenden Schwingen in die Höhe und kreisten über den Köpfen der Meute. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß Part One noch immer hinter ihr stand. Sie wandte sich ihm zu. »Es wird schwer sein, sie davon zu überzeugen, daß dies nicht das Paradies ist, nach dem sie suchen«, sagte er mit schwerer Zunge. »Ist das deine Überzeugung?« fragte Collinia. »Daß wir nicht in einem Paradies gelandet sind?« Er zuckte mit den Schultern und sah sich um. »Ich weiß es nicht«, brummte er. »Es ist alles ein wenig zu vollkommen, zu perfekt zurechtgemacht, zu künstlich. Man hat den Eindruck, die Landschaft im Nichts sei nur erschaffen worden, um auf uns zu warten.« »Mit anderen Worten«, sagte Collinia grimmig, »du ziehst zu guter Letzt doch die Möglichkeit in Erwägung, daß Atlan recht hat.« »Ja, das tue ich«, gestand er nach kurzem Zögern.
»Es hätte dir früher einfallen sollen«, reagierte sie; aber es war kaum noch Ärger in ihrer Stimme. »Komm, wir müssen uns um diese Narren kümmern. Wir können sie nicht allein lassen.« Part One folgte ihr den Steg hinab. Das energetische Gebilde löste sich auf, nachdem Collinia einen kleinen Signalgeber betätigt hatte, und das Außenschott der Schleuse glitt in die verriegelte Stellung zurück. Zur absoluten Sicherung des Fahrzeugs gehörte des weiteren ein energetisches Schirmfeld, das ebenfalls mit Hilfe des Signalgebers aktiviert werden konnte. Collinia verzichtete darauf. Die Libellenmenschen machten auf sie nicht den Eindruck, als könnten sie den Riegel eines Schleusenschotts lösen. Das Energiefeld war unnötig – im Gegenteil: es bewirkte ein vergrößertes Ortungsrisiko. Sie schlugen den Pfad ein, auf dem sich die eifrig schwatzende, lachende Schar vor wenigen Minuten entfernt hatte. Aus dem Dorf schallte froher Lärm. Die freundliche Begrüßung wurde dort offenbar fortgesetzt. Die Gebäude der Siedlung waren korbförmige Häuser mit nach außen gewölbten Rundwänden, bedeckt mit Dächern, die die Form eines stumpfen Kegels besaßen. Die Stumpfheit des Kegels erwies sich bei näherem Hinsehen als ein Loch, das im Dach gelassen worden war, damit die Luft freier zirkulieren konnte. Als Baumaterial wurde ein bambusähnliches Rohr verwendet, das in der Nachbarschaft wahrscheinlich in ausgiebiger Menge wuchs. Die Häuser standen auf einer von allem Grasbewuchs befreiten, länglichen Lichtung und waren wahllos zueinander angeordnet, so daß sich kein erkennbarer Straßenverlauf ergab. Eines der korbförmigen Gebäude, annähernd in der Mitte der Siedlung gelegen, zeichnete sich gegenüber den anderen durch besondere Weite und Höhe aus. Collinia nahm an, daß dort derjenige wohnte, den die Libellenmenschen als ihren Anführer anerkannten. Mit ihm wollte Collinia sich unterhalten. Eine Reihe von Fragen brannte ihr auf der Zunge, darunter als wichtigste, warum die Bewohner der Landschaft im Nichts Interkosmo
sprachen. Im Dorf herrschte reger Betrieb. Zwischen den Korbhütten eilten Libellenmenschen hin und her. Sie riefen einander muntere Worte zu. Überall herrschten Aufregung und Freude, ohne Zweifel ausgelöst durch die Ankunft der fremden Besucher. Allmählich wurde Collinia unsicher. Gewiß, Part One hatte recht: es war alles ein wenig zu vollkommen, zu ideal. Aber war es künstlich? War all diese Fröhlichkeit nur geschauspielert? Und wenn ja -wer hatte das Schauspiel inszeniert? Zu welchem Zweck? Als sie sich der ersten Hütte näherten, trat aus dem Schatten des korbförmigen Bauwerks eine hochgewachsene Gestalt auf sie zu. Collinias ursprünglicher Schreck wandelte sich in Staunen, dann Begeisterung. Der Libellenmann war von hohem, sportlichem Wuchs. Er trug das lange, braune Haar im Nacken durch einen Knoten geschürzt. Er musterte die Ankömmlinge neugierig, aber ohne Furcht. Unter der sonnengebräunten Haut spielten durch steten Gebrauch entwickelte Muskeln. Die beiden Flügelpaare lagen zusammengefaltet auf dem Rücken und glitzerten im Widerschein des Sonnenlichts. Der Fremde überragte Collinia um mehr als Kopfeslänge. Sie sah zu ihm auf und fühlte, wie ihr Puls schneller wurde. Noch nie hatte sie solche Vollkommenheit erblickt! Der Libellenmensch bemerkte ihre Aufmerksamkeit und dankte ihr mit einem freundlichen Lächeln. Er sagte: »Willkommen auf unserer Welt! Ihr seid unsere Freunde und Gäste. Alles, was wir zu bieten haben, steht zu eurer Verfügung.« Das waren dieselben Worte, die auch der Anführer des Begrüßungskomitees gebraucht hatte. Der Hochgewachsene fügte hinzu: »Ich bin Euchan, der Dorf-Vorsteher.«
*
Collinia kam sich vor wie im Traum. Das Innere der großen Korbhütte des Dorfvorstehers bestand aus einem einzigen, weiten Raum. An den Wänden entlang reihten sich Lagerstätten, ein Herd, Gestelle mit Küchen- und sonstigen Utensilien, Schüsseln und Tröge, die von außerhalb der Hütte angebrachten Pumpen mit Wasser versorgt wurden, Regale, Tische – und was sonst noch zur Führung eines umfangreichen Haushalts benötigt wurde. Die Mitte des Raumes hingegen beherrschte eine riesige Tafel, eine aus rechteckigen Platten gefertigte Servierfläche, die auf insgesamt sechzehn in den Boden gerammten Pfählen ruhte. In der großen Hütte herrschte hektische Geschäftigkeit. Der Geruch von Speisen, die sich in verschiedenen Stadien der Zubereitung befanden, erfüllte die Luft. Becher, Schüsseln, Tablette, Teller und seltsam geformtes Eßbesteck häuften sich auf der großen Tafel, und ununterbrochen wurden weitere Ladungen dampfenden Proviants, noch mehr bauchige Krüge voll exotisch duftender Getränke herbeigeschleppt. Unter dem hohen, portalähnlichen Eingang, der durch eine aus Rohr geflochtene Klappe verschlossen werden konnte, herrschte stetes Kommen und Gehen. Es war unverkennbar, daß man sich in der Hütte des Dorfvorstehers Euchan zu einem großen Festmahl rüstete. »Dies alles geschieht zu euren Ehren«, hörte sie Euchan neben sich sagen. »Wir haben gehofft und gebetet, daß das Schicksal uns einst Besucher aus der Schwärze des Alls senden möge. Ihr seid die Erfüllung unserer Träume, die Antwort auf unsere Gebete.« Das ist unmöglich, schoß es Collinia durch den Sinn. Es ist höchstens eine halbe Stunde seit der Landung der Space-Jet. Niemand kann in solch kurzer Zeit soviele Vorbereitungen treffen! Euchan trat auf die große Tafel zu, ergriff einen der Krüge und füllte drei Becher. »Ich trinke auf unsere Freundschaft«, sagte er mit lauter, klarer Stimme, »und darauf, daß ihr euch hier wohl fühlen mögt.« Sie tranken. Der Inhalt des Bechers war ein fruchtsaftähnliches
Getränk von milder Süße und fremdartigem Duft. Collinia kannte den Wein, der an Bord der SOL hin und wieder gereicht wurde, und fand, daß der Saft ihn an Geschmack bei weitem übertraf. Sie war zu unerfahren, als daß sie dem leisen, aber unverkennbaren Hauch von Alkohol, der sich unter den Duft exotischer Früchte mengte, Bedeutung beigemessen hätte. Nachdem sie den ersten Becher geleert hatte, füllte Euchan ihn ein zweites Mal, und bald darauf begannen die Ereignisse, die sich ringsum abspielten, eine neue Dimension anzunehmen. Sie war schwerelos. Sie schwebte. Sie aß und trank und führte Gespräche mit Wesen, die sie noch nie gesehen hatte. Stets war Euchan an ihrer Seite. Sie bekam auch Feslo Rakka, Onko Valdiz und die beiden Techniker zu sehen. Der Himmel mochte wissen, woher sie gekommen waren. Aber sie sprach nicht mit ihnen. Das Fest war zu schön, als daß sie es sich hätte verderben lassen wollen. Es war ihr jetzt völlig klar, daß sie und Part One sich getäuscht hatten. Es gab hier keine Falle. Die Freude und Freundschaft der Libellenmenschen waren echt. Die Landschaft im Nichts bot genug Raum für die Ansiedlung der paar Dutzend Solaner, die sich zu den Erben Terranies zählten. Sie hatten gefunden, wonach sie suchten. Sie waren am Ziel ihrer Sehnsüchte angelangt! Nur eine winzige Kleinigkeit störte sie, die nagende Erinnerung an etwas, das sie unbedingt hatte tun wollen. Ihre Gedanken hatten sich weitgehend selbständig gemacht. Es fiel ihr schwer, sie wenigstens für kurze Zeit unter Kontrolle zu bringen und gezielt ihr Gedächtnis zu durchsuchen. Nach geraumer Zeit wurde sie fündig. Sie wußte auf einmal wieder, welches die Frage war, die sie unter keinen Umständen hatte vergessen wollen. Sie sah sich um. Euchan schwebte neben ihr, wie er es seit Beginn des Festes getan hatte. Sie wähnte sich hoch über den Köpfen der Menge, die sich drunten um die reich beladene Tafel drängte. Die Töne einer fremdartigen, einschmeichelnden Musik durchzogen das Innere des weiten Hüttenraums, und vor sich hatte sie Euchan,
strahlend in seiner physischen Vollkommenheit wie ein junger Halbgott. Der Verstand versuchte, ihr einzureden, das sei alles nicht so – sie schwebte nicht wirklich, es gebe keine Musik und der Himmel möge wissen, was es mit Euchan auf sich hatte. Aber der Verstand hatte keine Chance mehr gegenüber den Emotionen, die aufgrund reichlich genossener Getränke zu brodeln begannen. »Euchan – wie kommt es, daß ihr dieselbe Sprache sprecht wie wir?« Sein liebevolles Lächeln hüllte sie ein wie ein Mantel aus schimmernder, weicher Seide. Sie fühlte sich mit unwiderstehlicher Kraft zu ihm hingezogen. Die Frage erschien ihr auf einmal ganz nebensächlich. Wichtig war nur … Sie hörte ihn sagen: »Ist es nicht eine wundervolle Fügung des Schicksals? Wie sonst sollten wir uns miteinander verständigen?« An dieser Stelle riß ihre Erinnerung ab.
