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Kurzlehrbuch
Medizinische Psychologie und Soziologie Julia Schüler Franziska Dietz Fachbeirat: Bringfried Müller ...
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III
Kurzlehrbuch
Medizinische Psychologie und Soziologie Julia Schüler Franziska Dietz Fachbeirat: Bringfried Müller 21 Abbildungen 20 Tabellen
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York Aus J. Schüler u. F. Dietz: Kurzlehrbuch Med. Psychologie (ISBN 3-13-136421-1) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
IV
Dr. phil. Dipl.-Psych. Julia Schüler Psychologisches Institut der Universität Zürich Allgemeine Psychologie/Motivationspsychologie Treichlerstraße 10 CH-8032 Zürich Dipl.-Psych. Franziska Dietz Universität Mannheim Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften II/ Pädagogische Psychologie Kaiserring 14–16 D-68131 Mannheim Fachbeirat: Dr. med. Dipl.-Psych. Bringfried Müller MEDI-LEARN Bahnhofstraße 26 b 35037 Marburg Grafiken: BITmap GmbH, Mannheim Klinische Fälle als Kapiteleinstiege: Lehrbuchredaktion Georg Thieme Verlag mit Fachbeirat Dr. med. Johannes-Martin Hahn Layout: Künkel u. Lopka, Heidelberg Umschlaggestaltung: Thieme Verlagsgruppe
Wichtiger Hinweis: Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse, insbesondere was Behandlung und medikamentöse Therapie anbelangt. Soweit in diesem Werk eine Dosierung oder eine Applikation erwähnt wird, darf der Leser zwar darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden. Jeder Benutzer ist angehalten, durch sorgfältige Prüfung der Beipackzettel der verwendeten Präparate und gegebenenfalls nach Konsultation eines Spezialisten festzustellen, ob die dort gegebene Empfehlung für Dosierungen oder die Beachtung von Kontraindikationen gegenüber der Angabe in diesem Buch abweicht. Eine solche Prüfung ist besonders wichtig bei selten verwendeten Präparaten oder solchen, die neu auf den Markt gebracht worden sind. Jede Dosierung oder Applikation erfolgt auf eigene Gefahr des Benutzers. Autoren und Verlag appellieren an jeden Benutzer, ihm etwa auffallende Ungenauigkeiten dem Verlag mitzuteilen.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.
c 2004 Georg Thieme Verlag Rüdigerstraße 14 D-70469 Stuttgart Unsere Homepage: http://www.thieme.de Printed in Germany Satz: Hagedorn Kommunikation, Viernheim Druck: Druckhaus Götz GmbH, Ludwigsburg ISBN 3-13-136421-1
1 2 3 4 5 6
Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handele. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Vorwort
V
Vorwort Als Psychologinnen ein Lehrbuch über Medizinische Psychologie und Soziologie für Medizinstudierende zu schreiben, ist gleich eine doppelte Herausforderung (der wir im Übrigen mit viel Spaß begegnet sind). Die erste Herausforderung besteht darin, psychologische Inhalte aus dem Betrachtungshintergrund von Medizinstudierenden zu verstehen. Hierin sind wir als Dozentinnen für die Vorbereitung von Studierenden auf das Physikum bei MediLearn bereits geübt. Die zweite Herausforderung besteht im Fach an sich: Die anspruchsvolle Aufgabe der Medizinischen Psychologie besteht darin, das Ineinandergreifen der Disziplinen Medizin und Psychologie zu beschreiben, zu erklären und aus dem Wissen über das Zusammenwirken medizinischer Situationen und psychischer Phänomene neue Erklärungen und Interventionen zu entwickeln. Die grundlagentheoretische Psychologie (z. B. Emotion, Motivation) und die anwendungsbezogene Psychologie (z. B. Psychotherapie) liefern Informationen zur Erklärung und Veränderung von menschlichem Erleben, Befinden und Verhalten und sind somit unverzichtbare Bestandteile zum Verständnis medizinischer Kontexte. Die Medizinische Psychologie und Soziologie sind umfassende und facettenreiche Themenfelder, die wir im Rahmen dieses Kurzlehrbuches nur skizzieren können. Wenn Ihnen Theorien, Modelle oder Erklärungen zu wenig tiefgreifend erscheinen mögen, lasten Sie dies bitte unserer Fokussierung auf prüfungsrelevante Inhalte an und nicht den Theorien selbst. Bei der Auswahl von Lehrinhalten haben wir uns an dem neuen Gegenstandskatalog (GK) des Instituts
für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP, Mainz, 2001) orientiert. Mit dem neuen GK ist ein begrüßenswertes „Update“ der Medizinischen Psychologie und Soziologie gelungen, das aktuellen Anwendungs- und Forschungsschwerpunkten gerechter wird und moderne medizinisch-psychologische Erkenntnisse für Mediziner nutzbar macht. Um Ihnen das Verstehen und Lernen des prüfungsrelevanten Wissens zu erleichtern, dienen der „Lerncoach“, „Merke“, „Beachte“ und die „Checkups“. Die Praxisrelevanz der Lehrinhalte wird durch einen klinischen Fall zu Beginn jeden Kapitels und durch die klinischen Bezüge an deren Ende noch einmal explizit herausgestellt. Wir möchten Frau Dr. Eva-Cathrin Schulz und Frau Dr. Christina Schöneborn vom Georg Thieme Verlag für ihre guten Ideen und ihre freundliche Kooperation danken. Zudem danken wir Herrn Bringfried Müller von Medi-Learn, von dessen detaillierten Kenntnissen prüfungsrelevanter Inhalte wir häufig profitiert haben. Das Buch hat zum Ziel, eine gute Prüfungsvorbereitung zu sein und den angehenden Mediziner für die psychologische und soziologische Sichtweise in seinem Berufsfeld zu sensibilisieren und zu interessieren. Wir freuen uns über kritische Rückmeldungen unserer Leser, die uns diesem Ziel näher bringen. Zürich und Mannheim (März 2004) Julia Schüler Franziska Dietz
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Inhalt
2
Inhalt Teil I Entstehung und Verlauf von Krankheiten
1 1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.3.5 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
3
Begriffserklärungen Der Gesundheitsbegriff Die Gesundheit und Krankheit als Dichotomie versus Kontinuum Wichtige Begriffe rund um die Krankheit
3 3
Die betroffene Person Der Überblick Die subjektive Seite von Gesundheit und Krankheit Die emotionalen und kognitiven Einflüsse Die gesundheitsbezogene Lebensqualität Klinische Bezüge
4 4
Die Medizin als Wissensund Handlungssystem Der Überblick Das Wissens- und das Handlungssystem Die medizinische Befunderhebung und die Diagnose Die Grundzüge von Klassifikationssystemen Klinische Bezüge Die Gesellschaft Der Überblick Die Rolle gesellschaftlicher und sozialer Systeme Die Erfüllung und Abweichung von sozialen Normen und Rollen Die Diskriminierung psychisch Kranker Der Etikettierungsansatz Die rechtlichen Regelungen des Gesundheits- und Sozialsystems Klinische Bezüge
3 3
Gesundheits- und Krankheitsmodelle
15
2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.1.6 2.1.7
Die Verhaltensmodelle Der Überblick Das lerntheoretische Modell Das kognitive Modell Der kognitiv-behaviorale Ansatz Die Verhaltensmedizin Die Verhaltensgenetik Klinische Bezüge
15 15 15 16 16 16 17 17
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4
Die biopsychologischen Modelle Der Überblick Die Biopsychologie Der Stress und die Krankheit Das Gehirn und das Verhalten: das Elektroenzephalogramm Die Aktivation und das Bewusstsein Der Schlaf Der Schmerz Klinische Bezüge
17 18 18 18
5
2.2.5 2.2.6 2.2.7 2.2.8
5 6
2.3 2.3.1 2.3.2
6 6
2.3.3 2.3.4
6
2.3.5
6
2.3.6
7 8
2.4 2.4.1 2.4.2
8 8
2.4.3
9
2.4.4
9
2.4.5
9 10
2.5 2.5.1 2.5.2
10 11
2.5.3 2.5.4
4
Die psychodynamischen Modelle Der Überblick Die Grundannahmen des psychodynamischen Modells Die Abwehrmechanismen Die Entwicklung psychischer Störungen Der primäre und der sekundäre Krankheitsgewinn Klinische Bezüge Die sozialpsychologischen Modelle Der Überblick Die Grundannahmen der sozialpsychologischen Modelle Die individuellen psychischen Risiko- und Schutzfaktoren Die sozialen Risiko- und Schutzfaktoren Klinische Bezüge Die soziologischen Modelle Der Überblick Die Grundannahmen soziologischer Modelle Die soziostrukturellen Faktoren Die ökologischen Faktoren
VII
22 24 25 30 33 34 34 34 35 36 37 37 38 38 38 39 40 40 40 41 41 41 42
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Inhalt
VIII
2.5.5 2.5.6
Die Auswirkung ökonomischer und ökologischer Umweltfaktoren Klinische Bezüge
42 43
3.8 3.8.1 3.8.2 3.8.3
3
Methodische Grundlagen
47
3.1
Der Überblick
47
3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Die Hypothesenbildung Der Überblick Die Theorie und die Hypothese Die Hypothesenformen Klinische Bezüge
47 47 48 48 49
3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4
Die Operationalisierung Der Überblick Die hypothetischen Konstrukte Die Skalenniveaus Einige Formen von Beurteilungsskalen und Skalierungsmethoden Klinische Bezüge
49 49 50 50
3.3.5
52 53
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5
Die Untersuchungskriterien Der Überblick Die Testkonstruktion Die Testnormierung Die Testgütekriterien Klinische Bezüge
54 54 54 54 56 59
3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4
Die Untersuchungsplanung Der Überblick Die Arten von Untersuchungen Die Stichproben Klinische Bezüge
59 59 59 64 64
3.6
Die Methoden der Datengewinnung Der Überblick Einige Datenarten Einige Methoden der Datengewinnung Klinische Bezüge
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.7 3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4
Die Datenauswertung und die Dateninterpretation Der Überblick Die quantitativen Auswertungsverfahren Die qualitativen Auswertungsverfahren Klinische Bezüge
3.8.4
77 78
4
Theoretische Grundlagen
81
4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3
Die biologischen Grundlagen Der Überblick Die Neuropsychologie Die Repräsentationen psychischer Funktionen im Gehirn Die Lateralisation und die Hemisphärendominanz Die neuronale Plastizität Die Neurotransmitter und das Verhalten Die genetischen Einflüsse auf das Verhalten Klinische Bezüge
81 81 81
4.1.4 4.1.5 4.1.6 4.1.7 4.1.8 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6 4.2.7
65 65 65 66 70 70 71 71 75 76
77 77
Die Ergebnisbewertung Der Überblick Die Replizierbarkeit und die Generalisierbarkeit Die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse Klinische Bezüge
4.2.8
4.2.9 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7
77
82 86 87 88 89 91
Das Lernen 91 Der Überblick 91 Das klassische Konditionieren 92 Das operante Konditionieren 94 Das Lernen am Modell 96 Das Lernen durch Eigensteuerung 97 Das Lernen durch Einsicht und der Lerntransfer 97 Die Habituation, die Dishabituation und die Sensitivierung 97 Die Anwendung der Lerntheorien: Verhaltensanalyse und Verhaltensmodifikation 98 Klinische Bezüge 100 Die Kognition Der Überblick Ein Beispiel für kognitive Verarbeitung Die Wahrnehmung Die Aufmerksamkeit Das Gedächtnis Die Konzeptbildung Die Informationsverarbeitung und -bewertung
101 101 102 102 102 103 104 105
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Inhalt
4.3.8 4.3.9 4.3.10 4.3.11 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6 4.4.7 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.5.7 4.5.8 4.5.9 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6 4.6.7 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4
106 106 107 111
4.7.5
Die Emotion Der Überblick Eine Definition des Emotionsbegriffs Das Messen von Emotionen Die neurobiologischen Grundlagen der Emotionen Einige Theorien der Emotion Die spezifischen Emotionen Klinische Bezüge
112 112 112 114
4.7.7
Die Motivation Der Überblick Wichtige Grundbegriffe der Motivationspsychologie Die Motivationstheorien Die primären und die sekundären Motive Die Motivationskonflikte Die neurobiologischen Grundlagen der Motivation Die Leistungsmotivation Die Motivation der Sucht Klinische Bezüge
122 122
Das Problemlösen Die Sprache Die Intelligenz Klinische Bezüge
Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Der Überblick Wichtige Definitionen und Begriffe der Persönlichkeitspsychologie Die Theorien der Persönlichkeit Die Fehlentwicklung der Persönlichkeit Einige spezielle Persönlichkeitskonstrukte und Verhaltensstile Das Selbstkonzept Klinische Bezüge Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Der Überblick Wichtige Begriffe und Methoden der Entwicklungspsychologie Die prä- und die postnatale Entwicklung Die frühkindliche Entwicklung und die primäre Sozialisation
114 115 117 122
122 123 126 128 129 129 132 134
4.7.6
4.8 4.8.1 4.8.2 4.8.3 4.8.4 4.8.5 4.9 4.9.1 4.9.2 4.9.3 4.9.4 4.10 4.10.1 4.10.2 4.10.3 4.10.4
134 134
4.10.5
143 145 146 146 146 147 149 151
Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf Der Überblick Einige Konzepte lebenslanger Entwicklung Die Adoleszenz Das Erwachsenenalter Klinische Bezüge Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs Der Überblick Die Methoden und die Gliederungsprinzipien Die Bevölkerungsbewegung Klinische Bezüge Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Der Überblick Die soziale Differenzierung Die Veränderung der Erwerbsstruktur Der Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit Klinische Bezüge
159 160 161 162 162 162 165 169 172 173 173 173 175 181 182 182 182 187 189 192
Teil II Ärztliches Handeln
134 135 142
Die soziokulturellen Einflüsse auf Entwicklung und Sozialisation Die gesellschaftlichen Determinanten Klinische Bezüge
IX
5
Arzt-Patient-Beziehung
5.1
Die Professionalisierung des Arztberufes Der Überblick Die Profession Die Merkmale der Professionalisierung des Arztberufes Klinische Bezüge
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Die Arztrolle Der Überblick Die Normen der Arztrolle Die Motivation zum Arztberuf Die berufliche Sozialisation zum Arzt
195 195 195 195 195 197 197 197 197 198 198
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Inhalt
X
5.2.5 5.2.6 5.2.7 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5
5.5.6
Einige ethische Entscheidungskonflikte ärztlichen Handelns Die psychischen Belastungen des Arztberufes Klinische Bezüge Die Krankenrolle Der Überblick Die Merkmale der Krankenrolle Die andere Seite des Krankseins Vom Symptom bis zur Krankheitsbewältigung Klinische Bezüge Die Kommunikation und die Interaktion Der Überblick Was ist Kommunikation? Die Formen der Kommunikation Die organisatorisch-institutionellen Rahmenbedingungen Der soziokulturelle Rahmen der Kommunikation Klinische Bezüge Die Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation Der Überblick Die Formen der Kooperation mit dem Patienten Die Formen der Kooperation bei Ärzten Besondere kommunikative Anforderungen Mögliche Ursachen für Störungen der Kommunikation und Kooperation Klinische Bezüge
198
6.2.3 6.2.4
Die Struktur der Anamnese Klinische Bezüge
218 218
199 199
6.3 6.3.1 6.3.2
Die körperliche Untersuchung Der Überblick Einige psychosoziale Aspekte aus der Patientenperspektive Einige psychosoziale Aspekte aus der Arztperspektive Klinische Bezüge
218 218
219 219
Urteilsbildung und Entscheidung
223
Die verschiedenen Arten der diagnostischen Entscheidung Der Überblick Die Indikationsdiagnostik Die Prozessdiagnostik Die Ergebnisdiagnostik Klinische Bezüge
223 223 223 223 224 224
Die Grundlagen der Entscheidung Der Überblick Der diagnostische Prozess Die Klassifikationssysteme Klinische Bezüge
224 224 224 225 225
199 200 200 200 201 201
6.3.4
7 7.1
202 202 202 203 207 208 209 209 209 210 210 210
211 211
6
Untersuchung und Gespräch 215
6.1 6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4
Der Erstkontakt Der Überblick Die Patientenperspektive Die Arztperspektive Klinische Bezüge
215 215 215 216 217
6.2
Die Exploration und die Anamnese Der Überblick Die Arten einer Anamnese
217 217 217
6.2.1 6.2.2
6.3.3
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5
Die Urteilsqualität und die Qualitätskontrolle Der Überblick Die Arten der Schlussfolgerung bei der Diagnosestellung Die Qualitätskontrolle diagnostischer Entscheidungen Klinische Bezüge Die Entscheidungskonflikte und die Entscheidungsfehler Der Überblick Die individuellen Entscheidungskonflikte Die Entscheidungskonflikte zwischen Ärzten Die Entscheidungsfehler Klinische Bezüge
218
225 226 226 226 227 227 227 227 228 228 229
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Inhalt
8
Interventionsformen
233
8.1
Die ärztliche Beratung und die Patientenschulung Der Überblick Die Ziele der ärztlichen Beratung Die Gesundheitsberatung Die Patientenschulung Klinische Bezüge
233 233 233 234 234 235
8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.2.4 8.2.5 8.2.6 8.2.7 8.2.8 8.2.9
9
Die Psychotherapie Der Überblick Die Klassifikation und die Kategorien psychischer Störungen Die psychodynamisch orientierten Psychotherapien Die Verhaltenstherapie Die Gesprächspsychotherapie Die systemische Therapie Die Therapiemodi Die Evaluation von Psychotherapie Klinische Bezüge
Besondere medizinische Situationen
Die medizinischen und die psychologischen Belastungsfaktoren 9.1.1 Der Überblick 9.1.2 Die Intensivmedizin 9.1.3 Die Notfallmedizin 9.1.4 Die Transplantationsmedizin 9.1.5 Die Onkologie 9.1.6 Die humangenetische Beratung 9.1.7 Die Reproduktionsmedizin 9.1.8 Die Sexualmedizin 9.1.9 Der Tod, das Sterben und die Trauer 9.1.10 Klinische Bezüge
235 235 236 237 239 242 242 244 244 246
Patient und Gesundheitssystem
10.1 Die Stadien des Hilfesuchens 10.1.1 Der Überblick 10.1.2 Der erste Schritt: die Symptomwahrnehmung 10.1.3 Der zweite Schritt: die Information von Bezugspersonen
10.2 10.2.1 10.2.2 10.2.3
Der Bedarf und die Nachfrage Der Überblick Der Bedarf und die Versorgung Der Einfluss des Ärzteangebots auf die Nachfrage 10.2.4 Klinische Bezüge 10.3 10.3.1 10.3.2 10.3.3 10.3.4 10.3.5
249
9.1
10
10.1.4 Der dritte Schritt: die Inanspruchnahme von Unterstützung im Laiensystem 10.1.5 Der vierte Schritt: die Inanspruchnahme professioneller Hilfe 10.1.6 Klinische Bezüge
249 249 249 250 251 252 253 254 255 257 259
263 263 263 263 264
10.4 10.4.1 10.4.2 10.4.3 10.4.4 10.4.5 10.4.6
Die Patientenkarrieren im Versorgungssystem Der Überblick Die Funktion der Primärärzte und der Spezialisten Die Schnittstellenproblematik bei chronisch Kranken Die strukturellen Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems Klinische Bezüge Das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen Der Überblick Die Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität Die Maßnahmen der Qualitätssicherung Die Veränderungen im Gesundheitswesen Die Grundprinzipien evidenzbasierter Medizin Klinische Bezüge
XI
264 264 265 265 265 266 266 267 267 267 267 268 268 268 269 269 269 269 270 270 270
Teil III Förderung und Erhaltung von Gesundheit
11
Prävention
273
11.1 Der Präventionsbegriff 11.1.1 Was ist Prävention? 11.1.2 Warum ist Prävention so wichtig?
273 273 273
11.2 Die primäre Prävention 11.2.1 Der Überblick 11.2.2 Der Wert der Gesundheit
274 274 274
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XII
Inhalt
11.2.3 Die Bedeutung sozialer Faktoren beim Gesundheitsverhalten 11.2.4 Verschiedene Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens 11.2.5 Klinische Bezüge 11.3 Die sekundäre Prävention 11.3.1 Der Überblick 11.3.2 Der Zusammenhang zwischen Risikofaktor und Krankheit 11.3.3 Die Probleme bei der Veränderung von Risikoverhalten 11.3.4 Ein Stufenmodell der Verhaltensänderung 11.3.5 Klinische Bezüge Die tertiäre Prävention und die Rehabilitation 11.4.1 Der Überblick 11.4.2 Die Folgen chronischer Erkrankungen und Behinderungen 11.4.3 Klinische Bezüge
275 275 277 277 277 278 278 279 279
11.4
11.5 11.5.1 11.5.2 11.5.3 11.5.4
Die Formen psychosozialer Hilfe und die Sozialberatung Der Überblick Die psychosozialen Hilfsangebote Die Sozialberatung Klinische Bezüge
280 280 280 281 281 282 282 282 282
12
Maßnahmen
12.1
Die Gesundheitserziehung und -förderung Der Überblick Die Instanzen Die Formen der Gesundheitsförderung Die Wirksamkeit Die Gesundheitsförderung in Organisationen Klinische Bezüge
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.1.6
12.2 Die Verhaltensänderung 12.2.1 Der Überblick 12.2.2 Die Faktoren der Verhaltensänderung 12.2.3 Die verhaltenstherapeutischen Ansätze 12.2.4 Klinische Bezüge 12.3
12.3.1 12.3.2 12.3.3 12.3.4 12.3.5 12.3.6 12.3.7
Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege Der Überblick Die Rehabilitation Die Soziotherapie Die Selbsthilfegruppen Die Mitwirkung von Patientenvertretern im Gesundheitswesen Die Pflege Klinische Bezüge
285 285 285 285 285 286 286 287 287 287 287 288 289
289 289 289 290 290 291 292 292
Quellenverzeichnis
295
Sachverzeichnis
297
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Kapitel
1
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit 1.1
Begriffserklärungen 3
1.2
Die betroffene Person 4
1.3
Die Medizin als Wissensund Handlungssystem 6
1.4
Die Gesellschaft 8
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2
Klinischer Fall
Ein Hilferuf
Jeder Suizidversuch sollte ernst genommen werden, unabhängig von der Art der Durchführung und dem Ausmaß der Selbstschädigung.
Anatomie, Pathologie, Chirurgie, Radiologie ¼ – im Medizinstudium lernt man (fast) alles über den menschlichen Körper, die wichtigsten Krankheiten, die richtige Diagnostik oder die aktuellen Therapien. Über die menschliche Psyche oder das soziale Verhalten erfährt man nur wenig. Dabei ist es für eine Ärztin oder einen Arzt wichtig, über das Gesundheits- und Krankheitsverhalten Bescheid zu wissen. Ebenso wichtig ist es, sich seiner eigenen Rolle in der Arzt-Patient-Beziehung bewusst zu sein. In der ersten Kasuistik stellen wir Ihnen die Patientin Solveig H. vor. Körperlich scheint sie gesund zu sein, sie selbst fühlt sich jedoch krank. Aber nicht jede subjektiv empfundene „Krankheit“ lässt sich in medizinische Diagnoseschemata pressen. Täuscht Solveig H. ihre Schmerzen vor – oder ist sie tatsächlich krank? Kerngesund oder krank? „Was mache ich mit dieser Patientin?“ überlegt Dr. Taube. Gerade eben hat ihm die 37-jährige Patientin ihre Probleme geschildert: unerträgliche Rückenschmerzen, die vor allem in den Brustkorb ausstrahlten und ihr manchmal die Luft zum Atmen nähmen. Dr. Taubes Fragen, wann die Schmerzen am schlimmsten seien (zu einer bestimmten Tageszeit, bei gewissen Bewegungen, ...?) oder wie sie die Schmerzen beschreiben würde (stechend, dumpf, ...?), konnte Solveig H. nicht beantworten. Auch Medikamente wolle sie nicht nehmen, sie sei
nur wegen einer Krankschreibung gekommen. Denn als Metzgereiverkäuferin könne sie in ihrem Zustand ja nicht arbeiten. Dr. Taube kann den Symptomen keine Krankheit zuordnen. Was also tun mit dieser Patientin? Krankheit ist auch subjektiv Dr. Taube glaubt nicht, dass Solveig H. wirklich unerträgliche Schmerzen hat. Da sein Wartezimmer voll ist und er keine Zeit hat, sich länger mit der Patientin zu beschäftigen, entschließt er sich, Solveig H. krankzuschreiben – aber nur für einen Tag. Er gibt ihr ein Rezept über Diclofenac, ein Schmerzmittel, und bestellt sie für den übernächsten Tag wieder ein. Dann muss er ein längeres Gespräch mit ihr führen und eine Entscheidung treffen, wie er weiter vorgeht. Möglich wäre auch, dass Solveigs Beschwerden psychische Ursachen haben und sie diese psychischen Probleme auf den Körper projiziert. Die Symptome haben häufig Symbolcharakter. Eine Patientin mit Rückenschmerzen könnte z. B. unter einer großen Belastung leiden und das Gefühl haben, ihr werde „mehr aufgebürdet, als sie tragen kann“. Eine depressive Neurose Solveig H. erscheint nicht zum vereinbarten Termin. Erst drei Wochen später erfährt Dr. Taube aus dem Brief einer psychosomatischen Klinik, warum: Am Tag nach dem ersten Besuch in seiner Praxis hat Solveig H. einen Selbstmordversuch mit Schlafmitteln unternommen. Die Diagnose der psychosomatischen Klinik lautet: Depressive Störung. Aus dem Brief geht hervor, dass die Patientin in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sei, sich von den Eltern nicht geliebt gefühlt habe und sich ausgenutzt vorgekommen sei. Eine ähnliche Konstellation habe sich nun in der Metzgerei ergeben, wo sie mit einem älteren Metzgermeister und dessen Frau zusammen arbeitet. Dies habe vermutlich zum Ausbruch der depressiven Störung geführt. Ursachen können frühkindliche Konflikte sein. Die Patientin ist inzwischen in stabilem Zustand und konnte in die ambulante Therapie bei einem niedergelassenen Psychotherapeuten entlassen werden. Dr. Taube macht sich Vorwürfe, dass er Solveig H. für eine Simulantin gehalten hat. Denn nun ist ihm klar, dass ihr Besuch in der Praxis eine Art Hilferuf gewesen ist.
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Begriffserklärungen
1
Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit
1.1 Begriffserklärungen
3
tag häufig zu einer dichotomen Klassifikation gezwungen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sie „krankschreiben“ oder für gesund befinden müssen (krank/gesund) oder wenn sie anhand von Klassifikationsschemata (s. u.) Diagnosen stellen
Lerncoach Im folgenden Kapitel werden einige grundlegende Begriffe definiert, die in der Psychologie und der Medizin wichtig sind. Prägen Sie sich deshalb die Definitionen gut ein.
1.1.1 Der Gesundheitsbegriff Viele Definitionen von Gesundheit kommen ohne
(trifft zu/trifft nicht zu).
Beachte Diese Vereinfachungen sind die Folge der praktischen Notwendigkeit, über Begriffe wie Krankheit und Gesundheit kommunizieren zu müssen. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass sie der Komplexität der tatsächlichen Gegebenheiten häufig nicht gerecht werden.
den Krankheitsbegriff nicht aus. So wird Gesund-
gen verstanden oder als Zustand beschrieben, in dem pathologische Veränderungen objektiv nicht
1.1.3 Wichtige Begriffe rund um die Krankheit Die Diagnose, Ätiologie, Pathogenese und Krankengeschichte
nachgewiesen werden können. Gesundheit wird
Ist eine Abweichung von gewissen Normen (z. B.
also durch die Abwesenheit von Krankheit definiert.
Blutwerte) feststellbar und ist sie bedeutsam, wird
Beachte Die WHO („World Health Organisation“) hingegen definiert Gesundheit nicht als die Abwesenheit von Missbefinden, sondern wählt eine positive Formulierung: Sie beschreibt Gesundheit als „den Zustand völligen körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“.
Die Ätiologie ist die Lehre von den Krankheitsur-
In der Krankengeschichte finden sich u. a. Angaben zur Anamnese (s. S. 217), zur Krankheitsursache,
1.1.2 Die Gesundheit und Krankheit als Dichotomie versus Kontinuum
Merke Der Arzt ist zur Dokumentation der Krankengeschichte verpflichtet (Dokumentationspflicht).
heit häufig als das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störun-
eine Krankheitsdiagnose gestellt.
Die Begriffsdefinitionen, die von Ab- oder Anwesenheit von Krankheiten sprechen, suggerieren, dass es sich bei Gesundheit oder Krankheit um einen Entweder-Oder-Zustand handelt. Man spricht von einer dichotomen Klassifikation in die beiden Kategorien „krank“ oder „gesund“. Eine andere Sichtweise, die den biologischen, psychischen und sozialen Gegebenheiten eher gerecht wird, beschreibt viele Grade der Ausprägung von Gesundsein und Kranksein, die auf einem Kon-
tinuum zwischen den Polen absoluter Gesundheit und absoluter Krankheit angeordnet sind. Wenn auch die meisten Mediziner dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit als Kontinuum zustimmen, sind sie doch in ihrem medizinischen All-
sachen, die Pathogenese beschreibt die Entstehungsgeschichte der Krankheit.
zum Verlauf der Erkrankung und zu den durchgeführten therapeutischen Maßnahmen.
Die Chronifizierung, das Rezidiv und die Rehabilitation Chronifizierung bezeichnet den Prozess von einer akuten zu einer chronischen Krankheit: Von „chronisch“ spricht man, wenn eine Krankheit aus persönlichen, sozialen und medizinischen Gründen über den üblichen zeitlichen Rahmen hinaus bestehen bleibt. Ein Beispiel sind chronische Schmerzen, die sich von den akuten Schmerzen u. a. durch ihre Dauer (mindestens sechs Monate) abheben (s. S. 30). Rezidiv bedeutet Rückfall. Eine Krankheit tritt erneut auf, obwohl sie bereits abgeheilt war.
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die betroffene Person
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Das Wort „Rehabilitation“ hat seinen Ursprung im Lateinischen. „Habilis“ bedeutet hier „passend“ oder „tauglich“. Rehabilitation meint also eine Wiederherstellung und Eingliederung eines Erkrankten in sein Lebensumfeld, so dass er wieder hinein „passt“ und als Teil der Gesellschaft „tauglich“ wird (s. S. 289).
Die protektiven Faktoren Ob Menschen erkranken oder nicht, hängt sowohl von den äußeren Lebensumständen ab, als auch
1.2 Die betroffene Person Lerncoach Es ist wichtig, dass Sie sich beim Lesen die interindividuellen Unterschiede bei der Wahrnehmung und Verarbeitung körperlicher Veränderungen klarmachen und darüber nachdenken, welche Folgen emotionale und kognitive Einflüsse auf die Krankheit haben können.
von der Person selbst. So gibt es Menschen, die
1.2.1 Der Überblick
trotz hoher Belastungen nicht erkranken, während
In diesem Kapitel steht nicht der objektive Organ-
andere schon bei geringer Belastung krank werden.
befund im Mittelpunkt, sondern die betroffene Per-
Der medizinischen und psychologischen Forschung
son mit ihrer subjektiven Interpretation ihres Be-
ist es gelungen, Faktoren auf Seiten der Person zu
findens, die durch Emotionen und Kognitionen Ein-
identifizieren, die mit dem Nichtauftreten von
fluss auf die Krankheit nimmt und deren Lebens-
Krankheiten korrelieren, vermutlich also eine Art Schutz (Protektion) vor dem Ausbilden von Krank-
qualität durch Gesundheit und Krankheit bestimmt wird.
heiten bieten. Zu diesen zählen beispielsweise:
Optimismus: Die Überzeugung, dass sich die Dinge im Leben zum Guten wenden. Selbstwirksamkeit (Bandura, 1986): Das Gefühl des eigenen Könnens und die Überzeugung, mit den eigenen Fähigkeiten etwas bewirken zu können (vgl. S. 39). Auch die Resilienz ist ein protektiver Faktor, der davor bewahrt, krank zu werden: Menschen mit hoher „psychischer Elastizität“ besitzen die Fähigkeit, sich auch an potenziell gesundheitsgefährdende Stressoren, wie hohe psychosoziale Belastungen (Armut, Gewalt) und konfliktreiche Lebensbedingungen (Trennung der Eltern) anzupassen, ohne zu erkranken (s. S. 274).
1.2.2 Die subjektive Seite von Gesundheit und Krankheit Die interindividuellen Unterschiede Mit der WHO-Definition von Gesundheit als körperliches, geistiges, seelisches und soziales Wohlbefinden wird die Subjektivität, also das individuelle Befinden und Erleben in den Vordergrund gestellt. Hiermit wird berücksichtigt, dass ähnliche innere und äußere Veränderungen interindividuell sehr unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet werden. Auch die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Vorgängen innerhalb des eigenen Körpers – die Interozeption – ist interindividuell sehr verschieden. Sie kann durch Trainingsmaßnahmen (z. B. Entspan-
4
4 4
Check-up
nungstraining) geschult werden.
Rekapitulieren Sie, welche Definitionen von Gesundheit Sie kennengelernt haben. Überlegen Sie sich eine eigene Definition und gleichen Sie sie mit den angeführten Begriffsbestimmungen ab. Wiederholen Sie die Begriffe Diagnose, Ätiologie und Pathogenese. Machen Sie sich noch einmal klar, was zur Krankengeschichte gehört und somit vom Arzt dokumentiert werden muss.
Zur Interozeption zählen die folgenden Unterformen: die Viszerozeption (Wahrnehmung des inneren Organbereichs) die Propriozeption (Wahrnehmung der Körperlage im Raum, Muskel- und Sehnenspannung) die Nozizeption (Wahrnehmung von Schmerzen). Zur Rolle kognitiver und emotionaler Faktoren bei der Wahrnehmung von Schmerzen s. S. 31.
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die betroffene Person Die Divergenz von subjektiver und objektiver Wahrnehmung
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sowohl gesundheitsförderlich als auch -hinderlich
Die subjektiv erlebte Gesundheit oder Krankheit
wirken. So kann beispielsweise die Angst (negative Emo-
und die objektiv feststellbaren Organbefunde müs-
tion) vor einer Krebserkrankung dazu motivieren,
sen nicht miteinander übereinstimmen. Menschen
die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen in An-
können sich gesund fühlen, obwohl ihre biologi-
spruch zu nehmen, aber auch zum Aufschaukeln
schen Werte signifikant von der Norm abweichen
von Schmerzen beitragen (s. S. 30).
(z. B. Bluthochdruck, Diabetes mellitus) und Men-
Beispiele für kognitive Faktoren, die Einfluss auf
schen, bei denen kein organischer Befund zu finden
das Befinden nehmen und die an anderer Stelle
ist, fühlen sich krank (z. B. chronische Schmerzen). Betrachtet man Krankheit aus einem organmedizi-
noch näher erläutert werden, sind die kognitive Bewertung von Stressoren (s. S. 19), die Ursachen-
nischen Blickwinkel, könnte man bei einer solchen
zuschreibungen (Attributionen) von Handlungs-
Divergenz von subjektivem Befinden und medizinischem Befund von „gesunden Kranken“ beziehungsweise von „kranken Gesunden“ sprechen. Leitet man jedoch aus der WHO-Definition der Gesundheit die der Krankheit ab, sind „kranke“ Menschen solche, deren Wohlbefinden beeinträchtigt ist. Konsequenterweise werden so auch körperliche Beschwerden, die ausschließlich psychische Ursachen haben, als Störungen bezeichnet. Man nennt sie somatoforme Störungen und subsumiert hierunter beispielsweise die Konversionsstörung (psychische Konflikte werden in körperliche Symptome – z. B. Lähmungen – umgewandelt) und die Somatisierungsstörung (s. u.). Um die Beeinträchtigung des subjektiven Befindens und die Einschränkung der Lebensqualität auch bei nicht-organischen Krankheiten zu verdeutlichen, seien die zur Diagnose einer Somatisierungsstörung (nach DSM-IV, s. u.) erforderlichen Symptome genannt: Es müssen Schmerzsymptome an mindestens vier Körperstellen oder Körperfunktionen, sowie zwei gastrointestinale Symptome (z. B. Übelkeit, Erbrechen) auftreten. Hinzu muss ein sexuelles Symptom (z. B. Menstruationsbeschwerden, Ejakulationsstörung) und ein pseudoneurologisches Symptom (z. B. Doppeltsehen) kommen.
ergebnissen (s. S. 130) und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit (s. S. 39). Ein weiteres Beispiel für kognitive Faktoren, die das subjektive Empfinden von Gesundheit und Krankheit beeinflussen, sind die impliziten Krankheits-
theorien. Hierunter versteht man die Ansammlung von krankheitsbezogenem Wissen von Nichtärzten (Laien) und dessen mehr oder weniger systematische Ordnung in ein System, das die Wahrnehmung strukturiert und das Handeln organisiert. Die hierin enthaltenen individuellen Laienvorstellungen beziehen sich auf die Ätiologie, Diagnose, Therapie und die Interpretation und Bedeutsamkeit von körperlichen Veränderungen. Je nach Krankheitstheorie können Symptome (z. B. Schnupfen) als unbedeutend und den Lebensalltag nicht beeinflussend erklärt werden oder sie können als wichtiger Hinweis auf eine drohende schwere Erkrankung interpretiert werden, die eine Schonung notwendig macht. Je nach Interpretation wird man sich eher als gesund oder als krank fühlen und entsprechendes Verhalten initiieren.
1.2.4 Die gesundheitsbezogene Lebensqualität Krankheiten und Schmerzen beeinträchtigen das Wohlbefinden und die Handlungs- und Bewegungsfreiheit und führen dazu, dass persönliche,
1.2.3 Die emotionalen und kognitiven Einflüsse
soziale und ökonomische Lebensverhältnisse als
In zahlreichen Kapiteln dieses Buches wird deutlich
unbefriedigend erlebt werden: sie schränken die Lebensqualität ein.
werden, dass Emotionen und Kognitionen die Ent-
Die Lebensqualität wird in der Medizinischen Psy-
stehung von Krankheiten, den Krankheitsverlauf,
chologie mit den folgenden vier Komponenten be-
die Wahrnehmung der Krankheit und das Gesund-
schrieben:
heitsverhalten beeinflussen. Sie können dabei
das physische Befinden das psychische Befinden (z. B. Stimmungen)
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die Medizin als Wissenssystem
6
das soziale Befinden (z. B. Qualität sozialer Be-
1.3.1 Der Überblick
ziehungen) die Funktionstüchtigkeit (Berufsfähigkeit, Be-
In einem ersten Abschnitt wird erläutert, warum die Medizin als ein verwobenes System aus Wissen
lastbarkeit)
und Handeln bezeichnet werden kann. Anschlie-
Ein standardisiertes Instrument zur krankheits-
ßend werden die Schritte von der Exploration bis
übergreifenden Erfassung gesundheitsbezogener
zur Diagnose nachgezeichnet und die Grundzüge
Lebensqualität ist der „Short-Form-36 Health Sur-
zweier Klassifikationssysteme für Krankheiten er-
vey“ oder SF-36. Die deutsche Version (Bullinger et. al., 1995) besteht aus 36 Items mit acht Subskalen zur körperlichen Gesundheit (körperliche Funktionsfähigkeit, Rollenfunktion, Schmerzen, Gesundheitswahrnehmung) und zur psychischen Gesundheit (Vitalität, soziale Funktionsfähigkeit, emotionale Rollenfunktion, psychisches Wohlbefinden).
läutert und deren Vor- und Nachteile diskutiert.
1.3.2 Das Wissens- und das Handlungssystem Die Medizin ist ein über viele Jahrhunderte entwickeltes Wissenssystem über Krankheiten, deren Ursachen und deren Behandlung, das sich durch immer neues Forschungs- und Erfahrungswissen
1.2.5 Klinische Bezüge Subjektive Wahrnehmung einer Erkrankung
in einem ständigen Wandel befindet. Die Medizin
Zwei Patienten, die nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und in ihrer körperlichen Funktions-
Wissen in der medizinischen Praxis anwendet und überprüft.
fähigkeit ähnlich eingeschränkt sind, können auf-
In der praktischen Anwendung entstehen weitere
grund ihrer subjektiven Wahrnehmung und Bewer-
Kenntnisse und Fragestellungen, die wiederum zu
tung der neuen Lebenssituation über völlig unter-
einer Erweiterung des Wissenssystems beitragen.
schiedliches psychisches Wohlbefinden berichten
Wissens- und Handlungssystem befruchten sich
und so auch ein unterschiedliches Ausmaß an
also gegenseitig.
ist aber auch ein Handlungssystem, da sie dieses
Lebensqualität genießen.
Check-up 4 4
Wiederholen Sie die Unterformen der Interozeption. Rekapitulieren Sie, was unter einer impliziten Krankheitstheorie zu verstehen ist. Erfinden Sie dann zwei Theorien zum selben Symptom und überlegen, welche Folgen diese nach sich ziehen.
1.3 Die Medizin als Wissensund Handlungssystem
1.3.3 Die medizinische Befunderhebung und die Diagnose Die medizinische Befunderhebung liefert Informationen, anhand derer eine Diagnose gestellt werden kann, von der wiederum die Therapie abhängt. Das Vorgehen bei der Befunderhebung folgt üblicherweise den folgenden Schritten: Zu Beginn exploriert der Arzt das Anliegen des Klienten (Explo-
ration) und sammelt Informationen über die Vorgeschichte der Krankheit (Anamnese). Die zusätzliche Beobachtung nonverbalen Verhaltens vereinfacht häufig eine erste Vermutung einer Diagnose. Diese wird anschließend anhand einer körperlichen
Lerncoach
Untersuchung überprüft und gegebenenfalls wer-
Im folgenden Kapitel werden Sie Vor- und Nachteile von Klassifikationssystemen psychischer und physischer Störungen kennenlernen. Prägen Sie sich beim Lesen die Grundzüge dieser Klassifikationen ein, bedenken Sie dabei aber auch, dass der Nutzen solcher Einteilungen durchaus kritisch zu beurteilen ist.
den medizinisch diagnostische Verfahren (z. B. bildgebende Verfahren wie MRT, CT, PET oder Laboruntersuchungen) hinzugezogen. Im Kapitel „Untersuchung und Gespräch“ (s. S. 215) werden die hier genannten Begriffe differenzierter betrachtet.
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die Medizin als Wissenssystem 1.3.4 Die Grundzüge von Klassifikationssystemen Der Nutzen von Klassifikationssystemen
sichtigt. Zudem besteht das Risiko des Labeling :
Ein Teil des medizinischen Wissenssystems sind
tung des Krankheitsfalles statt des eigentlichen In-
die Klassifikationssysteme für psychische und kör-
dividuums fördert („der chronisch Schizophrene“
perliche Erkrankungen. Sie haben zum Ziel, die
oder „der Blinddarm auf Zimmer 9“).
7
Ein Patient erhält mit der Diagnose ein festes Krankheits- oder Störungslabel, das eine Betrach-
Vielzahl von Symptomen, klinischen Befunden und Verhaltens- und Erlebensmustern zu ordnen
Das ICD-10 und das DSM-IV
und so die Kommunizierbarkeit über Krankheiten
Das ICD-10 ist das aktuelle internationale Klassifi-
zu erleichtern und eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Richten sich Ärzte und Psychotherapeuten
kations- und Diagnosesystem der WHO. Es umfasst physische und psychische Störungen und kommt
nach den geforderten Kriterien eines der etablier-
in medizinisch-psychologischen Einrichtungen zur
ten Klassifikationssysteme, so ist sichergestellt,
Anwendung. Das DSM (Diagnostisches und Statisti-
dass sie beide eine ähnliche Symptomatik meinen,
sches Manual psychischer Störungen; aktuell DSM-
wenn sie beispielsweise von einem Patienten mit
IV) wird hingegen eher in der klinisch-psychologi-
einer spezifischen Phobie reden.
schen Forschung eingesetzt.
Zudem tragen die Klassifikationssysteme dazu bei, das vorliegende Wissen zu einzelnen Krankheiten und deren Therapie entsprechend dem Forschungs-
Der Aufbau des ICD-10
stand zu sammeln und systematisch verfügbar zu
und ein Kapitel zu psychischen Störungen (s. S.
machen.
236), die jeweils wiederum eine Reihe unterschied-
Beachte Trotz ihres hohen Nutzens und ihrer breiten Anwendung sollten Klassifikationssysteme nicht als unumstößliche Wahrheiten akzeptiert, sondern als Leitlinien verstanden werden, die der Vereinfachung komplexer und vielschichtiger menschlicher körperlicher und psychischer Beeinträchtigungen dienen und der ständigen Überprüfung mit klinischem und Forschungswissen bedürfen.
tel mit einigen Beispielen einer Kategorie auf.
Das ICD-10 umfasst zwanzig Kapitel zu physischen
licher Kategorien enthalten. Tab. 1.1 listet die Kapi-
Im Vorwort der englischen Ausgabe des ICD-10 (International Classification of Disorders; Version 10) ist explizit die Prozesshaftigkeit des Diagnose-
Tabelle 1.1 Die Kapitel des ICD-10 Gruppe
Beispiel
1
bestimmte infektiöse und parasitäre Krankheiten
Slow-Virus-Infektionen des ZNS
2
Neubildungen
bösartige Neubildungen des Gehirns
3
Krankheiten des Blutes, Störungen der Immunreaktion
4
endokrine Ernährungs- und hypoglykämischer Schock, Fettsucht Stoffwechselkrankheiten
5
psychische Krankheiten, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen
Schizophrenie, affektive Störungen, neurotische und somatoforme Störungen
6
Krankheiten des Nervensystems
Enzephalitis, AlzheimerErkrankung
instruments erwähnt: „Eine Klassifikation ist eine Form, die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfassen. Der wissenschaftliche Fortschritt und Erfahrungen mit diesen Leitlinien in der Praxis werden ihre Revision und Aktualisierung erforderlich
7
Krankheiten des Auges
Glaukom
machen“ (Sartorius, 1991). Der Einsatz von Klassifikationssystemen wird auch
8
Krankheiten des Ohres
Tinnitus
9
Krankheiten des Kreislaufsystems
Apoplexie
kritisiert: Gerade im Bereich der psychischen Störungen wird die Sorge geäußert, dass man mit der Zuordnung des Patienten zu einem bestimmten Störungsbild ein Schubladendenken fördert, das Beziehungen zwischen den Diagnosen nicht berück-
10 Krankheiten des respiratorischen Systems
Grippe, Asthma bronchiale
11 Krankheiten des Verdauungssystems
Ulcus ventriculi
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8
1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die Gesellschaft
12 Krankheiten der Haut
Dermatitis atopica
13 Krankheiten des MuskelSkelett-Systems und des Bindegewebes
Rückenschmerzen
14 Krankheiten des Urogenitalsystems
Menstruationsbeschwerden
15 Schwangerschaft, Entbindung, Wochenbett
Betreuung der Mutter bei Schädigung des Feten
Mikrozephalie
Störungen der ersten Achse des DSM-IV und einen Einblick in die Beurteilungskriterien am Beispiel einer spezifischen Phobie.
1.3.5 Klinische Bezüge Unsicherheit bei der Diagnosestellung sicher ist, kann auf das Wissenssystem einer ganzen Disziplin zurückgreifen und beispielsweise im ICD-10 die zur Diagnose erforderlichen Symptome nachschlagen. Für einen Allgemeinmediziner, der
vorsätzliche Selbstbeschädigung, Arzneimittel und psychotrope Substanzen mit schädlicher Wirkung
selten mit psychischen Störungen zu tun hat, wird es beispielsweise nützlich sein, bei einem Verdacht auf eine psychische Beeinträchtigung die Symptombeschreibungen des ICD oder DSM zu Rate zu ziehen und gegebenenfalls einen Facharzt oder Psy-
20 äußere Ursachen der Morbidität und Mortalität 21 Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen
kommens des Klienten. Auf S. 236 finden Sie einen Überblick über die
Ein Arzt, der sich hinsichtlich einer Diagnose nicht
18 nicht an anderer Stelle klassifizierbare Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde 19 Verletzungen, Vergiftungen und andere Folgen äußerer Ursachen
sozialer Schwierigkeiten einzuschätzen. Achse V verlangt eine globale Beurteilung des psychischen, beruflichen und sozialen Zurecht-
16 Zustände, die in der Perinatalperiode entstanden sind 17 angeborene Missbildungen, Deformationen und Chromosomenanomalien
Auf Achse IV gilt es den Schweregrad psycho-
chologen zu empfehlen. Behandlung unter Anwendung von RehaMaßnahmen, Probleme in Verbindung mit Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit
Der Aufbau des DSM-IV
Check-up 4
Rekapitulieren Sie die beiden Klassifikationssysteme, ihre Anwendung sowie ihre Vor- und Nachteile.
1.4 Die Gesellschaft
Das DSM-IV wurde von der American Psychiatric Association (APA) entwickelt und umfasst mehr
Lerncoach
als 200 psychische Störungen. Es wird als multi-
Im folgenden Kapitel ist der Einfluss der Gesellschaft auf Krankheit und Gesundheit dargestellt. Prägen Sie sich beim Lesen ein, welche Rolle gesellschaftliche und soziale Normen dabei spielen.
axiales System bezeichnet, da der Zustand des Klienten anhand von fünf getrennten Achsen beurteilt wird. Damit begegnet das DSM dem häufig gegen die Klassifikationssysteme erhobenen Vorwurf, dass eine Multimorbidität (gleichzeitiges Vorliegen mehrerer Krankheiten) nicht abbildbar wäre: Durch die verschiedenen Achsen können gleichzeitig mehrere Diagnosen vergeben werden. Achse I umfasst aktuelle klinische Syndrome (s. S. 236). Achse II betrifft langanhaltende Probleme (Persönlichkeitsstörungen, geistige Behinderung). Auf Achse III werden allgemeinmedizinische Beschwerden beurteilt.
1.4.1 Der Überblick In diesem Kapitel wird zunächst veranschaulicht, dass der Umgang mit Gesundheit und Krankheit durch die vorherrschenden sozialen und gesellschaftlichen Systeme bestimmt wird. Diese Systeme bringen Normen und Rollen hervor, die auf S. 9 erläutert werden. Mit dem Etikettierungsansatz wird eine Theorie zum Zusammenhang von gesellschaftlichem Denken und Kranksein vorgestellt. Der Umgang mit
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die Gesellschaft Erkrankten wird ebenfalls durch rechtliche Rege-
von biologischen, verhaltensmäßigen, gesellschaft-
lungen mitbestimmt, von denen die wichtigsten am Ende des Kapitels erklärt werden.
lichen und sozialen Normen bedeutet. Werden solche Normen durch Messungen oder Beobachtungen
9
gewonnen und festgehalten, spricht man von statis-
1.4.2 Die Rolle gesellschaftlicher und sozialer Systeme
mit denen Merkmale von Personen beurteilt wer-
Das Verständnis von und der Umgang mit Gesund-
den können. Im Gegensatz zu statistischen Normen
heit und Krankheit unterscheiden sich von Gesell-
beruhen Idealnormen nicht auf empirischen Beob-
schaft zu Gesellschaft und von Kultur zu Kultur.
achtungen, sondern sind wertbehaftete und ange-
Einige nichtwestliche Kulturen sehen Gesundheit und Krankheit unmittelbar im gesellschaftlichen
strebte Soll-Werte, die vom tatsächlichen Zustand mehr oder weniger abweichen können. Eine Funk-
Kontext begründet. Ein Beispiel sind die Navajo-In-
tionsnorm (Ist-Wert) orientiert sich daran, welches Ausmaß (eines Merkmals) nötig ist, um eine Funktion zu erhalten. Krankheiten zählen zu den Devianzen, also zu Verhaltensweisen, die (wie auch kriminelles Verhalten oder Drogenmissbrauch) mit den geltenden Normen und Werten des umgebenen sozialen Systems nicht übereinstimmen. Die Nicht-Übereinstimmung mit vorherrschenden Normen wird auch als Non-Konformität bezeichnet. Die Gesellschaft erwartet, dass der Kranke seinen Zustand verändern will, um seine sozialen Rollen (z. B. als Arbeitnehmer, Elternteil) wieder vollständig einnehmen zu können (Rollenerwartungen nach Parsons, s. S. 200). Während die „Abweichung“ körperlich Kranker von der Gesellschaft zumeist toleriert und entschuldigt wird, haben psychisch Kranke noch immer einen schwereren Stand.
tischen Normen. Sie stellen Vergleichswerte dar,
dianer: Für sie hat die Krankheit eines Einzelnen ihre Ursache in einer allgemeinen Disharmonie, für die der Kranke nicht verantwortlich ist und die nur durch gemeinschaftliche Heilungszeremonien aufgehoben werden kann. Das Ziel besteht im Wiederherstellen sozialer Harmonie und einem Gleichgewicht von Körper und Geist. Beide stehen für Wohlbefinden und Gesundheit. Durch diese gesellschaftliche Orientierung sorgen sie dafür, dass einem Kranken automatisch gesellschaftliche und soziale Unterstützung zukommt. Das westliche Wissenschaftsdenken führte hingegen lange Zeit zu einer rein biologisch-medizi-
nischen Vorstellung von Gesundheit und Krankheit, in der gesellschaftliche und soziale Faktoren kaum einen Platz fanden. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, wie die gesundheitsfördernde Wirkung sozialer Unterstützung, die hinderliche Wirkung von psychosozialem Stress und die Beeinflussbar-
1.4.4 Die Diskriminierung psychisch Kranker
keit körperlicher Vorgänge durch soziale und psy-
Die Geschichte der Psychopathologie besteht aus
chische Faktoren im Allgemeinen waren mit einer
einem ständigen Wechsel von gesellschaftlicher
solchen Vorstellung jedoch nicht vereinbar und führten zur Formulierung eines biopsychosozialen
Diskriminierung und Akzeptanz psychisch Kranker. In prähistorischen Gesellschaften galten psychische
Modells.
Krankheiten als Werke des Teufels. Diese Vorstellungen lebten mit den im Mittelalter herrschenden
Merke Das biopsychosoziale Modell erkennt das Zusammenwirken körperlicher (bio), psychischer und sozialer Faktoren bei der Bestimmung von Gesundheit und Krankheit an (vgl. S. 17).
dämonischen Erklärungsmodellen wieder auf, die
1.4.3 Die Erfüllung und Abweichung von sozialen Normen und Rollen
unterbrochen wurden, erlebten zur Zeit des Natio-
Grundsätzlich wird in unserer Gesellschaft davon
Rückschlag (diesmal nicht motiviert durch die
ausgegangen,
[Wahn-]Vorstellungen
dass
Gesundheit
den
„Normal-
zustand“ darstellt und Krankheit eine Abweichung
unmenschliche Behandlungsmethoden nach sich zogen. Die anschließenden Verbesserungen der Einstellung zu psychisch Kranken und deren Versorgung in der Renaissance und im 19. Jahrhundert, die auch immer wieder durch inhumane Phasen nalsozialismus im Dritten Reich einen herben von
Dämonen,
sondern
durch die der Rassenhygiene).
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die Gesellschaft In den letzten Jahrzehnten haben sich das Ver-
der Betroffene die ihm zugeschriebene Rolle über-
ständnis und die Möglichkeiten der Behandlung psychischer Krankheiten in einem Trend der Deins-
nimmt.
titutionalisierung bemerkbar gemacht. Statt der Unterbringung in staatlich psychiatrischen Krankenhäusern und der damit verbundenen Isolation von der übrigen Gesellschaft, weitete sich die ambulante Versorgung und Therapie psychisch Kranker aus. Doch trotz der Bemühungen zur Beibehaltung oder Wiederherstellung der gesellschaftlichen Integration psychisch Kranker spielt das Stigma psychischen Krankseins auch heute noch eine große Rolle. Über psychische Krankheiten wird mit Verwandten, Freunden, Nachbarn und Kollegen weit weniger offen gesprochen als über physische Krankheiten wie Krebs oder Herzinfarkt. Psychisch Kranke und deren Angehörige leiden unter sozialen Ausgrenzungen wie Benachteiligung im beruflichen und privaten Umfeld und unter der Diskriminierung ihrer Mitmenschen, die oft wenig über psychische Erkrankungen und deren Behandlung wissen. In vielen gesunden Köpfen herrscht noch immer die „irrsinnige“ Vorstellung von psychisch Kranken, die in Irrenhäusern in Zwangsjacken zu ihrem eigenen Schutz und dem Schutz der Gesellschaft untergebracht sind. Unwissenheit schürt Ängste und Vorurteile, die durch Aktionen, z. B. initiiert durch die Bayrische Anti Stigma Aktion (BASTA zur Aufklärung der Bevölkerung über Schizophrenie; für interessante Links vgl. http://www.irrsinnig-menschlich.de), abzubauen versucht werden.
Beachte Laut Labeling-Theorie definieren sich Abweichler nicht durch ihr Verhalten, sondern durch die gesellschaftlichen Reaktionen: Eine Abweichung ist das, was von der Gesellschaft als solche definiert wird. Der Etikettierungsansatz blieb nicht unkritisiert. Vor allem die mangelnde wissenschaftliche Untermauerung seiner Annahmen stand im Zentrum der Kritik. Der grundlegende Gedanke dieser Theorie bleibt jedoch überdenkenswert: Unterschiedliche Interpretationen des Verhaltens einer Person (z. B. die Interpretation als chronische psychische Störung oder aber als tolerierbare Ausnahmesituation/„Orientierungskrise“) können völlig unterschiedliche Reaktionen – angefangen von Toleranz bis zur Stigmatisierung und Ausgrenzung – nach sich ziehen.
1.4.6 Die rechtlichen Regelungen des Gesundheits- und Sozialsystems Die Arbeitsunfähigkeit Im sozialversicherungsrechtlichen Sinne gewährleistet Gesundheit die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, während Krankheit Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit bedeutet. Von Arbeitsunfähigkeit ist die Rede, wenn der Kranke gegenwärtig nicht seiner Arbeit nachgehen kann oder wenn die Gefahr besteht, dass sich
1.4.5 Der Etikettierungsansatz
durch die Arbeitstätigkeit sein gesundheitlicher Zustand verschlechtert. Sie wird vom Arzt befristet
Der Etikettierungsansatz (Labeling-Theorie) ist in
bescheinigt, was umgangssprachlich als Krank-
den 60er Jahren als Gegenbewegung zu den damals
schreibung bekannt ist. Der Arbeitnehmer muss die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung seinem Arbeitgeber vorlegen. Das Lohnfortzahlungsgesetz sichert die finanziellen Ressourcen des Erkrankten: Der Arbeitnehmer erhält die ersten sechs Wochen weiterhin seinen Lohn vom Arbeitgeber und anschließend Krankengeld von seiner Krankenkasse.
vorherrschenden medizinischen Konzepten (v. a. der Schizophrenie) entstanden. Er räumt dem Einfluss der Gesellschaft bei der Bestimmung von „psychisch gesund“ oder „psychisch krank“ einen ganz zentralen Stellenwert ein, indem er annimmt, dass psychische Störungen das Ergebnis sozialer Interaktions-
und
Zuschreibungsprozesse
sind.
Erst durch die Etikettierung von Personen als „psychisch
gestört“
entsteht
die
eigentliche
Störung. Durch diese Stigmatisierung kommt es zur Verfestigung des abweichenden Verhaltens, da
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1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Die Gesellschaft Die Krankenversicherung
Erwerbsunfähig sind laut Sozialgesetzbuch diejeni-
Die Krankenversicherung verhindert, dass dem Kranken wirtschaftliche Nachteile durch Behand-
gen Patienten, die wegen einer Krankheit oder Behinderung die Erwerbstätigkeit nicht mehr regel-
lungskosten und Verdienstausfall entstehen. Zu
mäßig ausüben oder nur geringe Einkünfte erzielen
den Regelleistungen zählen unter anderem Vorsor-
können. Zur Abwendung der Erwerbsunfähigkeit
geuntersuchungen, Mutterschaftshilfe, Früherken-
aufgrund einer Krankheit können medizinische
nungsuntersuchungen und die Familienversiche-
oder berufsfördernde Rehabilitationsmaßnahmen
rung.
genehmigt werden.
11
Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist ein
Angestellten, Rentner und Arbeitslosen.
1.4.7 Klinische Bezüge Berühmte Personen mit psychischen Störungen
Träger der GKV sind die Kassen der Reichsversiche-
Um Vorurteile gegen psychisch Kranke (z. B. dumm,
rungsordnung (RVO), wie beispielsweise die All-
gefährlich) abzubauen, sollte man sich vor Augen
gemeine Ortskrankenkasse (AOK).
führen, dass auch viele berühmte und bewunderte
Selbstständige können zwischen einer GKV oder
Menschen an psychischen Störungen litten. Nach-
einer privaten Krankenversicherung (PKV) wählen.
folgend sind einige Beispiele aufgeführt:
Pflichtversicherte können private Zusatzversicherungen abschließen.
Arthur Schopenhauer und Marilyn Monroe litten an Depression, Abraham Lincoln und Ernest Heming-
(Zu den Besonderheiten des deutschen Gesund-
way an einer manisch-depressiven Störung; Jean-
heitssystems vgl. auch S. 267 und S. 268).
Jacques Rousseau und Georg III., König von Eng-
Zweig der Sozialversicherung und eine Pflichtversicherung für alle Auszubildenden, Arbeiter,
land, an Störungen mit Realitätsverlust. Elvis
Die Rentenversicherung
Presley und Edgar Allan Poe waren von Störungen
Die Rentenversicherung leistet die regelmäßige
durch Abhängigkeit von Alkohol oder anderen
Zahlung der Rente ab dem Beginn des Rentenalters
Substanzen betroffen, Elisabeth I. litt an einer Ess-
bis zum Tode des Rentenversicherten. Die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) ist wie die GKV ein
störung und Victoria, Königin von England, an einer Angststörung.
Teil der Sozialversicherung und eine Pflichtver-
Check-up
sicherung für nicht-selbstständige Arbeitnehmer und Auszubildende. Ihr Träger sind unter anderem
4
die Bundesversicherungsanstalt für Arbeit und die Landesversicherungsanstalten. Neben der regulären Rentenzahlung zählen zu den Leistungen der Rentenversicherung auch Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen und die
4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal die Rolle gesellschaftlicher und sozialer Systeme bei der Bestimmung von Krankheit und Gesundheit. Rekapitulieren Sie dabei auch, was der Etikettierungsansatz besagt.
Erwerbsunfähigkeitsrente.
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Kapitel
2
Gesundheits- und Krankheitsmodelle 2.1
Die Verhaltensmodelle 15
2.2
Die biopsychologischen Modelle 17
2.3
Die psychodynamischen Modelle 34
2.4
Die sozialpsychologischen Modelle 38
2.5
Die soziologischen Modelle 40
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14
Klinischer Fall
Auf den Magen geschlagen
Radiologische Darstellung eines Ulcus ventriculi an der kleinen Kurvatur (p). Das Ulcus zeigt sich als kontrastmittelgefüllte Vertiefung (Depot).
Herr S. hat ein Magengeschwür, doch weder Bakterien noch magenschädliche Medikamente können als Ursache festgestellt werden. Schuld ist vermutlich psychischer Stress. Auch unsere Psyche hat Einfluss auf unser Wohlbefinden und ist dafür verantwortlich, ob wir gesund oder krank sind. Mehr darüber, wie unser Verhalten und unsere Umwelt sich auf Gesundheit und Krankheit auswirkt, lesen Sie im folgenden Kapitel. Bauchschmerzen Dr. Baumann, AiP bei einem niedergelassenen Allgemeinmediziner, beginnt am Montagmorgen mit der Sprechstunde. Sein erster Patient ist Herr S. Dr. Baumann entnimmt der Karteikarte, dass Herr S. 46 Jahre alt ist und als Buchhalter arbeitet. In den letzten zehn Jahren ist er ab und zu mit kleineren Beschwerden in der Sprechstunde gewesen. Herr S. kommt gleich zur Sache. Seit etwa drei Wochen habe er Schmerzen im Oberbauch, leide an häufigem Aufstoßen und Appetitlosigkeit. Vor allem nachts seien die Beschwerden oft so schlimm, dass er gar nicht richtig schlafen könne. Die körperliche Untersuchung bringt außer einem leichten Druckschmerz im Oberbauch keine Ergebnisse. Dr. Baumann geht die möglichen Diagnosen rasch im Kopf durch: Eine akute Gastritis (Entzündung der Magenschleimhaut), ein Ulcus ventriculi (Magengeschwür), möglicherweise auch ein Magenkarzinom (bösartiger Magentumor). Um abzuklären, um welche Erkrankung es sich handelt, überweist Dr. Baumann Herrn S. an einen Gastroenterologen.
Dieser soll eine Gastroskopie (Magenspiegelung) durchführen. Dabei wird ein Schlauch in den Magen geschoben. Der Arzt kann die Magenschleimhaut ansehen und Gewebsproben entnehmen. Stress frisst den Magen auf Am kommenden Dienstag sitzt Herr S. wieder bei Dr. Baumann im Sprechzimmer. Er weiß schon, was er hat: Ein Magengeschwür. Dr. Baumann überfliegt den Brief des Gastroenterologen, den Herr S. mitgebracht hat: Herr S. hat ein Ulkus an der kleinen Kurvatur des Magens. Der Test auf Helicobacter pylori (ein Bakterium, das häufig Magengeschwüre verursacht) ist negativ. Herr S. nimmt auch keine Medikamente wie Aspirin oder andere entzündungshemmende Arzneimittel ein, die ein Ulkus hervorrufen können. Wie könnte das Magengeschwür dann entstanden sein? Dr. Baumann überlegt, ob er das Blut von Herrn S. auf einige seltene Erkrankungsursachen untersuchen lassen soll. Ihm fällt außerdem auf, dass Herr S. ein wenig zusammengesunken auf seinem Stuhl sitzt, er ist blass und wirkt erschöpft und ausgelaugt. Vorsichtig fragt Dr. Baumann: „Gibt es etwas, das Sie beunruhigt?“ Herr Schäfer zögert einen Augenblick, dann sagt er: „Wissen Sie, dieser ganze Stress frisst mich förmlich auf.“ Medikamente und Entspannung Bei Herrn S. ist das Ulcus ventriculi zumindest teilweise psychisch bedingt. Der Patient berichtet Dr. Baumann, dass in seiner Firma vor drei Monaten alle Bereiche reorganisiert worden seien. Er selbst sei dabei zum Leiter einer kleinen Abteilung mit vier Mitarbeitern geworden. Doch er fühle sich der neuen Aufgabe nicht gewachsen. Dieser Stress ist Herrn S. wortwörtlich „auf den Magen geschlagen“. Dr. Baumann hört seinem Patienten geduldig zu. Als Therapie verschreibt er einen Protonenpumpenhemmer, ein Medikament, das die schädliche Säureproduktion im Magen verringert. Außerdem empfiehlt er Herrn S. Entspannungsverfahren zu erlernen oder bei einem Psychologen Rat zu suchen. Vier Wochen später trifft Dr. Baumann Herrn S. beim Einkaufen. „Mir geht’s prima“, sagt der Patient zufrieden. „Ich habe einen neuen Chef bekommen, der mich sehr unterstützt. Ach ja, und ich mache einen Kurs in Autogenem Training; das hilft mir abends beim Entspannen.“
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die Verhaltensmodelle
2
Gesundheits- und Krankheitsmodelle
welt erklären kann. Wie ein Mensch auf eine bestimmte Situation reagiert, wird durch seine Lerngeschichte bestimmt. Der Einfluss der Erfahrungen
In den folgenden Abschnitten werden verschiedene
geschieht auf eine regelhafte Weise. Ziel der Ver-
Modelle zum Thema Krankheit und Gesundheit
haltensmodelle ist es, diese Regeln zu analysieren
dargestellt, d. h. verschiedene Sichtweisen, welche
und mit ihrer Hilfe Verhalten vorherzusagen oder
Faktoren die Entstehung und den Verlauf von
zu ändern.
Krankheit und Gesundheit beeinflussen. Diese
Die Verhaltensmodelle unterscheiden sich darin,
Sichtweisen schließen einander nicht aus, sondern
wie sie den Zusammenhang zwischen Umwelt-
sind meistens durchaus miteinander kombinierbar. Man kann sie am besten als eine Art Lupenblick auf
ereignissen und Verhaltensänderungen erklären. Das lerntheoretische bzw. behavioristische Modell,
eine bestimmte Art von Einflussgrößen verstehen.
das man auch als klassisches Verhaltensmodell be-
Man kann sich diese unterschiedlichen Sichtweisen
zeichnen kann (s. S. 239 Definition der klassischen
gut am Beispiel eines Kindes mit einer Aufmerk-
Verhaltenstheorie), konzentriert sich allein darauf,
samkeitsstörung (attention deficit disorder, ADD)
objektiv beobachtbares Verhalten auf Basis von
verdeutlichen: Während nach dem Verhaltens-
Umweltereignissen (Situation und Konsequenzen)
modell die Ursache für die Störung primär in den
zu erklären. Die nicht beobachtbaren Gedanken
Lernerfahrungen des Kindes (z. B. in der Art wie die Eltern auf seine Abgelenktheit und Unruhe rea-
und Gefühle des Menschen werden nicht in die Erklärung einbezogen. Dagegen stehen beim kogniti-
gieren) gesucht würde, läge der Fokus des biologi-
ven Modell die Gedanken (Kognitionen) im Mittelpunkt. Es wird angenommen, dass Menschen aufgrund ihrer Erfahrungen bestimmte Erwartungen oder Interpretationsweisen ausbilden, die dann wiederum ihr Verhalten beeinflussen. Beide Sichtweisen sind im kognitiv-behavioralen Modell zusammengefügt worden. Schließlich werden noch die Grundannahmen der Verhaltensmedizin und der Verhaltensgenetik vorgestellt. In beiden Disziplinen geht es darum, Bezüge zwischen dem menschlichen Verhalten und medizinischen bzw. genetischen Befunden herzustellen.
schen Modells beispielsweise auf möglichen biochemischen Veränderungen im Transmittersystem des Gehirns. Der psychodynamische Blick würde sich dagegen auf frühkindliche Konflikte richten, der sozialpsychologische eher auf die soziale Einbindung des Kindes, während die soziologische Perspektive zum Beispiel den strukturellen Lebensumständen
(Umweltbelastung,
15
soziale
Schicht,
etc.) des Kindes besondere Aufmerksamkeit schenken würde.
2.1 Die Verhaltensmodelle Lerncoach
2.1.2 Das lerntheoretische Modell
Sie werden im folgenden Kapitel verschiedene Verhaltensmodelle kennen lernen, also unterschiedliche Sichtweisen darüber, welchen Einfluss Lern- und Denkprozesse auf das menschliche Verhalten haben. Die Lektüre könnte Ihnen leichter fallen, wenn Sie sich zuerst klarmachen, wie die verschiedenen Lernformen funktionieren (lerntheoretische Grundlagen s. S. 92).
Im lerntheoretischen Modell (auch behavioristisches Modell) des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens wird postuliert, dass psychische Krankheiten durch Lernprozesse entstehen und aufrechterhalten werden. Aber auch das Verhalten bei physischen Krankheiten unterliegt den Einflüssen des Lernens. Dabei spielen verschiedene Lernformen eine Rolle: das klassische Konditionieren (auch respondentes Lernen), das operante Konditionieren und das Modelllernen. Diese Lernformen werden ausführlich auf S. 92 vorgestellt. Die Grundannahme, dass letztendlich alles Verhalten gelernt ist, bildet auch die Basis des therapeutischen Vorgehens.
2.1.1 Der Überblick Die Grundidee der klassischen Verhaltenstheorie (Behaviorismus) ist, dass man das Verhalten einer Person allein durch ihre Erfahrungen mit der Um-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die Verhaltensmodelle Merke Nach dem lerntheoretischen Modell ist eine psychische Störung ein ungünstiges, nicht zielführendes (dysfunktionales) Verhalten.
s. S. 240) das problematische Verhalten systematisch verändert, indem das unerwünschte Verhalten durch eine funktionalere Alternative ersetzt wird.
2.1.3 Das kognitive Modell Hinter dieser Definition steckt die Auffassung, dass
Während strenge Behavioristen sich nur um das be-
man Verhalten nicht in zwei scharfe Kategorien wie
obachtbare Verhalten kümmern und keine Annah-
„krank“ und „gesund“ unterteilen kann, weil kein
men über die Gedanken (Kognition) eines Men-
Verhalten an sich gut oder schlecht ist. Das einzige
schen machen, wird im kognitiven Modell der Ein-
Kriterium, nach dem man eine bestimmte Verhaltensweise eines Menschen (z. B. eine übermäßige
fluss von Bewertungen und Interpretationen auf das Gesundheits- und Krankheitsverhalten betont.
Angstreaktion gegenüber einer Spinne) beurteilen
Nach dem kognitiven Modell reagiert der Mensch
kann, ist, ob das Verhalten für diesen Menschen
nicht einfach passiv auf seine Umwelt, sondern er
zielführend (funktional) ist oder nicht (dysfunktio-
interpretiert Ereignisse und Erfahrungen. Die Art,
nal). Ist eine Verhaltensweise störend und löst für den Betroffenen einen subjektiven Leidensdruck aus, wird eine psychische Störung diagnostiziert. Bei der Verhaltenstherapie wird zunächst der Lernprozess, der zu dem problematischen Verhalten geführt hat, analysiert, um die Bedingungen zu verstehen, die das Verhalten auslösen und aufrechterhalten. Dieses Vorgehen wird als funktionale Verhaltensanalyse bezeichnet (s. S. 93 für eine Darstellung am Beispiel der Behandlung einer Phobie). Im lerntheoretischen Modell wird also den Bedingungen, unter denen ein bestimmtes Verhalten auftritt, beziehungsweise den Konsequenzen, die auf das Verhalten folgen, besondere Beachtung geschenkt. Dahinter steckt der Gedanke, dass Verhalten nicht zufällig auftritt, sondern dass man nur Reaktionsweisen erlernt, die unter bestimmten Umständen auch günstig sind, während sie sich unter anderen Bedingungen allerdings langfristig als störend (dysfunktional) erweisen können. So kann ein Kind beispielsweise im Kindergarten gelernt haben, dass es durch lautes Schreien Aufmerksamkeit bekommt. In der Schule dagegen führt das Verhalten zu negativen Sanktionen. In diesem Fall ist es wichtig, dem Kind eine Alternative aufzuzeigen, mit der es das eigentliche Ziel (Aufmerksamkeit bekommen) in der veränderten Situation erreichen kann. Da jedes Verhalten das Resultat von Lernprozessen ist, kann man nach Annahme der Lerntheorie jedes Verhalten auch wieder verlernen beziehungsweise umlernen. Entsprechend wird in der Verhaltenstherapie mit Hilfe verschiedener Techniken (u. a. systematische Desensibilisierung, Reizüberflutung,
wie er bestimmte Ereignisse wahrnimmt (beispielsweise als stabil oder veränderlich) und welche Ursachen er Ereignissen zuschreibt (beispielsweise durch ihn selbst oder durch äußere Faktoren verursacht), beeinflussen sein Erleben und Verhalten. Entsprechend wird auch die Entwicklung und Aufrechterhaltung
von
psychischen
Störungen
oder Krankheiten durch Gedanken und Bewertungen beeinflusst. Die Neigung, sich selbst für alle negativen Ereignisse verantwortlich zu fühlen (inter-
nale Attribution, vgl. S. 131), aber positive Ereignisse äußeren Faktoren zuzuschreiben (externale Attribution, vgl. S. 132), spielt zum Beispiel bei der Depression eine Rolle.
2.1.4 Der kognitiv-behaviorale Ansatz Die
beiden
beschriebenen
Krankheitsmodelle
(kognitives und lerntheoretisches Modell) werden im kognitiv-behavioralen Modell verbunden. Hier geht man davon aus, dass sowohl Lernprozesse als auch Kognitionen (Bewertungen, Interpretationen) eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen spielen. In der kognitiven Verhaltenstherapie werden sowohl die Lernprozesse und -bedingungen, die einem ungünstigen Verhalten zu Grunde liegen, als auch die dabei auftretenden Gedanken des Patienten analysiert und bearbeitet.
2.1.5 Die Verhaltensmedizin Die Verhaltensmedizin ist ein interdisziplinärer Forschungsbereich, in dem Kenntnisse aus den Verhaltens- und medizinischen Wissenschaften zusammenlaufen. Dabei geht es darum, die Verbin-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle dungen zwischen psychischen Verhaltensweisen
zustand einrichtet, wird zum Beispiel auch davon
und physischen Krankheiten zu verstehen. Speziell bei Krankheitsbildern wie essenzieller Hypertonie
abhängen, wie seine Umwelt bisher darauf reagiert hat, wenn er krank war. Wurde er mit freundlicher
(Bluthochdruck), koronarer Herzerkrankung, aber
Aufmerksamkeit überschüttet und von lästigen
auch bei Substanzmissbrauch oder AIDS wird seit
Pflichten entbunden, ist es wahrscheinlicher, dass
den 80er Jahren verstärkt darauf Wert gelegt,
er sich jetzt mit dem Gesundwerden eher Zeit lässt.
neben der rein physiologischen auch die psycho-
Während jemand, der stets negative Reaktionen be-
logische Komponente zu behandeln. Zudem wird
züglich seiner Krankheit erfahren hat oder weiß,
die Bedeutung des Verhaltens für die Aufrecht-
dass sein Arbeitgeber bei den Kollegen stets ver-
erhaltung der Gesundheit und den Verlauf der Behandlung immer deutlicher. Als wichtige Bereiche
ärgert reagierte, wenn sie krankheitsbedingt fehlten, versuchen wird, schnell wieder zu gesunden.
17
der Verhaltensmedizin gelten der Umgang mit
Check-up
Schmerzen und chronischen Erkrankungen, der Zusammenhang zwischen Lebensstil und koronarer
4
Herzerkrankung und das Biofeedback (s. S. 100).
2.1.6 Die Verhaltensgenetik Die Verhaltensgenetik versucht Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwiefern Unterschiede im menschlichen Verhalten auf genetische Faktoren zurückzuführen sind. Allerdings ist der Wissensstand
bezüglich
unterschiedlicher
psychischer
Merkmale sehr verschieden (siehe dazu auch den Abschnitt zu genetischen Einflüssen auf das Verhalten, S. 89). Auch bei psychischen Störungen stellt sich die Frage, ob ihr Auftreten von genetischen oder Umwelteinflüssen abhängt. Dabei hat sich gezeigt, dass der genetische Anteil stark variiert. Während bei der Schizophrenie oder der bipolaren Depression eine deutliche erbliche Komponente
4
Das lerntheoretische Modell geht davon aus, dass man jedes erlernte Verhalten auch wieder verlernen kann. Machen Sie sich noch einmal klar, welche Konsequenzen diese Annahme für einen Patienten hat. Führen Sie sich noch einmal vor Augen, wie das Zusammenspiel von Kognitionen (Überzeugungen/Bewertungen) und Verhalten eines Menschen seine Gesundheit und Krankheit beeinflussen kann. Stellen Sie sich z. B. vor, dass ein übergewichtiger Patient davon ausgeht, dass seine Fettleibigkeit erblich bedingt sei. Welchen Einfluss hat diese Überzeugung auf sein Verhalten?
2.2 Die biopsychologischen Modelle
existiert, scheinen beispielsweise Angststörungen so gut wie keine erblichen Anteile zu haben.
Lerncoach
Zudem zeigt sich auch bei Störungen, die eine ge-
Die biopsychologischen Modelle beantworten die Frage der Entstehung menschlichen Verhaltens und Erlebens aus einer anderen Perspektive als die Verhaltensmodelle. Sie können sich den Einstieg in diese Sichtweise erleichtern, indem Sie versuchen, sich die Grundfragen der Biopsychologie zunächst selber zu beantworten: Wie machen sich biologische Veränderungen (z. B. Aktivierung) im Verhalten und Erleben bemerkbar und wie können sich psychische Prozesse (z. B. Zeitdruck) körperlich niederschlagen? Unter diesem Gesichtspunkt werden im folgenden Abschnitt verschiedene psychische und biologische Zustände des
netische Komponente aufweisen, dass sich lediglich die Auftretenswahrscheinlichkeit der Störung erhöht, während für das Eintreten wiederum Faktoren der Umwelt (z. B. kritische Lebensereignisse) verantwortlich sind. Aus diesem Grund sagt man, dass lediglich eine Disposition (Anlage), nicht jedoch die Störung selbst, vererbt wird (Stress-Diathese-Modell, s. S. 22).
2.1.7 Klinische Bezüge Lernerfahrung und Umgang mit Krankheit Lernerfahrungen beeinflussen auch den Umgang mit Krankheiten. Ob ein Patient sich mit allen Kräften bemüht, möglichst schnell wieder gesund zu werden oder sich fast behaglich in seinem Kranken-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle menschlichen Organismus betrachtet: Stress, Aktivation und Bewusstsein, Schlaf und Schmerz.
Variable beobachtet. So werden beispielsweise Hirnstrukturen gezielt ausgeschaltet, um herauszufinden, welche Rolle sie für das Lernen oder für aggressives Verhalten spielen.
2.2.1 Der Überblick
Die Neuropsychologie beschäftigt sich ebenfalls mit
Die Biopsychologie wählt einen biologischen Zu-
der Frage, welche Hirnstrukturen für Verhalten
gang zur Erklärung menschlichen Verhaltens und
oder emotionale Prozesse verantwortlich sind,
Erlebens. Sie geht davon aus, dass sich körperliche
wobei sie sich auf Untersuchungen von Patienten
Prozesse und Verhalten und Erleben gegenseitig
mit Hirnschädigungen und den Einsatz bildgeben-
beeinflussen und nimmt auch bei der Erklärung von Gesundheit und Krankheit zwei Wirkungsrich-
der Verfahren stützt. Auf S. 81 wird ausführlicher auf einige neuropsychologische Grundlagen einge-
tungen an: Die Biopsychologie interessiert sowohl
gangen.
psychischer Prozesse (z. B. Stress) auf biologische Prozesse, als auch die Folgen körperlicher Veränderungen (z. B. Hirnschädigungen) auf das Verhalten und Erleben. die
Auswirkungen
Die Psychoendokrinologie untersucht die Wechselwirkung von endokrinen Vorgängen und menschlichem Erleben und Verhalten. Die experimentellen Ansätze untersuchen auch hier zwei Wirkrichtungen: Einerseits kann die Hormonkonzentration ma-
2.2.2 Die Biopsychologie Die Biopsychologie ist ein Oberbegriff für einige
nipuliert werden, indem zum Beispiel ihre Produktion stimuliert oder blockiert wird und die psycho-
Teilgebiete, die sich hinsichtlich ihrer im Vorder-
logischen Auswirkungen als abhängige Maße be-
grund stehenden Forschungsfragen unterscheiden.
trachtet werden. Andersherum werden psychische
Zu den Gebieten zählen die Psychophysiologie, die
Prozesse verändert, indem Emotionen induziert
physiologische Psychologie, die Neuropsychologie,
oder Stresszustände hergestellt und anschließend
die Psychoendokrinologie und die Psychoneuroim-
die Veränderungen im Hormonsystem als abhän-
munologie. Sie bedienen sich experimenteller, kor-
gige Variable beobachtet werden.
relativer und vergleichender Untersuchungsmethoden, auf die zum Teil in Kapitel 3 noch ausführli-
Aus dem dreiteiligen Wort Psychoneuroimmunologie ist bereits dessen Gegenstandsbereich ersicht-
cher eingegangen wird.
lich: sie beschäftigt sich mit dem komplexen Zu-
Die Psychophysiologie sucht nach physiologischen
sammenwirken des psychischen, des zentralnervö-
Indikatoren für psychische Prozesse. Es werden
sen und des Immunsystems.
zentralnervöse und vegetative Veränderungen zu
Im Kapitel über das Lernen (s. S. 91) werden wir
identifizieren versucht, die psychische Vorgänge
zeigen, dass psychische Prozesse – genauer gesagt
wie Stress, Emotionen oder klinische Störungen be-
Lernprozesse – auf das Immunsystem Einfluss
gleiten. Hierzu werden entweder psychische Vorgänge (Lernen, Gefühlszustände) im Experiment
nehmen.
variiert und die davon abhängigen körperlichen Vorgänge registriert oder vorgefundene psychische
2.2.3 Der Stress und die Krankheit Der Stress und die Stressoren
Zustände (Angststörungen vs. keine Angststörun-
Der Stress
gen) in ihren physiologischen Korrelaten vergli-
Stress ist eine Anpassungsreaktion des Organismus
chen. Beispiele für häufig erhobene physiologische
auf Reize, die dazu dienen soll, ein Ungleichgewicht
Maße und ihre Messverfahren finden sich im Me-
zwischen Anforderungen und den momentanen
thodenkapitel auf S. 70. Die physiologische Psychologie ist eine Disziplin
Fähigkeiten auszugleichen. Das Ziel besteht darin, eine Homöostase wiederherzustellen (im biologi-
der Grundlagenforschung. Sie untersucht direkte
schen Sinne die Konstanthaltung des inneren Mi-
Zusammenhänge zwischen zentralnervösen Prozes-
lieus). Ein gewisses Ausmaß an Ungleichgewicht
sen und Verhalten beim Menschen und beim Tier.
kann durchaus anregend sein (Eu-Stress), ein zu
Im Tierexperiment werden häufig physiologische
hohes Ausmaß wird als negativer Spannungs-
Parameter variiert und das Verhalten als abhängige
zustand erlebt (Dis-Stress).
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Beachte Mit Stress wird die Reaktion und nicht der Reiz bezeichnet. Dies widerspricht dem Alltagsgebrauch des Wortes.
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geatmet, die Blutgefäße verengen sich und die Hautleitfähigkeit steigt (schwitzen). Gleichzeitig wird der parasympathische Anteil gehemmt, so nehmen beispielweise
die
Speichelsekretion
(trockener
Mund) und die Magen- und Darmmotilität ab.
Die Stressoren Die zur Stressreaktion führenden Reize heißen
Stressoren. Sie können aus der Umwelt stammen (z. B. hohe Leistungsanforderungen von außen) oder innerhalb der Person liegen (z. B. überhöhtes Anspruchsniveau) und in physische und psychische Stressoren unterschieden werden. Zu den psychischen Stressoren zählen beispielsweise kritische Lebensereignisse (critical life events) wie der Tod eines nahen Angehörigen, Zeitdruck, Reizüberflutung, Isolation und ständige kleine Ärgernisse. Einige physische Stressoren sind z. B. Krankheiten, Lärm, Kälte oder Schlafmangel. Die Wirkung von Stressoren hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, zum Beispiel von der Intensität, Dauer und Häufigkeit des Stressors, von den Vorerfahrungen im Umgang mit Stress, von Persönlichkeitsmerkmalen und Bewältigungskompetenzen und von der erfahrenen sozialen Unterstützung. Einige dieser moderierenden Variablen zwischen Reiz und Stresserleben werden später noch aufgegriffen. Betrachten wir zunächst, welche physiologischen und psychologischen Reaktionen die Stressoren nach sich ziehen.
Durch die Sympathikusaktivität wird das Nebennierenmark zum Ausschütten von Adrenalin (Epinephrin) und Noradrenalin (Norepinephrin) angeregt. Sie zählen zu den Katecholaminen („Stresshormone“) und sorgen für die Bereitstellung von Energie, indem sie die Leber zu einer erhöhten Zuckerproduktion anregen. Zudem veranlassen sie die Milz dazu, vermehrt rote Blutkörperchen auszuschütten, um bei einer möglichen Verletzung die Blutgerinnung zu unterstützen. Die Katecholamine tragen zudem zur Produktion weißer Blutkörperchen bei, die zur Vermeidung einer Infektion nötig sind. Das Hypophysenvorderlappen-NebennierenrindenSystem: Die Hypophyse schüttet bei Stress zwei Hormone aus. Das thyreotrope Hormon (TSH) regt die Schilddrüse an, das adrenocorticotrope Hormon (ACTH) die Nebennierenrinde. Aus der Nebennierenrinde werden als Folge Glukokortikoide (z. B. Kortisol) freigesetzt, die unter anderem für die Ausschüttung von Zucker aus der Leber und eine Reihe von Stoffwechselprozessen verantwortlich sind.
Die Reaktionen auf chronischen Stress Das bekannteste Modell zur Reaktion auf chro-
Die physiologischen Stressreaktionen
nischen Stress ist das von Selye (1956) beschrie-
Die Reaktionen auf akuten Stress
bene Allgemeine Adaptationssyndrom (AAS). Wie
Das für Stress charakteristische physiologische Re-
der Name sagt, handelt es sich um eine Anpassung
aktionsmuster dient einer Mobilisierung des Organismus, die ihn zum Kampf oder zur Flucht befähigt
des Organismus, die durch ein typisches Muster physiologischer Reaktionen gekennzeichnet ist.
(„Fight-or-flight“-Syndrom nach Cannon).
Die physiologischen Reaktionen sind nicht spezi-
Die Gehirnregion, die maßgeblich an Stressreaktio-
fisch für bestimmte Reize, sondern treten ganz all-
nen beteiligt ist, ist der Hypothalamus („Stresszen-
gemein (unspezifisch) bei jeder Art von Stressor
trum“). Man unterscheidet zwei Systeme der
auf.
Stressreaktion: das Nebennierenmark-System und
Das Allgemeine Adaptationssyndrom beschreibt
das Hypophysenvorderlappen-Nebennierenrinden-
eine typische Abfolge von drei Phasen: die Alarm-,
System. Das sympathische Nebennierenmark-System: Auf
die Widerstands- und die Erschöpfungsphase. Die Alarmphase ist die unmittelbare Reaktion zur
eine akute Bedrohung reagiert der Organismus
Wiederherstellung des inneren Gleichgewichts. Sie
mit der Dominanz des sympathischen Anteils des
ist in erster Linie durch die Ausschüttung von Kor-
Sympathikus wird häufig auch als „Stressnerv“ bezeichnet: Herzfrequenz und Blutdruck steigen, es wird schneller
tisol aus der Nebennierenrinde gekennzeichnet.
vegetativen
Nervensystems.
Der
Kortisol wird häufig als physiologischer Indikator für Stress herangezogen.
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle In der Widerstandsphase (Resistenzphase) kommt
lauf-Erkrankungen und Magen- und Darm-Erkran-
es durch den Anstieg des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) und Kortisol zu einer Energiemobili-
kungen. Der Wirkmechanismus, wie Stress zu somatischen
sierung und Stoffwechselsteigerung, die dem Stres-
Schäden führen kann, soll am Beispiel des Magengeschwürs erläutert werden (vgl. klinischer Fall S. 14): Es gibt unterschiedliche und widersprüchliche Erklärungen zur Entstehung von Magengeschwüren (Ulcus ventriculi). So werden beispielsweise Bakterien oder die eigenen Magensäfte, die meist eine zu hohe Salzsäurekonzentration aufweisen, verantwortlich gemacht. Welche der kontrovers diskutieten Ursachen auch zutrifft, Stress verstärkt sie, indem er die Wand des Verdauungstraktes schädigt und seine Funktion beeinträchtigt: Die Sympathikusaktivierung leitet das Blut vom Verdauungssystem weg in die Skelettmuskeln, verringert so die Wirksamkeit der Schleimschicht und damit die Abwehrkraft des Verdauungstraktes. Nach jeder Stressreaktion wird die Sympathikusdominanz durch eine erhöhte parasympathische Aktivität kompensiert, die die schädigende Salzsäuresekretion erhöht.
sor entgegengesetzt werden kann. So gelingt zunächst eine Gewöhnung an den Stresszustand. Gleichzeitig ist jedoch die Resistenz gegenüber anderen Stressoren vermindert. Die Erschöpfungsphase ist erreicht, wenn nach einiger Zeit die erhöhte Hormonausschüttung nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Der Widerstand bricht zusammen. Bleibt der Stressor länger bestehen, werden Organe geschädigt, es kommt zu psychosomatischen Erkrankungen, zur Störung der Immunabwehr und im Extremfall zum Tod.
Beachte Die Erkenntnisse Selyes zum Allgemeinen Adaptationssyndrom wurden an Versuchstieren gewonnen. Psychologische Aspekte wie Kognitionen und Emotionen blieben völlig unberücksichtigt. Eine Übertragbarkeit auf den Menschen ist also nur eingeschränkt möglich.
Der Stress und das Immunsystem Das psychoendokrine Stressmodell nach Henry
Die
Das psychoendokrine Stressmodell nach Henry (1986) bezieht emotionale Stressreaktionen mit
unter anderem mit der Frage, ob und wie Stressoren das Immunsystem unterdrücken und so den
ein: ein Stressor kann Ärger, Angst oder Depression
Kampf gegen Bakterien und Viren erschweren.
hervorrufen. Die Emotionen ziehen wiederum un-
Zahlreiche
terschiedliche Verhaltens- und neuroendokrine Re-
Stressoren konnten die negativen Auswirkungen
aktionsmuster nach sich.
von Stress am Versuchstier und am Menschen auf-
So führt Ärger zu Kampfverhalten (Fight) und zu
zeigen: Tiere reagierten auf elektrische Schocks
einer vermehrten Ausschüttung von Noradrenalin
oder auf Lärm mit einer Reduktion der Aktivität
und Testosteron. Angst bedingt Fluchtverhalten (Flight) und die Ausschüttung von Adrenalin. De-
von Lymphozyten, beim Menschen wirkten Stressoren wie Prüfungen, Schlafentzug oder Trennun-
Psychoneuroimmunologie
Untersuchungen
beschäftigt
mit
sich
verschiedenen
pression hat passive Unterordnung, einen Rückgang
gen vom Lebenspartner immunsuppressiv.
an Testosteron und eine Fehlregulation des norad-
Die mit den beiden oben beschriebenen Stresssys-
renergen Systems zur Folge.
temen einhergehenden neuronalen und hormonellen Aktivitäten können sich auf vielfältige Art und
Die negativen Auswirkungen von Stress
Weise auf das Immunsystem auswirken.
Die geschilderten physiologischen Stressreaktio-
Ein Beispiel: Normalerweise werden bei der zellu-
nen sind bei körperlicher Bedrohung sinnvoll und notwendig, nicht jedoch bei psychischen Stres-
lären Immunreaktion Mikroorganismen und befallene Körperzellen von T-Zellen (T-Lymphozyten)
soren. Eine Aktivierung des Körpers ist hier nicht
vernichtet. Bei der humoralen Immunreaktion bil-
nur
die
den B-Zellen (B-Lymphozyten) Antikörper, die Mi-
Überbeanspruchung von Systemen sogar schädi-
kroorganismen deaktivieren oder vernichten. Stress
gend sein. Zum Beispiel erhöht die stressbedingte
führt nun unter anderem dazu, dass die vermehrt
Sympathikusaktivierung das Risiko für Herz-Kreis-
ausgeschütteten Glucocorticoide und das Norad-
unangemessen,
sondern
kann
durch
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle renalin die Rezeptoren von B-Zellen und T-Zellen besetzen und sie so für die Immunabwehr unbrauchbar machen.
Die psychologischen Stressreaktionen Lazarus geht davon aus, dass die Bewertung der Situation die eigentliche Stressreaktion bedingt. Er unterscheidet in seinem Coping-Modell zwei Phasen der kognitiven Bewertung: Die primäre Bewertung („primary appraisal“) ist eine erste schnelle Einschätzung der Situation. Hier wird ein Ereignis danach bewertet, ob es relevant, irrelevant, positiv oder negativ und bedrohlich für den Organismus ist. Wird die Situation für potenziell schädigend befunden, wird das Ausmaß ihrer Konsequenzen abgeschätzt und entschieden, welches Verhalten zur Abwendung von Schaden nötig ist. Die sekundäre Bewertung („secondary appraisal“) folgt als zweiter Schritt. Hier wird bewertet, mit welchen eigenen Mitteln die Situation zu bewältigen ist. Welche sozialen und persönlichen Ressourcen bestehen und können für welche Handlungsmöglichkeiten genutzt werden? Während der Bewältigung wird überprüft, ob die angewandten Strategien funktionieren oder durch andere ersetzt werden müssen. Je nach Verhältnis der zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten und deren Erfolg und den Anforderungen der Umwelt kommt es zu einer optimistischeren oder pessimistischeren Neubewertung der Situation.
Definition Die individualspezifische Hypothese besagt, dass ein Individuum auf unterschiedliche Reize mit einem bestimmten, für sie typischen Reaktionsmuster reagiert. Werden die bevorzugt angesprochenen Systeme durch ständigen Stress überbeansprucht, treten Störungen wie Magenschmerzen, Muskelverspannungen oder schwerer wiegende psychosomatische Erkrankungen auf.
Beachte Der individualspezifischen steht die reizspezifische Hypothese (stimulusspezifische Hypothese) gegenüber. Sie besagt, dass bestimmte Umweltreize bei unterschiedlichen Individuen gleiche psychophysiologische Reaktionsmuster hervorrufen. Die psychologischen Unterschiede Wir haben mit der kognitiven Bewertung von Stresssituationen schon eine wichtige Variable kennen gelernt, die den Einfluss von Stressoren auf die Reaktionen moderiert. Auf der Suche nach weiteren Erklärungen interindividueller Unterschiede wurde ein Persönlichkeitsmerkmal identifiziert, das vor negativen
Auswirkungen
möglicher
Stressoren
schützt. Dieses ist die Widerstandsfähigkeit („Har-
Physiologische Stressreaktionen können unter-
diness“, Kobasa, 1984). Drei Faktoren unterscheiden widerstandsfähige von weniger widerstandsfähigen Menschen: Sie erleben schwierige Situationen als Herausforderung und nicht als Bedrohung, sie zeigen Engagement, statt sich passiv zu verhalten, und erleben ein Gefühl der Kontrolle über das, was sie tun. Unterschiede in den zur Verfügung stehenden Ressourcen (Fähigkeiten, Einstellungen, Erfahrungen, soziale Unterstützung) bestimmen ebenfalls, wie ein Ereignis wahrgenommen wird und welche emotionalen und Verhaltenskonsequenzen folgen.
schiedliche Organe betreffen. So gibt es beispielsweise Menschen, die über verschiedene Belas-
Die pathologischen Reaktionen auf Stress
tungssituationen hinweg dazu neigen, mit dem
Den meisten Menschen gelingt nach einiger Zeit die
gastrointestinalen System zu reagieren und andere,
Bewältigung von Stresssituationen. Die mit ihnen
die eher mit dem muskulären System „antworten“.
verbundenen Emotionen lassen nach: der Organis-
Man spricht von einer individualspezifischen Hypo-
mus stellt nicht nur körperlich, sondern auch emo-
these der Reaktion auf Reize.
tional wieder ein Gleichgewicht her.
Die interindividuellen Unterschiede der Stressreaktion Alltagsbeobachtungen zeigen, dass Menschen sich darin unterscheiden, wie, auf was und in welchem Ausmaße sie „gestresst“ reagieren. Die interindividuellen Unterschiede betreffen physiologische und psychologische Reaktionen auf Stressoren.
Die physiologischen Unterschiede
21
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Sind die Stressoren sehr intensiv, kann eine Bewäl-
Einige Methoden der Stressbewältigung
tigung jedoch auch fehlschlagen: viele Menschen leiden auch Monate oder Jahre nach dem Ende
Um Stress zu bewältigen („Coping“), können das Verhalten, die Emotionen oder das Denken verän-
eines Krieges, einer Naturkatastrophe, einem Ge-
dert werden.
walt- oder Sexualverbrechen, nach einem schweren
Die problemzentrierten Strategien bestehen im Ab-
Verkehrsunfall oder nach anderen Ereignissen tat-
wenden des Stressors oder in einer Veränderung
sächlicher
der Beziehung zum Stressor, indem aktiv gehandelt
Lebensbedrohung
oder
drohender
schwer wiegender Verletzungen unter starken
wird.
emotionalen Beeinträchtigungen. Dies bezeichnet
Handlungsmöglichkeiten sind Angriff oder Flucht:
man als posttraumatische Belastungsstörung (posttraumatisches Belastungssyndrom). Zu den
Man kann sich der Herausforderung stellen oder ihr aus dem Wege gehen.
Symptomen zählen die ständigen Wiederholungen
Ist ein Stressor nicht durch das eigene Verhalten
des belastenden Ereignisses in Form von Erinnerun-
beeinflussbar, können die eigenen Emotionen ver-
gen oder Träumen („Flash Backs“), die Vermeidung
ändert werden (emotionszentrierte Copingstrategien). Eine Steigerung des emotionalen Wohlbefindens (z. B. durch angenehme Aktivitäten oder Entspannungsverfahren) führt beispielsweise dazu, dass Situationen optimistischer (z. B. als Herausforderung) erlebt werden können. Ein belastendes Ereignis kann neu bewertet werden, indem man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und ihm Positives abzugewinnen sucht. Neben der Bewertung ist es die wahrgenommene Kontrolle über den Stressor, die ihm seine Bedrohlichkeit nimmt: Weiß man, was auf einen zukommt (Informationskontrolle), kann man sich entscheiden, welche Handlungen man wählt (Entscheidungskontrolle), und kann man durch Verhalten die Konsequenzen kontrollieren (Verhaltenskontrolle), gelingt es besser, sich an stressreiche Ereignisse psychisch anzupassen.
von Aktivitäten, die an das Trauma erinnern, eine reduzierte
Reaktionsfähigkeit
auf
Umweltreize
(die Patienten geben beispielsweise an, sich von anderen entfremdet zu haben oder emotional betäubt zu sein), ein hohes Erregungsniveau (übertriebene Schreckreaktionen) und Angst oder Schuldgefühle. Posttraumatische Belastungsstörungen werden verhaltenstherapeutisch erfolgreich durch Konfrontationstherapien (s. S. 99, 240) behandelt. Die wiederholte Konfrontation mit Hinweisreizen, die mit dem traumatischen Ereignis assoziiert sind, führt zu einem Abschwächen oder einem Verschwinden der fehlangepassten emotionalen Reaktion. Häufig werden psychotherapeutische Maßnahmen mit angstlösenden Medikamenten oder Antidepressiva kombiniert.
Zwei
grundsätzlich
zu
unterscheidende
Das Stress-Diathese-Modell Menschen unterscheiden sich von anderen auch hinsichtlich der genetischen Disposition, die sie zur Ausbildung bestimmter Erkrankungen (z. B.
2.2.4 Das Gehirn und das Verhalten: das Elektroenzephalogramm Im Kapitel „Die biologischen Grundlagen“ (s. S. 81)
Schizophrenie) mitbringen.
werden wir auf die Repräsentation psychischer
Nach dem Stress-Diathese-Modell müssen neben
Funktionen im Gehirn und auf Methoden zur Loka-
den genetischen Faktoren (Diathese) immer auch
lisation von Funktionen eingehen.
Belastungen (Stress) hinzukommen, damit sich eine Krankheit manifestiert. Das Stress-Diathese-Modell berücksichtigt also die für die Biopsychologie grundlegende Annahme des Zusammenspiels von biologischen und psychologischen Faktoren.
An dieser Stelle soll schon mal eine Methode vorweggenommen werden, mit der Informationen über die Aktivität des Gehirns bei psychischen Prozessen gewonnen werden: Das EEG.
Das Spontan-EEG Das Elektroenzephalogramm (EEG) misst mit Oberflächenelektroden an standardisierten Ableitpunkten auf der Kopfhaut die bioelektrische Aktivität bestimmter Gehirnregionen. Die elektrischen Po-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle tenzialschwankungen, die so abgeleitet werden können, sind das Ergebnis der Aktivität großer Neuronenverbände.
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Frequenz 8–13 Hz
α 100 µV
Das Spontan-EEG zeigt die Potenzialschwankungen,
β
die ohne einen Einfluss von außen im Wachzustand
ϑ
14 –30 Hz 4 –7 Hz
1s
oder im Schlaf zu messen sind.
0,5–3 Hz
δ
Die Frequenz und die Amplitude Die wichtigsten Parameter zur Beschreibung des
Abb. 2.1 Vier häufige Arten rhythmischer Aktivität im Spontan-EEG des Erwachsenen (nach Silbernagl/Despopoulos)
Aktivitätszustandes des Gehirns sind die Frequenz und die Amplitude: Die Frequenz ist die Häufigkeit elektrischer Poten-
einem Wellenmuster. Sie werden im Schlaf be-
zialschwankungen und wird in Hertz [Hz] ange-
obachtet (s. u.) und kommen beim gesunden Er-
geben. Die Frequenzen des EEGs umfassen einen
wachsenen im Wachzustand nicht vor.
Bereich von 1–80 Hz. Die Amplitude ist ein Maß für die Intensität der Potenzialschwankungen, im EEG also die Höhe des Ausschlags. Sie wird in Mikrovolt (mV) angegeben und kann zwischen einigen bis mehreren hunder-
Prägen Sie sich die Frequenzbänder des EEG gut ein. Sie werden Ihnen für das Verständnis der folgenden Abschnitte nützlich sein.
muster“ entstehen.
Beachte Das EEG-Muster unterscheidet sich je nach Lebensalter. Beim Kind ist das EEG insgesamt niedrigfrequenter als beim Erwachsenen, so dass auch im Wachzustand Theta- und Delta-Wellen auftreten können.
Die Frequenzbänder des EEG
Die evozierten Potenziale
ten Mikrovolt liegen. Hohe Frequenzen gehen häufig mit niedriger Amplitude einher, so dass im EEG ein „Zackenmuster“ zu erkennen ist. Die Kombination niedriger Frequenzen mit hoher Amplitude lässt ein „Wellen-
Man unterscheidet vier Typen von Frequenz-
Die evozierten Potenziale (ereigniskorrelierte Po-
bändern
tenziale, EKP) sind Veränderungen der elektrischen
nach
ihrer
dominierenden
Frequenz
(Abb. 2.1) :
Alpha-Wellen (a-Wellen) sind niedrigfrequente Wellen, die sich im Ruhe-EEG ableiten lassen. Hierbei ist der Patient wach und entspannt und hält die Augen geschlossen. Finden sich Alpha-Wellen an mehreren Ableitpunkten, spricht man von einem synchronisierten EEG. Beta-Wellen (b-Wellen): Öffnet der Patient die Augen oder erfordert ein Sinnesreiz oder eine geistige Tätigkeit Aufmerksamkeit, verschwinden die Alpha-Wellen. An ihre Stelle treten hochfrequente und niedrigamplitudige BetaWellen. Das Ablösen des Alpha-Rhythmus durch den Beta-Rhythmus wird als Alpha-Blockade und bei vorher synchronisiertem EEG als EEG-Desynchronisation bezeichnet. Die Theta-Wellen (4-Wellen) und Delta-Wellen (d-Wellen) ähneln aufgrund ihrer niedrigen Frequenz und ihrer hohen Amplitude am ehesten
Aktivität, die durch ein Reizereignis hervorgerufen (= evoziert) werden. Sie sind also vom spontanen EEG abzugrenzen. Je nach auslösendem Reiz spricht man von visuell evozierten Potenzialen (z. B. durch einen Lichtreiz), akustisch evozierten Potenzialen (Ton) oder von somatosensorisch evozierten Potenzialen (leichter Stromstoß). Die evozierten Potenziale werden durch das weit höher-amplitudige Spontan-EEG überlagert und müssen mit Mittelungstechniken sichtbar gemacht werden. Hierzu werden in einer Vielzahl von Durchgängen Potenziale auf die gleiche Art und Weise evoziert und die entstandenen EEG-Muster übereinander gelegt. Die in beide Richtungen ausschlagenden Potenzialschwankungen der ständig vorhandenen EEG-Hintergrundaktivität (SpontanEEG, auch „Rauschen“) mitteln sich hierbei gegenseitig aus, werden also weggefiltert und geben die Sicht auf die evozierten Potenziale frei.
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Zu den evozierten Potenzialen zählen auch die CNV
quenz, der Atemfrequenz und des Blutdrucks. Es
und die P300.
kommt zu einer peripheren Vasokonstriktion, einer Zunahme der Lidschlagfrequenz und zur Pu-
CNV (Contingent Negative Variation)
pillendilatation. Der Tonus der Skelettmuskulatur
CNV steht für „Contingent Negative Variation“ und
ist erhöht und die elektrodermale Aktivität nimmt
ist auch als Bereitschaftspotenzial bekannt. Die CNV
zu. Es werden vermehrt Katecholamine (z. B. Adre-
wird üblicherweise mit dem folgenden Paradigma
nalin, Noradrenalin) und andere Hormone aus-
erhoben: ein Signal kündigt einen Reiz an, auf
geschüttet.
den (z. B. motorisch) reagiert werden muss. Nach dem Signal zeigt sich eine kontinuierliche Negativierung im EEG, die als Bereitschaft interpretiert
Die Bewusstseinszustände im EEG
wird, auf den folgenden Reiz zu reagieren. Die Ne-
abgebildet werden.
Das Ausmaß der Aktivation kann durch das EEG
gativierung erfolgt im Vergleich zu anderen Potenzialveränderungen relativ langsam und zählt aus diesem Grund zu den langsamen Hirnpotenzialen.
Merke Als Faustregel gilt: Je höher die Frequenzen des EEGs, desto höher der Grad des Bewusstseins.
P300 Diese Potenzialschwankung interessiert vor allem bei Untersuchungen von Aufmerksamkeitsprozes-
Da bestimmte Frequenzen und Amplituden häufig gemeinsam auftreten, kann man sich auch merken:
sen. Das typische Paradigma ist das „Odd-ball-Paradigma“: es wird eine Reihe gleicher Töne dargeboten, in die ab und zu ein abweichender Ton eingestreut wird, auf den reagiert werden muss. 300 Millisekunden nach dem Entdecken des relevanten Reizes zeigt sich eine positive Potenzialverschiebung: die P300.
Je ruhiger ein Mensch ist, desto wellenförmiger,
Beachte Im Allgemeinen kann man sich merken, dass eine Negativierung im EEG ein Indikator für eine kortikale Mobilisierung ist und eine Positivierung auf eine Deaktivierung hinweist.
2.2.5 Die Aktivation und das Bewusstsein Die Indikatoren von Aktivation
und je aktiver, desto zackiger ist sein EEG. Wir sind bereits auf die Frequenzbänder eingegangen, Tab. 2.1 ordnet sie noch einmal explizit dem Grad des Bewusstseins zu.
Tabelle 2.1 Die Zuordnung unterschiedlicher Grade des Bewusstseins zu den EEG-Frequenzbändern Bewusstseinsgrad
Frequenzbänder
aufmerksamer Wachzustand, Erregung
Beta-Wellen (ca. 24 Hz)
entspannter Wachzustand bei geschlossenen Augen
Alpha-Wellen (ca. 12 Hz)
Einschlafen, Dösen
Theta-Wellen (ca. 6 Hz)
Tiefschlaf, Bewusstlosigkeit
Delta-Wellen (ca. 3 Hz)
Aktivation, Aktivierung oder „Arousal“ meint eine
folgenden:
Beachte Die ungefähren Frequenzen kann man sich merken, indem man vom niedrigsten Grad des Bewusstseins ausgehend die Frequenzen immer verdoppelt.
Auf der Ebene des zentralen Nervensystems führt die erhöhte Aktivität des aufsteigenden retikulären
Die Aktivierung und die Leistung
Aktivierungssystems (ARAS), einer Struktur in der
Die psychologische Forschung hat sich mit der Frage
Formatio reticularis, zu einer EEG-Desynchronisa-
befasst, welches Aktivierungsniveau für eine gute
tion (Alpha-Blockade).
Leistung optimal ist. Das Yerkes-Dodson-Gesetz be-
Auf vegetativer Ebene zeigt sich die erhöhte Sym-
schreibt die Beziehung zwischen dem Aktivations-
pathikusaktivität in einem Anstieg der Herzfre-
niveau und der Leistung anhand einer umgekehrt-
allgemeine Funktionsanregung des Organismus mit dem Ziel der Handlungsvorbereitung. Subjektiv wird sie als Anspannung und Wachheit erlebt, zu den neurophysiologischen Indikatoren zählen die
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle
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in die Hände – führt zu einer Drehung des Kopfes
Leistung
oder des gesamten Körpers in Richtung der Reizquelle (motorische Hinwendung). Wurden andere motorische Aktivitäten durchgeführt, werden sie
hoch
währenddessen unterbrochen. Neben der motorischen Hinwendung geht die Orientierungsreaktion noch mit einer ganzen Reihe anderer Veränderunmittel
gen der unterschiedlichsten Systeme einher: Die Bestandteile der Orientierungsreaktion sind zum Teil schon als Indikatoren erhöhter Aktivierung genannt worden: im EEG wird die Aufmerk-
niedrig
samkeitszuwendung in einer EEG-Desynchronisaniedrig
mittel
hoch
Aktivation
Abb. 2.2 Yerkes-Dodson-Gesetz bei mittelschweren Aufgaben
tion sichtbar. Die Pulsfrequenz steigt, die Blutgefäße des Kopfes weiten sich, die in der Peripherie verengen sich. Die Schweißdrüsenaktivität nimmt zu, der Hautwiderstand nimmt ab, die Hautleitfähigkeit steigt. Vor allem bei den Veränderungen
U-förmigen Beziehung. Abb. 2.2 zeigt dies am Beispiel einer Aufgabe mit mittlerer Schwierigkeit: Demnach ist die Leistung bei mittlerer Aktivation am größten und lässt bei zu- oder abnehmendem Aktivationsniveau nach.
der Sinnesorgane wird deutlich, dass es um eine Informationsaufnahme geht: die Pupillen weiten sich und die Reizschwelle für die durch den Reiz angesprochene Sinnesmodalität sinkt. Der Muskeltonus erhöht sich.
Die Habituation und Defensivreaktion
Beachte Die umgekehrte U-Form wird je nach Schwierigkeitsgrad der Aufgabe verzerrt: Bei schwierigen Aufgaben liegt das Optimum der Leistungsfähigkeit nicht mehr bei mittlerer, sondern verschiebt sich in Richtung niedriger Aktivierung. Leichte Aufgaben lassen sich hingegen besser mit höherem Aktivationsniveau lösen.
Mit zunehmender Wiederholung des gleichen Reizes (z. B. wiederholtes In-die-Hände-Klatschen) wird die Intensität der Orientierungsreaktion schwächer. Man spricht von Habituation oder Gewöhnung. Die Habituation wird später noch als nicht-assoziative Lernform vorgestellt (s. S. 97). Im Gegensatz zur Orientierungsreaktion hat eine
Defensivreaktion eine Abwendung vom schädigenden Reiz (Flucht) oder ein Abwenden der Bedro-
Die Orientierungsreaktion und die Aktivierung
hung (Angriff) zum Ziel. Sie tritt bei Reizen hoher Intensität auf und wird subjektiv als Erschrecken
Die Orientierungsreaktion verändert das Aktivie-
erlebt (z. B. Zurückweichen des Kopfes bei lautem
rungsniveau des gesamten Organismus und ver-
unerwarteten Knall in der Nähe des Ohres).
setzt ihn so in die Lage, Reize, die für ihn bedeutsam sein könnten, zu erfassen und auf sie reagieren
2.2.6 Der Schlaf
zu können.
Der wohl deutlichste Wechsel des Aktivitätsniveaus ist der zwischen Wachen und Schlafen. Ca. ein Drit-
Merke Die Orientierungsreaktion besteht in einer Hinwendung zum Reiz. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf Reize, die neu und unerwartet sind.
tel seines Lebens verbringt der Mensch schlafend und damit in einem Zustand, in dem psychische und physische Funktionen auf ein Minimum an Aktivation reduziert sind (eine Ausnahme bildet der REM-Schlaf, in dem die Aktivierung hoch ist).
Ein Beispiel: Ein unerwarteter akustischer Reiz
Sowohl der Schlaf-Wach-Rhythmus als auch der
mittlerer Intensität – zum Beispiel das Klatschen
Schlaf an sich unterliegen einer regelmäßigen Ab-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle folge. Betrachten wir zunächst die Abfolge der
Der REM-Schlaf
Schlafphasen während einer Nacht.
Der REM-Schlaf wird auch paradoxer Schlaf genannt, da sein niedrigfrequentes EEG-Muster para-
Die Schlafstadien
doxerweise dem des Wachseins ähnelt:
Eine Klassifikation der Schlafstadien unterteilt sie
Es zeigen sich niedrigfrequente Wellen und Säge-
in den REM-Schlaf (REM) und in den Non-REM-
zahnwellen (niedrige Theta-Wellen von 1–4 Hz).
Schlaf (NREM), der wiederum die Schlafstadien I–IV umfasst. Die muskuläre Spannung ist ein gutes Indiz für die Schlaftiefe: der Muskeltonus nimmt vom Stadium I bis zum Stadium IV immer mehr ab, bis es schließlich im REM-Schlaf zu einer völligen Atonie der Muskulatur kommt. Die Abgrenzungen der einzelnen Stadien geschieht anhand des EEGs.
Seinen Namen trägt der REM-Schlaf aufgrund mehrerer sekundenlanger Salven schneller Augenbewe-
gungen („Rapid Eye Movements“) von 1-4 Hertz, die durch Intervalle ohne Augenbewegungen unterbrochen werden. Das wohl interessanteste Charakteristikum des REM-Schlafes ist die hohe Traum-
aktivität : mehr als 90 % der in diesem Stadium geweckten Menschen berichten über Träume. Im Gegensatz zu den Tiefschlafträumen sind sie emo-
Der NREM-Schlaf
tional, lebendig und durch aktive Handlungen
Stadium I ist der Übergang vom Wachsein zum Einschlafen. Die Alpha-Wellen, die im entspannten Wachzustand bei geschlossenen Augen auftreten, werden seltener und es tritt vermehrt Theta-Aktivität auf. Stadium II (leichter Schlaf) bezeichnet das eigentliche Einschlafen. Alpha-Wellen sind nicht mehr nachweisbar, Theta-Wellen und einige typische graphische Elemente (Graphoelemente) bestimmen das EEG: Schlafspindeln (Beta-Spindeln) sind einbis zweisekündige ab- und zunehmende Entladungen mit einer Frequenz von 12–14 Hz, als K-Komplexe bezeichnet man die Abfolge einzelner starker Positivausschläge mit folgenden Negativausschlägen. Stadium III wird als mittlerer Schlaf (manchmal auch schon als Tiefschlaf) bezeichnet. Es treten Delta-Wellen auf, zudem sinken Atem- und Herzfrequenz. Stadium IV ist der eigentliche Tiefschlaf. Der Anteil der Delta-Wellen nimmt auf mehr als 50 % zu.
gekennzeichnet. Während der REM-Phase ist die Variabilität der Atem- und Herzfrequenz erhöht. Die Atonie der Muskulatur kann durch einzelne Muskelzuckungen (Myoklonien) unterbrochen werden. Beim Mann kommt es zur spontanen Erektion, bei der Frau zu einer Erhöhung der vaginalen Durchblutung. Diese sind im Übrigen unabhängig von den sexuellen Inhalten der Träume. Abb. 2.3 stellt die für die Schlafstadien charakteristischen elektroenzephalographischen Aktivitäten noch einmal graphisch dar.
Beachte Auch im Tiefschlaf wird geträumt, jedoch seltener und von anderer Qualität als im REM-Schlaf: nur 20 % der im Tiefschlaf Geweckten berichten von Träumen, die eher abstrakt und emotionslos sind. Stadium III und IV werden aufgrund ihres wellenförmigen EEGs auch als „Slow-Wave-Sleep“ (SWS) bezeichnet.
Schlafstadium Wachen A Einschlafen ( I ) B Leichtschlaf (II ) C mitteltiefer Schlaf ( III) D Tiefschlaf ( IV) E paradoxer Schlaf ( V ) F
Hirnstromkurve (EEG) 50 µV α-Wellen
1s
ϑ-Wellen
β-Spindeln
δ-Wellen mit K-Komplex
δ-Wellen
β-/δ-Wellen
Abb. 2.3 Charakteristika der vier NREM-Phasen und des REM-Schlafes (nach Möller/Laux/Deister)
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Die Schlafarchitektur
nachts wiederhergestellt werden muss. Für diese
Die Abfolge der Schlafphasen
Annahme spricht beispielsweise die nächtliche Neubildung von Neurotransmittern.
Die NREM- und REM-Schlafstadien wiederholen sich bei einer achtstündigen Schlafdauer vier bis
Die zirkadiane Theorie betont das Energiesparen.
sechs Mal. In den ersten eineinhalb Stunden durch-
Sie argumentiert, dass sich im Laufe der Stammes-
läuft der Schlafende die Stadien I–IV, gefolgt vom
geschichte der neuronale Mechanismus des Schla-
ersten, etwa 10-minütigen REM-Schlaf. Während
fes ausgebildet haben muss, weil das nächtliche
der folgenden NREM- und REM-Zyklen nimmt die
Nichtstun das Überleben zu sichern geholfen hat.
Dauer der Tiefschlafphasen immer mehr zugunsten
Für unsere weiteren Vorfahren reichten die Hell-
der REM-Phasen ab.
Perioden aus, um das überlebensnotwendige Ess-, Trink- und Fortpflanzungsverhalten „an den Tag
Beachte In der zweiten Nachthälfte ist der Anteil des REM-Schlafes an der Schlafdauer größer als in der ersten Nachthälfte.
zu legen“. Während der Nacht sind aktive Verhal-
27
tensweisen zum einen also gar nicht nötig und würden nur kostbare Energie verbrauchen, zum anderen würden sie eher in Gefahr bringen, indem sie zum Beispiel die Aufmerksamkeit möglicher Feinde
Insgesamt macht der REM-Schlaf beim Erwach-
auf sich ziehen.
senen etwa 20 % und der NREM-Schlaf 80 % der gesamten Schlafdauer aus.
Beiden Ansichten ist gemeinsam, dass sie dem Schlaf eine lebensnotwendige Bedeutung zuerkennen.
Der Schlaf und das Alter Sowohl die Schlafdauer als auch der Rhythmus des
Der Schlafentzug
Schlafes ändern sich mit dem Alter. Der Neugebo-
Die Notwendigkeit des Schlafes wird besonders
rene schläft 16–20 Stunden verteilt über etwa
deutlich, wenn er vorenthalten wird: im Tierexpe-
fünf Abschnitte. Der gesunde Erwachsene benötigt
riment konnte nachgewiesen werden, dass beim
im Durchschnitt acht Stunden Schlaf, die er am Stück schläft, während er die übrigen 16 Stunden
Entzug von Schlaf wichtige biologische Funktionen nicht mehr aufrechterhalten werden können und
wach verbringt. Ältere Menschen kommen mit
dass längerfristiger Schlafentzug sogar zum Tode
sechs Stunden oder weniger aus. Auch die Dauer
führt.
der REM-Phasen nimmt mit dem Alter ab: bei Neu-
Untersuchungen zum Schlafentzug im Humanbe-
geborenen liegt der Anteil des REM-Schlafes bei
reich erlauben es, auch Aussagen über das psy-
50 %, beim Erwachsenen bei 20 % und bei älteren
chische Befinden zu machen.
Menschen liegt er meist noch darunter.
Die Bedeutung des Schlafes Zwei Theorien über die Funktion des Schlafes Die regelmäßige Abfolge der Schlafstadien und die weite Verbreitung dieser Stadien über unterschiedliche Kulturen und Zeitepochen hinweg
Merke Hindert man Menschen am Schlafen im Allgemeinen (totaler Schlafentzug), führt dies tagsüber zu Konzentrationseinbußen, leichter Ablenkbarkeit und schlechteren Gedächtnisleistungen.
lässt vermuten, dass den Schlafstadien wichtige biologische Funktionen zukommen. Eine besteht
Bei Schlafentzug über mehrere Tage kommen Sin-
sicherlich in der Regulation des Energiehaushaltes. Während des Schlafes wird neue Energie gewonnen
nestäuschungen hinzu. So werden Teile der Umwelt falsch wahrgenommen oder Dinge gesehen
und gleichzeitig Energie gespart.
und gehört, die es für andere nicht gibt (Halluzina-
Die restaurative Theorie betont die Wiederherstel-
tionen). Im EEG-Muster treten im Wachzustand die
lung des inneren Gleichgewichts. Sie geht davon
für die Schlafphasen typischen niedrigfrequenten
aus, dass das körpereigene Gleichgewicht (Homö-
Wellen auf.
ostase) während des Wachseins gestört wird und
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Erlaubt man den Probanden wieder zu schlafen,
Physiologische Theorien über die Inhalte von Träu-
verändern sich die Schlafzyklen vor allem zugunsten der Tiefschlafphasen. In der ersten Erholungs-
men sind weit sachlicher. Sie nehmen an, dass Träume aufgrund elektrischer Entladungen des Ge-
nacht nimmt der zeitliche Anteil des Tiefschlafs
hirns angestoßen werden. Die elektrischen Ent-
zu, später wird auch der REM-Schlaf nachgeholt.
ladungen stimulieren zufällig Assoziationsgebiete des Kortex und lösen unvollständig Erinnerungen
Beachte Unter selektivem Schlafentzug versteht man das Unterdrücken allein der REM-Phasen.
aus, die als Träume erlebt werden. Für eine biologische Grundlage des Träumens spricht das vermehrte Vorkommen des Neurotransmitters Acetyl-
Weckt man die Probanden, sobald schnelle Augen-
cholin und die Aktivität einiger Neuronengruppen im Hirnstamm, die sich nur während des Träumens
bewegungen auftreten – nimmt man sozusagen
findet.
einen „Traumentzug“ vor – zeigen sich als Folge psychische Irritationen während des Wachseins.
Die Schlafstörungen
Die Probanden geben an, hyperaktiv, reizbar und
Beim oben beschriebenen Schlafentzug handelt es
manchmal labiler und ängstlicher zu sein.
sich um von außen herbeigeführte Störungen des
Dass auf den REM-Schlaf nicht verzichtet werden
Schlafes. Davon abzugrenzen sind Schlafstörungen
kann, zeigt das Bedürfnis ihn nachzuholen: der REM-Anteil erhöht sich in den folgenden Erho-
im Sinne einer Krankheit. Sie finden in Klassifikationssystemen zur Diagnostik von psychischen und
lungsnächten, man spricht von einem „REM-Rebound“.
physischen Erkrankungen in den letzten Jahren vermehrt Beachtung. Die Vielzahl an Schlafstörungen kann grob in die
Über das Träumen
beiden Kategorien der Dyssomnien und der Para-
Worin die Funktion des Träumens besteht und
somnien eingeordnet werden.
woher die Trauminhalte stammen, ist umstritten. Viele Forscher sind sich jedoch zumindest darin einig, dass der REM-Schlaf mit der Verarbeitung von
Die Dyssomnien
tagsüber gewonnenen Informationen zusammen-
Schlafes, die seine Dauer, seine Qualität und seinen
hängt und an der Konsolidierung von Gedächtnis-
Zeitpunkt betrifft. Die Störungen werden nach
inhalten beteiligt ist (Informationen werden ins Langzeitgedächtnis überführt). Die Psychoanalyse betrachtet das Träumen aus einem gänzlich anderen Blickwinkel. Nach Sigmund Freud sind Träume der „Königsweg zum Unbewussten“. Im Unbewussten finden sich Wünsche und Bedürfnisse (häufig sexueller Natur), die aufgrund ihrer Bedrohlichkeit für den psychischen Apparat bewusst nicht zugelassen werden können. Um das Bewusstwerden zu verhindern, wird die eigentliche Bedeutung des Traums durch die Traumarbeit verzerrt: der latente Traum wird in den manifesten Traum umgewandelt, der dann berichtet werden kann. Mithilfe der Traumdeutung durch den Therapeuten wird diese Verzerrung rückgängig gemacht und die eigentlichen Wünsche und Ängste des Patienten werden zugänglich (zum psychoanalytischen Ansatz vgl. S. 34).
einem Zuviel und einem Zuwenig an Schlaf noch
Die Dyssomnie meint eine Fehlregulation des
einmal in Hypersomnien und Hyposomnien unterschieden. Zwei wichtige Hypersomnieformen sind das SchlafApnoe-Syndrom und die Narkolepsie. Patienten mit Schlaf-Apnoe-Syndrom schnarchen nachts laut und unregelmäßig. Das Hauptcharakteristikum sind jedoch anfallsweise auftretende Atemstillstände von mehr als 10 Sekunden Dauer vor allem während des NREM-Schlafes. Hierbei sind die oberen Atemwege blockiert und die Luft kann nicht mehr aus der Lunge entweichen. Der Herzschlag verlangsamt sich und es mangelt an Sauerstoff. Der Patient erwacht kurz und atmet dann normal weiter, die Struktur des Schlafes wird jedoch massiv gestört. Entsprechend berichten die Patienten davon, tagsüber schläfrig und unkonzentriert zu sein und zum Einschlafen zu neigen.
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Bei der Narkolepsie treten neben anderen Sympto-
Die zirkadiane Rhythmik psychologischer Variablen
men zwanghafte Schlafattacken während des Tages auf, die plötzlich eintreten, mehrere Minuten dau-
Nicht nur biologische, sondern auch psychologische Variablen unterliegen Tagesschwankungen. So ist
ern können und bei denen heftig geträumt wird.
die Leistungsfähigkeit nicht über den Tag hinweg
Anschließend fühlen sich die Patienten jedoch aus-
gleich. Rechnen und logisches Schlussfolgern gelin-
geruht und erholt. Die Attacken werden häufig von
gen vormittags am besten. Gedächtnisinhalte kön-
starken Emotionen ausgelöst.
nen morgens besser als abends abgerufen werden.
29
Am frühen Nachmittag haben die meisten Men-
Die Parasomnien
schen ein Aufmerksamkeitstief. Auch die Wahrneh-
Unter Parasomnien werden sonderbare Phänomene zusammengefasst, die während des Schlafes auftre-
mungsschwelle für Schmerzen verändert sich im Laufe des Tages. Die maximale Schmerzschwelle
ten. Hierzu zählen beispielsweise das Schlafwan-
liegt zwischen 12.00 und 18.00 Uhr, die minimale
deln (Somnambolismus) und Sprechen im Schlaf.
Schmerzschwelle zwischen Mitternacht und drei
Diese treten übrigens am häufigsten in Schlafsta-
Uhr morgens. Woher aber weiß der Organismus
dium IV auf und nicht, wie fälschlicherweise oft an-
wie spät es ist?
genommen, während des REM-Schlafes (komplexe Bewegungen sind im REM-Schlaf wegen der Atonie
Die innere Uhr
der Muskulatur noch weniger erklärbar als während der anderen Schlafphasen).
Allein an äußeren Zeitgebern kann es nicht liegen, dass der zirkadiane Rhythmus aufrechterhalten
Zu den Parasomnien zählt ebenfalls das nächtliche
wird. Enthält man Menschen in Bunkern oder
Zähneknirschen (Bruxismus), das zu erheblichen
Höhlen mit konstantem Licht jegliche Informatio-
Schäden an den Zähnen und der Kiefermuskulatur
nen über die Tageszeit vor – können sie also
führen kann. Als eine Ursache gilt psychische An-
weder aufgrund der Helligkeit, noch aufgrund an-
spannung während des Tages.
derer Merkmale, wie der Aktivität anderer Menschen, Rückschlüsse daraus ziehen, ob es Tag oder
Der zirkadiane Rhythmus Die zirkadiane Rhythmik biologischer Variablen
Nacht ist – pendelt sich der Zyklus von Wachen und Schlafen dennoch auf etwa 25 Stunden ein.
Die Chronobiologie ist eine Wissenschaftsdisziplin,
Warum der Zyklus eine Stunde verlängert ist, ist
die sich mit zeitlichen Körperrhythmen befasst. Der
bislang unklar. Der zirkadiane Schlaf-Wach-Rhyth-
offensichtlichste zirkadiane Rhythmus (24-Stun-
mus bleibt also weitestgehend bestehen. Es muss
den-Rhythmus) ist die Abfolge von Schlafen und
einen inneren Zeitgeber, eine innere zirkadiane
Wachen, der Schlaf-Wach-Rhythmus.
Uhr, geben.
Der wichtigste Zeitgeber für Schlafen und Wachen ist der Wechsel von Hell und Dunkel. Beim Menschen kommen soziale Zeitgeber hinzu. Neben dem Schlaf-Wach-Rhythmus finden sich Tagesschwankungen auch bei vielen anderen physio-
Merke Als wichtigstes anatomisches Korrelat der zirkadianen Uhr gilt der Ncl. suprachiasmaticus – eine Struktur im medialen Hypothalamus.
logischen und biochemischen Prozessen. So unterliegen beispielsweise das endokrine System und
Der Nucleus ist paarig angeordnet und liegt ober-
die Wärmeregulation einer zirkadianen Rhythmik.
halb der Kreuzung der Sehnerven (Chiasma opti-
Der Kortisolspiegel steigt in den Morgenstunden
cum). Schaltet man den Einfluss der Kerne durch
bis zum Mittag und fällt dann bis zum Spätnachmittag auf sein Minimum ab. Die Körpertemperatur
gezielte Läsionen aus, werden bei allen Säugetieren trotz externer Zeitgeber der Schlaf-Wach-Rhyth-
ist am frühen Morgen minimal und erreicht am
mus und andere zirkadiane Rhythmen aufgehoben.
Abend ihr Maximum.
Werden die suprachiasmatischen Kerne vom übrigen Gehirngewebe isoliert, erhalten sie also keine Informationen mehr von außen, zeigen ihre Neu-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle rone, wie die Bunkerexperimente erwarten lassen,
Die Schmerztypen
weiterhin einen zirkadianen Aktivitätszyklus. Auch wenn die biologische Uhr ohne den Tag-
Schmerzen können nach ihrer Dauer und nach ihrer Qualität unterschieden werden.
Nacht-Wechsel „weiterläuft“, wird sie doch unter
Akute Schmerzen: Bei akuten Schmerzen sind die
normalen Lebensumständen durch diesen synchro-
Auslöser (z. B. Verletzungen) meist direkt erkenn-
nisiert. Der Wechsel von Tag und Nacht triggert den
bar. Der Schmerz tritt für einige Sekunden bis
Schlaf-Wach-Zyklus, indem Informationen über
höchstens einige Wochen auf, ist gut lokalisierbar
Helligkeit und Dunkelheit beidseitig von der Retina
und mit erhöhter vegetativer Aktivierung verbun-
aus über den Nervus opticus zu den Kernen gelan-
den.
gen.
Chronische Schmerzen: Sie dauern länger an, betreffen meist größere Körperareale und führen häufig zu psychischen Beeinträchtigungen wie Angst, Depressivität, Verzweiflung oder Aggressivität.
Die Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus Stimmt die biologische Uhr mit umweltbedingten Zeitgebern nicht überein, beeinträchtigt dies das Befinden. Menschen, deren Zeitrhythmus zum Beispiel durch Nacht- oder Schichtarbeit oder durch Zeitzonen-Flüge gestört ist, berichten häufig über Erschöpfung, Gereiztheit und Müdigkeit. Die als „Jet-lag“ bekannten Symptome verschwinden nach
Merke Von chronischem Schmerz spricht man, wenn Schmerzen für mindestens sechs Monate entweder andauernd oder wiederkehrend auftreten.
einigen Tagen, wenn sich die zirkadiane Uhr an die neuen Umweltbedingungen angepasst hat (Re-
Chronische Schmerzen entstehen, weil sensorische
synchronisation). Störungen der zirkadianen Peri-
Nervenzellen genauso lernfähig sind wie das Groß-
odik über längere Zeit hinweg können die Immun-
hirn. Besonders starke oder lang andauernde
abwehr beeinträchtigen und zu funktionellen und
Schmerzreize verändern – biochemisch nachweis-
psychosomatischen Störungen führen.
bar – die Aktivität von Nervenzellen. Die Neurone
2.2.7 Der Schmerz
im Rückenmark reagieren zukünftig empfindlicher, registrieren Reize geringer Intensität (z. B. Druck,
Schmerzen sind sensorische Erfahrungen, die als
Wärme) als Schmerzimpulse und leiten sie an das
unangenehm erlebt werden, jedoch eine lebenswichtige Funktion erfüllen: sie signalisieren körperliche Schädigung und dienen so dem Schutz des Organismus. Die frühere Auffassung, dass allein Organschäden die Schmerzempfindung bestimmen, wurde durch die Annahme ersetzt, dass Schmerzen in starkem Ausmaße auch durch psychische und soziale Faktoren bestimmt werden (bei somatoformen Schmerzstörungen können organische Ursachen sogar ganz fehlen). Die Abkehr von einer rein organmedizinischen und objektiven Sicht des Schmerzes findet in der Definition der „International Association for the Study of Pain“ (IASP) Ausdruck, die den subjektiven Aspekt betont: „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnesund Gefühlserleben, das mit aktueller oder potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.“
Gehirn weiter: Der Schmerz hat eine Gedächtnisspur ausgebildet, man spricht von einem Schmerz-
gedächtnis. Da der für den Organismus bedrohliche Auslöser fehlt, hat der chronische Schmerz auch nicht mehr die Funktion eines Warnsignals.
Der Oberflächenschmerz: Eine Verletzung der Körperoberfläche wie Schnitt- oder Brandwunden verursacht Oberflächenschmerz, der als hell, stechend oder brennend und als gut lokalisierbar erlebt wird. Der Tiefenschmerz: Beispiele für Tiefenschmerzen sind Zahn- oder Magenschmerzen, die eine bohrende, dumpfe Qualität haben. Sie sind schlecht lokalisierbar, der Schmerz strahlt aus. Der Phantomschmerz: Hierbei handelt es sich um eine besondere Form des Schmerzes, da der Ort der Empfindung fehlt. Ungefähr die Hälfte der Patienten nach Bein- oder Armamputation haben Empfindungen in den Gliedmaßen, die real nicht mehr vorhanden sind. Dennoch
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle werden die verlorenen Extremitäten so deutlich
Die vegetative Komponente: Bei akutem Schmerz
wahrgenommen, als gäbe es sie tatsächlich. Die im Phantomglied auftretenden Schmerzen hei-
kommt es automatisch zur Anregung des vegetativen Nervensystems. Die körperliche Aktivierung
ßen Phantomschmerzen und werden durch
gleicht einer Stressreaktion. So werden beispiels-
eine Reizung der Nerven im Stumpf erklärt, die
weise die Herzfrequenz, der Blutdruck, die Atem-
die Signale in den somatosensorischen Kortex
frequenz und die Muskelspannung erhöht. Schmerz
weiterleiten.
Phantomfingern
kann zudem Übelkeit und Schweißausbrüche ver-
und -zehen werden häufig als Krampf oder
ursachen. Bei sehr starken Schmerzen kann es
brennender Schmerz beschrieben.
zum Blutdruckabfall und zur Ohnmacht kommen.
Schmerzen
in
Die Komponenten des Schmerzes
Die motorische Komponente: Sie umfasst reflektorische Schutz- oder Fluchtreaktionen. Auch die
An der Schmerzverarbeitung sind fünf unterschied-
Muskulatur des Gesichts und somit seine Mimik
liche Komponenten beteiligt: die sensorische, die
verändern sich zu einem „schmerzverzerrten“
kognitive, die affektive, die vegetative und die
Gesicht.
31
motorische Komponente.
Die sensorische Komponente: Sie umfasst die Erregung der Nozizeptoren und die Weiterleitung über Schmerzfasern über das Rückenmark und den Hirnstamm zum Kortex. Die schnellleitenden A-DeltaSchmerzfasern leiten den Oberflächenschmerz, die
Beschreiben Sie die Qualität des Schmerzes, wenn Sie sich z. B. beim Heimwerken leicht mit einem Hammer auf den Daumen hauen. Welche Gedanken sind Ihnen hierbei nützlich und welche verstärken den Schmerz eher?
langsameren C-Schmerzfasern den Tiefenschmerz. Ziel ist das Kortexgebiet der Somatosensorik – der
Einige Modellvorstellungen
Gyrus postcentralis im Parietallappen.
Das biopsychosoziale Modell des Schmerzes
Die kognitive Komponente: Sie beschreibt die Bewertung der nozizeptiven Information. Dem Schmerz werden Ursachen zugeschrieben und zur Verfügung stehende Möglichkeiten der Schmerzbewältigung in Betracht gezogen. Vorerfahrungen mit Schmerzen machen einen Vergleich der Schmerzintensität und die Erinnerung an effektive Handlungen möglich. Die kognitive Beurteilung des Schmerzes (z. B. „Es kann ja nicht so schlimm sein, weil ...“) bestimmt das Verhalten, zum Beispiel, ob ein Medikament eingenommen oder ein Arzt aufgesucht wird oder nicht. Die affektive Komponente: Diese Komponente zeigt sich im Unlusterleben. Schmerzen können zu Angst oder Ärger führen. Im ungünstigsten Falle schaukeln sich Emotionen und Schmerzen gegenseitig auf. Starke Emotionen führen zu einer Steigerung des Aktivierungsniveaus und zu einer Aufmerksamkeitsfokussierung, die wiederum die erlebte Intensität des Schmerzes erhöhen. Stärkere Schmerzen ziehen wiederum stärkere Emotionen nach sich, usw. Mit psychologischen Behandlungsmethoden wird unter anderem dieser Kreislauf zu unterbrechen versucht (s. u.).
Kommen wir auf die zu Beginn erwähnte Annahme der multifaktoriellen Bestimmung des Schmerzes zurück. Das biopsychosoziale Krankheitsmodell geht davon aus, dass biologische, psychologische und soziale Faktoren bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Schmerzen zusammenwirken. Das von Melzack & Wall (1965) entwickelte und später revidierte Gate-Control-Modell des Schmerzes (Kontrollschranken-Theorie) gilt als Anstoß zu der Sichtweise, die psychologischen Variablen eine wichtige Rolle bei der Schmerzwahrnehmung zugesteht. Grob skizziert sagt es Folgendes aus: Der nozizeptive Input wird auf dem Weg zum ZNS auf der Höhe des Rückenmarks zum ersten Mal verarbeitet. In den Hinterhörnern des Rückenmarks gibt es neuronale Mechanismen, die als „Tor“ (Gate) dienen und überwachen, wie viel des peripheren nozizeptiven Inputs zum ZNS, in dem dann die eigentliche Schmerzwahrnehmung stattfindet, „durchgelassen“ wird (Control). Die Modulation der sensorischen Übertragung durch das Tor hängt zum einen vom Verhältnis der Aktivität afferenter dicker nicht-nozizeptiver und dünner nozizeptiver Fasern ab: die Erregung dicker Fasern „schließt das Tor“, die Erregung dünner Fasern
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle „öffnet das Tor“. Zum anderen wird das Tor durch
und Intensität vorgegeben und als Indikatoren evo-
efferente Fasern modifiziert: absteigende zentrale Einflüsse wie Kognitionen und Emotionen können
zierte Potenziale, die Aktivität afferenter Nervenfasern und vegetative Reflexe gemessen.
die Weiterleitung des Schmerzes blockieren.
Die Bestimmung von Schmerzschwelle und Schmerztoleranz: Die Schwelle, an der ein physikalischer Reiz als Schmerz wahrgenommen wird, ist die Schmerzschwelle. Sie kann quantifiziert werden, indem die Intensität eines elektrischen, thermischen oder mechanischen Reizes schrittweise erhöht wird, bis ein unangenehmes Gefühl zur Schmerzempfindung wird. Die Schmerztoleranz ist die Grenze, ab der die Intensität des Schmerzes nicht mehr tolerierbar ist. Sie kann beispielsweise durch den Cold-PressureTest erfasst werden. Hierzu tauchen die Probanden ihre Hand in Eiswasser und es wird die Zeit registriert, bis der Kältereiz nicht mehr zu ertragen ist und die Hand aus dem Wasser gezogen wird.
Merke Kognitionen und Emotionen aktivieren neuronale Schaltkreise im Rückenmark und modulieren so die von der Peripherie einlaufenden Schmerzsignale. Ein lerntheoretisches Modell des Schmerzes Fordyce (1976) hat lerntheoretische Ansätze zur Erklärung chronischer Schmerzen herangezogen. Unter anderem wird davon ausgegangen, dass die Konsequenzen, die einem Verhalten folgen – hier der Ausdruck von Schmerzen –, das zukünftige Verhalten bestimmen (operante Konditionierung, s. S. 94). Positive Verstärkungen wie soziale Zuwendung, negative Verstärkungen wie nicht mehr zur Arbeit gehen zu müssen und die Nicht-Verstärkung von gesundem Verhalten („funktionieren“ wird nicht belohnt) tragen zur Aufrechterhaltung des
Beachte Es bestehen große interindividuelle Unterschiede in der Höhe der Schmerzschwelle und Schmerztoleranz.
Schmerzverhaltens bei.
Die Messung von Schmerzen
Die psychologische Behandlung von Schmerzen
Die Methoden zur Messung von Schmerzen be-
Einige psychologische Einflussfaktoren
zeichnet man zusammen als Algesimetrie. Man un-
Es wurde bereits darauf eingegangen, dass die
terscheidet die subjektive von der experimentellen
Schmerzwahrnehmung durch kognitive und emo-
Algesimetrie.
tionale Faktoren beeinflusst wird (Gate-Control-
Die subjektive Algesimetrie: Die Patienten beurteilen meist anhand von Fragebogen ihr subjektives Schmerzempfinden. Die Schmerzintensität kann über Ratingskalen erfasst werden, zum Beispiel anhand einer visuellen Analogskala: Hier markiert der Patient auf einer Linie zwischen den Extrempunkten „keine Schmerzen“ bis „extrem starke Schmerzen“ die Intensität seiner Schmerzen. Die Qualität des Schmerzes wird häufig über Adjektivlisten (Checklisten) erhoben. Der Patient kann beispielsweise ankreuzen, ob seine Schmerzen stechend, brennend oder pochend (sensorische Qualität) oder lästig oder quälend sind (affektive Dimension). Die experimentelle Algesimetrie: Diese Methode versucht, objektiv messbare physiologische Indikatoren zu gewinnen, die mit der subjektiven Wahrnehmung des Schmerzes zusammenhängen. Hierzu werden im Labor Reize unterschiedlicher Qualität
Modell). Zu den kognitiven Faktoren zählen beispielsweise die Vorerfahrungen mit Schmerzen: das Wissen, dass nicht jeder Schmerz lebensbedrohlich ist und dass er nach einiger Zeit nachlässt, führt dazu, dass er als weniger intensiv wahrgenommen wird. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, dass mit zunehmendem Alter die Schmerzempfindung sinkt. Die Möglichkeit der subjektiven Kontrolle über den Schmerz und das Wissen um die Schmerzursache mindern das Schmerzempfinden ebenfalls. Zu den emotionalen Einflussfaktoren zählen zum Beispiel Optimismus und Hoffnung. Sie vermindern das Schmerzempfinden, während Angst und Depression es erhöhen. Einige der folgenden kognitiv-verhaltenstherapeutischen Vorgehensweisen zielen darauf ab, solche Einflussfaktoren zu modifizieren:
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die biopsychologischen Modelle Das kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsvorgehen
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Die kognitive Umstrukturierung verändert das
In der modernen Schmerztherapie werden psy-
Denken der Patienten. Ein Beispiel für eine Umstrukturierungsmethode ist das Schmerzimpfungs-
chologische und somatische Behandlungsansätze
training (in Anlehnung an Meichenbaum). Hier
gleichzeitig eingesetzt.
werden Gedanken, die die Schmerzbewältigung be-
Bei der modernen psychologischen Behandlung ste-
hindern oder sie unterstützen, aufgedeckt und in
hen kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren
bewältigungsorientierte
im Vordergrund. Sie beeinflussen das Schmerz-
delt. Es wird ein gedanklicher Dialog zurechtgelegt,
erlebnis oder die Bedingungen, die zu Schmerzen
der beim Auftreten von Schmerzen eine Anleitung
führen oder sie aufrechterhalten. Hierzu zählen: Informationen über die Ursache des Schmerzes und
zu dessen Bewältigung liefert.
den Zusammenhang von psychischen und somatischen Faktoren machen das Schmerzgeschehen
2.2.8 Klinische Bezüge Stress und Schmerz
transparenter und führen häufig allein schon
Ein Patient berichtet von dumpfen, vom Hinterkopf
dazu, dass besser mit ihm umgegangen werden
her ausstrahlenden Kopfschmerzen, die manchmal
kann. Auch die Vermittlung einfacher Methoden
auch von vegetativen Symptomen (dem Patienten
wie Ablenkungsstrategien sind wirksam. Sie erhö-
wird übel) begleitet werden. Bei genauer Nachfrage
hen das Gefühl der subjektiven Kontrolle über den Schmerz und lassen ihn erträglicher erscheinen.
erfährt der behandelnde Arzt, dass diese Kopfschmerzen nur in Situationen auftreten, die der
Kennzeichnend für den verhaltenstherapeutischen
Patient als „stressig“ empfindet. Hierzu zählen
Ansatz ist eine genaue Analyse der schmerzverursa-
v. a. Prüfungssituationen, die der Patient als selbst-
chenden und -aufrechterhaltenden Bedingungen : Wann tritt der Schmerz unter welchen Umständen auf und welche negativen und positiven Konsequenzen folgen? Wie tragen sie zur Aufrechterhaltung oder zum Wiederauftreten des Schmerzes bei? Und wie können das Verhalten und die Bedingungen so verändert werden, dass die Schmerzen ausbleiben? Im Kapitel über das Lernen (s. S. 91) werden die entsprechenden lerntheoretischen Grundlagen erläutert. Mithilfe von Entspannungstechniken wie der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson wird körperliche Aktivierung und somit Schmerz reduziert. Bei schmerzverursachenden Muskelverspannungen wird die Schmerzursache direkt durch die Muskelentspannung bekämpft. Entspannungstechniken verhindern zudem das Auftreten von Angst, die den Schmerz verstärkt. Das Biofeedback ist eine Methode, mit der körperliche Prozesse registriert, anschaulich aufbereitet und dem Patienten zurückgemeldet werden. So wird es möglich, nicht unmittelbar sichtbare Körpervorgänge zu beeinflussen. Ein Einsatzgebiet ist beispielsweise die Messung muskulärer Spannung (EMG) bei Spannungskopfschmerzen. Weitere Beispiele und nähere Ausführungen zum Biofeedback finden sich im Kapitel über das Lernen (s. S. 100).
wertbedrohlich erlebt und denen er sich hilflos
Kognitionen
umgewan-
ausgeliefert fühlt (kognitive Bewertung). Anstatt sich mit den Prüfungsinhalten rechtzeitig auseinander zu setzen, wählt er eine dysfunktionale Form des Copings und schiebt die Prüfungsvorbereitung vor sich her. Dies erhöht die Angst und Anspannung, die sich auch in einer muskulären Verspannung der Nackenmuskulatur niederschlägt und zu Spannungskopfschmerzen führt. Der Ärger, sich wegen der Kopfschmerzen nicht konzentrieren zu können, verstärkt den Schmerz noch. Der Arzt zweifelt, dass allein das Anordnen eines Kopfschmerzmedikaments das Problem längerfristig lösen wird und rät zu einer psychologischen Beratung.
Check-up 4
4
Rekapitulieren Sie die wichtigsten Annahmen der Biopsychologie zur Erklärung menschlichen Verhaltens und Erlebens. Wiederholen Sie, was Sie über Stress und Stressreaktionen gelesen haben: stellen Sie sich z. B. vor, dass Sie schon viel früher als ursprünglich geplant zu einer Prüfung zugelassen werden. Wie reagieren Sie? Ordnen Sie die Stressreaktionen nach primärer und sekundärer Bewertung.
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die psychodynamischen Modelle
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4
Machen Sie sich noch einmal die Abfolge der Schlafstadien klar. Was genau ist am REM-Schlaf „paradox“?
2.3 Die psychodynamischen Modelle Lerncoach Die psychodynamischen Modelle beruhen auf der Theorie nach Sigmund Freud. Das Lernen wird Ihnen vielleicht leichter fallen, wenn Sie zunächst auf S. 139 nachlesen, wie die „normale“ Persönlichkeit nach Freud „funktioniert“, warum es zu Konflikten kommt und wie diese gelöst werden.
2.3.1 Der Überblick Sigmund Freuds psychodynamische Theorie der menschlichen Persönlichkeit ist eine umfassende Theorie, die sowohl die normale Entwicklung (s. S. 141) als auch die Entstehung psychischer Störun-
gen umfasst. Zudem enthält sie Annahmen über die Beweggründe des menschlichen Verhaltens. Sie wird auch als psychoanalytische Theorie bezeichnet. Seine Theorie entwickelte der Neurologe Freud auf der Basis von klinischen Fallstudien im ausklingenden 19. Jahrhundert. Freuds Annahmen und vor
Freud keine zufälligen Handlungen gibt, sondern letztendlich jedes Verhalten einem Wunsch des Individuums entstammt. Diese Wünsche müssen jedoch nicht unbedingt dem Bewusstsein zugänglich sein.
Die Energetisierung des Verhaltens durch Triebe Freud postulierte ursprünglich zwei grundlegende Triebe: den Selbsterhaltungstrieb (Ego) und den Sexualtrieb (Eros). Während der Selbsterhaltungstrieb, der die Erfüllung der existenziellen Bedürfnisse einfordert, nur kurz erwähnt wird, interessierte sich Freud besonders für den Sexualtrieb. Die sexuellen Impulse treiben den Menschen zu jeder Art von angenehmer sinnlicher Erfahrung. Das sexuelle Verlangen kann dabei sowohl durch eine sexuelle Handlung als auch indirekt durch eine Art Stellvertreter-Handlung (Sublimierung) befriedigt werden. Die Quelle der sexuellen Energie wird mit dem Begriff der Libido bezeichnet. Beeinflusst durch die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg postulierte Freud später noch einen weiteren energetisierenden Trieb: Thanatos, den Todestrieb. Dieser sollte Menschen zu aggressivem und destruktivem Verhalten veranlassen (siehe auch die „Theorien der Aggression“, S. 119).
allem die Betonung der Rolle der Sexualität waren im prüden viktorianischen Zeitalter sehr gewagt
Die Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung
und stießen auf einigen Widerstand. Dennoch
Nach Freuds Ansatz wird die Persönlichkeit eines
wurde sie zu einer der einflussreichsten und bedeu-
Menschen durch seine Erfahrungen determiniert.
tendsten Theorien über die menschliche Psyche.
Alle Erlebnisse der Person tragen zu dieser Ent-
Wie die meisten bedeutenden Theorien blieb auch
wicklung bei. Allerdings kommt den ersten Jahren
die psychoanalytische Theorie nicht ohne Kritik. Besonders die fehlende empirische Überprüfbarkeit
der frühkindlichen psychosexuellen Entwicklung eine ganz besondere Bedeutung zu. Aus der indivi-
ihrer Annahmen (s. S. 48 zum Prinzip der Falsifi-
duellen Erfahrung der verschiedenen psychosexu-
zierbarkeit) wurde häufig bemängelt. Trotz der zu-
ellen Entwicklungsstufen formt sich der Charakter
meist berechtigten Kritik kann der Wert, den
des Menschen. Eine ausführliche Darstellung von
Freuds Gedankengebäude für die Entwicklung der
Freuds Stufenmodell der sexuellen Entwicklung
Psychologie hat, kaum überschätzt werden.
finden Sie auf S. 141.
2.3.2 Die Grundannahmen des psychodynamischen Modells Die inneren Ursprünge des Verhaltens
Das topographische Modell Die wahrscheinlich bedeutendste theoretische Annahme Freuds bezieht sich auf die Bewusstseins-
Als Quelle jeglichen menschlichen Verhaltens wird
zustände der menschlichen Psyche. Freud ging
psychische Energie postuliert, die sich aus angeborenen Trieben speist. Diese Triebe motivieren alle Verhaltensweisen. Das bedeutet, dass es nach
davon aus, dass der Großteil unserer Bedürfnisse und Wünsche nicht dem Bewusstsein zugänglich sei. Im topographischen Modell (griech. topos =
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Machen Sie sich noch einmal die Abfolge der Schlafstadien klar. Was genau ist am REM-Schlaf „paradox“?
2.3 Die psychodynamischen Modelle Lerncoach Die psychodynamischen Modelle beruhen auf der Theorie nach Sigmund Freud. Das Lernen wird Ihnen vielleicht leichter fallen, wenn Sie zunächst auf S. 139 nachlesen, wie die „normale“ Persönlichkeit nach Freud „funktioniert“, warum es zu Konflikten kommt und wie diese gelöst werden.
2.3.1 Der Überblick Sigmund Freuds psychodynamische Theorie der menschlichen Persönlichkeit ist eine umfassende Theorie, die sowohl die normale Entwicklung (s. S. 141) als auch die Entstehung psychischer Störun-
gen umfasst. Zudem enthält sie Annahmen über die Beweggründe des menschlichen Verhaltens. Sie wird auch als psychoanalytische Theorie bezeichnet. Seine Theorie entwickelte der Neurologe Freud auf der Basis von klinischen Fallstudien im ausklingenden 19. Jahrhundert. Freuds Annahmen und vor
Freud keine zufälligen Handlungen gibt, sondern letztendlich jedes Verhalten einem Wunsch des Individuums entstammt. Diese Wünsche müssen jedoch nicht unbedingt dem Bewusstsein zugänglich sein.
Die Energetisierung des Verhaltens durch Triebe Freud postulierte ursprünglich zwei grundlegende Triebe: den Selbsterhaltungstrieb (Ego) und den Sexualtrieb (Eros). Während der Selbsterhaltungstrieb, der die Erfüllung der existenziellen Bedürfnisse einfordert, nur kurz erwähnt wird, interessierte sich Freud besonders für den Sexualtrieb. Die sexuellen Impulse treiben den Menschen zu jeder Art von angenehmer sinnlicher Erfahrung. Das sexuelle Verlangen kann dabei sowohl durch eine sexuelle Handlung als auch indirekt durch eine Art Stellvertreter-Handlung (Sublimierung) befriedigt werden. Die Quelle der sexuellen Energie wird mit dem Begriff der Libido bezeichnet. Beeinflusst durch die Erfahrungen im Ersten Weltkrieg postulierte Freud später noch einen weiteren energetisierenden Trieb: Thanatos, den Todestrieb. Dieser sollte Menschen zu aggressivem und destruktivem Verhalten veranlassen (siehe auch die „Theorien der Aggression“, S. 119).
allem die Betonung der Rolle der Sexualität waren im prüden viktorianischen Zeitalter sehr gewagt
Die Bedeutung der frühkindlichen Entwicklung
und stießen auf einigen Widerstand. Dennoch
Nach Freuds Ansatz wird die Persönlichkeit eines
wurde sie zu einer der einflussreichsten und bedeu-
Menschen durch seine Erfahrungen determiniert.
tendsten Theorien über die menschliche Psyche.
Alle Erlebnisse der Person tragen zu dieser Ent-
Wie die meisten bedeutenden Theorien blieb auch
wicklung bei. Allerdings kommt den ersten Jahren
die psychoanalytische Theorie nicht ohne Kritik. Besonders die fehlende empirische Überprüfbarkeit
der frühkindlichen psychosexuellen Entwicklung eine ganz besondere Bedeutung zu. Aus der indivi-
ihrer Annahmen (s. S. 48 zum Prinzip der Falsifi-
duellen Erfahrung der verschiedenen psychosexu-
zierbarkeit) wurde häufig bemängelt. Trotz der zu-
ellen Entwicklungsstufen formt sich der Charakter
meist berechtigten Kritik kann der Wert, den
des Menschen. Eine ausführliche Darstellung von
Freuds Gedankengebäude für die Entwicklung der
Freuds Stufenmodell der sexuellen Entwicklung
Psychologie hat, kaum überschätzt werden.
finden Sie auf S. 141.
2.3.2 Die Grundannahmen des psychodynamischen Modells Die inneren Ursprünge des Verhaltens
Das topographische Modell Die wahrscheinlich bedeutendste theoretische Annahme Freuds bezieht sich auf die Bewusstseins-
Als Quelle jeglichen menschlichen Verhaltens wird
zustände der menschlichen Psyche. Freud ging
psychische Energie postuliert, die sich aus angeborenen Trieben speist. Diese Triebe motivieren alle Verhaltensweisen. Das bedeutet, dass es nach
davon aus, dass der Großteil unserer Bedürfnisse und Wünsche nicht dem Bewusstsein zugänglich sei. Im topographischen Modell (griech. topos =
Aus J. Schüler u. F. Dietz: Kurzlehrbuch Med. Psychologie (ISBN 3-13-136421-1) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die psychodynamischen Modelle
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wird jedes Verhalten energetisiert. Das Über-Ich Bewusstsein
steht für die moralischen Vorstellungen. Das Ich dagegen bildet den Zugang zur Realität und gleicht die Bedürfnisse von Es und Über-Ich mit den Anfor-
Vorbewusstes
derungen der Umwelt ab. Eine genauere Beschreibung der einzelnen Instanzen findet sich im Abschnitt zur psychodynamischen Persönlichkeitstheorie (s. S. 139). Aufgrund der unterschiedlichen Bedürfnisse der drei Instanzen kommt es häufig zu Konflikten. In solchen Fällen versucht das Ich eine Lösung zu fin-
Unbewusstes
den. Sind die Bedürfnisse des Es mit den Bedingungen der Umwelt nicht in Einklang zu bringen, kann das Ich Abwehrmechanismen einsetzen, um die Wünsche des Es abzublocken und ihnen den Zu-
Abb. 2.4
Topographisches Modell der Persönlichkeit
Ort) wird die menschliche Psyche unterteilt in das
Bewusste, in dem sich alle uns im Moment zugänglichen Informationen befinden, das Vorbewusste, das alle aus dem Gedächtnis abrufbaren Informationen enthält, und das Unbewusste (Abb. 2.4). Die Inhalte des Unbewussten sind uns im Normalfall verborgen. Sie äußern sich jedoch indirekt: Sie bestimmen den Inhalt der Träume und beeinflussen unser Verhalten. Beispielsweise werden so genannte Freudsche Versprecher, bei denen eine Person scheinbar aus Versehen etwas anderes sagt, als sie sagen wollte („Schade, dich zu sehen.“ statt „Schön, dich zu sehen.“) als Manifestation eines unbewussten Wunsches angesehen. In der psychoanalytischen Therapie wird versucht über verschiedene Techniken wie die freie Assoziation oder die Traumdeutung die Inhalte des Unbewussten bewusstseinsfähig zu machen (s. S. 239).
gang zum Bewusstsein zu verwehren. Abwehrmechanismen sind wichtige Werkzeuge des Ich, damit es das Verhalten auf die jeweilige Situation abstimmen kann.
Merke Ein übermäßiger Einsatz von Abwehrmechanismen ist ungünstig und kann zur Ausbildung von psychischen Störungen führen. Sind die Abwehrmechanismen zu wenig ausgeprägt, steuert je nach dem Grad ihrer Ausprägung das Es oder das Über-Ich das Verhalten. Während die triebgesteuerten Bedürfnisse des Es häufig zu Problemen mit den Anforderungen der sozialen Umwelt führen, wirkt sich ein übermächtiges ÜberIch eher hemmend auf das Verhalten aus.
2.3.3 Die Abwehrmechanismen Verdrängung Die Verdrängung ist ein Grundprinzip vieler Abwehrmechanismen. Nicht akzeptablen Es-Impulsen
Das Strukturmodell der Persönlichkeit
wird der Zugang zum Bewusstsein verwehrt.
Während das topographische Modell den Ort des psychischen Geschehens beschreibt, beinhaltet
Verleugnung
das Strukturmodell die verschiedenen Instanzen
Bei der Verleugnung wird der nicht akzeptablen
der Persönlichkeit. Nach Freud setzt sich die Persönlichkeit aus Es, Ich und Über-Ich zusammen.
Realität der Zugang zum Bewusstsein blockiert. Im Gegensatz zur Verdrängung sind es keine
Diese drei Instanzen befinden sich in einem dyna-
Wünsche des Es, die nicht wahrgenommen werden,
mischen Gleichgewicht. Jede Instanz versucht „ihre Interessen“ bezüglich des Verhaltens durchzusetzen, wobei mal die eine, mal die andere dominiert. Das Es repräsentiert die Triebe; von ihm aus
sondern reale Informationen der Umwelt. Beispielsweise kann ein Patient, der die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung erfährt, diese Information verleugnen, in dem er sie einfach für nicht
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die psychodynamischen Modelle wahr erklärt. Im Akutstadium einer lebensbedroh-
Projektion
lichen Krankheit kann eine Verleugnung der Realität zeitweise durchaus günstig für den Zustand des Pa-
Bei der Projektion überträgt man eigene Emotionen, die man bei sich selber nicht akzeptieren
tienten sein.
kann, auf eine andere Person. Ein Arzt, der wegen der mangelnden Kooperation eines Patienten ent-
Verschiebung
täuscht und wütend ist, aber diese Gefühle bei
Bei der Verschiebung werden Emotionen, die sich
sich nicht akzeptieren kann, unterstellt dem Patien-
gegen eine bestimmte Person richten, auf eine an-
ten, er sei anscheinend auf ihn persönlich wütend.
dere Person oder ein Objekt „verschoben“. Dieser
Er projiziert seine Wut in den Anderen.
Mechanismus wird eingesetzt, wenn der eigentlichen Zielperson gegenüber solche Emotionen
Konversion
„nicht zulässig“ sind. Ein Patient, der aufgrund sei-
Ein psychischer Konflikt wird in eine körperliche
ner Diagnose eine starke Wut auf seinen Arzt
Symptomatik umgelenkt. Nach diesem Abwehrme-
verspürt, diese aber nicht zulassen kann, weil er
chanismus ist die so genannte Konversionsstörung
weiß, „dass man nicht wütend auf denjenigen
benannt, bei der für eine körperliche Symptomatik
sein darf, der einem hilft“, kann diese Wut auf
keine organische Ursache vorliegt. Beispielsweise
andere Mitmenschen richten.
haben diese Patienten Lähmungserscheinungen in
Isolierung
den Armen oder Beinen, ohne dass das Nervensystem geschädigt wäre. In diesem Fall geht man
Bei der Isolierung trennt eine Person den sachli-
davon aus, dass eine psychische Ursache vorliegt,
chen Gehalt eines Themas oder einer Situation
die vom Patienten jedoch nicht akzeptiert werden
von der belastenden emotionalen Bewertung. Die-
kann und sich deswegen in Form eines eher „akzep-
ser Abwehrmechanismus wird zum Beispiel von
tablen“ körperlichen Symptoms zeigt.
einem Patienten eingesetzt, der sich rein sachlich mit einer schweren Erkrankung auseinander setzt,
Sublimierung
ohne seine Angst oder Trauer zuzulassen.
Bei der Sublimierung werden unerwünschte Triebimpulse in gesellschaftlich akzeptables Verhalten
Reaktionsbildung
umgelenkt. Freud sah jegliches intellektuelles und
Bei der Reaktionsbildung tut jemand das Gegenteil
künstlerisches Schaffen als Sublimierung sexueller
von dem, was er eigentlich fühlt. Er verhält sich so-
Impulse. Auch das ärztliche Handeln kann als Sub-
zusagen entgegengesetzt zu einem Impuls aus dem
limierung aufgefasst werden. Beispielsweise kann
Es, den er nicht akzeptieren kann. Erlebt ein Patient
der Chirurg seine aggressiven Impulse in „er-
beispielsweise große Angst vor seiner Operation,
wünschter Form“ bei seiner operativen Arbeit aus-
kann diese aber nicht zulassen, wäre es eine Art der Reaktionsbildung, wenn er desinteressiert die
leben. Dieser Abwehrmechanismus nimmt eine Sonderstellung ein, da er eine Art „erfolgreiches Um-
Aufklärung des Arztes zum genauen Vorgehen
lenken“ der Triebimpulse darstellt, ohne dass es zu
anhören würde.
einer Energie bindenden, dauerhaften Verdrängung kommt. Zudem stellt für Freud die Sublimierung den
Rationalisierung
Schlüssel zur kulturellen Weiterentwicklung dar.
Bei der Rationalisierung versucht man, ein unbewusst motiviertes Verhalten, das einem Es-Impuls
2.3.4 Die Entwicklung psychischer Störungen
entsprungen ist, im Nachhinein durch eine rationale Erklärung zu rechtfertigen. Beispielsweise
Nach Annahme der Psychoanalyse liegt einer psychischen Störung (beispielsweise übermäßiger
würde ein Patient seinen eigentlich spontanen
Angst) ein unbewusster Konflikt zu Grunde. Dieser
Wutausbruch damit erklären, dass die Sprechstun-
Konflikt wird auf eine Erfahrung zurückgeführt, die
denhilfe ihn zu lange warten ließ und andere
meistens bereits in der frühen Kindheit gemacht
Wartende vorzog.
wurde. Aufgrund des nicht-akzeptablen Charakters der Erfahrung (beispielsweise ein sozial nicht
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die psychodynamischen Modelle akzeptiertes sexuelles Bedürfnis des Es) wird der
Als primärer Krankheitsgewinn wird der Nutzen
Inhalt vom Ich verdrängt. Das heißt, die Erfahrung wird ins Unbewusste geschoben. Das Unterdrücken
bezeichnet, den der Patient direkt durch seine psychische Symptomatik hat. Durch die Entwicklung
unbewältigter psychischer Konflikte führt zu Angst
einer Neurose kommt es zur Verringerung der
und im extremem Ausmaß zur Ausbildung einer
innerpsychischen Spannung. Der zugrunde lie-
neurotischen Störung.
gende Konflikt wird durch die Bildung eines Symp-
37
toms sozusagen entschärft. Die ständige Spannung
Beachte Nach psychoanalytischer Auffassung ist die Symptomatik der psychischen Störung lediglich ein Hinweis auf einen verdrängten Konflikt. Das eigentliche Problem liegt jedoch im Unbewussten und muss zunächst bewusst gemacht werden.
durch einen im Unbewussten schwelenden Konflikt reduziert sich, da das Symptom eine Art Ventil für den angestauten Druck bietet. Als sekundärer Krankheitsgewinn wird dagegen der Nutzen, den der Patient aus seiner Krankenrolle zieht, bezeichnet. Dieser sekundäre Nutzen kann einerseits in der Sorge und Aufmerksamkeit durch die Angehörigen oder andererseits in der Entlas-
Der verdrängte Konflikt zeigt sich in Form einer
tung von familiären oder beruflichen Pflichten lie-
speziellen Symptomatik. Dabei besteht immer eine Verbindung zwischen der Art des Symptoms und dem dahinter liegenden Konflikt. Als einen seiner frühen Fälle beschreibt Freud beispielsweise die hysterische Blindheit einer Patientin, deren Wahrnehmungsprobleme keine neurologische Ursache hatten. Er erklärt die Symptomatik dadurch, dass die Blindheit sie vor dem Anblick unangemessener sexueller Phantasien „schützt“. Auch eine Zwangs- oder Angstneurose, wie Angststörungen von Psychoanalytikern bezeichnet werden, ist ein Hinweis auf die Abwehr eines dahinter liegenden Konflikts. Beispielsweise kann ein Patient eine Zwangsstörung entwickeln, bei der er immer wieder ritualisierte Waschhandlungen durchführt, um sich im übertragenen Sinne von seinen sexuellen Phantasien „rein zu waschen“. Die Techniken der Psychoanalyse, mit denen unbewusste Inhalte aufgedeckt werden sollen, werden im Kapitel zur Psychotherapie dargestellt (s. S. 237). Ein weiteres Problem der Patienten besteht darin, dass ein im Unbewussten schwelender Konflikt Energie bindet: Das Ich muss ständig Abwehrmechanismen einsetzen, sodass weniger psychische Energie für eine positive Lebensgestaltung bleibt.
gen. Diese Art des Krankheitsgewinns wird auch in anderen Therapierichtungen thematisiert, beispielsweise wenn in der Verhaltenstherapie die Konsequenzen der psychischen Störung für den Patienten analysiert werden.