7. Sie erwachte mit einem eigenartigen nie gekannten Gefühl der Leichtigkeit. Sie fühlte sich ausgeruht, gekräftigt und – verwundert. Behutsam richtete sie sich auf und sah sich um. Vor ihr lag die große Rundhalle der Hütte des Dorf-Vorstehers. Durch das Loch im kegelförmigen Dach fiel kräftiges Sonnenlicht – das Licht eines neuen Tages, soviel war ihr sofort klar. Die Hütte war leer. Es gab keine Spuren des gestrigen Festes mehr. Sie selbst ruhte auf einem primitiven, aber weichen Lager. Ihre Montur sowie sonstige Kleidungsstücke waren am Fuß der Lagerstatt sorgsam aufgestapelt. Ihr Blick glitt hinüber zu den Trögen und Schüsseln, die einen Teil der Küchenausstattung darstellten. Keine der Pumpen war gegenwärtig in Tätigkeit. Sie vergaß den Gedanken an morgendliche Hygiene und kleidete sich an. Der Versuch, sich an die Ereignisse des vergangenen Tages zu
erinnern, versetzte sie ob seiner Erfolglosigkeit in Verwirrung. Sie wußte noch, daß sie Euchan gefragt hatte, wie es möglich sei, daß Solaner und Libellenmenschen dieselbe Sprache sprächen. Euchan hatte ihr irgendeine nichtssagende Antwort gegeben, und sie war damit zufrieden gewesen. Aber dann? Was war danach geschehen? Wie lange hatte das Fest gedauert? Wer hatte ihr das Lager angewiesen? War sie selbst es gewesen, die die Kleidung so sorgfältig am Fuß des Lagers aufgeschichtet hatte? Der Gedanke, daß es auch andere Möglichkeiten der Erklärung gebe, bereitete ihr keine Verlegenheit. Überhaupt erschien es ihr an diesem Tag, als brauche sie sich über nichts Sorgen zu machen. Von draußen klangen die Laute dörflicher Geschäftigkeit. Sie schlug die Schilfmatte beiseite, die den Eingang verdeckte, und trat hinaus in den warmen Sonnenschein. Den ersten Libellenmenschen, den sie sah, hielt sie an. Er folgte ihrer Geste mit freundlichem Lächeln. Sie hatte ihn nach Euchan fragen wollen; aber im letzten Augenblick besann sie sich eines Besseren. »Wo ist der von meinen Begleitern, der sich Part One nennt?« erkundigte sie sich. »Beschreib ihn mir«, forderte der Libellenmensch sie auf. »Jedem deiner Begleiter ist eine gesonderte Hütte angewiesen worden.« Auf ihre Beschreibung hin wurde sie zu einer Hütte geführt, die am Ostrand des Dorfes stand. Unterwegs begegneten Collinia und ihr Begleiter zahlreichen Libellenmenschen, die sie freudig begrüßten. Die Behausung war allerdings leer, Part One ausgeflogen. »Wo sind sie alle?« fragte Collinia in gespielter Verzweiflung. »Euchan – nirgendwo zu finden; Part One spurlos verschwunden.« Ihr Begleiter deutete in die Höhe. »Wahrscheinlich bereiten sie sich auf die Landung des anderen Fahrzeugs vor«, sagte er. Collinia legte eine Hand über die Augen und blickte in den blauen Himmel hinauf. Sie sah die silbern schimmernde Metallscheibe, die
reglos im Firmament hing. »Die FRESH ist angekommen«, sagte sie mit tonloser Stimme, als sei sie maßlos überrascht.
* Die Ereignisse des vergangenen Tages – und die der Erinnerung entschwundenen Geschehnisse der letzten Nacht – hatten ihr ein Gefühl der Unbeschwertheit, der Losgelöstheit vermittelt, das sie nur schwer von sich zu schieben vermochte. Der Anblick der FRESH, deren silbrige Scheibe zwei Drittel der Größe des irdischen Vollmonds besaß, rief ihr auf unsanfte Art und Weise ins Gedächtnis zurück, daß sie nicht allein unterwegs war. Sie war in den Augen der Solaner eine Abtrünnige. Wenn die Erben Terranies sich auf der Landschaft im Nichts ansiedeln wollten, würden sie sich zuvor mit den Menschen an Bord der SOL arrangieren müssen. Sie nickte dem Libellenmenschen, der sie bisher geführt hatte, freundlich zu. »Ich glaube, ich finde mich jetzt allein zurecht«, sagte sie. »Ich danke dir.« Der Mann mit den schimmernden Flügeln erwiderte das Lächeln, wandte sich um und verschwand hinter der Rundung der nächsten Korbhütte. Collinia aktivierte den Minikom, den sie am linken Handgelenk trug. Sie sah zu der leuchtenden Scheibe der Korvette auf und begann zu sprechen – und noch während der ersten Worte beobachtete sie, wie ein kleineres Fahrzeug, wahrscheinlich eine Space-Jet, sich aus der FRESH ausschleuste: »Collinia Brackfaust an FRESH. Ich habe einen Lagebericht.« Die Antwort kam sofort. »Wir hören dich, Collinia.« Das war Curie von Herlings Stimme. »Gib deinen Bericht.« Collinia schilderte wahrheitsgetreu, was seit der Landung der Erben Terranies geschehen war. Sie machte auch keinen Hehl
daraus, daß sie sich an manche Ereignisse der vergangenen Nacht nicht mehr erinnerte. Sie schloß mit den Worten: »Ich habe das Übereinkommen mit Atlan nicht aus freien Stücken verletzt; ich bin dazu gezwungen worden. Ob ihr mir das glauben wollt oder nicht, bleibt euch überlassen. Als ich auf der Landschaft im Nichts landete, teilte ich Atlans Bedenken. Ich war sicher, daß wir hier in eine Falle laufen würden. Inzwischen habe ich meine Ansicht geändert. Die Freundlichkeit der Libellenmenschen ist echt. Sie kennen keine Vorbehalte. Wenn es je einen Ort gegeben hat, an dem die Erben Terranies sich unbesorgt niederlassen konnten, dann ist es dieser. Ich fordere euch auf zu landen. Überzeugt euch selbst! Es droht euch hier keine Gefahr.« Kühl und gelassen drang Curie van Herlings Stimme aus dem Empfänger des Minikoms: »Ich danke dir, Collinia. Es freut uns, zu hören, daß ihr es gut getroffen habt. Atlan ist auf dem Weg nach unten, sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Ende.« Ein wenig enttäuscht über die knappe Reaktion schaltete Collinia das winzige Gerät ab. Sie warf der Space-Jet, die sich mit geringer Geschwindigkeit der Oberfläche der Landschaft im Nichts näherte, einen letzten Blick zu; dann schritt sie zwischen die Hütten hinein. Sie wollte zurück, nach Hause. Wie sich das anhörte: nach Hause. Das hohe Dach der Hütte, in der Euchan, der Dorfvorsteher, wohnte, war ihr ein deutlicher Wegweiser. Sie fühlte sich einsam und verlassen. Sie brauchte jemand, mit dem sie sich aussprechen, an dessen Schulter sie den Kopf stützen konnte. Sie sehnte sich nach Euchan. Sie wollte den ruhigen, sonoren Klang seiner Stimme hören und sich von dem kühlen, klaren Blick seiner hellen Augen sagen lassen, daß sie nichts zu befürchten habe. Sie hatte es auf einmal eilig. Sie beschleunigte ihre Schritte und umrundete eine der korbförmigen Hütten, gerade als durch deren offenen Eingang ein hölzerner Schemel geflogen kam, begleitet von dem keifenden Gekreisch einer aufgeregten Stimme:
»Verschafft mir mehr von dem Gesöff, das es gestern abend zu trinken gab – und eine junge, hübsche Frau, die mich in meiner Einsamkeit tröstet! Eilt euch, ihr Halunken! Jede Sekunde ist kostbar.« Collinia, die vor einer Sekunde noch ganz andere Dinge im Sinn gehabt hatte, hielt an und trat ein.