2.3.6 Klinische Bezüge Abwehr bei schweren Erkrankungen Gerade in belastenden Situationen, beispielsweise wenn bei einem Patienten eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert wird, reagieren Menschen häufig mit Abwehrmechanismen. Sie verleugnen zum Beispiel die Schwere ihrer Erkrankung oder beschäftigen sich demonstrativ mit anderen Dingen (Reaktionsbildung), oder sie versuchen die Diagnose ganz sachlich und ohne emotionale Beteiligung aufzunehmen (Isolierung). In solchen Fällen stellen Abwehrmechanismen eine Art psychische Schutzreaktion dar, die dem Patienten helfen, die psychische Belastung zu bewältigen. Problematisch werden solche Bewältigungsstrategien allerdings dann, wenn sie längerfristig aufrecht gehalten werden und der Patient sich nicht der Realität stellt.
Check-up 4
2.3.5 Der primäre und der sekundäre Krankheitsgewinn Die Entwicklung eines Symptoms, beispielsweise einer Neurose, bringt für den Patienten auch Vorteile mit sich. Dabei werden zwei verschiedene
4
Wiederholen Sie das topographische Modell und das Strukturmodell der Persönlichkeit. Rekapitulieren Sie, wozu – nach den Annahmen Freuds – Abwehrmechanismen eingesetzt werden.
Arten des Krankheitsgewinns unterschieden:
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die sozialpsychologischen Modelle
38
4
Machen Sie sich nochmals klar, warum dieses Modell als „psychodynamisch“ bezeichnet wird. Worin besteht die „Dynamik“ der Persönlichkeit?
2.4 Die sozialpsychologischen Modelle
Rollenerwartungen (Rollenidentifikation) führt bei nicht vereinbaren Ansprüchen zu Rollenkonflikten, die für die betroffene Person als Stressoren (Stressauslöser) wirken und sich negativ auf das Immunsystem niederschlagen können. Auch der Rollenver-
lust, beispielsweise aufgrund von Arbeitslosigkeit (Verlust der Erwerbstätigenrolle) oder wenn die Kinder das Elternhaus verlassen (Verlust der Eltern-
Lerncoach
rolle), erhöht die Anfälligkeit für psychische, psy-
Der Grundgedanke der sozialpsychologischen Modelle ist die Überlegung, dass Gesundheit und Krankheit von Eigenschaften des Individuums (seiner Sichtweise der Welt) und sozialen Bedingungen (z. B. Erwartungen von anderen) beeinflusst werden. Sie können sich den Einstieg in diese Sichtweise erleichtern, indem Sie überlegen, ob Sie den Einfluss solcher Faktoren bei sich oder Personen in Ihrem Umfeld schon einmal festgestellt haben.
chosomatische und somatische Krankheiten.
Die Normen Normen sind in der Gesellschaft verankerte Regelsysteme, die sich auf das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder
beziehen.
Normabweichendes
Verhalten (Devianz) wird negativ sanktioniert. Die von der Gesellschaft an das Individuum herangetragenen Verhaltensnormen können Stressoren darstellen. Ein Beispiel ist, wenn eine berufstätige Mutter sich dafür rechtfertigen muss, dass sie nicht so viel Zeit für ihr Kind hat, wie es der gesell-
2.4.1 Der Überblick
schaftlichen
Der Fokus der sozialpsychologischen Modelle liegt
spricht. Zudem haben gesellschaftliche Sanktionen
auf dem Einfluss der psychosozialen Umwelt auf
für normabweichendes Verhalten einen Einfluss auf den psychischen und physischen Zustand des Individuums. Wird ein Mensch von seiner Umwelt aufgrund seines abweichenden Verhaltens abgelehnt, so kann sich dies negativ auf seinen Gesundheitszustand auswirken.
Krankheits- und Gesundheitsverhalten. Es wird davon ausgegangen, dass sowohl die Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen als auch der Ausprägungsgrad beziehungsweise der Krankheitsverlauf von sozialen Faktoren mitbestimmt wird. Dabei
Idealvorstellung
(Idealnorm)
ent-
werden individuelle und soziale Risiko- beziehungsweise Schutzfaktoren unterschieden.
Die Einstellungen
2.4.2 Die Grundannahmen der sozialpsychologischen Modelle Die sozialen Rollen
mäßige) und eine kognitive (bewertende) Kom-
Die soziale Rolle stellt einen zentralen Begriff in der
bundene Verhalten. Auch beim Gesundheits- und
Soziologie dar und bezeichnet die Summe der Ver-
Krankheitsverhalten spielen Einstellungen eine
haltenserwartungen, die an den Inhaber einer so-
wichtige Rolle. Zwar gibt es keine zwangsläufige
zialen Position gestellt werden. Jeder Mensch, der
Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten (je-
in die Gesellschaft eingebunden ist, erfüllt mehrere,
mand, dem seine Gesundheit wichtig ist, kann
zum Teil nur schwer miteinander vereinbare Rol-
trotzdem ungesund essen), aber es existiert ein po-
len. Beispielsweise muss eine Frau im beruflichen Bereich den Erwartungen, die an sie als Ärztin ge-
sitiver Zusammenhang (siehe dazu auch das Modell des geplanten Verhaltens, S. 276). Das bedeutet,
stellt werden, und im familiären Bereich den Anfor-
dass ein Mensch mit einer positiven Einstellung ge-
derungen einer Mutter und Partnerin gerecht wer-
genüber gesunder Ernährung mit größerer Wahr-
den. Zudem ist sie vielleicht noch Mitglied in
scheinlichkeit gesundes Essen vorziehen wird als
einem Verein oder einer Partei oder Kirchen-
jemand, dem gesundheitsbewusste Ernährung egal
gemeinde. Die Übernahme der gesellschaftlichen
ist. Präventionsprogramme zielen häufig darauf
Einstellungen beinhalten eine affektive (gefühlsponente gegenüber dem Einstellungsgegenstand. Sie beeinflussen das mit diesem Gegenstand ver-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die sozialpsychologischen Modelle ab, die Einstellung gegenüber gesundheitsschä-
men. Im Rahmen dieses Abschnitts werden zwei
digendem Verhalten zu ändern (z. B. beim Rauchen). Allerdings ist eine Einstellungsänderung
wichtige Faktoren, die Selbstwirksamkeitserwartung und der Optimismus, vorgestellt. Weitere Ei-
häufig leichter herbeizuführen als eine Änderung
genschaften und Verhaltensstile, die mit Krank-
des Verhaltens, da hier fest eingefahrene Ge-
heits- und Gesundheitsverhalten im Zusammen-
wohnheiten oft der Veränderung im Weg stehen
hang stehen, s. S. 144.
39
(s. S. 278). Das Zusammenspiel von Einstellungen und Verhal-
Die Selbstwirksamkeitserwartung
ten wird in der Theorie der kognitiven Dissonanz
Die Selbstwirksamkeitserwartung („Self-Efficacy“,
(Festinger, 1957) beschrieben. Nach Annahme der Theorie versuchen Menschen eine möglichst
Bandura, 1982) ist das Ausmaß der Überzeugung, dass man selber zu einem bestimmten Verhalten
große Übereinstimmung (Konsonanz) zwischen
in der Lage sei. Wenn man vorhersagen will, wie
ihren Einstellungen und ihrem Verhalten herzustel-
ein Mensch sich in einer bestimmten Situation ver-
len. Klaffen Einstellungen und Verhalten auseinan-
halten wird, ist es hilfreich zu wissen, wie er selbst
der, löst diese Diskrepanz einen unangenehmen Zu-
seine eigenen Handlungsmöglichkeiten einschätzt.
stand aus, der als kognitive Dissonanz bezeichnet
Im Falle eines Kranken kann eine hohe Selbstwirk-
wird. Diese Dissonanz tritt beispielsweise bei
samkeitserwartung beispielsweise dazu führen,
einem Raucher auf, der einerseits weiß, dass er mit dem Rauchen seine Gesundheit schädigt, ande-
dass er bestimmte Dinge ausprobiert (wieder aufstehen, alleine nach draußen gehen, etc.), die ein
rerseits aber nicht mit dem Rauchen aufhören will.
Patient mit ähnlichem Gesundheitszustand, aber
Die Einstellung (Rauchen ist ungesund.) und das
geringerer Selbstwirksamkeitserwartung nicht ver-
Verhalten (Ich rauche.) stehen also im unangeneh-
suchen würde.
men Gegensatz zueinander. Um diesen aversiven
In Studien mit Krebspatienten konnte gezeigt wer-
Zustand aufzulösen, gibt es mehrere Möglichkeiten.
den, dass sich eine hohe Selbstwirksamkeitserwar-
Man kann versuchen die Einstellung zu entkräften,
tung (Überzeugung, dass man vorgenommene Ziele
indem man die Gültigkeit der vorliegenden Information anzweifelt oder positive Gründe überlegt,
auch aufgrund eigener Fähigkeit und Anstrengung erreichen kann) positiv auf den Krankheitsverlauf
warum das Verhalten doch günstig ist („Mein Groß-
auswirkt. Die Patienten, die von ihren eigenen
vater hat auch geraucht und ist 80 Jahre alt gewor-
Kompetenzen überzeugt waren, schienen sich
den.“ oder „Ich lebe lieber kurz und genussvoll als
ihrer Krankheit aktiver zu widersetzen und sich
lang und langweilig.“). Eine andere Möglichkeit
gegen die mit ihrem Zustand verbundenen Ein-
wäre es, das Verhalten zu ändern. Da eine Verhal-
schränkungen zu wehren. Dieses Verhalten hat
tensänderung meistens schwieriger und mühsamer
nicht nur positive Einflüsse auf das subjektive
ist, tendieren Menschen eher dazu die kognitive Dissonanz durch eine Veränderung der Einstellung
Wohlbefinden der Patienten, sondern auch auf den messbaren physiologischen Zustand.
zu reduzieren.
Der Optimismus 2.4.3 Die individuellen psychischen Risiko- und Schutzfaktoren
Generalisierter Optimismus – also eine grundsätz-
Neben anlagebedingten Vulnerabilitäten (Verletz-
auf die Gesundheit aus. Menschen mit einem aus-
lichkeiten/Anfälligkeiten) für bestimmte Krankhei-
geprägten Optimismus sind im Durchschnitt ge-
ten gibt es auch individuelle psychologische Faktoren, die sich auf das Risiko einer psychischen
sünder und zeigen mehr gesundheitsfördernde Verhaltensweisen. Eine mögliche Erklärung für diesen
und
physischen
Krankheit
auswirken.
lich positive Lebenseinstellung – wirkt sich günstig
Zudem
Zusammenhang könnte in der geringeren Stress-
haben diese psychologischen Verhaltensstile und
belastung von optimistischen Menschen liegen. Da
Persönlichkeitseigenschaften auch einen Einfluss
sie weniger Situationen als für sie bedrohlich wahr-
auf den Umgang mit Krankheit und Gesundheit,
nehmen, erleben sie weniger negativen gesund-
sodass sie auch den Krankheitsverlauf mitbestim-
heitsbelastenden Stress.
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die soziologischen Modelle 2.4.4 Die sozialen Risiko- und Schutzfaktoren
2.4.5 Klinische Bezüge Nutzung von Präventionsmaßnahmen
Neben Eigenschaften, die das Individuum auszeich-
Die Bedeutung sozialpsychologischer Faktoren für
nen, können auch Bedingungen der sozialen Situa-
das Krankheits- und Gesundheitsverhalten wird
tion einen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit des Einzelnen haben. Der Unterschied zu den individuellen psychischen Risiko- und Schutzfaktoren liegt darin, dass in diesem Fall nicht die Erlebensund Verhaltensweisen des Einzelnen ausschlaggebend sind, sondern dass die Situation des Individuums von seinen sozialen Bezügen abhängt. Als besonders relevanter Faktor hat sich in der gesundheitspsychologischen Forschung die soziale Eingebundenheit herausgestellt. Für diese Eingebundenheit wird auch der Begriff der sozialen Unterstützung („social support“) verwendet. Damit wird das Ausmaß an emotionalem Rückhalt von vertrauten Personen bezeichnet, auf das ein Mensch bei Problemen zurückgreifen kann.
bei der Nutzung von Präventionsmaßnahmen deutlich. Ob jemand beispielsweise an einer Krebsvorsorgeuntersuchung teilnimmt oder nicht, hängt weniger von seinem objektiven Krebsrisiko (z. B. Krankheitsfälle in der Familie) als vielmehr von seinen Überzeugungen bezüglich seiner eigenen Krankheitsanfälligkeit, bezüglich des Nutzens derartiger Vorsorgeuntersuchungen und seiner allgemeinen Einstellung gegenüber Arztbesuchen ab (s. S. 274). Zudem sind Rollenerwartungen und gesellschaftliche Normen für die Entscheidung relevant: Beispielsweise ist eine Erklärung für den höheren Frauenanteil bei der Wahrnehmung von Präventionsmaßnahmen, dass es zur Rolle der Frau gehört, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, während dieses Verhalten mit der klas-
Merke Social Support beinhaltet sowohl emotionale Hilfe, wie auch Wissensvermittlung und materielle Hilfeleistungen aus dem privaten, nichtinstitutionalisierten Kontext.
sischen Männerrolle weniger vereinbar scheint.
Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass soziale Unter-
4
Check-up 4
stützung eine Art Pufferfunktion bei stressigen Ereignissen hat. Das Vorhandensein eines guten sozialen Netzwerks erleichtert die Stressbewältigung und hat eine positive Auswirkung auf den Gesundheitszustand des Individuums. Die Relevanz des sozialen Netzwerks wird umso deutlicher, wenn man sich die Kehrseite ansieht: die soziale Isolation. Menschen, die nur geringe und instabile soziale Kontakte haben, zeigen einen ungünstigeren Krankheitsverlauf. Gerade bei alten
4
Wiederholen Sie die psychosozialen Einflussfaktoren auf Gesundheit und Krankheit. Rekapitulieren Sie, welche Auswirkungen es auf das Krankheitsverhalten haben kann, wenn ein Patient seine Krankheit für eine Strafe Gottes hält. Erklären Sie aus Sicht der Dissonanztheorie, warum Patienten mit großem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen trotzdem weiterhin rauchen oder sich ungesund ernähren.
2.5 Die soziologischen Modelle
Menschen, die aufgrund des Verlusts des Partners und der Freunde vereinsamen, ist soziale Isolation
Lerncoach
ein häufiges Problem. Im Krankheitsfall ist die
Zur Einstimmung auf die soziologische Betrachtungsweise können Sie sich überlegen, wie die Lebensumstände verschiedener Menschen ihre Gesundheit beeinflussen. Wie wirkt sich das Arbeiten am Fließband, das Leben in der großzügigen Villa oder die Nähe der Chemiefabrik auf das Individuum aus?
Genesung in diesem Fall verlangsamt. Zudem hat sich herausgestellt, dass sozial isoliert lebende Menschen eine höhere Schmerzempfindlichkeit haben.
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die soziologischen Modelle 2.5.1 Der Überblick
Die soziale Schicht
Im Gegensatz zu Verhaltensmodellen oder dem psychodynamischen Modell zur Erklärung von
Der wohl am besten untersuchte Faktor ist die soziale Schichtzugehörigkeit (zum Konzept der sozia-
Krankheit und Gesundheit, die bei ihrem Erklä-
len Schicht s. S. 184). In Deutschland hat sich in
rungsansatz das Individuum und sein Verhalten fo-
einer Vielzahl von Studien immer wieder gezeigt,
kussieren, gehen soziologische Modelle vom Ein-
dass Angehörige verschiedener sozialer Schichten
fluss sozialer Strukturen auf Gesundheit und
sich bezüglich ihres Gesundheits- und Krankheits-
Krankheit aus. Sie betonen den Zusammenhang
verhaltens unterscheiden.
zwischen dem Aufbau einer Gesellschaft (Gesell-
Angehörige unterer sozialer Schichten zeigen im
schaftsstruktur), der Wirtschaftsform, der Art der gesellschaftlichen Gesundheitssicherung und -erhaltung (z. B. Art und Umfang der Krankenversicherung) und der Auftretenshäufigkeit und Art von Erkrankungen.
Durchschnitt weniger gesundheitsfördernde und mehr gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen
41
als Angehörige oberer Schichten. Auch im Krankheitsverhalten
bestehen
zum
Angehöriger unterer Schichten:
Nachteil
Unterschiede
zumeist
dazu gehören Verhaltensweisen wie das Aufsuchen
2.5.2 Die Grundannahmen soziologischer Modelle
professioneller Hilfe, die Befolgung ärztlicher An-
Soziologische Modelle können diese Strukturen auf zwei Ebenen betrachten. Auf globaler Ebene geht es um einen Vergleich zwischen verschiedenen Staaten. Hier stellt sich die Frage, wie sich unterschiedlich politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen auf Gesundheit und Krankheit der Einwohner auswirken. Fragen wie „Wie wirkt sich eine
staatliche
Gesundheitssicherung
(z. B.
in
Deutschland) im Vergleich zu einer privaten Absicherung (z. B. in den USA) auf die Frequentierung von Ärzten aus?“ sind auf dieser globalen Ebene angesiedelt. Auf innergesellschaftlicher Ebene geht es darum, wie sich die unterschiedliche Teilnahme an gesellschaftlichen Ressourcen auf Gesundheit und Krankheit der Individuen auswirkt. Beispielsweise stellt sich in Deutschland die Frage, welchen Einfluss der Faktor Erwerbstätigkeit (ob jemand im Besitz eines Arbeitsplatzes oder arbeitslos ist) auf die Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgungssysteme hat.
2.5.3 Die soziostrukturellen Faktoren Als soziostrukturelle Faktoren werden alle Elemente, die den Aufbau einer Gesellschaft betreffen, bezeichnet. In medizinsoziologischen Studien haben sich zahlreiche Faktoren herauskristallisiert, die in einem Zusammenhang mit dem Auftreten von Krankheit und Gesundheit stehen.
weisungen (Compliance) oder die aktive Kooperation des Patienten die bei Unterschichtsangehörigen alle geringer ausgeprägt sind (vgl. S. 184). Diese Unterschiede bezüglich des Gesundheits- und Krankheitsverhaltens können zumindest zum Teil die höhere Auftretenswahrscheinlichkeit zahlreicher physischer und psychischer Erkrankungen in den unteren Schichten erklären. Beispielsweise ist der Anteil adipöser (fettleibiger) Personen in unteren sozialen Schichten deutlich höher als in Mittelund Oberschicht. Aber auch Rauchen und Alkoholkonsum weisen einen sozialen Schichtgradienten (Abnahme des betroffenen Bevölkerungsanteils bei höheren Schichten) auf. Adipositas und Rauchen gelten beispielsweise als Risikofaktoren für HerzKreislauf-Erkrankungen. Dieser Erklärungsansatz wird als Verursachungshypothese (auch soziogene Hypothese) bezeichnet. Nach dieser Annahme liegt die Ursache für die Ungleichverteilung von Gesundheit und Krankheit zu Ungunsten der unteren Schichten in gesundheitsgefährdenden Faktoren und Risikoverhalten, das mit der Schichtzugehörigkeit einhergeht. Einen alternativen Erklärungsansatz stellt die soziale Drifthypothese (auch Selektionshypothese) dar: Nach ihrer Annahme ist die ungleiche Verteilung von Gesundheit und Krankheit dadurch begründet, dass Krankheiten zu sozialem Abstieg führen bzw. einen sozialen Aufstieg verhindern. Somit wäre die soziale Ungleichheit bezüglich der Krankheitshäufigkeit eine Konsequenz des krankheitsbedingten „sozialen Abdriftens“. Belege für diese An-
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die soziologischen Modelle nahme gibt es im Bereich der psychischen Störun-
Home“), die soziale Vernetzung des Individuums
gen. Bei Studien zur sozialen Mobilität bei Schizophrenen ist ein sozialer Abstieg nach Auftreten der
und seine Wohnverhältnisse werden hier eingeordnet. Die Beziehung der einzelnen Faktoren zu
Störung häufig beobachtet worden. Allerdings ist
Krankheit und Gesundheit wird in den Grundlagen-
auch dieser Erklärungsansatz nicht unumstritten.
kapiteln (s. S. 173, 182) näher erläutert. Die kulturelle Umwelt: Gerade bei der Behandlung ausländischer Patienten wird deutlich, dass die kulturelle Einbettung eines Menschen eine wichtige Rolle bezüglich seines Gesundheits- und Krankheitsverhaltens spielen kann. So unterscheiden sich in verschiedenen Kulturen die Wertvorstellungen bezüglich Gesundheit und Krankheit, aber auch der Umgang damit. Während in unserem Kulturkreis ein rational-naturwissenschaftliches Verständnis von Krankheiten weit verbreitet ist, wird ihnen in anderen Kulturen zum Teil eine weitere Bedeutung zugesprochen. Eine Krankheit wird zu einem Symbol, stellt eine Strafe oder Warnung dar. Diese Unterschiede können bei der Kommunikation mit Patienten aus anderen Kulturkreisen problematisch werden, wenn stillschweigend ein einheitliches Verständnis vorausgesetzt wird. Die natürliche Umwelt: Die biologischen, chemischen und physikalischen Bedingungen der eigenen Lebensumwelt beeinflussen unsere Gesundheit und Krankheit. Deutlich wird die Auswirkung ungesunder Bedingungen besonders bei plötzlichen Erkrankungshäufungen (z. B. aufgrund radioaktiver Strahlung oder chemischer Vergiftungen). Besonders problematisch sind Umweltbedingungen, die sich erst nach längerer Zeit auf die Gesundheit auswirken, sodass ein genauer Nachweis ihrer Gefährdung schwer fällt. Die technische Umwelt: Auch die technische Umwelt kann Einfluss auf die Gesundheit und Krankheit nehmen: dazu zählen beispielsweise gesundheitliche Gefahren oder Schäden, die durch die Nutzung technischer Geräte auftreten (z. B. Autounfälle, Elektrosmog). Andererseits kann durch technische Möglichkeiten aber auch eine Verbesserung der Gesundheit erreicht werden (z. B. Katalysator zur Filterung der Autoabgase).
Die Erwerbstätigkeit Gerade angesichts der großen Probleme am Arbeitsmarkt ist die Frage nach den gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit besonders wichtig. Bereits in einer frühen Studie, die im österreichischen Marienthal durchgeführt wurde (Lazarsfeld, 1932), konnten die Forscher eindrucksvoll zeigen, dass mangelnde Erwerbstätigkeit nicht nur ökonomische Einbußen mit sich bringt, sondern dass sowohl die psychische als auch die physische Befindlichkeit der Betroffenen deutlich beeinträchtigt war. Diese Befunde konnten immer wieder repliziert werden. Allerdings hängt die Stärke des negativen Einflusses der Arbeitslosigkeit von vielfältigen Faktoren der Person und ihrer sozialen Umgebung ab (z. B. Qualität der sozialen Unterstützung, Bedeutung der Arbeitstätigkeit für das Selbstkonzept, etc.). Neben der Arbeitslosigkeit können aber auch bestimmte Bedingungen der Erwerbstätigkeit einen ungünstigen Einfluss auf die Gesundheit haben. Beispielsweise ist bekannt, dass allein der subjektive Eindruck von Arbeitsplatzunsicherheit stressauslösend wirken kann. Aber auch starke berufliche
Belastungen, sowohl physischer Art (z. B. Schicht-, Schwerstarbeit) als auch psychischer Art (z. B. hohe Verantwortung, geringe Kontrolle, hoher Zeitdruck), wirken sich längerfristig negativ auf die Gesundheit aus.
2.5.4 Die ökologischen Faktoren Während bei den sozialstrukturellen Faktoren die Einflüsse
innergesellschaftlicher
Ungleichheiten
auf Gesundheit und Krankheit erläutert wurden, geht es bei den ökologischen Faktoren um alle relevanten Umwelteinflüsse, die über verschiedene Gesellschaften hinweg wirksam sind. Die ökologischen Faktoren kann man wie folgt unterteilen:
Die soziale Umwelt: Hierunter fallen die bereits oben erwähnten Faktoren der Erwerbs- und Ar-
2.5.5 Die Auswirkung ökonomischer und ökologischer Umweltfaktoren
beitssituation und des sozialen Status (soziale
Neben den dargestellten ökologischen Faktoren
Schichtzugehörigkeit). Aber auch die Familiensitua-
spielen die ökonomische Gegebenheiten sowohl
tion (z. B. intakte Familienverhältnisse oder „broken
auf individueller als auch auf staatlicher Ebene
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2 Gesundheits- und Krankheitsmodelle Die soziologischen Modelle eine große Rolle für die Qualität der Gesundheitsversorgung. Während innerstaatlich diese Unterschiede in Deutschland größtenteils durch ein ein-
43
2.5.6 Klinische Bezüge Essstörungen und Gesellschaftsschicht Nicht bei allen psychischen und physischen Krank-
heitliches Gesundheitsversorgungssystem (gesetz-
heiten sind Angehörige unterer sozialer Schichten
liche Krankenversicherung) ausgeglichen werden,
häufiger betroffen als Mittel- und Oberschichtan-
wird die Qualität der Versorgung in Ländern mit
gehörige. Ein Gegenbeispiel stellt die Anorexia ner-
privater Absicherung wie den USA auch von den je-
vosa (Magersucht) dar. Hier sind überproportional
weiligen ökonomischen Verhältnissen der Betroffe-
viele Mädchen und Frauen aus höheren Schichten,
nen bestimmt. Allerdings gibt es auch in Deutsch-
oft Gymnasiastinnen oder Studentinnen, betroffen.
land eine Tendenz, dass Angehörige höherer Schichten eine qualitativ bessere medizinische Ver-
Dagegen findet sich bei der Bulimia nervosa, einer Essstörung, die mit Fressanfällen und darauf fol-
sorgung erhalten.
gendem Erbrechen der Nahrung einhergeht, keiner-
Besonders deutlich wird die Bedeutung der ver-
lei Schichtgradient.
schiedenen Umweltfaktoren bei einer weltweiten
Check-up
Betrachtung der Gesundheitsversorgung. Ein Indikator dafür ist die durchschnittliche Lebenserwar-
4
tung : während in den hoch industrialisierten Staaten der Nordhalbkugel (Nordamerika, Europa) die durchschnittliche Lebenserwartung bei 78 Jahren liegt, beträgt sie in den ärmsten Entwicklungsländern im Schnitt 51 Jahre. Diese Diskrepanz ist sowohl auf ökonomische wie auch ökologische Faktoren zurückzuführen.
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Wiederholen Sie die Faktoren, die nach Annahme der soziologischen Modelle entscheidenden Einfluss auf Krankheit und Gesundheit des Menschen haben. Rekapitulieren Sie die soziostrukturellen und ökologischen Faktoren.
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Kapitel
3
Methodische Grundlagen 3.1
Der Überblick 47
3.2
Die Hypothesenbildung 47
3.3
Die Operationalisierung 49
3.4
Die Untersuchungskriterien 54
3.5
Die Untersuchungsplanung 59
3.6
Die Methoden der Datengewinnung 65
3.7
Die Datenauswertung und die Dateninterpretation 70
3.8
Die Ergebnisbewertung 77
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Klinischer Fall
Stiche gegen Schmerzen
Als Antwort auf den Akupunkturreiz werden offenbar unter anderem körpereigene Endorphine ausgeschüttet, die die neuronale Schmerzweiterleitung auf verschiedenen Regulationsebenen blockieren.
„Aspirin hilft bei Kopfschmerzen“, „Homöopathie lindert Grippesymptome“, „Medikament A ist wirksamer als Medikament B“ – jede wissenschaftliche Hypothese muss erst durch Studien untermauert werden. Denn aus ein paar Beobachtungen im klinischen Alltag folgt noch keine allgemeine Gültigkeit. Mehr über wissenschaftliche Untersuchungen erfahren Sie im folgenden Kapitel. Diese werden nicht lange Theorie bleiben: Spätestens bei Ihrer Doktorarbeit werden Sie sich mit einigen Methoden genauer befassen. So geht es auch Ines, Medizinstudentin im 1. klinischen Semester ... Doktorand/in gesucht! Ines fürchtet sich vor dem Winter. Denn sobald es draußen kalt und nass ist, leidet sie unter Schmerzen in den Händen, die die Ärzte „Raynaud-Syndrom“ nennen. Ihre Finger werden bleich und gefühllos, als ob sie abgestorben seien. Das liegt – wie sie inzwischen weiß – an einem Krampf der Fingerarterien. Wenn sich die Gefäße nach einiger Zeit wieder weit stellen und Blut durch die Adern fließt, schmerzen die Finger unerträglich. Vor einigen Jahren war Ines deswegen beim Arzt. Eine Ursache für die Erkrankung wurde nicht gefunden. Zum Glück – denn seit sie selbst Medizin studiert, weiß sie, dass ein Raynaud-Syndrom auch bei schweren Krankheiten auftreten kann.
Eines Tages entdeckt Ines an der Uni ein Schild: „Doktorand/in für Studie über Morbus Raynaud gesucht“. Sie ist sofort interessiert und meldet sich. Doppelblind Bei der Studie soll die Wirkung einer Akupunkturbehandlung auf Patienten mit Morbus Raynaud untersucht werden. Die Patienten werden nach Zufallskriterien in zwei Gruppen eingeteilt: Eine Gruppe erhält über zehn Wochen je eine Akupunkturbehandlung pro Woche, die zweite Gruppe wird ebenfalls akupunktiert – aber an zufälligen, wahrscheinlich unwirksamen Akupunkturpunkten. Die Patienten wissen natürlich nicht, ob sie zur Versuchs- oder zur Kontrollgruppe gehören. Alle Patienten werden vor und nach der Studie genau untersucht: Sie müssen ihre Finger in ein kaltes Wasserbecken tauchen. Anschließend wird beobachtet, ob ein RaynaudAnfall auftritt und wie lange er dauert. Außerdem füllen alle Patienten zu Anfang und am Ende der Studie einen standardisierten Fragebogen über Häufigkeit und Schwere ihrer Raynaud-Anfälle aus. Ines erfährt erst bei der Auswertung, welcher Patient zu welcher Gruppe gehört. Es handelt sich also um eine Doppelblindstudie. Nicht signifikant! Die statistische Auswertung des Fragebogens ergibt, dass es allen Patienten besser geht als vor der Behandlung, auch denen, die nur zum Schein akupunktiert wurden. Dieses Phänomen nennt man PlaceboEffekt. Die mit „echter“ Akupunktur behandelten Patienten haben seit der Akupunkturbehandlung unter noch weniger Anfällen gelitten als die Kontrollgruppe. Dieser Unterschied ist jedoch nicht signifikant; das bedeutet, dass die Differenz zwischen den beiden Gruppen so gering ist, dass sie auch zufällig sein könnte. Die klinische Untersuchung zeigt keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen. Ines’ Doktorvater ist mit dem Ergebnis nicht zufrieden – aber Ines ist das egal: Die Daten für ihre Doktorarbeit hat sie in der Tasche, nun muss sie nur noch „zusammenschreiben“. Außerdem hat die Studie ihr Interesse für Akupunktur geweckt. In den nächsten Semesterferien wird sie einen Akupunkturkurs in Peking besuchen, um noch tiefer in die Welt der kleinen Nadeln einzusteigen.
Aus J. Schüler u. F. Dietz: Kurzlehrbuch Med. Psychologie (ISBN 3-13-136421-1) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
3 Methodische Grundlagen Die Hypothesenbildung
3
Methodische Grundlagen
3.1 Der Überblick
47
eine Ursache-Wirkungs-Beziehung an, die am besten durch ein Experiment überprüft wird. Die Methoden der Datengewinnung : Mit dem Konzentrationstest gewinnen Sie Daten in Form von
Lerncoach
Kennwerten in einem psychologischen Test. Andere
Die Unterpunkte des Methodenkapitels beziehen sich, neben einigen allgemeinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen, auf die Planung, Durchführung und Bewertung einer wissenschaftlichen Untersuchung. Prägen Sie sich das Schema, das Ihnen der Überblick vorgibt, daher gut ein.
Möglichkeiten der Datengewinnung sind Interviews, systematische Beobachtungen oder das Registrieren psychophysiologischer Prozesse.
Die Datenauswertung : Schließlich werten Sie Ihre gewonnenen Daten mithilfe statistischer Tests aus. Die Ergebnisbewertung : Um weitreichendere Ableitungen aus den Befunden ziehen zu können, müssen sie wiederholt nachgewiesen werden können und generalisierbar sein.
Beispiel: In Ihrem späteren klinischen Alltag fällt
Check-up
Ihnen auf, dass das Medikament X die Konzentrationsfähigkeit Ihrer Patienten beeinträchtigt. Die Patienten erscheinen Ihnen fahrig, sind leicht ablenkbar und haben Schwierigkeiten, Ihren Worten zu folgen. Wenn Sie diese zunächst nur subjektive Beobachtung wissenschaftlich überprüfen möchten, müssen Sie eine Reihe von Schritten durchlaufen
4
Rekapitulieren Sie an einem selbst gewählten Beispiel, welche Schritte notwendig sind, um eine subjektive Beobachtung wissenschaftlich zu überprüfen.
3.2 Die Hypothesenbildung
und bestimmte Überlegungen anstellen, um den Standards empirischer Forschungsmethodik ge-
Lerncoach
recht zu werden. Was genau Sie tun und beachten
Im folgenden Kapitel werden Sie erfahren, was Hypothesen sind und wie sie formuliert sein müssen, um als wissenschaftliche Hypothesen zu gelten. Prägen Sie sich dabei besonders das Prinzip der Falsifikation ein.
müssen, findet sich detailliert unter den folgenden sieben Unterpunkten. Grob skizziert müssen Sie wie folgt vorgehen:
Die Hypothesenbildung : Sie müssen zunächst Ihre Fragestellung präzisieren und eine konkrete Hypothese formulieren. Im vorliegenden Fall würde diese lauten: Medikament X beeinträchtigt die
3.2.1 Der Überblick
Konzentrationsleistung.
Eine Hypothese ist eine präzise Annahme über den
Die Operationalisierung : Anschließend müssen Sie Ihre Variablen operationalisieren, also genau angeben, was Sie unter Konzentrationsleistung verstehen und wie Sie sie zu messen gedenken. Vielleicht entscheiden Sie sich für einen herkömmlichen Konzentrationstest in Form eines standardisierten Fragebogens. Die Untersuchungskriterien : Sie müssen darauf achten, dass der Fragebogen den wichtigsten Gütekriterien eines psychologischen Tests (Objektivität, Reliabilität und Validität) genügt. Die Untersuchungsplanung: Dann müssen Sie entscheiden, welche Art von Untersuchung Sie einsetzen möchten und sollten deren Ablauf ganz genau planen. Die oben formulierte Hypothese nimmt
Zusammenhang von genau definierten Variablen. In einer wissenschaftlichen Untersuchung wird der Hypothese eine Nullhypothese gegenübergestellt, die den angenommenen Sachverhalt negiert. Man unterscheidet probabilistische Hypothesen, bei denen eine Aussage darüber getroffen wird, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Sachverhalt unter bestimmten Bedingungen eintritt, und deterministische Hypothesen, die besagen, dass ein Sachverhalt unter bestimmten Bedingungen ganz sicher eintritt. Die Verifikation einer Hypothese ist unmöglich, sie kann nur den Versuch der Falsifikation überstehen.
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3 Methodische Grundlagen Die Hypothesenbildung
Das Wort „empirisch“ stammt aus dem Grie-
3.2.3 Die Hypothesenformen Die probabilistische und die deterministische Hypothese
chischen und meint „auf Erfahrung beruhend“. Die
Hypothesen können in probabilistische und deter-
empirische Forschung sucht entsprechend nach Erkenntnissen, indem sie Erfahrungen systematisch auswertet. Ihr Ziel besteht darin, theoretisch begründete Hypothesen anhand von Beobachtungen (= Erfahrungen aus der Umwelt) zu überprüfen. Die Überprüfung ist Gegenstand der folgenden Kapitel, hier sollen zunächst die grundlegenden Begriffe der Hypothese und der Theorie erläutert werden.
ministische Hypothesen eingeteilt werden. Probabi-
3.2.2 Die Theorie und die Hypothese Die empirische Forschung
Der Zusammenhang von Hypothese und Theorie Eine Hypothese ist eine wissenschaftliche Annahme über den Zusammenhang von Variablen, die exakt und eindeutig formuliert ist und der Überprüfung bedarf. Sind Hypothesen zu einem Gegenstandsbereich hinreichend überprüft, gelten sie also als gesichert, können sie ein System bilden, das als Theorie bezeichnet wird. Die Definition der Theoriebildung lautet demnach
listische Hypothesen sind Annahmen über Wahrscheinlichkeiten, mit denen ein Sachverhalt unter bestimmten Bedingungen eintritt, deterministische Hypothesen postulieren, dass ein Sachverhalt ganz sicher eintritt, wenn bestimmte Bedingungen gegeben sind; sie lassen keine Ausnahmen zu. In der psychologischen Forschung hat man es in erster Linie mit probabilistischen Hypothesen zu tun. Beispiel: Die Aussage „Im Allgemeinen verschlechtert sich die Konzentration bei Einnahme des Medikaments“ ist eine solche probabilistische Hypothese: Es ist zwar wahrscheinlich, dass ein Patient, der das Medikament bekommt, Konzentrationseinbußen zeigt, dies muss jedoch nicht zwingend so sein. Der angenommene Zusammenhang muss nicht für alle Individuen gleichermaßen gelten. Die Annahme erlaubt auch, dass es einige Patienten gibt, bei denen sich die Konzentration nicht verändert oder sogar verbessert.
wie folgt: Die Theoriebildung ist das Ordnen mehrfach empirisch überprüfter Erkenntnisse in ein System, das in sich widerspruchsfrei ist. Eine Theorie gründet nicht nur auf Hypothesen, sondern bietet
Formulieren Sie zum Üben eine eigene Beobachtung (z. B. an einem Patienten) als wissenschaftliche Hypothese.
gleichzeitig eine Grundlage, um Hypothesen abzuleiten.
Das Prinzip der Falsifikation Der folgende Gedankengang stammt von dem Wis-
Das induktive und das deduktive Vorgehen
senschaftstheoretiker Karl Popper (1902–1994):
Das Generieren von Hypothesen aus theoretischen
Um allgemeingültige Hypothesen als „wahr“ zu be-
Überlegungen wird als deduktives Vorgehen bezeichnet. Der Begriff der Deduktion (deducere lat.
weisen, müsste man ihre Gültigkeit für alle Individuen zu allen Zeitpunkten überprüfen können.
herleiten) stammt aus der formalen Logik und
Dies ist (für realwissenschaftliche Hypothesen)
meint den Schluss vom Allgemeinen zum Besonde-
aus logischen Gründen niemals möglich. Eine Veri-
ren: aus einer Theorie mit größerem Geltungs-
fikation von Hypothesen ist ausgeschlossen; eine Falsifikation hingegen nicht. Um eine Hypothese als falsch zu entlarven, muss nur für eine Stichprobe aus der Gesamtheit aller interessierenden Individuen (Grundgesamtheit) gezeigt werden, dass die Annahme nicht zutrifft. Bei deterministischen Hypothesen reicht hierzu ein einziges Gegenbeispiel, bei probabilistischen Hypothesen, die das Zutreffen auf alle Individuen gar nicht verlangen, wird als Falsifikationskriterium häufig das Signifikanzniveau (s. S. 72) herangezogen.
bereich wird eine spezielle Annahme abgeleitet. Beim induktiven Vorgehen (inducere lat. einführen, herbeiführen) wird umgekehrt von beobachteten Gegebenheiten auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, also vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen. Beispiel: Auf S. 47 haben Beobachtungen an einzelnen Patienten dazu geführt, die (allgemeine) Hypothese aufzustellen, dass das Medikament X die Konzentration beeinträchtigt.
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3 Methodische Grundlagen Die Operationalisierung Merke Hypothesen können sich nie als wahr erweisen, sondern sich bestenfalls bewähren, indem sie die Versuche ihrer Falsifikation überstehen. Die Falisifizierbarkeit ist das wichtigste Merkmal einer wissenschaftlichen Hypothese.
umfassend sein kann sondern immer begrenzt ist,
Dieser Grundgedanke setzt voraus, dass Hypothe-
4
49
kann es möglich sein, dass sich eine Diagnose als falsch erweist. Darum ist es wichtig, dass immer Informationen gesucht und zugelassen werden, die die Richtigkeit der Diagnose in Frage stellen.
Check-up sen sich prinzipiell als falsch herausstellen können und nicht etwa so formuliert sind, dass sie immer gelten (Tautologien).
Die Null- und die Alternativhypothesen Das Prinzip der Falsifikation findet in der Formulierung einer Nullhypothese Anwendung: die Nullhypothese (H0) bestreitet das Vorliegen eines Effekts, der mit der Hypothese (= Alternativhypothe-
se, H1) angenommen wird. Wenn sich die Nullhypothese in einer Untersuchung als falsch erweist, kann die Alternativhypothese zunächst angenommen werden. Sie hat dann also einen Versuch ihrer Falsifikation überstanden.
Merke In wissenschaftlichen Untersuchungen konkurriert jede Hypothese mit einer Nullhypothese, die den angenommene Effekt negiert. Beispiel: In unserem Beispiel auf S. 47 würde die Hypothese „Medikament X verschlechtert
die
Konzentrationsleistung“ gegen die Nullhypothese „Medikament X verschlechtert die Konzentrationsleistung nicht“ getestet werden.
3.2.4 Klinische Bezüge Hypothesen in der Praxis Ein Arzt, der eine Verdachtsdiagnose stellt, macht
4
Rekapitulieren Sie, welchen Kriterien eine wissenschaftliche Hypothese genügen muss, indem Sie versuchen, Ihre Alltagstheorien (z. B. „Männer sind die schlechteren Zuhörer“ oder „Frauen sind die schlechteren Autofahrer“) als konkrete, wissenschaftliche Hypothesen zu formulieren und sich überlegen, wie Sie sie falsifizieren könnten. Warum ist die Aussage: „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist“ keine wissenschaftliche Hypothese? Versuchen Sie, sie zu einer umzuformulieren und ihr die entsprechende Nullhypothese zur Seite zu stellen.
3.3 Die Operationalisierung Lerncoach Die Psychologie befasst sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten und muss dementsprechend mit Themen umgehen, die nur schwer fassbar sind (z. B. Emotionen, Denken). Umso wichtiger ist es, genau anzugeben, was man unter ihnen versteht und wie man sie misst. Hierzu dient die Operationalisierung, sie ist für eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung von großer Bedeutung.
letztendlich nichts anderes, als eine Hypothese über den Erkrankungszustand eines Patienten zu
3.3.1 Der Überblick
formulieren. Diese Hypothese überprüft er, indem
Operationalisierung bezeichnet den Vorgang, nicht
er Erkenntnisse, die er aus weiteren diagnostischen
direkt beobachtbare Phänomene für die Beobach-
Maßnahmen gewinnt oder aus der Wirksamkeit der Behandlung ableitet, systematisch auswertet. Ver-
tung und Messung zugänglich zu machen. Dazu werden Variablen herangezogen, die beobachtet
dichten sich Informationen, die der Hypothese –
und somit gemessen werden können.
also der Verdachtsdiagnose – nicht widersprechen,
Angst ist z. B. ein nicht direkt beobachtbares Phäno-
wird sie vorläufig angenommen, d. h. als Diagnose
men. Um dennoch das Ausmaß der Angst, zum Bei-
formuliert. Da die Informationsbasis, auf der eine
spiel einer Spinnenphobie zu operationalisieren,
Entscheidung für eine Diagnose gefällt wird, nie
kann die Anzahl an Metern, die der Patient bereit
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3 Methodische Grundlagen Die Operationalisierung ist, sich dem gefürchteten Objekt zu nähern, als Maß
Ein Beispiel für ein hypothetisches Konstrukt ist In-
herangezogen werden. Andere Möglichkeiten wären die Erfassung von Indikatoren körperlicher Aktivie-
telligenz: Aus Beobachtungen, dass sich Menschen darin unterscheiden, wie flexibel sie auf neue Situa-
rung oder subjektiver Angaben zur erlebten Angst.
tionen reagieren oder wie gut sie Lösungen für Pro-
Das Beispiel zeigt, dass ein und derselbe Unter-
bleme finden, wird auf das dahinterstehende psy-
suchungsgegenstand auf verschiedene Art und
chische Korrelat „Intelligenz“ geschlossen. Weitere
Weise operationalisiert werden kann. Dies macht
Beispiele
erforderlich, dass in jeder Untersuchung genau an-
Persönlichkeitseigenschaften wie Extraversion und
gegeben werden muss, wie operationalisiert wurde.
Aggressivität und psychische Störungen wie De-
Mehrdeutigkeiten hinsichtlich der durchgeführten Messoperationen müssen auf jeden Fall ausge-
pression und Angst (s. S. 134).
schlossen sein.
3.3.3 Die Skalenniveaus
für
hypothetische
Konstrukte
sind
Die Operationalisierung umfasst sowohl die Beschreibung der Vorgehensweise bei der Messung als auch die Beschreibung der eingesetzten Messinstrumente.
Merke Der Begriff „Messen“ selbst wird wie folgt definiert: Messen meint die Zuordnung von empirischen Sachverhalten zu Zahlen nach einer bestimmten Regel (Stevens, 1959).
Sie werden jetzt verschiedene Skalenniveaus kennenlernen, mit denen das Niveau der Messung beschrieben werden kann. Prägen Sie sich die Charakteristika gut ein, sie werden in Prüfungen gerne abgefragt. Je komplexer die Regeln sind, nach denen empirischen Sachverhalten Zahlen zugeordnet werden, desto größer ist auch der Informationsgehalt der Messwerte und desto mehr Möglichkeiten der sta-
Diese Zuordnung geschieht so, dass die numerischen
tistischen Auswertung bestehen. Um das Niveau
Beziehungen (z. B. zwischen Punktwerten in einem
der Messung zu beschreiben, werden vier Skalen-
Intelligenztest) die empirischen Beziehungen (die tatsächlichen Intelligenzunterschiede) abbilden.
niveaus unterschieden: Die Nominal-, Ordinal-, Intervall- und Verhältnisskala (auch: Rationalskala).
3.3.2 Die hypothetischen Konstrukte
Das Nominalskalenniveau
Um Verhalten und Erleben beschreiben, erklären und
Die einfachste Regel ist die Zuordnung von Sach-
vorhersagen zu können, muss die Vielzahl mensch-
verhalten zu bestimmten Kategorien, zum Beispiel
licher Verhaltens- und Erlebensweisen geordnet, zu-
nach männlich/weiblich, nach ledig/verheiratet/
sammengefasst und benannt werden. Es müssen
geschieden oder nach dem Vorliegen vergangener
Hilfskonstruktionen formuliert werden, die es möglich machen, über Gegenstandsbereiche zu kom-
Erkrankungen (Anamnesedaten).
munizieren, ohne dass jede einzelne Verhaltens-
Beachte Bei einer Nominalskala handelt es sich allein um eine Klassifikation von Merkmalen. Den einzelnen Klassen können zwar Zahlen zugeordnet werden (z. B. männlich = 0, weiblich = 1), diese stellen jedoch nur Bezeichnungen für unterschiedliche Kategorien dar, ihre Reihenfolge ist völlig gleichgültig.
weise beschrieben werden muss und anhand derer Menschen miteinander verglichen werden können. Man nimmt einfach an (hypothetisch), dass es Konstrukte gibt, die hinter den einzelnen Verhaltensweisen stehen: die hypothetischen Konstrukte.
Merke Ein hypothetisches Konstrukt beschreibt und erklärt Phänomene, die zwar selbst nicht direkt beobachtbar sind, deren Existenz aber aus theoretischen Überlegungen oder aus Verhaltensbeobachtungen anzunehmen ist.
Beispiel: Bei einem Marathonlauf könnten Daten auf dem Nominalskalenniveau erhoben werden, indem ausgezählt wird, wie viele Läufer im Ziel angekommen sind und wie viele nicht. Mit diesen
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3 Methodische Grundlagen Die Operationalisierung Messdaten kann die Aussage gemacht werden, dass
Das Intervallskalenniveau
Läufer A wie Läufer B im Ziel angekommen sind – beide also in die gleiche Kategorie fallen – während
Bei der Intervallskala bestehen zusätzlich gleiche Abstände zwischen den Rangplätzen.
51
Läufer C der Kategorie „nicht angekommen“ zugeordnet wird. (Diese Informationen reichen jedoch noch nicht einmal dazu aus, etwas über die Platzierungen der Läufer zu erfahren.) Als Maß der zentralen Tendenz kann der Modus
Merke Auf Intervallskalenniveau bedeuten gleiche Zahlendifferenzen auch gleiche Merkmalsdifferenzen.
(Modalwert) angegeben werden. Er bezeichnet die häufigste Merkmalsausprägung. Wahrscheinlich wäre dies die Kategorie „angekommen“.
Wenn Läufer A und B sich in ihrer Laufgeschwindigkeit in dem gleichen Ausmaße unterscheiden wie Läufer B von C (gleiche Merkmalsdifferenzen),
Das Ordinalskalenniveau
dann müssen sich auch die Differenzen der Mess-
Bei einer Ordinalskala (Rangskala) findet eine Ab-
werte entsprechen. Wenn also bei A ein Wert von
stufung der Messdaten statt, wobei die Stufen zum Beispiel mehr oder weniger (ängstlich) oder besser oder schlechter (Schulnoten, Höhe des Schulabschlusses) bedeuten können.
2:30 Stunden und bei B ein Wert von 3:00 Stunden
Beachte Die Probanden können nach ihrer Merkmalsausprägung in eine Rangreihe gebracht werden, die Abstände zwischen den Rangplätzen entsprechen sich jedoch nicht.
rechnung der durchschnittlichen Laufzeit aller Läu-
gemessen wird, dann muss dem Läufer C ein Wert von 3:30 Stunden zugeordnet werden (vorausgesetzt Läufer B war der Schnellere). Auf Intervallskalenniveau macht nun auch die Befer (arithmetisches Mittel, s. u.) und der Abweichungen einzelner Laufzeiten vom Mittelwert (Standardabweichung, s. u.) Sinn. Die meisten psychologischen Tests, wie Angst- oder Intelligenztests, geben an, auf diesem Skalenniveau
Für das Beispiel des Marathonlaufs wird den Läufern nach der Reihenfolge des Zieleinlaufs Zahlen
zu messen. Die Intervallskala hat keinen (oder nur einen künstlich festgelegten) absoluten Nullpunkt.
zugeordnet: Es wird der Erst-, Zweit- und Drittplatzierte benannt. Aus der Platzierung ist jedoch nicht
Das Verhältnisskalenniveau
zu erkennen, wie groß der Abstand zwischen den
Auf dem Verhältnisskalenniveau sind Aussagen
Plätzen (Rängen) ist. Es ist durchaus möglich, dass
möglich wie: ein 20-Jähriger ist halb so alt wie
der Sieger dem Zweitplazierten um Minuten voraus
ein 40-Jähriger und doppelt so alt wie ein 10-Jähri-
war, während der Dritte dem Zweiten nur um eine
ger (der Nullpunkt wäre bei diesem etwas hinken-
Nasenlänge unterlag. Als Maß der zentralen Tendenz kann der Median
den Beispiel der Zeitpunkt der Geburt). Die meisten klinisch-chemischen Befunde (Herzfrequenz, An-
berechnet werden. Trägt man die Menge der geord-
zahl von Leukozyten im Blut) erreichen ebenfalls
neten Laufzeiten aller Läufer in ein Koordinatensys-
dieses anspruchsvolle Messniveau.
tem mit der Merkmalsausprägung (Laufzeit) auf
Als Maß der zentralen Tendenz kann das geometri-
der Abszisse und die Anzahl der Fälle (Läufer), die
sche Mittel berechnet werden.
diese erzielt haben, auf der Ordinate ein, ergibt sich eine Verteilung der Merkmalsausprägungen (s. S. 52). Der Median ist nun der Wert, der diese Verteilung in zwei gleich große Hälften teilt. Ein Median bei vier Stunden würde also bedeuten,
Merke Erst die Verhältnisskala besitzt einen absoluten Nullpunkt und ermöglicht so die Angabe von Verhältnissen zwischen Merkmalsausprägungen.
dass die Hälfte der Läufer schneller als vier Stunden und die andere Hälfte langsamer lief.
Die Transformationsmöglichkeiten der Skalen Die Skalen sind ineinander überführbar, allerdings nur in eine Richtung.
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3 Methodische Grundlagen Die Operationalisierung Merke Ein höheres Skalenniveau kann immer auf die weniger anspruchsvollen „heruntergebrochen“ werden, eine Erweiterung des Skalenniveaus von unten nach oben ist hingegen nicht möglich.
Merke Ratingskalen sind Verfahren zur Messung von Merkmalen, bei denen die Probanden Einschätzungen nach bestimmten Kriterien auf einer mehrstufigen Skala vornehmen sollen. Zu den Kriterien zählen beispielsweise Häufigkei-
Beispiel: Misst man die Laufzeit der Marathonläu-
ten, Intensitäten oder die Zustimmung.
fer in Minuten, kann neben der Aussage „Läufer A
Beispiel: Probanden können die Häufigkeit ange-
ist doppelt so schnell wie Läufer B“ zusätzlich eine Aussage über schneller und langsamer (Ordinalska-
ben, mit der bestimmte körperliche Beschwerden in den letzen Wochen aufgetreten sind: 1 (nie);
lenniveau) gemacht oder in die Klassen der Über-
2 (selten); 3 (gelegentlich); 4 (oft); 5 (immer),
und Unter-3-Stunden-Läufer eingeteilt werden (No-
oder die Intensität der Schmerzen auf einer Skala
minalskalenniveau). Wird jedoch von vornherein
mit der Gliederung – kein – mäßiger – starker –
nur die Einteilung in zwei Gruppen erfasst, gehen
sehr starker Schmerz einstufen. Sie können auch
Informationen verloren und es können keine Rang-
einfach danach befragt werden, ob ein Symptom
reihen oder Verhältnisse gebildet werden.
vorliegt oder nicht (trifft zu/trifft nicht zu).
Tab. 3.1 fasst die vier Skalenniveaus und die mit
ihnen abbildbaren Relationen noch einmal zusam-
An den Beispielen wird deutlich, dass die Art möglicher Abstufungen das Skalenniveau der erhobe-
men.
nen Daten bestimmt: Die Fragen zur Häufigkeit und Intensität liefern ordinalskalierte Daten, die Angabe, ob ein Symptom vorliegt oder nicht, ist
Tabelle 3.1 Die Skalenniveaus Skalenniveau
Beispiel
Relationen
Maße der zentralen Tendenz
Nominalskalenniveau
männlich/ weiblich
A=B A0B
Modus
Ordinalskalenniveau (Rangskalenniveau)
Schulnoten
AiB AIB
Median
Intervallskalenniveau
psychologische Tests
A–B = B–C
arithmetrisches Mittel
Verhältnisskalenniveau (Absolutskalenniveau)
Alter
1
eine reine Klassifikation (Nominalskalenniveau). Die Skalen, die zur Messung eines Merkmals eingesetzt werden, bestehen nicht aus einzelnen Fragen, sondern aus einem Satz von Items (= einzelne Testaufgaben, Fragen), denen die gleiche Methode der Skalierung zugrunde liegt.
Einige Skalierungsmethoden
⁄2 A = B
geometrisches Mittel
Zu den Skalierungsmethoden zählen unter anderem die Likert-Skala, die Thurstone-Skala, die Guttman-Skala und die Rasch-Skala, auf die hier jedoch nicht ausführlich eingegangen werden kann. Einige typische Beispiele zu Skalierungsmethoden sollen genügen: Eine häufig verwendete Form der Ratingskala ist die Likert-Skala. Bei Likert-skalierten Verfahren
3.3.4 Einige Formen von Beurteilungsskalen und Skalierungsmethoden Die Beurteilungskalen
geben die Probanden auf einer Skala mit zwei
In der Psychologie werden häufig Daten gewonnen, indem Probanden Merkmale von sich selbst oder
1 ( trifft eindeutig zu); 2 (trifft zu); 3 (trifft weder zu noch trifft nicht zu); 4 (trifft nicht zu); 5 (trifft
anderen beurteilen. Dies geschieht anhand von
eindeutig nicht zu).
Beurteilungsskalen (Ratingskalen).
Die Besonderheit dieser Skala ist, dass der Gesamt-
Polen ihre Zustimmung zu einer Aussage auf einer meist fünfstufigen Skala an:
testwert eines Probanden berechnet wird, indem die angekreuzten Skalenwerte einfach zusammengezählt werden.
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3 Methodische Grundlagen Die Operationalisierung Ein Beispiel einer Likert-Skala ist das „Profil der
Aus den Einzelvergleichen kann dann ebenfalls
Lebensqualität chronisch Kranker“ (Siegrist, Broer u. Junge, 1996). Es umfasst 40 fünfstufige Likert-
eine Rangreihe gebildet werden. Die Soziometrie (Moreno, 1934) ist eine Methode,
skalierte Items, die auf sechs Skalen (Leistungs-
um Gruppenstrukturen und Beziehungen zwischen
vermögen, Genuss- und Entspannungsfähigkeit, po-
den Gruppenmitgliedern (z. B. Sympathie oder Ab-
sitive und negative Stimmung, Kontaktvermögen
lehnung) zu erfassen. Sie ist auch eine relative Be-
und Zugehörigkeitsgefühl) das Konzept der Lebens-
urteilung, da die Gruppenmitglieder in Relation zu
qualität abbilden.
den anderen beurteilt werden. Üblicherweise be-
Bei Messinstrumenten auf der Grundlage einer
nennen die Probanden einige Gruppenmitglieder,
Thurstone-Skala werden die vorgegebenen Aussagen als zutreffend oder nicht zutreffend beurteilt (z. B. „stimme zu“/„stimme nicht zu“). Es findet also keine Abstufung statt. Bei einer numerischen Analogskala wird ein Merkmal auf einer Zahlenreihe (wie ein Lineal) zwischen zwei Extremwerten eingeschätzt. Patienten können beispielsweise das Ausmaß ihrer Schmerzen auf einer Zahlenreihe zwischen den Extremwerten „keine Schmerzen“ bis „sehr starke Schmerzen“ abtragen. Bei einer visuellen Analogskala sind nur die Endpunkte der Skala markiert, dazwischen finden sich keine Zahlenwerte. Auf der Rückseite können die Markierungen des Patienten dann in Zahlen abgelesen werden oder die Abstände zu den Endpunkten werden ausgemessen.
mit denen sie beispielsweise am liebsten zusammenarbeiten, die Freizeit verbringen oder eine
Die absoluten und die relativen Beurteilungsskalen
53
Reise unternehmen würden und mit welchen sie dies am wenigsten gerne täten. Die ermittelten Gruppenstrukturen können graphisch in Form eines Soziogramms dargestellt werden, aus dem dann beispielsweise abzulesen ist, welcher der beliebteste oder unbeliebteste Arbeitspartner ist.
3.3.5 Klinische Bezüge Beurteilungsskalen und Anamnese Im Rahmen einer Anamnese gewinnt der Arzt Daten auf unterschiedlichen Skalenniveaus. So gewinnt er beispielsweise die Information, ob sein Patient männlich oder weiblich ist (Nominalskalenniveau), wie alt dieser ist und wie häufig er bereits einen Arzt wegen seiner Beschwerden aufgesucht hat (Verhältnisskalenniveau). Wenn der Arzt an einer Statistik über allgemeine Patientendaten inte-
Die oben geschilderten Ratingskalen sind absolute
ressiert wäre, könnte er am Ende eines Arbeitstages
Beurteilungsskalen, da ein Merkmal direkt eingeschätzt wird. Bei relativen Beurteilungsskalen muss ein Vergleich angestellt werden. Die Frage: „Hatten Sie heute Schmerzen?“ verlangt eine absolute Beurteilung, während die Frage „Sind Ihre Schmerzen heute stärker als gestern?“ eine relative Beurteilung verlangt. Zu den relativen Beurteilungen zählen der Rangvergleich, der Paarvergleich und das Soziogramm. Beispiel: Die Patienten eines Krankenhauses werden aufgefordert, mehrere Tagesgerichte der Krankenhauskantine nach ihrem Geschmack in eine Rangreihe zu bringen (Rangvergleich). Es können Aussagen über die Geschmackspräferenzen der Patienten gemacht und vielleicht das unbeliebteste Gericht von der Speisekarte gestrichen werden. Es erleichtert die Beurteilung, wenn man den Patienten immer nur zwei Gerichte zum Vergleich vorlegt. Hier spricht man von einem Paarvergleich.
allein anhand dieser Daten einen Modus berechnen (hat er mehr Männer oder mehr Frauen behandelt?) und das durchschnittliche Alter seiner Klientels und den Mittelwert der Häufigkeit vorangegangener Arztbesuche berechnen.
Check-up 4
4
Rekapitulieren Sie, z. B. an dem anfänglichen Beispiel des Medikaments X (S. 47), was ein hypothetisches Konstrukt ist und wie es der Beobachtung und Messung zugänglich gemacht wird. Wiederholen Sie, wozu Ratingskalen dienen und überlegen Sie, ob Sie selbst schon mal welche ausgefüllt haben.
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungskriterien
3.4 Die Untersuchungskriterien Lerncoach Im folgenden Abschnitt wird erläutert, was psychologische Tests von „Tests“ abhebt, die Sie häufig in Illustrierten (unter Titeln wie „Sind Sie eine gute Freundin? Testen Sie hier!“) finden. Sie müssen nicht in allen Einzelheiten wissen, wie ein Test entwickelt wird, sollten sich aber die wichtigsten Merkmale eines wissenschaftlichen Tests und vor allem die Definition der Gütekriterien einprägen.
einander trennen kann. Die Testendform wird anschließend normiert und der Test auf seine Gütekriterien überprüft.
3.4.3 Die Testnormierung Für viele Studenten wirken Testnormierungen und vor allem der Umgang mit den dabei notwendigen Zahlenwerten abschreckend. Versuchen Sie dennoch, die Absicht, die hinter der Normierung eines Tests steht, zu verstehen. Zudem ist es gut, einige der in Abb. 3.1 angeführten Standardwerte auswendig zu kennen (z. B. IQ).
3.4.1 Der Überblick Die Erstellung eines wissenschaftlich fundierten
Eine Testnormierung ist die Eichung eines Tests an
psychologischen Tests beginnt mit einer sorgfälti-
einer repräsentativen Stichprobe. Um eine solche
gen Auswahl und Analyse von Items, an deren Ende die Testendform steht (Testkonstruktion).
Eichung vorzunehmen, werden Testdaten an einer möglichst großen Stichprobe unter standardisier-
Die anschließende Eichung des Tests an einer re-
ten Bedingungen erhoben. Aus diesen werden Nor-
präsentativen Stichprobe wird Testnormierung ge-
men gewonnen, zu denen die individuellen Test-
nannt. Wie „gut“ ein Test ist, wird anhand dreier
ergebnisse in Beziehung gesetzt werden können.
Kriterien – der Testgütekriterien Objektivität, Relia-
Erst wenn der durchschnittlich erzielte Wert – der
bilität und Validität – bestimmt. Auch für diagnos-
Mittelwert (s. u.) – und ein Maß für die Streuung der Testwerte – die Standardabweichung (s. u.) – bekannt sind, kann beurteilt werden, was ein einzelnes Testergebnis eigentlich bedeutet.
tische Entscheidungsstrategien gibt es Beurteilungskriterien, die am Ende dieses Kapitels erläutert werden.
3.4.2 Die Testkonstruktion
vidueller Merkmale (Leistungs- oder Persönlich-
Merke Die Normierung eines Tests schafft ein Bezugssystem, in das individuelle Testergebnisse eingeordnet werden können und diese miteinander vergleichbar macht.
keitsmerkmale) gemacht werden können. Die Konstruktion eines Tests ist ein aufwändiges
Selbstverständlich sollte die Stichprobe, anhand
Verfahren, das mit der Auswahl von Items (= ein-
derer die Normen gewonnen werden, den Per-
zelne Testaufgaben) beginnt, die das zu messende
sonen, für die der Test bestimmt ist, so ähnlich
hypothetische Konstrukt abbilden. Mit einer an-
wie möglich sein. Für psychologische Tests liegen
schließenden Itemanalyse auf der Basis von Daten,
häufig gesonderte Normtabellen zum Beispiel für
die an einer ersten Stichprobe gewonnen werden,
Männer und Frauen und für unterschiedliche
wird anhand statistischer Kennwerte entschieden,
Altersklassen vor.
welche Items in die Testendform aufgenommen werden (Itemselektion). Zu den statistischen Kenn-
Um verschiedene Tests miteinander vergleichen zu können, müssen Normskalen entwickelt werden.
werten zählen zum Beispiel der Schwierigkeits-
Sie standardisieren die Vergleichsmaßstäbe (Nor-
index, der die Lösungswahrscheinlichkeit eines Items angibt, und der Trennschärfekoeffizient, aus dem abzulesen ist, wie gut ein Item Probanden mit hoher und niedriger Merkmalsausprägung von-
men) von Tests. Einige seien im Folgenden genannt.
Unter einem psychologischen Test (z. B. Intelligenztest) wird ein Verfahren verstanden, mit dem quantitative Aussagen über den Ausprägungsgrad indi-
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungskriterien Die Äquivalenznormen
Wenn Daten einer biologischen (z. B. Körpergröße)
Bei Äquivalenznormen wird ein Rohwert (Testwert, der sich direkt aus dem Test ergibt) einer Alters-
oder psychologischen Variablen (z. B. Intelligenz) an einer großen Anzahl von Probanden gesammelt
gruppe zugeordnet, für die er besonders typisch
werden, ähnelt die Häufigkeitsverteilung der er-
ist. Es wird sozusagen ein Altersäquivalent zur indi-
hobenen Messwerte der einer Normalverteilung
viduellen Leistung geschaffen.
(Abb. 3.1). Auf der Abszisse ist die Ausprägung des
Ein Beispiel sind die Staffeltests zur Intelligenzmes-
zu messenden Merkmals und auf der Ordinate die
sung von Binet (19. Jh.): Das Lösen von Aufgaben,
Anzahl der Probanden abgetragen. Der höchste
die typisch für eine bestimmte Altersklasse sind,
Punkt der Verteilung kennzeichnet also den Aus-
bestimmt das Intelligenzalter (IA), das dem tatsächlichen Lebensalter (LA) entsprechen oder über
prägungsgrad eines Merkmals, den die meisten Probanden erzielen. Er ist bei dieser glockenförmi-
oder unter ihm liegen kann. (vgl. S. 107).
gen Verteilung zugleich Mittelwert (M), Median
55
und Modalwert. Die Standardabweichungen (SD)
Die Abweichungsnormen
markieren die Wendepunkte der Verteilung und
Bei Abweichungsnormen (= Variabilitätsnormen)
kennzeichnen Abschnitte, für die bekannt ist, wie
geschieht der Vergleich der Testwerte anhand der
viel Prozent der Fälle in sie entfallen. So liegen bei-
Abweichungen vom Mittelwert der Referenzstich-
spielsweise in dem Bereich zwischen dem Mittel-
probe. Damit dies klarer wird, muss zunächst eine Verteilungsform erläutert werden, der die Mess-
wert und einer Standardabweichung ca. 34 % der Fälle. Da die Verteilung symmetrisch ist, liegen ent-
werte entsprechen müssen:
sprechend im Bereich zwischen einer Standard-
ca. 98 %
ca. 84 % 50 % ca. 16 % ca. 2%
Fälle pro Intervall [ in % ]
2.14
Differenz vom Mittelwert (M) in Standardabweichungen (SD)
13.59
–2 SD
Testnormen
M
SD
z-Werte
0
1
34.13
–1 SD
34.13
M
13.59
1 SD
2.14
2 SD
TestBsp. –2
–1
0
1
2
Stanine
5
2
1
3
5
7
9
FPI
T-Werte
50
10
30
40
50
60
70
MMPI
IQ
10 0
15
70
85
100
115
130
HAWIE HAWIK
Z-Werte
10 0
10
80
90
100
110
120
IST
Abb. 3.1
Normalverteilung und einige Testnormen
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungskriterien abweichung über und unter dem Mittelwert 68 %
Die Objektivität
der Stichprobe. Die Verteilungen von Variablen wie Körpergröße
Objektivität meint die Unabhängigkeit des Tests von der Person des Testleiters. Die Objektivität
oder Intelligenz sind je nach Maßstab auf der Abs-
kann folglich erhöht werden, wenn der Einfluss
zisse unterschiedlich breit (z. B. cm, Testpunktwer-
des Testleiters auf die Durchführung, Auswertung
te). Um dasselbe Aussehen der Verteilung zu erlan-
und Interpretation des Tests minimiert wird. Dies
gen, können die Daten z-transformiert werden, also
kann geschehen, indem der Test standardisiert vor-
in eine Standardnorm umgewandelt (= standardi-
gegeben wird, also zum Beispiel schriftliche Testin-
siert) werden. Jeder z-Wert macht eine eindeutige
struktionen anstelle mündlicher Erläuterungen ge-
Aussage darüber, wie weit der dazugehörige Rohwert vom Mittelwert entfernt ist. Die Verteilung,
wählt werden und indem der Spielraum bei der Testauswertung begrenzt wird (z. B. Schablone,
die entsteht, heißt Standardnormalverteilung und
Computerprogramm).
wird mit einem Mittelwert von 0 und einer Stan-
Um das Ausmaß der Objektivität zu bestimmen,
dardabweichung von 1 hinreichend beschrieben.
wird überprüft, inwieweit die Ergebnisse, die un-
Abb. 3.1 zeigt einige typische Testnormen. Sie lassen
terschiedliche Versuchsleiter bei der Auswertung
sich ineinander überführen, sodass auch ein Ver-
desselben Tests ermitteln, übereinstimmen. Ist die
gleich von Testergebnissen verschiedener Tests
Übereinstimmung gering, ist dies ein Hinweis da-
möglich wird. Ein Beispiel: Ein IQ im HamburgWechsler-Intelligenztest (HAWIE) von 130 und
rauf, dass die Testergebnisse der Versuchspersonen nicht unabhängig vom Einfluss der Versuchsleiter
ein Wert von 120 im Intelligenz-Struktur-Test
sind. Die Höhe der Übereinstimmung wird durch
(IST) bedeuten beide, dass ein Wert erreicht wurde,
den
der zwei Standardabweichungen über dem Mittel-
den bei der Datenauswertung noch ausführlich
wert liegt und dass nur ca. 2 % der Bezugsgruppe
eingegangen wird.
Korrelationskoeffizienten ausgedrückt, auf
einen höheren Wert erzielten (oder: 98 % erzielten einen geringeren Wert). Über einige in der Tabelle
Die Reliabilität
angeführten Testbeispiele erfahren Sie auf S. 110 mehr.
Die verschiedenen Formen der Reliabilität
Die Prozentränge
derholt bei derselben Versuchsperson unter glei-
Die Reliabilität oder Zuverlässigkeit meint die
Messgenauigkeit eines Tests. Wenn ein Test wieProzentränge sind ebenfalls eine Form der Normie-
chen Bedingungen angewendet wird und die Ergeb-
rung, bei der den Testergebnissen die relative Posi-
nisse identisch oder zumindest sehr ähnlich sind,
tion auf der Messwertskala der Referenzgruppe zu-
misst der Test präzise. Es gibt unterschiedliche
geordnet werden. Ein Prozentrang sagt aus, wieviel
Möglichkeiten, die Reliabilität eines Tests zu
Prozent der Referenzgruppe unterhalb des ermittelten Testwertes liegen. Ein Prozentrang von 90 be-
überprüfen: Die Retest-Reliabilität (Testwiederholungs-Re-
deutet also, dass 90 % der Referenzstichprobe
liabilität) wird ermittelt, indem ein Merkmal
einen niedrigeren Wert erreicht haben. Das Bilden
(z. B. Angst, Intelligenz) mit demselben Test an
von Prozenträngen stellt keine Voraussetzung an
denselben
die Verteilungsform der Messwerte, sie müssen
wird. Je höher die Messergebnisse übereinstim-
also nicht normalverteilt sein.
men, desto reliabler ist der Test.
Probanden
wiederholt
gemessen
Bei der Bestimmung der Paralleltest-Reliabilität
3.4.4 Die Testgütekriterien Ein psychologischer Test muss gewisse Qualitäts-
wird nicht derselbe Test wiederholt, sondern parallele Formen eines Tests (Version A und B)
merkmale aufweisen, um als gut zu gelten. Die
eingesetzt. Dies schließt zum Beispiel Erinne-
Hauptgütekriterien sind die Objektivität, die Relia-
rungseffekte aus.
bilität und die Validität. Im weiteren Sinne können auch Ökonomie und Änderungssensitivität als Gütemerkmale verstanden werden.
einmal durchgeführt. Zur Bestimmung der Kon-
Bei einer Konsistenzanalyse wird der Test nur sistenz wird der Test entweder in zwei Hälften
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungskriterien geteilt (z. B. nach geraden und ungeraden Items)
dann müssen Ängstliche und Nichtängstliche auch
und die Testhälften miteinander verglichen – hier spricht man von Testhalbierungsreliabilität
unterschiedliche Testwerte erhalten. Zur Bestimmung der Validität bestehen mehrere Möglich-
(„Split-half“-Reliabilität) – oder jede einzelne
keiten:
Testaufgabe wird mit allen übrigen in Beziehung
Bei der Kriteriumsvalidität wird der Test mit
gesetzt (innere Konsistenz) und so ein Maß für
einem oder mehreren Außenkriterien verglichen
die Homogenität (Gleichartigkeit) der Testteile
(Korrelation mit Außenkriterien, s. u.). Ein sol-
gewonnen.
ches Kriterium könnte zum Beispiel die Ein-
Die Reliabilität eines Tests kann durch eine Testver-
schätzung eines langjährig erfahrenen Thera-
längerung erhöht werden. Mit zunehmender Zahl an Items zu demselben Merkmal findet eine Art Fehlerausgleich statt und der Test wird messgenauer (in der klassischen Testtheorie erklärt sich dies durch das stärkere Anwachsen der wahren Varianz im Vergleich zur Fehlervarianz; Bortz, 1999).
peuten sein oder aber ein anderer Angstfragebogen, der sich bereits bewährt hat.
Der Standardmessfehler
Ein Berufseignungstest beispielsweise ist dann (vohersage)valide, wenn er den späteren Berufs-
57
Werden das Testergebnis und das Außenkriterium zur gleichen Zeit erhoben, spricht man von Übereinstimmungsvalidität. Soll das Testergebnis das Kriterium zu einem späteren Zeitpunkt vorhersagen, spricht man von Vorhersagevalidität (prädiktiver Validität).
Die Messgenauigkeit psychologischer Tests ist nie maximal, sodass eine gewisse Unzuverlässigkeit in
erfolg gut vorhersagen kann.
Kauf genommen werden muss. Der Messfehler,
Häufig gibt es nicht ein einzelnes Kriterium für ein
der durch die mangelnde Reliabilität eines Tests
komplexes hypothetisches Konstrukt. Um die Konstruktvalidität zu überprüfen, wird das Ausmaß bestimmt, wie eng der Test mit anderen gültigen Indikatoren des Konstrukts zusammenhängt. Wenn die Testaufgaben selbst das zu messende Merkmal repräsentieren, spricht man von Inhaltsvalidität. Beispielsweise ist ein Rechentest ein inhaltsvalider Test, wenn es um die Erfassung von Rechenfähigkeit geht. Es wird weiterhin in interne und externe Validität unterschieden. Eine Untersuchung ist dann intern valide, wenn die erzielten Ergebnisse eindeutig für (oder gegen) die Hypothese sprechen, alternative Erklärungen für deren Zustandekommen also ausgeschlossen werden können. Externe Validität meint, dass die Ergebnisse auch für andere vergleichbare Probandengruppen, Orte und Situationen gültig sind.
zustande kommt, wird als Standardmessfehler (SM) bezeichnet. Zur Bestimmung des Standardmessfehlers wird ein Maß für die Messgenauigkeit (der Reliabilitätskoeffizient r) und ein Maß für die Streuung der Testwerte (Standardabweichung SD) p berücksichtigt (SM = SD (1–r)). Jeder individuelle Wert, der mit dem Test erhoben wird, ist also mit einem Fehler behaftet. Rechnet man zu dem Testwert eines Probanden einen Bereich hinzu, der vom Ausmaß des Standardmessfehlers abhängt, ergibt sich ein Konfidenzintervall (Vertrauensintervall), in dem der „wahre“ (also fehlerfreie) Wert sehr wahrscheinlich liegt. Je reliabler der Test, desto geringer ist der Standardmessfehler und desto enger das Konfidenzintervall.
Die Validität Die Validität (Gültigkeit) ist das dritte Hauptgütekriterium. Sie gibt an, ob der Test das Merkmal,
Der Zusammenhang der Testgütekriterien
das er zu messen vorgibt, auch tatsächlich misst. Ein valider Test sollte Probanden mit hohen Merk-
Nach der klassischen Testtheorie sind die Testgütekriterien voneinander abhängig: Hohe Objektivität
malsausprägungen von denen mit niedrigen tren-
ist die Voraussetzung für hohe Reliabilität und
nen können.
diese ist wiederum die Voraussetzung für hohe
Ein Beispiel: Ein Angsttest ist dann valide, wenn er
Validität. Ein Test kann also nicht valider sein als
Angst misst und nicht etwa ein anderes Merkmal,
er reliabel oder objektiv ist.
wie zum Beispiel Schüchternheit. Trifft dies zu,
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungskriterien Die Ökonomie und die Änderungssensitivität
stehen. Egal, ob eine Entscheidung durch das Urteil
Ob ein Test eingesetzt wird oder nicht, hängt neben den Hauptgütekriterien auch davon ab, ob er öko-
eines Experten, aufgrund eines Tests oder anhand anderer Entscheidungsstrategien getroffen wird –
nomisch durchzuführen, auszuwerten und zu inter-
sie ist immer mit Risiko behaftet, da die Informatio-
pretieren ist. Der Aufwand, zum Beispiel hinsicht-
nen, die zur Entscheidung herangezogen werden
lich Zeit, Kosten oder Arbeitskraft, sollte zum Nut-
können, begrenzt sind. Mit der Entscheidungstheorie wird versucht, häufig intuitiv getroffene Entscheidungen explizit und durchschaubar zu machen und diagnostische Strategien hinsichtlich ihres Nutzens zu beurteilen. Um einige weitere Begriffe zu erläutern, wird das einfache Beispiel herangezogen, dass sich die zu treffende Entscheidung auf die beiden Zustände krank/gesund bezieht. Die Kombinationen der Diagnosen und der tatsächlichen Zustände können in einem Vier-Felder-Schema angeordnet werden (Abb. 3.2). Anhand dieses Schemas lassen sich Kennwerte zur Güte der Diagnosestrategie (allgemeiner: der Entscheidungsstrategie) berechnen: die Sensitivität, die Spezifität und der positive und negative Prädiktionswert. Mit „positiv“ wird das Vorhandensein eines kritischen Merkmals – in diesem Fall das Vorliegen einer Krankheit – bezeichnet, „negativ“ meint das Nichtvorhandensein. Die Sensitivität ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestehender positiver Zustand auch tatsächlich erkannt wird. Sie errechnet sich aus dem Anteil der richtig als krank Klassifizierten an den Kranken insgesamt.
zen, der durch das Testergebnis erzielt wird, in angemessener Beziehung stehen. Ein Test ist dann änderungssensitiv, wenn er sensibel gegenüber Veränderungen eines Merkmals ist. Ein Beispiel ist die Messung von Unterschieden der Angst vor und nach einer Angsttherapie, um deren Wirksamkeit zu überprüfen. Hierbei besteht das methodische Problem, nur schwer unterscheiden zu können, ob unterschiedliche Testergebnisse tatsächlich die Veränderungen des Merkmals wiedergeben oder aber die Folge der mangelnden Reliabilität des Tests sind (und das Merkmal in Wirklichkeit stabil bleibt).
Die Gütekriterien einer Entscheidungsstrategie Psychologische Tests sollen Aussagen über den tatsächlichen Zustand von Individuen machen. Allgemeiner gesprochen soll mit ihrer Hilfe eine Entscheidung getroffen werden, welcher Merkmalsklasse ein Individuum zugeordnet werden kann. Nichts anderes ist bei medizinischen Diagnosen der Fall: in der klinischen Praxis stehen diagnostische Entscheidungen an, bei denen mindestens zwei Alternativen (z. B. krank/gesund) zur Auswahl
tatsächlicher Zustand Diagnose
positiv (krank)
negativ (gesund)
insgesamt
positiv (krank)
negativ (gesund)
Entscheidung richtig positiv
Entscheidung falsch positiv
A
B
Entscheidung falsch negativ
Entscheidung richtig negativ
C
D
A+C
B+D
Sensitivität
Spezifität
A / (A + C)
D / (B + D)
insgesamt positiver Prädiktionswert A+B
A / (A + B)
negativer Prädiktionswert C+D
D / (C + D)
Abb. 3.2 Vier-Felder-Schema der Entscheidungsmöglichkeiten
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungsplanung Die Spezifität ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestehender negativer Zustand erkannt wird. Die richtig als gesund Klassifizierten werden zu allen Gesunden in Beziehung gesetzt. Die Prädiktionswerte werden über die Zeilen, also aus der Sicht der Diagnosestrategie errechnet. Der
positive Prädiktionswert meint die Wahrscheinlichkeit, mit der eine positive Diagnose zutreffend ist. Er errechnet sich aus dem Anteil der mittels Diagnose richtig als krank Klassifizierten an den als krank Klassifizierten insgesamt. Der negative Prädiktionswert meint die Wahrscheinlichkeit, mit der eine negative Diagnose zutreffend ist. Er bestimmt sich durch den Anteil der mittels Diagnose richtig als gesund Klassifizierten an den als gesund Klassifizierten insgesamt.
3.4.5 Klinische Bezüge Messung otoakustischer Emissionen
strument“ (das Würfeln) objektiv? Achten Sie beim Beantworten der Frage genau auf die Definition von „Objektivität“. Ist das Messinstrument reliabel oder sogar valide?
3.5 Die Untersuchungsplanung Lerncoach Im folgenden Kapitel werden Sie verschiedene Untersuchungsarten kennenlernen. Bei der Planung einer Untersuchung muss man sich für eine dieser Untersuchungsarten entscheiden und den Ablauf genau festlegen. Die wohl wichtigste Art einer wissenschaftlichen Untersuchung ist das Experiment. Versuchen Sie das Prinzip genau zu verstehen, dann erklären sich viele der anderen Begriffe von selbst.
Ein Screeningtest (auch Filtertest) wird in einer
3.5.1 Der Überblick
größeren
und
Wissenschaftliche Fragestellungen können auf un-
dient dazu, das Vorliegen einer Erkrankung im
terschiedliche Art und Weise untersucht werden.
Frühstadium zu erkennen. Ein Beispiel ist die Mes-
In diesem Abschnitt werden einige Untersuchungs-
sung der otoakustischen Emission als Screening-
arten, wie die Feldstudie, die Längs- und die Quer-
methode, um Hörstörungen bei Säuglingen zu iden-
schnittsstudie erläutert. Die bedeutendste psycho-
tifizieren. Hierbei werden Schallwellen gemessen, die in der Kochlea entstehen und über das Mittel-
logische Untersuchungsmethode ist das Experiment, das in diesem Abschnitt detaillierter dar-
ohr in den Gehörgang abgestrahlt werden.
gestellt wird. Das Experiment deckt Ursache-Wir-
Ein solcher Screeningtest sollte sich durch eine
kungs-Beziehungen auf, indem die Ursache vom
hohe Sensitivität kennzeichnen, um sicherzugehen,
Versuchsleiter variiert wird und die Auswirkungen
dass Kranke auf jeden Fall als solche erkannt wer-
der Variationen (Versuchsbedingungen) registriert
den, damit ihnen rechtzeitig Unterstützung und
und verglichen werden. Ist eine für die Frage-
Förderung zukommen kann. Gleichzeitig sollte er
stellung geeignete Untersuchungsart ausgewählt,
eine hohe Spezifität besitzen, d. h. Gesunde auch als gesund erkennen, damit sie nicht fälschlicher-
muss eine repräsentative Stichprobe gewonnen werden. Hierzu macht man sich entweder die zu-
weise behandelt und zu Unrecht verunsichert
fällige Gleichverteilung von Merkmalen in einer
werden. Den Screeningtests folgen spezifische
großen
Nachweisverfahren, um die Verdachtsdiagnose zu
oder wählt die Probanden gezielt aus (Quotenstich-
überprüfen und sie gegebenenfalls noch zu präzi-
probe).
Bevölkerungsgruppe
eingesetzt
59
Stichprobe
zunutze
(Zufallsstichprobe)
sieren.
Check-up 4 4 4
Rekapitulieren Sie, wozu die Normierung eines Tests dient und wie sie erfolgt. Wiederholen Sie die Hauptgütekriterien eines Tests. Stellen Sie sich vor, ein Lehrer würfelt die Noten seiner Schüler aus. Ist sein „Messin-
3.5.2 Die Arten von Untersuchungen Das Experiment Die abhängige und die unabhängige Variable Das Experiment ist die Methode um Ursache-Wir-
kungs-Beziehungen aufzudecken. Um die Kausalität einer Beziehung zu überprüfen, muss die vermutete Ursache manipuliert werden und die Auswirkungen dieser Manipulation betrachtet werden.
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungsplanung Und genau dies ist der Grundgedanke eines Experiments: eine oder mehrere Variablen, die als Ursache vermutet werden, werden systematisch vom
Merke Die abhängige Variable ist immer die Reaktion der Probanden.
Versuchsleiter variiert und daraufhin die Ausprägung einer oder mehrerer anderer Variablen beob-
Die wichtigsten Kennzeichen eines Experiments
achtet. Die frei variierten Variablen heißen unab-
Als wichtige Kennzeichen eines Experiments be-
hängige Variablen, die von der Variation abhängigen Variablen werden bezeichnenderweise abhängige Variablen genannt.
nannte Wilhelm Wundt die Willkürlichkeit, die
Merke Wichtig ist die Konstanthaltung aller anderen als der unabhängigen Variablen. Die Veränderung der abhängigen Variablen muss allein auf die Variation der unabhängigen Variablen zurückzuführen sein und nicht auf den Einfluss irgendwelcher anderer Faktoren. Die Experimental- und die Kontrollgruppe Die systematische Variation der unabhängigen Variablen geschieht durch das Herstellen unterschiedlicher Versuchsbedingungen: Es wird eine Probandengruppe gebildet, die der vermuteten Ur-
Wiederholbarkeit und die Variierbarkeit: Willkürlichkeit (oder Planmäßigkeit) meint, dass der Versuchsleiter die Bedingungen, die zur Veränderung der abhängigen Variablen führen, jederzeit willkürlich herstellen kann. Er kann also planmäßig Erlebens- und Verhaltensweisen auslösen und muss nicht etwa auf deren Eintreten warten. Die experimentellen Bedingungen müssen wiederholt hergestellt werden können (Wiederholbarkeit oder Replizierbarkeit). Befunde, für deren Zustandekommen einmalige Bedingungen verantwortlich sind, sind nicht überprüfbar. Die Bedeutung der Variierbarkeit wurde bereits erläutert, kann aber aufgrund ihrer Wichtigkeit nicht genug betont werden: Die unabhängige Variable muss vom Versuchsleiter frei variierbar sein.
sache ausgesetzt wird (Experimentalgruppe) und eine Gruppe, die der Ursache nicht ausgesetzt wird (Kontrollgruppe). Da die Probanden der Experimental- und der Kontrollgruppe bis auf die ent-
Das einfaktorielle und das mehrfaktorielle Versuchsdesign Einer Untersuchung, bei der nur ein Ursachenfaktor
scheidende unabhängige Variable ansonsten den
für die Veränderung der abhängigen Variablen an-
gleichen Bedingungen ausgesetzt sind (Konstant-
genommen wird, liegt ein einfaktorielles Versuchs-
haltung), können Unterschiede zwischen den Gruppen folglich nur durch die Wirkung der unabhängigen Variablen bedingt sein. Am Beispiel des Medikaments X bedeutet das: die Experimental- darf sich von der Kontrollgruppe nur darin unterscheiden, dass der einen Gruppe ein Wirkstoff verabreicht wird und der anderen Gruppe nicht. Hierzu zählt auch, dass die Einnahme einer Tablette und der Einfluss möglicher Erwartungseffekte für beide Gruppen gleich ist, auch diese Bedingung also konstant gehalten wird. Dies geschieht, indem die Kontrollgruppe ebenfalls eine Tablette, jedoch ohne Wirkstoff erhält (Plazebo). Die beiden Versuchsbedingungen (Medikament vs. Plazebo) sind die unabhängige Variable, die anschließend zu messende Konzentrationsleistung ist die abhängige Variable.
design zugrunde. Bei mehr als einer unabhängigen Variable spricht man von einem mehrfaktoriellen Design. Am Beispiel des Medikaments X verdeutlicht: Die Annahme, dass das Medikament die Konzentration beeinträchtigt, kann in einem einfaktoriellen experimentellen Design dargestellt werden. Die Vermutung, dass die Wirkung des Medikaments zusätzlich abhängig von der vorangegangenen Schlafdauer der Patienten ist, macht hingegen ein zweifaktorielles Design nötig. Der erste Faktor ist zweifach gestuft (Medikament und Plazebo), für den zweiten wird angenommen, dass ebenfalls zwei Stufen interessieren (z. B. Schlafdauer unter und über fünf Stunden). Man spricht auch von einem 2 x 2-Design, da jede der beiden unabhängigen Variablen zwei Stufen hat und sich vier Gruppen bilden, wenn die Probanden auf die möglichen Manipulationsbedingungen aufgeteilt werden. Von einem 2 x 3-Design wäre
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungsplanung entsprechend die Rede, wenn man die beiden Grup-
oben angeführten Beispiel. Auf den zweiten Blick
pen der Schlafdauer um eine weitere Gruppe ergänzen würde (z. B. 2–4, 4–6, 6–8 Stunden Schlaf)
wird aber ein bedeutender Unterschied sichtbar: die unabhängige Variable „Geschlecht“ ist nicht
(Tab. 3.2).
frei variierbar. Die Probanden können nicht zufällig
Beachte Die Begriffe „ein“-, „zwei“- oder „mehrfaktoriell“ geben die Anzahl der unabhängigen Variablen (Faktoren) in einem Versuchsdesign an. Die Begriffe dürfen nicht mit der Anzahl der Stufen der Faktoren verwechselt werden. Tabelle 3.2 Fiktives Beispiel eines zweifaktoriellen Versuchsdesigns
61
der Gruppe der Männer oder der Frauen zugeordnet werden (sie bringen die Bedingung sozusagen schon mit). Bei Fragestellungen, die biologische Variablen wie das Alter oder Geschlecht beinhalten oder Variablen einbeziehen, deren Manipulation sich aus ethischen Gründen verbietet, ist ein wichtiges Charakteristikum eines Experiments – die Variierbarkeit – nicht erfüllt. Man spricht stattdessen von einem Quasiexperiment.
Schlafdauer Versuchsgruppen (Bedingungsvariation) Medikamentengruppe Plazebogruppe
weniger als fünf Stunden
mehr als fünf Stunden
Einige Untersuchungsfehler und deren Kontrolle Es wurde bereits angesprochen, wie wichtig es
5
15
20
14
16
30
19
31
In den vier Zellen stehen die Werte des Konzentrationstests, die die Gruppenmitglieder im Mittel erzielt haben, unten und rechts stehen die Zeilen- und Spaltensummen.
ist, diejenigen Einflussfaktoren auf die abhängige Variable zu kontrollieren, die nichts mit der beabsichtigten Bedingungsmanipulation zu tun haben. Gelingt die Kontrolle nicht, ist die Wirkungsbeziehung nicht mehr eindeutig. Dies kann vermieden werden, indem der Versuchsablauf standardisiert wird, der Versuchsleiter- und der Versuchspersonenfehler ausgeschlossen und die Probanden
Der Vergleich der Zeilensummen zeigt, dass Pro-
zufällig
banden der Plazebogruppe bessere Konzentrationsleistungen erbringen als die Probanden, die das
werden. Unter der Standardisierung des Versuchsablaufs
Medikament einnehmen. Der Vergleich der Spal-
wird ein genau geregelter Ablauf der Datenerhe-
tensummen zeigt einen Vorteil für die länger Schla-
bung und der Auswertung von Versuchsdaten ver-
fenden. Man spricht von Haupteffekten und meint
standen.
die Wirkung jeder unabhängigen Variablen für
Der Begriff Versuchsleiterfehler meint, dass Erwar-
sich allein genommen. Treten die beiden unabhän-
tungen des Versuchsleiters unbeabsichtigt dessen
gigen Variablen miteinander in Wechselwirkung,
Wahrnehmung und Verhalten mitbestimmen und
hängt also die Wirkung des einen Faktors von der Ausprägung des anderen ab, spricht man von
so die zu messenden Variablen beeinflusst werden. Subtile Formen der Kommunikation zwischen Ver-
den
Versuchsbedingungen
zugeordnet
einem Interaktionseffekt. Die fiktiven Werte in
suchsleiter und Versuchspersonen können dazu
den vier Zellen weisen darauf hin, dass das Medika-
führen, dass die Probanden gemäß den Erwartun-
ment besonders dann die Konzentration beein-
gen des Versuchsleiters reagieren. Dieser Fehler
flusst, wenn gleichzeitig die Schlafdauer gering
wird nach einem Forscher, der sich mit Suggestion
ist. Bei längerer Schlafenszeit bestehen kaum Un-
beschäftigt hat, auch als „Rosenthal-Effekt“ be-
terschiede zur Plazebogruppe. Zur Überprüfung
zeichnet. Er ist ausgeschlossen, wenn der Versuchs-
von Haupt- und Interaktionseffekten stehen statistische Tests (s. u.) zur Verfügung.
leiter nicht um die Zuordnung der Versuchspersonen zu den Versuchsbedingungen weiß. Teilt man zusätzlich den Versuchspersonen nicht mit,
Das Quasiexperiment
welcher Versuchsbedingung sie angehören, spricht
Die Fragestellung, ob die Wirkung des Medika-
man von einer Doppelblindstudie.
ments davon abhängt, ob es Männern oder Frauen
Ein Versuchspersonenfehler liegt vor, wenn das
verabreicht wird, ähnelt auf den ersten Blick dem
Wissen, an einer psychologischen Untersuchung
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungsplanung teilzunehmen, die Reaktionen der Probanden beeinflusst. Er wird auch als „Hawthorne-Effekt“ bezeichnet. In den Hawthorne-Werken der Western Electronic Company wurde in den 20er Jahren eine Untersuchung durchgeführt, die die Auswirkungen
unterschiedlicher
Beleuchtungsverhält-
nisse auf die Arbeitsleistung überprüfen sollte. Das überraschende Ergebnis war, dass die Probanden ihre Arbeitsleistung nicht in Abhängigkeit der Beleuchtungsbedingungen veränderten, sondern ganz allgemein ihre Leistung steigerten, weil sie um ihre Rolle als Probanden wussten. Um zu verhindern, dass die Effekte der Bedingungsvariation durch die Erwartungen der Probanden überlagert werden, lässt man sie hinsichtlich der experimen-
hinsichtlich wichtiger Merkmale entsprechen (matched samples). Das Ausbalancieren von Versuchsplänen wird nötig, wenn die Untersuchung aus mehreren Versuchsabschnitten besteht, die sich gegenseitig beeinflussen könnten. Ein Beispiel sind unbeabsichtigte Lerneffekte: Die Bearbeitung einer Aufgabe führt dazu, dass eine zweite, ähnliche Aufgabe besser durchgeführt werden kann. Bei einem balancierten Versuchsplan durchläuft die Hälfte der Probanden zunächst den Abschnitt A und dann den Abschnitt B, die andere Hälfte geht den umgekehrten Weg. So können Reihenfolgeneffekte , die ebenfalls zu den systematischen Fehlern zählen, kontrolliert werden.
tellen Versuchsbedingung im Unwissen, führt also eine (Einfach-) Blindstudie durch.
Die Feldstudie
Der Versuchsleiter- und der Versuchspersoneneffekt zählen zu den systematischen Fehlern. Sie
Experimente, die im Versuchslabor durchgeführt werden, bieten den großen methodischen Vorteil,
verschieben das Gesamtergebnis in eine bestimmte
den Versuchsablauf standardisieren zu können,
Richtung. Im Gegensatz dazu heben sich zufällige
schaffen jedoch gleichzeitig künstliche Situationen,
Fehler (z. B. kommt ein Proband der Experimental-
die die externe Validität der erhobenen Daten ein-
gruppe übermüdet zum Experiment) bei großen
schränkt. Genau umgekehrt ist es bei einer Feldstu-
Stichproben auf. Die Merkmale einzelner Proban-
die. Hier werden Daten direkt im „Feld“, also unter natürlichen Bedingungen erhoben, wie zum Beispiel in alltäglichen Arbeits- oder Lernumwelten. Dies schließt eine Kontrolle und Standardisierung des Untersuchungsablaufs aus, macht jedoch durch den Echtheitscharakter der Messung eine Übertragung der Untersuchungsergebnisse auch auf andere Situationen eher möglich.
den „mitteln“ sich über die Gesamtstichprobe aus. Versuchspersonen- und Versuchsleiterfehler beschränken sich nicht auf Experimente, sondern verfälschen auch bei anderen Untersuchungsmethoden (z. B. beim Interview, s. u.) die Datenerhebung durch eine Verringerung der Objektivität. Als Randomisieren bezeichnet man die zufällige Zu-
teilung der Probanden zu den Versuchsbedingungen. Dahinter steht die Idee, dass sich bei einer zufälligen Zuordnung die Merkmale der Probanden auf die Gruppen gleich verteilen und so ausgeschlossen wird, dass von vornherein Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen bestehen, die die abhängige Variable beeinflussen könnten. Je größer die Stichprobe ist, desto wahrscheinlicher ist eine Normalverteilung der Merkmale und desto ähnlicher werden sich die Versuchsgruppen, zum Beispiel hinsichtlich des Alters oder des Bildungsniveaus der Probanden. Bei kleinen Stichproben ist eine zufällige Zuordnung zu riskant: Extreme Ausprägungen fallen bei wenigen Probanden zu stark ins Gewicht. Es bietet sich eine Parallelisierung an, bei der gezielt Parallelgruppen zusammengestellt werden, die sich
Die Längsschnittstudie und die Querschnittstudie (vgl. S. 147) Eine Untersuchung, die Veränderungsprozesse erfassen kann, ist die Längsschnittstudie. Variablen, von denen man annimmt, dass sie sich über die Zeit verändern, werden zu mehreren Messzeitpunkten bei denselben Versuchspersonen registriert. Bei Querschnittstudien werden Probanden unterschiedlichen Alters zu einem Zeitpunkt getestet. Querschnittstudien können auch eingesetzt werden, um Aussagen zur Auftretenshäufigkeit einer bestimmten Krankheit in einer Population zu einem bestimmten festgelegten Zeitpunkt zu machen – um also die Prävalenz einer Erkrankung festzustellen.
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungsplanung Die Kohortenstudie
ergeben, die miteinander verglichen werden kön-
Der Begriff Kohorte meint im engeren Sinne die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geburtsjahrgang.
nen: Es gibt Menschen mit Risikofaktor, die erkranken und solche, die ohne Risikofaktor gesund
Eine Kohortenstudie untersucht Probanden eines
bleiben. Hinzu kommen diejenigen, die trotz des
einzigen Jahrganges, um Alterseffekte auszuschlie-
Risikofaktors nicht erkranken und schließlich die-
ßen. Der Begriff Kohorteneffekt meint, dass sich
jenigen, die ohne Risikofaktor dennoch erkranken.
die Untersuchungsdaten von Personen gleichen
Hierzu ein Beispiel: Um zu überprüfen, ob Rauchen
Alters unterscheiden, weil diese aus unterschied-
das Lungenkrebsrisiko erhöht, werden Patienten
lichen Generationen stammen. Die Generationen
mit entsprechender Diagnose und eine nicht er-
waren möglicherweise völlig anderen Umweltkonstellationen (z. B. Krieg), wirtschaftlichen Bedingun-
krankte Gruppe danach befragt, ob sie in der Vergangenheit geraucht haben oder nicht.
63
gen und sozialen Rollenvorstellungen ausgesetzt, die zu Unterschieden in den Daten führen. Im weiteren Sinne bezeichnet eine Kohorte eine Gruppe von Individuen, die dasselbe Ereignis zum selben Zeitpunkt erfahren haben. So besteht beispielsweise eine Bildungskohorte aus Studierenden einer Universität, die im selben Jahr ihre Abschlussprüfung bestanden haben.
Merke Da bei einer Fall-Kontroll-Studie eine Randomisierung nicht möglich ist, muss eine Kontrollgruppe geschaffen werden, die der Fallgruppe hinsichtlich wichtiger Variablen wie Alter, Geschlecht und Familienstand ähnlich ist (vgl. Parallelisierung, S. 62).
Bei einer prospektiven Kohortenstudie werden Probanden ab dem Eintreten eines bestimmten Ereig-
Aus einer Fall-Kontroll-Studie lässt sich unter ande-
nisses in einer Längsschnittstudie beobachtet. So
rem das relative und absolute Risiko eines Risiko-
könnte zum Beispiel interessieren, welche Arbeits-
faktors berechnen.
plätze eine bestimmte Bildungskohorte in den
Um das relative Risiko zu berechnen, wird die
nächsten Jahren einnehmen wird. Weitere Fra-
Anzahl der Neuerkrankungen (Inzidenz) von
gestellungen wären, wie sich Arbeitslosigkeit (das gemeinsame „Ereignis“) auf die Gesundheit aus-
Patienten, die dem Risikofaktor ausgesetzt waren mit der Anzahl der Neuerkrankungen
wirkt oder welchen Einfluss Persönlichkeitsmerk-
jener Patienten ins Verhältnis gesetzt, die dem
male auf die Entstehung von Krankheiten haben.
Risikofaktor nicht ausgesetzt waren. Erkranken
Es handelt sich also um Wirkungsforschung, wäh-
beispielsweise 100 von 1000 Rauchern und 10
rend es bei der retrospektiven Kohortenstudie um
von 1000 Nichtrauchern ergibt sich aus dem
eine Ursachenanalyse geht: hier wird vom Zeit-
Quotienten der Erkrankungshäufigkeiten (100
punkt des Ereignisses (z. B. einer Krankheit) aus-
von 1000/10 von 1000) ein Wert von 10, der be-
gehend rückblickend (retrospektiv) nach möglichen Ursachen für dessen Eintreten gesucht.
sagt, dass das Risiko an Lungenkrebs zu erkranken 10-mal höher ist, wenn geraucht wurde. Das absolute Risiko errechnet sich aus der Diffe-
Die Fall-Kontroll-Studie
renz der Erkrankungshäufigkeit der Personen
Die klinische Forschung will unter anderem Risiko-
mit und ohne Risikofaktor und gibt an, wie
faktoren aufdecken, die an der Ausbildung be-
viele der Erkrankten gesund geblieben wären,
stimmter Erkrankungen beteiligt sind. Für die Risi-
wenn der Risikofaktor nicht vorgelegen hätte.
kofaktorenforschung bieten sich so genannte Fall-
Kontroll-Studien an. Bei diesen wird eine Gruppe der Erkrankten (die „Fälle“) mit einer Gruppe der
Die Einzelfallstudie
Gesunden (die „Kontrolle“) dahingehend verglichen,
meinsam, dass die Daten der einzelnen Teilnehmer
ob sie einem Risikofaktor ausgesetzt waren. Man
zugunsten allgemeiner Aussagen über kausale Be-
spricht auch von einem Vergleich der Exponierten
ziehungen in den Hintergrund getreten sind. Für
mit den Nicht-Exponierten. Für beide bestehen je
andere Fragestellungen hingegen ist es sinnvoll,
zwei Möglichkeiten, so dass sich vier Gruppen
den Fokus auf einzelne Personen zu richten, also
Den bisher geschilderten Untersuchungen war ge-
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3 Methodische Grundlagen Die Untersuchungsplanung eine Einzelfallstudie durchzuführen. Dies ist bei-
probe hinreichend groß sein und die Wahrschein-
spielsweise der Fall, wenn individuelle Krankheitsverläufe interessieren, die durch Testdaten oder an-
lichkeit für die Stichprobe ausgewählt zu werden, muss für alle Probanden gleich sein.
amnestisch-biographische Daten untersucht wer-
Eine Schwierigkeit ergibt sich, wenn die zufällig
den. Auch um Informationen darüber zu gewinnen,
ausgewählten Probanden die Teilnahme an der Un-
was während eines Therapieverlaufs genau ge-
tersuchung verweigern. Sie dürfen dann nicht
schieht, kann eine akribische Dokumentation und
willkürlich durch den Untersuchungsleiter ersetzt
Analyse einzelner Klientengeschichten von Vorteil
werden, sondern es muss eine erneute Zufallsaus-
sein.
wahl stattfinden.
Die Evaluationsstudie
Bei einer geschichteten Zufallsstichprobe wird die Population zunächst nach einem Merkmal ge-
Eine Evaluationsstudie ist in Bezug auf die bisher
schichtet, von dem bekannt ist, dass es mit dem
geschilderten Untersuchungen auf einer Metaebene
zu messenden Merkmal zusammenhängt. Es ent-
anzusiedeln: sie dient nicht der Sammlung neuer
stehen Untergruppen, aus denen dann eine Zufalls-
Informationen, sondern der Bewertung bereits vor-
auswahl getroffen wird. So kann beispielsweise das
handener Informationen. Evaluationsstudien sind
Bildungsniveau der Probanden in Hauptschul-,
sozusagen Erfolgskontrollen von Programmen und
Realschul-, Gymnasial- und Hochschulabschluss
Verfahren und liefern die Entscheidungsgrundlage dafür, ob diese in Zukunft eingesetzt werden soll-
geschichtet werden, wenn das zu messende Merkmal das monatliche Einkommen sein soll.
ten oder nicht.
Bei einer Klumpenstichprobe werden nicht ein-
Beispielsweise können psychotherapeutische Maß-
zelne Personen, sondern natürliche Gruppen von
nahmen oder Drogenpräventionsprogramme da-
Probanden (= Klumpen) per Zufall gezogen. Die
nach beurteilt werden, ob und wie stark sie in der
ausgewählten Klumpen werden dann vollständig
gewünschten Richtung wirksam sind (sie sollten
untersucht (z. B. alle Einwohner eines bestimmten
natürlich nutzen und nicht schaden) und inwieweit
Stadtteils).
die entstandenen Kosten (Geld, Anstrengung) durch den Nutzen aufgewogen werden.
Die Quotenstichprobe Bei der Quotenstichprobe (Quotastichprobe, nicht-
3.5.3 Die Stichproben
probabilistische Stichprobe) wird die Repräsentati-
Die Voraussetzung, um mit einer Untersuchung
vität nicht durch den Zufall, sondern durch eine
extern gültige Ergebnisse zu erzielen besteht in
kontrollierte Auswahl von Probanden gewährleis-
der Verwendung einer Stichprobe, die für die
tet. Hierbei werden die prozentualen Anteile (Quo-
Gesamtheit aller Menschen, über die eine Aussage
ten) untersuchungsrelevanter Merkmalskategorien
getroffen werden soll, repräsentativ ist. Mit Repräsentativität ist gemeint, dass die interessierenden
(z. B. Anteil Männer/Frauen oder Altersgruppen) auch in der Stichprobe verwirklicht. Die Zusam-
Merkmale der Stichprobe mit denen der interes-
menstellung der Stichprobe ist aufwendiger als
sierenden Grundgesamtheit übereinstimmen. Es
die Zufallsauswahl, dafür stellt die Verweigerung
gibt mehrere Möglichkeiten Stichproben zu ge-
der Probanden kein Problem mehr dar, da die Aus-
winnen.
wahl innerhalb dieser Quoten dem Untersuchungsleiter überlassen bleibt.
Die Zufallsstichproben Bei einer Zufallsstichprobe (probabilistische Stichprobe) wird davon ausgegangen, dass die zufällig
3.5.4 Klinische Bezüge Diabetes mellitus Typ II
ausgewählten Probanden aus der Gesamtpopula-
Eine Fall-Kontroll-Studie dient der Überprüfung der
tion eine Gruppe bilden, in der Merkmale, die für
Frage, ob starke emotionale Belastungen einen Risi-
die Untersuchung relevant sein könnten (Ge-
kofaktor für die Entstehung eines Diabetes mellitus
schlecht, Alter, Bildungsniveau), ebenfalls normal-
Typ II darstellen. Um dies zu überprüfen, werden
verteilt sind. Damit dies gelingt, muss die Stich-
Patienten, bei denen man Diabetes mellitus Typ II
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3 Methodische Grundlagen Die Methoden der Datengewinnung festgestellt hat, nach kritischen Lebensereignissen
3.6.1 Der Überblick
in den vergangenen Jahren befragt. (Die Häufigkeit kritischer Lebensereignisse ist die Operationalisie-
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Daten von Personen erhoben werden können. Beispiele sind:
rung für emotionale Belastungen.) Die Ergebnisse
Verhaltensbeobachtungen
werden mit denen einer gleich großen Stichprobe
Interviews
von gesunden Probanden verglichen, die der Patien-
psychologische Tests, wie Leistungstest oder
tengruppe hinsichtlich wichtiger Merkmale ent-
Persönlichkeitstest
spricht. Der Vergleich der „Fälle“ (Diabetes-Erkrank-
65
Erfassung psychophysiologischer Prozesse.
te) mit der „Kontrolle“ hinsichtlich des Auftretens
Prinzipiell können alle Erhebungsmethoden nach
kritischer Lebensereignisse macht die Berechnung eines relativen und absoluten Risikos möglich.
dem Grad ihrer Standardisierung unterschieden werden. Die standardisierte Datengewinnung ist
Fall-Kontroll-Studien haben einen hohen prakti-
die methodisch „saubere“ Art und hat den Vorteil,
schen Nutzen: Die Identifikation von Risikofak-
dass Ergebnisse von verschiedenen Testpersonen
toren bildet beispielsweise die Grundlage zur Ini-
miteinander verglichen werden können. Diese Art
tiierung präventiver Maßnahmen. Die Aufklärung
der Datengewinnung genügt also strengen wissen-
der Bevölkerung z. B. hinsichtlich der Gesundheits-
schaftlichen Kriterien, sie hat jedoch den Nachteil,
gefährdung durch Rauchen oder Übergewicht trägt
dass sie im Vergleich zur unstandardisierten Daten-
dazu bei, die Entstehung von Erkrankungen zu verhindern, die Genesung zu beschleunigen oder den
erhebung künstlicher ist (das Leben ist schließlich nicht standardisiert).
Krankheitsverlauf abzumildern.
Check-up 4 4
4
Wiederholen Sie, welche Arten von Untersuchungen Sie kennengelernt haben. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal den Ablauf einer Untersuchungsplanung, indem Sie eine Hypothese erfinden und sich überlegen, mit welcher Untersuchungsart Sie diese am besten überprüfen können. Machen Sie sich dabei auch klar, warum sich einige Untersuchungsarten eignen und andere nicht. Rekapitulieren Sie, welche Fehler Ihnen bei einem Experiment unterlaufen könnten. Fragen Sie sich, welche Konsequenzen diese Fehler haben und geben Sie an, wie Sie sie vermeiden können.
3.6 Die Methoden der Datengewinnung
3.6.2 Einige Datenarten Die Individual- und Aggregatdaten Als Individualdaten bezeichnet man Daten, die an einzelnen Individuen erhoben werden, wie deren Alter, Körpergewicht oder Antworten in einem Fragebogen. Sie sind für Einzelfallstudien relevant. In den meisten Fällen werden die Daten Einzelner jedoch zusammengefasst (aggregiert), man spricht von Aggregatdaten. Zu diesen zählen beispielsweise Mittelwerte (z. B. die mittlere Konzentrationsleistung der Experimentalgruppe, das durchschnittliche Körpergewicht einer Patientenstichprobe mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen) und Standardabweichungen. Aggregatdaten erlauben keine Aussagen mehr über einzelne Versuchsteilnehmer.
Die Primär- und Sekundärdaten Eine weitere Einteilung ist die in Primärdaten und Sekundärdaten. Primärdaten werden vom Untersucher selbst erhoben, indem er beispielsweise das Körpergewicht misst oder Daten in einem Ex-
Lerncoach Im folgenden Abschnitt lernen Sie verschiedene Methoden kennen, mit denen Daten von Personen erhoben werden können. Sie können sich das Lernen erleichtern, indem Sie sich zu jeder Methode ein Beispiel merken.
periment gewinnt. Sekundärdaten hingegen stammen aus zweiter Hand, sie sind also bereits erhoben und registriert. Beispiele sind Daten aus Krankenakten oder aus bereits durchgeführten Experimenten.
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3 Methodische Grundlagen Die Methoden der Datengewinnung Beachte Primär- und Sekundärdaten können sowohl Individual- als auch Aggregatdaten sein und umgekehrt.
henden verschlossen bleiben. Ein Problem besteht darin, dass der Beobachter durch seine Aktivitäten das Geschehen selbst mitgestaltet, sodass Aussagen über die „natürlichen“ Situationen schwierig sind. Zudem kann der Beobachter häufig nicht zeitgleich
3.6.3 Einige Methoden der Datengewinnung
teilnehmen und protokollieren. Bei nachträglich er-
Die oben geschilderten Untersuchungsarten legen
stellten Beobachtungsprotokollen ist mit Erinne-
den Rahmen für die Datenerhebung fest, in dem
rungsfehlern zu rechnen.
unterschiedliche Methoden der Datengewinnung
Eine nicht-teilnehmende Beobachtung stellt gerin-
zum Einsatz kommen können. In dem Beispiel des Experiments mit Medikament X
gere Anforderungen an den Beobachter: seine Aufgabe besteht allein im Beobachten und Protokollie-
(s. S. 47) wurden Daten durch Einsatz eines Kon-
ren. Natürlich kann Verhalten auch durch eine
zentrationstests gewonnen. Genauso gut könnte
Videoaufzeichnung objektiv erfasst werden und
man die Probanden aber auch dabei beobachten,
die interessierenden Verhaltenskriterien im Nach-
wie sie eine motorische Aufgabe bearbeiten, die
hinein protokolliert werden (Videoanalyse).
Konzentration erfordert, oder sie direkt fragen, wie gut sie sich konzentrieren können. Im Folgen-
Die offene und die verdeckte Beobachtung
den werden einige Methoden der Datengewinnung vorgestellt.
Soll verhindert werden, dass sich die zu messenden Variablen verändern, weil die Probanden um die Beobachtung wissen, kann der Beobachter seine
Die Verhaltensbeobachtung
Rolle verbergen. Es handelt sich dann um eine ver-
Eine Möglichkeit, Informationen über Personen zu
deckte Beobachtung. Andernfalls spricht man von einer offenen Beobachtung.
gewinnen, ist die Beobachtung verbaler und nonverbaler Verhaltensweisen, aus denen Rückschlüsse auf intrapsychische Vorgänge gezogen werden können.
Die systematische Beobachtung
Merke Eine verdeckte Beobachtung schließt den Hawthorne-Effekt aus (s. S. 62).
Die systematische Beobachtung hebt sich von der
unsystematischen Beobachtung dadurch ab, dass
Die Kombination der Beobachtungsformen
sie weitestgehend unabhängig von den Einstellun-
Die geschilderten Beobachtungsformen können auf
gen oder Interpretationen des Beobachters sind.
vielfache Weise miteinander kombiniert werden.
Die Systematisierung besteht darin, dass Kriterien
Hierzu zwei Beispiele: Ein Polizist, der als verdeck-
festgelegt sind, was genau zu beobachten ist,
ter Ermittler im Drogenmilieu arbeitet, beteiligt
wann und wo die Beobachtung stattfindet und wie das Beobachtete registriert wird (z. B. Pro-
sich zum Schein an den kriminellen Aktivitäten und beobachtet verbale und non-verbale Verhal-
tokollbogen).
tensweisen. Bei der Datensammlung wird er unsystematisch vorgehen. Seine Beobachtung ist also un-
Merke Eine Systematisierung der Beobachtung erhöht die Objektivität.
systematisch, verdeckt und teilnehmend. Ein Psychologe, der hinter einer Einwegscheibe das Spielverhalten eines Kindes nach bestimmten Kriterien auf einem Protokollbogen registriert, nimmt eine
Die teilnehmende und die nicht-teilnehmende Beobachtung
systematische, verdeckte und nicht-teilnehmende Beobachtung vor.
Eine andere Einteilung von Verhaltensbeobachtungen fokussiert auf die Rolle des Beobachters. Eine
Das Interview
teilnehmende Beobachtung meint die Integration des Beobachters in das zu beobachtende Geschehen. Ziel ist es, Einblicke zu erhalten, die Außenste-
Häufig ist es einfacher, Menschen direkt zu befragen, anstatt sie zu beobachten. Eine mündliche Form der Befragung ist das Interview. Es dient
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3 Methodische Grundlagen Die Methoden der Datengewinnung dazu, zielgerichtet Informationen über Gefühle,
Die Datensammlung mittels Interview dient der
Verhalten und Einstellungen zu gewinnen oder Symptome eines Krankheitsbildes zu erfragen.
Quantifizierung des Konstrukts (z. B. die Ausprägung eines Merkmals wie Angst). Bei einer solchen
Das standardisierte und das unstandardisierte Interview
zen, bei dem die gewonnenen Informationen in
Interviews können nach dem Ausmaß ihrer Stan-
weder bereits Antwortmöglichkeiten vorgegeben,
dardisierung in verschiedene Interviewformen un-
die von den Befragten gewählt werden können,
terteilt werden: Bei einem (voll-) standardisierten
oder die Antworten der Probanden werden im
Interview (strukturiertes Interview) sind die Inhalte der Fragen, deren genauer Wortlaut und die Reihenfolge der Fragen festgelegt. Dies hat den Vorteil, dass die Antworten unterschiedlicher Befragter miteinander verglichen werden können. Es birgt jedoch die Gefahr, dass für den Einzelnen wichtige Themen durch die Fragen nicht abgedeckt werden. Ein standardisiertes Interview ist direktiv, da die Befragung stark vom Interviewer gelenkt wird. Ein unstandardisiertes Interview (unstrukturiertes Interview) gibt lediglich das Gesprächsthema vor und überlässt den weiteren Gesprächsverlauf dem Befragten. Dies erschwert – dem standardisierten Interview genau entgegengesetzt – die Vergleichbarkeit der erhobenen Daten, ermöglicht es dem Befragten aber, flexibel verschiedene inhaltliche Bereiche anzusprechen. Man spricht hier von einem non-direktiven Vorgehen. Einen Kompromiss zwischen beiden Formen stellt das teil-standardisierte Interview (semi-strukturiertes Interview) dar, bei dem zwar die abzufragenden Themengebiete vorgegeben sind, die Art und Anzahl der Fragen vom Interviewer jedoch gemäß der Gesprächssituation ausgewählt werden können. Ein Beispiel für ein semi-strukturiertes klinisches Interview ist das „Strukturierte Klinische Interview, SKID“. Mit ihm werden Informationen über ausgewählte Symptome und Syndrome gewonnen, anhand derer eine Einordnung in ein Klassifikationssystem psychischer Störungen (DSM-IV, s. S. 237) vorgenommen werden kann.
Nachhinein in ein vorher festgelegtes Kategoriensystem eingeordnet und dann zu numerischen
67
Intention ist ein quantitatives Interview einzusetZahlen übersetzt werden können. Hierzu sind ent-
Kennwerten
verrechnet.
Antworten,
die nicht
durch das Kategoriensystem abgedeckt werden, gehen als Information verloren. Der Interviewer nimmt bei einem quantitativen Interview die Rolle einer neutralen Person ein, die Fragen transportiert, Antworten registriert und die Antworten der Befragten nicht beeinflussen darf (vgl. Objektivität, S. 56). Die zweite Intention eines Interviews ist, nicht Zahlen, sondern qualitative Informationen zu einem neuen unbekannten Thema zu gewinnen. Folglich sind auch gezielte Fragestellungen nicht möglich, sodass ein qualitatives Interview unstandardisiert sein muss. Häufig schließt sich ein zweiter Schritt an, in dem die gewonnenen Informationen zu einem Kategoriensystem aus wichtigen Aspekten des Gegenstandsbereichs verdichtet werden und so die Gewinnung quantitativer Daten ermöglicht wird. Der Begriff des qualitativen Interviews wird im klinisch-therapeutischen Bereich auch anders verwendet: Er bezeichnet eine Gesprächsform, bei der die Qualität der Interaktion zwischen Interviewer und Befragtem betont wird. Der Interviewer soll hier nicht neutral, sondern engagiert und emotional beteiligt sein. Seine Eindrücke, zum Beispiel seine Gefühle und Reaktionen auf den Befragten, werden als Informationen mit berücksichtigt.
Die Arten von Fragen Das quantitative und das qualitative Interview Hinter einem Interview können zwei Intentionen
Ob quantitative oder qualitative Daten gewonnen werden, hängt von der Art der Fragestellung ab.
stehen: Zum einen will man Informationen über
Bei geschlossenen Fragen sind die Antwortmög-
ein bestimmtes Phänomen gewinnen, zu dem
lichkeiten für den Befragten begrenzt. So geben
schon einiges bekannt ist. Das Phänomen ist zum
dichotome Fragen zwei Antwortmöglichkeiten vor
Beispiel bereits als hypothetisches Konstrukt –
(„Haben Ihre Schmerzen nachgelassen oder sind
z. B. Angst – formuliert.
sie genauso stark wie am Vortag?“). Bei Katalog-
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3 Methodische Grundlagen Die Methoden der Datengewinnung fragen werden mehr als zwei Antwortmöglichkei-
kommen Schul-, Eignungs- und Konzentrations-
ten vorgegeben, von denen die zutreffendste auszuwählen ist („Sind Ihre Schmerzen pochend, ste-
tests. Leistungstests lassen sich in Speed- und Powertests untergliedern. Bei Speedtests wird bei gleichbleibender Aufgabenschwierigkeit die Bearbeitungszeit begrenzt (z. B. d2, s. u.), bei Powertests wird die Schwierigkeit der Aufgaben bei unbegrenzter Bearbeitungszeit gesteigert (bei vielen Intelligenztests, z. B. HAWIE). Zu den häufig eingesetzten Intelligenztests gehören der HAWIE-R (Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene) und der IST 2000 (IntelligenzStruktur-Test 2000) (s. S. 110). Zu den Konzentrationstests zählt der d2 (Brickenkamp, 1981). Er besteht aus 14 Zeilen zu je 47 d und p mit keinem, einem oder mit zwei Apostrophen über und/oder unter den Buchstaben. Aus der Zeichenkette sind die d mit zwei Apostrophen herauszustreichen.
chend oder brennend?“). Geschlossene Fragen können in standardisierten und unstandardisierten und in quantitativen Interviews vorkommen, nicht jedoch in qualitativen Interviews. Bei offenen Fragen ist die Art der Antwort dem Befragten völlig freigestellt („Wie geht es Ihnen?“). Sie können in jeder der oben angeführten Interviewformen vorkommen.
Beachte Ein Interview kann offene und geschlossene Fragen enthalten. Hierzu ein Beispiel: Ein Erstgespräch mit einem Patienten kann mit offenen Fragen eröffnet werden („Was führt Sie zu mir?“), die später von geschlossenen Fragen – z. B. nach konkreten Symptomen –
Die Persönlichkeitstests
abgelöst werden.
Persönlichkeitstests messen überdauernde Merkmale von Personen. Die Items sind nicht objektiv als richtig oder falsch zu bewerten, sondern entsprechen eher einer hohen oder eher einer niedrigen Merkmalsausprägung. Nachfolgend sind einige Beispiele aufgeführt: FPI-R, Freiburger-Persönlichkeits-Inventar, revidierte Form (Fahrenberg, 1989): 138 Fragestellungen, die mit „stimmt“ oder „stimmt nicht“ beantwortet werden können, bilden 10 Standardskalen und zwei Zusatzskalen. Ein Beispiel für die Skala „Leistungsorientierung“ lautet: „Ich habe gern mit Aufgaben zu tun, die schnelles Handeln verlangen.“ Ein Beispiel für „Aggressivität“: „Wenn ich Zuflucht zu körperlicher Gewalt nehmen muss, um meine Rechte zu verteidigen, so tue ich es.“ Der Test dauert 10–30 Minuten und ist an 16- bis 60-Jährigen durchzuführen. 16 PF, 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test (Schneewind, 1986): Der 16 PF misst 16 Persönlichkeitsfaktoren mit je 12 Items. Die Beantwortung der Items geschieht durch die Auswahl von drei Alternativen. Ein Beispiel zu „Sachorientierung vs. Kontaktorientierung“: „Ich wäre lieber... – 1.... in einem Verkaufsbüro beschäftigt, wo ich organisieren und Leute treffen kann/2.... unsicher bezüglich der Antwort/3.... ein Wissenschaftler in der Forschung“. Die Testbearbeitung beträgt 30–45 Minuten, Normen
Suggestivfragen lenken die Antwort der Befragten in eine Richtung und verfälschen so die Aussage („Nach dieser Diagnose wollen Sie doch jetzt sicherlich aufhören zu rauchen, oder?“). Sie sind demnach Fehlerquellen, die vermieden werden sollten, in einigen Bereichen werden sie jedoch auch gezielt eingesetzt. Bei der Identifikation von Tatverdächtigen beispielsweise sollen sie Reaktionen provozieren, die den Täter entlarven. Diese Methode gilt in der Psychologie als äußerst umstritten. Offene und geschlossene Fragen und Suggestivfragen können mündlich im Interview oder schriftlich in Fragebogen gestellt werden.
Die psychologischen Testverfahren Eine weitere Möglichkeit der Datengewinnung ist der Einsatz psychologischer Tests. Im Kapitel der Untersuchungskriterien wurde schon angesprochen, wie sie konstruiert und normiert werden und an welchen Gütekriterien sie gemessen werden. An dieser Stelle folgt eine inhaltliche Einteilung in Leistungs- und Persönlichkeitstests und einige Beispiele.
Die Leistungstests Leistungstests beinhalten Aufgaben, die objektiv als richtig oder falsch beurteilt werden können. Die bekanntesten Beispiele sind Intelligenztests, hinzu
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3 Methodische Grundlagen Die Methoden der Datengewinnung liegen für vier Altersgruppen (18–50 Jahre und
das Testergebnis durch die Tendenz sozial er-
darüber) vor (vgl. Persönlichkeitsmodell von Cattell, s. S. 138).
wünscht zu antworten so sehr verfälscht wurde, dass mit ihm keine Aussagen mehr getroffen
MMPI, Minnesota-Multiphasic-Personality-Inventory (dt. Ausgabe von Spreen, 1963): Mit 556 Items werden psychopathologische Symptome erfasst. Skalen gibt es beispielsweise für Hypochondrie, Depression, Schizophrenie und Paranoia. Ein Beispiel zur Schizophrenie: „Mit meinem Verstand stimmt etwas nicht.“ Der Test kann in 30–40 Minuten durchgeführt werden und eignet sich für 14- bis 55-jährige Personen. NEO-FFI, Neo-Fünf-Faktoren-Inventar (Borkenau u. Ostendorf, 1993): Die fünf Persönlichkeitsmerkmale („Big Five“) Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit werden mit je 12 Items erfasst. Die Items können auf einer 5-stufigen Skala von starker Ablehnung bis starker Zustimmung beantwortet werden. Ein Beispiel für Neurotizismus: „Ich fühle mich häufig angespannt und nervös.“ Für Extraversion: „Ich habe ganz viele Leute um mich herum.“ Der Test ist in 10 Minuten zu bearbeiten. (vgl. S. 138).
werden können.
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Die projektiven Tests Projektive Tests messen ebenfalls Persönlichkeitsmerkmale, gehen aber von einer grundsätzlich anderen Idee der Messung aus. Bisher beruhte die Messung auf einer Selbstbeurteilung der Probanden, die voraussetzt, dass die Probanden bewusst auf ihre Gefühle und Beweggründe zugreifen können und gewillt sind, diese mitzuteilen. Die Psychoanalyse geht jedoch davon aus, dass nicht alle Wünsche und Motive ins Bewusstsein gelangen, sondern durch Abwehrmechanismen des psychischen Apparates im Unbewussten gehalten werden. Die projektiven Tests machen sich nun den Abwehrmechanismus der Projektion zunutze. Man nimmt an, dass die „wahren“ Wünsche und Motive in das Testmaterial hineininterpretiert und so messbar werden. Die beiden bekanntesten Beispiele sind das Formdeuteverfahren von Rorschach, bei dem die Assoziationen der Probanden zu Tintenklecksbildern gedeutet werden, und der Thema-
Mögliche Fehlerquellen von Persönlichkeitstests Die Messung von Persönlichkeitsmerkmalen durch
tische Auffassungs-Test (TAT, Thematischer Apperzeptionstest) von Murray aus dem Jahre 1938. Beim
eine direkte Befragung der Probanden birgt eine
TAT werden Geschichten, die Probanden zu Bildern
Reihe von Fehlerquellen. So neigen Probanden
schreiben,
dazu, sozial erwünscht zu antworten sowie zu per-
Beispiel nach Bedürfnissen oder Gefühlen.
sonenspezifischen Anwortmustern, wie die Ten-
Eine häufige Kritik an projektiven Tests betrifft die
denz generell eher zuzustimmen (Ja-Sage-Tendenz)
im Vergleich zu Fragebogen schwerer zu gewähr-
oder abzulehnen (Nein-Sage-Tendenz), und bei ska-
leistende Auswertungsobjektivität. Bei der Inhalts-
lierten Antwortmöglichkeiten eher eine mittlere als eine extreme Kategorie anzukreuzen (Tendenz zur
analyse ist eine strenge Anwendung klar definierter Kategoriensysteme von geschulten Auswertern
inhaltsanalytisch
ausgewertet,
zum
Mitte). Ist die Messintention bekannt, besteht
nötig, während die Auswertungsobjektivität bei
zudem die Möglichkeit einer absichtlichen Verfäl-
Fragebögen durch das Auflegen von Schablonen
schung: Probanden können simulieren, also ein
und Auszählen von Antworten leichter sicher-
Merkmal vortäuschen, das sie gar nicht haben
zustellen ist.
(z. B. Schwindel bei einem Antrag auf Frührente), oder sie können dissimulieren, das heißt ein Merkmal leugnen, das sie in Wirklichkeit aufweisen (z. B. Schwindel bei einer Bewerbung als Pilot).
Merke Die geschilderten Persönlichkeits- und Intelligenztests messen hypothetische Konstrukte
Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, diese Fehler zumindest im Nachhinein zu erkennen. Ein Beispiel
Die Erfassung psychophysiologischer Prozesse
ist der Einsatz einer „Lügenskala“ im FPI: Antwortet
Vor allem in der Biopsychologie (s. S. 18) werden
ein Proband zu häufig sozial erwünscht auf Items
physiologische Messwerte erhoben. Aber auch an-
wie „Ich lüge nie“, wird davon ausgegangen, dass
dere Gebiete wie die allgemeine und klinische Psy-
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation chologie interessieren sich für physiologische und biochemische Prozesse, zum Beispiel im Zusammenhang mit Konstrukten wie Stress oder Emotionen (Tab. 3.3).
3.6.4 Klinische Bezüge Datengewinnung Ein Arzt setzt in seinem klinischen Alltag unterschiedliche Methoden der Datengewinnung ein. Üblicherweise hat er mit Daten einzelner Patienten
Tabelle 3.3 Einige Messverfahren zur Erfassung physiologischer Messwerte und deren psychologische Korrelate Messverfahren
psychologische Korrelate
Indikatoren des peripheren Nervensystems kardiovaskuläre Aktivität (Herzfrequenz, Blutdruck)
Elektrokardiogramm (EKG), Manschettendruckverfahren
Stress, Aufmerksamkeit, Aktivierung, Orientierung
(Individualdaten) zu tun, die er entweder selbst erhebt (Primärdaten) oder aber aus der Dokumentation anderer Ärzte entnimmt (Sekundärdaten). Im Anamnesegespräch
gewinnt
er
Informationen
durch eine Befragung (Interview) und die Beobachtung des Patienten kann beispielsweise Informationen über dessen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit durch Schmerzen geben (Verhaltensbe-
Messung durch zwei Habituation, elektrodermale Emotionen Elektroden an der Aktivität (EDA, Hautleitfähigkeit) Handinnenfläche
obachtung). Der Einsatz weiterer „Messinstrumen-
muskuläre Aktivität
falls.
Elektromyogramm (EMG)
Emotionen
te“ wie Blutuntersuchungen, EEG oder bildgebende Verfahren erweitern den Informationspool eben-
Indikatoren des zentralen Nervensystems elektrophysiologische Hirnaktivität
Elektroenzephalogramm (EEG) bildgebende Verfahren (z. B. PET)
Aktivierung, Schlaf
Check-up 4 4
Indikatoren endokriner Systeme und des Immunsystems Aktivität endokriner Systeme
Aktivität des Immunsystems
Bestimmung der Hormonkonzentration in Blut, Urin, Speichel (z. B. Radioimmunoassay)
Stress (z. B. Anstieg des Kortisolspiegels)
Bestimmung der Konzentration immunaktiver Zellen im Blut
Stress, Immunsystem und Lernen (s. S. 20)
Die Selbst- und die Fremdbeurteilung Bei einer Selbstbeurteilung bewerten die Proban-
4
Rekapitulieren Sie, welche Methoden zur Datengewinnung Sie kennengelernt haben. Überzeugen Sie in Gedanken einen kritischen Laien davon, dass man „Persönlichkeit“ messen kann. Beziehen Sie dabei auch die Idee des hypothetischen Konstrukts und der Operationalisierung mit ein. Vergegenwärtigen Sie sich die Vor- und Nachteile eines Persönlichkeitsfragebogens und eines projektiven Tests. Beachten Sie hier besonders die Testgütekriterien. In welches Verfahren haben Sie mehr Vertrauen?
3.7 Die Datenauswertung und die Dateninterpretation
den das zu messende Merkmal selbst. Beispiele für Selbstbeurteilungen sind die oben erwähnten
Lerncoach
Persönlichkeitstests, die ja aus Beurteilungsskalen
Vielen Studierenden fällt der Umgang mit mathematischen Formeln schwer. Im Folgenden werden die Berechnungsformeln für den Mittelwert und die Standardabweichung angegeben. Erleichtern Sie sich das Verständnis, indem Sie versuchen die einfachen Beispiele nachzuvollziehen.
(s. o.) bestehen. Eine Fremdbeurteilung meint die Bewertung durch andere Personen, zum Beispiel durch Verwandte oder Ärzte. Hierzu gehört auch das Expertenurteil, bei dem ein Merkmal von Sachkundigen (z. B. Ärzten, Psychologen) aufgrund von Beobachtungen eingeschätzt wird. Im Abschnitt über Persönlichkeitstests wurde bereits erläutert, welche Fehler auftreten können, wenn Probanden Angaben zu sich selbst machen.
Aus J. Schüler u. F. Dietz: Kurzlehrbuch Med. Psychologie (ISBN 3-13-136421-1) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
70
3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation chologie interessieren sich für physiologische und biochemische Prozesse, zum Beispiel im Zusammenhang mit Konstrukten wie Stress oder Emotionen (Tab. 3.3).
3.6.4 Klinische Bezüge Datengewinnung Ein Arzt setzt in seinem klinischen Alltag unterschiedliche Methoden der Datengewinnung ein. Üblicherweise hat er mit Daten einzelner Patienten
Tabelle 3.3 Einige Messverfahren zur Erfassung physiologischer Messwerte und deren psychologische Korrelate Messverfahren
psychologische Korrelate
Indikatoren des peripheren Nervensystems kardiovaskuläre Aktivität (Herzfrequenz, Blutdruck)
Elektrokardiogramm (EKG), Manschettendruckverfahren
Stress, Aufmerksamkeit, Aktivierung, Orientierung
(Individualdaten) zu tun, die er entweder selbst erhebt (Primärdaten) oder aber aus der Dokumentation anderer Ärzte entnimmt (Sekundärdaten). Im Anamnesegespräch
gewinnt
er
Informationen
durch eine Befragung (Interview) und die Beobachtung des Patienten kann beispielsweise Informationen über dessen Einschränkung der Bewegungsfähigkeit durch Schmerzen geben (Verhaltensbe-
Messung durch zwei Habituation, elektrodermale Emotionen Elektroden an der Aktivität (EDA, Hautleitfähigkeit) Handinnenfläche
obachtung). Der Einsatz weiterer „Messinstrumen-
muskuläre Aktivität
falls.
Elektromyogramm (EMG)
Emotionen
te“ wie Blutuntersuchungen, EEG oder bildgebende Verfahren erweitern den Informationspool eben-
Indikatoren des zentralen Nervensystems elektrophysiologische Hirnaktivität
Elektroenzephalogramm (EEG) bildgebende Verfahren (z. B. PET)
Aktivierung, Schlaf
Check-up 4 4
Indikatoren endokriner Systeme und des Immunsystems Aktivität endokriner Systeme
Aktivität des Immunsystems
Bestimmung der Hormonkonzentration in Blut, Urin, Speichel (z. B. Radioimmunoassay)
Stress (z. B. Anstieg des Kortisolspiegels)
Bestimmung der Konzentration immunaktiver Zellen im Blut
Stress, Immunsystem und Lernen (s. S. 20)
Die Selbst- und die Fremdbeurteilung Bei einer Selbstbeurteilung bewerten die Proban-
4
Rekapitulieren Sie, welche Methoden zur Datengewinnung Sie kennengelernt haben. Überzeugen Sie in Gedanken einen kritischen Laien davon, dass man „Persönlichkeit“ messen kann. Beziehen Sie dabei auch die Idee des hypothetischen Konstrukts und der Operationalisierung mit ein. Vergegenwärtigen Sie sich die Vor- und Nachteile eines Persönlichkeitsfragebogens und eines projektiven Tests. Beachten Sie hier besonders die Testgütekriterien. In welches Verfahren haben Sie mehr Vertrauen?
3.7 Die Datenauswertung und die Dateninterpretation
den das zu messende Merkmal selbst. Beispiele für Selbstbeurteilungen sind die oben erwähnten
Lerncoach
Persönlichkeitstests, die ja aus Beurteilungsskalen
Vielen Studierenden fällt der Umgang mit mathematischen Formeln schwer. Im Folgenden werden die Berechnungsformeln für den Mittelwert und die Standardabweichung angegeben. Erleichtern Sie sich das Verständnis, indem Sie versuchen die einfachen Beispiele nachzuvollziehen.
(s. o.) bestehen. Eine Fremdbeurteilung meint die Bewertung durch andere Personen, zum Beispiel durch Verwandte oder Ärzte. Hierzu gehört auch das Expertenurteil, bei dem ein Merkmal von Sachkundigen (z. B. Ärzten, Psychologen) aufgrund von Beobachtungen eingeschätzt wird. Im Abschnitt über Persönlichkeitstests wurde bereits erläutert, welche Fehler auftreten können, wenn Probanden Angaben zu sich selbst machen.
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation 3.7.1 Der Überblick
kann beispielsweise in Häufigkeitstabellen oder
Vor der Auswertung von Daten müssen zunächst zwei grundsätzliche Fragen beantwortet werden:
graphisch geschehen, für intervallskalierte Daten können der Mittelwert und die Standardabwei-
Handelt es sich um quantitative oder qualitative
chung berechnet werden.
Daten? Qualitative Daten sind nicht-numerisch und werden z. B. durch qualitative Interviews gewonnen. Quantitative Daten liegen in Zahlen vor und können z. B. aus Skalen oder Kategoriesystemen gewonnen werden. Falls es sich um quantitative Daten handelt, lautet die zweite Frage: Sollen sie beschrieben werden (deskriptive Statistik) oder soll eine Schlussfolgerung aus ihnen gezogen werden (Interferenzstatistik)? Bei der deskriptiven Statistik werden die Daten geordnet und statistische Kennwerte, wie Häufigkeitsverteilung, Mittelwert und Standardabweichungen angegeben. Eine Methode der Beschreibung von Zusammenhängen von Variablen ist die Korrelationsanalyse. Sie wird detailliert dargestellt. Bei der Interferenzstatistik wird von den Untersuchungsergebnissen in der Stichprobe auf die Grundgesamtheit geschlossen (Interferenzschluss).
3.7.2 Die quantitativen Auswertungsverfahren
Die Häufigkeitsverteilung Eine Häufigkeitsverteilung gibt an, wie häufig eine Klasse von Variablen in dem erhobenen Datensatz vorkommt. Nominalskalierte Daten werden üblicherweise in Tabellen, in Kreis- oder in Säulendiagrammen dargestellt, ordinal-, intervall- und verhältnisskalierte Daten in Histogrammen oder Stufendiagrammen. In unserem Beispiel wurde die Konzentrationsleistung anhand eines Konzentrationstests erhoben. Tab. 3.4 zeigt fiktive Testwerte von je fünf Proban-
den der Experimental (EG)- und Kontrollgruppe (KG). Die Daten sind zu Kategorien zusammengefasst, die die Grundlage für Histogramme bilden können. Tabelle 3.4 Ein fiktives Beispiel für die Konzentrationsleistung der untersuchten Stichprobe Kontrollgruppe (KG)
Experimentalgruppe (EG)
Testwerte
Liegen die erhobenen Daten in Zahlen vor, sind
Kategorie Anzahl der Fälle pro Kategorie
Anzahl der Testwerte Fälle pro Kategorie
quantitative Auswertungsverfahren anzuwenden.
54–64
0
–
1
63
65–74
0
–
2
69, 70
75–84
1
76
1
82
85–94
3
85, 86, 94
1
92
95–105
0
–
0
–
105–114
1
114
0
–
quantitative Daten stammen können, wurde an einigen Beispielen bereits erwähnt: Es können Daten aus Skalen zur Messung von Symptomen oder Schmerzintensitäten sein, sie können aus Kategoriensystemen stammen oder in Form von Punktwerten in Persönlichkeits- oder Leistungstests vorliegen. Woher
71
Merke Die Analyse quantitativer Daten besteht aus zwei Schritten: Die Daten werden zunächst beschrieben (deskriptive Statistik) und dann auf ihre statistische Bedeutsamkeit überprüft (Interferenzstatistik).
Der Mittelwert und die Standardabweichung
Die deskriptive Statistik
und
Deskriptive Statistik meint die geordnete Darstellung von Daten und deren Zusammenfassung zu statistischen Kennwerten wie Messwerten der zentralen Tendenz und der Streuung. Die Darstellung
mehrfach verwendet, darum soll hier eine kurze
Die Testwerte einzelner Probanden (Individualdaten, s. o.) sind für die Überprüfung der Fragestellung nicht von Interesse. Stattdessen interessieren Aggregatdaten wie die mittlere Konzentrationsleistung der Experimental- und Kontrollgruppe und die Streuung der Daten. Die Begriffe des Mittelwerts der
Standardabweichung
wurden
bereits
Beschreibung genügen. Der Mittelwert (arithmetisches Mittel) wird gebildet, indem die Messwerte der Probanden addiert
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation Tabelle 3.5 Die Berechnung des Mittelwertes (M) und der Standardabweichung (SD) (s. Tab. 3.4) M
SD
q P SD = ( (Xi–M)2 /N) q KG (76S85S86S94S114)/5 = 91,0 ((76–91)2 + (85–91)2 + (86–91)2 + (94–91)2 + (114–91)2 )/5) = 14; 35 q EG (63S69S70S82S92)/5 = 75,2 ((63–75; 2)2 + (69–75; 2)2 + (70–75; 2)2 + (82–75; 2)2 + (92–75; 2)2 )/5) = 11; 65 P Xi steht für die individuellen Testwerte, M für Mittelwert, N für die Anzahl der Versuchspersonen, ist das mathematische Symbol für Summe. M=(
P
Xi)/N
und durch die Anzahl der Probanden geteilt wird.
rimentalgruppe von der Kontrollgruppe in vorher-
Weitere statistische Maßzahlen, um eine zentrale
gesagter Richtung unterscheidet.
Tendenz auszudrücken, sind der Modus und der Median, die bei den Skalenniveaus bereits eingeführt wurden. Einzelne Testwerte können dem Mittelwert entsprechen oder mehr oder weniger von ihm abweichen – die Daten streuen. Das Ausmaß der Streuung wird durch Variabilitätsmaße angegeben, in deren Berechnung diese Abweichungen eingehen. Übliche Variabilitätsmaße sind die Varianz und die Standardabweichung (Wurzel aus der Varianz). Tab. 3.5 zeigt anhand der Beispieldaten aus Tab. 3.4 die Berechnungsformeln für den Mittelwert und die Standardabweichung. Die Mittelwerte zeigen, dass die durchschnittliche Konzentrationsleistung der Experimentalgruppe geringer ist als die der Kontrollgruppe. Diese Beschreibung spricht schon mal für die Hypothese, es müssen jedoch statistische Tests folgen, um zu belegen, dass dieser Unterschied bedeutsam ist. Dies geschieht mithilfe der Interferenzstatistik.
Die anstehende Frage, die mit der Interferenzstatistik beantwortet werden kann, ist, ob der Unterschied in der untersuchten Stichprobe nur zufällig zustande gekommen ist – in der Grundpopulation also tatsächlich gar keine Unterschiede bestehen – oder ob er statistisch bedeutsam ist, also auch in der Grundpopulation besteht. Die statistische Bedeutsamkeit bezeichnet man als statistische Signifikanz.
Merke Mit der Interferenzstatistik wird die Fehlerwahrscheinlichkeit bestimmt, die besteht, wenn von den Ergebnissen einer Untersuchungsstichprobe auf die Grundgesamtheit geschlossen wird. Je geringer die Wahrscheinlichkeit, desto sicherer ist der Interferenzschluss. Die Signifikanzniveaus Man hat eine Übereinkunft darüber getroffen, welche
Die Interferenzstatistik
Fehlerwahrscheinlichkeiten (Irrtumswahrscheinlichkeiten) akzeptiert werden können. Die Grenzen, an-
Der Interferenzschluss
hand derer entschieden wird, ob ein Ergebnis sig-
Die Probanden, die an einer Untersuchung teilneh-
nifikant ist oder nicht, heißen Signifikanzniveaus.
men, bilden eine Stichprobe, die stellvertretend für
Ein Ergebnis, für das eine Fehlerwahrscheinlich-
die Grundgesamtheit untersucht wird. Das eigentli-
keit von i 5 % besteht, wird als nicht signifikant
che Untersuchungsziel besteht also nicht darin,
bezeichnet.
Aussagen über diese begrenzte Zahl von Probanden
Liegt die Fehlerwahrscheinlichkeit darunter, ist
zu machen, sondern die Ergebnisse auf die Grundgesamtheit zu übertragen. Den Schluss von den Un-
das Ergebnis signifikant. Liegt die Irrtumswahrscheinlichkeit sogar I 1 %
tersuchungsergebnissen in der Stichprobe auf die
spricht man von einem sehr signifikanten Ergeb-
Grundgesamtheit bezeichnet man als Interferenz-
nis
schluss.
Liegt die Fehlerwahrscheinlichkeit I 0,1 % han-
Am Beispiel: Anhand der mittleren Konzentrations-
delt es sich um ein höchst signifikantes Ergeb-
leistung konnte gezeigt werden, dass sich die Expe-
nis.
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation Der Alpha- und der Betafehler
und unabhängige Variablen in die Analysen auf-
Der Fehler, einen Effekt als bedeutsam anzunehmen, obwohl er es eigentlich nicht ist, heißt Alpha-
genommen werden können. Zu den Tests auf Mittelwertsunterschiede zählen
Fehler (Fehler erster Art). Sein Gegenstück ist der Beta-Fehler (Fehler zweiter Art), bei dem ein Effekt für zufällig gehalten wird, obwohl er tatsächlich besteht. Die beiden Fehlerarten werden im Zusammenhang mit zwei Begriffen verwendet, die bereits eingeführt wurden: die Hypothese und die Nullhypothese (s. o.).
unter anderem der T-Test und die Varianzanalyse.
Merke Ein Alpha-Fehler besteht, wenn die Hypothese einer Untersuchung angenommen wird, obwohl die Nullhypothese zutrifft. Der Beta-Fehler meint das fälschliche Verwerfen der Hypothese zugunsten der Nullhypothese.
telwerte innerhalb einer Gruppe von Probanden
73
Der T-Test prüft die Mittelwertsdifferenz zweier Stichproben. Stammen die Mittelwerte aus verschiedenen Gruppen, kann ein T-Test für unabhän-
gige Stichproben angewendet werden. Ein Beispiel ist unsere Hypothese des bedeutsamen Unterschieds zwischen Experimental- und Kontrollgruppe in der Konzentrationsleistung. Werden Mitmiteinander verglichen, ist ein T-Test für abhän-
gige Stichproben einzusetzen. Dies wäre der Fall, wenn Unterschiede der Variablen zu zwei Zeitpunkten interessieren würden. Die Voraussetzung zur Anwendung eines T-Tests sind intervallskalierte und normalverteilte Variablen. Eine univariate Varianzanalyse untersucht den Ein-
Die statistischen Signifikanztests
fluss einer oder mehrerer unabhängiger Variablen auf eine abhängige Variable. Wie der Name schon
Die statistischen Tests müssen Sie nicht im Einzelnen kennen. Sie sollten lediglich einen Überblick haben, wie sie funktionieren.
sagt, findet hierbei eine Analyse der Varianzen statt: Die Variation des abhängigen Maßes zwischen den Gruppen wird mit der Variation innerhalb der Gruppen verglichen. Wenn die Varianz
Zur Überprüfung der Signifikanz stehen eine Reihe von statistischen Signifikanztests zur Verfügung.
zwischen den Gruppen weit größer ist, werden bedeutende Unterschiede zwischen den Ausprägun-
Eine Erläuterung ihrer zugrunde liegenden Berech-
gen der unabhängigen Variablen angenommen.
nungsformeln würde den Rahmen dieses Über-
Wird eine einzige unabhängige Variable berück-
sichtskapitels sprengen, sodass hier lediglich eine
sichtigt, spricht man von einer einfaktoriellen uni-
grobe Einteilung mit einigen gängigen Beispielen
variaten Varianzanalyse, bei zwei oder mehr unab-
genannt werden soll. Welcher statistische Test ein-
hängigen Variablen entsprechend von einer zwei-
gesetzt wird, hängt in erster Linie davon ab, ob mit
oder mehrfaktoriellen univariaten Varianzanalyse.
der Hypothese Unterschiede oder Zusammenhänge angenommen werden.
Eine weitere Differenzierung betrifft die Anzahl der abhängigen Variablen: multivariate Varianz-
Merke Eine Gruppe statistischer Tests überprüft die Signifikanz von Mittelwertsunterschieden, eine andere überprüft die Bedeutsamkeit von Zusammenhängen zwischen Variablen.
ein und machen zusätzlich Aussagen über deren
analysen beziehen mehrere abhängige Variablen
Signifikanztests haben zudem unterschiedliche Voraussetzungen an das Skalenniveau der Variablen, an deren Verteilungsform (z. B. Normalverteilung) und an die Art der zu vergleichenden Stichproben (abhängig, unabhängig). Die Tests unterscheiden sich außerdem darin, wie viele abhängige
Beziehungen. Sie können ebenfalls eine oder mehrere unabhängige Variablen enthalten. Um eine Varianzanalyse rechnen zu können, müssen die Variablen wie beim T-Test intervallskaliert und normalverteilt sein. Zu den Tests zur Überprüfung von Zusammenhän-
gen zählen unter anderem der Chi-Quadrat-Test, die Regressions- und Pfadanalysen und die Korrelationsanalysen. Da die Korrelationsanalyse häufig eingesetzt wird, wird sie in einem gesonderten Abschnitt ausführlicher beschrieben.
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation Kreuztabellen stellen tabellarisch die gemeinsame Häufigkeitsverteilung zweier Variablen dar. Sie sind sinnvoll, wenn die Daten nominal- oder ordinalskaliert sind: die Kategorien der einen Variablen werden in die Zeilen, die der anderen in die Spalten eingetragen. In den Zellen der Tabelle finden sich die Häufigkeiten der jeweiligen Kombination. Ein
Chi-Quadrat-Test überprüft die Unabhängigkeit der beiden Variablen und somit indirekt deren Zusammenhang. Regressionsanalysen dienen dazu, die Art des Zusammenhangs von Variablen aufzudecken. Ihr Ziel ist es, den Wert einer Variablen aus den Werten anderer Variablen vorherzusagen. Bei nur einer unabhängigen Variablen liegt eine einfache Regressions-
analyse vor. Wird nicht von einer einfachen Kausalwirkung ausgegangen, sondern sollen mehrere Einflussfaktoren berücksichtigt werden, ist eine multiple Regressionsanalyse einzusetzen. Bei einer linearen Regressionsanalyse (der Zusammenhang der Variablen ist linear) müssen die Variablen intervallskaliert sein. Pfadanalysen beruhen auf regressionsanalytischen Verfahren. Sie prüfen komplexe Kausalzusammenhänge zwischen mehreren Ursachen und mehreren Wirkungen, die graphisch in Pfaddiagrammen dargestellt werden können.
Die Korrelationsanalyse Die Korrelationsanalyse beschreibt anhand des Korrelationskoeffizienten den Zusammenhang von zwei oder mehreren variablen Merkmalen.
Beachte Wichtig ist, dass ein Korrelationskoeffizient keine Aussagen über kausale Beziehungen macht. Beschrieben wird lediglich das Ausmaß und die Art des gemeinsamen Variierens (Kovarianz) der Merkmale. Am Beispiel: Wären in dem Experiment (s. S. 47) neben der Konzentrationsleistung auch noch Reaktionszeiten erfasst worden, gäbe es drei Möglichkeiten, wie diese Variablen zusammenhängen können: Probanden mit guten Ergebnissen im Konzentrationstest schneiden auch im Reaktionstest gut ab. Es besteht ein gleichsinniger Zusammen-
hang, der zu einem positiven Korrelationskoeffizienten führt. Dieser besagt: je höher die Ausprägung der einen, desto höher ist auch die Ausprägung der anderen Variablen. Eine Aussage über Ursache-Wirkungs-Beziehungen kann hieraus nicht abgeleitet werden. Probanden mit guten Ergebnissen im Konzentrationstest bringen eher schlechte Leistungen bei der Reaktionszeitaufgabe: je höher die Ausprägung der einen, desto niedriger ist die Ausprägung der anderen Variable. Dieser gegenläufige Zusammenhang wird durch einen negativen Korrelationskoeffizienten beschrieben. Erzielen Probanden mit guten Leistungen im Konzentrationstest genauso häufig gute wie schlechte Ergebnisse im Reaktionstest, hängen die Variablen nicht miteinander zusammen (kein Zusammenhang oder Nullkorrelation). Aus dem Korrelationskoeffizienten ist nicht nur die Richtung, sondern auch die Stärke des Zusammenhangs abzulesen: Der Korrelationskoeffizient (r) kann Werte von –1 bis S 1 annehmen: r = –1.00 bedeutet einen absoluten negativen Zusammenhang, r = S1.00 stellt einen maximal positiven Zusammenhang dar, r = 0.00 steht für absolute Zusammenhangslosigkeit (Nullkorrelation). Extremwerte von r = S1.00 oder r = –1.00 sind jedoch äußerst selten, üblicher sind Korrelationskoeffizienten von beispielsweise r = 0.60. Ein solcher Zusammenhang zwischen Konzentration und Reaktion würde bedeuten, dass konzentrierte Menschen im Allgemeinen auch schneller reagieren. Da der Zusammenhang jedoch nicht maximal positiv ist, kann auch keine absolut sichere Vorhersage von der einen auf die andere Variable gemacht werden. Die statistische Maßzahl der gemeinsamen Varianz gibt an, wie viel Prozent der Varianz der einen durch die der anderen erklärt wird. Sie errechnet sich aus dem Korrelationskoeffizienten mal 100 zum Quadrat, für unser Beispiel wären dies 36 % gemeinsame Varianz. Die restliche Varianz erklärt sich durch Faktoren, die nicht untersucht wurden. Einsatzgebiet der Korrelationsanalysen: Es wurde bereits erwähnt, dass Korrelationsanalysen eingesetzt werden, um die Testgütekriterien zu bestim-
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation men. Die Höhe der Testgütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität wird durch Korrelationskoeffizienten ausgedrückt.
den
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Die univariaten, bivariaten und multivariaten Analysen Bis jetzt wurde die deskriptive Statistik von der
Beispiele zur Wiederholung: Die Auswertungsobjektivität wird durch die Korrelation der Testergebnisse derselben Probanden von unabhängigen Auswertern berechnet. Stimmen die Urteile der Auswerter überein, ergibt sich eine hohe positive Korrelation. Die Retest-Reliabilität ist die Korrelation der Ergebnisse von wiederholten Messungen. Ein messgenauer Test führt zu einem hohen positiven Korrelationskoeffizienten. Die Validität eines Tests wird durch die Korrelation mit einem Außenkriterium ausgedrückt. Wird beispielsweise das Testergebnis eines Berufseignungstests mit dem später erhobenen Berufserfolg korreliert, ist ein Maß für die Vorhersagevalidität gewonnen. Je höher die Korrelation, desto besser die Validität. Die Richtung des Koeffizienten hängt von der Art des gewählten Kriteriums ab. Für das Beispiel wäre eine positive Korrelation erwünscht.
Interferenzstatistik unterschieden. Eine ebenfalls gängige Einteilung der Auswertungsverfahren ist die in univariate, bivariate und multivariate Analysen. Der Begriff „variat“ gibt die Anzahl der analysierten (abhängigen) Variablen wieder: Eine univariate Analyse meint die Beschreibung einzelner Variablen (s. deskriptive Statistik), bei bivariaten Verfahren werden zwei Variablen analysiert (z. B. Korrelation), multivariate Verfahren analysieren den komplexen Zusammenhang mehrerer Variablen (z. B. multivariate Varianzanalyse).
3.7.3 Die qualitativen Auswertungsverfahren Qualitative Daten sind nicht-numerische Daten, die zum Beispiel mit dem oben beschriebenen TAT oder durch qualitative Interviews gewonnen werden. Häufig werden qualitative Daten zunächst quantifiziert, um dann mithilfe der quantitativen Analyseverfahren „weiterverarbeitet“ zu werden. Eine
Einige Arten von Korrelationskoeffizienten
einfache Möglichkeit der Quantifizierung ist das
Es hängt vom Skalenniveau der Variablen ab, wel-
Auszählen von Häufigkeiten interessierender Merk-
che Art Korrelationskoeffizient berechnet wird. Zwei seien genannt:
male, die in einem Kategoriensystem festgelegt sind.
Bei intervallskalierten und normalverteilten Varia-
Die Inhaltsanalyse
blen wird die Produkt-Moment-Korrelation nach
Bei einer Inhaltsanalyse werden die Inhalte, die
Pearson berechnet. Ist mindestens eine der beiden
Probanden schriftlich oder mündlich äußern, nach
Variablen ordinalskaliert oder nicht normalverteilt,
bestimmten Kriterien verrechnet. So stehen für
kann die Rangkorrelation nach Spearman berech-
die Auswertung von TAT-Geschichten Kategorien
net werden.
bereit, die wichtige Aspekte der zu messenden
Eine Scheinkorrelation ist ein nur „scheinbarer“ Zusammenhang zwischen Variablen: Es besteht eine
Bedürfnisse widerspiegeln. Kategorisiert werden beispielsweise positive und negative Affekte und
hohe Korrelation, die jedoch durch das Heraus-
erfolgreiche und erfolglose Handlungen, die im
filtern des Einflusses einer weiteren Variablen re-
Zusammenhang mit den Bedürfnissen geäußert
duziert wird oder ganz verschwindet. An einem
werden.
Beispiel:
der
Liegen die Daten nicht in schriftlicher Form vor,
Schuhgröße mit dem monatlichen Einkommen
wie zum Beispiel bei Tonband- oder Videoaufzeich-
könnte eine dritte Variable – das Alter der Proban-
nungen von Interviews oder Gruppendiskussionen,
den – mit beiden Variablen variieren und so den Eindruck eines Zusammenhangs entstehen lassen:
müssen sie zunächst in Schriftform umgewandelt werden (Transkription).
Ein Kind mit Schuhgröße 20 verdient keinen Euro
Das Ziel einer Inhaltsanalyse muss jedoch nicht
monatlich und der 16-Jährige Auszubildende, des-
zwingend darin bestehen, ein bereits operationali-
sen Füße noch wachsen, erzielt weniger Einkom-
siertes Merkmal zu quantifizieren, sondern kann
men, als ein ausgewachsener Mann mit Schuhgröße
auch darin bestehen, neue Informationen über ein
46 in einer Führungsposition.
noch unbekanntes Phänomen zu gewinnen.
Bei
einer
positiven
Korrelation
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3 Methodische Grundlagen Die Datenauswertung und die Dateninterpretation Das Tiefeninterview
von Krankheiten zu gewinnen oder dient die Ana-
Ein Tiefeninterview ist ein nicht-direktives, qualitatives Interview. Es hat die Form eines persönlichen
lyse von Tagebüchern dazu, den Zusammenhang kritischer Lebensereignisse und der emotionalen
Gesprächs und soll durch das Schaffen einer ver-
Belastung zu analysieren, ist zumindest das Aus-
trauensvollen Atmosphäre der Informationsgewin-
zählen von Häufigkeiten angebracht.
nung schwer erfassbarer Phänomene dienen. Im Vordergrund steht weniger das Messen eines Merk-
Die Gruppendiskussion
mals, sondern das Verständnis des subjektiven Er-
Gruppendiskussionen eignen sich, um Informatio-
lebens der befragten Person. Werden die Aussagen
nen auszutauschen. Im Sinne der Datenerhebung sind sie eine Datenquelle, um zu ersten Informationen über ein Phänomen zu gelangen. Ein Beispiel: Diskussionen in Arbeitsgruppen tragen dazu bei, etwas über verschiedene Facetten, Ursachen und Auswirkungen eines Problems (z. B. schlechtes Arbeitsklima, mangelhafte Zusammenarbeit) und über die unterschiedlichen Problembetrachtungen zu erfahren. Die Informationen werden geordnet, gewichtet und für Interventionsmaßnahmen verwendet.
des Befragten aufgezeichnet, können im Nachhinein die (evtl. für eine bestimmte Fragestellung) wichtigsten Aspekte herauskristallisiert werden.
Die Soziometrie Die Soziometrie ist bereits als Form einer relativen Beurteilung erläutert worden (s. S. 53). Die Auswertung besteht darin, für jedes Gruppenmitglied auszuzählen, wie häufig es als beliebtestes oder unbeliebtestes Mitglied gewählt worden ist. Es kann dann in eine Rangreihe aller Gruppenmit-
phische Darstellung zwischenmenschlicher Bezie-
3.7.4 Klinische Bezüge Beziehung zwischen Optimismus und Genesungszeit
hungen in einem Soziogramm ist bereits eine
Ein Arzt beobachtet, dass Patienten, die optimis-
Form der Datenaufbereitung, die der Beschreibung
tisch und zuversichtlich hinsichtlich ihres Krank-
dient. Soziometrische Daten können auch durch die Ana-
heitsverlaufs sind, schneller zu genesen scheinen als weniger optimistische Patienten. Um die Bezie-
lyse von Gruppeninteraktionen gewonnen werden.
hung zwischen Optimismus und Genesungszeit
Zum Beispiel kann eine Videoaufzeichnung eines
wissenschaftlich zu überprüfen, misst er an 100 Pa-
Arbeitstreffens analysiert werden, indem aus-
tienten, die an der gleichen Erkrankung leiden, die
gezählt wird, wie häufig sich Gruppenmitglieder
Ausprägung des Optimismus anhand eines standar-
miteinander unterhalten, sich anblicken oder lä-
disierten Fragebogens. Nach der Behandlung erwei-
cheln, usw.
tert er seinen Datensatz um die Genesungszeit, die
Die Dokumentenanalyse
er aus seinen Krankenakten gewinnt. Da ihm Daten auf Intervallskalenniveau vorliegen,
Zu den qualitativen Daten zählen ebenfalls Inhalte
kann er den Produkt-Moment-Korrelationskoeffi-
aus Krankenakten, Tagebüchern, Gutachten oder
zienten berechnen und findet einen Korrelations-
anderen Dokumenten. Informationen aus Kranken-
koeffizienten von r = 0.40 (fiktiver Kennwert!).
akten können als Entscheidungsgrundlage für das
Dies bedeutet, dass im Allgemeinen Menschen,
zukünftige Behandlungsvorgehen dienen oder Ta-
die optimistisch sind auch dazu neigen, schneller
gebücher können Aufschluss über die Gefühlswelt
zu gesunden. Das Ausmaß des Zusammenhangs
von Personen geben. Ob die Daten quantifiziert werden, hängt von der Fragestellung ab: Wenn es
ist im Vergleich zum höchstmöglichen Wert von r = 1.0 jedoch eher gering. Der Anteil an Varianz
darum geht, die (Kranken-) Geschichten einer ein-
der Variablen, die aus Kenntnis der anderen auf-
zelnen Person zu verstehen, wird eine Quantifizie-
geklärt werden kann, beträgt nur 16 % (gemein-
rung nicht nötig sein. Dient jedoch die Analyse
same Varianz).
glieder nach dessen Beliebtheit oder nach anderen untersuchten Kriterien eingereiht werden. Die gra-
von Krankenakten dazu, allgemeine Aussagen über beispielsweise das gemeinsame Auftreten
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3 Methodische Grundlagen Die Ergebnisbewertung
4
4
Check-up
Erst mehrfach replizierte Effekte können als Ge-
Rekapitulieren Sie, welche verschiedenen Methoden zur Datenauswertung und -interpretation Sie kennengelernt haben. Machen Sie sich noch einmal klar, was der Korrelationskoeffizient aussagt, z. B. indem Sie überlegen was es bedeutet, wenn ein neu entwickelter Angstfragebogen zu r = –0.04 mit den Testwerten eines schon bewährten Angsttests korreliert. Ist der Korrelationskoeffizient hinsichtlich der Validität des Tests gut oder schlecht?
setzmäßigkeiten anerkannt werden. Diese Gesetzmäßigkeiten sollen häufig nicht nur für die spezi-
3.8 Die Ergebnisbewertung Lerncoach Damit Sie nach Abschluss einer wissenschaftlichen Untersuchung keine voreiligen Schlüsse ziehen, fragen Sie sich zunächst, wie aussagekräftig Ihre Ergebnisse tatsächlich sind. Im folgenden Abschnitt werden Sie einige Kriterien kennenlernen, mit denen Sie ein Ergebnis richtig bewerten können. Prägen Sie sich diese gut ein.
3.8.1 Der Überblick Die zentralen Fragen der Ergebnisbewertung sollten schon zu Beginn einer wissenschaftlichen Untersuchung beantwortet sein: Welchem Zweck dient die Untersuchung und wozu sollen und können die Untersuchungsergebnisse verwendet werden? Um aus den Befunden wissenschaftlicher Untersuchungen weitreichendere Schlüsse zu ziehen, müssen diese wiederholt gezeigt werden können und generalisierbar sein. Ziel der evidenzbasierten Medizin ist es, Forschungsergebnisse so aufzubereiten, dass sie für die klinische Praxis einen klaren Wert haben und dazu beitragen können, die Effizienz der Behandlungsmethoden zu erhöhen.
3.8.2 Die Replizierbarkeit und die Generalisierbarkeit Die Replizierbarkeit wurde schon als Gütekriterium eines Experiments vorgestellt und meinte dort die
77
fische Untersuchungssituation gelten, sondern auf andere Probandengruppen und Situationen übertragen werden können. Dies ist mit der Generali-
sierbarkeit von Untersuchungsbefunden gemeint. ein Validitätskoeffizient ist ein Untersuchungsbefund, für den gezeigt werden muss, dass er nicht nur für die untersuchte Stichprobe gilt: Bei einer Kreuzvalidierung wird ein Validitätskoeffizient an einer anderen Stichprobe überprüft. Auch
3.8.3 Die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse Die durch medizinische und psychologische Forschung gewonnenen Erkenntnisse sollen einen Nutzen für die Praxis haben. Die evidenzbasierte
Medizin (EBM) zielt darauf ab, stärker als bisher die klinisch praktische Erfahrung (Expertise) um klinisch relevante Forschung (Evidenz) zu ergänzen, um Entscheidungen in der medizinischen Versorgung zu optimieren. Forschungsergebnisse, die zum Beispiel ein Urteil über die Güte diagnostischer Verfahren oder Aussagen über die Wirksamkeit präventiver, therapeutischer und rehabilitativer Maßnahmen zulassen, werden so aufbereitet (z. B. durch Metaanalysen), dass sie für die klinische Praxis einen klaren Aussagewert haben und genutzt werden können, um in Zukunft gezielter effiziente Verfahren einzusetzen und weniger effiziente außen vor zu lassen. Übersetzt man Effizienz mit „Wirksamkeit“, bestehen keine Bedenken, da sie ganz im Sinne des Patienten ist. Ethische Bedenken bestehen, wenn mit dem Begriff der Effizienz einzig und allein das Verhältnis von Kosten (Geld, Zeit) und Nutzen gemeint ist und allein Einsparungen aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten – z. B. eine Reduktion der Kosten der Krankenversorgung – das erklärte Ziel sind. Hier ist eine sensible Gratwanderung nötig, bei der sowohl das Wohl des Patienten als auch ganz praktische Notwendigkeiten im Auge behalten werden müssen.
grundsätzliche Wiederholbarkeit der experimentellen Bedingungen. In einem allgemeineren Sinne bezieht sich die Replizierbarkeit auf die Ergebnisse:
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78
3 Methodische Grundlagen Die Ergebnisbewertung 3.8.4 Klinische Bezüge Aderlass
Check-up 4
Heute weiß man, dass die Methode des Aderlass, also die Öffnung einer Vene zur Entnahme von bis zu 800 ml Blut, nicht die Wirkung erzielte, die man sich nach früherer Lehrmeinung davon versprach. Hätte man damals wissenschaftliche Evaluationsstudien zur Wirksamkeit der Methode eingesetzt, also die Lehrmeinung um wissenschaftliche Evidenzen zu ergänzen versucht, wäre vermutlich weniger Blut unnötig geflossen. Um die effi-
4
Rekapitulieren Sie, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit Sie weitreichendere Schlussfolgerungen aus Ihren Ergebnissen ziehen können. Wiederholen Sie, worauf die evidenzbasierte Medizin abzielt. Überlegen Sie auch, ob Sie die EBM als Restriktion der Handlungsmöglichkeiten im ärztlichen Alltag oder als nützliches Hilfsmittel empfinden.
zientesten Diagnosemethoden und Behandlungsformen zu identifizieren, kann auch heute nicht auf wissenschaftliche Methoden verzichtet werden.