* Ein junger Libellenmensch kniete zitternd in der Nähe des Eingangs. Ihm hatte das Wurfgeschoß gegolten. Drei weitere Eingeborene standen dicht zusammengedrängt links an der Wand der Hütte und beobachteten mit unverkennbarer Besorgnis den Mann, der sich im Hintergrund auf seiner Liege halb erhoben und die Überreste eines offenbar ausgiebigen Mahles rings um sich verstreut hatte. Feslo Rakka zorngerötetes Gesicht wurde um eine Nuance blasser, als er Collinia erblickte. »Du hast eine schöne Art und Weise, dich für die Gastfreundschaft dieser Wesen zu bedanken«, schleuderte sie ihm entgegen. Er reagierte mit einem schiefen Lächeln. »Was willst du?« protestierte er und spreizte die Hände. »Sie nennen sich ›meine kleinen Diener‹. Sie wollen mir jeden Wunsch erfüllen, sagen sie. Warum soll ich mir das nicht zunutze machen?« Die Libellenmenschen drängten sich herbei – einschließlich dessen, der am Eingang gekniet hatte. »Er hat recht«, sagte einer von ihnen. »Du darfst ihm keine Vorwürfe machen. Wir sind die kleinen Diener und kennen nur eine Aufgabe: sein und euer Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Er äußerte einen Wunsch – nein, zwei. Wir reagierten nicht sofort. Wir waren zu langsam. Er hatte alles Recht, darüber zornig zu werden. Es war unsere Schuld.« Verwirrt sah Collinia vom einen zum anderen. Schließlich blieb ihr
Blick auf Feslo Rakka haften. »Du wirst dich trotzdem in Zukunft eines zivilisierteren Benehmens befleißigen, nicht wahr?« sagte sie mit unüberhörbarer Schärfe. Feslo duckte sich. »Wenn du es so wünschst, gewiß«, antwortete er. »Aber du wirst mir nicht verübeln, daß ich es mir im Paradiso nirwana so gut gehen lasse, wie es eben möglich ist.« Es war Collinia zumute, als müsse es ihr übel werden. War das das, was die freundlichen Libellenmenschen von den Erben Terranies zu erwarten hatten. »Der Name ist auf deinem Mist gewachsen?« fragte sie verächtlich. »Paradiso nirwana?« Feslo grinste vergnügt. »Sicher doch. Ist er nicht zutreffend?« Die Beherrschung fiel ihr schwer. Ihre Stimme hatte einen drohenden Unterton, als sie ihm antwortete: »Sieh zu, daß dir dein Paradiso nicht durch die Lappen geht. Denn wenn du nicht ab sofort eine angemessene Portion menschlicher Würde an den Tag legst, das schwöre ich dir, dann schnür' ich dir mit eigenen Händen den Hals zu!« Sie wandte sich ab, ohne seine Reaktion abzuwarten, und schritt hinaus. Sie war schon ein gutes Dutzend Meter von Feslos Hütte entfernt, als ein Geräusch sie aufhorchen ließ. Sie drehte sich um und sah Feslos vier »kleine Diener« aus der Hütte eilen, die glitzernden Schwingen entfalten und in den warmen Morgenhimmel hinaufsteigen. Während sie sich noch verwundert den Kopf darüber zerbrach, was die plötzliche Eile zu bedeuten haben mochte, kamen aus mehreren benachbarten Hütten weitere Libellenmenschen zum Vorschein. Auch sie hatten nichts Eiligeres zu tun, als die Flügel auszubreiten und mit kräftigen Schwingenschlägen davonzufliegen. Collinia zählte insgesamt zehn – vierzehn, wenn man Feslos »kleine Diener« hinzurechnete. Sie bewegten sich in westlicher Richtung, am Südrand des Kristallsees
entlang auf den Ort zu, an dem die Space-Jet gelandet war. Sie blickte auf und suchte nach dem Fahrzeug, mit dem Atlan auf der Landschaft im Nichts zu landen gedachte. Es war nirgendwo zu sehen. Von einer Sekunde zur anderen bemächtigte sich ihrer das Gefühl drohender Gefahr. Von Panik erfüllt, rannte sie auf Euchans Hütte zu.
8. Die Information war im höchsten Grade unbefriedigend. Der Schalter las sie zum dritten Mal und ließ seinem Mißmut freien Lauf. »Der Plan ist in Gefahr. Nur ein kleiner Bruchteil der gegnerischen Kräfte befindet sich auf dem Weg in den Bannkreis.« Der Schalter unterdrückte einen Fluch. Es standen ihm weitere Daten zur Verfügung, die die Richtigkeit der Meldung bestätigten. Sie waren zu verdammt vorsichtig! Sie hatten ihr großes Schiff weit außerhalb des Bannkreises geparkt und gingen so behutsam zu Werk, als vermuteten sie in der Planetenscheibe eine Bombe, die ihnen jeden Augenblick um die Ohren fliegen könne – eine Vermutung übrigens, die an der Wahrheit nicht allzuweit vorbeischoß. Der Unmut des Schalters legte sich, als er seine Optionen überdachte und erkannte, daß ihm noch eine Reihe brauchbarer Auswege blieb. Er hätte die Sache gern nach dem ursprünglichen Plan abgewickelt; aber der Gegner machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Solch unerwarteter Entwicklungen mußte man stets gewärtig sein. Er hätte seinen Namen nicht verdient, wenn ihm dadurch die Ausführung des Vorhabens unmöglich gemacht worden wäre. Er analysierte die Alternativen, die ihm zur Verfügung standen, traf seine Entscheidung und schaltete. Von jetzt an lief das Projekt nach einem anderen Plan.
* Während Collinia Brackfaust ihren Bericht erstattete, hatte die Space-Jet sich nur wenige hundert Meter von der FRESH entfernt. Atlan hörte aufmerksam zu. Er achtete auf jedes Wort, jede Nuance des Tonfalls und versuchte, zu erkennen, ob Collinia aus eigenem Antrieb oder unter fremdem Zwang sprach. Die Kürze, mit der Curie van Herling die Berichterstatterin abfertigte, kam ihm nicht gelegen; er hätte gern noch mehr von Collinia gehört. Sanny reagierte nur zögernd auf seinen fragenden Blick. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich kann nichts Ungewöhnliches erkennen. Meine Berechnung läuft darauf hinaus, daß sie aus freien Stücken gesprochen hat.« Hage Nockemann sah auf. In seinen Augen schimmerte ein eigenartiges Funkeln, als habe er soeben eine wichtige Entdeckung gemacht. »Womöglich«, sagte er, »müssen wir von Grund auf umdenken. Wir halten die Landschaft im Nichts für eine Falle, die uns Hidden-X gestellt hat. Wie wäre es aber, wenn dort in Wirklichkeit alles mit rechten Dingen zuginge? Wenn alles so echt wäre, wie es Collinia beschreibt? Sicher – die Abrechnung mit Hidden-X steht noch bevor. Aber wer sagt denn, daß sie ausgerechnet hier stattfinden muß?« »Chybrain«, erinnerte ihn der Arkonide. »Er gab uns die Koordinaten und warnte vor dem Schalter.« »Sagte er aber auch, daß das eine mit dem anderen zu tun haben müsse?« hielt Hage Nockemann ihm entgegen. Ein paar Sekunden lang ließ Atlan die Argumente des kauzigen Galaktogenetikers auf sich einwirken. War es möglich, daß er die Gefahr an der falschen Stelle witterte? Die Landschaft im Nichts war ein künstliches Gebilde, die Schöpfung einer fremden Kraft, die sich als kosmischer Baumeister betätigt hatte. Ging daraus
logischerweise hervor, daß sie eine von Hidden-X eingerichtete Falle sein müsse? Nockemann hatte recht. Chybrains Warnung war unmittelbar nach der Nennung der Koordinaten ergangen; aber nichts deutete darauf hin, daß der Punkt, den die Koordinaten bezeichneten, gleichzeitig auch derjenige sei, an dem er dem Schalter begegnen würde. Er war verwirrt. Die Ungeduld packte ihn. Die Fragen, die ihn bedrängten, konnten nur an Ort und Stelle beantwortet werden. Um zu erfahren, ob die Landschaft im Nichts eine Falle war, mußte er sich ihr anvertrauen. Dem Mann, der unbedingt wissen wollte, ob er des Schwimmens mächtig sei, blieb nichts anders übrig, als ins Wasser zu springen. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten nahm er Verbindung mit Bjo Breiskoll an Bord der SOL auf. »Du hast Collinias Bericht gehört?« erkundigte er sich. »Er wurde hierher übertragen«, bestätigte der Mutant. »Was ist davon zu halten?« »Sie hat aus freien Stücken gesprochen«, antwortete Bjo. »Aus ihrer Sicht verhalten sich die Dinge so, wie sie sie beschrieben hat. Ich kann keine Spur suggestiver oder hypnotischer Beeinflussung entdecken.«
* Als die Space-Jet in einer Höhe von nur noch wenigen hundert Metern über das Dorf hinwegstrich, war eine Gruppe menschengleicher Geschöpfe zu sehen, die sich mit Hilfe glitzernder Flügel über die Dächer der primitiven Gebäude hinwegbewegten und das Dorf in westlicher Richtung zu verlassen trachteten. Collinia Brackfaust hatte die Eingeborenen als Libellenmenschen bezeichnet und eine oberflächliche Beschreibung ihrer äußeren Erscheinung geliefert. Atlan konnte nicht umhin, die Eleganz ihrer
Bewegungen zu bewundern. Der Teleskopausschnitt zeigte die von der Sonne gebräunten schlanken Körper, die von irrlichternden Flügelpaaren pfeilschnell durch die Luft getragen wurden. Die Eingeborenen beherrschten diese Art der Fortbewegung mit atemberaubender Perfektion. Durch Änderung des Anstellwinkels und Anpassung der Geschwindigkeit, mit der sie die Flügel bewegten, gelang es ihnen, die verschiedenartigsten Manöver durchzuführen. Sie konnten blitzschnell durch die Luft gleiten oder plötzlich anhalten und auf der Stelle verharren; halsbrecherische Sturzflüge bewerkstelligten sie mit derselben traumhaften Sicherheit wie Steigmanöver, bei denen sie wie Projektile senkrecht in die Höhe schossen. »Sie sind auf dem Weg zu Collinias Fahrzeug«, sagte Sanny plötzlich. »Sie wollen uns begrüßen«, kombinierte Hage Nockemann. »Sie nehmen an, daß wir an demselben Ort landen werden wie die erste Space-Jet.« Der Schluß lag auf der Hand. Er entsprach der Schilderung, die Collinia Brackfaust vom freundlichen Charakter der Libellenmenschen geliefert hatte. Aber Atlan war es vorläufig noch nicht nach Begrüßung zumute. »Es tut mir leid – sie werden sich noch eine Zeitlang gedulden müssen«, sagte er. »Ich lande nicht, ehe ich mir die Gegend in allen Einzelheiten angeschaut habe.« Die Space-Jet trieb mit geringer Fahrt über den Kristallsee hinweg. Die Libellenmenschen verhielten mitten im Flug und starrten hinter dem entschwindenden Fahrzeug her. Atlan hielt auf eine flache Hügelkette zu, die sich einen Kilometer nördlich des Sees quer über den Horizont erstreckte. Das Land, über das die Jet hinwegglitt, wies keinerlei Spuren der Besiedlung oder auch nur der Bebauung auf. So weit der Blick reichte, streckte sich jungfräuliches, mit Büschen durchsetztes Grasland, hin und wieder unterbrochen durch eine Strecke Wald. Die Farben des Geländes, grün, braun und grau,