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Kapitel
4
Theoretische Grundlagen 4.1
Die biologischen Grundlagen 81
4.2
Das Lernen 91
4.3
Die Kognition 101
4.4
Die Emotion 112
4.5
Die Motivation 122
4.6
Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile 134
4.7
Die Entwicklung und die primäre Sozialisation 146
4.8
Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf 162
4.9
Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs 173
4.10
Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs 182
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Ein neuer Sport
Histologischer Schnitt durch eine Arterie (A) (En = Endothel, Med = Media, Ad = Adventitia)
Die Persönlichkeit des Menschen ist wie ein Mosaikbild aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt. Auf dem Weg zur Persönlichkeit spielt Lernen eine nicht unerhebliche Rolle. Um die biologischen Grundlagen des Lernens und die verschiedenen Lernprozesse geht es unter anderem im folgenden Kapitel: Der Mensch lernt, auf Reize zu reagieren, mit Erfolg und Misserfolg umzugehen und Ideen in Taten umzusetzen. Man kann sogar lernen, normalerweise unbewusst ablaufende Vorgänge des Körpers zu kontrollieren. Wie z. B. der Migränepatient Jens. Lichtblitze und Kopfschmerzen Jens leidet schon seit seiner Kindheit unter Migräneanfällen. Die Attacken kommen etwa drei- bis viermal im Monat und beginnen mit einer „Aura“: Grellen Lichtblitzen und Sehstörungen. Etwa eine Stunde später fangen heftige Kopfschmerzen an, die meist zwei Tage dauern. Helles Licht und Lärm sind dann unerträglich. Am besten ist es, wenn sich Jens in ein abgedunkeltes Zimmer legt und wartet, bis der Anfall vorübergeht. Inzwischen hat der 29-jährige Jurist schon alle Medikamente ausprobiert, die bei Migräne in Frage kommen. Die Krankheit hat sich dadurch kaum beeindrucken lassen. Auch Entspannungsverfahren haben Jens wenig geholfen. Da macht ihm seine Neurologin den Vorschlag, es mit Verhaltenstherapie zu versuchen und überweist ihn an einen Psychologen.
Die Arterie bewegen Jens ist erst skeptisch. Er ist doch nicht psychisch krank! Doch das Konzept des Psychologen überzeugt ihn schnell: Er soll lernen, physiologische Vorgänge bewusst zu steuern. Biofeedback heißt diese Methode. Bei Migräne bedeutet das, den Durchmesser von Blutgefäßen steuern zu lernen. Denn die Kopfschmerzen bei Migräne werden durch eine Erweiterung von Arterien verursacht, die zum Gehirn führen. Jens soll also lernen, diese Blutgefäße zu verengen. Dafür wird ein Sensor an seiner Schläfe befestigt. Er misst über den Blutfluss den Durchmesser der Arteria temporalis. Auf einem Bildschirm sieht Jens einen großen Kreis. Könnte er die Arterie kontrahieren, würde der Kreis kleiner werden. Doch so sehr Jens es versucht, es will nicht gelingen. Der Therapeut tröstet ihn: Biofeedback zu erlernen sei wie für eine neue Sportart zu trainieren. Dabei müsste man mitunter Muskeln bewegen, von deren Existenz man bisher noch nichts geahnt hätte – und das ginge nicht von heute auf morgen. Alles ist weniger schlimm Jens hat regelmäßige Therapiestunden, doch ein Erfolg will sich zunächst nicht einstellen. Aber plötzlich, als er schon aufgeben will, hat er den Dreh raus: Der Kreis wird ein Stück kleiner, dann wieder größer, wieder kleiner... Jens ist begeistert: Er kann tatsächlich die Durchblutung in den Arterien steuern! Nun muss diese Methode nur noch gegen seine Migräne helfen. Als er das nächste Mal eine Migräneattacke kommen spürt, setzt er sich ruhig hin und konzentriert sich auf seine Arteria temporalis. Zwar kann er den Migräneanfall nicht völlig unterdrücken, doch diesmal ist alles weniger schlimm: Der Anfall dauert nicht so lange wie sonst, und die Kopfschmerzen sind weniger heftig. So lässt sich ein Migräneanfall ertragen, findet Jens. Und vor allem: Er hat endlich das Gefühl, selbst etwas gegen seine Krankheit tun zu können. Es hat sich also gelohnt, diese neue „Sportart“ zu erlernen.
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen
4
Theoretische Grundlagen
4.1 Die biologischen Grundlagen Lerncoach In diesem Kapitel lernen Sie die Neuropsychologie kennen, die sich mit der Wechselwirkung zwischen Gehirn und Verhalten beschäftigt. Die Zuordnung von psychischen Funktionen zu bestimmten Hirnstrukturen kann man sich am besten merken, wenn man die einzelnen Strukturen durchgeht und überlegt, für welche Funktion sie besonders wichtig sind, bzw. welche Ausfälle bei einer Schädigung zu befürchten wären.
4.1.1 Der Überblick Es gibt Ansätze, die menschliches Erleben und Verhalten aus biologischer Perspektive erklären. Diese
81
wort an das von Descartes aufgeworfene Leib-SeeleProblem an: Descartes postulierte einerseits eine klare Trennung vom materiellen Körper und dem immateriellen Geist, andererseits behauptete er, dass eine Interaktion zwischen beiden bestünde. Diese Interaktion zu erforschen ist das Gebiet der Neuropsychologie, in der die Beziehung zwischen den Gehirnfunktionen und menschlichem Verhalten untersucht wird. Die Hauptfragestellungen lauten dabei: Wie und wo sind psychische Funktionen wie Sprache, Gedächtnis oder Emotionen kortikal repräsentiert? Wie sehen die neuronalen Mechanismen von Verhalten und Verhaltensveränderung (z. B. beim Lernen, bei der Erholung nach Hirnschädigung) aus? Welche Funktion haben Neurotransmitter im Gehirn für die Steuerung des menschlichen Verhaltens?
Betrachtungsweise gewinnt aufgrund einer verstärkten Präsenz eines naturwissenschaftlichen Ansatzes in der Psychologie an Bedeutung. Zudem
Einige Methoden zur Untersuchung der Lokalisation von Funktionen
wird sie durch die schnelle technische Entwicklung
Im Gegensatz zur physiologischen Psychologie, die
im Bereich der bildgebenden Verfahren gefördert.
auch mit Tierexperimenten arbeitet, (s. S. 18) wer-
Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit der Repräsentation von psychischen Strukturen im
den in der Neuropsychologie Untersuchungen weitestgehend am Menschen durchgeführt. Die dafür
Gehirn, der Asymmetrie der Hemisphären und der
eingesetzten Methoden lassen sich in invasive und
Lateralisierung bestimmter Funktionen, dem Phä-
nicht invasive Verfahren unterteilen. Während bei
nomen der neuronalen Plastizität und seiner Be-
invasiven Verfahren eine Verletzung des mensch-
deutung für Lernen und Erholung nach Hirnschädi-
lichen Körpers vorgenommen wird, bleibt dieser
gungen sowie mit der Rolle von Neurotransmittern
bei den nicht invasiven unversehrt.
für die Verhaltenssteuerung.
Die meisten Methoden sind aufgrund der Notwen-
Der biologische Ansatz beschäftigt sich aber auch mit den Grundlagen genetischer Einflüsse auf
digkeit entstanden, bei einem operativen Eingriff wichtige Hirnareale nicht zu verletzten. Um dies zu
menschliches Verhalten. Die Methoden der Erblichkeitsschätzung geben Aufschluss über den genetischen Anteil des Verhaltens. Außerdem werden Erkenntnisse zu genetischen Einflüssen auf Persönlichkeitsmerkmale und psychische Störungen gewonnen.
verhindern, musste man präoperativ wissen, welche
4.1.2 Die Neuropsychologie Die Interaktion von Gehirn und Verhalten Ein Weg, die Frage nach dem Zusammenspiel von Körper und Seele zu beantworten, liegt darin, die Verbindung zwischen Gehirn und Verhalten zu
Hirnstrukturen zum Beispiel für die Sprache zuständig sind. Während ältere Studien fast ausschließlich an Patienten mit Hirnschädigung durchgeführt wurden, sind inzwischen dank der Entwicklung bild-
gebender Verfahren auch Untersuchungen an gesunden Probanden möglich. In diesem Fall müssen die Versuchspersonen bestimmte Aufgaben ausführen. Dabei wird die Hirnaktivität während der Ausführung aufgezeichnet. Dieses Aktivitätsbild kann man nun mit anderen Bedingungen, beispielsweise der Hirnaktivität in einer Ruhesituation, vergleichen.
analysieren. Historisch gesehen knüpft diese Ant-
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen Die Läsionsstudien
in der geringen zeitlichen Auflösung der Vorgänge.
Die älteren Befunde zur Repräsentation von speziellen Funktionen stammen fast ausschließlich
Da viele psychische Funktionen, gerade im Bereich des Denkens und Wahrnehmens, extrem schnell
von anfallenden Läsionsstudien. In so einem Fall
ablaufen, ist es mit diesen Verfahren nicht möglich,
wird bei Patienten, die aufgrund einer Krankheit,
eine einzelne Verhaltenssequenz aufzuzeichnen,
Verletzung oder eines operativen Eingriffs eine
beispielsweise die Aktivität bei der Beantwortung
Schädigung in einem bestimmten Kortexareal auf-
einer einzelnen Frage. Für derartige Fragestellun-
weisen, überprüft, welche psychischen Funktionen
gen kann das Elektroenzephalogramm (EEG) einge-
beeinträchtigt sind. Bei der Interpretation solcher
setzt werden, bei dem die evozierten Potenziale als
Befunde gibt es jedoch Einschränkungen: Hirnschädigungen sind selten auf ein spezielles
Reaktion auf ein einzelnes Ereignis gemessen werden können (s. S. 22).
Areal begrenzt, so dass man keine differenzierte Information über seine Funktionsweise erhält. Die Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Patienten ist nicht absolut (z. B. wegen unterschiedlicher Schädigungsursachen). Es fehlen Vergleichsdaten der Patienten vor der Hirnschädigung, die man bräuchte, um die Veränderungen exakt beschreiben zu können.
Merke Der Vorteil von PET und fMRI liegt in der guten räumlichen Auflösung. Gleichzeitig ist die zeitliche Auflösung schlecht. Das EEG liefert gute zeitliche Auflösung, aber kaum räumliche Informationen!
(z. B. Schock nach einem Unfall) erschweren
4.1.3 Die Repräsentationen psychischer Funktionen im Gehirn
die Diagnostik, da unklar ist, ob die Funktions-
Bei der Zuordnung psychischer Funktionen zu Re-
ausfälle wirklich auf die Hirnschädigung zurück-
präsentationsarealen im Gehirn gibt es keine
zuführen sind.
1:1-Übereinstimmung: Eine Struktur kann an ver-
Mit der Schädigung einhergehende Umstände
Eine präzise Entfernung des beforschten Areals ist
schiedenen psychischen Funktionen beteiligt sein
aus ethischen Gründen beim Menschen verständlicherweise nicht zulässig. Darum gehen speziell
und eine psychische Funktion verfügt im Normalfall über multiple Repräsentationsareale.
im Bereich der visuellen Wahrnehmung viele
Bei der funktionalen Zuordnung der Strukturen
Erkenntnisse auf Experimente mit Säugetieren
steht die Forschung noch vor vielen offenen Fragen.
zurück. Eine Einschränkung ergibt sich hierbei je-
Entsprechend unspezifisch sind zum Teil die fol-
doch bei der Erforschung weiterer kognitiver Funk-
genden Angaben. Um die funktionale Zuordnung
tionen wie Denken, Sprechen oder Problemlösen.
von kortikalen und subkortikalen Regionen zu psychologisch relevantem Verhalten und Erleben bes-
Die bildgebenden Verfahren Mit Hilfe bildgebender Verfahren konnten in den
ser zu verstehen, muss man sich ein grundsätzliches Organisationsprinzip des Gehirns verdeut-
letzten Jahrzehnten große Fortschritte bei der Loka-
lichen, das aus der evolutionären Entwicklung des
lisation von psychischen Funktionen bei gesunden
Menschen ableitbar ist. So sind die evolutions-
Patienten gemacht werden. Die Positronen-Emis-
geschichtlich älteren Hirnstrukturen, die bereits
sions-Tomographie (PET) gibt Aufschluss über die Aktivität der Hirnareale bei der Ausführung bestimmter Aufgaben, wobei der Glucoseverbrauch als Indikator für Aktivität dient. Bei der funktionalen Magnetresonanztomographie (fMRT) wird die Sauerstoffsättigung des Blutes als Indikator genutzt, um die Aktivität der Kortexareale aufzuzeigen. Beide Methoden haben den Vorteil, dass sie ein räumliches Bild des aktiven Gehirns liefern. Einer ihrer Nachteile liegt neben den hohen Kosten
bei simplen Lebensformen vorhanden sind, für die lebenserhaltenden Funktionen zuständig. Dagegen haben die Strukturen des Neokortex, die in dieser Ausdifferenzierung lediglich beim Menschen zu finden sind, evolutionsbiologisch „junge Aufgaben“ wie Sprach- oder Denkprozesse. Entsprechend dieser Überlegung gliedert sich der folgende Text in eine funktionale Betrachtung des Hirnstamms, des Kleinhirns, des Zwischenhirns (Diencephalon) und des Endhirns (Neokortex).
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen Der Hirnstamm Der Hirnstamm ist vor allem an der Steuerung autonomer Funktionen beteiligt. Dazu gehören die
Corpus callosum
Thalamus
83
Hypothalamus
Zerebrum
Aufrechterhaltung von Herzschlag und Atmung, aber auch die Bewegungskontrolle, die Regulierung von Schlaf-Wach-Rhythmus sowie die Nahrungsaufnahme und das Sexualverhalten. Aus verhaltenspsychologischer Sicht besonders wichtig ist das Fasernetzwerk, das vom Rückenmark durch den Hirnstamm zum Vorderhirn verläuft: Es wird als Retikulärformation („Formatio reticularis“) oder aufsteigendes retikuläres aktivierendes System (ARAS) bezeichnet und spielt eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit bzw. des Bewusstseins.
Hypophyse Amygdala Hippocampus
Abb. 4.1
Rückenmark
Zerebellum
Das limbische System (nach Zimbardo)
Das Zerebellum (Kleinhirn) Das Zerebellum (Kleinhirn) erfüllt unterschiedliche Funktionen. Die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts, aber auch die Feinmotorik wird hier gesteuert. Bei Schädigung des Kleinhirns durch eine Läsion kommt es zu exzessiven, überschießenden Bewegungen. Das Zerebellum scheint also auch eine Art einschränkende oder Hemmfunktion für Bewegungen zu haben.
Die Basalganglien, das limbische System und das Diencephalon (Zwischenhirn) Als Basalganglien werden die Kernstrukturen unterhalb des vorderen Neokortex bezeichnet. Zu ihnen gehören das Putamen („Schale“), der Globus pallidus („bleiche Kugel“, auch Pallidum), der Nucleus caudatus („Schweifkern“) und in manchen Darstellungen auch die Amygdala („Mandelkern“). Diese Strukturen bilden einen Schaltkreis mit dem
campus gerechnet werden, ist an der Steuerung fast aller Verhaltens- und Denkprozesse bedeutsam beteiligt (Abb. 4.1). Es bildet die wichtigste Verbindung zwischen neokortikalen Funktionen und denen des Stammhirns. Besonders hervorstechend ist seine Bedeutung jedoch für das Erleben und die Verarbeitung von Emotionen.
Merke Die emotionale Bewertung von Information findet in der Amygdala statt. Der Hippocampus spielt dagegen eine zentrale Rolle bei der Einspeicherung neuer Gedächtnisinhalte: hier werden ankommende mit bereits gespeicherten Informationen verglichen.
Neokortex.
Der Hypothalamus, eine Kerngruppe die unter dem
Aufgrund der anatomisch engen Verbindung der
Thalamus liegt, ist ebenfalls für viele Verhaltens-
Basalganglien zu den motorischen Kernen des Tha-
weisen von Bedeutung. Zentral ist die Regulation
lamus hatte man ihre Bedeutung zunächst nur für
der körperinternen Homöostase wie die Regelung
den Bewegungsbereich gesehen. Durch Läsionsstu-
von Temperatur, Schlaf und Appetit, aber auch die
dien zeigte sich jedoch, dass sie gemeinsam mit
Steuerung der sexuellen Erregung und der hormo-
den basalen Teilen des Vorderhirns die Erregungsschwelle des Neokortex steuern. Zudem sind sie
nellen Steuerung. Der Thalamus hat – auch anatomisch durch seine enge Verbindung zum Neokortex
an Motivationsprozessen (Antrieb) und über die
– eine Art Tor-Funktion, da er eine zentrale Rolle an
Regulierung von Aufmerksamkeit an der Gedächt-
der Aufmerksamkeitsregelung einnimmt. Informa-
nisbildung beteiligt.
tionen, auf die keine Aufmerksamkeit gerichtet
Das limbische System, eine Gruppe heterogener
wird, gelangen nicht zu einer weiteren Verarbei-
Kerne zu der auch die Amygdala und der Hippo-
tung in den Neokortex.
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen Der Neokortex Der Neokortex (auch Hirnrinde) ist die Hirnstruktur, die beim Menschen im Verhältnis zu anderen Säugetieren die größte Ausdifferenzierung auf-
Parietallappen
h isc
weist. Es ist einerseits die evolutionär jüngste Struktur, andererseits die Basis für alle Funktionen, die charakteristisch für den Menschen sind (der
Okzipitallappen
Sprechen
Neokortex als „Sitz des Willens“).
ren Hö
Anatomisch gliedert sich der Neokortex in zwei He-
misphären, die wiederum in jeweils vier Lappen unterteilt werden (Abb. 4.2). Die beiden Hemisphären werden durch das Corpus callosum, eine brückenähnliche Faserstruktur, verbunden. Die folgenden Abschnitte über die einzelnen Gehirnlappen sind so aufgebaut, dass zunächst die in dieser Region lokalisierten psychischen Funktionen erläutert werden. Im folgenden Abschnitt wird aufgezeigt, welche Funktionsausfälle nach einer Schädigung der Hirnregion zu beobachten sind.
Sulcus centralis
Frontallappen
Mo tor ik somat osen so r
84
Sehen Riechen
Sulcus lateralis Temporallappen
visueller Cortex Rückenmark
Zerebellum
Abb. 4.2 Aufteilung des Neokortex in vier Hirnlappen (nach Duus und Klinke/Silbernagl)
In dieser Region ist eine Art von temporärem Ge-
Der Frontallappen (Stirnlappen)
dächtnis lokalisiert: hier laufen Informationen
Anatomisch gliedert sich der Frontallappen in eine
über die gerade ausgeführten Handlungen und ein-
motorische, prämotorische und präfrontale Region.
gegangenen Wahrnehmungen zusammen, die es
Die motorische und die prämotorische Region sind
ermöglichen, das weitere Verhalten auf die Um-
für die Steuerung des gesamten Bewegungsappa-
weltbedingungen abzustimmen.
rats inklusive der Gesichts- und Sprachmuskulatur (Broca-Areal) und der Augenbewegungen zustän-
Fehlt diese Gedächtnisfunktion, sind die Verhaltensveränderungen immens: Patienten mit Läsio-
dig.
nen im Frontallappen zeigen eine umweltgesteu-
Der prämotorische Bereich wird der Planung und
erte Verhaltenskontrolle, das heißt, sie lassen sich
der motorische der Ausführung der Bewegungen
durch aktuelle Reize ihrer Umwelt von ihren vor-
zugeordnet. In der motorischen Region sind entlang
genommenen Aktivitäten ablenken, wobei sie
des Sulcus centralis (zentrale Furche) die einzelnen
diese vollkommen vergessen und nicht wieder auf-
Körperregionen repräsentiert. Je präziser die Kon-
nehmen. Die komplexe Planung und Steuerung von
trolle über die Motorik eines Körperteils ist, desto größer ist ihr Repräsentationsareal. Die prämotori-
Verhalten ist gestört. Wird ihnen z. B. die Aufgabe gestellt, Karten nach einer bestimmten Regel zu
schen Areale scheinen zudem eine Rolle beim asso-
sortieren, halten sie trotz Aufforderung zur Verän-
ziativen Lernen (klassisches und operantes Kon-
derung starr an einmal eingeführten Regeln fest (Perseveration).
ditionieren, s. S. 91) zu spielen. Bei einem Schlaganfall, bei dem motorische Areale betroffen sind, kommt es zu Lähmungserscheinun-
Der Temporallappen (Schläfenlappen)
gen der kontralateralen Körperseite (Hemiplegie).
Im Temporallappen befinden sich Regionen für die auditorische Wahrnehmung und Analyse. Diese Funktion wurde bereits 1874 von Wernicke beschrieben, der eine Störung des Sprachverständnisses bei einem Patienten mit entsprechend lokalisierter Schädigung beschrieb. Aber auch visuelle Information wird im an den Okzipitallappen grenzenden Bereich analysiert, wobei diese Areale speziell
Merke Die zentrale Rolle des Frontallappens liegt in der Planung und Steuerung von Verhalten, womit vor allem die präfrontale Region in Verbindung gebracht wird.
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen für die Formwahrnehmung relevant sind. Die me-
spiel hat das Projektionsareal des Gesichts und
dialen Regionen des Temporallappens in Verbindung mit dem Hippocampus spielen eine heraus-
speziell der menschlichen Lippen eine vergleichsweise große Ausdehnung. Das Projektionsareal
ragende Rolle für das Langzeitgedächtnis. Aufgrund
von Rücken und Rumpf ist im Verhältnis zu
ihrer engen Verknüpfung wird auch die Amygdala
ihrer eigentlichen Größe dagegen klein. Die Ab-
häufig zum Temporallappen gerechnet. Ihre Bedeu-
bildung der Projektionsareale im Parietallappen
tung liegt in der affektiven Komponente bei der
wird häufig als ein verzerrter Homunculus be-
Reizerkennung, die erst eine Bedeutungszuschrei-
zeichnet.
bung zu der jeweiligen Information möglich macht.
Der posteriore Teil des Parietallappen steuert räum-
Die Symptome, die nach einer Temporallappenschädigung auftreten, sind vielfältig. Es kann zu
liche Funktionen. Dazu gehört einerseits die Koordination der Bewegungen und der visuellen Wahr-
Störungen der Hörwahrnehmung kommen, die be-
nehmung bei allen gezielten Bewegungen wie zum
sonders bei der linken Hemisphäre häufig mit
Beispiel dem Greifen nach einer Tasse. Andererseits
einer
Sprachverständnisses
ist er auch an Denkvorgängen beteiligt, die eine Art
(Wernicke-Aphasie) einhergeht. Rechtshemisphärisch kann dagegen die Wahrnehmung von Melodien – auch bei der Sprachwahrnehmung (Prosodie) – beeinträchtigt sein. Zudem treten massive Störungen des Langzeitgedächtnisses auf. Es existieren darüber hinaus Fallbeschreibungen von Patienten mit Veränderungen des Affekts (Emotionen) und der Persönlichkeit.
räumliche Funktion verlangen. Dazu gehören das
Einschränkung
des
85
Lesen und Rechnen, wobei die räumliche Anordnung der Informationen eine Rolle spielt. Patienten mit Läsionen im Parietallappen können sich nicht mehr gezielt den Reizen in ihrer Umgebung zuwenden und haben Probleme bei der Steuerung von gezielten Bewegungen. Manche Patienten haben zudem eine gestörte Wahrnehmung taktiler Reize (taktile Agnosie). Zudem zeigt sich meist bei
Merke Der Temporallappen ist unter anderem für alle Prozesse relevant, die mit der Wahrnehmung auditorischer Information und dem Langzeitgedächtnis zusammenhängen.
einer linksseitigen Läsion ein Verlust der Fähigkeit zum Schreiben (Agraphie) und Zeichnen, rechtsseitig dagegen ist eher die Rechenfähigkeit eingeschränkt (Akalkulie).
Der Okzipitallappen Der Parietallappen (Scheitellappen) Der menschliche Parietallappen ist im Vergleich zu dem des Menschenaffens deutlich größer. Auch ihn kann man anatomisch in einen anterioren und einen posterioren Bereich aufteilen. Der anteriore Bereich spielt für die Somatosensorik, die Empfindung und Lokalisierung taktiler (Tastsinn), kinästhetischer (Wahrnehmung von Bewegungen von Rumpf und Gliedmaßen), propriozep-
tiver (sensorische Information aus Muskeln, Sehnen, Eingeweiden) und schmerzhafter Sinnesempfindungen eine Rolle.
Merke Im Parietallappen liegen die Areale der sensorischen Repräsentation des Körpers. Ihre Größe steht im Zusammenhang mit der Sensibilität der jeweiligen Körperregion. Zum Bei-
Aufgabe der okzipitalen Kortexareale ist die visuelle Informationsverarbeitung. Unterschiedliche anatomische Regionen sind an der Wahrnehmung von Form, Farbe und Bewegung beteiligt. Zudem kann man zwei bedeutsame Verarbeitungsbahnen eingrenzen, von denen die eine ventral zum Temporallappen, die andere dorsal zum Parietallappen zieht. Die Verbindung zum Temporallappen scheint vor allem für die Stimuluserkennung relevant. Die zum Parietallappen ziehende Bahn ist dagegen an der Steuerung von Bewegungen im Raum beteiligt, wofür Informationen aus der Umwelt benötigt werden. Einzelne Funktionen scheinen asymmetrisch lokalisiert zu sein: So findet man im linken Okzipitallappen eine Region, die auf das Erkennen von Wörtern spezialisiert ist, während das entsprechende (homologe) Areal in der rechten Hemisphäre für die Erkennung von Gesichtern eine besondere Rolle spielt.
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen Patienten mit okzipitalen Schädigungen haben ver-
lisierung der Hirnhälften hindeuten. Die folgende
schiedene Störungen der visuellen Wahrnehmung (Agnosien). Meistens ist die Erkennung von Objek-
Auflistung der Zuordnung von Funktionen zu den Hemisphären ist jedoch nicht absolut, sondern be-
ten eingeschränkt (Objektagnosien), aber es wer-
schreibt lediglich eine häufig auftretende Überle-
den auch spezifische Ausfälle beim Lesen (Alexien)
genheit. An vielen Verhaltensweisen sind Areale
oder bei der Erkennung von Gesichtern (Prosopa-
beider Hemisphären beteiligt.
gnosien) berichtet.
Eine Übersicht zu häufigen Verhaltensausfällen nach Hirnschädigung In Tab. 4.1 sind noch einmal häufige FunktionsStörungen aufgelistet. Aufgrund der individuellen Ausformung jedes Gehirns ist die Zuordnung der
Merke Die Lateralisation von Funktionen wird einerseits von genetischen Faktoren wie Händigkeit und Geschlecht und andererseits von Faktoren der Umwelt (z. B. Anregungsgrad, spezielle Anforderungen) beeinflusst.
Hirnareale zu den Funktionsausfällen jedoch nicht eindeutig. So ist es durchaus möglich, dass die
Insgesamt ist die Asymmetrie bei linkshändigen
Symptomatik zweier Patienten trotz Schädigung
Personen geringer ausgeprägt als bei Rechtshän-
in derselben Hirnregion sehr unterschiedlich aus-
dern. Bezüglich des Geschlechts weisen Männer
fällt. Die in Klammern dargestellten Zuordnungen zur
im Schnitt eine stärkere Lateralisierung auf als Frauen. Erklärungsversuche für diesen Unterschied
linken oder rechten Hemisphäre gelten ebenfalls
sind vielfältig und reichen von der Anwendung un-
für die meisten Individuen, nicht jedoch für alle.
terschiedlicher Strategien bei der Verarbeitung von Information bis zu hormonellen Einflüssen oder der
4.1.4 Die Lateralisation und die Hemisphärendominanz
unterschiedlichen
Vergleicht man die Symptomatik von Patienten mit
dass eine stärkere Asymmetrie aufgrund einer stär-
einer Schädigung homologer Areale in der rechten und in der linken Hemisphäre, so zeigen sich deut-
keren Spezialisierung der Hirnareale einen Vorteil bei kognitiven Aufgaben mit sich bringt, hat sich
liche Unterschiede, die auf eine funktionale Spezia-
als falsch herausgestellt. Aber auch die umgekehrte
Reifungsgeschwindigkeit
der
Gehirne von Jungen und Mädchen. Die Vermutung,
Tabelle 4.1 Eine Übersicht zu den Verhaltensausfällen nach Hirnschädigungen Bezeichnung der Schädigung
Beschreibung des Funktionsausfalls
assoziiertes Hirnareal
Amnesie – anterograd – retrograd
Temporallappen und Hippocampus Gedächtnisverlust gestörte Gedächtnisneubildung gestörter Abruf bereits eingespeicherter Informationen
Agnosie – Objektagnosie – Prosapagnosie
Okzipitallappen Störung der Wahrnehmung Unfähigkeit, Objekte zu erkennen gestörte Gesichtererkennung (rechter) Okzipitallappen
Alexie
Störung des Lesens
(linker) Okzipitallappen
(linke) Hemisphäre Beeinträchtigung der Sprache Aphasie (linker) Frontallappen (Broca-Areal) Störung der Sprachproduktion – Broca-Aphasie (motorische Aphasie) – Wernicke-Aphasie (sensorische Aphasie) Störung des Sprachverständnisses (linker) Temporallappen (Wernicke-Areal) Agraphie
Störung des Schreibens
(linker) Parietallappen
Akalkulie
Beeinträchtigungen bei mathematischen Operationen
Parietallappen
Apraxie
Unfähigkeit, zielgerichtete Bewegungen durchzuführen
Parietallappen
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen Annahme, dass eine geringe Lateralisierung günsti-
entsprechender Verarbeitung in der rechten He-
ger wäre, ist nicht haltbar. Trotz der geringeren Asymmetrie der Sprache zeigen Mädchen in Tests
misphäre) ebenso besser erkannt werden wie nichtsprachliche Geräusche oder Musik. Auch die
zur sprachlichen Intelligenz durchschnittlich bes-
taktile Wahrnehmung (z. B. Blindenschrift) erfolgt
sere Leistungen. Jungen, die im Schnitt eine stär-
primär rechtshemisphärisch. Das Gedächtnis weist
kere Asymmetrie aufweisen, sind ihnen dagegen
ebenso eine rechtsseitige Dominanz für nicht-
bei der visuell-räumlichen Wahrnehmung und
sprachliche Inhalte auf.
den mathematischen Fähigkeiten überlegen.
Zusammenfassend liegt die Dominanz der rechten
87
Hemisphäre in der Verarbeitung nicht-sprachlicher
Die Dominanz der linken Hemisphäre Am auffälligsten ist die Dominanz der linken He-
Informationen mit einer Spezialisierung auf visuellräumlichen Funktionen.
misphäre bei der Produktion (Broca-Areal) und Wahrnehmung
(Wernicke-Areal)
der
Sprache.
4.1.5 Die neuronale Plastizität
Diese Überlegenheit zeigt sich auch im visuellen
Neuronale Plastizität beschreibt die Fähigkeit des
System bei der Wahrnehmung von Wörtern und
Gehirns, sich zu reorganisieren und ausgefallene
Buchstaben und im auditorischen System bei
Funktionen auf verschiedene Weise zu kompensie-
sprachlichen Lauten. Auch bei verbalen Gedächtnis-
ren. Diese Fähigkeit ist die Basis jeglicher Lernpro-
funktionen, der Einspeicherung und Wiedergabe von Sprachmaterial, ist die linke Hemisphäre über-
zesse, bei denen sich das Verhalten des Individuums aufgrund von Umwelteinwirkungen nachhal-
legen. Neben den sprachverbundenen Funktionen
tig verändert. Denn jede Veränderung – und sei es
des Lesens, Schreibens und Sprechens gibt es auch
nur eine neu im Gedächtnis abgespeicherte Tele-
eine linksseitige Dominanz für Rechenleistungen.
fonnummer – benötigt eine neuronale Grundlage.
Die linke Hemisphäre wird gerade in der populär-
Zudem ermöglicht die neuronale Plastizität eine
wissenschaftlichen Literatur häufig vereinfacht als
funktionale Erholung nach einer Schädigung von
Region der analytischen Denkprozesse beschrieben.
Hirnarealen. Diese Fähigkeit zur Regeneration ist
Diese Generalisierung ist anhand der existierenden Befunde jedoch nicht haltbar. Es gibt dagegen Hin-
jedoch bei betroffenen Patienten sehr unterschiedlich. Nur selten ist mit einer vollständigen Kompen-
weise, dass die linke Hemisphäre besonders auf die
sation zu rechnen.
Analyse schneller sequenzieller Informationen (wie zum Beispiel bei der auditiven Wahrnehmung von Sprache) spezialisiert ist.
Die neuronale Plastizität als Grundlage des Lernens Die anatomischen bzw. physiologischen Vorausset-
Die Dominanz der rechten Hemisphäre
zungen für Lernen nehmen in den ersten Lebens-
Die spezifische Funktionalität der rechten Hemisphäre hat den Forschern lange Rätsel aufgegeben.
monaten und -jahren des Kindes explosionsartig zu. Die Grundlage dafür kann nicht allein in der
Welche Aufgaben können hier lokalisiert sein, die
Neubildung von Neuronen liegen, da diese bis
ein Gegengewicht zur linkshemisphärischen Spra-
zum Ende der Schwangerschaft größtenteils abge-
che bilden? Inzwischen weiß man, dass die Domi-
schlossen ist. Lediglich im Zerebellum und im lim-
nanz der rechten Hemisphäre besonders bei räum-
bischen System entstehen noch bis kurz nach der
lichen Prozessen liegt. So zeigt sich bei der Bearbeitung von Geometrieaufgaben oder der mentalen Rotation (vorgestellte Drehung von Objekten) in bildgebenden Verfahren eine stärkere Aktivierung der rechten Hirnhälfte. Aber auch bei der visuellen und auditorischen Wahrnehmung gibt es rechts eine Überlegenheit für nicht-sprachliche Informationen. So können Gesichter und komplexe Muster bei einer Präsentation im linken Gesichtsfeld (und
Geburt neue Zellen. Der relevante Mechanismus des Lernens ist die Verzweigung und Verdickung der Dendriten. Axone und Kollateralen wachsen aus und die Anzahl der Synapsen und der synaptischen Dornen (Spines) am Ende der Dendriten nimmt zu. Es kommt zu einer Zunahme des Hirngewichts. Eine notwendige Voraussetzung für die geschilderten Veränderungen ist eine anregende Umgebung
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen mit sowohl sensorischer als auch motorischer Sti-
auch sensorischen Neuronen beobachtet werden
mulation. Die enorme Bedeutung der Umgebungsreize wird in Deprivationsversuchen oder aufgrund
kann. Im Zentralnervensystem gibt es diverse Versuche, die Regenerationsvorgänge zu erleichtern.
der Defiziterscheinungen bei Kindern, die von ihren
Zum Beispiel wird neuronales Gewebe am Läsions-
Eltern
deutlich.
ort platziert, um als Überbrückung für neu wach-
Schränkt man einem neugeborenen Kind oder Tier
sende Fasern zu dienen. Wie die Veränderungen
die Wahrnehmungs- oder Bewegungsmöglichkeiten
auf neuronaler Ebene aussehen, ist dabei noch
ein, so verlangsamt sich die Ausdifferenzierung der
reine Spekulation. Der Mechanismus des „Sprou-
grob
vernachlässigt
wurden,
entsprechenden Hirnareale. Es kann zu einer dauer-
ting“ – das Aussprossen von Axonkollateralen, die
haften Einschränkung der Lernfähigkeit kommen. Je früher die Deprivation erfolgt und je länger sie
das degenerierte Axon ersetzen – ist dagegen eindeutig belegt.
andauert, desto eklatanter sind die Folgeschäden.
Weitere mögliche Mechanismen sind eine einset-
Lernen ist jedoch das ganze Leben lang möglich: Als
zende
Grundlage dafür kommt die Neuaktivierung vorher
eine Zunahme von Rezeptoren an geschädigten
„stiller“ Synapsen bzw. „gehemmter“ synaptischer
Nerven und Muskeln. Dadurch wird die Reaktion
Verbindungen in Frage. Auf der Ebene des einzel-
auf die Stimulation der verbliebenen Afferenzen
nen Neurons beruht Lernen auf der Bildung von
verstärkt.
Hebb-Synapsen. Bei diesen Synapsen erhöht sich bei gleichzeitiger Aktivierung von prä- und postsynaptischem Neuron die Verbindungsstärke. Auf anatomischer Ebene zeigt sich die neuronale Plastizität in der unterschiedlichen Ausdifferenzierung der motorischen und sensorischen Projektionsareale. So ist zum Beispiel das Areal der mentalen Repräsentation der linken Hand bei einem professionellen Geiger größer als bei einem Menschen, der seine Hand nicht für solche präzisen Bewegungsabläufe benötigt. Diese „Individualisierung“ der Projektionsareale zeigt noch einmal den bedeutenden Einfluss der Umweltbedingungen auf die „biologische Entwicklung“ des Individuums.
Denervierungsüberempfindlichkeit
durch
4.1.6 Die Neurotransmitter und das Verhalten Bereits im 19. Jahrhundert vermutete man, dass psychische Störungen wie Schizophrenie und manische Depression mit einer Fehlfunktion des Gehirns zusammenhängen. Die ersten Erkenntnisse zur Rolle
von
Neurotransmittern
bei
psychischen
Störungen gehen auf eher zufällige Medikationsversuche bei schizophrenen Patienten zurück, denen man in den fünfziger Jahren Chlorpromazin testweise verabreichte: Die therapeutische Wirkung war beeindruckend. Patienten, die unter Halluzinationen und Wahnvorstellungen litten und zuvor nur ruhig gestellt werden konnten, zeigten
Die neuronale Plastizität und die Regeneration
eine Linderung der Symptomatik.
Die Erholung geschädigter Hirnfunktionen verläuft
Dieses Beispiel illustriert, wie der Erkenntnisgewinn über die Wirkweise verschiedener Neuro-
im Normalfall langsam, wobei zunächst die aus-
transmitter häufig verläuft: Wenn ein Psychophar-
gefallene Funktion auf niedrigem Niveau kompen-
makon bei einem bestimmten Typ von Störung die
siert wird. Die danach folgenden Erholungsstadien
Symptomatik positiv beeinflusst, kann man über
weisen auf funktionaler Ebene Ähnlichkeit mit
seine chemische Struktur ableiten, welches Trans-
den Entwicklungsschritten eines Kindes auf.
mittersystem bei dieser Störung fehlreguliert ist.
Auf neuronaler Ebene werden verschiedene Mecha-
Problematisch dabei ist, dass die meisten Psycho-
nismen diskutiert, die einer Erholung zugrunde liegen. Unter Regeneration versteht man einen Vor-
pharmaka eine Vielzahl von Übertragungsprozessen, neuronalen Strukturen und Verhaltensweisen
gang, bei dem verletzte Neurone wieder Faserver-
beeinflussen. Eine einfache Zuordnung von Trans-
bindungen zu dem Areal aufnehmen, mit dem sie
mittersystemen zu psychischen Störungen hat
vor der Schädigung in Verbindung standen. Im pe-
sich in allen Fällen als unmöglich herausgestellt.
ripheren Nervensysten ist die Regeneration ein bekanntes Phänomen, das sowohl bei motorischen als
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen Merke Die im Gehirn vorkommenden Neurotransmitter haben keine festgelegte Funktion, sondern können je nach dem Ort ihrer Wirkung und dem Zusammenspiel mit anderen Neurotransmittern eine unterschiedliche Wirkung haben.
89
menhang mit Depressionen steht. Zudem zeigen sich bei EEG-Ableitungen Depressiver Anomalien im Schlaf-Wach-Rhythmus, die wiederum als Hinweis auf eine gestörte Serotonin-Regulation gelten.
4.1.7 Die genetischen Einflüsse auf das Verhalten
Das dopaminerge System Trotz ihrer geringen Quantität – die Katecholamine machen insgesamt nur ein bis zwei Prozent der gesamten Transmittersubstanzen im ZNS aus – sind Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin von herausragender Bedeutung für den Bereich der Emotion, des Denkens (Kognition) und der Motorik. Die beiden wichtigsten Dopaminsysteme sind das mesolimbische und das nigrostriatale System. Im
mesolimbischen System hat Dopamin eine positive Verstärkerfunktion, die zum Beispiel bei Lernvorgängen eine Rolle spielt (s. S. 95). Die D1-Rezeptoren scheinen bei der Symptomatik von Schizophrenen eine Rolle zu spielen. Speziell die sogenannten positiven Symptome (positiv im Sinne eines verstärkten oder überzeichneten Auftretens) wie Halluzinationen, Wahn oder Denkstörungen werden auf eine Überaktivität oder erhöhte Anzahl der Dopaminrezeptoren in den mesolimbischen Verbindungen zurückgeführt. Die Negativ-Symptomatik der Schizophrenie (Apathie, Spracharmut, Lustlosigkeit) scheint dagegen mit einer reduzierten Aktivität der Dopamin-Neurone im präfrontalen Kortex in Verbindung zu stehen. Ein Dopaminmangel im nigrostriatalen extrapyramidalen System steht mit den Symptomen der ParkinsonKrankheit in Beziehung (z. B. Ruhetremor).
Die Bestimmung von genetischen und umweltbedingten Faktoren des menschlichen Verhaltens, mit dem sich der folgende Abschnitt beschäftigt, ist ein etwas kompliziertes Thema. Das Lernen wird Ihnen vielleicht leichter fallen, wenn Sie sich den Unterschied zwischen einem genetisch determinierten Merkmal (z. B. Augenfarbe) und einem genetischen Einfluss (z. B. auf Körpergröße, Intelligenz) bewusst machen.
Die Grundlagen In der differenziellen Psychologie, der Disziplin, die sich mit den interindividuellen Unterschieden zwischen Individuen befasst, werden auch die Ursachen der unterschiedlichen Ausprägungen von Merkmalen diskutiert. Während es bei physischen Merkmalen wie der Körpergröße oder Haar- und Augenfarbe offensichtlich ist, dass hier die Vererbung eine Rolle spielt, ist die Unterscheidung von genetisch bedingter und umweltbedingter Variation bei vielen psychischen Merkmalen schwieriger. Zudem sind Aussagen zum genetischen Einfluss auf Persönlichkeitsmerkmale wie die Intelligenz von besonderer Brisanz, da sie zum Beispiel Auswirkungen auf das Verständnis von Bildungsund Förderungsmöglichkeiten haben. Eine Vielzahl
Das serotonerge System
von aktuellen Studien zur Frage nach Umwelt-
Serotonin hat größtenteils eine dämpfende Funk-
und genetischen Einflüssen zeigt, dass sich – wie
tion im ZNS. Es spielt eine Rolle bei der passiven
so häufig in der Psychologie – die Variation von
Vermeidung und bei der Steuerung des SchlafWach-Rhythmus (schlafanstoßende Wirkung). Zudem hat Serotonin Einfluss auf den zerebralen Blutfluss, da es als Vasodilator die Blutgefäße erweitert. Aufgrund der Entwicklung von neuen Antidepressiva wie Fluoxetin, das spezifisch auf Serotonin wirkt (selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer), ist man zur Schlussfolgerung gekommen, dass eine abnorme Serotoninaktivität im Zusam-
Persönlichkeitsmerkmalen am besten als Interaktion zwischen beiden Faktoren erklären lässt. Neben den interindividuellen Unterschieden bei Persönlichkeitsmerkmalen ist die Frage von genetischen Einflüssen bei psychischen Störungen relevant. Aufgrund von häufig auftretenden Störungsbildern in derselben Familie, liegt die Vermutung nahe, dass ein genetischer Anteil existiert. Da aber die Mitglieder derselben Familie häufig auch bestimmte Erfahrungen oder Lebensbedingungen tei-
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4 Theoretische Grundlagen Die biologischen Grundlagen len, ist der Versuch, genetische von Umweltfak-
Die Aussagekraft von Adoptionsstudien wird durch
toren sauber zu trennen alles andere als trivial.
den Effekt der selektiven Platzierung eingeschränkt. Selektive Platzierung meint, dass Adop-
Die Methoden der Erblichkeitsschätzung
tivkinder häufig in Familien untergebracht werden,
Um den Einfluss genetisch bedingter und umwelt-
die der eigenen Familie ähnlich sind.
bedingter Anteile an einem Merkmal oder einer psychischen Störung abschätzen zu können, schaut
Die genetischen Anteile der Intelligenz
man sich die Variationsbreite der Merkmalsausprä-
Erblichkeitsschätzungen der Intelligenz sind ein
gung in Form der statistischen Varianz eines Merk-
viel diskutiertes Thema mit wichtigen Konsequen-
mals an. Die Frage lautet nun, welcher Teil der vorhandenen Variation auf die Gene und welcher auf
zen. Allgemein geteilt wird inzwischen die Auffassung, dass für die Variationsbreite der Intelligenz
Umwelterfahrungen
welcher
sowohl genetische als auch Umweltfaktoren rele-
durch ein Zusammenwirken beider Faktoren be-
zurückgeht
bzw.
vant sind. Genetische Faktoren sind für 40–70 %
stimmt wird (Interaktion). Um diese Einflüsse zu
(je nach Untersuchung) der Variabilität der Intelli-
trennen, gibt es folgende Möglichkeiten:
genz verantwortlich. Wichtig ist jedoch, dass auch ein großer erblicher Anteil nicht bedeutet, dass
Die Zwillingsstudien
Umweltfaktoren wie zum Beispiel gezielte Förder-
Die Idee bei der Untersuchung getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge liegt auf der Hand: Man
maßnahmen damit wirkungslos blieben. Den genetischen Anteil sollte man eher als eine Reaktions-
weiß, dass diese Individuen 100 % ihrer Erbinforma-
norm verstehen, also einen vorgezeichneten Be-
tionen teilen. Alle Unterschiede können also ein-
reich innerhalb dessen die Intelligenzausprägung
deutig auf Einflüsse der Umwelt zurückgeführt
je nach Anregungsgrad der Umwelt liegen wird.
werden. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass alle Ähnlichkeiten zwischen ihnen erblich bedingt sind, denn trotz unterschiedlicher Elternhäuser ist es durchaus möglich, dass sich auch in der Umwelt der Zwillinge Erfahrungen gleichen (z. B.
Merke Intelligenz wird sowohl von genetischen als auch von Umweltfaktoren und von deren Interaktion beeinflusst.
das gleiche Schulsystem) und somit zu einer ähnlichen Entwicklung beitragen. Wachsen zwei Kinder
Die genetischen Anteile der Persönlichkeit
in unterschiedlichen Familien auf, die sie jedoch in
Der genetisch bedingte Anteil von Persönlichkeits-
beiden Fällen aktiv in ihrer geistigen Entwicklung
merkmalen wie Extraversion, Ängstlichkeit oder
fördern, so bleibt unklar, ob eine hohe Intelligenz-
emotionale Labilität wird aufgrund vorliegender
übereinstimmung nun auf die gemeinsamen Gene
Studien als geringer eingeschätzt als der erbliche
oder die jeweils erhaltene Förderung zurückgeht.
Anteil bei der Intelligenz. Trotzdem zeigt sich über verschiedene Merkmale hinweg, dass ein erblicher
Die Adoptionsstudien
Faktor existiert, auch wenn die Umwelterfahrungen
Die Logik von Adoptionsstudien ist der von Zwil-
hier einen stärkeren Einfluss zu haben scheinen.
lingsstudien sehr ähnlich: Man vergleicht das mit den biologischen Eltern und andererseits mit
Die genetischen Anteile bei verschiedenen psychischen Störungen
den Adoptiveltern. Die Stärke der jeweiligen Ähn-
Psychische Störungen, bei denen eine genetische
lichkeit (in Form eines Korrelationskoeffizienten, s. S. 74) gibt Aufschluss über die Einflussstärke ge-
Disposition diskutiert wird, sind besonders die Schizophrenie, depressive Störungen und Alkohol-
netischer versus umweltbedingter Faktoren. In Stu-
abhängigkeit.
Kind bezüglich des relevanten Merkmals einerseits
dien zur Erblichkeitsschätzung von Intelligenz hat man beispielsweise zeigen können, dass die Korre-
Die Schizophrenie
lation der IQ-Werte mit der leiblichen Mutter höher
Zur Schizophrenie gibt es eine ganze Serie von
ausfällt als die mit der Adoptiv-Mutter.
Zwillings- und Familienstudien, deren Ergebnisse
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen Check-up
die Existenz genetischer Faktoren deutlich stützen. Man spricht hier von einer erhöhten Vulnerabilität (erhöhter Verletzlichkeit) der familiär belasteten
4
Individuen, die ein gegenüber der Normalbevölkerung deutlich erhöhtes Erkrankungsrisiko bedeutet. So lag die Wahrscheinlichkeit einer schizophrenen Störung bei Kindern von schizophrenen Müttern in einer großen amerikanischen Studie bei 17 % (gegenüber 0,1 % in der Normalbevölkerung). Den eigentlichen Auslöser für eine schizophrene Episode geben jedoch meistens Umweltereignisse. Aufgrund dieser Erkenntnisse spielt der Einsatz von Präventionsprogrammen für Risikogruppen eine große Rolle (weitere Informationen zur Prävention, s. S. 273).
Der Alkoholismus
4
Rekapitulieren Sie noch einmal die Zuordnung von psychischen Funktionen zu bestimmten Hirnstrukturen, indem Sie sich überlegen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten Sie bei einem Patienten mit einer Hirnschädigung testen könnten, um zu wissen, welche Hirnareale betroffen sind. Machen Sie sich noch einmal die „Spezialisierungen“ der beiden Hemisphären klar. Überlegen Sie sich dazu, was aus wissenschaftlicher Perspektive gemeint sein könnte, wenn in einem Lernratgeber als Tipp steht, man solle darauf achten „ganzheitlich“ zu denken und nicht nur die linke „analytische“ Hemisphäre zu benutzen.
Hinweise auf eine genetische Prädisposition gibt es auch bei der Alkoholabhängigkeit. Mit Hilfe gut
4.2 Das Lernen
kontrollierter Adoptionsstudien konnte gezeigt
Lerncoach
werden, dass unabhängig vom gelernten Konsum-
Im folgenden Kapitel werden Ihnen verschiedene Lernmodelle vorgestellt. Beim Lesen kann es verwirrend sein, dass manche Begriffe, wie z. B. Extinktion oder Reizgeneralisation, bei verschiedenen Lernmodellen in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet werden. Es erleichtert das Verständnis, wenn Sie genau beachten, was der Begriff im Zusammenhang mit der speziellen Lernform bedeutet und wie er definiert ist.
verhalten, Söhne von Alkoholikern ein größeres Risiko haben, ebenfalls alkoholabhängig zu werden. Für diese erhöhte Vulnerabilität gibt es ein Korrelat auf molekularer Ebene. Das D2-Gen, das Information zu einem Dopamin-Rezeptor codiert, scheint mit Alkoholismus im Zusammenhang zu stehen (Uhl, Perscio, Smith, 1992). Über dieses Gen wird vermutlich eine erhöhte Alkoholtoleranz vererbt, die das Risiko einer Abhängigkeit wahrscheinlich durch das Ausbleiben aversiver Konsequenzen
91
selbst bei hohem Alkoholkonsum fördert.
4.2.1 Der Überblick 4.1.8 Klinische Bezüge Der Fall H. M.
Während das vorangegangene Kapitel das angeborene menschliche Verhalten behandelte, geht es
Frühe Hinweise auf die Rolle des Hippocampus bei
nun um Verhaltensweisen, die im Laufe der indivi-
der Encodierung (Einspeicherung) neuer Gedächt-
duellen Lebensgeschichte erworben werden. Ler-
nisinhalte gehen unter anderem auf den Fall H. M.
nen bedeutet in der Psychologie die Änderung von
zurück. An diesem Patient wurde aufgrund medika-
Verhaltensmöglichkeiten, die auf Erfahrungen des
mentös nicht behandelbarer, starker epileptische
Organismus zurückgehen. Man unterscheidet fol-
Krämpfe eine beidseitige Entfernung (bilaterale Re-
gende Lernformen :
sektion) der medialen Temporallappen durchgeführt. H. M. erlitt durch diese Operation eine ante-
klassisches Konditionieren operantes Konditionieren
rograde Gedächtnisstörung (anterograde Amnesie),
Lernen am Modell
das heißt seine Fähigkeit zur Einspeicherung neuer
Lernen durch Eigensteuerung
Gedächtnisinhalte war langfristig nach der Opera-
Lernen durch Einsicht
tion gestört. Die bereits im Langzeitgedächtnis vor-
Habituation und Sensitivierung (nicht-assozia-
handenen Inhalte waren jedoch weiterhin abrufbar.
tives Lernen)
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen Die Anwendung der Lerntheorien findet Ausdruck in Verhaltensanalyse und Verhaltensmodifikation (s. u.).
Vielen Studierenden fällt die Unterscheidung von klassischem und operantem Konditionieren schwer. Beide Lernformen beruhen auf Assoziationen von Variablen (Reizen, Verhalten und Konsequenzen). Die Unterscheidung ist leichter, wenn Sie sich genau klarmachen, was womit assoziiert wird.
Tabelle 4.2 Die Begriffe des klassischen Konditionierens AbBegriff kürzung
Übersetzung
UCS
unconditioned stimulus
unkonditionierter Reiz (unbedingter Reiz)
UCR
unconditioned reaction
unkonditionierte Reaktion (unbedingte Reaktion)
NS
neutral stimulus
neutraler Stimulus
CS
conditioned stimulus
konditionierter Reiz (bedingter Reiz)
CR
conditioned reaction
konditionierte Reaktion (bedingte Reaktion)
4.2.2 Das klassische Konditionieren Auf das Prinzip des klassischen Konditionierens ist man eher zufällig gestoßen. Der russische Physio-
eines Stimulus. Man spricht auch von Signallernen.
loge Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) beab-
Da das gezeigte Verhalten immer eine Reaktion
sichtigte ursprünglich Aussagen über das Verdau-
(„response“) auf einen Reiz ist, nennt man es auch
ungssystem von Hunden zu gewinnen. Er maß die Speichelsekretion bei Futtergabe. Hierbei beobach-
respondentes Verhalten.
tete er, dass die Hunde nach einiger Zeit auch auf
Ein Beispiel einer klassischen Konditionierung
einen ursprünglich neutralen Reiz (Stimulus), wie
Bei intensiverer experimenteller Untersuchung
das Näherkommen des Versuchsleiters, mit Spei-
stellte Pawlow eine Reiz-Reaktionsverbindung mit
chelfluss reagierten, und zwar noch bevor dieser
einem Glockenton her. Zunächst kontrollierte er,
sie mit Fleischpulver fütterte. Die enge zeitliche As-
ob der unkonditionierte Stimulus Futter (UCS) die
soziation zweier Ereignisse (Anblick des Versuchs-
unkonditionierte
leiters und Futter) führt dazu, dass auf beide die gleiche Reaktion gezeigt wird. Beim klassischen
auch tatsächlich auslöst. Außerdem sollte der neutrale Reiz Glockenton (NS) allein dargeboten nur zu
Konditionieren wird also durch die Assoziation
einer Orientierungsreaktion (OR), also zu einer Hin-
zweier Reize eine Verknüpfung von Reiz und Reak-
wendung zum Reiz führen. Während der anschlie-
tion hergestellt.
ßenden Konditionierungsphase wird der NS wie-
Reaktion
Speichelfluss
(UCR)
derholt mit dem UCS gepaart. So ertönt immer ein
Die Definition und die Grundbegriffe des klassischen Konditionierens
Glockenton kurz bevor der Hund gefüttert wird.
Die klassische Konditionierung ist immer an einen angeborenen unbedingten Reflex, wie zum Beispiel
wird der ursprünglich NS zum konditionierten Stimulus (CS): Speichelfluss tritt schon allein beim
die Speichelabsonderung bei Futtergabe, gebunden.
Glockenton auf. Die Reaktion auf den CS wird nun
Den reflexauslösenden Reiz bezeichnet man als
als konditionierte Reaktion (CR) bezeichnet.
unkonditionierten Stimulus (UCS, s. u.), die darauf folgende Reaktion als unkonditionierte Reaktion (UCR). Kündigt nun ein neutraler Reiz (NS) mehrmals den unkonditionierten Stimulus an, gewinnt er Signalcharakter und löst die Reaktion nun ebenfalls aus. Er wird zum konditionierten Reiz (CS) für die nun konditionierte Reaktion (CR) des Speichelflusses (Tab. 4.2). Beim klassischen Konditionieren wird also keine neue Reaktion gelernt, sondern die Signalwirkung
Wird diese Verknüpfung mehrmals wiederholt,
Das Interstimulusintervall Die Konditionierungserfolge hängen von der Reihenfolge der Reize und dem Zeitraum zwischen Einsetzen des NS und dem UCS ab (Interstimulusintervall). Die deutlichsten Lerneffekte werden erzielt, wenn der NS zeitlich kurz vor dem UCS dargeboten wird. Die Wahl des günstigsten Interstimulusintervalls hängt von der Art der Reaktion ab (z. B. Lidschlagreaktion: einige Millisekunden, Speichelfluss: mehrere Sekunden).
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen Die Extinktion (Löschung) beim klassischen Konditionieren
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Die Konditionierung höherer Ordnung
Ein Reiz verliert seine Signalwirkung, wenn der CS
Von Konditionierung höherer Ordnung spricht man, wenn mehrere CS aneinandergereiht werden
wiederholt ohne den UCS dargeboten wird: Der
können, die dann ebenfalls die CR auslösen. Am
Hund lernt, dass auf den Glockenton kein Futter
Beispiel des Pawlowschen Hundes wäre Speichel-
mehr folgt. Die Assoziation zwischen den beiden
fluss als Reaktion auf den Glockenton eine Kon-
Reizen wird wieder aufgehoben. Die Reaktion auf
ditionierung erster Ordnung. Assoziiert man nun
den CS lässt mehr und mehr nach, bis sie schließ-
den Ton mit einem anderen Stimulus, zum Beispiel
lich ganz unterbleibt. In Tab. 4.3 sind die Grund-
mit einem Lichtreiz, so fungiert dieser Reiz als Sig-
begriffe des klassischen Konditionierens anhand des Beispiels zusammengefasst.
nal für den Ton. Löst nun schon der Lichtreiz die Reaktion des Speichelflusses aus, hat eine Konditionierung zweiter Ordnung stattgefunden.
Tabelle 4.3 Die Begriffe des klassischen Konditionierens anhand des Glockenton-Beispiels Kontrolle UCS (Futter)
p UCR (Speichelfluss)
NS (Ton)
p OR
Konditionierung (NS wiederholt mit UCS) CS (Ton)
p CR (Speichelfluss)
Löschung (CS wiederholt ohne UCS) CS
Merke Einfache Konditionierung ist an biologisch relevante Reize gebunden. Eine Konditionierung höherer Ordnung basiert hingegen auf bereits erlernten Reizen. Mit ihr kann eine größere Bandbreite von Verhalten erklärt werden.
Die Konditionierung von Furcht Ein Beispiel für einen klassischen Konditionie-
p keine CR
rungsvorgang ist das Erlernen von Furcht. Furcht ist an und für sich eine natürliche und nützliche Reaktion auf bedrohliche Reize. Sie verliert aber
Die Reizgeneralisation und die Reizdiskrimination Reizgeneralisation: Eine konditionierte Reaktion kann auch durch Stimuli ausgelöst werden, die dem CS ähnlich sind. So könnte auch ein dem Glockenton in Intensität oder Qualität ähnlicher Ton die CR auslösen, auch wenn er selbst nie mit dem UCS gepaart wurde. Reizdiskrimination: Zu Beginn von Konditionierungsvorgängen ist eine Generalisation von Vorteil, um sicherzustellen, dass auf den relevanten Reiz auf jeden Fall reagiert wird. Macht der Organismus jedoch die Erfahrung, dass nur ein ganz bestimmter Reiz ein Signal darstellt, lernt er ihn von ähnlichen Stimuli zu unterscheiden. Er reagiert dann zum Beispiel nur auf einen 1000-Hertz-Ton und nicht mehr auf Töne anderer Intensität.
Unterscheide: Reizgeneralisation ist eine Verallgemeinerung auf Reize, die dem CS ähnlich sind. Sie lösen dann die CR ebenfalls aus. Reizdiskrimination bedeutet eine Unterscheidung des CS von ähnlichen Reizen. Sie können die CR nicht auslösen.
ihre Funktionalität und verursacht Leidensdruck, wenn sie an ungefährliche Stimuli geknüpft wird. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Konditionierung des Kleinkindes Albert („Little Albert“). Watson & Raynor (1920) beobachteten in einer aus ethischen Gesichtspunkten fragwürdigen Untersuchung, dass Albert gerne mit einer weißen Ratte spielte, auf einen lauten Gongschlag jedoch mit starker Furcht reagierte (weinen, davonkrabbeln). Die Versuchsleiter ließen jedesmal, wenn Albert mit dem Tier (NS) zu spielen begann, einen lauten Gong (UCS) ertönen, worauf das Kind mit Furcht (UCR) reagierte. Schon nach wenigen Durchgängen reichte allein der Anblick der Ratte (jetzt CS) aus, um die emotionale Notlage (jetzt CR) auszulösen. Albert fürchtete sich zudem nicht nur vor der weißen Ratte, sondern auch vor ähnlichen Stimuli, wie einem Kaninchen oder anderen pelzigen Objekten, es fand also eine Reizgeneralisation statt. Konditionierte
Furcht
erweist
sich
als
sehr
löschungsresistent, vor allem bei intensiver UCR. So zeigen Kriegsveteranen noch Jahre nach ihren Kriegserlebnissen starke emotionale Reaktionen
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen auf Stimuli wie Gefechtslärm oder Alarmglocken,
tive Verstärker sein. Ein Kind könnte dafür,
die einst drohende Lebensgefahr ankündigten.
dass es sein Zimmer aufräumt, mit der Erlaubnis, fahrradfahren zu dürfen, belohnt werden.
4.2.3 Das operante Konditionieren
Eine Aktivität, die vom Organismus positiv be-
Während der Lernprozess beim klassischen Kon-
wertet wird, kann also als Verstärker für eine
ditionieren durch eine Assoziation zwischen zwei
weniger wahrscheinliche Aktivität dienen. Die-
Reizen stattfindet, besteht er beim operanten Kon-
ses Prinzip heißt nach seinem Entdecker David
ditionieren in einer Kopplung von Reaktionen und
Premack das „Premack-Prinzip“. Negative Verstärkung meint ein „Entfernen“ von unangenehmen Reizen. Wehrt sich ein Kind mit Händen und Füßen gegen eine zahnärztliche Behandlung und wird diese daraufhin abgebrochen, wird das Verhalten des Kindes negativ verstärkt. Es ist wahrscheinlich, dass das Kind auch in Zukunft die gleichen „erfolgreichen“ Verhaltensweisen zeigt.
ihren Konsequenzen. Das Verhalten ist nicht die Folge eines vorangehenden Reizes, sondern tritt ursprünglich zufällig auf (emittiertes Verhalten). Durch die Konsequenzen des Verhaltens wird zukünftiges beeinflusst (operantes Verhalten). Operantes Konditionieren wird auch als Lernen am
Erfolg oder Belohnungslernen bezeichnet.
Die Definitionen und die Grundbegriffe des operanten Konditionierens Das Gesetz der Wirkung Thorndikes „Gesetz der Wirkung“ (1913) besagt,
Beachte Eine Verstärkung erhöht die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten.
dass Reaktionen, die zu befriedigenden Konsequenzen führen, verstärkt und so mit größerer Wahrscheinlichkeit wiederholt werden. Reaktionen, die unbefriedigende Folgen haben, werden hingegen geschwächt und treten mit geringerer Wahrscheinlichkeit wieder auf: Menschen und auch Tiere lernen aus den (Er-) Folgen ihres Verhaltens.
Die Skinnerbox
Zur Verstärkung können primäre und sekundäre Verstärker eingesetzt werden: Primäre Verstärker befriedigen elementare biologische Bedürfnisse. Beispiele sind Nahrung, Schlaf und Ruhe. Sekundäre Verstärker sind gelernte Verstärker (auch: konditionierte Verstärker). Beispiele sind Geld und soziale Anerkennung.
Mit dem operanten Konditionieren ist der Name Skinner unweigerlich verknüpft. Die häufig zitierte
Die Bestrafung
„Skinnerbox“ ist eine Apparatur für Tierexperimente, bei der durch die Betätigung eines Hebels eine Futterpille in den Käfig fällt. Drückt nun ein Versuchstier, meistens eine Ratte, zufällig den Hebel hinunter, wird es für dieses Verhalten mit einer Futterpille belohnt. Das Hebeldrücken der Ratte wird verstärkt und die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens erhöht.
Die Bestrafung ist der Verstärkung entgegengesetzt. Erhalten die Ratten in der Skinnerbox jedesmal, wenn sie den Hebel drücken einen Schmerzreiz durch ein unter Strom gesetztes Bodengitter, wird das Hebeldrücken nach kurzer Zeit unterlassen. Eine Bestrafung führt dazu, dass das Verhalten mit geringerer Wahrscheinlichkeit wieder auftritt. Man unterscheidet zwischen positiver und negativer Bestrafung:
Die Verstärkung
Bei positiver Bestrafung wird ein aversiver Reiz
Man unterscheidet zwischen positiver und negativer Verstärkung:
hinzugefügt. Beispiele sind Schmerzreize oder eine Moralpredigt bei unerwünschtem Verhal-
Positive Verstärkung meint ein „Hinzugeben“
ten.
von positiven Konsequenzen. Beispiele für posi-
Bei negativer Bestrafung wird ein angenehmer
tive Verstärker sind Futterpillen beim Tier oder Lob und Zuwendung für erwünschtes Verhalten beim Menschen. Auch Aktivitäten können posi-
Reiz entfernt: Kindern wird das Taschengeld gestrichen oder das geliebte Fahrrad weggeschlossen. Freiheitsentzug durch eine Gefängnisstrafe
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen ist eine anerkannte gesellschaftliche Bestra-
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Die Extinktion
fungsmaßnahme. Durch Bestrafung erworbenes Verhalten ist weni-
Extinktion im Sinne des operanten Konditionierens bezeichnet die Löschung von Verhalten, indem die
ger stabil als durch Verstärkung erlerntes.
Kontingenz zwischen Verhalten und Konsequenz aufgelöst wird. Wird das Verhalten nicht mehr ver-
Beachte Eine Bestrafung verringert die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhalten.
stärkt, bleibt es aus.
Die Reizgeneralisation und die Reizdiskrimination Einige Verhaltensweisen haben nur unter ganz be-
Tab. 4.4 fasst die genannten Formen der Bestrafung
und Verstärkung noch einmal zusammen.
stimmten Umweltbedingungen Erfolgsaussichten, andere lassen sich auch auf ähnliche Umweltkonstellationen übertragen. Der Organismus lernt an
Tabelle 4.4 Die Formen der Verstärkung und Bestrafung positive Verstärkung + positive Konsequenzen
Verhaltenswahrscheinlichkeit wird erhöht
negative Verstärkung – negative Konsequenzen positive Bestrafung + negative Konsequenzen
bestimmten Hinweisreizen der Situation zu unterscheiden, in welchen Situationen sein Verhalten zum Erfolg führt und in welchen nicht.
Reizgeneralisation ist eine Übertragung des gelernten Verhaltens auf andere Situationen. Verhaltenswahrscheinlichkeit wird gesenkt
negative Bestrafung – positive Konsequenzen Anmerkung: + bedeutet Hinzufügen und – bedeutet Wegnehmen von Konsequenzen
Reizdiskrimination beim operanten Konditionieren bedeutet, dass das belohnte Verhalten nur bei ganz speziellen Gegebenheiten gezeigt wird.
Das Shaping
Hund, der jedesmal ein Leckerchen erhält, wenn
Als Shaping bezeichnet man das stufenweise Erlernen von komplexen Verhaltensweisen durch die Belohnung von Teilsequenzen: Skinner ist es gelungen, Tauben das Ping-Pong-Spielen beizubringen, indem er stufenweise die Annäherung an die erwünschte Verhaltensweise belohnte. So verstärkte er die Tauben zunächst, wenn sie in Richtung des Schlägers pickten, dann, wenn sie ihn mit dem Schnabel aufnahmen, wenn sie mit ihm eine bestimmte Bewegung ausführten, usw., bis sie schließlich den Ball trafen.
er auf seinen Namen hört, wird sehr schnell lernen zu gehorchen. Bei intermittierender Verstärkung
Das Prompting
(partielle Verstärkung) wird nur jede X-te Reaktion
Unter Prompting versteht man zusätzliche Hilfe-
(Quotenverstärkung) oder nach einem festgelegten
stellungen durch das Anstoßen von Verhaltenswei-
Die Verstärkerpläne Um Verhalten zu erlernen, muss eine Kontingenz, das heißt eine konsistente Beziehung zwischen dem Verhalten und seinen Konsequenzen bestehen. Sogenannte Verstärkerpläne legen fest, wie regelmäßig Verhalten verstärkt wird: Bei kontinuierlicher Verstärkung wird jede Reaktion verstärkt. Dieser Lernvorgang ermöglicht einen schnellen Aufbau von Verhalten. Beispiel: Ein
Zeitintervall (Intervallverstärkung) verstärkt. Sie
sen von außen. Schafft es beispielsweise ein Klient
bietet sich an, wenn das Verhalten löschungsresis-
aufgrund pathologischer Angst vor Verseuchung
tent sein soll.
nicht, eine Türklinke anzufassen, kann ihm die
Besonders stabil ist Verhalten, das durch eine vari-
Hand geführt werden. Das Verhalten wird durch
able Quoten- oder Intervallverstärkung erlernt wurde. Hierbei wird unregelmäßig zum Beispiel mal die dritte und mal die fünfte Reaktion belohnt. Soll also ein Hund schnell und auf Dauer lernen zu gehorchen, kann mit kontinuierlicher Verstärkung begonnen werden, die dann in eine variable intermittierende Verstärkung übergeht.
den Therapeuten zusätzlich unterstützt.
Die neurobiologischen Grundlagen der Verstärkung Olds & Milner fanden 1953 neuronale Substrate für Belohnung im medialen Vorderhirnbündel des Rattenhirns. Das mediale Vorderhirnbündel ist die
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen große aufsteigende Dopaminbahn des Säugerhirns.
Albert Bandura untersuchte in Experimenten den
Die Versuchstiere konnten sich selbst durch einen Hebeldruck kurze Stromstöße in bestimmte Hirn-
Erwerb aggressiven Verhaltens. Kinder, die Erwachsene beim Malträtieren einer Plastikpuppe beob-
regionen verabreichen. Ziel solcher Untersuchun-
achteten, ahmten während des Experiments häufi-
gen zur intrakraniellen Selbstreizung war die Iden-
ger ähnliche aggressive Verhaltensweisen nach als
tifikation von Gehirnregionen, deren Stimulation
eine Kontrollgruppe, denen man kein aggressives
besonders belohnenden Charakter hatten. Die
Modell vorgab (Bandura et al., 1963).
Selbststimulierungsraten in den Bereichen des Sep-
Nicht nur komplexe motorische Verhaltensweisen,
tums und lateralen Hypothalamus (in der Region des medialen Vorderhirnbündels) waren besonders hoch: Die Ratten verabreichten sich hier selbst einige tausend Reize pro Stunde. Von den dopaminergen Faserzügen, an denen die intrakranielle Selbststimulation auslösbar ist, scheint besonders das mesolimbische dopaminerge System von Bedeutung. Diese Dopaminbahn entspringt in der Region des ventralen Tegmentums (Mittelhirn) und zieht zum Nucleus accumbens (Zwischenhirn). Das System ist für die Selbststimulation wie auch für die belohnenden Eigenschaften von natürlichen Reizen wie Futter oder Wasser entscheidend. Beim Menschen ließ sich nachweisen, dass der Nucleus accumbens als Teil des mesolimbischen Dopaminsystems an der belohnenden Wirkung von Drogen beteiligt ist.
sondern auch Einstellungen, Normen und sogar
Merke Im Gehirn lassen sich neurobiologische Substrate für die Verstärkung von Verhalten finden. Besonders das dopaminerge System spielt bei der körpereigenen Verstärkung eine wichtige Rolle.
4.2.4 Das Lernen am Modell Das Lernen am Modell wird auch als Beobachtungslernen, Modell-Lernen oder Nachahmungslernen bezeichnet. Durch die Beobachtung des Verhaltens anderer und dessen Konsequenzen werden komplexe Verhaltensweisen imitiert und so erlernt. Eine direkte Verstärkung oder Bestrafung des eigenen Verhaltens ist nicht nötig. Es genügt, wenn stellvertretend das Modell Konsequenzen erfährt (stellvertretende Verstärkung bzw. Bestrafung). Durch Beobachtungslernen können komplexe pround antisoziale Verhaltensmuster erklärt werden, deren Erwerb durch operantes Konditionieren sehr umständlich und zeitaufwendig wäre.
Emotionen werden über Modelle erlernt. Kinder können sich zum Beispiel die Angst vor Spinnen von einem verängstigten Elternteil abgucken. Modelle aus der Familie, Freunde oder auch Fernsehstars beeinflussen das eigene Verhalten. Dies geschieht mit größerer Wahrscheinlichkeit, wenn das Modell beliebt ist und für sein Verhalten verstärkt wird. Grundsätzlich unterscheidet man den Prozess der Verhaltensaneignung (Akquisition) und der Verhaltensäußerung (Performanz): Bei der Akquisition wird Verhalten beobachtet und zusammen mit seinen Konsequenzen im Gedächtnis gespeichert. Das Verhalten muss jedoch nicht sofort geäußert werden, es kann sich erst bei passender Gelegenheit zeigen (Performanz) oder aber auch ganz ausbleiben. Beim Modell-Lernen entsprechen die Prinzipien der Bestrafung und Verstärkung denen des operanten Konditionierens, hinzu kommt eine Ergänzung durch kognitive Variablen: Die Aufmerksamkeit muss auf Merkmale des Modells gerichtet werden, das Beobachtete muss eingeprägt und zur richtigen Zeit erinnert werden. Erwartungen werden gebildet. Hinzu kommt, dass der Mensch motiviert sein muss, das Verhalten zu zeigen und die Fähigkeit besitzt, es auch auszuführen. Bandura (1977) geht mit seiner sozialen Lerntheorie weit über die rein behavioristische Sichtweise hinaus, die besagt, dass Verhalten allein durch Umweltreize determiniert ist: Faktoren der Person, ihr Verhalten und Umwelteinflüsse wirken zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Nach Bandura besitzt der Mensch die Kontrolle über sein Verhalten und kann es selbst steuern.
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen 4.2.5 Das Lernen durch Eigensteuerung
Beispiel: Fährt man jahrelang ein Fahrrad mit
Bandura beschreibt in drei Schritten, wie die Fremdkontrolle menschlichen Verhaltens in eine
Rücktrittbremse und wechselt dann auf ein anderes, wird das gelernte Verhalten (Bremsen durch
Eigensteuerung (Selbststeuerung, -kontrolle) über-
Rücktritt) zum Erfolg führen, vorausgesetzt, es han-
geht.
delt sich ebenfalls um ein Fahrrad mit Rücktritt-
Verhaltensweisen von Modellen werden über-
bremse. Besitzt das neue Rad nur Felgenbremsen,
nommen (Modell-Lernen)
ist das „Rücktreten“ jedoch nutzlos. Die Anwen-
durch die Verstärkung oder Bestrafung des eige-
dung des einmal Gelernten bleibt nicht nur erfolg-
nen Verhaltens werden die Bedingungen präzi-
los, sondern verhindert zudem, dass eine adäqua-
siert, unter denen es angebracht oder unangebracht ist
tere Problemlösung gezeigt wird. Wäre die Information, dass der Rücktritt zum Anhalten führt,
es bilden sich feste Erwartungen heraus, die
gar nicht vorhanden, würde man vielleicht auf die
zukünftiges Verhalten bestimmen.
Idee kommen, die Felgenbremse zu ziehen, anstatt
Äußere Belohnung und Bestrafung werden durch
97
mehrmals ins Leere zu treten.
Selbstverstärkung und -bestrafung abgelöst. Durch die Bewertung des eigenen Verhaltens werden zum Beispiel Stolz, Zufriedenheit und Wohlbefinden oder aber Scham- und Schuldgefühle erlebt.
4.2.7 Die Habituation, die Dishabituation und die Sensitivierung Die Habituation Definiert man Lernen ganz allgemein als eine Ver-
Beim Lernen durch Eigensteuerung dienen die Be-
haltensänderung, die aufgrund von Erfahrungen
wertungen des eigenen Verhaltens als Verstärkung
des Organismus zustandekommt, müssen kon-
oder Bestrafung.
sequenterweise auch elementare Verhaltensänderungen wie Habituation und Sensitivierung als
4.2.6 Das Lernen durch Einsicht und der Lerntransfer Charakteristisch für das Lernen durch Einsicht ist, dass die Lösung wie durch einen Geistesblitz plötzlich gefunden wird („Aha-Erlebnis“) und das zum Ziel führende Verhalten flüssig hintereinander durchgeführt wird. Lernen durch Einsicht ist eine
kognitive Lernform : Durch das Erkennen von Ursache-Wirkungszusammenhängen wird eine neue Lösung gefunden, die später auf ähnliche Situationen übertragen werden kann. Die Übertragung von gelerntem Verhalten oder Problemlösungen auf andere Situationen bezeichnet man auch als Lerntransfer. Der Lerntransfer kann je nach Beschaffenheit der neuen Situation nützlich oder nutzlos sein oder sogar einer angemesseneren Problemlösung im Wege stehen. Bei einem positiven Lerntransfer wird ein bereits gelernter Sachverhalt auf ein anderes Problem erfolgreich angewandt. Bei einem negativem Lerntransfer eignet sich der gelernte Sachverhalt nicht als Problemlösung für die Situation, auf die er übertragen wird.
Lernen bezeichnet werden. Habituation ist ein Nachlassen der Reaktionsintensität bei wiederholter Darbietung eines Reizes. Habituation findet sich bereits bei wenig entwickelten Lebewesen, z. B. bei der großen Meeresschnecke Aplysia. Wird das Saugrohr (Siphon) der Schnecke, mit dem sie Meerwasser auszustoßen pflegt, berührt, kommt es zum Kiemenrückziehreflex: Siphon und Kieme werden reflektorisch eingezogen. Bei wiederholter taktiler Stimulation des Siphons wird die Reaktion immer schwächer, bis sie schließlich ganz verschwindet. Diese Gewöhnung an einen wiederkehrenden Reiz bezeichnet mal als Habituation. Erst die Habituation ermöglicht, dass unveränderte Reize aus dem Bewusstsein ausgeblendet werden können und verhindert so, dass bekannten Reizen zuviel Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. So nehmen Menschen die taktilen Reize durch ihre Kleidung nicht ständig bewusst wahr, Kontaktlinsenträger nicht mehr den Fremdkörper im Auge. Habituation an Schmerzen gelingt jedoch nicht. Eine Gewöhnung an Reize, die dem Organismus schaden, wäre für sein Überleben äußerst dysfunktional.
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen Beachte Von der Habituation sind folgende Begriffe abzugrenzen: Extinktion: Nachlassen der Intensität oder der Häufigkeit von Reaktionen, die durch klassisches oder operantes Konditionieren erworben wurden Adaptation: Anpassung an kontinuierlich dargebotene Reize, indem die Reizschwelle eines Sinnesorgans erhöht wird (s. S. 19).
Reifungsvorgänge. Sie sind durch Erbanlagen determiniert (s. S. 146).
Die Dishabituation
erwiesen. Im Folgenden dient eine spezifische Pho-
4.2.8 Die Anwendung der Lerntheorien: Verhaltensanalyse und Verhaltensmodifikation Die Verhaltenstherapie wendet Erkenntnisse der experimentellen Psychologie (überwiegend der Lernpsychologie) bei der Therapie psychischer Störungen unmittelbar an. Besonders bei der Therapie von Angststörungen hat sie sich als sehr effektiv
Die Wiederholung gleicher Reize führt zu einer Ha-
bie als Beispiel (eine spezifische Phobie ist eine
bituation. Wird jedoch in die Reihe gleicher Reize
starke, anhaltende und irrationale Angst vor be-
ein andersartiger eingestreut, wird die ursprüng-
stimmten Objekten oder Situationen; zum Beispiel
liche Reaktion wieder hergestellt. Dishabituation
Furcht vor Tieren, vor Gewitter oder Zahnbehand-
meint ein Wiederauftreten der Reaktion nach Habi-
lung). An der Phobie wird das lerntheoretische Er-
tuation. Man könnte sie auch als „Entwöhnung“ nach einer „Gewöhnung“ bezeichnen.
klärungsmodell und die verhaltenstherapeutische Methode der Konfrontation dargestellt.
Die Sensibilisierung (Sensitivierung)
Die Entstehung von Angst
Sensibilisierung ist eine Zunahme der Reaktionsintensität auf Reize nach einem schädigenden Reiz. Tritt ein schädigender Reiz auf, wie z. B. ein Wasserstrahl auf den Schwanz der Meeresschnecke, führen anschließend selbst leichte taktile Reize am Siphon zu extremen Reaktionen.
Anfang der 20er Jahre wurde der Fall eines Mädchens beschrieben, das durch klassische Konditionierung Angst vor fließendem Wasser erwarb: Es klemmte sich bei einem Spaziergang den Fuß in einer Felsspalte ein und konnte sich trotz großer Bemühungen nicht selbst befreien. Das Eingeklemmtsein (UCS) führte zu einer Angstreaktion
Beachte Eine Habituation führt zu einem Abschwächen der Reaktion, eine Sensibilisierung zu einer Verstärkung.
(UCR). So schrie das Kind um Hilfe und weinte. Gleichzeitig mit dem UCS trat ein anderer Stimulus (ursprünglich NS), nämlich das Geräusch fließenden Wassers auf, das von einem nahegelegenen Wasserfall stammte. Die Geschichte ging insofern
Die Habituation und die Sensitivierung als nicht-assoziative Lernformen
gut aus, als das Mädchen unverletzt befreit werden konnte. Jedoch zeigte es von da an bis ins Erwach-
Im Gegensatz zum klassischen und operanten Kon-
senenalter massive Angst (CR) vor dem Geräusch
ditionieren, bei denen Lernvorgänge auf zeitlichen
und Anblick fließenden Wassers (CS).
Assoziationen von Reizen bzw. von Reaktionen
Die Objekte, vor denen man sich zu fürchten lernt,
und Konsequenzen beruhen (assoziatives Lernen),
können theoretisch beliebig sein. Dennoch treten
stellen Habituation und Sensitivierung Verhaltens-
einige Phobien häufiger auf als andere. Menschen
änderungen aufgrund von Stimuli dar, die zeitlich
neigen eher dazu, sich vor Tieren, Dunkelheit oder
nicht miteinander assoziiert sind. Diese Art des Lernens bezeichnet man demnach auch als nicht-asso-
Krankheiten zu fürchten, als vor Möbelstücken oder Lichtreklamen. Eine behavioristisch-biologi-
ziatives Lernen.
sche Erklärung lautet, dass Menschen eine gewisse
Beachte Nicht alle Verhaltensänderungen beruhen auf Lernen. Vom Lernen abzugrenzen sind
Soares 1993) für das Erlernen bestimmter Ängste
biologische Bereitschaft („Preparedness“, Ohman & mitbringen, die eine Funktion erfüllen oder einst erfüllten.
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen Die Aufrechterhaltung von Angst
„consequence“; z. B. ein negativer Reiz tritt nicht
Wie beim klassischen Konditionieren erwähnt (s.o), wird eine Reiz-Reaktions-Verknüpfung wie im Falle
ein) gesammelt.
des Mädchens wieder aufgelöst, wenn der CS (Was-
Die Verhaltensmodifikation durch Konfrontation
ser) wiederholt ohne den UCS (Eingeklemmtsein)
Sind die Bedingungen der Angst genau diagnosti-
auftritt. Wie aber kann es dann sein, dass die
ziert, kann mit der Verhaltensmodifikation begon-
Angst des einst kleinen Mädchens jahrelang beste-
nen werden. Die Angst der Frau wird gelöscht,
hen blieb?
wenn sie sich wiederholt dem gefürchteten Objekt
Für das Beibehalten der Angst ist ein Vermeidungs-
aussetzt und dabei die Erfahrung macht, dass es
verhalten verantwortlich. Das Mädchen vermied nach dem Ereignis konsequent Situationen, in denen sie mit dem Stimulus „fließendes Wasser“ konfrontiert werden konnte. Sie sträubte sich beispielsweise, Landschaften zu betrachten, in denen ihr der Anblick von Flüssen „drohte“. Wird angstauslösenden Stimuli aus dem Wege gegangen, bleibt dem Organismus die Erfahrung vorenthalten, dass auf sie keine negativen Konsequenzen folgen. Die Angst wird also nicht verlernt und stabilisiert sich: Das Vermeidungsverhalten wird negativ verstärkt, da die unangenehme Angst nicht auftritt.
ihr nicht schadet. Die Löschung von Angst geschieht durch die Konfrontation mit angstauslösen-
99
den Reizen, die ohne negative Konsequenzen bleibt. Diese Idee wird in Konfrontationstherapien verwirklicht, zu denen die systematische Desensibilisierung und die Reizüberflutung zählen.