wirkten vertraut. Die Szene hätte von der Erde stammen können. Die Hügel waren verwitterte, uralte Strukturen. Hier und da ragte ein zerbröckeltes Felsstück aus moosigem Untergrund hervor. Keine der Kuppen erhob sich mehr als zwanzig Meter über das Niveau der Umgebung. Sonnenglast lag auf den grasigen Hängen. Es war ein friedliches Bild. Man konnte sich vorstellen, wie man dort unten lag, die Hände unter dem Kopf verschränkt, und dem Summen der Insekten zuhörte. Atlan flog eine weite Kehre. Die flachen Hügel blieben zurück, im Süden tauchte die glitzernde Oberfläche des Sees wieder auf. Die Space-Jet, mit der Collinia Brackfaust und ihre Begleiter gelandet waren, kam in Sicht. »Merkwürdig«, sagte Sanny. »Die Libellenmenschen sind verschwunden.«
* Es war halbdunkel und kühl im Innern der großen Hütte. Ein paar Gestalten im Hintergrund waren mit der Zubereitung der Mittagsmahlzeit beschäftigt. Collinia kam durch den Eingang gelaufen. Die von der Helligkeit des Tages geblendeten Augen versagten ihr vorläufig den Dienst. »Wo ist Euchan?« schrie sie. Aus dem Halbdunkel materialisierte eine hochgewachsene Gestalt. »Hier bin ich«, antwortete sie mit sanfter Stimme. »Du bist erregt. Was ist geschehen?« Sie hätte sich am liebsten an ihn geklammert. Ein letzter Rest Selbstbeherrschung gab ihr die Kraft, Haltung zu wahren. »Gefahr!« stieß sie keuchend hervor. »Es kommt eine große Gefahr auf uns zu …« Euchan faßte sie bei den Schultern. »Was weißt du? Sprich!«
»Feslo Rakkas kleine Diener … und zehn weitere Dorfbewohner … sie sind auf dem Weg zu meinem Fahrzeug …« Es kam ihr plötzlich zu Bewußtsein, daß ihre panische Angst weder Hand noch Fuß hatte. Vierzehn Libellenmenschen waren aus dem Dorf hinaus nach Westen geflogen. Was sollte daran gefährlich sein? Woher kam die namenlose Furcht, die ihr die Kehle zuschnürte? Sie schloß die Augen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als könne sie auf diese Weise die bösen Gedanken fortwischen. Dann sah sie auf. Das kleine, verlegene Lächeln, mit dem sie Euchan hatte um Verzeihung bitten wollen, gefror ihr auf dem Gesicht, als sie seine besorgte Miene sah. »Was wollen sie dort?« fuhr er sie an – unbeherrscht, fast grob. »Ich … ich weiß es nicht …« Er packte sie an der Hand. »Komm mit!« Stolpernd und torkelnd folgte sie ihm durch die offene Tür. Draußen packte er sie um die Hüfte und hob sie auf. Sie war zu schwer, als daß er mit ihr hätte fliegen können; aber unter Zuhilfenahme der Schwingen brachte er lange, gleitende Sprünge zustande, die sie binnen weniger Sekunden bis an den westlichen Rand des Dorfes brachten. Von den kleinen Dienern und ihren Begleitern war nichts zu sehen. Euchan zögerte eine Sekunde. »Das Böse!« knurrte er zornig. »Das Böse ist ihnen in den Schädel gefahren.« Collinia wußte nicht, wo ihr der Kopf stand. »Was ist das Böse?« fragte sie ängstlich. »Was haben sie vor?« »Das Böse ist ein tückischer Geist, der im Land spukt und den Menschen üble Gedanken eingibt.« Er sprach mit ungewöhnlicher Intensität und hielt sie so fest an sich gepreßt, daß es schmerzte. »Wenn das Böse dir in den Kopf fährt, dann tust du Dinge, die du in Wirklichkeit nicht tun willst.« »Gibt es keine Abwehr dagegen?« wollte sie wissen. »Man muß warten, bis es sich von selbst verzieht«, keuchte Euchan. »Es sei denn, Tdibmufs steht dir bei.«
»Tdibmufs?« Er packte sie noch fester. »Keine Zeit, alles zu erklären«, stieß er hervor. »Weiter! Wir müssen sehen, was sie vorhaben.« Mit einem zehn Meter langen Sprung landete er auf einer kleinen Erhöhung. Zur rechten Hand lag die schillernde Fläche des Sees. Voraus erhob sich der Umriß der Space-Jet über die hohen Halme des Grases. Collinia zuckte zusammen, als ihr die irisierenden Reflexe schwirrender Flügelpaare in die Augen stachen. Die vierzehn Libellenmenschen, die sie das Dorf hatte verlassen sehen, schwebten rings um das Fahrzeug. Sie umkreisten es mit raschen Bewegungen und schienen nach einem Zugang zu suchen. »Haltet ein!« schrie Euchan, und seine donnernde Stimme hallte weithin über das stille Land. Aber die Schwirrenden achteten nicht auf ihn. Mit einer Besessenheit, die alle anderen Eindrücke von ihnen fernhielt, kreisten sie um die Space-Jet – immer rascher, immer aufgeregter … bis schließlich das Unglaubliche geschah. Collinia schrie entsetzt auf, als sie sah, wie das äußere Schott der Schleuse sich öffnete. Sie konnte sich den Vorgang nicht erklären. Die Schleuse war durch einen komplizierten Riegel gesichert. Die Libellenmenschen verstanden nichts von Technik. Wie hatte es ihnen gelingen können, den Riegel zu lösen? Das schwirrende Geflimmer der Insektenflügel konzentrierte sich auf die Umgebung der Schleusenöffnung. Ein paar Sekunden vergingen – und die Libellenwesen waren im Innern der Space-Jet verschwunden. »Können sie damit Schaden anrichten?« fragte Euchan hastig. Collinia schwindelte. »Mein Gott, unter normalen Umständen nicht!« ächzte sie. »Sie verstehen nichts von unseren Maschinen. Aber wenn ich daran denke, wie sie die Schleuse geöffnet haben …« »Wir müssen zu ihnen hinein!« rief Euchan. Sie hielt ihn fest. »Zu spät«, hauchte sie und wies auf das Schleusenschott, das sich soeben geschlossen hatte.
Sie trug den kleinen Kodegeber, mit dem sie den Riegel wieder hätte lösen können. Aber sie wußte instinktiv, daß nichts, was sie jetzt noch tat, mehr in der Lage sein würde, das drohende Unheil abzuwenden. Sie hatte keine Ahnung, welches die Gefahr war, vor der sie sich fürchtete. Aber es war in ihr die feste Gewißheit, daß die nächsten Minuten eine Katastrophe bringen würden. Sie hörte ein hohles Brausen und wandte den Blick nach Norden. Getragen von dem leise flimmernden Kissen des Feldtriebwerks glitt über die Oberfläche des Sees eine zweite Space-Jet heran – Atlans Fahrzeug! Sie wollte schreien; aber der Schrei blieb ihr im Hals stecken. In diesem Augenblick wußte sie genau, welches das Unheil war, von dem sie die ganze Zeit über gezittert hatte.
* Sannys Worte, beiläufig gesprochen, lösten einen Alarm in seinem Bewußtsein aus. Der Ausflug über das hügelige Gelände hatte kaum zwei Minuten in Anspruch genommen. Wohin war die Schar der Libellenmenschen verschwunden? Drunten, wo Collinia Brackfausts Space-Jet lag, zuckte es auf. Ein mörderischer Ruck riß Atlan in den Gurten nach vorne. Ein berstender Krach dröhnte durch den kleinen Kommandostand des Fahrzeugs. Stinkender, bleigrauer Qualm wallte auf. Irgendwo blinkte ein rotes Warnlicht. Ein zirpendes Signal verkündete, daß der Autopilot seine Tätigkeit eingestellt hatte. Tastend suchte der Arkonide nach den Kontrollen. Er spürte am Rucken der Space-Jet, daß der Antigrav auszufallen drohte. Sie hatten einen Volltreffer erhalten, der benommene Verstand suchte vergebens nach einer Erklärung für das Unglaubliche. Wer hatte das Feuer eröffnet? Collinia und die Erben Terranies? Oder etwa die Libellenmenschen, die sich bis vor kurzem in der Nähe des
Fahrzeugs aufgehalten hatten? Warum? Er riß die Jet nach oben und spürte mit Erleichterung, wie sie dem Steuer gehorchte. Aber die Freude war von kurzer Dauer. Ein zweiter Schlag erschütterte die Zelle des Fahrzeugs. Metall zerriß mit kreischendem Laut. Eine Sturmbö fauchte durch den Kommandostand, als sich die Außenluft einen Weg durch den Riß in der Zellenwand bahnte. »Alle Mann von Bord!« keuchte er. »Die Jet ist nicht mehr zu halten.« »Wahnsinn!« gellte Sannys Stimme aus dem Dunst. »Zehn Meter Bodenabstand – wir kommen nicht mehr raus!« Für den Bruchteil einer Sekunde lichtete sich der Qualm. Der Umriß eines Zielbildschirms schälte sich aus dem Dunkel. Ein Stück Grasland war zu sehen, mitten darin die Space-Jet, mit der die Erben Terranies gekommen waren. Atlan griff zu. Mit dem Handballen traf er die breite, rote Taste des Impulsgeschützes. Ein tiefes, dumpfes Rumoren drang aus dem Leib des schwer angeschlagenen Fahrzeugs. Ein fahler Blitz huschte über die Fläche des Zielbilds. Für den Bruchteil einer Sekunde sah die getroffene Space-Jet so aus, als bestünde sie aus Papier, das unter dem Griff einer mächtigen, unsichtbaren Hand zerknitterte. Eine Stichflamme schoß in die Höhe, gefolgt von einem Jetstrahl schwarzen Qualms. Das Bild verschwand. Atlans Fahrzeug taumelte haltlos dem Boden entgegen. Irgendwo in der Ferne sah er die sanft geschwungene Linie der niedrigen Hügelkette. Die Jet gehorchte den Kontrollen nicht mehr. Es war aus, alles verloren. Sie hatten keine Chance, sich durch Absprung zu retten. Wozu das alles? Als die merkwürdige, grünlich leuchtende Kugel auftauchte, wußte er nicht, ob sie wirklich war oder nur ein Produkt seiner überreizten Vorstellungskraft. Sie raste aus dem Dunst heran, als wolle sie die Space-Jet rammen. Im letzten Augenblick wich sie aus, ruckte ein wenig zur Seite und blieb sodann reglos im Blickfeld
hängen. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören. Das haltlose Rütteln des stürzenden Fahrzeugkörpers hörte auf. Atlan hatte plötzlich wieder festen Boden unter den Füßen. Er sah das flimmernde, schlauchförmige Gebilde, das von der grünen Kugel ausging und die Jet umfaßte. Ein Traktorfeld! Das Schicksal hatte sich im letzten Augenblick ihrer erbarmt und ihnen einen Retter geschickt! Er löste die Gurte. Ein Gefühl unsäglicher Erleichterung ergriff von ihm Besitz. Die Space-Jet hatte nur noch drei Meter Bodenfreiheit gehabt, als der Traktorstrahl zugriff und ihren Flug stabilisierte. Die Landebeine konnten nicht mehr ausgefahren werden. Die beiden Treffer hatten den hydraulischen Mechanismus zerstört. Es knirschte leise, als die Hülle des Fahrzeugs den Boden berührte. Das Fahrzeug neigte sich zur Seite, bis es auf die Ringkante der diskusförmigen Zelle zu liegen kam. Über den abschüssigen Boden tastete sich der Arkonide in Richtung des Schleusenausgangs. Aus dem Dunkel sagte Hage Nockemanns knarrende Stimme: »Das hätte auch anders ausgehen können.«