Systematische Desensibilisierung Als systematische Desensibilisierung wird ein von Josef Wolpe (1958) entwickeltes dreischrittiges Vorgehen bestehend aus Entspannungstraining, Angsthierarchie
und
Konfrontation
bezeichnet.
Wolpe ging davon aus, dass Entspannung und
Merke Für die Entstehung von Angst sind klassische Konditionierungsvorgänge verantwortlich, ihre Aufrechterhaltung erklärt sich durch operante Konditionierung.
Angst zwei miteinander inkompatible Reaktionen
Die Behandlung einer Phobie
Hilfe eines Entspannungstrainings wie der progres-
Die funktionale Verhaltensanalyse
siven Muskelrelaxation (Jacobson, 1938) wird auf
Würde sich die Frau mit der Phobie vor fließendem
bestimmte Hinweisreize körperliche Spannung ab-
Wasser an einen Verhaltenstherapeuten wenden,
gebaut. Der Patient lernt, sich immer dann zu ent-
wird dieser zunächst versuchen, detaillierte Infor-
spannen, wenn Angst auftritt.
mationen über die Entstehung und Verstärkung der Angst zu gewinnen. Er würde eine funktionale
Parallel zum Entspannungstraining stellt der Klient mit Unterstützung des Therapeuten eine Angsthie-
Verhaltensanalyse erstellen. Diese lehnt sich an
rarchie auf. Konkrete Situationen, die die phobische Reaktion auslösen, werden nach der Intensität ihrer Bedrohlichkeit in eine Rangfolge gebracht: Auf unterster Stufe der Hierarchie steht ein Ereignis, das nur geringfügig Angst auslöst. Bei der Phobikerin des vorangegangenen Beispiels könnte dies die Planung eines Tagesausflugs zu einem nahe gelegenen Wasserfall sein. Auf der nächsthöheren Ebene könnte sie angeben, eine Reisetasche zu packen und sich auf den Weg zu begeben. Weit oben in der Angsthierarchie könnte stehen, schon von weitem das Rauschen des Wassers zu hören. Vielleicht würde für sie das am meisten beängstigende Ereig-
sind. Lernt ein Mensch auf einen Stimulus mit Entspannung zu reagieren, kann er nicht gleichzeitig Angst empfinden. Dieses Prinzip der gegenseitigen Hemmung bezeichnet Wolpe als „reziproke Hem-
mung“ oder als „Gegenkonditionierung“. Mit
eine Verhaltensgleichung an, die auch als SORKC-
Modell bezeichnet wird. SORKC steht für „StimulusOrganismus-Reaktion-Kontingenz-Konsequenz“. Dabei werden Informationen über die Stimuli (S), die das Verhalten auslösen (z. B. Geräusch und Anblick von Wasser, Lautstärke), über den Organismus (O; Lerngeschichte der Reaktion, biologische Ausstattung), über die Art der Reaktion (R; motorische, verbale, physiologische Reaktionen), die Art der Verknüpfung von Reaktion und Konsequenz (Kontingenz K, wird jede Vermeidungsreaktion verstärkt?) und über die Natur der Konsequenzen (C =
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4 Theoretische Grundlagen Das Lernen nis darin bestehen, den Wasserfall zu erblicken und
Das Biofeedback
von dem Spritzwasser nass zu werden. Nachdem die Angsthierarchie erstellt wurde, be-
Eine weitere verhaltenstherapeutische Methode ist das Biofeedback (s. auch klinischer Fall). Hier wer-
ginnt die eigentliche Desensibilisierung. Der Klient
den dem Patienten körperliche Veränderungen
führt einen Entspannungszustand herbei und wird
(z. B. Hirnströme, Herzfrequenz oder Muskelspan-
mit dem Ereignis konfrontiert, das am wenigsten
nung), die ansonsten nicht so einfach wahrnehm-
Angst auslöst. Die Konfrontation kann allein in
bar sind, in Form optischer oder akustischer Reize
der Vorstellung stattfinden („in sensu“) oder aber
zurückgemeldet.
das Verhalten wird vom Patienten tatsächlich aus-
lernt der Patient, physiologische Vorgänge bewusst
geführt („in vivo“). Ist der Klient bei der Konfrontation mit dem Ereignis der ersten Hierarchiestufe
zu steuern. Biofeedbacksysteme werden häufig bei inadäquater
völlig entspannt, wird die nächsthöhere Stufe mit
muskulärer Spannung eingesetzt. Durch einen Elektromyographen (EMG) kann beispielsweise die Muskelspannung der Nacken- und Stirnmuskulatur gemessen werden und in ein für den Patienten leichter zu interpretierendes Signal umgewandelt werden. Häufig sind dies Balken, die je nach Aktivität der Muskulatur größer oder kleiner werden, oder Töne in unterschiedlicher Höhe. Ein Patient mit Spannungskopfschmerzen kann so lernen, willentlich seine Nackenmuskeln zu entspannen und so letztendlich die Entstehung von Kopfschmerzen verhindern. Gelingt dies im Labor, müssen die Lernerfahrungen auf Situationen außerhalb des Labors übertragen werden.
der Entspannungsreaktion verknüpft. Die Bedingung für ein Aufsteigen in der Hierarchie ist die völlige Angstfreiheit auf der darunterliegenden Ebene. Der Klient arbeitet mit Hilfe des Therapeuten über mehrere Sitzungen die Angsthierarchie ab, bis er schließlich auch das bedrohlichste Ereignis bewältigen kann.
Reizüberflutung Statt einer allmählichen Annäherung an das angstauslösende Objekt, stellt die Methode der Reizüberflutung eine sofortige intensive Konfrontation dar. Bei dieser Methode nach Stampfl (1975) wird der Klient mit angstauslösenden Stimuli „überflutet“ („Flooding“), damit er feststellen kann, dass von ihnen keine reale Bedrohung ausgeht. Hierbei sollen starke emotionale Reaktionen auftreten, auf eine Abstufung der Intensität oder auf Entspannung wird also verzichtet. Findet die Konfrontation in sensu statt, wird die angstauslösende Szene vom Therapeuten häufig stark übertrieben beschrieben (tosende Wassermassen, reißende Flüsse). Der Klient soll sich in die Situation hineinversetzen, die entstehende Angst aushalten und spüren, wie sie nachlässt. Bei einer in-vivo-Konfrontation würden sich Therapeut und Klientin sofort in eine sehr bedrohliche Situation (wie die auf der höchsten Stufe der Angsthierarchie) hineinbegeben.
Merke Konfrontation kann in kleinen Schritten (schrittweise Desensibilisierung) oder plötzlich und intensiv (Reizüberflutung) durchgeführt werden.
Durch
diese
Rückmeldungen
4.2.9 Klinische Bezüge Einige Beispiele für klassisches Konditionieren Die antizipatorische Übelkeit Bei Krebspatienten ließ sich als Ergebnis einer Konditionierung „antizipatorische Übelkeit“ beobachten. Medikamente, die im Rahmen einer Chemotherapie das Zellwachstum verhindern sollen (Zytostatika), führen zu den unerwünschten Nebenwirkungen Übelkeit und Erbrechen. In den Termini des Lernens fungieren die wiederholt verabreichten Medikamente als UCS und lösen die UCR Übelkeit aus. Mit der Verabreichung der Medikamente werden eine Reihe weiterer ursprünglich neutraler Reize (NS) gekoppelt, wie zum Beispiel der Krankenhausgeruch beim Betreten der Klinik oder der Anblick des Klinikgebäudes. Durch mehrmalige zeitliche Assoziation von NS und UCS wird der neutrale zum konditionierten Stimulus und löst die konditionierte Reaktion aus: Allein der Krankenhausgeruch oder das Betreten des Klinikgeländes genügt, um beim Patienten Übelkeit zu verursachen.
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition Die klassische Konditionierung von Immunfunktionen
101
Die Spielsucht – intermittierende Verstärkung
Aus der Psychoneuroimmunologie ist bekannt, dass
Das Prinzip der intermittierenden Verstärkung erklärt die Entwicklung und Aufrechterhaltung von
sich auch das Immunsystem klassisch konditionie-
Spielsucht. Die Auftretenswahrscheinlichkeit des
ren lässt, dies gilt sowohl für eine Abschwächung
Spielens erhöht sich, weil das Verhalten ab und
als auch für eine Steigerung der Immunreaktion.
zu durch einen Gewinn verstärkt wird.
Ein Beispiel für die Unterdrückung der Immunfunk-
Check-up
tion stammt von Ader und Cohen (1981). Sie paarten den UCS Zyklophosphamid, der als UCR eine
4
Immunsuppression nach sich zieht, mit einer saccharinhaltigen Lösung (NS). Sie injizierten
4
hierzu ihren Ratten mehrmals die immunsuppressive Substanz einige Minuten nachdem die Ratten die saccharinhaltige Flüssigkeit tranken. Die ursprünglich neutrale Lösung wurde zum CS für die Immunsuppression (CR): Provoziert man eine Immunantwort durch die Injektion von Antigenen, zeigen die konditionierten Ratten im Vergleich zu nicht konditionierten Kontrolltieren eine deutliche
4
Wiederholen Sie die Bedeutung der Begriffe UCS, UCR, NS, CS, CR. Machen Sie sich die Vorgänge des Erlernens von Verhalten nach den einzelnen Modellen noch einmal klar. Vergegenwärtigen Sie sich am Beispiel einer Spinnenphobie noch einmal die Schritte der systematischen Desensibilisierung.
4.3 Die Kognition
Reduktion der Anzahl von Antikörpern im Blut. Die Hemmung der Immunkompetenz kann auch im
Lerncoach
positiven Sinne in der Transplantationsmedizin ge-
Der Begriff „Kognition“ beinhaltet alle an der Informationsverarbeitung beteiligten Prozesse (z. B. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis). Für das Verständnis der kognitiven Psychologie ist es deshalb wichtig, die Funktionsweise der einzelnen Prozesse sowie ihr Ineinandergreifen zu verstehen.
nutzt werden. So können mit Hilfe der klassischen Konditionierung Abstoßungsreaktionen gegenüber körperfremden Geweben reduziert werden. Auch allergische Reaktionen sind konditionierbar. Ursprünglich harmlose Reize wie das Photo eines blühenden Nussbaums können allergische Reaktionen (z. B. Niesen) auslösen.
Einige Beispiele für operantes Konditionieren
4.3.1 Der Überblick
Die medikamentöse Schmerzbehandlung – negative Verstärkung
Die Kognitionspsychologie beschäftigt sich mit den
Ein Beispiel für negative Verstärkung ist das Nachlassen von Schmerzreizen durch die Einnahme von
des Gedächtnisses, der Konzeptbildung, der Informationsverarbeitung, des Problemlösens und der
Schmerzmedikamenten. Das Pillenschlucken wird
Sprache. Hier geht es jeweils um allgemeinpsycho-
negativ verstärkt und seine Auftretenswahrschein-
logische – also alle Menschen betreffende – Prozes-
lichkeit erhöht. Um eine Medikamentenabhängig-
se. Im zweiten Teil des Kapitels steht die Intelligenz
keit zum Beispiel bei chronischen Schmerzpatien-
im Mittelpunkt. Vielen Definitionen von Intelligenz
ten zu verhindern, ist es wichtig, diese Assoziation
ist gemeinsam, dass sie die Fähigkeit zur Pro-
zu vermeiden. Demnach wäre eine zeitkontingente
blemlösung durch Denkprozesse als wichtigste Ei-
(immer dann, wenn Schmerzen bereits aufgetreten sind) Verabreichung von Medikamenten einer
genschaft eines intelligenten Menschen ansehen. In der Psychologie wird die Intelligenz in die diffe-
schmerzkontingenten Gabe (nach einem bestimm-
renzielle Psychologie eingeordnet, in der Unterschiede zwischen Personen analysiert werden.
ten Zeitintervall) vorzuziehen.
Prozessen der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit,
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition Die klassische Konditionierung von Immunfunktionen
101
Die Spielsucht – intermittierende Verstärkung
Aus der Psychoneuroimmunologie ist bekannt, dass
Das Prinzip der intermittierenden Verstärkung erklärt die Entwicklung und Aufrechterhaltung von
sich auch das Immunsystem klassisch konditionie-
Spielsucht. Die Auftretenswahrscheinlichkeit des
ren lässt, dies gilt sowohl für eine Abschwächung
Spielens erhöht sich, weil das Verhalten ab und
als auch für eine Steigerung der Immunreaktion.
zu durch einen Gewinn verstärkt wird.
Ein Beispiel für die Unterdrückung der Immunfunk-
Check-up
tion stammt von Ader und Cohen (1981). Sie paarten den UCS Zyklophosphamid, der als UCR eine
4
Immunsuppression nach sich zieht, mit einer saccharinhaltigen Lösung (NS). Sie injizierten
4
hierzu ihren Ratten mehrmals die immunsuppressive Substanz einige Minuten nachdem die Ratten die saccharinhaltige Flüssigkeit tranken. Die ursprünglich neutrale Lösung wurde zum CS für die Immunsuppression (CR): Provoziert man eine Immunantwort durch die Injektion von Antigenen, zeigen die konditionierten Ratten im Vergleich zu nicht konditionierten Kontrolltieren eine deutliche
4
Wiederholen Sie die Bedeutung der Begriffe UCS, UCR, NS, CS, CR. Machen Sie sich die Vorgänge des Erlernens von Verhalten nach den einzelnen Modellen noch einmal klar. Vergegenwärtigen Sie sich am Beispiel einer Spinnenphobie noch einmal die Schritte der systematischen Desensibilisierung.
4.3 Die Kognition
Reduktion der Anzahl von Antikörpern im Blut. Die Hemmung der Immunkompetenz kann auch im
Lerncoach
positiven Sinne in der Transplantationsmedizin ge-
Der Begriff „Kognition“ beinhaltet alle an der Informationsverarbeitung beteiligten Prozesse (z. B. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis). Für das Verständnis der kognitiven Psychologie ist es deshalb wichtig, die Funktionsweise der einzelnen Prozesse sowie ihr Ineinandergreifen zu verstehen.
nutzt werden. So können mit Hilfe der klassischen Konditionierung Abstoßungsreaktionen gegenüber körperfremden Geweben reduziert werden. Auch allergische Reaktionen sind konditionierbar. Ursprünglich harmlose Reize wie das Photo eines blühenden Nussbaums können allergische Reaktionen (z. B. Niesen) auslösen.
Einige Beispiele für operantes Konditionieren
4.3.1 Der Überblick
Die medikamentöse Schmerzbehandlung – negative Verstärkung
Die Kognitionspsychologie beschäftigt sich mit den
Ein Beispiel für negative Verstärkung ist das Nachlassen von Schmerzreizen durch die Einnahme von
des Gedächtnisses, der Konzeptbildung, der Informationsverarbeitung, des Problemlösens und der
Schmerzmedikamenten. Das Pillenschlucken wird
Sprache. Hier geht es jeweils um allgemeinpsycho-
negativ verstärkt und seine Auftretenswahrschein-
logische – also alle Menschen betreffende – Prozes-
lichkeit erhöht. Um eine Medikamentenabhängig-
se. Im zweiten Teil des Kapitels steht die Intelligenz
keit zum Beispiel bei chronischen Schmerzpatien-
im Mittelpunkt. Vielen Definitionen von Intelligenz
ten zu verhindern, ist es wichtig, diese Assoziation
ist gemeinsam, dass sie die Fähigkeit zur Pro-
zu vermeiden. Demnach wäre eine zeitkontingente
blemlösung durch Denkprozesse als wichtigste Ei-
(immer dann, wenn Schmerzen bereits aufgetreten sind) Verabreichung von Medikamenten einer
genschaft eines intelligenten Menschen ansehen. In der Psychologie wird die Intelligenz in die diffe-
schmerzkontingenten Gabe (nach einem bestimm-
renzielle Psychologie eingeordnet, in der Unterschiede zwischen Personen analysiert werden.
ten Zeitintervall) vorzuziehen.
Prozessen der Wahrnehmung, der Aufmerksamkeit,
Aus J. Schüler u. F. Dietz: Kurzlehrbuch Med. Psychologie (ISBN 3-13-136421-1) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition 4.3.2 Ein Beispiel für kognitive Verarbeitung
mungsbildung wird als „Bottom-Up-Prozess“ be-
Das Ineinandergreifen der verschiedenen kognitiven Fähigkeiten wird deutlich, wenn Sie ihre mo-
zeichnet, da hier die einzelnen Reizeigenschaften aus der Umwelt zur Bildung einer mentalen Reprä-
mentane Tätigkeit, das Lesen dieses Textes, einmal
sentation sozusagen „ von unten nach oben“ zum
kognitionspsychologisch „sezieren“.
Gehirn weitergegeben werden. Dem gegenüber ste-
Zunächst müssen sie über ihr visuelles Wahrneh-
hen die „Top-Down-Prozesse“, bei der bereits vor-
mungssystem das schwarz-weiße Muster dieser
handenes Wissen über die Umwelt, Erwartungen,
Seite über die Retina und den Sehnerv in den visu-
aber auch die emotionale Stimmung und die Moti-
ellen Kortex (Okzipitallappen) leiten (Wahrneh-
vation des Individuums die Bildung der inneren Re-
mung). Damit die aufgenommene Information nicht sofort wieder zerfällt, benötigen sie Aufmerksamkeit. Klingelt gerade das Telefon, so ist es wahrscheinlich, dass sie nicht zu einer inhaltlichen Analyse der Sätze kommen, da diese nur durch bewusste Konzentration auf die jeweilige Information ablaufen kann. Ist Ihre Aufmerksamkeit auf den Text gerichtet, wird es Ihnen leicht fallen, aus dem Buchstabenmuster einen Inhalt zu konstruieren. An dieser semantischen Analyse sind Prozesse des Sprachverstehens beteiligt. Wenn Sie das Gelesene beispielsweise mit Ihrem bisherigen Wissen über das menschliche Denken vergleichen, haben Sie bereits mit der Informationsverarbeitung begonnen. Je intensiver sie die aufgenommenen Informationen elaborieren, desto wahrscheinlicher ist eine Aufnahme ins Langzeitgedächtnis. Die in diesem Kapitel folgenden Informationen sollten zu einer Konzeptbildung für den Begriff der Kognition beitragen, bzw. das vorhandene Konzept erweitern oder bestätigen, sodass nach dem Lesen des Abschnitts eine Art Eintrag zur „Kognition“ in Ihrem mentalen Lexikon vorhanden ist, dessen Inhalt Sie bei Bedarf aus dem Gedächtnis abrufen können. Und zum Problem lösen steht der „Check-up“ am Ende des Kapitels bereit.
präsentation beeinflussen. Bei der Betrachtung eines impressionistischen Gemäldes kann man die
4.3.3 Die Wahrnehmung Mit Wahrnehmung wird der Vorgang der Reizauf-
nahme, aber auch deren Ergebnis bezeichnet. Man kann den Prozess der Wahrnehmung in die sensori-
verschiedenen Funktionsweisen gut voneinander trennen: während man beim nahen Herantreten an die Leinwand lediglich ein wildes Muster bunter Striche sieht (Bottom-Up), kann man aus der Distanz eine darüber liegende Szene bzw. die Gestalt von Objekten (Top-Down) ausmachen. Das Erkennen dieser Objekte setzt jedoch voraus, dass man bereits eine mentale Repräsentation (inneres Abbild) der Gegenstände oder Figuren hat, mit dem man das neue „Muster“ vergleichen kann. Je nachdem, was man auf dem Bild zu finden erwartet, kann auch die Interpretation der Szene oder des Gegenstandes unterschiedlich ausfallen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Wahrnehmung mehr ist als ein passives Aufnehmen von Reizen. Bereits die Reizauswahl, aber besonders die Kategorisierung und Interpretation der Information stellt einen aktiven und konstruierenden Prozess dar. Ein Begriff, der häufig mit der Wahrnehmung in Verbindung gebracht wird, ist die Wahrnehmungs-
abwehr. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, dass in der Psychoanalyse beschrieben wird und die meist unbewusste Ausblendung von angstbesetzten Ereignissen meint. Dieser Effekt lässt sich auch in Reaktionszeitexperimenten nachweisen, in denen Versuchspersonen Wörter benennen müssen. Im Durchschnitt sind die Reaktionszeiten für negativ besetzte Wörter (Tod, Verbrechen, etc.) höher als für neutrale Wörter.
sche Empfindung (Umwandlung physikalischer Energie in neurale Aktivität), die Bildung einer inneren Repräsentation (Perzeption des äußeren Rei-
4.3.4 Die Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit wird in der Psychologie definiert
zes) und die Klassifikation oder Interpretation un-
als ein Zustand konzentrierter Bewusstheit, der
terteilen.
sich auf neuronaler Ebene durch die Bereitschaft
Beim Menschen werden die sensorischen Empfin-
des zentralen Nervensystems auszeichnet, auf Sti-
dungen über die Rezeptoren der jeweiligen Sinnes-
mulation zu reagieren. Aufmerksamkeit ist damit
organe weitergegeben. Diese Art der Wahrneh-
eine Voraussetzung dafür, mit der Umwelt zu inte-
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition ragieren, Informationen aufzunehmen und auf Er-
Das Drei-Speicher-Modell
eignisse zu reagieren. Man unterscheidet die Vigilanz, eine Dauerauf-
Das wohl prominenteste Modell des Gedächtnisses ist das Drei-Speicher-Modell, in dem das Langzeit-
merksamkeit, zum Beispiel bei monotonen Auf-
gedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis und das senso-
gaben, von der selektiven Aufmerksamkeit, bei
rische Gedächtnis (auch sensorisches Register) als
der eine Ausrichtung auf ein bestimmtes Ereignis
drei deutlich abgegrenzte Einheiten beschrieben
oder eine definierte Art von Stimuli stattfindet.
werden.
Bei der Vigilanz geht es darum, auch bei geringer
Das sensorische Gedächtnis ist ein vom Umfang her
Stimulation über längere Zeit die Konzentration auf-
unbegrenzter Sekundenspeicher für sensorische
rechtzuerhalten, um auf Reize zu reagieren. Diese Fähigkeit wird zum Beispiel bei der Eignungs-
Wahrnehmungen (Bilder, Töne, etc.). Werden die Informationen innerhalb von einer bis zwei Sekun-
prüfung von Fluglotsen getestet, da sie in ihrem
den nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit
Beruf stundenlang vor dem Bildschirm das Auftau-
gerückt, zerfallen sie sofort wieder.
chen seltener Ereignisse überwachen müssen.
Das Kurzzeitgedächtnis (KZG) ist eine Art Zwi-
Selektive Aufmerksamkeitsprozesse sind für die psychische Funktionsfähigkeit des Menschen sehr wichtig. Aufgrund des Reizangebots in der Umwelt benötigt das Individuum eine Fähigkeit, sich auf einen speziellen Ausschnitt zu beschränken und andere Reize auszublenden. Ist diese Fähigkeit beeinträchtigt, spricht man von einer Aufmerksamkeitsstörung. Eine solche Störung wird bei Kindern im Schulalter vergleichsweise häufig diagnostiziert. Oft geht ein Aufmerksamkeitsdefizit mit einer Hyperaktivitätsstörung einher (ADHD, „Attentional Deficit Hyperactivity Disorder“). Beim Vorliegen einer Aufmerksamkeitsstörung ist die Filterfunktion der Aufmerksamkeit eingeschränkt, sodass ein vollständiges Ausblenden irrelevanter Reize nicht möglich ist. Die Kinder können sich nicht auf eine Tätigkeit konzentrieren, sondern lassen sich dauernd von jedem kleinsten Ereignis ablenken. Bei Kindern hat sich die Medikation mit Stimulanzien (Ritalin) als hilfreich erwiesen. Interessanterweise haben bestimmte Stimulanzien auf Kinder eine beruhigende und aufmerksamkeitsfördernde Wirkung, während sie bei gesunden Erwachsenen eine Aktivierung nach sich ziehen. Eine weitere Therapiemöglichkeit bieten verhaltenstherapeutische Ansätze.
scheninstanz, die einen Teil der Informationen aus
103
dem sensorischen Gedächtnis übernimmt und gegebenenfalls ins Langzeitgedächtnis überführt. Hier findet die bewusste Verarbeitung des wahrgenommenen Materials statt. Das KZG wird deswegen zum Teil auch als Arbeitsgedächtnis bezeichnet. Die Speicherkapazität des KZGs ist stark begrenzt. Miller konnte in den 50er Jahren zeigen, dass Menschen durchschnittlich sieben Informationseinheiten gleichzeitig bewusst erinnern können. Wichtig ist dabei nicht der absolute Umfang, sondern die Anzahl der Informationsstücke, die wiederum aus mehreren Einzeleinheiten zusammengesetzt sein können („Chunks“). Werden mehr Informationen gleichzeitig im KZG behalten, kann es zu Überlagerungseffekten (Hemmung/Interferenz) kommen.
Merke Proaktive Hemmung bedeutet, dass die Hemmung sich „nach vorne“ auf die nachfolgende Information auswirkt. Die retroaktive Hemmung hemmt „rückwärtsgerichtet“ die alte Information. Eine Information, die nicht weiter verarbeitet oder bewusst wiederholt wird, hält im KZG nur 20 Se-
4.3.5 Das Gedächtnis Der Begriff „Gedächtnis“ bezeichnet einerseits die
kunden. Um ins LZG zu gelangen, muss der KZG-Inhalt durch einfache oder elaborierte Wiederholung
kognitive Fähigkeit, Erfahrungen zu speichern (En-
(bewusstes Vernetzen der Information) weiterver-
codierung) und abzurufen (Decodierung), wird andererseits aber auch für den Inhalt des Behaltenen, also die Erinnerung oder Gedächtnisspur (Engramm) verwendet.
arbeitet werden. Die neuronalen Grundlagen des KZGs sind im parietalen Frontallappen lokalisiert. Das Langzeitgedächtnis (LZG) enthält das gesamte deklarative Wissen, d. h. Wissen über die eigene
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition Person (episodisches Gedächtnis), sowie Bedeu-
übersetzt bzw. es werden Schemata, Schaubilder
tungswissen über die Welt unabhängig von der eigenen Erfahrung (semantisches Gedächtnis) und
etc. entwickelt. Diese Technik beruht auf der Theorie der doppelten Codierung („Dual Coding“
zudem Wissen über Fertigkeiten und den Ablauf
von Paivio), die besagt, dass ein Abspeichern in
(prozedurales Gedächtnis). Weder die Speicherdauer noch der Umfang sind begrenzt. Dass Gedächtnisinhalte trotzdem nicht immer abrufbar sind, scheint auf Fehler beim Abruf zurückzuführen zu sein. Um diesen zu erleichtern ist eine starke Vernetzung der Inhalte notwendig, sodass die gesuchte Information durch assoziierte Abrufhilfen mitaktiviert werden kann.
sprachlicher und visueller Form das Behalten
von
Handlungen
rufbar) und implizite Inhalte (nicht dem Bewusst-
und Erinnern erleichtert. Gesichter-Namen-Strategie : Diese Technik wird spezifisch eingesetzt, um sich neue Namen einzuprägen. Es wird eine Verbindung zwischen den Gesichtsmerkmalen der Person und ihrem Namen gesucht (Beispiel: Herr Busch hat buschige Augenbrauen). Den Strategien ist gemeinsam, dass sie auf einer zusätzlichen Vernetzung (Assoziationsbildung) von zu behaltender Information beruhen. Zudem ist eine tiefere Verarbeitung (Tiefen-Elaboration) notwendig, um eine Assoziation zu bilden.
sein direkt zugänglich, nicht sprachlich abrufbar) unterschieden. Beispielsweise würde man das im
4.3.6 Die Konzeptbildung
Die verschiedenen Gedächtnisinhalte Die im Gedächtnis gespeicherten Informationen werden auch in explizite (bewusst sprachlich ab-
Medizinstudium erworbene Faktenwissen als expli-
Unter Konzeptbildung versteht man in der kogniti-
zit, das bei Praktika und Famulaturen eher indirekt
ven Psychologie die Fähigkeit, individuelle Erfah-
erworbene Wissen zum Umgang mit Patienten da-
rungen und Dinge oder Personen aufgrund ihrer
gegen als implizit einordnen. Bei der Neubildung
übergreifenden Merkmale zu Kategorien zusam-
von expliziten Gedächtnisinhalten spielt der me-
menzufassen. So lernt ein Kind, dass Rex, der Schä-
diale Temporallappen eine wichtige Rolle. Ist er ge-
ferhund des Nachbarn genau wie der Familienpudel
schädigt, können Inhalte nach dem schädigenden Ereignis nicht mehr encodiert werden (anterograde
zur Kategorie der Hunde gehören. Es kann zwischen dem einzelnen Ereignis oder Objekt und
Amnesie). Läsionen im Bereich der Basalganglien
dem abstrakten Begriff für diese Klasse von Ereig-
schädigen das implizite Gedächtnis. Eine retro-
nissen oder Objekten unterscheiden. Diese Tren-
grade Amnesie liegt dagegen vor, wenn Gedächtnisinhalte, die bereits vor dem schädigenden Ereignis gespeichert wurden, nicht mehr abrufbar sind.
nung ist eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen der Sprache.
Das Behalten
Die Strukturen der Wissensorganisation: Schema und Skript
Das Behalten von Informationen wird als Retention
Die Informationen, welche Eigenschaften die Zu-
bezeichnet. Diese Leistung lässt sich durch Wieder-
ordnung eines Objekts zu einem Konzept erlauben,
holung, gute Strukturierung, Sinnhaftigkeit der In-
werden in Form eines Schemas, einem Cluster von
formation und eine angenehme emotionale Fär-
gespeichertem deklarativem Wissen (Faktenwis-
bung, aber auch durch spezielle Mnemo-Techniken
sen), strukturiert. Bei neuen oder unvollständigen
verbessern. Zu ihnen zählen unter anderem:
Informationen hilft die Aktivierung eines passen-
Loci-Methode : Die Information wird mit einem bestimmten Ort assoziiert. Die Vorstellung des Ortes hilft beim Abruf (Beispiel: Beim Durchwandern der Wohnung wird jedes Zimmer mit einem Organ und seinen Eigenschaften assoziiert.) Strategien der visuellen Vorstellung („Imagery“) : Die sprachliche Information wird in Bilder
den Schemas, die Lücken aufzufüllen bzw. die Informationen zu interpretieren. Beispielsweise hilft der Titel einer Geschichte dabei, die zunächst noch mehrdeutigen Informationen des Textes in einen Rahmen einzuordnen. Bei Handlungsabfolgen wird eine gespeicherte Wissenstruktur als Skript bezeichnet. Hier ist prozedurales Wissen über den „normalen“ Ablauf einer Handlung, wie z. B. das
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition „Autofahren“, organisiert, sodass die Einzelschritte
ven), das Schlussfolgern (aufgrund von neuem
wie das Kuppeln, Gang einlegen, Gas geben und Bremsen wie automatisch ablaufen, ohne dass
oder vorhandenem Wissen wird ein Denkergebnis erreicht) und das Urteilen oder Bewerten (Ereig-
man sich jedes Mal ihre Reihenfolge überlegen
nisse werden auf der Basis vorhandenen Wissens
müsste.
eingeschätzt und kritisiert, um am Ende eine Beur-
105
teilung abzuleiten).
Beachte Schemata und Skripte kommen nur bei der Top-Down-Verarbeitung von Informationen zum Einsatz.
4.3.7 Die Informationsverarbeitung und -bewertung
Einige kognitive Verarbeitungsstrategien Die folgenden Verarbeitungsstrategien sind in den meisten Fällen sehr effizient und sinnvoll, sie können aber auch erklären, warum Menschen von Zeit zu Zeit irrationale Entscheidungen treffen oder an objektiv falschen Urteilen festhalten.
Als Informationsverarbeitung wird jede Aufnahme und Gestaltveränderung eines Reizes verstanden.
Assimilation
Informationsverarbeitung
nicht
Assimilation bezeichnet die Anpassung einer Um-
immer mit der Aufnahme neuer Information begin-
weltinformation an bereits vorhandenes Wissen
nen, sondern es handelt sich häufig auch um eine Modifikation bereits im Gedächtnis vorhandener
(s. S. 154). Hier werden neue Ereignisse zunächst so interpretiert, dass sie in bekannte Kategorien
Materialien. Diese müssen zunächst aktiviert wer-
oder Schemata passen. Zum Beispiel wurde am
den (bewusste Verarbeitung im Kurzzeit-/Arbeits-
11. September 2001 der Crash des ersten Flugzeugs
gedächtnis), um dann miteinander in Beziehung ge-
in den Turm des World Trade Centers zunächst als
setzt werden zu können.
Unfall interpretiert, da die Kategorie „terroristi-
Informationen können sowohl sprachlich als auch
scher Anschlag“ bei vielen Menschen gar nicht vor-
visuell codiert werden. Je nach Art der Aufgabe werden diese Vorstellungen bei der Informationsverarbeitung genutzt. Visuelle Vorstellungen haben sich besonders bei räumlichen oder geographischen Aufgaben (z. B. jemandem den Weg erklären) als nützlich erwiesen.
handen war. Erst bei der zweiten Turmkollision
muss
jedoch
war klar, dass sich die Unfallhypothese nicht halten ließ.
Selektive Informationsaufnahme Von selektiver Informationsaufnahme spricht man, wenn eine Person die vorhandenen Informationen
Die Charakteristika der Informationsverarbeitung
nicht gleichartig aufnimmt und auswertet, sondern
Ein wichtiges Grundprinzip der Verarbeitung von Informationen ist die kognitive Ökonomie : Denken,
Informationen sucht und die widersprechenden ignoriert, uminterpretiert oder entwertet. Der Hin-
Schlussfolgern und Bewerten wird mit einem mög-
tergrund dieses Phänomens ist der Versuch, die
lichst geringen Aufwand ausgeführt. Diese „Spar-
Wahrnehmung einer stabilen Umwelt beizubehal-
samkeit“ ist sinnvoll, da Menschen sich in einer
ten. Denn nur unter dieser Annahme macht es
derartig komplexen Umwelt bewegen, dass sie
Sinn, seine Handlungen zu überlegen und zu pla-
sich zu ihrer Meinung bzw. Einstellung passende
ohne diverse Verarbeitungsabkürzungen und -ver-
nen. Bei der Aufrechterhaltung von Stereotypen
einfachungen ständig bis zur Reaktionsunfähigkeit
spielt die selektive Informationsaufnahme eine
überlastet wären. Die andere Konsequenz dieser Aufwandsminimierung bei vielen Verarbeitungs-
wichtige Rolle. Ist eine Person der festen Überzeugung, dass Frauen nicht einparken können, wird
vorgängen ist die Anfälligkeit für bestimmte Fehler,
sie auf entsprechende Beispiele, die ihr Vorurteil
die im folgenden Abschnitt illustriert werden.
bestätigen, genau achten, während sie die Beobach-
Prozesse, bei denen die Verarbeitungsschritte un-
tung einer geschickt parkenden Frau sofort als Aus-
tersucht wurden, sind u. a. das Entscheiden (Pro-
nahme deklariert und vergisst.
zess des Wählens zwischen mehreren Alternati-
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition Beachte Die selektive Informationsaufnahme ist eine Strategie zur Reduzierung kognitiver Dissonanz (s. S. 39).
Physikumsprüfung in dieser Terminologie beschreiben: Der angepeilte Zielzustand ist das Erreichen eines Wissensstandes, der die Beantwortung von einer Mindestzahl von Aufgaben ermöglicht. Der Ausgangszustand ist der momentane Wissensstatus
Einige Verarbeitungsfehler
und die zielführenden Operationen sind all die
Sich selbst erfüllende Prophezeiung („Self-fulfilling Prophecy“)
Schritte, die man unternehmen kann, um dem Ziel-
Von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung
entsprechender Vorlesungen, das Lesen der Fach-
spricht man, wenn eine Person das Eintreten eines bestimmten Ereignisses durch ihr eigenes Verhal-
literatur oder ein Training anhand der Alt-Fragen). Wichtig ist die Unterscheidung von gut definierten
ten wahrscheinlich macht. Die eigene Überzeu-
und schlecht definierten Problemen. Während bei
gung, dass man niemals durch eine Prüfung durch-
gut definierten Problemen alle Elemente des Pro-
fallen werde, kann dazu führen, dass man sehr
blemraums vollständig bekannt sind (zum Beispiel
selbstbewusst und sicher in der Prüfung auftritt,
eine Additionsaufgabe in der Mathematik), ist
sodass die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs
beim schlecht definierten Problem eines oder meh-
durch das eigene Verhalten reduziert wird. Ge-
rere dieser Elemente unklar. Beispielsweise liegt
nauso relevant ist die Wirkweise bei umgekehrter Überzeugung: Wenn man sich sicher ist, dass man
bei einem Patienten ein unerwünschter Ausgangszustand vor (er klagt über Unwohlsein), der Ziel-
schlecht abschneiden wird, provoziert man den
zustand ist nur vage definiert (es soll ihm wieder
Misserfolg aufgrund eines unsicheren Auftretens.
besser gehen) und die notwendigen Schritte dahin
zustand näher zu kommen (zum Beispiel der Besuch
sind noch nicht bekannt.
Kognitive Verzerrungen Als kognitive Verzerrungen („Cognitive Biases“)
Zwei Strategien zum Lösen von Problemen
werden systematische Denkfehler bezeichnet, die
Bei der Untersuchung von Problemlösestrategien
beim Entscheiden und Bewerten häufig auftreten. Dazu gehört, dass zufällig auftretende Ereignisse
zeigten sich zwei grundverschiedene Vorgehensweisen: Besonders bei gut definierten und über-
als bedeutsam interpretiert werden, wie beispiels-
schaubaren Problemen benutzen Menschen häufig
weise bei abergläubischen Überzeugungen. Zudem
Algorithmen. Das sind methodische Verfahren, bei
werden systematisch gemeinsam auftretende (kor-
denen systematisch und schrittweise eine Lösung
relierte) Ereignisse häufig als kausal interpretiert,
gesucht und mit Garantie auch gefunden wird.
wie die im Frühjahr zurückkommenden Störche,
Die andere Möglichkeit, der Lösung näher zu kom-
die angeblich die Kinder bringen sollten. Auch den
men, bieten Heuristiken. Das sind Faustregeln, die
fundamentalen Attributionsfehler (s. S. 132) kann man als kognitive Verzerrung bezeichnen. Dabei wird eher den beteiligten Personen als den Umgebungsvariablen eine verursachende Wirkung zugeschrieben.
aufgrund von Erfahrungen schnellere, aber unsystematische Lösungsschritte ermöglichen. Sie werden meist angewendet, wenn eine schnelle Annäherung an die Lösung notwendig ist oder ein Algorithmus extrem aufwendig wäre. So überschlagen viele Leute beim Einkaufen an der Kasse den ungefähren
4.3.8 Das Problemlösen
Preis und nehmen dabei Abweichungen vom richti-
In der psychologischen Forschung des Problemlö-
gen Ergebnis in Kauf, obwohl sie auch in der Lage
sens wird ein Problem folgendermaßen definiert: Es existiert ein Ausgangszustand, der signifikant
wären, die Einzelpreise mit höherem Aufwand präzise zu addieren.
von dem zu erreichenden Zielzustand entfernt ist. Dieser kann jedoch durch eine Abfolge von Opera-
4.3.9 Die Sprache
tionen erreicht werden. Diese drei Elemente (Ausgangszustand, Zielzustand, Operationen) bilden den Problemraum. Beispielsweise kann man die
In der Sprachpsychologie oder Psycholinguistik unterscheidet man die Prozesse des Sprachverständnisses und der Sprachproduktion. Unter Sprachver-
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition ständnis wird die Verarbeitung eines auditiven oder visuellen (beim Lesen) Stimulus von der Aufnahme bis zur Analyse der Bedeutung (Semantik) und der grammatikalischen Einbettung (Syntax) sowie der anschließenden Interpretation aufgrund des vorhandenen Weltwissens verstanden. Die Sprachproduktion umfasst die Prozesse der Generierung einer sprachlichen Botschaft und die Aktivierung und Selektion entsprechender inhaltlicher und grammatikalischer Einheiten aus dem mentalen Lexikon. Das mentale Lexikon kann man sich wie einen riesigen Wortspeicher vorstellen, in dem zu jedem lexikalischen Eintrag Informationen zur Bedeutung, aber auch zur grammatikalischen Struktur des Wortes zu finden sind. Diese Einheiten müssen dann im nächsten Schritt in motorisch zu produzierende Laute (Phoneme) transformiert werden. Diese Differenzierung zeigt sich auch auf der neuronalen Ebene der Sprache : während das WernickeAreal im Temporallappen für das Sprachverständnis zuständig ist, liegt die Repräsentation der Sprachproduktion schwerpunktmäßig im Broca-Areal. Diese lokale Differenzierung kann auch in der Symptomatik von Patienten mit meist linksseitiger Hirnschädigung beobachtet werden („Lateralisierung“, s. S. 86). Bei einer Schädigung im Bereich des Frontallappens kommt es mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Störung der Sprachproduktion (Broca-Aphasie) mit Problemen bei der Spontansprache, Wortfindungstörungen und grammatikalisch fehlerhaften Sätzen. Tritt eine Läsion im Bereich des Temporallappens auf, ist eine WernickeAphasie wahrscheinlich. Die Symptomatik zeichnet sich durch eine motorisch flüssige Sprache aus, wobei der Patient jedoch nicht auf die Fragen des Gegenübers reagiert, sondern „sinnfrei“ redet, da sich ihm weder der Inhalt noch die syntaktische Struktur des Gesagten erschließt. Sind sowohl das Sprachverständnis als auch die Sprachproduktion gestört, spricht man von einer globalen Aphasie.
4.3.10 Die Intelligenz In diesem Abschnitt ist die Unterscheidung des klassischen IQ und des Abweichungs-IQ wichtig. Schauen Sie sich genau an, welche Aussage im jeweiligen IQ-Wert tatsächlich steckt.
107
Was ist Intelligenz? Obwohl der Begriff der Intelligenz gerne in den verschiedensten Zusammenhängen verwendet wird, gibt es keine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition. William Stern (1911), einer der Väter der Intelligenzforschung, bezeichnet Intelligenz als „allgemeine geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Lebensbedingungen“. Im Vordergrund steht hier die Flexibilität des Denkens, die es ermöglicht, Wissen zu erwerben und auf veränderte Umstände adäquat zu reagieren. Ein Problem der Intelligenzdefinition liegt darin, dass es sich bei Intelligenz um ein hypothetisches Kons-
trukt handelt, dass sich nur indirekt, nämlich im „intelligenten Verhalten“ beobachten lässt (Operationalisierung eines Konstrukts, s. S. 49 und S. 50). Grundsätzlich werden verbale und rechnerische Fä-
higkeiten und Fähigkeiten des Problemlösens (logisches Denken) als Komponenten der Intelligenz bezeichnet. Weniger Einigkeit besteht darüber, inwiefern Kreativität, soziale oder praktische Intelligenz auch als eigenständige Bereiche dazugezählt werden sollten. Dazu müssten sie einerseits mit den anderen Intelligenzfaktoren in engem Zusammenhang stehen (hoch korrelieren) und andererseits sich nicht vollständig aus diesen anderen Fähigkeiten erklären lassen (Aufklärung eigenständiger Varianzanteile). Da diese methodischen Forderungen häufig nicht erfüllt sind, werden die populärwissenschaftlich erfolgreichen „Intelligenzarten“, aber auch Kreativität in der klassischen Intelligenzforschung nicht als Komponenten anerkannt. Um solche inhaltlichen Streitpunkte zu vermeiden, wird häufig eine wenig befriedigende operationale Definition verwendet: „Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen.“
Merke Grundsätzlich werden verbale und rechnerische Fähigkeiten und Fähigkeiten des Problemlösens (logisches Denken) als Komponenten der Intelligenz bezeichnet. Kreativität ist nach dieser Definition keine Komponente der Intelligenz.
Der Intelligenzquotient Der klassische IQ Der Beginn der Intelligenzmessung geht auf den Franzosen Alfred Binet (1905) zurück, der zu Be-
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition ginn des 20. Jahrhunderts vom französischen Un-
schüler und 15-jährige Gymnasiasten), sind ihre
terrichtsministerium den Auftrag bekommen hatte, einen Test zu entwickeln, um die intellektuelle
Werte nicht mehr direkt vergleichbar. Auch beim Abweichungs-IQ wird genau wie beim klassischen
Leistung von Schulkindern messen zu können.
IQ die jeweilige Testleistung mit einer altersspezi-
Diese Messung sollte dabei helfen, geistig zurück-
fischen Normierung in Bezug gesetzt. Allerdings
gebliebene Kinder entsprechend ihrer Fähigkeiten
kann die jeweilige Altersgruppe noch nach wei-
zu fördern. Dabei entwickelte er einen zwischen
teren relevanten Variablen wie der besuchten
den Altersstufen vergleichbaren Kennwert der Intelligenz, in dem er das Intelligenzalter des Kindes (IA), dass er über die Leistung im Intelligenztest ermittelte, ins Verhältnis zum Lebensalter des Kindes (LA) setzte (IA/LA). Der dem Intelligenzalter zugrunde liegende Test war so aufgebaut, dass er Aufgaben aufsteigender Schwierigkeit enthielt, die jeweils im Schnitt von der Altersgruppe der Sechsjährigen oder Siebenjährigen usw. gelöst werden konnten. Löste ein Kind nun alle Aufgaben, die im Schnitt ein Achtjähriger lösen kann, so erhielt es den Wert von 8 für sein Intelligenzalter. Basierend auf diesen Tests entwickelte William Stern den klassischen Intelligenzquotienten, indem er das Verhältnis von Intelligenzalter und Lebensalter bildete und mit dem Faktor 100 multiplizierte: IQ = IA/LA * 100. Beispiel: Peter ist 7 Jahre alt und löst alle Aufgaben für Neunjährige: 9/7 p 100 = 128,5 Hans ist 7 Jahre alt und löst nur Aufgaben für Fünfjährige: 5/7 p 100 = 71,4 Der klassische IQ weist allerdings einige Probleme auf (z. B. ungeeignet für Erwachsene).
Schulform aufgegliedert sein. Dementsprechend wichtig ist es, bei einem Intelligenztest aktuelle Normwerte der passenden Referenzpopulationen zu haben. Die Berechnung eines Abweichungs-IQ ist die am häufigsten praktizierte Art der Intelligenzwertdarstellung.
Beachte Die Werte zweier Probanden, für die ein Abweichungs-IQ bestimmt wurde, lassen sich nur vergleichen, wenn sie auf dieselbe Referenzgruppe bezogen sind.
Die Theorien und die Modelle der Intelligenz Sie werden jetzt verschiedene Intelligenzmodelle kennenlernen. Auch wenn es schwerfällt: die wichtigsten Modellcharakteristika müssen Sie einfach auswendig lernen. Die Erforschung der allgemeinen kognitiven Fähigkeiten ist im Verhältnis zu anderen psychologischen Forschungsgebieten relativ alt. Die prominenten Theorien zur Struktur der Intelligenz
Der Abweichungs-IQ
stammen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ziel
Als Alternative hat David Wechsler (1944) den sogenannten Abweichungsintelligenzquotienten ent-
dieser Theorien ist es, den Begriff der Intelligenz inhaltlich zu füllen, indem je nach Modell eine mehr
wickelt. Hier wird der Wert eines Probanden im In-
oder weniger hierarchische Struktur und verschie-
telligenztest mit dem auf 100 Punkte normierten
dene Komponenten der Intelligenz postuliert wer-
Mittelwert seiner Altersgruppe verglichen (zur Ab-
den. Methodisch basieren sowohl die Zwei-Fak-
weichungsnorm s. S. 55). Bei einem Intelligenztest
toren-Theorie von Spearman als auch die Mehrfaktorentheorie von Thurstone auf der Faktorenanalyse. Bei dieser statistischen Datenauswertungsmethode (s. S. 70) werden die korrelativen Zusammenhänge zwischen einzelnen Intelligenztest-Aufgaben berechnet (zum Begriff der Korrelation s. u.). Aus Gruppen eng zusammenhängender Aufgaben können Faktoren gebildet werden, die die entsprechenden Aufgabeninhalte auf höherer Ebene repräsentieren. Korrelieren beispielsweise ver-
mit einem Mittelwert von 100 und einer Standardabweichung von 15 Punkten, erhält ein Proband, dessen Wert eine Standardabweichung über dem Durchschnitt liegt, somit einen IQ von 115. Dieser Quotient gibt die relative Position des Probanden innerhalb der gewählten Referenzgruppe (z. B. die der Gleichaltrigen oder die der Studenten) an. Werden zwei Probanden mit unterschiedlichen Referenzgruppen verglichen (z. B. 15-jährige Haupt-
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition
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schiedene mathematische Aufgabentypen hoch miteinander, lassen sie sich zu einem Faktor, der numerische Intelligenz darstellt, zusammenfassen.
s
Allerdings gibt es bei der Faktorenanalyse verschie-
s
s
dene Möglichkeiten zur Faktorenbildung (Extrakti-
g
on). Diese „relative Freiheit“ beim methodischen Vorgehen erklärt, dass Spearman und Thurstone
s
s
trotz der Verwendung derselben Methode zur Modellentwicklung sehr verschiedene Strukturen der Intelligenz ermittelten. Catells Modell unterscheidet die fluide und die kristalline Intelligenz und macht Annahmen über
Abb. 4.3 modell)
Intelligenzmodell von Spearman (g-Faktor-
Das Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren
die Entwicklung der Intelligenz. Das Struktur-Intel-
Das Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren – es
ligenzmodell von Guilford und das Berliner Intelligenzmodell von Jäger gehören zu den nicht-hierarchischen Intelligenzmodellen. Sie sind aus Komponenten zusammengesetzt, die sich aus der systematischen Kreuzung von Intelligenzinhalten und Operationen ergeben. Die Modelle von Spearman, Thurstone und Catell werden im folgenden Abschnitt detailliert dargestellt.
wird auch als die Mehrfaktorentheorie der Intelli-
genz oder Thurstones Primary Mental Abilities bezeichnet – postuliert, dass sich Intelligenz aus sieben unabhängigen Komponenten zusammensetzt, den sieben Primärfaktoren : Rechenfähigkeit Sprachverständnis Wortflüssigkeit räumliche Vorstellung Gedächtnis
Das Zwei-Faktoren-Modell von Spearman Die Grundidee von Spearmans Zwei-FaktorenModell (Generalfaktorenmodell) ist folgende: Jede Leistung eines Probanden in einem Intelligenztest
logisches Denken Wahrnehmungsgeschwindigkeit. Im Gegensatz zur Zwei-Faktoren-Theorie der Intelligenz existiert beim Modell mehrerer gemein-
(z. B. Wortflüssigkeit) setzt sich aus einer allgemei-
samer Faktoren kein Generalfaktor, sondern alle
nen und einer spezifischen Intelligenzleistung zusammen, die für die Ausführung des einzelnen Tests notwendig ist (Wortschatz, Sprachmotorik, etc.). Der Anteil allgemeiner Intelligenz ist an jeder Aufgabe beteiligt und wird als eine allen Aufgabenleistungen zugrundeliegende unspezifische Fähigkeit verstanden. Er wird von Spearman als der Generalfaktor der Intelligenz (g-Faktor) bezeichnet, während den spezifischen Anteilen der einzelnen Tests die spezifischen Intelligenzfaktoren (s-Faktoren) zugrundeliegen. Die s-Faktoren sind damit definitionsgemäß unkorreliert, da alle gemeinsamen Varianzanteile in den g-Faktor eingehen (Abb. 4.3). Aus dieser Theorie der Intelligenz erschließt sich eine sinnvolle Berechnung eines einzelnen Intelligenzwertes wie dem IQ, der den individuellen Ausprägungsgrad des g-Faktors darstellt. So eine Berechnung kann beispielsweise beim HAWIE/K vorgenommen werden (s. u.).
sieben Komponenten liegen auf der gleichen hierarchischen Ebene (Abb. 4.4). Ein Intelligenztest, der auf der Basis von Thurstones Modell entwickelt wurde, sollte die Erfassung der einzelnen Intelli-
genzkomponenten ermöglichen. Ein Test, der nach diesem Mehrfaktorenprinzip aufgebaut ist, ist der IST (s. u.).
Rechenfähigkeit
Sprachverständnis Wortflüssigkeit
Wahrnehmungsgeschwindigkeit
räumliche Vorstellung
logisches Denken Gedächtnis
Abb. 4.4 Intelligenzmodell von Thurstone (multiple Faktoren)
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition Beachte Spearmans Modell ist hierarchisch gegliedert, wobei der g-Faktor an der Spitze liegt. Die sieben Primärfaktoren bei Thurstone liegen dagegen alle auf einer Ebene.
Ein Beispiel-Item zum rechnerischen Denken: „Sie
Das Modell der fluiden und kristallinen Intelligenz von Catell
Versuchsleiter mit dem Probanden interagiert. Um
Catells Modell postuliert zwei Arten von Intelli-
garantieren, sind die Instruktionen, die der Ver-
genz: fluide und kristalline Intelligenz. Die fluide Intelligenz ist eine Art basale intellektuelle Fähig-
suchsleiter dem Probanden gibt, hoch standardisiert. Der HAWIE/K ist ein typisches Beispiel für
haben drei Mäntel und verschenken einen. Wie viele Mäntel haben sie dann übrig?“. Der Mittelwert der Probanden liegt beim HAWIE/K bei 100, seine Standardabweichung bei 15 Punkten. Der HAWIE/HAWIK ist ein Einzeltest, bei dem der eine hohe Objektivität bei der Durchführung zu
keit, die sich im Kindesalter schnell entwickelt, im
eine kulturabhängige Messung der Intelligenz.
frühen Erwachsenenalter ihren Höhepunkt erreicht
Besonders bei den Untertests zum allgemeinen
und ab dem 60. Lebensjahr bereits wieder abfällt.
Wissen und zum Wortschatz zeigt sich, dass
Fluide Intelligenz unterliegt allen kulturunabhän-
der Test nur bei Probanden sinnvoll eingesetzt
gigen Intelligenzprozessen. Kulturunabhängig bedeutet, dass es sich um Fähigkeiten handelt, die sich unabhängig von bestimmten Lern- oder Sozialisationserfahrungen entwickeln (z. B. Wahrnehmungsgeschwindigkeit). Dagegen ist die kristalline Intelligenz (z. B. Faktenwissen, Wortschatz, etc.) kulturabhängig. Je nachdem, in welchem kulturellen Umfeld ein Kind aufwächst, erwirbt es unterschiedliche Erfahrungen und Wissensinhalte. Dieses Wissen bildet den Inhalt der kristallinen Intelligenz. Während die fluide Intelligenz mit dem Alter abnimmt, bleibt die kristalline Intelligenz bis ins hohe Alter stabil.
werden kann, die in Deutschland aufgewachsen sind und eine entsprechende Schulbildung haben. Aufgrund der sich verändernden Normen, aber auch weil die sprachlichen Aufgaben zum Teil veralten, muss ein Intelligenztest immer wieder revidiert werden. Die momentan aktuelle Version ist der HAWIE-R (revidierte Form, dt. Version von Tewes, 1991).
Der IST (Intelligenz-Struktur-Test) Der IST basiert auf Thurstones Mehrfaktorenmodell der Intelligenz. Er gliedert sich in einen verbalen, einen figuralen und einen numerischen Unterteil. Ein Beispiel aus dem verbalen Untertest Satzergän-
Die Intelligenztests
zung: „Das Gegenteil von Hoffnung ist ...?“ (Antwortmöglichkeiten: Trauer, Verzweiflung, Elend,
Auch im folgenden Abschnitt, in dem es um die Eigenschaften der Intelligenztests geht, führt kein Weg am Auswendiglernen der wichtigen Eigenschaften vorbei.
Liebe, Hass). Ein Beispiel aus dem numerischen Untertest Zahlenreihen: 9 – 7 – 10 – 8 – 11 – 9 – 12 – ? Zudem lässt sich im IST 2000 (Amthauer, Brocke, Liepmann & Beaucducel, 1999), der aktuellen Version, auch die Merkfähigkeit als eigener Faktor er-
Der HAWIE/HAWIK (Hamburg Wechsler Intelligenztest)
fassen. Der Faktor „Reasoning“, der logisches Den-
Der HAWI für Kinder und Erwachsene basiert auf
den verbalen, numerischen und figuralen Faktoren
dem Generalfaktorenmodell der Intelligenz von
gebildet.
Spearman. Er besteht aus einem Verbalteil, der
Im Gegensatz zum HAWIE/K ist der IST ein Grup-
zum Beispiel Aufgaben zum Wortschatz, zum rechnerischen Denken oder zum Allgemeinwissen ent-
pentest, der entweder mit Papier und Bleistift oder auch am Computer bearbeitet werden kann.
hält, und dem Handlungsteil, zu dem unter ande-
Die Durchführung dauert ca. 90 Minuten und ist
rem ein Mosaiktest, das Figurenlegen oder auch
sehr ökonomisch. Der Proband arbeitet komplett
Bilderordnen gehören. Entsprechend wird als Test-
eigenständig, sodass auch die Durchführungsobjek-
ergebnis ein Verbal-IQ und ein Handlungs-IQ be-
tivität nicht durch Interaktionen mit dem Ver-
rechnet, deren Mittelwert den Gesamt-IQ ergibt.
suchsleiter
ken erfasst, wird als Faktor zweiter Ordnung aus
beeinträchtigt
werden
kann.
Der
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4 Theoretische Grundlagen Die Kognition IST-2000 weist gute Reliabilitätswerte bezüglich der einzelnen Skalen auf. Besonders wenn es um eine Profilbetrachtung der Intelligenz geht, bei der verschiedene Faktoren verglichen werden können, bietet sich die Verwendung dieses Test an. Der Mittelwert ist auf 100 normiert, die Standardabweichung liegt bei 10 Punkten.
Merke Der HAWIE/K basiert auf Spearmans Zwei-Faktorentheorie. Deswegen kann ein allgemeiner IQ berechnet werden. Der IST basiert auf Thurstones Modell mehrerer gemeinsamer Faktoren. Der Proband erhält Werte für die einzelnen Komponenten der Intelligenz (verbal, figural, numerisch, Merkfähigkeit), aber keinen Gesamt-IQ.
Die Intelligenz und die Leistung Doch wozu sollte man Intelligenz eigentlich mes-
111
ziell die positiven Auswirkungen von lebenslangem Lernen auf die allgemeine Gesundheit, das Selbstkonzept und den verzögerten Abbau psychischer Funktionen hat die Bedeutung eines aktiven Alterns in den Vordergrund gerückt. Zudem zeigt sich unter alten Menschen eine erstaunliche Variabilität in ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit. Der Abbau kognitiver Funktionen scheint viel mehr vom Training als allein vom Alter abhängig zu sein. Auch der Einfluss von psychischen und sozialen Faktoren auf die Intelligenzentwicklung ist bedeutsam. Zudem ist der Abbau intellektueller Funktionen nicht gleichmäßig, sondern die fluide Intelligenz unterliegt einem stärkeren Altersabbau als die kristalline Intelligenz.
Merke Während die fluide Intelligenz ab dem 60. Lebensjahr abnimmt, bleibt die kristalline Intelligenz bis ins hohe Alter stabil.
sen? Eine der wichtigsten Fragen im Zusammenhang mit der Intelligenz betrifft die Vorhersage von Leistungsvariablen wie der Schulleistung, dem
Studien- oder Berufserfolg. Die prognostische Validität, also die Vorhersagegüte eines Intelligenztests für spätere Leistungsbewertungen, schwankt stark je nach Leistungskriterium und Zeitintervall der Vorhersage (zwischen r = 0,30–0,70). In der Schule werden Schüler, deren Leistungen unter dem liegen, was aufgrund ihrer Intelligenz zu erwarten wäre, als „Underachiever“ bezeichnet. Häufig liegt solchem Verhalten ein motivationales Defizit zugrunde. „Overachiever“ sind dagegen Schüler, deren Noten besser ausfallen, als gemäß ihrer Intelligenz zu erwarten wäre. Ihre guten Schulleistungen erarbeiten sie sich meistens durch eine hohe Angepasstheit, Fleiß und Ehrgeiz.
4.3.11 Klinische Bezüge Korsakow-Syndrom Eine spezielle Art der Amnesie (Gedächtnisstörung) ist das Korsakow-Syndrom. Es wird durch Alkoholmissbrauch hervorgerufen. Bei den Patienten treten große Erinnerungslücken auf. Allerdings neigen sie dazu, diese nicht offen zuzugeben, sondern zu konfabulieren. Konfabulation wird das Überspielen von Gedächtnislücken durch frei erfundene Geschichten genannt. Dabei ist allerdings nicht klar, ob solche Patienten absichtsvoll lügen oder ob sie sich ihrer Erfindung gar nicht bewusst sind, da sie diese nicht mehr scharf von realen Erinnerungen abgrenzen können.
Check-up 4
Die Intelligenzentwicklung im Alter und das lebenslange Lernen Wie bei den meisten Fragestellungen der Entwicklungspsychologie wurde auch bei der Intelligenz der Schwerpunkt der Forschung lange auf die Pha-
4
sen der frühkindlichen und kindlichen Entwicklung gelegt (s. S. 146). Nicht zuletzt wegen des immer größeren Anteils alter Menschen in der Bevölkerung verstärken sich die Bemühungen um ein Ver-
4
Machen Sie sich anhand eines Beipiels (z. B. des eben gelesenen Textes) noch einmal klar, welche Prozesse die kognitive Verarbeitung beinhaltet und wie die einzelnen Prozesse ineinander greifen. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, was man unter „Bottom-Up-“ bzw. „TopDown-Prozessen“ versteht. Wiederholen Sie die Unterscheidung von klassischem IQ und Abweichungs-IQ.
ständnis der Intelligenzentwicklung im Alter. Spe-
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion
112
4
Machen Sie sich noch einmal die Unterschiede zwischen der Zwei-Faktorentheorie und der Mehrfaktorentheorie der Intelligenz klar.
4.4 Die Emotion
Dabei kann diese Bedeutung sowohl positiv als auch negativ sein – wichtig ist, dass Emotionen einer Situation, einer Handlung oder einem Objekt Bedeutsamkeit
verleihen.
Emotionen
beziehen
sich immer auf ein konkretes Objekt (Furcht vor etwas, Trauer um etwas, etc.).
Lerncoach
Die vier Komponenten der Emotion
Im folgenden Kapitel werden häufig mehrere unterschiedliche Erklärungsansätze für dasselbe Phänomen vorgestellt, die sich auch durchaus widersprechen können. Lassen Sie sich davon nicht verwirren, sondern versuchen Sie zu verstehen, warum die Erklärungen so unterschiedlich ausfallen. Dabei kann es hilfreich sein, sich die jeweilige theoretische Perspektive (bspw. Lerntheorie oder Psychoanalyse), die hinter der Erklärung steht, vor Augen zu führen. Die Definitionen in diesem Kapitel sind sehr wichtig. Sie sollten Sie auswendig lernen.
Der Begriff der Emotion beschreibt ein hypotheti-
sches Konstrukt (s. S. 50), das verschiedene Komponenten umfasst. Diese Komponenten sind zum Teil beobachtbar, zum Teil aber nur der subjektiven Wahrnehmung des emotionserlebenden Individuums zugänglich. Wie diese Komponenten konkret aussehen können, wird am Beispiel der Angst erläutert. Zu den Faktoren zählen: Die physiologische Komponente : neuronale, viszerale, hormonelle und muskuläre Veränderungen (z. B. höhere Muskelspannung, Tachykardie bei Angst). Die affektive oder Gefühlskomponente beschreibt das subjektive Erleben eines Gefühlszustands (z. B. Gefühl des Bedrohtseins).
4.4.1 Der Überblick
Die kognitive Komponente umfasst die Gedan-
Als Emotionen bezeichnet man komplexe psycho-
ken zur Situation, die Interpretation und die Er-
physiologische Vorgänge. Im ersten Teil des Kapitels, in dem Charakteristika aller Emotionen im
wartungen (z. B. Gedanke, dass man sich in einer ausweglosen Situation befindet).
Mittelpunkt stehen, geht es um folgende Fragen:
Die Verhaltenskomponente ist in Form von
Was sind Emotionen und wie werden sie von
mimischem und gestischem Ausdruck (z. B.
verwandten Begriffen wie Affekt, Gefühl oder
typischer Gesichtsausdruck mit aufgerissenen
Stimmung abgegrenzt?
Augen,
Wie kann man Emotionen messen?
auch im sonstigen Verhalten (z. B. Zu- versus
Was sind die neurobiologischen Grundlagen von
Abwendung) direkt zu beobachten. Diese Komponente wird von manchen Autoren wiederum in eine Ausdruckskomponente (Gestik, Mimik) und eine motivationale Komponente (Zu- versus Abwendung) unterteilt.
Emotionen? Welche Theorien zur Entstehung und dem Erleben von Emotionen gibt es? Im zweiten Teil des Kapitels werden einzelne Emo-
zusammengepressten
Lippen),
aber
tionen genauer unter die Lupe genommen. Es wer-
die häufigste affektive psychische Störung ist.
Merke Bei der Klassifikation verschiedener Emotionen orientiert man sich primär an der Ausdruckskomponente.
4.4.2 Eine Definition des Emotionsbegriffs
Die verschiedenen Komponenten zeigen nur einen
Als Emotionen werden die menschlichen Reaktio-
geringen Zusammenhang miteinander, das heißt
nen verstanden, die einen physikalischen Reiz,
eine stark ausgeprägte Gefühlsempfindung muss
wie zum Beispiel den Anblick eines Gesichts, zu
nicht unbedingt mit einer ausgeprägten physiologi-
einem subjektiv bedeutsamen Erlebnis machen.
schen Erregung einhergehen.
den Angst, Aggression und Trauer dargestellt und Theorien zu ihrer Entstehung diskutiert. Den Abschluss bildet eine Darstellung der Depression, die
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Im Bereich der Emotionen muss man die Begriffe
als traurig, überrascht oder ängstlich wirkenden
Gefühl, Stimmung und Affekt unterscheiden. Das Gefühl beschreibt die subjektive affektive Kom-
Gesichtern vor, so ordnen sie den Gesichtsausdruck alle demselben Gefühl zu. Auch bei Stammeskultu-
ponente und ist von mittlerer Dauer (einige Sekun-
ren, die nicht durch westliche Medien geprägt sein
den bis Minuten) und Intensität. Stimmungen sind
können, sind am Ausdruck derselben Emotion die
länger anhaltend und weniger intensiv (ähnlich
identischen Muskelgruppen beteiligt.
gute/schlechte Laune). Dagegen beschreibt Affekt
Zudem hat man in der ontogenetischen Entwick-
eine besonders kurze, heftige Gefühlsaufwallung
lung (individuelle Entwicklung des Menschen) Hin-
(z. B. Handlung aus dem Affekt).
weise auf eine genetische Basis der Primäremo-
Beachte Die Beziehung zwischen der psychischen Intensität des Gefühls und der physiologischen Komponente ist nicht linear, d. h. eine Intensivierung des Gefühls muss nicht mit einer genauso starken Intensivierung der physiologischen Reaktion einhergehen.
Die primären und die sekundären Emotionen Die sechs Basisemotionen (primäre Emotionen) Aufgrund ihrer biologischen Basis werden folgende Emotionen als Primäremotionen oder auch Basis-
emotionen bezeichnet: Freude Trauer Ärger Furcht/Angst Überraschung Ekel Intraindividuell (innerhalb des einzelnen Individuums) weisen die einzelnen Primäremotionen ein relativ stabiles physiologisches Reaktionsmuster auf, interindividuell (zwischen einzelnen Individuen) existieren dagegen größere Unterschiede. Beispielsweise kann sich die physiologische Komponente der Angst bei manchen Menschen in Form von Kälteschauern und Zittern manifestieren, während andere Schweißausbrüche erleben. Die Primäremotionen haben mit großer Wahrscheinlichkeit eine genetische Basis. Hinweise darauf kommen einerseits aus kulturvergleichenden Studien, andererseits aus Beobachtungen zur ontogenetischen Entwicklung. In Studien zum Emotionsausdruck in verschiedenen Kulturen konnten Forscher zeigen, dass die Mimik der Basisemotionen kulturübergreifend gleich ist. Legt man Menschen auf verschiedenen Kontinenten Bilder von nach westlichem Standard
113
tionen gefunden: bestimmte Emotionsausdrücke (z. B. das soziale Lächeln) zeigen sich auch bei blind geborenen Kindern. Das Lächeln scheint also reifungsbedingt bei allen aufzutreten und nicht durch Modellbeobachtung erlernt worden zu sein.
Das Facial Action Coding System (FACS) Aufgrund der oben beschriebenen interkulturellen Übereinstimmung haben Forscher ein Codierungssystem entwickelt, in dem die an den einzelnen Emotionen beteiligten Muskelgruppen aufgelistet werden. Das Facial Action Coding System (FACS) beschreibt die Gesichtsmuskeln, deren Veränderung notwendig ist, damit ein Gesicht als „ärgerlich“ oder „fröhlich“ empfunden wird. Interessanterweise kann man durch das mimische „Herstellen“ eines Emotionsausdrucks zumindest einen Anflug des dazugehörigen Gefühls wahrnehmen (Facial-Feedback-Hypothese). In Untersuchungen hat sich sogar gezeigt, dass es dabei zu emotionsspezifischen Veränderungen des vegetativen Nervensystems kommt. Diese Ergebnisse belegen, wie eng die verschiedenen Komponenten der Emotion miteinander in Beziehung stehen. Allerdings ist diese Beziehung nicht linear (s. o.).
Die Ontogenese der Emotionen Die Fähigkeit zum emotionalen Ausdruck der Basisemotionen entwickelt sich bereits sehr früh in der
Ontogenese. Bereits im ersten Monat nach der Geburt zeigt der Säugling Gefühle des Ekels, der Überraschung und der Freude. Trauer, Ärger (3.–4 Monat) und Furcht (6.–8. Monat) folgen in den nächsten Monaten, sodass innerhalb des ersten halben Lebensjahres das Emotionserleben bereits sehr differenziert ist. Diese Forschungsergebnisse widersprechen dem lange postulierten Bild eines Säuglings, der lediglich zwischen Lust und Unlust unterscheiden kann.
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Auch zum Erkennen der Emotionen seiner Inter-
4.4.3 Das Messen von Emotionen
aktionspartner ist der Säugling schon sehr früh in der Lage. Seine Emotionen sind also keine unabhän-
Emotionen lassen sich einerseits bezüglich ihrer Qualität, andererseits bezüglich ihrer Intensität beschreiben. Wilhelm Wundts klassisches Beschreibungssystem für die Gefühlskomponente der Emotion klassifiziert Gefühlszustände anhand von drei qualitativen Dimensionen : Lust-Unlust Erregung-Beruhigung Spannung-Lösung. Jeder Emotion sollte ein eindeutiges Muster auf der Basis der jeweiligen Dimensionsausprägungen zugeordnet werden können. Die Eindeutigkeit der Muster ließ sich jedoch nicht nachweisen. So lassen sich beispielsweise Ärger und Ekel nicht eindeutig voneinander trennen. Eine andere Herangehensweise an die Messung von Emotionen ist die Aufzeichnung der Muskelaktivität beim mimischen Ausdruck des Emotionserlebens. Wie oben beschrieben lassen sich zumindest die Primäremotionen anhand von einbezogenen Muskelgruppen qualitativ unterscheiden. Die beiden vorgestellten Ansätze stehen für zwei unterschiedliche Methoden: auf der einen Seite steht der Versuch, die subjektive Gefühlskomponente zu erfassen, auf der anderen Seite sollen anhand von psychophysiologischen Methoden objektivierbare Korrelate für die einzelnen Emotionen gefunden werden. Zur Erfassung der subjektiven Gefühlskomponente werden Fragebogen eingesetzt (z. B. Eigenschaftswörterlisten). Für spezifische Emotionen gibt es spezielle Instrumente zur Erfassung von Angst, Depression oder Aggression. Die psychophysiologische Komponente kann z. B. über die elektrodermale Aktivität (Ableitung des Hautleitwiderstandes) oder kardiovaskuläre Parameter (Herzfrequenz, Blutdruck, EKG) gemessen werden.
gigen Gefühlszustände, sondern durchaus auch Reaktionen auf seine menschliche Umwelt. Die Entwicklung der Emotionen verläuft dabei allerdings nicht allein nach einem genetischen Programm, sondern die Ausdifferenzierung des emotionalen Ausdrucks ist stark von der Interaktion des Säuglings mit den Eltern abhängig. Um eine gelungene „Affekt-Einstimmung“ zu erreichen, ist es wichtig, dass die Eltern eine große Empathie (Einfühlsamkeit) für die jeweilige Emotionsqualität und -intensität des Kindes entwickeln, um sie jeweils zurückzuspiegeln. Diese Abstimmung ist für die Festigung der Eltern-Kind-Bindung, aber auch die generelle Sicherheit des Kindes beim Erleben seiner Umwelt von großer Bedeutung.
Die sekundären Emotionen Auch wenn eine genetische Basis für die Entwicklung der primären Emotionen besteht, unterliegt das weitere Erleben der Emotionen zum großen Teil sozialen und kulturellen Einflüssen. Beispielsweise wird die Situationsangemessenheit von Emotionen gelernt, gemäß derer Emotionen bewusst kontrolliert oder ihnen freien Lauf gelassen wird. Während in der westlichen Kultur der Ausdruck von Ärger und Wut nur in wenigen öffentlichen Situationen als angemessen empfunden wird, ist er in anderen Kulturen in vielen Kontexten akzeptiert. Auch die Übernahme von sozialen Rollen geht einher mit dem Erlernen von „passendem“ emotionalen Verhalten. So lernen Jungen häufig immer noch, dass Weinen für sie kein angemessenes Verhalten darstellt.
Merke Als sekundär werden Emotionen dann bezeichnet, wenn sie das Resultat einer Lerngeschichte sind.
4.4.4 Die neurobiologischen Grundlagen der Emotionen
Als sekundäre Emotionen werden auch alle Misch-
Die physiologische Komponente der Emotion hängt von der Aktivierung von Sympathikus und Para-
Emotionen bezeichnet, die Anteile von verschiedenen Basisemotionen enthalten. Die Depression ist beispielsweise eine Mischemotion, da sie Anteile von Trauer, aber auch von Schuld, Verzweiflung und Angst enthält.
sympathikus ab. Über das sympathische Nervensystem wird die Abgabe von Adrenalin und Noradrenalin gesteuert. Diese Katecholamine werden bei physischer und psychischer Erregung ausgeschüttet. Die Ausschüttung von Hormonen und Neuro-
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion transmittern wird vom Hypothalamus und dem
4.4.5 Einige Theorien der Emotion
limbischen System gesteuert. Diese Zentren werden eng mit der physiologischen Erregung in Verbindung gebracht. Eine besondere Bedeutung bei der Verarbeitung und dem Erleben von Emotionen auf kortikaler Ebene spielen der Frontallappen, das limbische System und die Amygdala. Läsionen im Frontallappenbereich führen zu massiven Störungen des Sozialverhaltens. Im Tierversuch zeigen Affen als Folge eine verminderte bzw. unangemessene soziale Interaktion, sie verlieren ihren Status innerhalb der Gruppe. Die emotionale Ausdrucksfähigkeit (Gestik und Mimik) ist reduziert. Man spricht von Tieren mit einem „Pokerface“. Dagegen führt eine bilaterale (beidseitige) Entfernung der Amygdalae zu einer Reduzierung von Furcht. Reize, die normalerweise als bedrohlich erlebt werden, verlieren ihren aversiven Charakter. Die Amygdala spielt bei der Konditionierung von Angstreizen eine Schlüsselrolle für die Assoziation von biologisch-bedeutsamem und bisher neutralem Reiz. Ist dieses Areal zerstört, bleibt die Kampfoder Fluchtreaktion als Reaktion auf konditionierte Furchtreize aus. Auch dem Hippocampus kommt eine besondere Bedeutung bei der emotionalen Reaktion zu. Als neuronales Substrat eines „Verhaltens-Stopp-Systems“ ist er zuständig für den Abgleich von Erwartung und tatsächlicher sensorischer Information. Liegt eine Differenz, ein sog. „Mismatch“ vor, kommt es zu einer Verhaltenshemmung und einer Einleitung von weiterer sensorischer Informationsaufnahme, bis die Diskrepanz behoben ist. Bei Schädigungen des Hippocampus wird das Vermeidungslernen beeinträchtigt: Tiere lernen nicht mehr einem aversiven Reiz auszuweichen. Sie zeigen jedoch weiterhin aktives Fluchtverhalten. Aufgrund von Läsionsstudien und neueren Forschungsergebnissen mit bildgebenden Verfahren geht man von einer Lateralisierung der Emotionen aus, wobei die rechte Hemisphäre eine dominante Rolle spielt. Auch eine besondere Spezialisierung der rechten Hemisphäre auf negative Emotionen wird diskutiert.
Theorien der Emotion drehen sich hauptsächlich um die Frage, wie Emotionen entstehen. Auch wenn
115
bezüglich der zu den Emotionen gerechneten Komponenten große Übereinstimmung besteht, unterscheiden sich die theoretischen Ansätze darin, welche Komponente sie für die dominante halten, die Komponente also, die sozusagen die Basis der Emotion darstellt. Entsprechend sind die folgenden Theorien eingeteilt in solche, die die Kognition (Gedanken) als Ursache der Gefühle sehen, Theorien, die die
Ausdruckskomponente als die Ursache der Gefühle postulieren und Ansätze, die die physiologischen Veränderungen als Basis der Gefühle ansehen.
Die kognitiven Theorien der Emotion Der Grundgedanke kognitiver Theorien ist, dass nicht das externe Ereignis an sich ein Gefühl auslöst, sondern dass zunächst eine interne Bewer-
tung („Appraisel“) des Ereignisses stattfindet. Aufgrund dieser kognitiven Bewertung erhält jedes Ereignis eine subjektive Bedeutung, die dann das Gefühl auslöst. Zu den kognitiven Emotionstheorien gehören u. a. Lazarus Theorie der kognitiven Bewertung (s. S. 21) und die Zwei-KomponentenTheorie von Schachter und Singer (1962).
Die Zwei-Komponenten-Theorie von Schachter und Singer Die Grundannahme der Zwei-Komponenten-Theorie (sie wird auch als kognitive Emotionstheorie bezeichnet) ist folgende: Das Erleben von Gefühlen beruht einerseits auf physiologischer Erregung, andererseits auf einer kognitiven Komponente. Schachter und Singer gehen davon aus, dass die physiologische Erregung zunächst unspezifisch ist. Das Individuum spürt diese Erregung und sucht nach einer Erklärung, die es aus dem Situationszusammenhang ableitet. Je nach Art der Hinweise, die es in der Umgebung gibt, wird die physiologische Erregung „benannt“. Dieser Ablauf ist hoch automatisiert und geschieht vollkommen unbewusst, sodass man die „Selbstkonstruktion“ des Gefühls nicht bemerkt. Diese zunächst sehr spekulativ erscheinende Theorie basiert auf einigen originellen Experimenten. Im Folgenden ist als Beispiel ein Experiment zur Eti-
kettierung von emotionaler Erregung beschrieben.
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Experiment zur Etikettierung emotionaler Erregung
die emotionale Erregung einer anderen Ursache zu-
Die Versuchspersonen der Experimentalgruppe erhielten eine Adrenalin-Injektion (anregende Wir-
schreibt, als derjenigen, die wirklich dafür verantwortlich war.
kung), eine andere Gruppe ein Placebo. Innerhalb einem Teil der Probanden wurde mitgeteilt, dass
Ein Exkurs: Sind emotionale Prozesse bewusst oder unbewusst?
die Injektion eine physiologische Erregung bewirkt,
Die Diskussion, ob zunächst eine kognitive Bewer-
einem anderen Teil wurde diese Information vor-
tung einer Situation vorliegen muss, um eine Emo-
enthalten. Anschließend mussten die Versuchsper-
tion auszulösen, wurde weitreichend untersucht. In
sonen mit einer anderen vermeintlichen Versuchsperson gemeinsam warten. Diese andere Person
Experimenten zur subliminalen Wahrnehmung, bei denen Reize dargeboten werden, die unter der be-
war ein Verbündeter des Versuchsleiters und ent-
wussten Wahrnehmungsschwelle liegen, konnte
weder sehr fröhlich oder sehr wütend. Im An-
man zeigen, dass auch unbewusst wahrgenom-
schluss an die Wartephase wurden dann die Emo-
mene Reize Emotionen auslösen können. Auch im
tionen der Versuchspersonen erfragt.
alltäglichen Leben sind unbewusste emotionale
Interessanterweise zeigte sich, dass die Versuchs-
Prozesse gegenwärtig, wenn man zum Beispiel
personen, die keine stimmige Erklärung für ihre
eine spontane Zu- oder Abneigung gegenüber
physiologische Erregung erhalten hatten (die also nicht wissen konnten, dass die physiologische Erre-
einer anderen Person verspürt, die man jedoch nicht rational begründen kann. In so einem Fall
gung auf die Injektion zurückzuführen war) eine
wird das Gefühl also ohne eine vorherige kognitive
Stimmung angaben, die der Stimmung des Verbün-
Bewertung ausgelöst.
der Gruppen fand eine weitere Manipulation statt:
deten ähnelte. Bei Personen, die wussten, dass ihre zeigte sich dieser Zusammenhang nicht. Aus diesen
Die physiologischen Veränderungen als Basis der Gefühle
Befunden leiteten Schachter und Singer ab, dass
James und Lange haben um 1900 als erste postu-
beim Erleben von Emotionen Informationen aus der Situation herangezogen werden, die die zu-
liert, dass die Ursache von Gefühlen periphere physiologische Veränderungen sind (periphere James-
nächst unspezifische Erregung mit Freude, Angst,
Lange-Theorie). Die körperlichen Veränderungen,
Wut oder anderen Emotionen „etikettieren“ helfen.
die bei der Wahrnehmung eines Reizes ausgelöst
Auch diese Theorie kann bestimmte Phänomene je-
werden, sollen nach ihrer Theorie vollständig die
doch nicht erklären. Beispielsweise erlebt man
Qualität und Intensität des erlebten Gefühls be-
Gefühle, die man als unpassend wahrnimmt: Man
stimmen.
fühlt sich traurig, obwohl man dafür eigentlich keinen Anlass sieht. Dieses spontane Erleben von Emotionen läuft kognitiven Erklärungen zuwider, da
Diese Annahme hat sich als problematisch heraus-
das Erleben einer nicht zur Situation passenden
Gefühle gefunden wurden. Zudem sind die physio-
Emotion nach dieser Theorie, in der man das Gefühl
logischen Reaktionen zwischen verschiedenen Indi-
erst aus der Situation heraus selbst ableitet, nicht
viduen häufig sehr unterschiedlich. Allein aufgrund
möglich wäre. Führt man sich zudem die über-
physiologischer Messwerte kann man die Gefühls-
lebenswichtige Funktion von Emotionen vor Auge, wird deutlich, dass es aus evolutionärer Sicht wenig Sinn macht, zunächst eine (viel zu lange dauernde) Bewertung der Situation zu erstellen, bevor das Signal des Gefühlszustands warnt oder beruhigt. Trotz dieser Einschränkung liefert die kognitive Theorie wichtige Hinweise auf das Phänomen des Fehlattribuierens von Emotionen, bei dem man
komponente eines Menschen also nicht vorher-
Stimmung auf die Injektion zurückzuführen ist,
gestellt, da keine eindeutigen Unterschiede in den physiologischen Veränderungen der verschiedenen
sagen. Es ist bei einer erhöhten kardiovaskulären Aktivität beispielsweise nicht erkennbar, ob der Mensch freudig, aufgeregt oder ängstlich ist. Diese Unspezifität der physiologischen Erregung macht die Verwendung von „objektiven Emotionsmessungen“ wie dem Lügendetektor sehr fragwürdig.