9. Die Space-Jet war nur noch eine zerrissene, deformierte Hülle. Es war ein halbes Wunder, daß sie sich lange genug in der Luft hatte halten können, bis die grüne Kugel auftauchte, sie mit ihrem Traktorstrahl ins Schlepp zu nehmen. Der Arkonide hangelte sich aus der Schleusenöffnung hinaus. Sanny saß ihm auf der Schulter. Er sprang ins Gras hinab und sah sich um. Die geheimnisvolle Kugel lag dreißig Meter entfernt – das heißt: sie lag nicht, sondern schwebte mit der unteren Rundung wenige Zentimeter über den Spitzen der Grashalme. Das Äußere des seltsamen Gefährts war völlig ungegliedert. Es gab keine Unebenheiten, keine Luke, keine Fenster – nicht einmal die Spur eines Triebwerkssystems. Die
leuchtend grüne Farbe war eine Eigenschaft des Materials, aus dem die Kugel gefertigt war. Das grüne Leuchten hatte die Charakteristiken einer Lumineszenz, die entweder vom Sonnenlicht oder Quellen im Innern des fremden Fahrzeugs angeregt wurde. Während Hage Nockemann ächzend aus der Schleuse geklettert kam, aktivierte Atlan den Minikom und nahm Verbindung mit der FRESH auf. »Ich nehme an, ihr habt das alles gesehen«, bemerkte er sarkastisch. »Und die Luft angehalten«, bestätigte Curie van Herling. »Die Frage ist, warum es die Libellenmenschen auf euch abgesehen hatten.« »Es waren also doch sie«, brummte der Arkonide. »Wir sahen sie in Collinias Space-Jet verschwinden. Collinia selbst und ein Fremder befanden sich übrigens zeitweise ganz in der Nähe des Geschehens. Sie machten aber den Eindruck, als seien sie gekommen, um ein Unheil zu verhindern. Vorlan und ich konnten uns keinen Reim auf den Vorgang machen. Wir wollten dich warnen – aber da war es schon zu spät.« »Was macht ihr aus der grünen Kugel«, wollte Atlan wissen. »Nichts. Sie erzeugt keinerlei Echo. Ein fremdartiges Gefährt. Nehmt euch in acht!« »Das haben wir vor«, bekräftigte Atlan bitter. »Gib mir einen Kanal zur SOL. Ich brauche Bjo Breiskoll.« Der Mutant meldete sich wenige Sekunden später. »Keine neuen Erkenntnisse«, kam er Atlans Frage zuvor. »Wenn du von mir wissen willst, wer sich in der grünen Kugel befindet und was er denkt – Fehlanzeige!« »Vorsicht!« knarrte Hage Nockemann in diesem Augenblick. »Da tut sich was.« Atlan unterbrach die Verbindung. In der Wandung der grünen Kugel, die einen Durchmesser von nicht mehr als zehn Metern hatte, war eine Öffnung entstanden. Sie hatte die Form eines
gleichschenkeligen, spitzwinkligen Dreiecks, das mit der Spitze nach oben wies. Über die Grundseite des Dreiecks, die als Schwelle des Ausstiegs diente, schob sich ein Paar zappelnder Beine, die durchaus humanoider Struktur zu sein schienen und in einem alten, abgeschabten, ehemals grünen Overall staken. Hinter den Beinen kam ein ebenfalls menschlicher Leib, der sich auf höchst unathletische Art durch die schmale Öffnung zwängte, mit wild fuchtelnden Armen irgendwo Halt zu finden versuchte und schließlich, dem Sog der Schwerkraft folgend, mit kräftigem Plumps zu Boden fiel. Das fremde Wesen erhob sich, von dem über zwei Meter tiefen Fall offenbar unbeschädigt, klopfte Erdbrocken und Grashalme von der zerschlissenen Montur und kam schließlich auf das Wrack der Space-Jet zu. Ein wenig fassungslos erkannte Atlan einen Mann von etwa achtzig Jahren mit grauen Haaren und weisen, gütigen Augen, gekleidet in die mitgenommenen Überreste einer Uniform, wie sie vor ein paar hundert Jahren von den Angehörigen der Solaren Flotte getragen worden war. Der Grauhaarige baute sich vor ihm auf und erklärte mit verlegenem Lächeln: »Das Klettern war noch nie meine Stärke.«
* »Wer bist du?« fragte Atlan. »Und woher kommst du?« Der Grauhaarige schmunzelte. »Seltsam, nicht wahr?« antwortete er. »Die eine Frage läßt sich leicht beantworten. Wer ich bin! Tdibmufs, der gute Geist dieser verschrobenen Welt. Woher ich komme?« Er breitete die Arme aus. »Das ist die andere, auf die sich keine Antwort finden läßt. Eines Tages vielleicht, wenn hier alles wieder in Ordnung kommt …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern sah den Arkoniden
auffordernd an, als erwarte er dessen nächste Frage. »Du hast uns vor dem Absturz bewahrt, dafür danke ich dir«, sagte Atlan. »Es war nötig«, versicherte Tdibmufs. »Auf dieser Welt geht es gewöhnlich friedlich zu. Aber mitunter fährt das Böse in die Gehirne der Wesen, die hier leben. Diesmal hat es die kleinen Diener erwischt. Der Himmel mag wissen, wie sie gelernt haben, fremdes Gerät zu bedienen. Aber offensichtlich hatten sie im Sinn, euer Fahrzeug abzuschießen.« Atlan blickte nach Süden, wo jenseits der glitzernden Fläche des Kristallsees der Rauchpilz der zerstörten Space-Jet in den Himmel stieg. »Es tut mir leid, daß ich so reagieren mußte«, sagte er. »Aber sie waren drauf und dran, uns zu vernichten.« Tdibmufs winkte ab. Nicht nur seine Sprache, auch seine Gestik war eindeutig menschlich. Er hätte nicht natürlicher wirken können, wenn er soeben aus einem terranischen Touristenschiff gestiegen wäre, das vor kurzem bei der Landung im Nichts angelegt hatte. »Mach dir um sie keine Sorgen«, meinte er wegwerfend. »Wem das Böse in den Sinn dringt, dessen Leben ist verwirkt. Er hat keine Möglichkeit mehr, zu seinem bisherigen Dasein zurückzukehren. Du hast dich richtig verhalten und brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.« Atlan hörte seine Worte, aber er verstand sie nicht. Ein leises Gefühl des Unbehagens überkam ihn. Was war das für eine »friedliche« Welt, auf der eine Gruppe von Wesen – er hatte über ein Dutzend gezählt – das Leben lassen mußte, nur weil »das Böse« in sie gefahren war? »Was ist das Böse?« wollte er wissen. Tdibmufs hob die Schultern. »Wer kann das sagen?« antwortete er in einem Tonfall, als halte er die Frage nicht für besonders interessant. »Es existiert, und hin und wieder schlägt es zu. Das ist alles, was man darüber weiß. Ihr
braucht euch vor dem Bösen nicht zu fürchten. Ich habe seine Missetat im letzten Augenblick verhindern können. Es wird lange Zeit dauern, bis es sich wieder zu zeigen wagt.« »Du siehst uns verwirrt«, sagte der Arkonide. »Wir können deine Welt nicht verstehen. Wer sind die kleinen Diener? Und wie kommt es, daß man hier unsere Sprache spricht?« Tdibmufs schien amüsiert. Er machte den Eindruck eines Mannes, der Kindern eine Märchenlandschaft zeigt und sich an ihrem Staunen erfreut. »Welcher Mensch könnte sich unterfangen, eine Welt verstehen zu wollen?« antwortete er philosophisch. »Er wird in sie hineingeboren oder auf sie verschlagen, und sie existiert, ohne daß sie seines Verständnisses bedarf. Ich weiß nicht, wie lange es her ist, seit ich diese Landschaft zum ersten Mal erblickte. Damals waren wir viele. Es war nicht unser Wunsch, hier zu landen. Aber wir fanden uns damit ab. Inzwischen sind alle meine Gefährten dahingeschwunden. Ich allein bin übrig. Aber es wird mir nicht einsam. Immer wieder geschieht es, daß fremde Raumfahrer auf dieser Welt landen müssen. Ich als der Älteste nehme sie in Empfang und lehre sie meine Sprache.« Das Lächeln zeichnete ein komplexes Muster winziger Fältchen um seine großen, intelligenten Augen. »Damit ist deine letzte Frage schon beantwortet, nicht wahr? Ich sprach die Sprache, deren auch du dich bedienst, und brachte sie allen anderen Bewohnern dieser Welt bei. An sich bin ich es, der sich darüber wundern müßte, daß du meine Sprache sprichst.« Er machte eine weit ausholende Geste, die über den See hinweg nach Südosten wies. »Wer sind die kleinen Diener? Es sind die Geflügelten, die in jenem Dorf dort wohnen. Eure Gefährten, die mit dem ersten Fahrzeug kamen, haben bei ihnen gastliche Aufnahme gefunden. Die kleinen Diener sehen ihren Lebenszweck darin, andere Wesen glücklich zu machen. Ich schlage vor, daß auch ihr euch in ihre Obhut begebt, nachdem ihr eure Freunde herbeigerufen habt – die in der silbernen Scheibe, die über uns schwebt, aber auch jene in
dem großen Schiff, das weit draußen verharrt, als fürchte es sich vor unserer Welt.« Tdibmufs' lange Rede gab Atlan Gelegenheit, den Alten eindringlich zu mustern. Der Grauhaarige gab sich mit einer Selbstverständlichkeit, als gehöre es für ihn zum Alltag, fremde Besucher auf dieser Welt zu begrüßen, die in Wirklichkeit ein künstliches Gebilde war, entsprungen aus der verschrobenen Phantasie eines unbekannten Baumeisters. Wer Tdibmufs lange genug zuhörte, dem kam das Gefühl, sich in einer grotesken Situation zu befinden, allmählich abhanden. Er hörte auf, sich zu wundern, und begann, als plausibel zu akzeptieren, was ihm noch vor wenigen Augenblicken völlig unerklärlich erschienen war. Die silberne Scheibe der FRESH war deutlich zu sehen. Aber woher wußte der Alte von der SOL, die sich nach wie vor fünfzig Lichtminuten von der Landschaft im Nichts entfernt befand? Welche technischen Mittel standen ihm zur Verfügung, Vorgänge zu beobachten, die sich in einer Entfernung von sechs Astronomischen Einheiten abspielten? Die Kugel, die ihm als Fahrzeug diente, schien das Produkt einer hochentwickelten Technologie zu sein. Woher hatte er sie? Seiner Sprache und seiner Kleidung nach zu urteilen war er der Nachkomme von terranischen Raumfahrern, die hier irgendwann in der Vergangenheit Schiffbruch erlitten hatten. Aber aus wessen Fahrzeugarsenal stammte die Kugel? Atlans Gedanken begannen sich zu verwirren. Von Tdibmufs' Worten schien eine hypnotische Wirkung auszugehen, die ihn vergessen machen wollte, wie unglaublich und unerklärlich die gegenwärtige Lage war. Der logische Verstand sträubte sich gegen die Beruhigungstaktik. Er begehrte auf. »Wir werden unsere Freunde herbeirufen«, sagte Atlan ein wenig unfreundlicher, als er es eigentlich vorgehabt hatte, »sobald wir uns überzeugt haben, daß ihnen auf dieser Welt keine Gefahr droht.« Tdibmufs sah zu ihm auf. Er wirkte ein wenig verletzt.
»Du traust mir nicht?« fragte er verwundert. »Bist du derjenige, der unsere Sicherheit garantiert?« konterte der Arkonide. »Kannst du das Böse kontrollieren, das uns um ein Haar den Tod gebracht hätte? Wer bist du überhaupt? Wer hat diese Welt erschaffen, die sich einsam durch ein leeres Universum bewegt? Bist du wirklich ein Terraner, wie deine Sprache und deine Kleidung uns glauben machen wollen? Dann mußt du wissen, daß der menschliche Verstand sich mit Ungereimtheiten nicht abfindet. Daß er Erklärungen verlangt und dem, der seine Wißbegierde mit lockerem Gerede abzulenken versucht, mit Mißtrauen begegnet.« Es fiel Tdibmufs offenbar schwer; längere Zeit verstimmt zu bleiben. Er lächelte. »Du hast Fragen?« sagte er. »Recht hast du. Es gibt vieles, was der Aufklärung bedarf. Aber ich bin ein alter Mann. Das Reden fällt mir mitunter schwer. Wende dich an einen, dem sein Erschaffer die Gabe des Schwätzens in besonderem Maß verliehen hat. Oh, er ist kein eitler Schwätzer, wenn es auch manchmal so erscheint. Aber er hat die Angewohnheit, zwölf Worte zu gebrauchen, wo zwei ausreichen, und er bedient sich einer blumigen Redeweise, die einem auf die Nerven geht, wenn man lange genug hinhört. Er ist mein Archivar. Er vergißt nichts. Dinge, die meiner Erinnerung längst entschwunden sind, finden sich in der seinen noch solide verankert. Was es über uns zu wissen gibt, das weiß er. Frag ihn. Er liebt es, seine Geschichten zu erzählen!« Mit theatralischer Geste wies er in Richtung der grünen Kugel. In der dreieckigen Öffnung, aus der vor wenigen Minuten er selbst mühsam hervorgekrochen war, hatte es sich zu regen begonnen. Scheppernde metallische Geräusche waren zu hören, und alsbald erschien im Blickfeld der drei Solaner eine Gestalt, wie sie grotesker nicht gedacht werden konnte.
*
Fassungslos hatte Collinia Brackfaust mitangesehen, wie die SpaceJet das Feuer auf Atlans Fahrzeug eröffnete. Instinktiv ahnte sie das kommende Unheil. Sie zog Euchan mit sich und rannte, so schnell sie die Beine trugen, den Pfad zurück in Richtung des Dorfes. Sie war längst in sicherer Deckung, als die Space-Jet unter Atlans konzentriertem Feuer zerbarst. Eine heiße Druckwelle brandete donnernd über das flache Land. Ein Regen glühender Bruchstücke stürzte klatschend zu Boden; aber Collinia und Euchan hatten um diese Zeit den Rand des Dorfes bereits erreicht und befanden sich in Sicherheit. Collinia blickte um sich und sah Atlans Fahrzeug in nördlicher Richtung davontrudeln. Sie wußte, daß es schwer beschädigt war, und erwartete, es abstürzen zu sehen. Da erschien über den flachen Hügeln, die den nördlichen Horizont jenseits des Sees begrenzten, ein kugelförmiges Gebilde, das sich der Space-Jet mit großer Geschwindigkeit näherte und von dem eine flimmernde Aura ausging, mit der es das angeschlagene Fahrzeug einhüllte. Sie sah die Jet und die Kugel sacht zu Boden sinken und verlor sie hinter einer Bodenerhebung aus den Augen. Neben ihr sagte Euchan: »Tdibmufs hat sie gerettet.« Collinia sah zu ihm auf. »Wer ist Tdibmufs? Jetzt hast du Zeit, es mir zu erklären.« Die Frage schien Euchan nicht gelegen zu kommen. Er wich ihrem Blick aus und verzog das Gesicht. »Es ist schwer zu sagen«, antwortete er schließlich. »Ich nenne ihn den guten Geist des Landes. Er ist der einzige, der etwas gegen das Böse vermag.« »Wie oft hast du schon erlebt, daß das Böse den Menschen in den Kopf fährt und Unheil anrichtet?« Er sah sie verwundert an, als hätte sie eine völlig abwegige Frage gestellt. »Erlebt? Noch nie. Heute sah ich es das erste Mal.« Nein, der Verstand ließ sie nicht im Stich. Es war eine Ahnung in
ihr gewesen, daß seine Antwort nur so hatte ausfallen können. Das Gefühl der Unwirklichkeit verdichtete sich zu fast hypnotischer Intensität. Dies alles war ein Traum, nicht wahr? In Kürze würde sie erwachen – in ihrem Quartier an Bord der SOL, inmitten eines Universums, das zum Bersten mit Sternen erfüllt war. »Woher weißt du dann«, hörte sie sich sagen, »daß es das Böse gibt?« Die Frage überraschte ihn womöglich noch mehr als die vorhergehende. »Woher weiß ich es?« echote er verständnislos. »Jeder weiß es. Wie kann man nicht wissen, daß es das Böse gibt?« Sie wandte sich ab. Sie ließ ihn einfach stehen. Sie fühlte sich leer und ausgehöhlt. Es war zuviel auf sie eingestürmt. Der Verstand konnte die Ungereimtheiten nicht mehr verkraften. Ohne zu wissen, was sie tat, schlug sie die Richtung ein, die zu Part Ones Hütte führte. Die Dorfbewohner winkten ihr freundlich zu. Sie gingen ihren Beschäftigungen nach, wie sie es gewohnt waren. Vor wenigen Minuten war der Donner einer mächtigen Explosion über ihre Siedlung hinweggerollt. Im Westen stach die finstere Qualmwolke der explodierten Space-Jet wie ein schlanker Pilz in den Himmel. Sie hatten gesehen, wie Atlans Fahrzeug nach Norden davongetaumelt und wie die Kugel aufgetaucht war, um es vor dem Absturz zu retten. Sie, deren fortschrittlichste technische Errungenschaft eine handbetriebene Pumpe war, hatten mit eigenen Augen die Zerstörung zweiter Produkte einer für ihre Begriffe ungeheuer weit entwickelten Technologie beobachtet. Und doch taten sie, als sei in Wirklichkeit gar nichts geschehen. Ihr Alltag hatte keine Unterbrechung erfahren. Collinia blieb stehen. Der Rauchpilz war ein finsteres Mahnmal. Sie war versucht, einen der Libellenmenschen zu fragen, ob er den Qualm sehe und was er sich dabei denke. Immerhin waren vierzehn seiner Artgenossen bei der Detonation der Space-Jet ums Leben gekommen. Sie verwarf die
Idee schließlich. Die Antwort, die sie bekäme, trüge wahrscheinlich nicht zu ihrer inneren Ausgeglichenheit bei. Part One war zu Hause. Seine Hütte erschien ihr wie ein sicherer Hort, ein ruhiger Hafen am Rande der stürmischen See der Unwirklichkeit, die an ihrem Verstand zehrte. Der hagere Solaner hatte ein opulentes Frühstück vor sich aufgebaut. Er forderte sie auf, an seinem Tisch Platz zu nehmen und zuzugreifen. »Part One«, sagte sie. »Sie haben unsere Space-Jet zerstört.« Er lächelte. Genau wie die Libellenmenschen, fuhr es ihr durch den Sinn. »Erstens«, antwortete er freundlich, aber ohne sonderliches Interesse, »ist endlich der Zeitpunkt gekommen, da ich aus gutem Anlaß meinen Namen ändern kann. Part One ist gewesen. Nenn mich von jetzt an Part Two.« Er schob sich ein Stück brotähnlicher Substanz in den Mund und fuhr kauend fort: »Und zweitens: wozu die Aufregung? Sie haben unsere Space-Jet zerstört. Na und? Wozu brauchen wir sie noch? Wir haben gefunden, was wir so lange suchten, nicht wahr?«
10. Die Gestalt, die sich mühsam durch die dreieckige Luköffnung zwängte, war die eines uralten Roboters. Er stammte noch aus jener Zeit, da der Mensch Wert darauf legte, seine kybernetischen Diener nach dem eigenen Ebenbild zu formen, und die Jahrhunderte waren alles andere als spurlos an ihm vorbeigegangen. Der Überzug aus synthetischer Haut, der ihn einst zum perfekten Androiden gemacht hatte, war längst verrottet und abgefallen. Die metallene Hülle wies Dutzende von Rostflecken auf. Der linke Arm fehlte, und wenn er sich bewegte, knarrten die Gelenke, als seien die automatischen Schmiermechanismen schon vor einer halben Ewigkeit ausgefallen.