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Die zentralnervösen Veränderungen als Basis der Gefühle
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sich beim Säugling um den sechsten Lebensmonat
Ein weiterer physiologischer Ansatz stammt von
herum und taucht zunächst in Form vom Fremdeln (ca. 6. Monat) und Trennungsangst (8-Monats-
James Cannon (1915). Seine Grundannahme lautet,
angst) auf. In normalem Ausmaß ist Angst eine
dass Gefühle nur über die Reizwahrnehmung und
funktionale Emotion, da sie dazu beträgt, real ge-
-bewertung des Gehirns möglich sind. Der emoti-
fährliche Situationen auch als solche zu erkennen
onsauslösende Reiz aktiviert das zentrale Nerven-
und auf sie zum Schutze des Organismus reagieren
system (u. a. das limbische System) und diese Aktivierung löst sowohl eine Gefühlskomponente als auch die physiologische Erregung aus. Hintergrund dieser Annahme sind Versuche, bei denen Kortexareale elektrisch stimuliert wurden. Da diese „direkte“ Stimulation des limbischen Systems ein Gefühl auslösen kann, vermutete Cannon, dass die Rückmeldung der physiologischen Erregung für das Gefühlserleben nicht notwendig sei. Allerdings weiß man inzwischen, dass diese direkte Auslösung des Gefühls über die Hirnstimulation nur funktioniert, wenn in der Vergangenheit eine Assoziation von Gefühl und physiologischem Erregungsmuster stattgefunden hat. Zudem scheint für die volle Ausprägung des Gefühlserlebens auch die peripherphysiologische Komponente notwendig zu sein.
zu können. Sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig an Angst können jedoch sehr problematisch sein. Patienten, die unter einer Angststörung leiden, empfinden ihr Leben häufig als sehr stark eingeschränkt. Aber auch das Extrem der Angstfreiheit kann für die betroffene Person sehr unangenehm sein, da ihr ein lebenswichtiger Selbstschutzmechanismus fehlt. Eine den Umständen angemessene emotionale Reaktion nennt man Realangst, sie wird manchmal auch als Furcht bezeichnet. Demgegenüber steht die phobische Angst, die eine übertriebene Reaktion darstellt (z. B. eine Spinnenphobie). Diese übertriebene Angst wird zum Teil auch mit dem psychoanalytischen Begriff der neurotischen Angst bezeichnet. Zudem muss man zwischen Angst und Furcht unterscheiden. Während sich Furcht auf
4.4.6 Die spezifischen Emotionen Die Angst Die Symptome der Angst Angst umfasst das Gefühl des Bedrohtseins, das bei Menschen in den verschiedensten Situationen auf-
ein konkretes Objekt, eine Person oder eine Situation richtet (z. B. Furcht vor einem wilden Tier) und dem Ausmaß der Gefahr angemessen ist, ist
Angst nicht auf einen Gegenstand bezogen und die Quelle der Gefahr diffus.
tritt. Wie bei anderen Emotionen kann man bei der Angst verschiedene Komponenten unterschei-
„State“ versus „Trait“
den. Neben dem Gefühl von Bedrohung und Un-
Man unterscheidet den akuten Zustand der Angst (State) von der allgemeinen Ängstlichkeit einer Person, die als relativ überdauerndes Personenmerkmal (Trait) aufgefasst wird (vgl. S. 135). Folglich erlebt eine Person, die eine hohe allgemeine Ängstlichkeitsausprägung hat, auch häufiger AngstZustände als eine Person mit niedriger Trait-Angst. Zu dieser Unterscheidung von State- und TraitAngst gibt es auch einen Fragebogen von Spielberger („State-Trait-Anxiety Inventory“), der für beide Konstrukte getrennte Werte erfasst.
ruhe, zeigen sich auch physiologische Symptome wie erhöhter Herzschlag, Zittern, Kälteschauer, Schweißausbrüche, Übelkeit und Harndrang. Die kognitive Komponente besteht aus Sorgen, grüblerischen Gedanken und Befürchtungen. Im beobachtbaren Verhalten ist dagegen einerseits ein für Angst typischer Gesichtsausdruck zu erkennen – u. a. das Heben der Oberlippe, die Spannung der Lider – andererseits geht Angst häufig mit Fluchtoder Vermeidungsreaktionen einher. Je nach Art der Angst und personenspezifischen Merkmalen variieren die Symptome beträchtlich.
Der Umgang mit der Angst: Repression versus Sensitization
Verschiedene Formen der Angst
Selbst bei einem vergleichbaren Ausmaß von Angst
Angst ist eine der sechs Primäremotionen mit ein-
gehen verschiedene Menschen sehr unterschiedlich
deutig lebenswichtigem Charakter. Sie entwickelt
mit ihrer Angst um. Ein Persönlichkeitskonstrukt,
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion dass diese Unterschiede systematisch beschreibt,
bie), Blutphobie, Höhenangst oder Agoraphobie
ist die Gegenüberstellung von Repression und Sensitization. Mit Repression wird ein Verhaltensstil
(Angst vor öffentlichen Plätzen, die mit der Sorge, nicht entkommen zu können einhergeht). Die Krite-
bezeichnet, bei dem das angsterlebende Indivi-
rien einer spezifischen Phobie werden später noch
duum diese so weit wie möglich unterdrückt (engl.
näher erläutert (s. S. 236).
„to repress“) und vor sich selbst herunterspielt.
Auch die soziale Phobie, eine Angst vor öffentlichen
Sensitizer dagegen sind Menschen, die sich ganz bewusst mit ihrer Angst auseinandersetzen und sich bemühen, Informationen über den Angst machenden Sachverhalt oder die Situation zu erhalten. Sie sind für alle mit ihrer Angst in Verbindung stehenden Informationen hoch sensibilisiert. Gerade im Umgang mit Patienten ist es wichtig, diese verschiedenen Umgangsformen als solche zu erkennen, da trotz der verschiedenen Erscheinungsweisen dahinter in beiden Fällen Ängste stecken, die thematisiert werden sollten. Besonders das Herunterspielen der Ängste verdeckt leicht die tatsächlich existenten Sorgen. Beispiel: Patient A (Sensitizer) will alle jemals aufgetretenen Nebenwirkungen eines Medikaments wissen, Patient B (Represser) schluckt jedes Medikament, ohne den Beipackzettel auch nur anzusehen oder aber vergisst die Einnahme ganz.
Situationen wie Auftritten oder Referaten, in denen man sich der Bewertung anderer ausgesetzt fühlt, tritt häufig auf.
Die Panikstörung Eine Panikstörung wird diagnostiziert, wenn der Patient über plötzlich auftretende Panikattacken berichtet, die ihn „wie aus heiterem Himmel“ überfallen. Diese Anfälle gehen mit dem Gefühl von Todesangst einher. Hinzu kommen meistens starke physiologische Symptome wie Herzrasen, Schwindel, Schwitzen und Zittern.
Beachte Panikattacken treten meistens unerwartet in Ruhesituationen auf. In Erklärungsansätzen wird einerseits eine Störung biochemischer Regulationsprozesse diskutiert, an-
Die Angststörungen In der klinischen Psychologie wurde den Angst-
dererseits wird angenommen, dass die Panikattacken nicht zufällig ohne jeden Auslöser auftreten,
störungen immer besondere Aufmerksamkeit ge-
sondern eine Reaktion auf unbewusste automati-
schenkt. In Freuds psychoanalytischem Ansatz wer-
sche Gedanken darstellen, die dem Patienten je-
den sie als Neurosen bezeichnet, deren jeweilige
doch zunächst nicht zugänglich sind.
Symptomatik auf einen verdrängten Konflikt zu-
Die Panikstörung weist eine hohe Komorbidität
rückgeführt wird. Neben psychoanalytischen An-
(gemeinsames Auftreten) mit der Agoraphobie
sätzen sind bei Angststörungen lerntheoretische
auf. Bei dieser Kombination fürchten sich die be-
Erklärungsmodelle bedeutsam. Auf ihnen basieren auch verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die
troffenen Personen davor, eine Panikattacke an einem unpassenden Ort zu bekommen. Es ent-
mit Angstpatienten häufig durchgeführt werden.
wickelt sich eine Angst vor der Angst, die sie zu
Lerntheoretisch wird die Entstehung von Angst
einer extremen Einschränkung des eigenen Lebens
durch Vorgänge des klassischen und des operanten
veranlasst. Häufig trauen sich die Betroffenen
Konditionierens erklärt. Für die Aufrechterhaltung der Angst ist Vermeidungslernen verantwortlich (s. S. 99). Zu den Angststörungen zählen beispielsweise Phobien, Panikstörungen oder Zwangsstörungen.
nicht mehr alleine aus dem Haus und können
Die Phobie
Die Zwangsstörung
Als Phobien werden übersteigerte Ängste vor einem
Auch die Zwangsstörung fällt unter die Angst-
speziellen Objekt oder einer Situation bezeichnet. Häufig sind Tierphobien (z. B. Spinnen-, Hundepho-
störungen, da das herausragende Symptom in der
nicht mehr arbeiten gehen. Verhaltenstherapeutisch werden in solchen Fällen Maßnahmen zur Konfrontation mit den internen angstauslösenden Gedanken durchgeführt.
Angst davor besteht, dass bei Unterlassen der
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Zwangshandlung etwas Schreckliches geschieht.
Schädigung selbst das Ziel der aggressiven Hand-
Die Zwangshandlungen bzw. Zwangsgedanken sollen dazu dienen, dieses Schreckliche abzuwen-
lung, spricht man von autotelischer Aggression (telos, griechisch: Ziel). Wird dagegen mit der
den. Beispielsweise entwickelt eine Person einen
aggressiven Handlung ein anderes Ziel verfolgt
Waschzwang aus Angst vor Infektionen, dabei
(z. B. jemand soll eingeschüchtert werden), handelt
sind die Zwangshandlungen jedoch vollkommen
es sich um instrumentelle Aggression. Hinter in-
übertrieben, sodass auch der Patient erkennt, dass
strumenteller Aggression kann jede Art von Motiv
sie in keinem realistischen Verhältnis zu dem zu
stecken. Beispielsweise kann bei der Verteidigung
verhindernden Ereignis stehen. Die häufigste Symp-
anderer Menschen ein prosoziales Motiv (Hilfeleis-
tomatik besteht in Wasch- und Kontrollzwängen, bei denen die Zwangshandlungen ritualisiert durch-
tung) mit aggressiven Handlungen einhergehen. Die autotelische Aggression entsteht spontan und
geführt werden und oft viel Zeit beanspruchen.
impulsiv, während instrumentelle Aggression eine
Zwangsgedanken äußern sich darin, dass die Patien-
Absicht und damit meistens auch eine voraus-
ten immer wieder die gleichen Gedanken abspulen,
gehende Planung beinhaltet.
meist um einen angsteinflößenden Gedanken zu un-
Diese Unterscheidung kann auch bei der Auto-
terdrücken. Beispielsweise versucht eine Mutter das
aggression wichtig sein, da bei Patienten, die
Bild, wie sie ihr Kind aus Wut schlägt, dadurch zu
selbstschädigendes Verhalten zeigen, geklärt wer-
unterdrücken, dass sie sich immer wieder einredet, dass sie es über alles liebt und immer für es da
den muss, welches Motiv hinter dieser Handlung steckt. Jenachdem, ob jemand Aggressionen gegen
sein wird. Dieser Gedanke wird oft endlos wieder-
sich selbst richtet, um sich bewusst Schmerzen zu-
holt, um den anderen nicht erwünschten Gedanken
zufügen (autotelisch) oder ob das Verhalten eher
zu überspielen. Daraus können sich ebenfalls sehr
eine Art Hilferuf an die Umwelt darstellt (instru-
belastende Rituale entwickeln.
mentell), muss man das therapeutische Vorgehen
Lerntheoretisch kann man die Aufrechterhaltung von Zwängen durch Vermeidungslernen erklären (s. S. 99). Da das Zwangsritual scheinbar dazu beiträgt, dass das gefürchtete Ereignis nicht eintritt, wird es durch das Ausbleiben der gefürchteten Situation negativ verstärkt. Als Therapiemaßnahme konfrontiert man deshalb den Patienten mit der angstbesetzten Situation oder dem gefürchteten Gedanken, ohne dass er diese mit Zwangshandlungen abwenden darf. Durch das Durchbrechen der Vermeidung soll der Patient erleben, dass er die befürchtete Situation aushalten kann. Psychoanalytisch wird die Ausbildung einer Zwangneurose auf die Abwehr unerlaubter sexueller und aggressiver Triebimpulse zurückgeführt (vgl. S. 141).
auf die Gründe und Ziele abstimmen.
119
Es gibt diverse theoretische Ansätze, um Aggression und aggressives Verhalten zu erklären. Besonders die Frage nach der Entwicklung von Aggression und den Bedingungen, unter denen aggressives Verhalten auftritt, ist relevant.
Die psychoanalytische Sichtweise: Aggression als Todestrieb Psychoanalytisch wird die Existenz von Aggression durch den Todestrieb (Thanatos) erklärt. Dieser bei jedem Menschen vorhandene Trieb energetisiert schädigendes Verhalten. Gemäß des psychoanalytischen „Dampfkesselmodells“ staut sich die Triebenergie immer mehr auf, bis es schließlich zum aggressiven Ausbruch kommt. Dabei wird die
Die posttraumatische Belastungsstörung
Triebspannung abgebaut. Dieser Ablauf wird in
Belastungsstörung
der Katharsishypothese beschrieben, nach der ein
(PTBS) wird zu den Angststörungen gerechnet. Sie wurde bereits im Kapitel über die Stressreaktionen
aggressives Abreagieren zu einer Verminderung der aggressiven Impulse führt. Interessanterweise
(s. S. 22) beschrieben.
nimmt man an, dass auch ein indirektes Erleben
Auch
die
posttraumatische
von Aggression, beispielsweise durch das Ansehen
Die Aggression
aggressiver Filmszenen, zu einem Abbau aggressi-
Aggression wird definiert als Motiv, sich selbst (Au-
ver Impulse führen soll. Diese Annahme steht im
toaggression) oder andere zu schädigen. Ist die
deutlichen Widerspruch zu den Postulaten der
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Lerntheorie, die davon ausgeht, dass durch die Be-
Die Frustrations-Aggressions-Hypothese
obachtung aggressiven Verhaltens ein solches gelernt wird und mit größerer Wahrscheinlichkeit
Dollard und Miller (1950) haben sich in ihrem Forschungsansatz zur Aggression besonders auf die
auftritt (außer es wird im Film bestraft).
Bedingungen konzentriert, unter denen aggressives Verhalten auftritt. Die Hauptaussage der Frustra-
Die ethologische Sichtweise: Aggression als Instinkt
rende Erlebnisse zu einer gesteigerten Aggressions-
Nach ethologischer Sicht (vgl. S. 123) dient die
bereitschaft führen. Frustration erlebt ein Indivi-
menschliche Aggression denselben Zwecken wie
duum immer dann, wenn es von externen Faktoren
beim Tier. Sie wird zur Verteidigung des Lebensraums und der Nachkommenschaft und zur Bildung
daran gehindert wird sein angestrebtes Ziel zu erreichen. Ein anschauliches Beispiel für diese Hypo-
einer sozialen Rangordnung eingesetzt. Genau wie
these stellt das Verhalten von Autofahrern im Stau
bei Freuds Konzeption der steigenden Triebspan-
dar. Das Bedürfnis, vorwärtszukommen ist frus-
nung kommt es auch beim aggressiven Instinkt zu
triert, und diese Frustration entlädt sich häufig ge-
einer periodischen Entladung. Diese Aggressions-
genüber den weiteren Wageninsassen oder ande-
abfuhr kann mit Hilfe eines Ersatzobjektes (z. B.
ren Autofahrern. Trotz der Anschaulichkeit muss
Tritte in einen Boxsack statt der Verletzung eines
man den Erklärungswert der Frustrations-Aggres-
anderen Menschen) befriedigt werden. Gegen diesen Ansatz muss man kritisch einwenden, dass es
sions-Hypothese sehr kritisch bewerten. Zum einen muss Frustration nicht immer in Aggression
keine somatische Triebquelle als physiologisches
münden, zum anderen kann aggressives Verhalten
Substrat der nach Entladung drängenden Aggres-
auch ohne vorausgehende Frustration bei der Kon-
sion beim Menschen gibt. Zudem gilt derselbe Ein-
frontation mit einer aversiven Situation auftreten.
tions-Aggressions-Hypothese lautet, dass frustrie-
wand wie bereits bei der Katharsishypothese: Ein kontrolliertes Ausleben von Aggressionen führt nicht in jedem Fall zu einer Reduzierung der Aggressivität. Im Gegenteil zeigt sich in diversen Studien zur Auftretenshäufigkeit von Aggression, dass sie dadurch sogar gesteigert werden kann.
Die lerntheoretische Sichtweise: Aggression als gelerntes Verhalten Die Lerntheorie nimmt an, dass aggressives Verhalten genau wie jedes andere Verhalten über die verschiedenen Mechanismen des Lernens (s. S. 91) erworben wird. Eine besondere Rolle nimmt dabei das Modelllernen ein. In zahlreichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass Kinder nach der Beobachtung von aggressiv handelnden Personen selbst vermehrt aggressives Verhalten zeigen. Allerdings hängt die tatsächliche Ausführung des
Beachte Frustration führt nicht in jedem Fall zu Aggression. Und nicht jedem aggressiven Verhalten geht unbedingt eine frustrierende Situation voraus. In diesem Zusammenhang soll noch der Begriff der Frustrationstoleranz erläutert werden. Frustrationstoleranz bezeichnet die Fähigkeit, unvermeidliche Einschränkungen bei der Zielerreichung zu verarbeiten, ohne dass das eigene Wohlbefinden beeinträchtigt wird oder ausweichendes Verhalten als Kompensation nötig ist. Für den im Stau steckenden Autofahrer würde das bedeuten, dass er trotz eingeschränkter Fahrt ruhig bleibt und nicht seine Wut durch heftige Diskussionen mit dem Beifahrer abbauen muss.
am Modell gesehenen Verhaltens von weiteren Faktoren wie der Bewertung der gezeigten Gewalt und der Realitätsnähe der Darstellung ab. Als pro-
Die Trauer Trauer ist ein angeborenes primäres Gefühl, das
blematisch erweisen sich besonders die realisti-
nach Trennung oder Verlust von Bindungen auf-
schen Gewaltdarstellungen, bei denen der Täter
tritt. Evolutionstheoretisch kann man Trauer als
als Held dargestellt wird und keine Identifizierung
psychobiologische Reaktion zur Aufrechterhaltung
mit dem Opfer erfolgt oder die Opfer dehumanisiert
von Gruppenbindungen beim Verlust eines Mit-
werden.
glieds beschreiben. Der mimische Ausdruck der
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4 Theoretische Grundlagen Die Emotion Trauerreaktion hat Aufforderungscharakter für die
neben den depressiven Verstimmungen mindes-
Gruppenmitglieder, sich um das trauernde Individuum zu kümmern. Wie genau das Verhalten des
tens eine manische Phase (übersteigert positive und exzessive Stimmung) vorkommt. Von unipola-
Trauernden aussieht, unterliegt kulturellen Ein-
rer Depression spricht man dagegen, wenn nur ne-
flüssen. So ist beispielsweise in südeuropäischen
gative Verstimmungen auftreten. Sie wird auch als Major Depression bezeichnet. Diese Unterscheidung beruht unter anderem auf der unterschiedlichen Ätiologie (Entstehungsgeschichte) der Störungen: Während bipolare Depressionen eine stärkere genetische Basis zu haben scheinen, werden als Auslöser von unipolaren Depressionen eher Umweltereignisse vermutet. Aber auch bei der Behandlung mit Psychopharmaka zeigen sich Unterschiede. Patienten mit bipolarer Störung sprechen meist positiv auf Lithiumsalze an, während unipolare Depression mit trizyklischen Antidepressiva oder Serotonin-WiederaufnahmeHemmern behandelt werden. Zudem kommen bei depressiven Patienten verschiedene psychotherapeutische Maßnahmen zum Einsatz (u. a. kognitive Verhaltenstherapie). Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle zur Entstehung von Depressionen. Neben einer umweltbedingten Komponente geht man besonders bei der bipolaren Störung auch vom Einfluss genetischer Faktoren aus. Zudem werden neurochemische Erklärungsansätze diskutiert, die von einer Störung im Transmitterhaushalt ausgehen (s. S. 88, serotonerges System). Zu den psychologischen Theorien gehören z. B. die kognitive Theorie nach Beck (s. S. 241) und die Theorie der erlernten Hilflosigkeit. Seligmans Theorie der erlernten Hilflosigkeit wird zur Entstehung von Depressionen herangezogen. Ihre Grundannahmen sind aus der tierexperimentellen Forschung abgeleitet: In Tierexperimenten wurden Ratten in einen Käfig gesetzt, dessen eine Bodenplatte unter Strom gesetzt werden kann. Sobald die Platte elektrifiziert wurde, flüchteten die Ratten in die sichere Käfighälfte. Nachdem sie diese Fluchtreaktion erfolgreich gelernt hatten, wurden die Ratten in einem Geschirr auf der Metallplatte festgeschnallt. Die Platte wurde wieder unter Strom gesetzt, so dass die Ratten wiederholt dem Elektroschock ausgesetzt waren, ohne flüchten zu können. Nach mehrmaliger Wiederholung wurde das Geschirr geöffnet. Nun zeigte sich, dass die frei beweg-
Ländern ein expressives und öffentliches Klagen viel üblicher als in Mittel- oder Nordeuropa, wo Trauer eher leise und im engen Familienkreis erlebt wird. Allgemeine Symptome der Trauer sind Niedergeschlagenheit, Grübeln, Schlaflosigkeit, Nervosität, Appetitlosigkeit, sozialer Rückzug, aber auch Konzentrationsstörungen und Sinnestäuschungen (Halluzinationen) können auftreten. Die Phasenabfolge beim Trauerprozess wird im Kapitel „Der Tod, das Sterben und die Trauer“ (s. S. 257) ausführlich dargestellt. Von pathologischer Trauer spricht man dann, wenn die geschilderte Trauersymptomatik auch einige Monate nach dem Verlust nicht zurückgeht, sondern sich in ein dauerhaftes Gefühl der Leere und
Sinnlosigkeit wandelt. Menschen, die aus der akuten Trauerreaktion nicht wieder herausfinden, bilden eine depressive Symptomatik aus. Hinzu kommen häufig auch psychosomatische Symptome und eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten.
Die Depression Im Gegensatz zur Trauer ist Depression ein Mischgefühl, das Anteile von Trauer, aber auch von Scham, Ekel, Wut, Ärger, Feindseligkeit oder Angst enthalten kann.
Beachte Depression gehört nicht zu den primären Emotionen. Depressive Patienten zeigen Beeinträchtigungen auf verschiedenen Ebenen: emotionale Ebene: negative Stimmung kognitive Ebene: negatives Selbstbild, Schuldgefühle motivationale Ebene: Antriebsminderung Verhaltensebene: Ruhelosigkeit, Untätigkeit physiologische Ebene: Schlafstörungen Nach dem Diagnostischen Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM IV) unterscheidet man bipolare und unipolare Depressionen. Als bipolar werden Depressionen bezeichnet, wenn
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation lichen Ratten bei einem erneuten Stromschlag
spiel illustriert, dass ein geringes Ausmaß von
nicht mehr in die sichere Hälfte des Käfig flüchteten, sondern hilflos auf der elektrifizierten
Angst nicht in jeder Situation erstrebenswert ist.
Check-up
Platte sitzen blieben. Daraus leitet Seligman ab, die fehlende Kontrolle
4
über die Elektroschocks habe dazu geführt, dass die Ratten selbst als sie wieder frei waren, nicht erkannten, dass sie den Schmerz vermeiden konnten.
4
Sie verhielten sich hilflos als wären sie immer noch im Geschirr eingespannt. Neben dem fehlenden Vermeidungsverhalten werden noch weitere Symptome zur erlernten Hilflosigkeit gerechnet. Dazu gehören: ein emotionales Defizit (Freudlosigkeit) ein motivationales Defizit (Fehlen zielgerichte-
4 4
Machen Sie sich noch einmal klar, was man unter primären und sekundären Emotionen versteht und worin sie sich unterscheiden. Rekapitulieren Sie die vier (bzw. fünf) Komponenten der Emotion. Wiederholen Sie die Aggressionstheorien. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, was die Theorie der gelernten Hilflosigkeit besagt.
4.5 Die Motivation
ter Aktivität) ein kognitives Defizit (verzögertes Lernen von
Lerncoach
aktivem Vermeidungsverhalten) neurobiologische Veränderungen wie z. B. bei
Im folgenden Kapitel werden Sie verschiedene Theorien darüber kennenlernen, was Menschen zu ihrem Verhalten motiviert. Vermutlich kommen Ihnen einige Inhalte bereits bekannt vor, da zur Erklärung von Beweggründen auch Konzepte der Kognitions- und Emotionspsychologie herangezogen werden. Sie können sich das Lernen der Motivationstheorien erleichtern, indem Sie vor allem auf die grundlegenden Unterschiede achten.
Depression (z. B. Verringerung des Noradrenalingehalts im ZNS). Auf das menschliche Verhalten übertragen bedeutet das, dass die fehlende Kontrolle über die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zur erlernten Hilflosigkeit führt. Wenn ein Mensch den Eindruck gewinnt, dass er, egal was er tut, die Folgen seines Handelns nicht beeinflussen kann, gibt er es irgendwann auf, aktiv auf seine Umwelt einwirken zu wollen. Diese Einstellung spiegelt sich häufig in den Aussagen Depressiver wieder: sie sehen keinen
4.5.1 Der Überblick
Sinn mehr darin, sich um die Gestaltung ihres Le-
Die Motivationspsychologie stellt sich die Fragen:
bens zu bemühen, da sie es doch nicht beeinflussen
Warum verhalten sich Menschen so wie sie es
können. Allerdings ist mangelnde Kontrollerfah-
tun? Worauf zielt ihr Verhalten ab? In diesem Kapi-
rung nach heutigen Erkenntnissen nicht in jedem Fall die Ursache einer depressiven Störung. Man
tel werden verschiedene Motivationstheorien vorgestellt, die diese Fragen beantworten. Anschlie-
sollte sie eher als einen Faktor betrachten, der die
ßend wird erläutert, wie Motive entstehen, wie
Entwicklung von Depressionen begünstigt.
sie untereinander in Konflikt geraten können und welche neurobiologischen Substrate ihnen zu-
4.4.7 Klinische Bezüge Operationsangst
grunde liegen. Zum Ende des Kapitels werden
Im klinischen Bereich ist eine bestimmte Art von
motivation und die Sucht – näher dargestellt.
Angst von besonderer Bedeutung: die Operationsangst. Es hat sich gezeigt, dass das Ausmaß von
zwei wichtige Motivationssysteme – die Leistungs-
hang mit der postoperativen Bewältigung steht. Ein
4.5.2 Wichtige Grundbegriffe der Motivationspsychologie Die Zielgerichtetheit des Verhaltens
mittleres präoperatives Angstniveau geht mit den
Die Motivationspsychologie beschäftigt sich mit
geringsten physischen und psychischen Komplika-
den Beweggründen von Verhalten (movere lat. be-
tionen nach der Operation einher. Auch dieses Bei-
wegen). Sie will erklären, warum und unter wel-
Angst vor einem operativen Eingriff im Zusammen-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation lichen Ratten bei einem erneuten Stromschlag
spiel illustriert, dass ein geringes Ausmaß von
nicht mehr in die sichere Hälfte des Käfig flüchteten, sondern hilflos auf der elektrifizierten
Angst nicht in jeder Situation erstrebenswert ist.
Check-up
Platte sitzen blieben. Daraus leitet Seligman ab, die fehlende Kontrolle
4
über die Elektroschocks habe dazu geführt, dass die Ratten selbst als sie wieder frei waren, nicht erkannten, dass sie den Schmerz vermeiden konnten.
4
Sie verhielten sich hilflos als wären sie immer noch im Geschirr eingespannt. Neben dem fehlenden Vermeidungsverhalten werden noch weitere Symptome zur erlernten Hilflosigkeit gerechnet. Dazu gehören: ein emotionales Defizit (Freudlosigkeit) ein motivationales Defizit (Fehlen zielgerichte-
4 4
Machen Sie sich noch einmal klar, was man unter primären und sekundären Emotionen versteht und worin sie sich unterscheiden. Rekapitulieren Sie die vier (bzw. fünf) Komponenten der Emotion. Wiederholen Sie die Aggressionstheorien. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, was die Theorie der gelernten Hilflosigkeit besagt.
4.5 Die Motivation
ter Aktivität) ein kognitives Defizit (verzögertes Lernen von
Lerncoach
aktivem Vermeidungsverhalten) neurobiologische Veränderungen wie z. B. bei
Im folgenden Kapitel werden Sie verschiedene Theorien darüber kennenlernen, was Menschen zu ihrem Verhalten motiviert. Vermutlich kommen Ihnen einige Inhalte bereits bekannt vor, da zur Erklärung von Beweggründen auch Konzepte der Kognitions- und Emotionspsychologie herangezogen werden. Sie können sich das Lernen der Motivationstheorien erleichtern, indem Sie vor allem auf die grundlegenden Unterschiede achten.
Depression (z. B. Verringerung des Noradrenalingehalts im ZNS). Auf das menschliche Verhalten übertragen bedeutet das, dass die fehlende Kontrolle über die Konsequenzen des eigenen Verhaltens zur erlernten Hilflosigkeit führt. Wenn ein Mensch den Eindruck gewinnt, dass er, egal was er tut, die Folgen seines Handelns nicht beeinflussen kann, gibt er es irgendwann auf, aktiv auf seine Umwelt einwirken zu wollen. Diese Einstellung spiegelt sich häufig in den Aussagen Depressiver wieder: sie sehen keinen
4.5.1 Der Überblick
Sinn mehr darin, sich um die Gestaltung ihres Le-
Die Motivationspsychologie stellt sich die Fragen:
bens zu bemühen, da sie es doch nicht beeinflussen
Warum verhalten sich Menschen so wie sie es
können. Allerdings ist mangelnde Kontrollerfah-
tun? Worauf zielt ihr Verhalten ab? In diesem Kapi-
rung nach heutigen Erkenntnissen nicht in jedem Fall die Ursache einer depressiven Störung. Man
tel werden verschiedene Motivationstheorien vorgestellt, die diese Fragen beantworten. Anschlie-
sollte sie eher als einen Faktor betrachten, der die
ßend wird erläutert, wie Motive entstehen, wie
Entwicklung von Depressionen begünstigt.
sie untereinander in Konflikt geraten können und welche neurobiologischen Substrate ihnen zu-
4.4.7 Klinische Bezüge Operationsangst
grunde liegen. Zum Ende des Kapitels werden
Im klinischen Bereich ist eine bestimmte Art von
motivation und die Sucht – näher dargestellt.
Angst von besonderer Bedeutung: die Operationsangst. Es hat sich gezeigt, dass das Ausmaß von
zwei wichtige Motivationssysteme – die Leistungs-
hang mit der postoperativen Bewältigung steht. Ein
4.5.2 Wichtige Grundbegriffe der Motivationspsychologie Die Zielgerichtetheit des Verhaltens
mittleres präoperatives Angstniveau geht mit den
Die Motivationspsychologie beschäftigt sich mit
geringsten physischen und psychischen Komplika-
den Beweggründen von Verhalten (movere lat. be-
tionen nach der Operation einher. Auch dieses Bei-
wegen). Sie will erklären, warum und unter wel-
Angst vor einem operativen Eingriff im Zusammen-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation chen inneren und äußeren Umständen sich Men-
4.5.3 Die Motivationstheorien
schen Ziele setzen, welche das sind und auf welche Art und Weise sie verfolgt werden. Neben Erklärun-
Es gibt eine Reihe von Motivationstheorien, die menschliches Verhalten aus unterschiedlichen
gen, die für alle Menschen gleichermaßen gelten,
theoretischen Blickwinkeln betrachten und erklä-
interessieren auch inter- und intraindividuelle Un-
ren. Der instinkttheoretische, der psychoanalyti-
terschiede im zielgerichteten Verhalten.
sche, der kognitive und der volitionspsychologische
Als Bestimmungsstücke menschlichen Verhaltens
Ansatz werden – reduziert auf die wichtigsten
nimmt die Motivationspsychologie sowohl Per-
Grundgedanken – kurz dargestellt.
123
sonen- als auch Situationsfaktoren an: die Motive und die Anreize.
Der instinkttheoretische Ansatz Die grundlegende Idee
Die Motive
Der instinkttheoretische und der ethologische An-
Auf Seiten der Person gibt es die Motive, die man
satz gehen davon aus, dass es für viele tierische
als Bevorzugung bestimmter Zielbereiche bezeich-
und menschliche Verhaltensweisen eine genetische
nen könnte. Diese Bevorzugung ist im Sinne einer
Basis gibt.
stabilen Eigenschaft zu verstehen.
Der Begriff Instinkt wurde von Instinkttheoretikern
So gibt es beispielsweise Menschen, deren Eigen-
im frühen 19. Jh. im Sinne eines biologischen
schaft es zu sein scheint, ständig nach besonders herausragenden sportlichen oder beruflichen Erfol-
Bedürfnisses oder inneren Triebes verwendet und – wie heute die Motive – zur Erklärung von Verhal-
gen zu streben, während diese Ziele für andere
ten herangezogen. Die Ethologie wird häufig als Sy-
Menschen eher im Hintergrund stehen. Diese
nonym für die Instinkttheorie verwendet und auch
schätzen und pflegen stattdessen vielleicht soziale
als vergleichende Verhaltensforschung bezeichnet,
Kontakte und setzen das Erleben von Gemeinsam-
weil die Bedingungen, die Merkmale und die Funk-
keit und Freundschaft ganz oben auf ihre Prioritä-
tionen des Verhaltens unterschiedlicher Tierarten
tenliste erstrebenswerter Ziele.
und des Menschen miteinander verglichen werden.
Bei der Einteilung in primäre und sekundäre Motive werden einige Motive näher dargestellt.
Aus dem Vergleich sollen dann Rückschlüsse auf angeborene, phylogenetische Anteile des Verhaltens gezogen werden. Diese Verhaltensweisen
Die Anreize
haben sich – genau wie körperliche Merkmale
Auf Seiten der Situation finden sich nun Bedingun-
auch – im Laufe der Phylogenese ausgebildet, weil
gen, die mehr oder weniger gut dazu geeignet sind,
sie einen Anpassungsvorteil des Organismus an
diese Ziele zu verfolgen. Wenn Situationen eine
seine Umwelt darstellten. Informationen über be-
günstige Gelegenheit zur Zielverwirklichung bie-
währte Verhaltensweisen werden über das Erbgut
ten, regen sie das Motiv an und werden als Anreize bezeichnet.
von Generation zu Generation weitergegeben. Das Verhalten ist also angeboren. Außer den angeborenen Verhaltensweisen gibt es
Die Motivation
solche, die auf Erfahrung beruhen, man spricht
Der Begriff Motivation selbst bezeichnet einen Pro-
von erworbenem Verhalten. Die Beweggründe von
zess, der erst durch das Zusammenwirken der Per-
Verhalten liegen also sowohl in der Geschichte
sonen- und Situationsfaktoren zustande kommt.
der Art (Phylogenese), als auch in der des Individuums (Ontogenese) begründet.
Beachte Motivation entsteht, wenn ein Motiv auf einen thematisch passenden Anreiz trifft. Erst dann wird ein Motiv im Verhalten wirksam.
Die Instinkthandlung Konrad Lorenz (1937), einer der wichtigsten Vertreter des instinkttheoretischen Ansatzes, beschrieb mit der Instinkthandlung eine bestimmte Abfolge von durch eine Triebkraft ausgelöstes Appetenzverhalten bis zur Endhandlung. Liegt Appe-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation tenzverhalten vor, initiiert das Auftreten eines
Am Beispiel der Amseljungen: Hält man den
Schlüsselreizes über einen angeborenen auslösenden Mechanismus (AAM) die Orientierungsbewe-
Jungvögeln einen einfachen Umriss eines Elterntieres aus Pappe vor, beginnen sie ebenfalls, die
gungen und stößt somit die konsumatorische End-
Schnäbel aufzusperren. Die Endhandlung fällt um
handlung an.
so deutlicher aus, je prägnanter bestimmte Merk-
Beispiel: Ist ein wichtiges Bedürfnis unbefriedigt,
male des Schemas ausfallen. Bei den Amseljungen
entsteht ein Drang oder Trieb, der den Organismus
führt ein Kopf-Rumpf-Verhältnis der Attrappe von
dazu veranlasst, nach Situationen zu suchen, die
1:3 zur deutlichsten Reaktion, bei größeren Abwei-
diesen Mangelzustand beseitigen. Dieses von Un-
chungen wird die Endhandlung nicht mehr aus-
ruhe gekennzeichnete Suchverhalten ist das Appetenzverhalten.
gelöst.
Betrachtet werden soll das Beispiel eines Nestes
Beachte Ein Reiz muss spezifische Merkmale erfüllen, um vom AAM als „Schlüssel“ erkannt zu werden.
voller junger hungriger Amseln. Eine längere Nahrungsdeprivation setzt Triebenergie frei, die zu Unruhe und zu Suchverhalten führt. Der angeborene auslösende Mechanismus (AAM)
Die Prägung
ist eine von Geburt an vorhandene Kenntnis über
Nicht alle Schlüsselreize sind von Geburt an vor-
sensorische Informationen, die die zur Bedürfnisbefriedigung führenden Handlungen auslösen: Be-
handen, sondern werden in zeitlich umschriebenen Zeitabschnitten erlernt. Solche lernsensiblen Pha-
stimmte Schlüsselreize aus der Umwelt passen in
sen bezeichnet man als Prägung.
das „Schloss“ des AAM und bereiten so den Weg
Ein schönes Beispiel ist das von Lorenz beschrie-
für orientierende Bewegungen und schließlich für
bene Nachfolgeverhalten junger Graugänse: Sie
die Endhandlung. Ein solcher Schlüsselreiz ist im
halten das Objekt für ihre Mutter, das sie als erstes
Falle der Amseln das Schema der auf das Nest zu-
nach ihrer Geburt erblicken. Üblicherweise ist dies
fliegenden Mutter.
die Gänsemutter, die zum Schlüsselreiz wird, auf
Die konsumatorische Endhandlung ist ein nach einem festen Schema ablaufendes Verhaltenspro-
den die Jungen dann mit Nachfolgeverhalten reagieren. Lässt man die Gänsejungen zu allererst
gramm mit dem Ziel der Triebbefriedigung. Ist
einen Menschen erblicken, akzeptieren sie ihn als
diese erfolgt, besteht kein weiteres Bedürfnis in
ihre „Mutter“ und laufen ihm von nun an hinterher.
dieser Richtung zu handeln und das Appetenzverhalten wird für eine gewisse Zeit nicht gezeigt. Das Verhaltensprogramm der Amseln ist eine Folge von Aufreißen der Schnäbel und Schlucken der Nahrung, die Triebbefriedigung ist die Sättigung (Abb. 4.5).
Beachte Die Prägung ist irreversibel, das heißt, dass das, was in der kurzen sensiblen Lernphase erlernt wird, nicht wieder verlernt werden kann. Der Mensch und die Instinkte
Merke Das Verhalten kann auch durch künstliche Schlüsselreize – sogenannte Attrappen – ausgelöst werden.
Bei Lebewesen niedriger Entwicklungsstufe ist der Ablauf einer Instinkthandlung relativ festgeschrieben, mit der Höhe der Entwicklungsstufe wird die Starrheit von Verhaltensmustern immer mehr durch
Triebkraft Appetenzverhalten
Schlüsselreiz
(Unruhe)
(Schema der Mutter)
Abb. 4.5
AAM
Ablauf einer Instinkthandlung
Orientierungsbewegungen und Endhandlung (Sperren, Schlucken)
nicht-instinktive
Verhaltenskomponenten
überlagert. Der Mensch kann hingegen bewusst über sein Verhalten und dessen Konsequenzen nachdenken. Dennoch finden sich auch bei ihm angeborene Verhaltensweisen: das Appetenzverhalten eines hungrigen Säuglings besteht im Hin- und Herbewegen des Kopfes, die taktile Stimulation der Mundregion
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation fungiert als Schlüsselreiz, der eine Zuwendung des
tion erfüllt: z. B. anstatt anzugreifen oder zu
Kopfes zur Brust und anschließend Saugbewegungen folgen lässt. Ein weiteres Beispiel ist das „Kind-
flüchten, wird unangebrachtes Verhalten aus einem völlig anderen Verhaltensbereich gezeigt.
chenschema“. Eine für Kinder typische Anordnung
Die Übertragung der Triebenergie in einen anderen
von grossen Augen und kleiner Nase ist der
Instinktbereich aufgrund einer Verhaltenshem-
Schlüsselreiz, der den AAM weckt und so eine be-
mung durch gleichstarke Tendenzen, bezeichnet
stimmte Endhandlung auslöst: Man wendet sich
Tinbergen (1956) als Übersprungshandlungen.
dem Kind zu, will es schützen und für es sorgen.
Beim Menschen können solche Übersprungshand-
Stofftiere mit grossen Augen, rundlichem Gesicht
lungen beispielsweise in Verlegenheitsbewegun-
und kleiner Nase ähneln diesem Schema und werden häufig niedlich gefunden und auf den Arm ge-
gen, wie Sich-am-Kopf-kratzen (Verhalten aus dem Bereich der Körperpflege) oder das Kauen an
nommen – sie sind Attrappen.
den Fingernägeln (aus dem Bereich der Nahrungs-
Die grundlegenden Ideen des instinkttheoretischen
aufnahme) zum Ausdruck kommen.
125
Ansatzes finden sich in der modernen Soziobiologie wieder. Sie geht davon aus, dass sich komplexe
Der psychoanalytische Ansatz (vgl. S. 139)
menschliche Verhaltensweisen, zum Beispiel die
Nach dem psychoanalytischen Ansatz wird Verhal-
Partnerwahl, über Jahrhunderte hinweg ausgebil-
ten in erster Linie von innen angetrieben, äußere
det haben, weil ihnen eine wichtige phylogenetische Funktion zukommt.
Bedingungen nehmen in sofern Einfluss, als sie die ursprünglichen Triebe reglementieren und in sozial verträgliche Bahnen lenken.
Die Leerlaufhandlung Das Charakteristikum der oben beschriebenen In-
Der behavioristische Ansatz
stinkthandlung ist ihre Zielgerichtetheit: ist das
Die Gründe menschlichen Verhaltens liegen für die
Ziel erfüllt, wird die Schwelle für die Auslösbarkeit
Behavioristen in Lernprozessen. Ein bedeutender
des Verhaltensprogramms angehoben. Die Schwelle
behavioristisch
kann jedoch auch gesenkt werden, nämlich dann, wenn die auslösenden Reize für längere Zeit aus-
war Hull (1943), der, genau wie der psychoanalytische Ansatz auch, organismische Bedürfnisse als
bleiben.
Energiequelle annimmt, jedoch die Richtung und
orientierter
Motivationsforscher
Stärke von Verhalten durch Lernparameter erklärt.
Beachte Angestaute Triebenergie kann dazu führen, dass eine Instinkthandlung auch ohne einen adäquaten Schlüsselreiz gezeigt wird.
Die organismischen Bedürfnisse fließen in einen
Trieb zusammen, der reduziert werden will. Verhaltensweisen, die zur angenehm erlebten Triebreduktion beitragen, werden verstärkt und ihre Auf-
Ein bekanntes Beispiel ist das von Lorenz beobach-
tretenswahrscheinlichkeit erhöht. Durch Lernerfahrungen bilden sich mit der Zeit Gewohnheiten aus,
tete Jagdverhalten eines von ihm in der Wohnung
die gemeinsam mit den Anreizen (erwartete Beloh-
aufgezogenen Vogels. Der Star vollführte in Lorenz
nungen) die Richtung des Verhaltens bestimmen.
Wohnzimmer trotz Abwesenheit eines Insekts den
Verhaltenssteuernd sind nach Hull also der Trieb,
vollständigen Ablauf einer Fliegenjagd.
die Gewohnheit und der Anreiz, die – multiplikativ miteinander verknüpft – das Reaktionspotenzial
Die Übersprungshandlung
determinieren.
Es kann vorkommen, dass gleichzeitig zwei oder mehrere Verhaltenstendenzen bestehen, die nicht
Um Verhaltensweisen zu erklären, denen keine organismischen Bedürfnisse zugrundeliegen, nahm
miteinander zu vereinbaren sind. Bestehen bei-
man an, dass Triebe auch erworben werden kön-
spielsweise gleichzeitig Kampf- und Fluchtimpulse,
nen. Bei der Unterscheidung in primäre und sekun-
kann die Spannung so groß werden, dass die Trieb-
däre Motive werden wir darauf zurückkommen
energie „ausbricht“ und eine Handlung einsetzt, die
(s. u.).
dann für keine der beiden Triebimpulse eine Funk-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation Der kognitive Ansatz Der kognitive Ansatz in der Motivationspsychologie berücksichtigt, dass Informationen aufgenommen, verarbeitet und für die Bestimmung zukünftigen
Merke Im Erleben ist der Einsatz des Willens mit einem Gefühl der Anstrengung verbunden. Willentliches Handeln bereitet zudem wenig Spaß.
Verhaltens verwertet werden. Wichtig ist, dass die Informationsverarbeitungsprozesse
nicht
unbe-
Das Rubikon-Modell
dingt an Bewusstsein gebunden und daher nicht
Ein
auf den Menschen beschränkt sind.
nimmt für komplexes menschliches Verhalten
Ein zentrales kognitives Konzept ist das der Erwartung (im Sinne antizipierter Folgen): Menschen und Tiere wissen um die Konsequenzen ihres Verhaltens und dieses Wissen bestimmt das Verhalten mit. Die sog. Erwartung-x-Wert-Modelle messen der Erwartung eine große Bedeutung bei.
eine Abfolge motivationaler und volitionaler Hand-
Merke Erwartung-x-Wert-Modelle gehen davon aus, dass Menschen ihre Handlungsziele mit einer gewissen Rationalität auswählen: der Wert eines Ziels wird mit der Erwartung (Wahrscheinlichkeit) es erreichen zu können verrechnet.
modernes
Modell
der
Willenspsychologie
lungsphasen an. Beim Rubikon-Modell der Handlungsphasen (Heckhausen, Gollwitzer & Weinert, 1987) bestimmt die Intention (Zielbildung) den Wechsel von einem motivationalen zu einem volitionalen Prozess: Nach einem anfänglichen, an der Realität orientierten Abwägen von Vor- und Nachteilen verschiedener Ziele wird irgendwann der Entschluss zu einem Ziel gefasst. Mit dieser Intentionsbildung entsteht eine Bewusstseinslage, die – zum Beispiel durch die Aufnahme nur zielförderlicher Informationen – allein auf die Realisierung des Ziels gerichtet ist (Realisierungsorientierung).
Die willentliche Handlungskontrolle Es kommt zum Verhalten, wenn das Ziel positiv be-
Aber auch nach der Intentionsbildung kann die
wertet wird und sein Erreichen gleichzeitig realis-
Zielrealisierung durch stärkere motivationale Ten-
tisch ist. Im Abschnitt über die Leistungsmotivation wird
denzen gefährdet werden. Für diesen Fall stehen Strategien willentlicher Handlungskontrolle zur Verfügung. Nach Kuhl (1987) zählen zu diesen beispielsweise die Motivationskontrolle (die Motivation wird gezielt gesteigert, indem zum Beispiel die Anreize des Ziels erinnert werden und das Ziel so wieder attraktiv und erstrebenswert erscheint) und die Umweltkontrolle (die Umwelt wird so verändert, dass das Ziel besser gelingen kann).
noch differenzierter auf eine solche Erwartungx-Wert-Theorie im Humanbereich eingegangen. Ebenfalls am Beispiel der Leistungsmotivation soll ein weiteres wichtiges kognitives Konzept – das der Kausalattributionen – vorgestellt werden (s. S. 130).
Der volitionspsychologische Ansatz Willens- oder volitionspsychologische Ansätze kön-
4.5.4 Die primären und die sekundären Motive
nen erklären, warum Menschen auch Dinge tun, die
Motive können nach dem Zeitpunkt ihrer Entste-
nicht im Dienste eines Motivs stehen oder die sogar
hung in primäre und sekundäre Motive unterglie-
der aktuellen Motivation entgegengesetzt sind.
dert werden.
Die willentliche Handlung
Mithilfe des Willens gelingt es beispielsweise Diät zu halten, obwohl man Hunger verspürt, oder zu lernen, obwohl man lieber etwas anderes täte.
Die primären Motive Die Funktion primärer Motive
An den Beispielen wird die Funktion des Willens
Primäre Motive sind beispielsweise das Hunger-
deutlich: Willentliche Handlungen ermöglichen
und Durstmotiv sowie das Bedürfnis nach Schlaf
es, wichtige Ziele zu verfolgen, auch wenn für
und Schmerzfreiheit. Sie sind angeboren und ver-
diese gerade keine motivationale Basis besteht.
anlassen dazu, für den Organismus wichtige biologische Grundbedürfnisse zu sichern. Ein anschau-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation liches Beispiel ist der Hunger: Der Organismus
mären Motive. Menschen dürften auch ohne das
braucht, um funktionieren zu können, ein bestimmtes Niveau an Energie, das durch die Nah-
Bedürfnis nach Leistung, Macht, Nähe, Anerkennung und geistiger Herausforderung überleben.
rungsaufnahme reguliert werden muss. Bei Abwei-
Solche als sekundäre Motive bezeichneten Be-
chungen von diesem Niveau wird das Hungermotiv
weggründe menschlichen Handelns müssen also
wirksam, das zum instrumentellen Verhalten der
anders erklärt werden. Zum Beispiel durch Ler-
Nahrungsaufnahme drängt und so den Mangel-
nen: Die Behavioristen nahmen an, dass äußere
zustand ausgleicht. Das Motiv wird nach dieser
Sachverhalte durch eine Verknüpfung an primäre
psychobiologischen Sichtweise also angesprochen,
Bedürfnisse die Funktion eines Motivs überneh-
wenn der Vergleich eines angestrebten Soll-Zustandes mit dem derzeitigen Ist-Zustand einen Mangel
men können. Sie werden zu erlernten Motiven. Ein einleuchtendes Beispiel für ein erworbenes
signalisiert (Regelkreismodell).
Motiv ist die Entstehung des Bindungsmotivs an
Die primären Motive, die dazu beitragen, das
die Mutter: Das primäre Bedürfnis, dessen Befriedi-
körpereigene Gleichgewicht (Homöostase) auf-
gung lustvoll erlebt wird, ist das Hungermotiv. Da
rechtzuerhalten, werden auch homöostatische Mo-
die positiv bewertete Nahrungsaufnahme und die
tive genannt. Eine Ausnahme unter den primären Motiven ist das Sexualmotiv. Es ist auch ein angeborenes Bedürfnis, dient jedoch nicht der Herstellung eines Gleichgewichts und dem Überleben des einzelnen Individuums, sondern trägt durch das Sexualverhalten zum Weiterbestehen der Art bei.
Bedürfnisbefriedigung immer in Anwesenheit der
127
Mutter geschieht, verschmelzen im Sinne einer klassischen Konditionierung die Reize „Mutter“ und „Futter“. Bei mehrmaliger Erfahrung dieser Kopplung führt allein die Anwesenheit der Mutter zu
positiven
emotionalen
Konsequenzen.
Das
Bedürfnis nach der Mutter wird zu einem sekundären Motiv.
Beachte Das Sexualmotiv ist ein primäres, aber kein homöostatisches Motiv.
Für viele andere Beweggründe menschlichen Ver-
Die Überlagerung primärer Motive
ren Motiven. Beibehalten wurde die allgemeine An-
Die primären Motive sind zwar angeboren, werden
nahme, dass sekundäre Motive in erster Linie durch Lernerfahrungen erworben werden. Zur Erklärung soll diesmal ein anderes als das Hungermotiv dienen: Das Bedürfnis, etwas besser machen zu wollen als andere oder etwas besser machen zu wollen, als man es selbst bisher getan hat, bezeichnet man als hohes Leistungsmotiv (s. u.). Es entwickelt sich aus den Lernerfahrungen, dass die Auseinandersetzung mit herausfordernden Tätigkeiten Spaß macht oder von anderen belohnt wird. Eine (Erziehungs-)Umwelt, die angemessen schwierige Aufgaben und positive Lernmodelle bietet und das Erleben von Erfolg und Kompetenz fördert, trägt zu einer positiven Entwicklung des Leistungsmotivs bei. Weitere Beispiele sekundärer Motive sind das Machtmotiv mit dem Ziel, Einfluss auf andere auszuüben, und das Anschlussmotiv als Bedürfnis nach warmen zwischenmenschlichen Beziehungen.
jedoch durch Lernprozesse und andere Bedingungen während der Ontogenese (z. B. gesellschaftliche und kulturelle Normen) überlagert. Am Beispiel des Hungers: Wann Menschen essen und was und wieviel sie zu sich nehmen, ist abhängig von ihren Gewohnheiten, die sich über Jahre ausgebildet haben, und von der Kultur, in der sie leben. Häufig steht die Nahrungsaufnahme auch gar nicht in Beziehung zu den biologischen Bedürfnissen. So wird beispielsweise gegessen, weil sich situative Gelegenheiten bieten (z. B. Mittagspause oder eine Einladung zum Essen), obwohl kein Energiemangel herrscht, oder aber es wird Diät gehalten, obwohl ein Energiedefizit vorliegt.
Die sekundären Motive Das Erlernen von Motiven Die meisten menschlichen Motive dienen nicht so
haltens ist ein solcher Lernprozess jedoch nicht nachweisbar und man nahm Abstand von der Annahme einer zwingenden Verknüpfung mit primä-
offensichtlich biologischen Zwecken wie die pri-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation Die genetische Basis „sekundärer“ Motive
ren Sinn zu stellen oder sich in Einklang mit
Vertreter einer evolutionsbiologischen Perspektive wären mit der Bezeichnung „sekundäre Motive“
einem bedeutungsvollen Ganzen zu fühlen.
im Sinne rein erlernter Motive nicht einverstanden.
Beachte Die Bedürfnisse der einzelnen Hierarchiestufen werden erst dann relevant, wenn die darunterliegenden erfüllt wurden.
Sie vermuten stattdessen, dass es auch für Motive, die nicht der Aufrechterhaltung der körpereigenen Homöostase dienen, eine genetische Basis gibt. Auch diese Motive haben sich ausgebildet, weil für sie ein Anpassungs- und damit Überlebensvor-
Eine häufig geäußerte Kritik an der Motivationshie-
teil besteht. Was aus dem Motiv wird – also wie es ausgeformt wird – hängt von den individuellen
rarchie Maslows betrifft genau diese Annahme einer festgelegten Abfolge von Bedürfnissen.
Lernerfahrungen ab.
Schon das Beispiel des Diäthaltens oder eines Menschen im Hungerstreik, der mit der Nahrungsver-
Die Motivationshierarchie
weigerung eine Ideologie zum Ausdruck bringen
Auch in der Bedürfnishierarchie nach Abraham
will, zeigt, dass grundlegende biologische Bedürf-
Maslow (1971) findet sich die Idee der unterschiedlichen Bedeutsamkeit biologisch-fundierter und sekundärer Motive wieder. Er geht davon aus, dass zunächst primäre Motive befriedigt sein müssen, bevor andere Beweggründe wichtig werden. Diese anderen Beweggründe machen jedoch das Menschsein aus: Als Vertreter eines humanistischen Menschenbildes geht Maslow davon aus, dass Menschen danach streben, sich selbst zu verwirklichen, also ihre Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Die Hierarchie der Bedürfnisse sieht – angefangen von der untersten Motivstufe – wie folgt aus: Biologische Bedürfnisse meinen das Verlangen nach Nahrung, Wasser, Sauerstoff und sexueller Befriedigung. Das Bedürfnis nach Sicherheit umfasst den Wunsch nach Angst- und Schmerzfreiheit und nach Ruhe und Behaglichkeit. Das Bedürfnis nach Zuwendung und Bindung ist das Bestreben nach sozialer Zugehörigkeit, danach zu lieben und geliebt zu werden. Das Bedürfnis nach Wertschätzung der eigenen Person ist der Wunsch, etwas zu gelten, von anderen anerkannt zu werden und von sich selbst und von anderen geachtet und geschätzt zu werden. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung ist das Streben nach persönlichem Wachstum und der Entfaltung der inneren guten Kraft. Das Bedürfnis nach Transzendenz wird von Maslow als oberste Stufe angeführt, die jedoch von den wenigsten Menschen erreicht wird. Gemeint ist der Wunsch, sein Leben in einen höhe-
nisse zugunsten von Bedürfnissen auf höherer Hierarchiestufe zurückgestellt werden können.
4.5.5 Die Motivationskonflikte Aus dem eigenen Erleben dürfte bekannt sein, dass motivationale Tendenzen nicht zwingend nacheinander ablaufen, sondern dass sie gleichzeitig wirksam sein oder sogar miteinander in Konflikt treten können.
Die Konflikttypologie Wenn gleich starke Kräfte auf eine Person einwirken, spricht Lewin (1931) von einem Konflikt. In seiner Konflikttypologie unterscheidet er drei Typen von Konflikten. Miller (1944) fügte später mit dem doppelten Appetenz-Aversions-Konflikt einen vierten Typus hinzu. Der Begriff der Appetenz meint eine Verhaltenstendenz, die auf Lustgewinn durch die Zielerreichung ausgerichtet ist, während die Aversion eine Tendenz darstellt, unlustvolle Erlebnisse zu vermeiden. Eine Person befindet sich in einem Appetenz-Kon-
flikt (oder Aufsuchen-Konflikt), wenn sie sich zwischen zwei positiven Alternativen entscheiden muss. Sie befindet sich in einem Kräftefeld zweier anziehender Ziele, wobei die Kraft des einen nachlässt, sobald sie sich dem anderen nähert. Am Beispiel des Hungers: Es fällt schwer, zwischen zwei Lieblingsgerichten auf der Speisekarte zu wählen. Bei einem Aversions-Konflikt (oder Meiden-Konflikt) wird die Person von zwei Kräften zugleich abgestoßen und befindet sich in einem Spannungsfeld, das nur gelöst werden kann, wenn sie eines
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation der Übel in Kauf nimmt. Am Beispiel: Eine Person muss sich entscheiden, ob sie eine verhasste Tätigkeit, wie Staubsaugen und Spülen durchführt, oder ob sie es unterlässt und lieber die kritischen Bemerkungen des Lebenspartners erträgt. Bei einem Appetenz-Aversions-Konflikt (oder Ambi-
valenzkonflikt, Aufsuchen-Meiden-Konflikt) hat ein Zielobjekt gleichzeitig positive und negative Seiten, zieht also gleichzeitig an und stößt ab. Menschen geraten häufig in Situationen, die die Komplexität der einfachen Konflikttypen übertreffen. Bei einem doppelten Appetenz-Aversions-Kon-
flikt haben beide Alternativen positive und negative Aufforderungscharaktere, die gegeneinander abgewogen werden müssen: entscheidet man sich für einen Arbeitsplatz, der zwar den Traumvorstellungen entspricht, sich nur leider fernab von Freunden und Familie befindet oder wählt man einen wenig attraktiven Job, der die Pflege der Freundschaften weiterhin erlaubt?
4.5.6 Die neurobiologischen Grundlagen der Motivation Das Verstärkersystem
129
Bei frühen Untersuchungen an Ratten wurde der ventromediale Hypothalamus (VMH) beidseitig zerstört. Die Tiere begannen daraufhin vermehrt zu fressen und man schloss auf seine Funktion als „Sättigungszentrum“. Die Ausschaltung des lateralen Hypothalamus – dem „Fresszentrum“ – führte hingegen zum Einstellen der Nahrungsaufnahme. Da die Zerstörung der hypothalamischen Gebiete auch zu einer Beschädigung der sie umgebenden Bahnen führte und neben der Nahrungsaufnahme auch andere Verhaltensweisen beeinträchtigte, sind die Rückschlüsse auf eng umschriebene Zentren jedoch mit Vorsicht zu betrachten. Neuere Untersuchungen sprechen eher dafür, dass ein weit verzweigtes System für das Nahrungsaufnahmeverhalten verantwortlich ist. So spielen beispielsweise auch Regionen außerhalb des Hypothalamus, wie Teile der Amygdala, eine Rolle: Die Stimulation der basolateralen Amygdala wirkt hemmend, die der kortikomedialen Amygdala anregend auf das Fressverhalten von Versuchstieren.
Das mesolimbische Dopaminsystem wurde bereits
4.5.7 Die Leistungsmotivation Die Charakteristika des Leistungsmotivierten
als Substrat für Verstärkung beim Lernen vorgestellt (s. S. 95). Nicht nur bei intrakraniellen
Das Leistungsmotiv wurde bereits als erlerntes Motiv vorgestellt. Es beschreibt das Bestreben, an-
Selbstreizungen der Ratten, sondern auch bei
dere Personen in ihren Leistungen zu übertreffen
natürlich motiviertem Verhalten zeigt sich eine er-
oder etwas besser machen zu wollen, als es einem
höhte Dopaminausschüttung im Nucleus accum-
bisher gelungen ist. Leistungsmotivierte messen
bens, dem eine wichtige Rolle bei der Steuerung
und vergleichen ihre Leistung also in Bezug auf
des Belohnungssystems und damit auch für moti-
sich selbst oder auf andere.
vationales Verhalten im Allgemeinen zukommt. Dennoch kann nicht von „der“ biologischen Grundlage für „die“ Motivation gesprochen werden.
Beachte Für die verschiedensten Motivationssysteme wie Hunger, Durst, Neugier, Angst und Aggression gibt es unterschiedliche neurobiologische Substrate.
Merke McClelland (1953) beschreibt den Kern der Leistungsmotivation als eine „Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab“. Um ihre Leistung beurteilen und vergleichen zu können, wählen Leistungsmotivierte Aufgaben, die sie herausfordern, die also von ihren Anforderun-
Die Neurobiologie des Hungers
gen etwas über den bereits bewältigten Aufgaben liegen. Denn nur Aufgaben, bei denen sowohl Erfolg
Um ein Substrat zu finden, das für die Integration in-
als auch Misserfolg möglich sind, erlauben eine
nerorganismischer und äußerer Reize und die Steue-
konkrete Rückmeldung über die Güte der eigenen
rung der Nahrungsaufnahme verantwortlich ist,
Leistung.
bediente man sich Untersuchungen, bei denen Ge-
Die Rückmeldung, eine anspruchsvolle Aufgabe
hirnregionen ausgeschaltet oder stimuliert wurden.
bewältigt zu haben, führt zu positiven Selbstbewer-
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation tungsaffekten wie Freude und Stolz. Sie sind ein Anreiz für die Zielstrebigkeit Leistungsmotivierter. Wichtig ist, dass Leistungsmotivierte nicht einfach fleißiger oder bemühter sind oder angestrengter arbeiten als niedrig Leistungsmotivierte, sondern dass sie danach streben, besonders effizient zu handeln. Sie versuchen ein Ziel auf dem bestmöglichsten Weg zu erreichen. Dies führt dazu, dass sie Strategien und Wege zum Ziel variieren, um sie zu optimieren.
Die Hoffnung auf Erfolg und die Furcht vor Misserfolg
Die Kausalattributionen von Erfolg und Misserfolg Menschen neigen dazu, ihren Erfolgen und ihren Misserfolgen Ursachen zuzuschreiben. Diese Ursa-
chenzuschreibungen
oder
Kausalattributionen
nehmen Einfluss auf die Motivation: Nur wer sich selbst für einen Erfolg verantwortlich hält, kann Stolz erleben und wird auch zukünftig mit positiven
Leistungsergebnissen
rechnen.
Wie
un-
schwer zu erkennen, handelt es sich bei der Attributionstheorie um ein Modell, bei dem Kogni-
tionen eine bedeutende Rolle im Motivationsprozess spielen.
Wie sich eine Person in Leistungssituationen verhält, hängt neben der Stärke des Motivs auch von
Die drei Dimensionen der Kausalattributionen
der Dominanz eines der beiden Komponenten
Die attributionstheoretischen Ansätze von Heider
eines Motivs ab.
(1958) und später von Weiner (1971) ordnen die
Merke Das Leistungsmotiv umfasst die beiden Tendenzen Hoffnung auf Erfolg und Furcht vor Misserfolg.
Zuschreibungen von Handlungsergebnissen nach den drei Dimensionen „Lokation“, „Stabilität“ und „Globalität“: Die Dimension der Lokation betrifft den Ort der Ursache. Die Ursache für Handlungsergebnisse kann als innerhalb oder außerhalb der eigenen Person
Je nachdem, welche der beiden Komponenten stär-
liegend wahrgenommen werden. Glaubt man selbst
ker ausgeprägt ist, spricht man von Erfolgs-
die Ergebnisse seines Handelns bestimmt zu haben,
motivierten (Hoffnung auf Erfolg) oder Misserfolgsmotivierten (Furcht vor Misserfolg): Erfolgsmotivierte sind zuversichtlich, ein positives Ergebnis zu erzielen und Stolz zu erleben. Sie suchen Leistungssituationen auf, weil sie wissen wollen, wie gut sie sind. Misserfolgsmotivierte handeln mit dem Ziel, einen Misserfolg und die mit ihm einhergehenden Selbstbewertungsaffekte wie Schuld und Scham zu vermeiden. Würde es nach ihnen gehen, würden sie auf ein realistisches Feedback ihre Leistung gänzlich verzichten.
spricht man von internaler Attribution, hält man äußere Bedingungen oder andere Personen für
Die Messung des Leistungsmotivs Um menschliches Leistungsverhalten erklären und vorhersagen zu können, muss das Leistungsmotiv gemessen werden. Üblicherweise geschieht dies mit einem projektiven Verfahren – dem thematischen Auffassungstest (TAT, Murray, 1938), der bereits erläutert wurde (s. S. 69). Zudem existieren eine Reihe von Fragebögen zur Motivmessung und ein semi-projektives Motivmessinstrument (Schmalt et. al., 2000).
verantwortlich, spricht man von externaler Attribu-
tion. Die zweite Dimension ist die Stabilität der Ursache: Wird der Ursachenfaktor als zeitlich stabil angesehen, findet eine stabile Attribution statt, wird er als über die Zeit und Situation veränderbar angesehen, ist von variabler Attribution die Rede. Mit der dritten Dimension wird das Ausmaß der Ursachenzuschreibung (Globalität) abgebildet. Gilt die Ursache nur spezifisch für ein Handlungsergebnis, spricht man von spezifischer Attribution, wird sie auf unterschiedliche Lebensbereiche generalisiert von globaler Attribution. Die Lokations- und die Stabilitätsdimension wurden von Weiner miteinander kombiniert, sodass sich vier mögliche Interpretationen für Verhaltensursachen ergeben: die eigene Fähigkeit oder Begabung, die eigene Anstrengung, der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe und Glück. Abb. 4.6 stellt die vier Kombinationen getrennt für einen Erfolg und einen Misserfolg dar und nennt
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation die Selbstbewertungsaffekte, die mit den Ursachen-
Fähigkeiten oder auf die leichte Aufgabe attribuiert,
attributionen verbunden sind. Beispiel für die möglichen Aussagen ist eine bestandene oder nicht
besteht aller Grund anzunehmen, auch zukünftig erfolgreich zu sein. Eine zeitstabile Attribution
bestandene Prüfung.
eines Misserfolgs (mangelnde Fähigkeiten) lässt
131
auch in zukünftigen Situationen einen Misserfolg
Der Einfluss von Kausalattributionen
annehmen.
Kausalattributionen haben Einfluss auf die Selbstbewertungsaffekte und die Erwartungen. Bei genauerer Betrachtung von Abb. 4.6 ist zu erkennen, dass die internalen Ursachenzuschreibungen mit stärkeren Affekten verbunden sind als die externa-
Merke Es hängt von der Zeitstabilität der gefundenen Ursache ab, welche Erwartungen an zukünftige Leistungssituationen entstehen.
len Zuschreibungen. Es werden intensive Gefühle und Scham erlebt, während bei externaler Zu-
Die Attributionsstile Erfolgs- und Misserfolgsmotivierter
schreibung „nur“ Dankbarkeit, Überraschung oder
Erfolgs- und Misserfolgsmotivierte unterscheiden
Verärgerung resultieren.
sich in den Attributionsmustern, die sie bevorzugt
wie Stolz, Zufriedenheit oder Niedergeschlagenheit
wählen. Man spricht auch von zeitlich relativ stabi-
Merke Die Stärke der Selbstbewertungsaffekte ist von der Lokationsdimension (internal/external) abhängig. Die Ausbildung von Erwartungen wie Erfolgszuversicht und Misserfolgsbefürchtungen hängen hingegen von der angenommenen Stabilität der Ursache ab. Wird ein Erfolg zeitstabil auf die eigenen
len Attributionsstilen. Erfolgsmotivierte bevorzugen optimistische Interpretationen, die für zukünftige Aufgaben motivational sehr förderlich sind. Sie attribuieren Erfolge internal und häufig auch noch stabil (Fähigkeiten), sodass sie hohe positive Selbstbewertungsaffekte erleben können. Misserfolgen werden hingegen variable Ursachenfaktoren zugeschrieben (z. B. Pech), die zum einen starke negative Affekte vermeiden
Erfolg (bestandene Prüfung)
Misserfolg (nicht bestandene Prüfung) Lokation der Ursache:
Lokation der Ursache: Stabilität:
internal
external
Aussagen:
„Ich bin einfach zu blöd.”
„Die Aufgaben waren zu schwer.”
mangelnde Fähigkeit
hohe Schwierigkeit der Aufgabe
Affekte:
Niedergeschlagenheit
Verärgerung
„Ich hatte Glück.”
Aussagen:
„Ich war schlecht vorbereitet.”
„Ich hatte Pech.”
Anstregung
Glück
variabel
mangelnde Anstregung
Zufriedenheit, Erleichterung
positive Überraschung
Affekte:
Schuld, Scham
Stabilität:
internal
Aussagen:
„Ich bin klug.”
stabil
Fähigkeit
geringe Schwierigkeit der Aufgabe
Affekte:
Stolz, Gefühl der Kompetenz
Dankbarkeit für leichte Aufgaben
Aussagen:
„Ich war gut vorbereitet.”
variabel Affekte:
Abb. 4.6
external „Die Aufgaben waren leicht.”
stabil
Pech negative Überraschung
Je vier mögliche Ursachenzuschreibungen von Erfolg und Misserfolg und ihre Selbstbewertungsaffekte
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation und gleichzeitig einen Erfolg bei einem erneuten
Die beste Rückmeldung über die eigene Tüchtigkeit
Versuch nicht ausschließen. Der Attributionsstil Misserfolgsmotivierter schafft
erhält man bei anspruchsvollen Aufgaben, bei denen sowohl ein Erfolg als auch ein Misserfolg
hingegen eine motivational ungünstige Lage: Er-
möglich ist. Dies ist bei mittelschweren Aufgaben
folge werden variablen Ursachen zugeschrieben, es resultiert also bestenfalls Zufriedenheit oder Überraschung. Für Misserfolge werden internale und stabile Faktoren verantwortlich gemacht, also die eigenen mangelnden Fähigkeiten als Erklärung herangezogen.
der Fall. Erfolgsmotivierte wählen solche mittelschweren Aufgaben, setzen sich also realistische Ziele, da diese die beste Möglichkeit bieten, ihre eigenen Fähigkeiten zu bewerten. Misserfolgsmotivierte wählen entweder sehr leichte Aufgaben oder aber sehr schwere Aufgaben. Im ersten Falle ist die Wahrscheinlichkeit eines Misserfolgs sehr gering und es kann bei Zielerreichung zumindest Erleichterung erfahren werden. Die Wahl schwieriger Aufgaben erklärt sich, wenn man die emotionalen Konsequenzen mitberücksichtigt: Eine schwere Aufgabe nicht lösen zu können, führt nur zu geringen negativen Selbstbewertungsaffekten, da diese schwierige Aufgabe ja sowieso niemand hätte lösen können.
Der fundamentale Attributionsfehler Ein weiterer Begriff aus der Attributionsforschung ist der fundamentale Attributionsfehler. Er betrifft nicht, wie bisher, Zuschreibungen für eigene Verhaltensergebnisse, sondern Zuschreibungen für das Verhalten anderer. Der Fehler bezeichnet die Tendenz von Beobachtern, Verhalten (z. B. aggressives Verhalten) in erster Linie auf Personenfaktoren (Aggressivität) zu attribuieren und den Einfluss situationaler Faktoren zu vernachlässigen. Die Ursachen, die für Verhalten gefunden werden,
4.5.8 Die Motivation der Sucht
fallen für den Beobachter und den Handelnden an-
Bei der Beobachtung des Verhaltens Drogenabhän-
ders aus (Akteur-Beobachter-Unterschied) : Aus der
giger fällt die Zielgerichtetheit ihres Verhaltens
Sicht des Handelnden liegen die Ursachen eher in
auf, die natürlich motivierten Verhaltensweisen
situativen Bedingungen, aus der Sicht des Beobachters liegen sie eher in der Person.
ähnlich ist und sie in ihrer Konsequenz sogar noch übertrifft. Dies ist der Grund, warum sich ein Abschnitt über Sucht im Kapitel über Motiva-
Das Risiko-Wahl-Modell
tion findet.
Das Risiko-Wahl-Modell Atkinsons (1957) stammt aus der Familie der Erwartung-x-Wert-Modelle
Die psychoaktiven Substanzen
(s. o.). Es bezieht sich speziell auf die Leistungs-
Alkohol, Nikotin und Beruhigungsmittel zählen
motivation und erklärt, warum sich Menschen
genau wie Halluzinogene (Mescalin, LSD), Opiate
mehr oder weniger anspruchsvolle Ziele setzen (Anspruchsniveausetzung). Die Grundidee ist auch
(Heroin, Morphium) oder Cannabis (Haschisch) zu den psychoaktiven Substanzen. Sie beeinflussen
hier, dass bei der Zielwahl die subjektive Erfolgs-
das Nervensystem und verändern das bewusste
wahrscheinlichkeit (Erwartung) und der Erfolgsanreiz (Wert) miteinander verrechnet werden. Diese beiden Parameter stehen miteinander in invers-linearer Beziehung. Je leichter die Aufgabe ist, desto größer ist zwar die Wahrscheinlichkeit einen Erfolg zu erzielen, aber desto geringer ist auch der Erfolgsanreiz. Eine leichte Aufgabe wird nebenbei erledigt und führt nicht zu positiven Affekten. Bei einer schweren Aufgabe ist umgekehrt die Erfolgswahrscheinlichkeit gering, dafür sind die Affekte bei Zielerreichung umso positiver.
Erleben, die Wahrnehmung, Stimmungen und das Verhalten. Im Gegensatz zu den illegalen Drogen werden Alkohol und Nikotin von der Gesellschaft in einem gewissen Maße toleriert, wenn nicht sogar positiv bewertet, obwohl ihre Einnahme zu den gleichen negativen Folgen führen kann: zur Sucht. Ein kontinuierlicher Konsum der Substanzen über längere Zeit führt über die Toleranzentwicklung (es müssen immer größere Mengen eingenommen werden, um das gleiche Ergebnis zu erzielen) zur
körperlichen Abhängigkeit und schließlich zur
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4 Theoretische Grundlagen Die Motivation Sucht, die sich durch Entzugserscheinungen bei Abwesenheit der Droge kennzeichnet. Zur körperlichen Abhängigkeit kommt die psychische Abhängigkeit, also ein starkes Verlangen nach der Droge und ihren positiven Konsequenzen hinzu (die psychische kann auch ohne eine körperliche Abhängigkeit auftreten). Die Frage, die sich im Rahmen dieses Kapitels stellt, lautet: Was motiviert Menschen zur Einnahme von Substanzen, die langfristig ihrem körperlichen und psychischen Befinden schaden?
133
Entzug stattgefunden hat) körperliche Entzugssymptome (Übelkeit) auslösen, die zum erneuten Drogenkonsum drängen. Wenn auch die körperliche Abhängigkeit den Drogenkonsum mitbestimmt, kann sie dennoch nicht der einzige Grund sein: Der körperliche Entzug, auch Entgiftung genannt, reicht in den meisten Fällen allein nicht aus, um die Abhängigkeit aufzuheben. Er ist nur ein erster Schritt in einer komplexen Suchtbehandlung.
Die Theorie der positiven Verstärkersysteme
Die Theorien zur Sucht
Neben der körperlichen Abhängigkeit und den Me-
Die Theorie der körperlichen Abhängigkeit geht
chanismen der negativen Verstärkung sind auch positive Anreize anzunehmen: Drogensüchtige konsumieren auch dann Drogen, wenn es keinen negativen Zustand abzuschaffen gilt. Das Ziel besteht stattdessen darin, in den Genuss der positiven Wirkungen der Droge zu kommen. Diese können im Erleben positiver Gefühle wie Freiheit, Euphorie oder in einem komplexen Rauschzustand bestehen.
davon aus, dass Süchtige durch einen inneren Druck zum Drogenkonsum „gedrängt“ werden, während die Theorie der positiven Verstärkersysteme annimmt, dass es das antizipierte Wohlbefinden ist, das Menschen zum Konsum „zieht“. Hier fällt die Ähnlichkeit zu den beiden Begriffen Trieb und Anreiz auf, die bereits als grundlegende Komponenten motivierten Verhaltens (z. B. bei der Nahrungsaufnahme) dargestellt wurden.
Die Sucht als sekundäres Motiv Egal ob anfänglich das Bedürfnis nach positiven
Die Theorie der körperlichen Abhängigkeit
Konsequenzen wie Wohlbefinden, Anerkennung
Die Theorie der physischen Abhängigkeit geht davon aus, dass die Drogeneinnahme durch das
oder das Abwenden negativer Konsequenzen wie Angst oder körperliche Schmerzen zum Drogenkon-
Nachlassen ansonsten bestehender körperlicher
sum motiviert haben – die Sucht nimmt irgend-
Entzugserscheinungen
wird.
wann selbst Ähnlichkeiten mit einem Motiv an.
Oder in Analogie zu den homöostatischen Motiven
Sie erklärt, wie die oben beschriebenen biologi-
ausgedrückt: die Entzugserscheinungen zeigen
schen oder erlernten Motive auch, die Zielgerich-
einen Defizitzustand an, der ausgeglichen werden
tetheit menschlichen Verhaltens.
negativ
verstärkt
muss. Im Falle der Drogensucht entsteht jedoch ein fataler Kreislauf von Drogenkonsum und Entzugserscheinungen, der dem lebenserhaltenden Nutzen eines biologischen Motivs genau entgegengesetzt ist. Die Behavioristen gehen von einer Konditionierung von Entzugssymptomen aus und erklären so unter
Beachte Auch die Verstärkersysteme für natürlich motiviertes und drogenbezogenes Verhalten sind die gleichen: das mesolimbische Dopaminsystem steuert den belohnenden Charakter von Drogen wie Alkohol, Nikotin oder Marihuana.
anderem die hohe Rückfallrate körperlich nicht mehr Abhängiger. Umweltreize, die häufig mit der
Wenn man als Definitionskriterium den Nutzen
positiven Drogenwirkung assoziiert wurden – z. B. eine Injektionsnadel – übernehmen die Funktion
von Motiven für den Organismus außer Acht lässt, könnte man die Sucht als sekundäres, also erlerntes
eines konditionierten Stimulus und können zu den-
Motiv bezeichnen.
selben Glücksempfindungen wie die Droge selbst führen. Andersherum können auch Stimuli, die mit den negativen Gefühlen bei Abwesenheit der Droge verbunden sind (z. B. Räume, in denen ein
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile
134
Ein multifaktorielles Modell der Sucht Die bisher geschilderten Erklärungen zur Sucht sollten eine Parallele zur Motivation aufzeigen. Sie stellen jedoch eine Vereinfachung dar, die der Komplexität der Sucht nicht gerecht werden kann. So spielen eine Reihe zusätzlicher Faktoren, wie beispielsweise die Zugänglichkeit zur Droge und gewisse Merkmale der Person eine Rolle.
Merke Die WHO geht von einem multifaktoriellen Erklärungsmodell der Sucht aus, das die drei Faktoren Droge (z. B. die Drogenwirkung, das Abhängigkeitspotenzial), Persönlichkeit des Drogenkonsumenten (seine ganz persönlichen Beweggründe) und Gesellschaft (sozialer Bezugsrahmen) enthält.
4.5.9 Klinische Bezüge Adipositas
4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, was man unter einer Übersprungshandlung versteht und überlegen Sie, ob Sie eine solche Verhaltensweise evtl. selbst schon einmal gezeigt haben.
4.6 Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Lerncoach Die im Folgenden vorgestellten Theorien zur Persönlichkeit sind sehr verschieden. Es ist wichtig, dass Sie verstehen, mit welchen Argumenten die Sichtweisen jeweils begründet werden. Das Lernen wird Ihnen evtl. leichter fallen, wenn Sie sich bei jeder Theorie die Frage stellen, wie dabei die Existenz von Persönlichkeitsunterschieden erklärt wird.
Ein Beispiel für die Überlagerung eines primären
4.6.1 Der Überblick
Motivs (Hungermotiv) ist die Adipositas (Fettleibig-
Die Theorien der Persönlichkeitspsychologie erklä-
keit). Bei der Adipositas kommt es zu einer Ver-
ren aus verschiedenen Perspektiven, warum und
mehrung des Fettgewebes, die teilweise genetisch
auf welche Art sich Personen voneinander unter-
bedingt, vor allem aber auf falsches Essverhalten
scheiden und was die Ursachen für eine Fehlent-
zurückzuführen ist. Das Motiv für das Essen großer Mengen und hochkalorischer Nahrung liegt im
wicklung der Persönlichkeit sein können. Die einzelnen Persönlichkeitseigenschaften und
Lustgewinn durch den positiven Geschmack und
Verhaltensstile, die im zweiten Teil des Kapitels
in der Kompensation negativer Gefühle im Lebens-
dargestellt werden, liefern keine Gesamterklärung
alltag (die Nahrungsaufnahme wird positiv und
und -beschreibung der menschlichen Persönlich-
negativ verstärkt). Das Essen dient nicht mehr
keit, sondern beleuchten nur jeweils ein bestimm-
dazu, das Leben und die Gesundheit aufrechtzuer-
tes Merkmal. Besonders die Verhaltensstile haben
halten, sondern gefährdet ganz im Gegenteil den
eine hohe klinische Relevanz, da sie den Umgang
Organismus, indem Energiebedarf und -aufnahme aus dem Gleichgewicht geraten: Übergewicht ist
des Patienten mit Gesundheit und Krankheit beeinflussen.
ein bedeutender Risikofaktor für Diabetes mellitus, arterielle Hypertonie und die damit zusammenhängenden Gefäßerkrankungen (z. B. Arteriosklerose).
4
4
4.6.2 Wichtige Definitionen und Begriffe der Persönlichkeitspsychologie Was ist Persönlichkeit?
Check-up
Wenn man von der Persönlichkeit eines Menschen
Trennen Sie die Begriffe Motivation und Motiv noch einmal voneinander und machen Sie sich klar, was man unter primären und sekundären Motiven versteht. Rekapitulieren Sie, welche Motivationstheorien Sie kennengelernt haben und wiederholen Sie jeweils die grundlegende Idee.
redet – er ist eher ein lustiger und gesprächiger oder ein ruhiger, zurückhaltender Typ – dann bezieht man sich auf überdauernde Eigenschaften, die aus dem Verhalten eines Menschen ableitbar sind. Persönlichkeitseigenschaften sind also latente Konstrukte, die an sich nicht beobachtbar sind, sondern sich im Verhalten manifestieren.
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Der Begriff der Persönlichkeit wird folgendermaßen
und dem überdauernden Merkmal der Ängstlich-
definiert: Persönlichkeit ist die feste, überdauernde Organisation des Charakters, des Temperaments,
keit (Trait). Der Begriff des Traits entspricht in etwa dem, was
des Intellekts und der Physis eines Menschen.
man im Deutschen eine überdauernde Eigenschaft
Diese einzigartigen
psychologischen Merkmale
nennt. Er beschreibt eine über Situationen kon-
eines Individuums beeinflussen eine Vielzahl von
stante und spezifische Art des Verhaltens, die ent-
charakteristischen konsistenten Verhaltensmustern
lang eines Kontinuums gemessen werden kann.
in verschiedenen Situationen und zu verschiedenen
Einer Person, die ihre Verabredungen immer ein-
Zeitpunkten. Wichtig bei dieser Definition ist die Annahme der zeitlichen und situationalen Konsistenz, d. h., dass sich die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zeitlich stabil und über verschiedene Situationen hinweg in seinem Verhalten zeigt. Bei den verschiedenen theoretischen Ansätzen zur Persönlichkeit kann man sehen, dass gerade die Annahme einer situationsübergreifenden Verhaltenskonsistenz zum Teil stark kritisiert und bestritten wird. Weitere verwandte Begriffe sind der Charakter, der sich ähnlich wie die Persönlichkeit auf überdauernde psychologische Merkmale einer Person bezieht, jedoch weniger umfassend ist als die oben vorgestellte Persönlichkeitsdefinition. Das Temperament eines Menschen wird dagegen als eine biologisch determinierte Reaktionsweise definiert, die vor allem das Aktivitätsniveau beschreibt (z. B. ruhig versus leicht erregbar). Bereits Neugeborene weisen deutliche Temperamentsunterschiede auf. In der Persönlichkeitspsychologie taucht zudem das Konzept des Typs auf. Als Typ wird dabei eine abgegrenzte Kategorie von Verhaltensweisen bezeichnet, der Menschen zugeordnet werden, die ein bestimmtes Muster an Eigenschaften aufweisen (Beispiel: Typ-A-Verhalten). Abgrenzen muss man den Begriff der Einstellungen und der Werte. Beide beziehen sich nicht auf die Eigenschaften, sondern auf die Überzeugungen eines Individuums, die im Laufe des Lebens erworben wurden.
hält, sorgsam mit ausgeliehenen Dingen umgeht
135
und immer darauf achtet, alle Rechnungen fristgerecht zu bezahlen, würde man beispielsweise eine hohe Ausprägung auf dem Trait „Gewissenhaftigkeit“ zuschreiben. Aufgrund des Wissens, wie sich diese Person in verschiedenen Situationen verhalten hat, kann man wiederum ihr Verhalten in anderen Situationen, in denen die Gewissenhaftigkeit eine Rolle spielt, vorhersagen. So ist es wahrscheinlich, dass jemand mit einer hohen Ausprägung in diesem Trait eine Verabredung einhalten wird und pünktlich zum entsprechenden Treffpunkt erscheint.