»Das ist Gammler«, sagte Tdibmufs stolz. »Sein ursprünglicher Name lautete anders, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, und er will ihn mir nicht sagen.« Der seltsame Robot machte eine ungelenke Verbeugung und erklärte mit schnarrender, schlecht modulierter Stimme: »Es ist lobenswert von euch, daß ihr gekommen seid, um unsere Einsamkeit zu verschönern. Wir haben an intelligenter Gesellschaft nur uns selbst und sind der Abwechslung dringend bedürftig.« Atlan wußte nicht, ob er hell auflachen oder sich ärgern sollte. Auf diesen halb verrotteten Blechkasten war er angewiesen, wenn er Informationen über die Landschaft im Nichts und ihre seltsamen Bewohner haben wollte? »Wir wissen nicht, wie lange wir bleiben können«, antwortete er und beschloß, sofort eine Probe aufs Exempel zu machen. »Diese Welt kommt uns äußerst merkwürdig vor. Wir können uns ihre Entstehung nicht erklären und fürchten, daß es hier nicht ganz geheuer ist.« »Oh, was das anbelangt, braucht ihr euch keine Sorgen zu machen«, versuchte Gammler, ihn zu beschwichtigen. »Zwar entspricht unsere Welt nicht den üblichen Vorstellungen von Produkten der natürlichen Planetogenese. Mit anderen Worten: sie ist künstlich erschaffen worden. Aber wer immer sie geschaffen hat, der hat angemessene Mühe walten lassen und ein Erzeugnis produziert, mit dem sich leben läßt.« Das klang schwülstig, aber im großen und ganzen vernünftig. Vielleicht verbarg sich hinter diesem Roboter mehr, als sein ramponiertes Äußeres vermuten ließ. »Wer hat diese Welt erschaffen?« fragte Sanny. »Und wie lange existiert sie schon?« »Wir nennen ihn den Baumeister«, antwortete Gammler, »aber wir kennen ihn nicht. Die planetarische Scheibe existiert, mit Atmosphäre, Vegetation, Tieren und allem, als unser Fahrzeug hier Schiffbruch erlitt. Wir haben zahlreiche Analysen angefertigt. Auf
der Grundlage verschiedener Modelle der relativen Isotopenhäufigkeit ermitteln wir ein Alter der Scheibe zwischen ein und vier Milliarden Jahren.« »Wie hieß euer Fahrzeug, und woher kam es?« wollte Hage Nockemann wissen. »Es hieß PERFIDIA und kam von Plophos«, antwortete nicht der Robot, sondern Tdibmufs. »Wie erklärt ihr euch die Leere des umgebenden Raumes?« fuhr Sanny mit ihrer Befragung fort. »Wir nehmen an, daß wir uns unterhalb des Ereignishorizonts eines Scharzen Loches befinden«, sagte Gammler. »Die Scheibe und ihr Zentralgestirn bewohnen ein kleines Zweiguniversum. Irgendwo in der Nähe muß es eine unsichtbare Massekonzentration geben, die für die Entstehung des Schwarzen Loches verantwortlich ist. Wir haben sie noch nicht gefunden.« Sanny, die auf Atlans Schulter saß, stieß den Arkoniden mit dem Ellbogen an, als wolle sie sagen: Höre, das ist keine unebene Erklärung. »Die Wesen die hier leben, haben wie ihr Schiffbruch erlitten?« erkundigte er sich. »So ist es«, bestätigte Gammler. »Wieviel Bewohner hat die Scheibe?« »Wir haben sie nicht gezählt. Unsere Bewegungsfreiheit ist begrenzt. Außerdem sind wir nur zu zweit. Wir waren die ersten, die hier landeten; aber wir kennen noch längst nicht die ganze Scheibe. Es ist durchaus möglich, daß es Ansiedlungen gibt, von denen wir nichts wissen.« »Ist er nicht kostbar?« rief Tdibmufs triumphierend. »Er weiß selbst auf die kompliziertesten Fragen eine Antwort! Ich sagte euch doch: Gammler vergißt nichts.« Atlan fühlte sein Mißtrauen schwinden. Auch wenn er zur Vorsicht noch an der Annahme festhielt, die Landschaft im Nichts müsse eine Falle sein, die von Hidden-X eingerichtet wurde, so war
es ihm doch unmöglich, zu glauben, daß dieses groteske Gespann, bestehend aus Tdibmufs und seinem verrosteten Roboter, etwas mit den finsteren Absichten des Gegners zu tun habe. Er aktivierte den Minikom und stellte eine Verbindung mit der FRESH her. »Ich glaube, wir sind unserer Sache soweit sicher, daß ihr landen könnt«, sagte er. »Wir kommen«, antwortete Curie van Herling.
* »Ich bin glücklich, daß wir eure Sorge zerstreuen konnten«, erklärte Tdibmufs mit strahlender Miene. »Geht dort ins Dorf und vertraut euch der Fürsorge der kleinen Diener an. Ihr werdet sehen, daß diese Welt ein Paradies ist. Wie man sich es vollkommener nicht denken kann. Das Böse wird sein häßliches Haupt nicht wieder erheben, dafür wollen Gammler und ich gerne sorgen. Genießt unser Paradiso nirwana, und wenn ihr vollends beruhigt seid, dann ruft euer großes Fahrzeug herbei, damit auch der Rest eurer Mitmenschen in den Genuß dieser unbeschreiblichen Welt kommt!« Es fiel mir leichter, mein Mißtrauen zu vergessen, meldete sich Atlans Extrasinn, wenn er nicht immer wider darauf zu sprechen käme, daß die SOL hier landen soll. »Willst du uns nicht ins Dorf begleiten?« fragte er. »Oh nein, das ist nicht nötig«, wehrte Tdibmufs ab. »Ihr bedürft keiner Einführung. Die kleinen Diener werden euch auch so willkommen heißen. Im übrigen haben Gammler und ich wichtige Dinge zu tun. Wir haben uns ohnehin schon zu lange hier aufgehalten.« In Anbetracht des Umstands, daß die bisherige Unterhaltung ohne jede Eile geführt worden war, gestaltete sich der Abschied der beiden merkwürdigen Wesen überraschend hastig. Atlan hatte
erwartet, daß Tdibmufs wenigstens die Landung der FRESH noch abwarten werde; aber der Alte bestand darauf, daß er keine Zeit mehr habe, und erklärte, er werde bei gegebener Gelegenheit zurückkehren. Tdibmufs und Gammler schritten auf die grüne Kugel zu. Der Robot reckte den rechten Arm in die Höhe, woraufhin die Kugel ein paar Meter weit durch die Luft rollte, so daß der dreieckige Einstieg an den tiefsten Punkt zu liegen kam. Tdibmufs ergriff die Ränder der Öffnung und zog sich mit einem kraftvollen Ruck in die Höhe. Er wirkte wesentlich weniger unbeholfen als beim Aussteigen. Gammler wandte sich noch einmal um und hinterließ bei den Zurückbleibenden einige Zweifel an seiner geistigen Gesundheit, als er erklärte: »Paradiso nirwana macht trunken. Befleißigt euch der Nüchternheit und seid rechtschaffene Gäste des Baumeisters.« Er verschwand in der Öffnung, bevor man ihn fragen konnte, was er mit diesen Worten meinte. Die Kugel stieg mit leisem Summen in die Höhe, nahm Fahrt auf und glitt mit rasch zunehmender Geschwindigkeit nach Norden davon. »Wenn das nicht die verrücktesten Typen sind, die ich je zu Gesicht bekommen habe«, lachte Hage Nockemann, »dann will ich von jetzt an auf alle weibliche Gesellschaft verzichten.« Wer Nockemann und seine Neigungen kannte, der wußte, daß dies ein Gelöbnis war, das ihm nicht leichtfertig über die Lippen kam. »Paradiso nirwana«, murmelte der Arkonide. »Ich möchte wissen, wer sich den Namen ausgedacht hat.« Es fiel ihm auf, daß Sanny sich entgegen sonstiger Gewohnheit überaus schweigsam verhielt. Er griff vorsichtig nach der zierlichen Molaatin und setzte sie vor sich auf den Boden. »So nachdenklich?« fragte er mit freundlichem Spott. Sie sah ernst zu ihm auf. »Ich kann Tdibmufs nicht berechnen«, sagte sie.
Wenn Sanny im Zusammenhang mit Personen vom »Berechnen« sprach, dann meinte sie damit ein paramathematisches Abwägen aller psychischen und mentalen Charakteristiken, die ihr an dem Beobachteten aufgefallen waren. Sie hatte des öfteren Beispiele phänomenaler Menschenkenntnis geliefert. Sie »berechnete« andere Wesen mit derselben nachtwandlerischen Sicherheit wie intergalaktische Koordinaten, Sternpositionen und Kursdaten. »Was heißt das, Sanny?« erkundigte sich Atlan. »Er ist undurchschaubar. Ich kann nichts mit ihm anfangen. Ich warne davor, ihn als harmlos zu betrachten.« Hage Nockemann lachte auf. »Ich weiß, warum du ihn nicht berechnen kannst«, sagte er. »Deine paramathematische Begabung ist verblüffend, aber doch eminent logisch. Sie muß versagen, sobald sie sich mit einem unlogischen Objekt beschäftigt. In Anbetracht der Tatsache, daß es sich bei Tdibmufs um die verrückteste Nudel handelt, die das Universum je hervorgebracht hat, scheint es nicht weiter verwunderlich, daß er dir unberechenbar vorkommt.« Sanny machte ein bedenkliches Gesicht, aber sie widersprach nicht. Auch Atlan war bereit, Nockemanns Hypothese ohne weiteres zu akzeptieren. Es wäre ihm einfach zu lächerlich erschienen, in Tdibmufs oder Gammler eine Gefahr zu sehen. Die FRESH landete wenige Augenblicke später.
* Von der Sichtfläche des Kommunikationsbildschirms blickte Breckcrown Hayes in die halbdunkle Kommandozentrale der FRESH. »Wir befinden uns in einer merkwürdigen Lage«, sagte Atlan. »Wir werden von soviel Ungereimtheiten und Unglaublichkeiten konfrontiert, daß uns der Kopf schwirrt. Es fiele leicht, hinter allem
und jedem eine Gefahr, eine Bedrohung zu sehen. Aber im Augenblick bin ich bereit, den Angriff der Eingeborenen und die Vernichtung zweier Fahrzeuge für einen äußerst unwahrscheinlichen Zufall zu halten und die Landschaft im Nichts als eine relativ friedliche Gegend zu betrachten. Es ist bedauerlich, daß bei der Auseinandersetzung intelligente Wesen ihr Leben lassen mußten; aber ich sehe nicht, wie es hätte vermieden werden können. Das Recht, mich zu wehren, darf mir keiner bestreiten.« »Habt ihr Verbindung mit Collinia und ihren Begleitern?« erkundigte sich der High Sideryt. »Bis jetzt noch nicht. Du hast Collinias euphorische Beschreibung der hiesigen Zustände gehört. Ich glaube, von den Erben Terranies dürfen wir nicht viel Hilfe erwarten. Sie hocken im Dorf der kleinen Diener und fühlen sich wie im Schlaraffenland. Wir haben vor, dem Dorf einen Besuch abzustatten; aber das ist bei weitem nicht unsere höchste Priorität.« »Sondern?« »Wir werden uns umsehen. Wir wollen uns einen detaillierten Überblick über die Landschaft im Nichts verschaffen. Zum Glück ist das Land größtenteils flach und übersichtlich. Wir interessieren uns in der Hauptsache für die Zone im Nebel und den Alpenin.« »Alpenin?« »Die Bergkette am Nordrand der Scheibe. Vorlan Brick hat sie so genannt.« Breckcrown Hayes blickte auf das vor ihm liegende Kartenbild, das ihm von der FRESH übermittelt worden war. »Ich nehme an, du wünschst, daß wir auf Warteposition bleiben, bis eure Erkundungen abgeschlossen sind«, sagte er. »Ich habe nichts zu wünschen«, antwortete der Arkonide. »Du bist der Kommandant.« Hayes nickte: »Gut. Wir bleiben vorläufig hier. Am meisten beeindruckt hat mich, daß dem Wesen namens Tdibmufs soviel an einer Landung
der SOL liegt. Falls er unlautere Hintergedanken hegt, wollen wir ihm einen kleinen Strich durch die Rechnung machen. Die SOL setzt sich erst in Bewegung, wenn deine Forschungen ergeben haben, daß wir auf der Landschaft im Nichts keine Gefahr zu befürchten brauchen.« »Das ist eine vernünftige Entscheidung«, erklärte Atlan. »Vielleicht liefert Tdibmufs uns in der Zwischenzeit mehr Hinweise, warum er so sehr an der SOL interessiert ist.« Später planten sie mit Hilfe des Computers die Flugrouten, die ihnen auf dem raschesten Weg einen möglichst umfassenden Überblick über die Landschaft im Nichts verschaffen sollten. Die FRESH hatte mit Hilfe automatischer Suchgeräte während des Anflugs detaillierte Kartenbilder der Scheibenoberfläche angefertigt. Der einzige Geländeabschnitt, über den bislang keinerlei Informationen vorlagen, war die Zone im Nebel, der Bergkette des Alpenin südlich vorgelagert und mit einer Maximalabmessung von 400 Kilometern. Atlan beabsichtigte, die geheimnisvollen Wolkenmassen eingehend zu analysieren und Einzelheiten des Geländes unter dem Nebel mit hyperenergetischen Ortern zu ermitteln. Bevor die FRESH aufbrach, sollte eine mehrstündige Ruhepause eingelegt werden. Die dreiköpfige Vorausmannschaft war infolge der erstaunlichen Ereignisse, die so unerwartet über sie hereingebrochen waren, nicht nur psychisch, sondern auch körperlich erschöpft.
* Collinia Brackfaust irrte durch das Dorf. Sie achtete nicht auf die freundlichen Grüße der Libellenmenschen und horchte nicht auf, als sie Onko Valdiz' keifende Stimme ihren Namen rufen hörte. Sie war verwirrt und im tiefsten Innern ihrer Seele verletzt. Sie brauchte
keine Gesellschaft. Sie wollte allein sein. Die Welt hatte den Verstand verloren. Zwei Space-Jet waren zerstört, vierzehn Eingeborene hatten ihr Leben verloren – und niemand nahm davon Notiz. Wahrscheinlich hatte selbst Euchan den tragischen Zwischenfall mittlerweile längst vergessen. Sie fühlte sich abseits gestellt – unverwandt mit einer Umwelt, der katastrophale Ereignisse als selbstverständlich erschienen. Die kurze Aussprache mit Part One – zum Teufel mit seinem neuen Namen! – hatte ihr den Rest gegeben. Sie begann zu zweifeln. War das wirklich, was die Erben Terranies wollten? War ihr Ziel, sich auf einer Welt niederzulassen, die ihnen ein schlaraffenähnliches Dasein bescherte und ihr Bewußtsein lähmte, so daß sie Traum nicht mehr von Wirklichkeit unterscheiden konnten? Sie wanderte aus dem Dorf hinaus. Durch hohes Gras gelangte sie schließlich ans Ostufer des Kristallsees. Sie fand einen Platz, der zum Ausruhen einlud, und streckte sich aus. Die Aufregung war zuviel für sie gewesen. Sie schlief ein und erwachte erst nach mehreren Stunden, als die Sonne sich bereits dem westlichen Horizont entgegenneigte. Sie richtete sich auf und sah im Norden, weit über die Grasebene emporragend, die Silhouette der FRESH. Ihre erste Handlung war ebenso unüberlegt wie natürlich. Sie aktivierte den Mikrokom. »Atlan«, sagte sie. »Hier ist Collinia. Sprich zu mir!« Sie mußte die Aufforderung mehrmals wiederholen, bevor sie Antwort bekam. »Atlan hier«, drang eine müde Stimme aus dem winzigen Empfänger. »Du gönnst einem abgespannten Mann nicht viel Ruhe.« »Atlan, ich muß mit dir reden«, sagte Collinia eindringlich. »Diese Welt macht mir Angst. Sie ist nicht, was sie nach außen hin zu sein scheint.« »Was weißt du darüber?« »Die Libellenmenschen – sie nennen sich auch die kleinen Diener
behandeln uns wie Götter. Sie lesen uns jeden Wunsch von den Augen ab. Part One, Feslo, Onko und die beiden Techniker sind nicht mehr ansprechbar. Es geht ihnen nur noch darum, das Paradies in vollen Zügen zu genießen. Ich habe gesehen, wie die Libellenmenschen deine Space-Jet angriffen. Das Dorf hat überhaupt keine Kenntnis davon genommen. Vierzehn Eingeborene sind gestorben, aber niemand weicht auch nur einen Schritt von seinem Alltagspfad ab. Sie alle sind von der Halluzination des Paradiso nirwana befangen …« »Des was?« unterbrach Atlan sie scharf. »Paradiso nirwana.« »Woher stammt der Ausdruck?« »Soweit ich weiß, hat Feslo Rakka sich ihn ausgedacht«, antwortete Collinia, ein wenig verwirrt von der Intensität des Arkoniden. »Hat sich in eurem Dorf ein Wesen namens Tdibmufs sehen lassen?« wollte Atlan wissen. »Ich habe von Tdibmufs gehört«, antwortete sie. »Aber hier im Dorf war er nicht. Wenigstens nicht, seit ich hier bin.« »Das ist erstaunlich«, sagte der Arkonide. Aus dem Empfänger des Minikom drangen pfeifende Geräusche. »Bleib an Ort und Stelle«, hörte Collinia Atlan sagen. »Wir haben Alarm. Ich melde mich wieder!«
* Paradiso nirwana … Die beiden Worte hatten ihn aufgerüttelt. Wie hatte Feslo Rakka sie sich ausdenken können, wenn sie Tdibmufs und Gammler schon bekannt waren? Der Alarm unterbrach seinen Gedankengang: Er sprang von der Liege in die Höhe und war mit wenigen Schritten in der Kommandozentrale. Vorlan Brick hantierte an der Konsole des
Piloten. »Es ist die SOL!« stieß er hervor. Ein Bildschirm flackerte. Der Umriß der SOL erschien auf der Sichtfläche – zwei mächtige Kugeln, zusammengehalten von einem kurzen, plumpen, zylindrischen Mittelfeld. »Abstand zweitausend Kilometer!« keuchte Vorlan Brick. Atlans Gedanken wirbelten. Es war keine vier Stunden her, seit er sich mit Breckcrown Hayes unterhalten hatte. Ihr Übereinkommen war unmißverständlich gewesen. Die SOL würde auf Warteposition bleiben, fünfzig Lichtminuten von der Landschaft im Nichts entfernt, bis die Nachforschungen ergeben hatten, daß sie ohne Gefahr landen konnte. Und jetzt das! »Verbindung!« sagte er hart. »Ich brauche eine Funkverbindung mit Hayes!«
ENDE
Während Atlan, der Wissenschaftler Hage Nockemann und Sanny, das kleine Rechengenie, mit einer Korvette auf der Landschaft im Nichts landen, um zu versuchen, die Geheimnisse dieses seltsamen Materiebrockens zu enträtseln, herrscht auf dem Mutterschiff GEFAHRENSTUFE EINS … GEFAHRENSTUFE EINS – unter diesem Titel erscheint auch der AtlanBand der nächsten Woche. Als Autor des Romans zeichnet Falk-Ingo Klee.