States sind dagegen vorübergehende Phänomene. Sie bezeichnen einen bewusst erlebten Gefühlszustand, der durch eine spezifische Situation ausgelöst wird. States kann man am besten dadurch erfassen, dass man eine Person einer entsprechenden Reizkonstellation aussetzt und dann ihre subjektiven Gefühle, ihre Gedanken und die Erregung des autonomen Nervensystems misst. Beispielsweise würde man bei einer Untersuchung zu Geschlechterunterschieden im situationsgebundenen Angsterleben Frauen und Männer mit einer speziellen Bedrohungssituation konfrontieren. Auch States können dabei je nach ihrer Stärke auf einem Kontinuum abgebildet werden. Allerdings lassen sich aus dieser Zustandsmessung keine Vorhersagen über das Verhalten von Menschen in anderen Situationen ableiten.
4.6.3 Die Theorien der Persönlichkeit „State“ versus „Trait“
Die folgenden Theorien und Modelle stellen ver-
Eine weitere relevante Unterscheidung in der Persönlichkeitspsychologie, die Ihnen auch bereits
schiedene Auffassungen bezüglich der Charakteristika der menschlichen Persönlichkeit dar. Während
im Bereich der Emotionen begegnet ist, ist die
die Eigenschaftstheorien, zu denen auch die statistischen Modelle der Persönlichkeit gehören, von der Konsistenz des Verhaltens ausgehen, haben die Vertreter des Situationismus kritisiert, dass die Einflüsse der verschiedenen Situationen auf das
Unterscheidung von zeitlich überdauernden Merkmalen (Traits) und kurzzeitigen Zuständen (States). Beispielsweise unterscheidet man bei der Angst zwischen der momentanen Zustandsangst (State)
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Verhalten viel bedeutsamer sind, als die Eigen-
eine einzigartige Persönlichkeitsstruktur verfüge.
schaftsseite der Person. Das interaktionistische Modell bildet eine Art Brücke zwischen diesen Ansät-
Der nomothetische Ansatz liegt dagegen dem im Folgenden dargestellten statistischen Modell der
zen, indem es sowohl die Eigenschaften der Person,
Persönlichkeit zugrunde.
als auch die Charakteristika der Situation einbezieht.
Das statistische Modell
Die anschließend dargestellten Modelle unterschei-
Das statistische Modell der Persönlichkeit geht
den sich von den ersten drei Ansätzen, da sie je-
davon aus, dass sich alle Individuen anhand dersel-
weils eine vollständige Theorie der Persönlichkeit
ben Eigenschaftsdimensionen (Traits) beschreiben
inklusive ihrer Entwicklung und Risiken der Fehlentwicklung liefern. Wie Sie sehen werden, sind
lassen. Dabei werden die interindividuellen Unterschiede als die unterschiedlichen Ausprägungs-
die Menschenbilder, die hinter den beiden Ansät-
grade auf den einzelnen Dimensionen verstanden.
zen stehen, jedoch sehr unterschiedlich. Während
Das Hauptforschungsanliegen besteht nun darin,
der psychodynamische Ansatz von einem von inne-
diese allgemeinen Persönlichkeitsdimensionen zu
ren Trieben gesteuertem Individuum ausgeht, be-
identifizieren. Dabei greifen die Ansätze auf – wie
tont die Lerntheorie die Bedeutung der äußeren
der Name schon sagt – statistische Verfahren zu-
Faktoren (Umweltbedingungen) für die Entwick-
rück. Das bedeutet, dass keine inhaltlichen theoreti-
lung der Persönlichkeit.
schen Annahmen über die Struktur der Persönlichkeit gemacht werden, sondern sie wird anhand von
Die Eigenschaftstheorien der Persönlichkeit
empirischen Daten ermittelt. Das Vorgehen sieht dabei folgendermaßen aus: Einer großen repräsentativen Stichprobe werden diverse Fragebögen mit Persönlichkeitsitems vorgelegt. Diese riesigen Datenmengen werden nun mit der Methode der Faktorenanalyse so gruppiert, dass Items, die einen engen Zusammenhang zueinander aufweisen, einen Faktor bilden. Dadurch entsteht schließlich eine Art Strukturbild der Persönlichkeit, dessen einzelne Faktoren jeweils nach dem Inhalt der Items, die sie repräsentieren, benannt werden. Da die Faktorenanalyse jedoch ein Verfahren ist, dass verschiedene Strukturlösungen gleichermaßen zulässt, gibt es keine eindeutig richtige Lösung dieser Frage nach der Persönlichkeitsstruktur. Daher kommen verschiedene Forscher trotz einer sehr ähnlichen Vorgehensweise zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Die Grundannahme, die allen Eigenschaftstheorien gemeinsam ist, besagt, dass sich die Persönlichkeit als eine Struktur verschiedener Eigenschaftsdimensionen vorstellen lässt, die als zeitlich und über verschiedene Situationen hinweg stabil (transsitua-
tionale Stabilität) angesehen wird. Diese Eigenschaften beeinflussen jeweils eine ganze Klasse von konkreten Verhaltensweisen. Das bedeutet, dass man das Verhalten einer Person aufgrund der Kenntnis ihrer Eigenschaftsausprägungen in verschiedenen Situationen vorhersagen kann. Viele Eigenschaftstheoretiker gehen davon aus, dass die Grundlagen der Persönlichkeit eine biologische bzw. genetische Basis haben (z. B. Eysenck-Persönlichkeitsmodell).
Merke Die theoretische Auffassung, dass die Eigenschaften des Individuums sein Verhalten bestimmen, wird auch als Prädispositionismus bezeichnet.
Eysencks Dimensionen der Persönlichkeit: E-N-P-I Ein einflussreiches Eigenschaftsmodell der Persönlichkeit stammt von H. J. Eysenck (1953, 1967). Die Eigenschaftsstruktur ist demnach bei allen In-
Dabei gehen die Auffassungen auseinander, inwie-
dividuen identisch. Zudem nimmt Eysenck eine genetische Basis der Persönlichkeit an, die sich über
fern die Struktur der Eigenschaften einzigartig
unterschiedliche neurophysiologische Erregungs-
(ideographischer Ansatz) oder bei allen Individuen gleich ist (nomothetischer Ansatz). Als bedeutender Vertreter eines ideographischen Ansatzes gilt Allport (1949), der annahm, das jede Person über
schwellen manifestiert. Aufgrund der Analyse großer Datensätze mit dem Verfahren der Faktorenanalyse legt Eysenck verschiedene Dimensionen fest (Abb. 4.7).
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile
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emotional labil launisch
empfindlich unruhig
ängstlich
aggressiv
starr
reizbar
bedrückt
wechselhaft
pessimistisch
impulsiv
zurückhaltend
optimistisch
ungesellig
aktiv
schweigsam introvertiert
gesellig
passiv
extrovertiert
aufgeschlossen
sorgsam
gesprächig
nachdenklich
teilnehmend
friedlich
lässig
beherrscht
lebhaft
zuverlässig
sorglos
ruhig ausgeglichen
tonangebend
emotional stabil
Abb. 4.7
Extraversions-Neurotizismus-Zirkel nach Eysenck (aus Abdolvahab-Emminger)
Die bipolare Dimension „Extraversion – Introver-
bevorzugen Extravertierte und Introvertierte unter-
sion“ beschreibt das Ausmaß der Geselligkeit und Impulsivität versus Zurückhaltung und Kontrolliertheit. Individuen, die sich durch eine hohe Ausprägung in Richtung des Extraversionspols auszeichnen, werden als offen, gesellig und impulsiv beschrieben. Sie suchen die Aufregung, schätzen Veränderungen, sind fröhlich, optimistisch und sorglos. Introvertierte werden dagegen als ruhig, ernsthaft und zurückhaltend beschrieben. Sie planen ihre Handlungen gerne im Voraus, haben ihre Gefühle unter Kontrolle, sind zuverlässig und eher pessimistisch. Eysenck führt die interindividuellen Differenzen auf der Extraversions-Introversions-Dimension auf eine biologische Basis zurück. Grundidee ist, dass sich Individuen in der Balance von Erregung und Hemmung zentralnervöser Prozesse unterscheiden. Als neurophysiologisches Korrelat dieser Erregungs-Hemmungs-Balance wird die Erregungsschwelle des aufsteigenden aktivierenden retikulären Systems (ARAS oder Formatio reticularis) postuliert. Die Erregungsschwelle ist bei Extravertierten besonders hoch, bei Introvertierten dagegen niedriger. Da Menschen generell ein mittleres Erregungsniveau als besonders angenehm empfinden,
schiedliche Umgebungen.
Beachte Aufgrund ihrer ausgeprägten Hemmprozesse (Inhibition) suchen Extravertierte besonders starke äußere Stimulation durch eine abwechslungsreiche Umgebung. Introvertierte dagegen haben besonders ausgeprägte Erregungsprozesse (Exzitation) und bevorzugen deswegen eine ruhigere Umgebung. Eine weitere Dimension ist der Neurotizismus. Diese Dimension beschreibt das Ausmaß der emo-
tionalen Stabilität bzw. Labilität (Neurotizismus) eines Individuums. Eine hohe Ausprägung des Neurotizismus entspricht der emotionalen Labilität. Personen mit einem hohen Neurotizismus-Wert werden als emotional überempfindlich beschrieben, sie leiden häufig unter diffusen somatischen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit etc. Zudem berichten sie häufig von Sorgen und Ängsten. Auch für die Dimension des Neurotizismus postuliert Eysenck eine biologische Grundlage. Das neurophysiologische Korrelat ist die Erregungsschwelle des limbischen Systems (inklusive Amygdala, Hip-
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile pocampus, Hypothalamus), das eine besondere
sich auf einen kleineren Ausschnitt des mensch-
Rolle beim Emotionserleben spielt. Hoch neurotische Personen sollen eine niedrigere Erregungs-
lichen Verhaltens (z. B. Sachorientierung versus Kontaktorientierung, Zurückhaltung versus Selbst-
schwelle haben als emotional stabile Individuen.
sicherheit, Robustheit versus Sensibilität). Zwi-
Dementsprechend führt bereits eine geringe emo-
schen diesen 16 Faktoren gibt es einige positive
tionale Stimulation bei Personen mit hohen Neuro-
Korrelationen, sodass sich wiederum fünf Sekundärfaktoren ableiten lassen: Normgebundenheit, Belastbarkeit, Unabhängigkeit, Entschlussbereitschaft und Kontaktbereitschaft. Diese Sekundärfaktoren befinden sich auf einem ähnlichen Abstraktionsgrad wie Eysencks „E, N und P“ oder die „Big Five“ (s. u.). Zu Catells Modell wurde ein Persönlichkeitstest namens 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test (16 PF) entwickelt, der Items zu allen 16 Faktoren enthält (s. S. 68).
tizismuswerten zu einer Aktivation des limbischen Systems. Die
Dimension
„Psychotizismus
–
Realismus“
wurde von Eysenck entwickelt, um „normale“ von psychisch gestörten Individuen zu trennen. Ein weiteres Ziel Eysencks war der Nachweis der Unkorreliertheit (kein statistischer Zusammenhang) dieser Dimension mit der Dimension Extraversion/ Introversion und Neurotizismus. Personen mit einem hohen Psychotizismuswert werden als kalt, feindlich und unfreundlich beschreiben. Sie weisen einen Mangel an Empathie auf, sind aggressiv und zeigen keine Anpassungsbereitschaft. Die Psychotizismus-Skala wird vor allem in der Delinquenzforschung eingesetzt. In einer Studie mit Strafgefangenen fand man wie erwartet deutlich erhöhte Psychotizismuswerte im Vergleich zur Normalbevölkerung. Auch die Intelligenz wird von Eysenck als unabhängige Persönlichkeitsdimension beschrieben. In seinem Modell spielt sie jedoch nur eine untergeordnete Rolle.
Die „Big Five“ Aufgrund der Unterschiede zwischen verschiedenen Strukturmodellen der Persönlichkeit gab es Versuche, eine umfassende Beschreibung und Klassifikation zu finden, die sich über verschiedene Theorien hinweg replizieren lässt. Dazu wurden verschiedene
Persönlichkeitstests
und
Eigen-
schaftsfragebogen faktorenanalytisch untersucht, um die gemeinsamen Dimensionen zu entdecken. Das Resultat sind die sogenannten Big Five, fünf Eigenschaftsdimensionen, die sich mit unterschiedlichen Erhebungsverfahren und in diversen Stichproben immer wieder finden ließen:
Merke Eysencks vier Dimension der Persönlichkeit sind statistisch unabhängig. Das bedeutet, dass es keine systematischen Zusammenhänge (Korrelationen) zwischen ihnen gibt.
Verträglichkeit : Eine hohe Ausprägung steht für menschliche Wärme, Einfühlsamkeit und ein starkes Harmoniebedürfnis.
Offenheit für Erfahrungen : Eine hohe Ausprägung lässt sich bei Personen finden, die Interesse an ungewöhnlichen Themen haben, Abwechs-
Zur Erfassung der vorgestellten Dimensionen gibt
lung im Leben bevorzugen, nonkonformistisch
es mehrere Persönlichkeitstests. Beispielsweise
und kreativ sind.
kann man mit dem Eysenck-Personality-Inventory
Gewissenhaftigkeit : Eine hohe Ausprägung steht
(EPI) Extraversion/Introversion und Neurotizismus erfassen.
für Zuverlässigkeit, das Schätzen von Ordnung
Catells Persönlichkeitsmodell Ein weiteres Modell auf faktorenanalytischer Basis
spricht der von Eysenck (s. o.). Labilität versus Stabilität (Neurotizismus): Diese
wurde von R. B. Catell (1972) entwickelt. Im Gegen-
Dimension entspricht Eysencks Neurotizismus
und Disziplin, hartes Arbeiten und Ehrgeiz.
Extra-versus Introversion : Diese Dimension ent-
satz zu Eysencks Modell, dessen Faktoren sich
(s. o.).
durch einen sehr hohen Abstraktionsgrad auszeich-
Die Big Five sind im Gegensatz zu Eysencks Fak-
nen, sind die 16 Faktoren in Catells Modell auf
toren nicht vollkommen unkorreliert, sondern wei-
niedrigerer Ebene angesiedelt, d. h., sie beziehen
sen zum Teil leicht positive Zusammenhänge auf.
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Ein Persönlichkeits-Fragebogen, der diese fünf
In Bezug auf das im vorigen Abschnitt angeführte
Dimensionen erfasst, ist das Neo-Fünf-FaktorenInventar von Costa und McCrae (1992; deutsche
Beispiel heißt das: Ihre Freunde werden sich zwar – je nachdem, ob sie sich auf einer Party oder im
Version von Borkenau & Ostendorf, 1993). Dieser
Theater befinden – sehr unterschiedlich verhalten,
Fragebogen ist aufgrund des hohen Abstraktions-
aber auch zwischen ihnen gibt es Verhaltensunter-
niveaus der Faktoren weniger für die Einzeldiag-
schiede, die sowohl in der einen als auch in der an-
nostik geeignet. Im Forschungsbereich erfreut es
deren Situation vorhanden sind.
sich dagegen wegen seiner guten Testgütekrite-
Die Annahme des Zusammenspiels der Eigen-
rien und der hohen Ökonomie großer Beliebtheit
schafts- und Situationsfaktoren hat sich in der
(s. S. 69).
Persönlichkeitspsychologie weitestgehend durchgesetzt.
139
Der Situationismus Walter Mischel (1977) postulierte eine situationistische Auffassung der Persönlichkeit: das Verhalten eines Individuums wird von den aktuellen Gegebenheiten der Umgebung bestimmt. Zwar unterscheidet sich das Verhalten einzelner Individuen auch in derselben Situation (interindividuelle Unterschiede), aber die Veränderungen des individuellen Verhaltens über verschiedene Situationen hinweg (intraindividuelle Unterschiede) ist nach Mischels Ansicht viel extremer. Um diese Argumentationsweise zu verstehen, stellen Sie sich ihre Freunde einerseits auf einer ausgelassenen Party zu späterer Stunde, andererseits beim Besuch einer Theatervorstellung oder in der Vorlesung vor. Trotz aller individueller Unterschiede wird der Einfluss der Situation sicherlich das Verhalten jedes Einzelnen stark verändern.
Merke Der Situationismus erklärt interindividuelle Unterschiede im Verhalten durch die Einflüsse der Situation.
Die Einflüsse von Person und Situation: Der Interaktionismus
Das psychodynamische Modell der Persönlichkeit Die auf Siegmund Freud basierende psychodynamische Theorie der Persönlichkeit ist ein umfassender Ansatz, der sowohl Annahmen über die Struktur als auch über die Determinanten der Entwicklung und die Ausbildung von Persönlichkeitsstörungen macht.
Das Strukturmodell der Persönlichkeit Im psychodynamischen Sinne setzt sich die Persönlichkeit aus drei Instanzen (Es, Ich, Über-Ich) zusammen. Diese drei Instanzen befinden sich in einem dynamischen Gleichgewicht, d. h. in verschiedenen Situationen gewinnt mal die eine, mal die andere Instanz „die Oberhand“ über das Verhalten.
Beachte Das Strukturmodell beschreibt die Instanzen der Persönlichkeit. Dagegen beschreibt das topographische Modell den Ort (griech. topos) des psychischen Geschehens. Die drei Instanzen werden folgendermaßen beschrieben:
Der Interaktionismus ist eine Art der Zusam-
Es („das Tier“) : Das Es wird als primitiver unbe-
menführung des Dispositionismus, der die Eigenschaften der Person betont, und des Situationismus, der die Einflüsse der Umwelt in den Vordergrund stellt.
wusster Teil der Persönlichkeit betrachtet. Es ist
Merke Der Interaktionismus erklärt interindividuelle Unterschiede im Verhalten durch Einflüsse von Personeneigenschaften und der Situation.
der Sitz der primären Triebe, das heißt, es liefert die psychische Energie für alle Verhaltensweisen. Von der Funktionsweise wird das Es als primär prozesshaft beschrieben. Das bedeutet, dass es rein nach dem Lustprinzip funktioniert, keinen Realitätsbezug aufweist und nur auf sofortige Bedürfnisbefriedigung aus ist. Wünsche aus dem Es drängen auf sofortige Realisierung unabhängig davon, ob das in der realen Situa-
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile tion gerade möglich ist oder nicht. Die Wünsche
folgt (Mund, Anus, Genitalien). Diese Körperzone
sind häufig unlogisch oder unrealistisch und haben eher den Charakter eines Traumes. Das
wird als Libidoobjekt (Ort des Lustgewinns) bezeichnet.
Es ist als Instanz schon ab der Geburt vorhan-
Jede Phase beinhaltet einen typischen Konflikt, der
den.
vom Kind bearbeitet und gelöst werden muss. Wird
Über-Ich („das Gewissen“) : Das Über-Ich ist der Sitz der Werte und moralischer Vorstellungen. Diese Moralvorstellungen entspringen den Geund Verboten, die das Kind vor allem durch seine Eltern und die Gesellschaft lernt und internalisiert. Die Inhalte des Über-Ich sind unbewusst oder vorbewusst. Wegen seiner unvollständigen Zugänglichkeit zum Bewusstsein kann das Über-Ich zur Quelle unbewusster Selbstbestrafungstendenzen werden. Aufgrund der strengen Normen und Ideale, die das ÜberIch vom Verhalten fordert, kommt es oft zu Konflikten mit dem lustbetonten Es. Ich („der Vermittler“) : Das Ich verkörpert den realitätsorientierten Aspekt der Persönlichkeit. Es nimmt eine Art Vermittlerrolle zwischen Es und Über-Ich ein und versucht, den Konflikt zwischen den Impulsen des Es, den Anforderungen des Über-Ich und den Gegebenheiten der Realität zu lösen. Die Inhalte des Ich sind bewusst. Seine Funktionsweise wird als sekundär prozesshaft beschrieben. Im Gegensatz zum Es handelt es logisch und orientiert sich an den wirklichen Gegebenheiten (Realitätsprinzip). Um die Konflikte zwischen Es und Über-Ich lösen zu können, setzt das Ich Abwehrmechanismen ein. Mit diesen „Werkzeugen“ kann die vom Es aufsteigende Triebenergie auf verschiedene Arten „unschädlich“ gemacht werden.
Beachte Die Unterschiede in der Persönlichkeit zwischen verschiedenen Individuen werden als eine unterschiedliche Dominanz der Instanzen bzw. als ein unterschiedlicher Umgang mit der Triebenergie verstanden.
er nicht gelöst, besteht das Risiko einer Fixierung : Das Kind kann in seiner Entwicklung mit einem Teil seiner Persönlichkeit in dieser Phase „stecken bleiben“. In diesem Fall bildet es Charakterzüge aus, die diesen phasentypischen Konflikt widerspiegeln. Eine Fixierung kann sowohl durch zuviel Verwöhnung als auch durch das Erleben von Frustration aufgrund zu hoher Anforderungen ausgebildet werden. Zudem kann es im Erwachsenenalter zu einer Art Rückfall in diese nicht vollkommen bewältigte Phase kommen (Regression). Die von Freud beschriebenen Persönlichkeitstypen sind jeweils nach der unzureichend bewältigten bzw. konflikthaften Entwicklungsphase benannt. Dahinter steckt die Annahme, dass die frühkindlichen Erlebnisse nachhaltig die Persönlichkeit des Individuums formen. Die Beschreibung der Charaktertypen oder Haltun-
gen entstammt größtenteils klinischen Fallstudien. Aus diesem Grund fallen besonders die problematischen Eigenschaften auf, wobei jedem Typ jedoch auch positive Züge zugeschrieben werden.
Die Kritik an Freuds Persönlichkeitstheorie Freuds Persönlichkeitstheorie ist von verschiedenen Seiten heftig kritisiert worden. Der Hauptkritikpunkt bezieht sich auf die unsystematische em-
pirische Basis und die mangelnde Überprüfbarkeit der Theorie. Freud entwickelte seine Theorie auf der Basis von Introspektion und Interviews mit erwachsenen Patienten. Die Annahmen über die kindliche Entwicklung basieren also allein auf dem Rückblick, nicht auf der tatsächlichen Beobachtung von kindlichem Verhalten. Einer exakten empirischen Überprüfung entzieht sich die Theorie, da viele Annahmen nicht wirklich falsifiziert wer-
Die Entwicklung der Persönlichkeit
den können. Beispielsweise ist die Vorhersage bestimmter Persönlichkeitseigenschaften aufgrund
Nach Freud verläuft die psychosexuelle Entwick-
der
lung in einer festgelegten Abfolge von Phasen
nicht eindeutig möglich, da der Erwachsene die
(Tab. 4.5). Jede Phase zeichnet sich dadurch aus,
fragliche Eigenschaft zwar „besitzen“, aber gleich-
dass die Befriedigung der Triebbedürfnisse durch
zeitig mit Hilfe eines Abwehrmechanismus unter-
die Stimulation einer bestimmten Körperzone er-
drücken kann. Somit wäre das „oberflächliche“ Feh-
individuellen
frühkindlichen
Erfahrungen
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile
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Tabelle 4.5 Die Phasen der psychosexuellen Entwicklung nach Freud Phase / Alter (erogene Zone)
Kennzeichen
Haltung / Charakter durch Fixierung
mit Charaktertypus assoziierte Störung
orale Phase 0–2 Jahre (Mund)
– wichtigste Erfahrung ist die Nahrungsaufnahme (Kind will „gefüttert werden“) – Mund ist Medium der Informations- und Kontaktaufnahme mit der Umwelt
orale Haltung: – fordernde, unreife Haltung – Neigung zum Sarkasmus – Tendenz zu Abhängigkeit, Sucht – Optimismus, Großzügigkeit
frühe Phase: schizoide Persönlichkeitsstörung (ambivalente Einstellung zu Mitmenschen – Angst versus Kontaktsuche) späte Phase: Depression
anale Phase 2–3 Jahre (Anus)
– Befriedigung wird durch Ausscheiden des Kots und dessen Zurückhalten erlebt – Kind wird mit Anforderungen (Normen) der Umwelt konfrontiert, die die Freude an der Stimulationszone missbilligt – im Zurückhalten des Kots erlebt es zum ersten Mal eine Art Selbstbestimmung und Möglichkeit der Verweigerung gegenüber der erlterlichen Kontrolle
zwanghafte Persönlichkeitszwanghafte Haltung: – Geiz, Pedanterie, Pünktlichkeit, störung Korrektheit – starkes Kontrollbedürfnis, Zwanghaftigkeit – Eigensinnigkeit (Trotz) – ambivalentes Verhältnis zu Autoritäten (Dominanz versus Unterwerfung)
phallische/ ödipale Phase 3–5 Jahre (Genitalien)
– Kind begehrt den jeweils gegengeschlechtlichen Elternteil und konkurriert mit dem überlegenen gleichgeschlechtlichen Elternteil – Konflikt bei Jungen Ödipuskomplex: Angst vor Strafe für ihr „unrechtmäßiges“ Begehren führt zu Kastrationsangst – Konflikt bei Mädchen Elektrakomplex: entdecken, dass ihnen das männliche Geschlechtsteil „fehlt“ und entwickeln Penisneid – Lösung des Konflikts durch Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil
phallische Haltung: – innerer Zwang zum Konkurrieren und Dominieren – Demonstration der eigenen Potenz (auch durch Statussymbole) – Großherzigkeit, Unbekümmertheit
Latenzphase 6–12 Jahre (keine errogene Zone)
– Triebenergie wird auf kulturelle Fixierung wird nicht thematisiert keine Störung assoziiert Inhalte gelenkt (Lesen, Schreiben, etc.). – Erkundung der Umwelt und der eigenen intellektuellen Fähigkeiten steht im Vordergrund
genitale Phase ab 12 Jahren (Genitalien)
– „Wiederentdeckung“ der Genitalien – gegengeschlechtliche Partnersuche außerhalb der Familie
genitale Persönlichkeit wird als die „reife Form“ der Persönlichkeit beschrieben
hysterische Persönlichkeitsstörung
keine Störung assoziiert
len einer prognostizierten Eigenschaft noch kein
Das lerntheoretische Persönlichkeitsmodell
Beleg gegen die Gültigkeit der Theorie.
Im Grundlagenkapitel über das lerntheoretische
Trotz der umfangreichen Kritik, die an dieser Stelle nur kurz angerissen werden kann, ist Freuds Theo-
Modell (s. S. 91) wurde beschrieben, dass die wichtigste Annahme beim behavioristischen Ansatz des-
rie der Persönlichkeit wahrscheinlich die einfluss-
sen Konzentration auf die Umweltbedingungen
reichste psychologische Theorie überhaupt. Speziell
(Verstärker) ist.
im Bereich der Psychopathologie haben sich trotz der methodischen Einwände viele Annahmen als hilfreich für den therapeutischen Prozess erwiesen.
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Merke Der ursprüngliche lerntheoretische Ansatz nimmt keinerlei Notiz von den Vorgängen innerhalb der Person. Jegliches Verhalten wird ausschließlich durch die Beschaffenheit der Umwelt erklärt. Dementsprechend wird die Persönlichkeit eines Menschen als die Summe seiner Reiz-ReaktionsVerbindungen gesehen, die er aufgrund seiner „Verstärkergeschichte“ ausgebildet hat. Da jeder Mensch eine unterschiedliche Geschichte der Situa(Lerngeschichte) tions-Reaktions-Verstärkungen mit sich bringt, können so interindividuelle Unterschiede erklärt werden. Im Gegensatz zu den Persönlichkeitsforschern haben sich strenge Behavioristen nie für die zeitliche Konsistenz des Verhaltens interessiert. Diese Kontinuität, die andere Theoretiker mit latenten Konstrukten wie Eigenschaften oder dem Selbstkonzept erklären, beruhte ihrer Meinung nach einfach auf relativ konstanten Umweltbedingungen. Stattdessen galt das Interesse der Lerntheoretiker der systematischen Veränderung von Verhalten, das durch eine Änderung der situationalen Bedingungen erreicht werden kann (Verhaltenstherapie s. S. 239).
4.6.4 Die Fehlentwicklung der Persönlichkeit Die möglichen Ursachen von Fehlentwicklungen Die verschiedenen Persönlichkeitstheorien postulieren unterschiedliche Ursachen für die Entwicklung und Fehlentwicklung der Persönlichkeit. Die Annahmen reichen von biologischen Faktoren (Veränderungen des Transmitterhaushalts, hormonelle Einflüsse) bis zu verschiedenen Umweltfaktoren. Während beispielsweise bei Freud die Ausformung des Charakters an die Bewältigung von Entwicklungsphasen geknüpft ist, sehen Lerntheoretiker jede (Fehl-)Entwicklung in den Reizen und der Reaktion der Umwelt begründet. Zu einer Persönlichkeitsstörung kommt es in diesem Fall durch dysfunktionale Verstärkung, sodass das Individuum das unpassende Verhalten lernt. Grundsätzlich hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Persönlichkeit immer ein Resultat von biologischer Anlage und den Erfahrungen des Individuums
mit der Umwelt ist, wobei beide Faktoren in Interaktion treten.
Die Persönlichkeitsstörungen Es ist schwierig zu definieren, in welchem Fall eine Persönlichkeit als „gestört“ bezeichnet werden sollte. Diese Klassifizierung ist abhängig vom sozialen Kontext, in dem die betroffene Person lebt. Je nachdem fallen die Normwerte bezüglich der als Kriterien herangezogenen Leistungsfähigkeit, der emotionalen Ansprechbarkeit, der Selbststeuerung, der sozialen Anpassung und der Beziehungsfähigkeit unterschiedlich aus. In den modernen Klassifikationssystemen psychischer Störungen (z. B. ICD-10 und DSM-IV, s. S. 7) wird ein Kontinuum von einer angepassten bzw. funktionierenden bis zur schwierigen bzw. dysfunktionalen Persönlichkeit angenommen. Von einer Störung wird dann gesprochen, wenn die Persönlichkeitsmerkmale lange bestehen und aufgrund ihrer Unflexibilität und Unangepasstheit die Person in ihrem Sozialleben und ihrem beruflichen Leistungsvermögen beeinträchtigen. Auf der Achse II des DSM-IV werden elf sehr unterschiedliche Störungsbilder beschrieben. Man kann die Störungen nach ihrer Symptomatik in drei Gruppen einteilen. Gruppe A umfasst Störungen, die mit seltsamem, exzentrischem Verhalten einhergehen: paranoide, schizoide und schizotypische Persönlichkeitsstörung Die Störungen in Gruppe B zeichnen sich durch ein dramatisches, emotionales oder launenhaftes Verhalten aus: antisoziale, Borderline, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörung Gruppe C umfasst Störungen, die mit Angst assoziiert sind: selbstunsichere, abhängige und zwanghafte Persönlichkeitsstörung Zu jedem Störungsbild einige Stichworte: Paranoide Persönlichkeit: anderen gegenüber misstrauisch; sucht ständig nach Anzeichen dafür, dass sie betrogen wird; eifersüchtig; erwartet nur Schlechtes. Schizoide Persönlichkeit: unnahbar, emotional kalt; hat Probleme mit sozialen Beziehungen; gleichgültig gegenüber Gefühlen Anderer, Typ des Einzelgängers.
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile Schizotype Persönlichkeit: hat Angst vor sozialen
im Gegensatz zur Zwangsstörung (s. S. 118) treten
Beziehungen, Wahrnehmungsstörungen (Illusionen), exzentrisches Aussehen und Verhalten (z. B.
keine Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken auf.
143
Selbstgespräche, Vernachlässigung der Kleidung); Verflachung des Affekts (keine starken Gefühle); wird auch als abgeschwächte Form der Schizophre-
4.6.5 Einige spezielle Persönlichkeitskonstrukte und Verhaltensstile
nie bezeichnet
Antisoziale Persönlichkeit: unverantwortliches Verhalten wie Gesetzesübertretungen, körperlich aggressives Verhalten; Rücksichtslosigkeit; Impulsivität; emotionale Verarmung, Mangel an Empathie; wird auch als Soziopathie oder Psychopathie bezeichnet.
Persönlichkeit: stark schwankende, Instabilität von sozialen Beziehungen (Hin- und Herpendeln zwischen Nähe und Distanz); Impulsivität; Neigung zu selbstschädigendem Verhalten; schwankendes Selbstbild. Histrionische Persönlichkeit: übertrieben dramatisches Verhalten, egozentrisch; sucht ständig die Aufmerksamkeit Anderer; flacher Affekt; leicht beeinflussbar; wurde früher als hysterisch bezeichnet. Narzisstische Persönlichkeit: übertrieben grandioses Selbstbild; überzeugt von der Einzigartigkeit ihrer Fähigkeiten; fordert ständig Aufmerksamkeit und Bewunderung; Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen wegen ihres Mangels an Empathie; ausgeprägter Egoismus. Selbstunsichere Persönlichkeit: Angst vor sozialen Situationen; empfindlich gegenüber sozialer Zurückweisung, Erniedrigung; geringes Selbstwertgefühl; überzeugt von eigener Inkompetenz und Unterlegenheit; wird auch als extreme Ausprägung der Sozialphobie verstanden. Dependente Persönlichkeit: geringes Selbstvertrauen; fühlt sich unfähig zu selbstständigen Entscheidungen; Angst vor dem Alleinsein und Alleingelassenwerden; richtet sich vollständig nach Anderen, ohne eigene Bedürfnisse zu berücksichtigen; Bindungsproblem scheint auf Defizit im frühkindlichen Entwicklungsprozess (vgl. Bindungstheorie S. 152) zurückzugehen. Zwanghafte Persönlichkeit: perfektionistisch, übertriebene Beschäftigung mit Plänen und Regeln; Probleme beim Treffen von Entscheidungen; Probleme mit zwischenmenschlichen Beziehungen, da die Betroffenen auf „ihren Regeln“ bestehen;
Im folgenden Abschnitt werden Ihnen einzelne Konstrukte vorgestellt, die jeweils nur einen bestimmten Ausschnitt der Persönlichkeit beleuchten. Machen Sie sich klar, wie sich Personen mit einer extrem hohen und extrem niedrigen Ausprägung verhalten.
Borderline
extreme
Emotionen;
Die beiden ersten Konstrukte (Interferenzneigung und
Feldabhängigkeit/Feldunabhängigkeit)
be-
schreiben kognitive Verhaltensstile. Sie beziehen sich auf individuelle Unterschiede in der Informationsverarbeitung. „Sensation Seeking“ ist dagegen ein Konstrukt, das Ähnlichkeiten mit der Extraversions-Dimension von Eysenck aufweist. Wie bei Eysenck wird auch für Sensation Seeking eine physiologische Basis postuliert. Anschließend
werden
Persönlichkeitskonstrukte
und Verhaltensstile vorgestellt, die im klinischen Bereich entwickelt wurden. Hier liegt der Fokus darauf, Verbindungen zwischen spezifischen Erkrankungen und Verhaltensweisen bzw. Persönlichkeitsstilen aufzudecken.
Die Feldabhängigkeit und die Feldunabhängigkeit Das von Witkin et al. (1954, 1972) entwickelte Konstrukt der Feldabhängigkeit versus Feldunabhängigkeit beschreibt das Ausmaß, in dem ein Individuum unabhängig von den Einflüssen der Außenwelt („Feld“) handelt. Menschen, die eine starke Unabhängigkeit von Umweltreizen aufweisen, werden als feldunabhängig bezeichnet. Statt sich nach Umweltinformationen zu richten, orientieren sie ihr Verhalten mehr an einem internen Maßstab. Das andere Extrem bilden feldabhängige Individuen, die ihr Verhalten direkt an den Anforderungen der Umwelt ausrichten. Zunächst war das Konstrukt nur auf den Wahrnehmungsbereich beschränkt. Witkin unterschied Personen danach, inwiefern sie sich bei widersprechenden vestibulären und visuellen Empfindungen
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile mehr nach der einen oder der anderen Information richteten. Diese Frage wurde mit dem Rod-FrameTest untersucht: Die Versuchsperson sitzt in einem zur Seite gekippten Stuhl (vestibuläre Information) und soll einen Leuchtstab, der sich in einem schräg stehenden Rahmen befindet (visuelle Information) senkrecht ausrichten. Die Ausrichtung an der Senkrechten gelingt dabei umso eher, je mehr sich die Person allein auf die vestibuläre Information des gekippten Körpers verlässt und es schafft, die visuelle Information des schrägen Rahmens auszublenden. Diese Fertigkeit, die das Ausblenden visueller Reize beinhaltet, wurde als Feldunabhängigkeit bezeichnet.
Die Interferenzneigung Das Merkmal der Interferenzneigung (Hörmann, 1960) beschreibt das Ausmaß der Störanfälligkeit eines Individuums gegenüber irrelevanten Reizen. Es wird als Maß der kognitiven Steuerung verstanden. In Tests zur Interferenzneigung müssen Versuchspersonen sich auf einen eigentlich unbedeutenden Aspekt eines Reizes konzentrieren und andere Merkmale ausblenden. Beispielsweise werden ihnen farbige Wörter präsentiert, die jeweils eine Farbbezeichnung enthalten (blau, rot, etc.). Die Aufgabe der Versuchsperson ist es nun, die Farbe, in der das Wort geschrieben ist, zu benen-
(SSS). Sie besteht aus vier leicht positiv korrelierten Faktoren: „Thrill and Adventure Seeking“ (Neigung, Spannung durch riskante Erlebnisse zu erzeugen) „Experience Seeking“ (Tendenz, neue, non-konformistische Erfahrungen machen zu wollen) „Disinhibition“ (Tendenz, sich Stimulation durch soziale Aktivitäten und enthemmendes Trinken zu verschaffen) und „Boredom Susceptibility“ (Anfälligkeit gegenüber Langeweile, Abneigung gegen Monotonie). Eine weitere Parallele zu Eysenck liegt in der Annahme einer biologischen Verankerung des Sensation Seekings. Zuckerman postulierte eine starke genetische Basis. Auch auf Transmitter-Ebene geht man von einem Zusammenhang mit der Noradrenalin-Aktivität aus, die wiederum für die kortikale Erregung eine Rolle spielt. Zuckerman nimmt an, dass extreme Sensation Seeker entweder eine zu geringe Noradrenalin-Aktivität im limbischen System aufweisen, oder dass ihr noradrenerges System unempfindlicher gegenüber Stimulation ist. Den Mangel an Erregung, der aus dieser geringeren Aktivität abgeleitet wird, versuchen Sensation Seeker durch aufregende Ereignisse auszugleichen. Die Befunde zur Annahme von Störungen im Transmitterhaushalt sind jedoch widersprüchlich.
nen, ohne auf den Wortinhalt zu achten (z. B. das grund eines automatischen Leseprozesses kann
Der Zusammenhang zwischen Verhaltensstilen und Krankheit
man die inhaltliche Analyse des Wortes jedoch
Als Verhaltensstile werden zeitlich überdauernde
nur schwer unterdrücken. Personen mit geringer
Verhaltensweisen bezeichnet, die beschreiben, auf
Interferenzneigung zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen das Ausblenden der irrelevanten Infor-
welche Art ein Mensch seine Umwelt wahrnimmt und wie er mit Anforderungen, die von der Umwelt
mation besser gelingt als denen mit hoher Inter-
an ihn gestellt werden, umgeht.
ferenzneigung.
Ein Beispiel für so einen Verhaltensstil wurde
Wort „Blau“ in der Farbe Rot; Stroop-Test). Auf-
schon im Zusammenhang mit Angst (s. S. 118) vor-
Das „Sensation Seeking“
gestellt.
Marvin Zuckerman (1979) entwickelte auf der Basis
unterscheidet zwischen Personen, die sich eher
von Deprivationsstudien das Konstrukt des Sensa-
einem unangenehmen Ereignis zuwenden (Sensiti-
tion Seekings. Ähnlich wie Eysenck ging er davon aus, dass Individuen ein unterschiedliches Maß an Stimulation bevorzugen. Die Persönlichkeitseigenschaft des Sensation Seekings bezieht sich auf die Tendenz, relativ neue stimulierende Situationen aufzusuchen. Zur Messung des Konstrukts entwickelte Zuckerman die „Sensation Seeking Scale“
zer) und denen, die sich bemühen, ein bedrohliches Ereignis lieber zu verdrängen (Represser).
Das
Sensitization-Repression-Konstrukt
Auch das Konstrukt der erlernten Hilflosigkeit nach Seligman, das als Erklärungsansatz für Depression vorgestellt wurde (s. S. 121), stellt einen Verhaltensstil dar. Diese Art des Verhaltens wird auch als passiv-resignativer Stil bezeichnet. Entspre-
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4 Theoretische Grundlagen Die Persönlichkeit und die Verhaltensstile chende Personen zeichnen sich durch einen gerin-
in einer hastigen Sprechweise zeigen kann. Klappt
gen Aktivitätsgrad aus, suchen keine Problemlösungen, sondern ertragen einfach ihr Schicksal („Es hat
etwas nicht nach Wunsch, reagiert die TypA-Persönlichkeit sehr irritiert und ärgerlich. Im
ja doch alles keinen Zweck.“).
emotionalen Bereich zeichnet sich das Typ-A-Ver-
Das Konzept der Kontrollüberzeugung (Locus of Control)
aus.
Das von Rotter (1966) entwickelte Konzept der
erhaltender Aktivitäten einher, die aus Zeitmangel
Kontrollüberzeugung hat Ähnlichkeiten mit der Attributionstheorie und der erlernten Hilflosigkeit. Es beschreibt, inwiefern jemand annimmt, die Konsequenzen seines Handelns selbst beeinflussen zu können. Eine hohes Ausmaß an Kontrollüberzeugung (auch interner/internaler Locus of Control) kennzeichnet Menschen, die davon ausgehen, dass ihr eigenes Verhalten entscheidend für die Ereignisse ihres Lebens ist. Bei geringer Kontrollüberzeugung (auch externer/externaler Locus of Control) nimmt man an, dass die Ereignisse des eigenen Lebens von außen (anderen Personen, dem Schicksal etc.) bestimmt werden. Der Einfluss des eigenen Verhaltens auf die Gestaltung der Zukunft wird als gering eingeschätzt. Im klinischen Bereich hat man erkannt, dass das Ausmaß an Kontrollüberzeugung eine wichtige Rolle beim Umgang mit Krankheiten spielt. Nimmt ein Patient an, seine Krankheit wäre Teil seines Schicksals, ist er weniger bereit, Kräfte zu mobilisieren, um aktiv gegen die Krankheit anzukämpfen. Dagegen hat sich gezeigt, das sich z. B. bei Krebskranken eine hohe Kontrollüberzeugung günstig auf den Krankheitsverlauf auswirkt.
oder gering eingeschätzter Wichtigkeit unterblei-
145
halten durch ein hohes Potenzial an Feindseligkeit
Typ A-Verhalten und Typ-B-Verhalten
Diese
stressfördernde
Verhaltensweisen
gehen mit einer Vernachlässigung gesundheits-
ben. Als Pendant zum Typ-A wurde auch ein Typ-B-Ver-
halten beschrieben. Diese Personen zeichnen sich durch Ruhebedürftigeit und aktive Suche nach Erholung aus. Sie entspannen sich in ihrer Freizeit und haben zufriedenstellende soziale Beziehungen. Die Typenbeschreibungen wurden bereits in den 60er- und 70er-Jahren von Friedman und Rosenman (1974) entwickelt und waren zunächst sehr erfolgreich. Der Versuch, einen Ursache-WirkungsZusammenhang zwischen dem gesundheitskritischen Verhalten und der tatsächlichen Koronarerkrankung nachzuweisen, gelang jedoch nicht. Zudem scheint die Unterscheidung von zwei Verhaltensstilen zu simpel, um gute Vorhersagekraft für Koronarerkrankungen zu haben. Als haltbar erwies sich allein ein erhöhtes Herzinfaktrisiko bei der Kombination aus Kontrollbedürfnis und erhöh-
ter Feindseligkeit. Trotzdem hat das Typenkonstrukt eine wichtige Rolle gespielt, um den Zusammenhang zwischen Verhalten, psychischer Verarbeitung und physischen Erkrankungen in die Diskussion zu bringen.
4.6.6 Das Selbstkonzept
Die Beschreibung des Typ-A-Konstrukts basiert auf
Das Selbstkonzept beschreibt das Bild, die Theorien
dem Versuch, Verhaltensweisen zu identifizieren,
und Einstellungen, die ein Individuum von der eige-
die mit einem hohen Risiko für Koronarerkrankun-
nen Person hat. Diese Vorstellung leitet das Indivi-
gen einhergehen. Der Verhaltensstil wird folgendermaßen charakterisiert: Eine Person mit ausgeprägtem Typ-A-Verhalten (koronargefährdendes Verhalten) steht unter ständigem Leistungsdruck, ist ehrgeizig (hohe Leistungsnorm), übernimmt gerne Verantwortung und zeigt große Bereitschaft zum vollen Einsatz bis zur völligen Verausgabung. Sie hat ein hohes Kontrollbedürfnis, sodass es ihr schwer fällt, Verantwortung zu delegieren. Hinzu kommt ein selbstgesetzter Zeitdruck und ein hohes Maß an Ungeduld, das sich unter anderem
duum aus seinen Erfahrungen (Selbstbild) und den Bildern, die andere Personen von ihm haben
(Fremdbild), ab. Dabei geht sowohl das von den Eltern und der Gesellschaft transportierte erzieherische Sollbild (z. B. „Es ist wichtig, hilfsbereit zu sein.“), das vom Indiviuum selber angestrebte Idealbild (z. B. „Ich möchte eine unkonventionelle Person sein.“) und die von Anderen rückgemeldeten Fremdbilder (z. B. „Du bist ein sehr ehrgeiziger, leistungsbewusster Typ.“) ein. Zudem gehen in das Selbstbild auch „objektive Merkmale“ wie das
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation eigene Aussehen, körperliche Behinderungen oder
Verbesserung ihrer Situation dem Zufall oder Ande-
chronische Krankheiten mit ein. Das Selbstkonzept einer Person spielt eine wichtige Rolle für das kon-
ren, nicht aber ihrer eigenen Person zuschreiben.
Check-up
krete Verhalten.
4
Merke Menschen streben danach, sich in Übereinstimmung mit ihrem Selbstkonzept zu verhalten. Man kann sich das Selbstkonzept als eine Art Kontrollinstanz vorstellen, die bei jeglicher Interaktion der Person mit der Umwelt aktiv ist. Das heißt, dass das eigene Verhalten immer in Beziehung zum Selbstkonzept gesetzt wird: Hält sich eine Person für mutig, merkt aber, dass sie in einer eher harmlosen Situation Angst verspürt und am liebsten wegrennen möchte, kann der Vergleich mit dem Selbstkonzept bewirken, dass sie versucht, die Angst zu unterdrücken und sich der Situation zu stellen. Auch in Bezug auf gesundheitliches Verhalten hat das Selbstkonzept Relevanz: Die Wahrnehmung von körperlichen Beschwerden (z. B. Schmerzen) hängt oft eng mit dem persönlichen Bild von sich selber als eher gesunder oder eher kränklicher Person zusammen.
4
4
Wiederholen Sie die wichtigsten Aussagen der verschiedenen Persönlichkeitstheorien. Machen Sie sich dabei auch noch einmal klar, worin die Unterschiede zwischen Lerntheorie und psychodynamischem Ansatz bestehen. Rekapitulieren Sie, wie Prädispositionismus, Situationismus und Interaktionismus jeweils Persönlichkeitsunterschiede zwischen Individuen erklären.
4.7 Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Lerncoach Zum Verständnis der Entwicklungspsychologie ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen Reifung (Maturation) und Lernen zu verstehen. Führen Sie sich deshalb gleich zu Beginn des Kapitels das Zusammenspiel von biologischen Faktoren und Umweltfaktoren anhand der Sprachentwicklung vor Augen.
4.6.7 Klinische Bezüge Attributionsstil bei Depression
4.7.1 Der Überblick
Auch der Attributionsstil ist ein Verhaltensstil, der
der menschlichen Entwicklung und typischen Ver-
im Zusammenhang mit Krankheit und Krankheits-
änderungen in den einzelnen Lebensabschnitten.
verhalten relevant ist. Im Absatz zur Attributions-
In diesem Kapitel stehen die Entwicklungsprozesse
theorie (s. S. 131) wurden verschiedene Möglichkeiten zur Ursachenerklärung von Ereignissen vor-
der frühen Kindheit im Mittelpunkt. Sie werden nacheinander für verschiedene Entwicklungsberei-
gestellt. Tendiert ein Mensch meistens zu derselben
che (Sensorik, Motorik, kognitive Entwicklung,
Art von Ursachenzuschreibung, spricht man von
Sprache, Motivation und Moral) dargestellt. Diese
einem Attributionsstil. Beispielsweise neigen de-
Prozesse verlaufen jedoch zu einem Großteil nicht
pressive Patienten dazu negative Ereignisse inter-
automatisch, sondern werden von der Umwelt des
nal („Es liegt an mir.“), stabil und global („Das ist
Kindes beeinflusst. Im Rahmen der primären Sozia-
immer so.“) zu attribuieren. Positive Ereignisse
lisation geht es dabei um die Kernfamilie und ihren
werden dagegen external („Dafür kann ich nichts.“), variabel und spezifisch („Das war eine Ausnahme.“)
Anteil an der kindlichen Entwicklung in den ersten Lebensjahren. Zudem werden gesellschaftliche
erklärt. Diese Denkmuster hindern den Betroffenen
Bedingungsfaktoren erläutert, die Einfluss auf die
daran, Ereignisse realistisch einzuschätzen und sich
Familie haben.
Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit
über Positives freuen zu können, andererseits machen sie auch den Umgang mit solchen Patienten nicht gerade einfach, weil sie zum Beispiel jede
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation eigene Aussehen, körperliche Behinderungen oder
Verbesserung ihrer Situation dem Zufall oder Ande-
chronische Krankheiten mit ein. Das Selbstkonzept einer Person spielt eine wichtige Rolle für das kon-
ren, nicht aber ihrer eigenen Person zuschreiben.
Check-up
krete Verhalten.
4
Merke Menschen streben danach, sich in Übereinstimmung mit ihrem Selbstkonzept zu verhalten. Man kann sich das Selbstkonzept als eine Art Kontrollinstanz vorstellen, die bei jeglicher Interaktion der Person mit der Umwelt aktiv ist. Das heißt, dass das eigene Verhalten immer in Beziehung zum Selbstkonzept gesetzt wird: Hält sich eine Person für mutig, merkt aber, dass sie in einer eher harmlosen Situation Angst verspürt und am liebsten wegrennen möchte, kann der Vergleich mit dem Selbstkonzept bewirken, dass sie versucht, die Angst zu unterdrücken und sich der Situation zu stellen. Auch in Bezug auf gesundheitliches Verhalten hat das Selbstkonzept Relevanz: Die Wahrnehmung von körperlichen Beschwerden (z. B. Schmerzen) hängt oft eng mit dem persönlichen Bild von sich selber als eher gesunder oder eher kränklicher Person zusammen.
4
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Wiederholen Sie die wichtigsten Aussagen der verschiedenen Persönlichkeitstheorien. Machen Sie sich dabei auch noch einmal klar, worin die Unterschiede zwischen Lerntheorie und psychodynamischem Ansatz bestehen. Rekapitulieren Sie, wie Prädispositionismus, Situationismus und Interaktionismus jeweils Persönlichkeitsunterschiede zwischen Individuen erklären.
4.7 Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Lerncoach Zum Verständnis der Entwicklungspsychologie ist es wichtig, den Zusammenhang zwischen Reifung (Maturation) und Lernen zu verstehen. Führen Sie sich deshalb gleich zu Beginn des Kapitels das Zusammenspiel von biologischen Faktoren und Umweltfaktoren anhand der Sprachentwicklung vor Augen.
4.6.7 Klinische Bezüge Attributionsstil bei Depression
4.7.1 Der Überblick
Auch der Attributionsstil ist ein Verhaltensstil, der
der menschlichen Entwicklung und typischen Ver-
im Zusammenhang mit Krankheit und Krankheits-
änderungen in den einzelnen Lebensabschnitten.
verhalten relevant ist. Im Absatz zur Attributions-
In diesem Kapitel stehen die Entwicklungsprozesse
theorie (s. S. 131) wurden verschiedene Möglichkeiten zur Ursachenerklärung von Ereignissen vor-
der frühen Kindheit im Mittelpunkt. Sie werden nacheinander für verschiedene Entwicklungsberei-
gestellt. Tendiert ein Mensch meistens zu derselben
che (Sensorik, Motorik, kognitive Entwicklung,
Art von Ursachenzuschreibung, spricht man von
Sprache, Motivation und Moral) dargestellt. Diese
einem Attributionsstil. Beispielsweise neigen de-
Prozesse verlaufen jedoch zu einem Großteil nicht
pressive Patienten dazu negative Ereignisse inter-
automatisch, sondern werden von der Umwelt des
nal („Es liegt an mir.“), stabil und global („Das ist
Kindes beeinflusst. Im Rahmen der primären Sozia-
immer so.“) zu attribuieren. Positive Ereignisse
lisation geht es dabei um die Kernfamilie und ihren
werden dagegen external („Dafür kann ich nichts.“), variabel und spezifisch („Das war eine Ausnahme.“)
Anteil an der kindlichen Entwicklung in den ersten Lebensjahren. Zudem werden gesellschaftliche
erklärt. Diese Denkmuster hindern den Betroffenen
Bedingungsfaktoren erläutert, die Einfluss auf die
daran, Ereignisse realistisch einzuschätzen und sich
Familie haben.
Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit
über Positives freuen zu können, andererseits machen sie auch den Umgang mit solchen Patienten nicht gerade einfach, weil sie zum Beispiel jede
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation 4.7.2 Wichtige Begriffe und Methoden der Entwicklungspsychologie Der Begriff der Entwicklung Entwicklung beschreibt die Veränderungen des Organismus. Man unterscheidet die Ontogenese, die die individuelle Entwicklung eines Organismus vom Keim bis zum ausgewachsenen Individuum beschreibt, und die Phylogenese, die die Entfaltung der Arten behandelt. In diesem Kapitel geht es ausschließlich um den ontogenetischen Entwicklungsbegriff. Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit den Entwicklungsstadien und -prozessen, die im Laufe des Lebens auftreten. Entwicklung wird als ein lebenslanger Prozess von der Empfängnis bis zum Tod verstanden. Diese Perspektive der gesam-
ten Lebensspanne hat eine stark auf die Kindheit und das Jugendalter fokussierte Entwicklungspsychologie abgelöst. Dahinter steht die Grund-
147
Normen. Beispielsweise wurden anhand großer Stichproben Durchschnittswerte für das Alter erhoben, in dem bestimmte motorische Entwicklungsschritte auftreten (s. S. 152 Tab. 4.7). Die Normen dienen als Vergleichsmaßstab, an dem das individuelle Verhalten gemessen werden kann. Sie schreiben jedoch keinesfalls vor, zu welchem Zeitpunkt ein bestimmtes Verhalten auftreten muss. Um Veränderungen zu erklären, bedarf es experimenteller Untersuchungen (s. S. 47). Dabei werden verschiedene Bedingungen, die mit einem Verhalten in Verbindung stehen, systematisch manipuliert. Es wird gemessen, wie sich das Verhalten in Abhängigkeit von den verschiedenen Bedingungen verändert. Beispielsweise gibt es eine experimentelle Untersuchung zum Fremdeln, die der Frage nachgeht, unter welchen Umständen Babys eine entsprechende Fremdelreaktion zeigen.
annahme, dass jeder Lebensabschnitt typische
Die Quer- und die Längsschnittstudie
neue Aufgaben und Anforderungen an das Indivi-
Da es in der Entwicklungspsychologie um Verände-
duum stellt.
rung über die Zeit geht, stehen zeitbezogene Versuchspläne im Mittelpunkt. Am häufigsten einge-
Der Begriff der Sozialisation
setzt wird die Querschnittsstudie, bei der zu
Die Sozialisation beschreibt die lebenslangen Ver-
einem Zeitpunkt (t1) verschiedene Altersgruppen
änderungen, die im Zusammenhang mit sozialen Erfahrungen stehen. Hier geht es um Lernprozesse,
(z. B. 20-, 30- und 40-Jährige) bezüglich einer bestimmten Verhaltensweise verglichen werden. Ver-
bei denen das Individuum sich soziale Fähig- und
haltensunterschiede können dann mit dem chrono-
Fertigkeiten, Norm- und Wertvorstellungen aneig-
logischen Alter der Versuchsgruppen in Beziehung
net. Sozialisation wird auch als „Vergesellschaftung
gesetzt werden. Problematisch ist allerdings, dass
der menschlichen Natur“ umschrieben. Das Indivi-
sich die verschiedenen Altersgruppen auch in ande-
duum wächst in die menschliche Gesellschaft (So-
ren Sozialisationsvariablen systematisch unter-
zietät) hinein und wird zu einer gesellschaftlich
scheiden (z. B. bezüglich der ökonomischen Ver-
handlungsfähigen Persönlichkeit.
hältnisse, in denen sie jeweils aufgewachsen sind). Diese sogenannten Kohorteneffekte erschweren
Beachte Die primäre Sozialisation (ca. 0–3 Jahre) beschreibt die Interaktion mit der Kernfamilie. Die sekundäre Sozialisation (ab ca. 3 Jahren) bezieht sich auf die Freunde, Peers, Schule oder Beruf.
die Interpretation der Unterschiede im Verhalten,
Die Methoden der Entwicklungspsychologie
da unklar ist, inwiefern diese allein auf das Alter oder eher auf die Sozialisationserfahrungen einer bestimmten Generation zurückzuführen sind. Man spricht von einer Konfundierung der Variablen Alter und Kohorte. Eine weitere Methode ist die Längsschnittstudie, bei der die gleichen Versuchspersonen zu mehreren
Aufgrund der oben skizzierten Inhalte geht es in
Zeitpunkten (t1 bis tn) wiederholt beobachtet oder
der Entwicklungspsychologie vor allem um die Be-
befragt werden. Vorteil ist die Erfassung der indivi-
schreibung und zum Teil auch Erklärung von Veränderung. Die Beschreibung von regelhaften Veränderungsprozessen erfolgt durch das Aufstellen von
duellen Veränderung. Allerdings sind die Ergebnisse nur bedingt auf andere Stichproben übertragbar, da die Versuchspersonen alle derselben Gene-
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation ration mit entsprechenden Sozialisationsbedingun-
schiedene Lernmechanismen erworben werden
gen entstammen. Zudem sind Längsschnittstudien extrem aufwendig, da die Versuchsgruppe oft
(s. S. 91).
über Jahre „gepflegt“ werden muss, um Ausfälle
verbinden, stellt der sequenzielle Versuchsplan
Beachte Das Zusammenspiel zwischen Reifung und Lernen sieht folgendermaßen aus: Genetische Faktoren setzen Reifungsprozesse in Gang, die dem Individuum das Aufnehmen neuer Umwelterfahrungen (Lernen) ermöglichen.
dar. Hier werden mehrere Versuchsgruppen aus verschiedenen Geburtskohorten (z. B. Geburtsjahr
Zur Trennung von Reifung und Lernen
1970, 1980 und 1990) zu mehreren Zeitpunkten
Um abzugrenzen, ob ein bestimmtes Verhalten auf
untersucht. Der Vorteil liegt darin, dass bei den auf-
Reifungs- oder Lernprozesse zurückzuführen ist,
so gering wie möglich zu halten.
Der sequenzielle Versuchsplan Eine Möglichkeit beide Arten der Untersuchung zu
tretenden Veränderungen nun getrennt werden
werden kulturvergleichende Studien durchgeführt.
kann, inwiefern diese allein auf das chronologische
Tritt eine Verhaltensveränderung universell zu
Alter oder auf generationsspezifische Erfahrungen
einem ähnlichen Zeitpunkt in der Entwicklung
zurückgehen.
auf, ist das ein Hinweis auf Reifung. Gelerntes Ver-
Die Reifung (Maturation) und das Lernen
halten zeigt dagegen eine größere Variabilität bezüglich des Zeitpunkts und der genauen Ausfor-
Am Entwicklungsprozess sind – je nach Verhalten
mung.
– in unterschiedlichem Ausmaß genetische, sozio-
Einen weiteren Hinweis liefern Deprivationsver-
kulturelle und psychische Faktoren beteiligt. Die
suche. Dazu wird in Tierexperimenten den Neu-
Prozesse, die durch genetische Faktoren gesteuert
geborenen die Stimulation durch die Umwelt vor-
werden, bezeichnet man als Reifungsprozesse.
enthalten. Die Verhaltensweisen, die sich trotzdem
Die typische Reihenfolge der körperlichen, aber
entwickeln, gehen vollständig auf Reifung zurück.
auch der geistigen Entwicklung ist durch die Reifung festgelegt (z. B. die Abschnitte zur moto-
Alles andere bedarf mindestens einer anfänglichen Stimulation durch die Umwelt. Solche Studien wer-
rischen Entwicklung oder zum Spracherwerb,
den auch als Kaspar-Hauser-Versuche bezeichnet.
s. S. 156). Reifungsbedingte Veränderungen treten
Auch beim Menschen gibt es einige Erkenntnisse
häufig spontan auf und müssen nicht erst Schritt
aufgrund von Untersuchungen mit Kindern, die
für Schritt gelernt werden (z. B. das Saugverhalten
von ihren Eltern vernachlässigt wurden.
des Neugeborenen). Andere treten infolge innerer Prozesse auf, benötigen zu ihrer Entfaltung je-
Die kritische/sensible Periode
doch ein Mindestmaß an Stimulation und Übung. Beispielsweise liegt dem Spracherwerb eine Rei-
Das Konzept der kritischen Periode kommt aus der Ethologie (Verhaltensbiologie) und beschreibt einen Entwicklungsabschnitt, in dem der Organismus über eine reifungsbedingte gesteigerte Sensibilität für das Erlernen einer bestimmten Verhaltensweise verfügt. Zum Erwerb des Verhaltens sind ganz bestimmte Stimuli oder Erfahrungen notwendig. Tauchen diese Stimuli oder Erfahrungen innerhalb des kritischen Zeitfensters nicht auf, kann der Organismus das Verhalten nur bedingt erlernen. Außerhalb der kritischen Phase ist das Erlernen extrem schwierig und zum Teil sogar gar nicht mehr nachzuholen. In der menschlichen Entwicklung scheint es kritische Perioden für verschiedene kognitive Entwick-
fungskomponente zugrunde: Die verschiedenen Stadien der Sprachentwicklung scheinen von der genetisch gesteuerten Entwicklung des Nervensystems abzuhängen. Das bedeutet, dass Kinder trotz Übung und gutem Zureden erst ab einem bestimmten Stadium beginnen, Wörter zu produzieren. Der weitere Verlauf wird dann durch Umweltfaktoren mit beeinflusst. Fehlt allerdings jede Stimulation, bildet das Kind von selbst keine vollständige Sprache aus. Als Lernen werden dagegen sichtbare nachhaltige Veränderungen bezeichnet, die durch Übung erworben wurden. Dabei kann Verhalten über ver-
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation lungsschritte (z. B. Spracherwerb, s. u.), aber auch
tionsmonat statt. In dieser Zeit vermehren sich
für die Bildung einer emotionalen Beziehung (vgl. S. 152) zu geben. Im Vergleich zum Tierreich sind
die Nervenzellen rapide, zugleich ist das Risiko für eine Schädigung des Gehirns besonders hoch. Der
diese kritischen Perioden beim Menschen relativ
zweite Wachstumsschub beginnt wenige Wochen
lang und selten absolut. Das bedeutet, dass die
vor der Geburt und hat seinen Höhepunkt im drit-
meisten Verhaltensweisen zwar im Nachhinein
ten bis vierten Monat nach der Geburt. In dieser
mit viel Mühe noch erlernt werden können, ohne
Zeit findet die Ausdifferenzierung der Nervenzellen
allerdings dasselbe Niveau zu erreichen.
statt; es bilden sich Dendriten und Synapsen. Das
149
höchste Ausmaß der Myelinisierung wird erst im
4.7.3 Die prä- und die postnatale Entwicklung
dritten Lebensjahr erreicht.
Die Phase der prä- und postnatalen Entwicklung
Merke Im Rahmen der Entwicklung des ZNS findet neben der Zunahme von Neuronen, Axonen, Dendriten und Synapsen gleichzeitig eine Selektion statt, bei der irrelevante Zellen und Verbindungen absterben.
wird auch als frühe Kindheit bezeichnet und umfasst den Zeitabschnitt von der vorgeburtlichen Phase bis zum zweiten bis dritten Lebensjahr. Die vorgeburtliche Phase wird in Bezug auf die Mutter als Schwangerschaft, in Bezug auf das Kind als Gestationszeit bezeichnet. Sie beträgt bei termingerechter Geburt 40 Wochen. In den ersten acht bis zwölf Wochen wird der menschliche Keim als Embryo bezeichnet, ab dem dritten Monat als Fötus.
Die Entwicklung des Gehirns und der Sinnesorgane findet zunächst unabhängig voneinander statt. Zur Verschaltung kommt es zwischen der 25. bis 37. Gestationswoche. Ab diesem Zeitpunkt sind die
Die intrauterine Entwicklung
neurophysiologischen Grundlagen für Lernerfah-
Die Entwicklung des zentralen Nervensystems
rungen über die Sinnesorgane gelegt.
Die Entwicklung des zentralen Nervensystems beginnt im Uterus bereits in den ersten Wochen nach der Konzeption mit der Bildung des Rücken-
Die intrauterine Entwicklung
marks. Daran orientiert sich die Ausrichtung der
wicklung sind in Tab. 4.6 dargestellt.
Einige wichtige Schritte der vorgeburtlichen Ent-
neu gebildeten Neurone und Gliazellen (Stützzellen). Während Gliazellen das ganze Leben hindurch
Tabelle 4.6 Die pränatale Entwicklung
regenerierbar sind, ist die Neubildung von Neuro-
Gestationswoche
Entwicklungsschritte
nen ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr
3. Woche
Einsetzen des Herzschlags
8. Woche
erste spontane Bewegungen
12.–16. Woche
erste Atmungsbewegungen, Saugen und Schlucken
ab 14. Woche
Zyklen von Aktivität und Ruhephasen
16.–20. Woche
Bewegungen des Fötus von der Mutter spürbar
25.–28. Woche
Augenbewegungen, unregelmäßige Atembewegungen
29.–32. Woche
unabhängiges extra-uterines Überleben möglich
37.–42. Woche
Mithören des extrauterinen Geschehens; Abnahme der Bewegung wegen räumlicher Enge
möglich. Dieser Zeitpunkt unterscheidet sich je nach der Funktionsweise der Nervenzelle. Als erstes entwickelt sich bereits in der Embryonalzeit der visuelle Kortex. Dagegen ist die Neuronenbildung im Zerebellum (Kleinhirn), das für die Koordination von Bewegungen zuständig ist, erst sechs Monate nach der Geburt abgeschlossen.
Gehirngewicht und -volumen vergrößern sich durch die Zunahme von Gliazellen, Neuronen, ihren Verbindungen (Axonen), Dendriten und Synapsen und durch die zunehmende Myelinisierung. Bei der Geburt beträgt das Gehirnvolumen ca. 23 % eines ausgewachsenen Menschen, im Alter von drei Jahren sind es ca. 70 %. Zwei Wachstumsschübe charakterisieren das Gehirnwachstum: Der erste findet zwischen dem dritten und fünften Gesta-
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Verschiedene psychosoziale Einflüsse auf Schwangerschaft und Geburt
Dazu werden die Hautfärbung (A = Aussehen),
Die vorgeburtlichen Risiken
die Atmung (A), der Muskeltonus (G = Grundtonus), die Reflexe (R) und der Herzschlag (P =
Trotz Verhütungsmitteln wurden selbst in den
Puls) überprüft.
80er-Jahren nur ca. fünf Prozent der Schwanger-
Als Risikokinder gelten Neugeborene, die verfrüht
schaften bewusst geplant. Ein weiteres Drittel bis
(vor der 37. Schwangerschaftswoche) zur Welt
die Hälfte ist zwar nicht direkt geplant, aber durch-
kommen, die einen niedrigen APGAR-Wert aufwei-
aus erwünscht. Neben dem Kinderwunsch beider
sen oder bei denen sonstige klinische Auffälligkei-
Partner haben Faktoren wie die Qualität der Paar-
ten gleich nach der Geburt vorliegen. Auch eine
beziehung, die Persönlichkeit der Partner, ihre körperliche Verfassung und das soziale Umfeld
gesundheitlich belastete Mutter ist für das Kind ein Risiko. Allerdings entwickelt sich der Großteil
Einfluss auf das Schwangerschafts- und Geburts-
der Risikokinder vollkommen normal. Die größte
erleben der Frau. In der Bundesrepublik ist die
Gruppe unter den Risikokindern bilden die Früh-
häufigste Begründung für Schwangerschaftsab-
geborenen (ca. 5 bis 8 %, in sozialen und ökono-
brüche eine „schwere soziale Notlage“ (80 %), da-
mischen Risikogruppen ist der Anteil höher). Bei
gegen werden Chromosomenfehler des Kindes nur
ihnen geht es dank der medizinischen Fortschritte
in zwei bis drei Prozent der Fälle als Begründung
nur noch selten um ihr Überleben, sondern meis-
angegeben. Etwa drei Prozent der Kinder kommen mit Missbil-
tens um die Begrenzung des körperlichen und psychischen Risikos. Weitere Risikogruppen stellen
dungen der Gliedmaßen oder Organe auf die Welt.
Kinder mit unmittelbaren Geburtskomplikationen,
Eindeutige Ursachen lassen sich nur schwer ermit-
Kinder mit Störungen des endokrinen Systems (En-
teln. Ein Teil lässt sich jedoch mit gewisser Sicher-
zymdefekte wie z. B. die Phenylketonurie) oder mit
heit auf bestimmte Medikamente, Drogen, Alkohol
Chromosomenfehlern dar. Eine wichtige Frage ist,
oder Nikotin (Rauchen) zurückführen, die von der Mutter während der Schwangerschaft konsumiert wurden. Auch durch Umweltgifte oder radioaktive Strahlung, der die Schwangere ausgesetzt ist, können Fehlbildungen provoziert werden. Eine weitere Gefahrenquelle stellen Infektionskrankheiten (z. B. Röteln) dar. Das Risiko, dass es durch die aufgeführten Einwirkungen tatsächlich zu einer pränatalen Schädigung des Kindes kommt, und die Art bzw. das Ausmaß dieser Schädigung variieren mit dem Zeitpunkt innerhalb der pränatalen Entwicklung, zu dem der Risikofaktor auftritt. Speziell innerhalb der ausgeprägten Wachstumsphasen sind das zentrale Nervensystem und die Sinnesorgane besonders gefährdet.
welche Bedeutung diese prä- und perinatalen Risiken für die weitere psychologische Entwicklung des Kindes haben.
Die biologischen und die sozialen Risiken Als biologische Risiken werden die oben aufgeführten Faktoren bezeichnet, die die biologische Funktionsweise des Kindes einschränken oder gar das Überleben bedrohen. Mit Ausnahme eindeutig nachweisbarer Hirnschädigungen zeigen andere Risikofaktoren wie ein geringes Geburtsgewicht, die Schwere perinataler Komplikationen oder das Ausmaß der Frühgeburtlichkeit keinen systematischen Zusammenhang mit der weiteren Entwicklung des Kindes. Meistens ist die Wirkung biologischer Faktoren nur kurzfristig, Spätfolgen sind
Die Risikogeburten und die Risikokinder
außer bei einer Kombination mehrerer schwerwie-
Die Geburt ist zwar ein biologischer Vorgang, sie
gender Faktoren selten.
stellt für das Kind aber trotzdem einen plötzlichen Umgebungswechsel dar, auf den es mit
Von größerer prädiktiver Bedeutung für die weitere Entwicklung des Kindes sind dagegen die psycho-
einer komplexen Neuanpassung reagieren muss
sozialen Risikofaktoren während der frühen Kind-
(z. B.
Kreislauf).
heit. Sie wirken sich mit zunehmendem Alter des
Die unmittelbare Anpassungsleistung des Neu-
Kindes sogar verstärkt aus. Allerdings gilt auch
geborenen wird innerhalb der ersten 10 Minuten
hier, dass besonders eine Addition mehrerer psy-
nach der Geburt mit dem APGAR-Index erfasst.
chosozialer Probleme und Belastungen die Wahr-
Atmung,
Temperaturregelung,
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation scheinlichkeit von späteren Verhaltensproblemen
Der Sehsinn
erhöht. Solche Faktoren können z. B. psychische Störungen oder Suchterkrankungen der Eltern
Neugeborene können auf eine Entfernung von ca. 20–25 cm einigermaßen scharf sehen. Sie bevor-
sein, eine schlechte Qualität der Paarbeziehung
zugen Muster gegenüber ungemusterten Reizen,
oder fehlende soziale Unterstützung durch Freunde
wobei sie eine besondere Präferenz für Gesichter
und Verwandte. Aber auch Unwissenheit und
zeigen. Außerhalb dieses Nahbereichs ist ihr Seh-
Ängstlichkeit im Umgang mit dem Kind oder eine
vermögen noch gering, da ihre Kontrastempfind-
negative Einstellung gegenüber dem Neugeborenen
lichkeit noch nicht voll entwickelt ist und es nicht
können dessen Entwicklung ungünstig beeinflus-
zu einer Akkomodation der Linse (muskuläres Ver-
sen. Eine Art Risikopuffer stellt der Bildungsgrad der Mutter dar (je höher, desto besser). Diese posi-
engen oder Erweitern) kommt. Mit zunehmender Sehschärfe verbessert sich auch die Fähigkeit zur
tive Wirkung wird durch die größere Inanspruch-
Akkomodation der Linse. Mit etwa sechs Monaten
nahme von fachlich kompetenter Hilfe (z. B. Teil-
erreichen Kinder die Sehschärfe eines Erwachse-
nahme an Vorsorgeuntersuchungen), aber auch
nen. Bereits nach einem Monat können Säuglinge
durch eine angemessene und förderliche Gestal-
Bewegungen wahrnehmen und verfolgen, ab dem
tung der kindlichen Umwelt erklärt.
dritten bis vierten Monat verarbeiten sie binoku-
151
lare Reize (Information von beiden Augen) und
Merke Bei einzelnen biologischen oder sozialen Risikofaktoren wird die längerfristige Entwicklung des Kindes nur selten beeinträchtigt. Problematischer ist die Prognose bei gemeinsamem Auftreten von biologischen und psychosozialen Risikofaktoren.
verfügen damit auch über Tiefeninformation.
4.7.4 Die frühkindliche Entwicklung und die primäre Sozialisation Die Entwicklung der Sensorik
spielsweise in der Lage, seine Mutter am Geruch zu erkennen. Auch die vier verschiedenen Ge-
Die sensorischen Fähigkeiten des Säuglings sind
kann es bereits auseinander halten.
Weitere Sinne Bereits intrauterin reagiert der Fötus auf Berührungsreize und zeigt eine differenzierte Wahrnehmung von Schmerz und angenehmer Berührung. Besonders gut ausgebildet sind der Geruchs- und
Geschmackssinn des Neugeborenen. Es ist bei-
schmacksrichtungen (süß, sauer, salzig, bitter)
nach der Geburt genau auf die für das Überleben wichtigen Anforderungen der Umwelt abgestimmt.
Die Entwicklung der Motorik
Danach verläuft die Entwicklung der einzelnen Sin-
In Tab. 4.7 sind Normen zur motorischen Entwick-
nesorgane unterschiedlich schnell.
lung beim Kleinkind dargestellt.
Der Hörsinn Bereits im Mutterleib zeigt der Fötus differenzierte
Die emotionale Entwicklung und das Bindungsverhalten
Reaktionen auf verschiedene akustische Reize.
Die emotionale und die soziale Entwicklung des
Nach der Geburt bevorzugt das Neugeborene den
Kindes sind eng miteinander verknüpft. Um sozia-
Frequenzbereich menschlicher Stimmen bzw. einen Bereich, der leicht darüber liegt. Sprachliche Laute werden anderen komplexen Lauten vorgezogen. Bereits kurz nach der Geburt kann das Kind die Stimme der Mutter von anderen Stimmen unterscheiden. Diese besondere Fähigkeit zur Wahrnehmung der Sprache dient einigen Forschern als Argument für eine genetische Basis des Spracherwerbs.
len Kontakt aufzunehmen, zeigt das Kind emotionale Verhaltensweisen wie Lächeln oder die Zuwendung des Kopfes. Zudem werden soziale Beziehungen über das gegenseitige Reagieren auf die emotionalen Signale des Interaktionspartners aufgebaut. Da die Ontogenese bereits im Kapitel zur Emotion (s. S. 112) vorgestellt wurde, werden an dieser Stelle nur noch einmal die Meilensteine der emotionalen Entwicklung aufgeführt.
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Tabelle 4.7 Die motorische Entwicklung Alter in Monaten
motorisches Verhalten
1. Monat
behält leicht greifbares Objekt in der Hand
Bildung des Selbstkonzepts: Im Alter von eineinhalb bis drei Jahren kann das Kind bereits selbstbezogene Gefühle von Stolz und Scham unterscheiden.
2. Monat
Heben und Aufrechthalten des Kopfes
Die Bindungstheorie
3. Monat
gezielte Greifbewegungen, Sitzen mit Unterstützung
5. Monat
Drehung vom Rücken auf die Seite, Sitzen ohne Unterstützung, benutzt beim Greifen erstmals den Daumen
6. Monat
andauernde Greifversuche auch nach kleinen Gegenständen, gibt Gegenstände von einer Hand in die andere
8. Monat
sicheres Sitzen, Stehen mit Unterstützung
10. Monat
Krabbeln
11. Monat
Gehen mit Unterstützung
14. Monat
Stehen mit Unterstützung
ab 15. Monat
sicheres, selbstständiges Gehen
Die Meilensteine der verschiedenen Entwicklungsbereiche einschließlich der durchschnittlichen Altersangabe sollten Sie auswendig lernen, diese Informationen werden in Prüfungen gerne abgefragt.
Die Meilensteine der emotionalen Entwicklung Soziales Lächeln: Zwischen sechs bis acht Wochen nach der Geburt tritt das erste soziale Lächeln auf. Babys zeigen dieses Lächeln besonders als Reaktion auf menschliche Stimmen und Gesichter.
Lachen: Herzhaftes Lachen zeigt sich erst mit ca. vier Monaten als Reaktion auf plötzliche, aber nicht Furcht erregende Situationen. Fremdeln/Fremdenangst: Mit sechs bis acht Monaten sind die ersten Anzeichen von Fremdenangst zu beobachten. Bis zum Alter von 10–12 Monaten verstärkt sich diese Angstreaktion weiter, danach wird sie wieder schwächer. In dieser Zeit zeigt das Kind eine heftige emotionale Reaktion beim Anblick einer fremden Person (Versteifen, Schreien). Fremdeln wird als Indikator für die erfolgreiche Entwicklung des Urvertrauens verstanden (s. S. 164).
Die von Bowlby (1969, 1975) und Ainsworth (1967, 1973) entwickelte Bindungstheorie (Attachment Theory) besagt, dass die soziale Entwicklung des Kindes mit dem Aufbau einer engen emotionalen Bindung zur Mutter oder einer anderen Bezugsperson beginnt. Diese Bindung entwickelt sich auf der Basis eines angeborenes Bedürfnisses nach gegenseitiger Nähe bei Mutter und Kind. Um diese Beziehung aufzubauen, muss das Kind während der sensiblen Periode des ersten Lebensjahres in engem Kontakt zur Bezugsperson stehen. Zudem sollte die Bezugsperson auf das Kind eingehen, seine Signale verstehen und seine Bedürfnisse befriedigen können. Im Normalfall verhält sich die Mutter intuitiv richtig. Fehlt der Bezugsperson allerdings die entsprechende Sensibilität für einen derartigen Umgang, beeinflusst das die Qualität der Bindung. Reagiert die Mutter beispielsweise das eine Mal sehr liebevoll, das andere Mal abweisend auf ein kindliches Bedürfnis, wirkt sich die Ambivalenz in ihrem Verhalten ungünstig auf die Bindungsqualität des Kindes aus. Man spricht von einem unsicher gebundenen Kind. Die Bindung wird etwa ab dem siebten oder achten Monat erkennbar. In dieser Entwicklungsphase zeigt das Kind zum ersten Mal Trennungsangst, wenn es von der Bezugsperson verlassen wird. Ein sicher gebundenes Kind sucht die Nähe zu seiner Bezugsperson, widersetzt sich der Trennung von ihr und klammert sich an sie, wenn es sich fürchtet. Zudem ist die Bezugsperson eine Art „sichere Basis“, von der aus das Kind seine Entdeckungsreisen unternimmt. Das sicher gebundene Kind bemüht sich außerdem um die Aufmerksamkeit und Anerkennung von seiner Bezugsperson. Nach der Bindungstheorie von John Bowlby ist die frühe Beziehung des Kindes zu seiner Mutter eine notwendige Voraussetzung für spätere soziale Beziehungen. Entsprechende Schwierigkeiten im Erwachsenenalter werden auf eine schlechte Qualität dieser frühkindlichen Bindung zurückgeführt.
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Die Trennungsangst
privationserfahrungen für die spätere Verhaltens-
Die Trennungsangst ist eine emotionale Reaktion, die das Kind zeigt, wenn es von seiner Bezugsper-
entwicklung aufmerksam. Er beschrieb sowohl die Frühsymptome, die während der Deprivations-
son in einer ihm unbekannten Umgebung verlassen
erfahrung auftreten, als auch die mögliche Lang-
wird. Trennungsängste zeichnen sich durch eine
zeitsymptomatik, die ein Hinweis auf die Irrever-
Einschränkung des Erkundungs- und Spielverhal-
sibilität der frühen (in diesem Fall fehlenden) Bin-
tens aus, die Stimmung des Kindes verschlechtert
dungserfahrungen ist.
sich, Weinen und Schreien können auftreten. Bei
Als akute Symptome gelten u. a. eine allgemeine
lang andauernder Trennung kann die Reaktion des
körperliche, sprachliche, geistige und psychische
Kindes in eine dumpfe Passivität übergehen, wie sie von Spitz (1945) bei hospitalisierten Kindern
Retardierung (Verlangsamung der Entwicklung), Überängstlichkeit, Appetitlosigkeit und Kontaktver-
beschrieben wurde. Diese Verhaltensweise ist ab
weigerung bei Ansprechen. Zusätzlich treten Ver-
dem sechsten Monat zu beobachten und klingt
haltensstörungen wie Nägelbeißen und Jaktationen
nach dem zweiten oder dritten Lebensjahr wieder
(rhythmisches Hin- und Herwerfen des eigenen
ab. Trennungsangst wird entwicklungspsycholo-
Körpers, Schaukelbewegungen) auf. Die Kinder ver-
gisch aus dem oben dargestellten Bindungsverhal-
fallen in depressive Zustände und zeigen eine
ten erklärt.
völlige Apathie. Bei einer Trennung von mehr als
Der Hospitalismus
fünf Monaten von der Bezugsperson kommt es bei jüngeren Kindern häufig zu irreversiblen Störun-
Über die Bedeutsamkeit einer beständigen engen Bindung berichtete bereits im 18. Jahrhundert
Hufeland aufgrund seiner Beobachtungen in einem Pariser Waisenhaus. Trotz angemessener körperlicher Pflege und Ernährung starben 90 % der Babys in den Waisenhäusern innerhalb des ersten Jahres. Ihnen fehlte einerseits eine sensorisch ansprechende Umgebung (sensorische Deprivation), andererseits litten sie unter einem Mangel an kontinuierlicher emotionaler Zuwendung. Dieses Phäno-
153
gen, die sie ihr Leben lang beeinträchtigen. Aufgrund der mangelnden sensorischen Stimulation treten bleibende intellektuelle Defizite auf. Das Fehlen einer stabilen emotionalen Beziehung zieht ein generelles Misstrauen gegenüber Fremden und große Schwierigkeiten im Aufbau sozialer Beziehungen nach sich. Zudem können sich ein Mangel an Empathie, eine geringe Frustrationstoleranz und ein hohes Risiko für weitere psychische Störungen als Spätfolgen zeigen.
men wurde aufgrund seines vermehrten Auftretens bei Kindern, die über längere Zeit in Heimen und Krankenhäusern „verwahrt“ wurden, als Hospitalismus (auch psychischer Hospitalismus) bezeichnet. Schon früh wurde eine Phasenabfolge der Störung beschrieben:
Merke Emotionale und sensorische Deprivation im ersten Lebensjahr kann neben der akuten Symptomatik zu irreversiblen Folgestörungen führen.
1. Phase : Unruhe und lauter Protest bei der
Wann ist die Trennung besonders kritisch?
Trennung von der Bezugsperson.
Nach Spitz besteht ein besonders hohes Risiko für
2. Phase : Resignation (oberflächlich wirkt das Kind, als hätte es sich an die veränderte Situation gewöhnt). 3. Phase : Verzweiflung und Ausbildung depressiver Symptome (das Kind zieht sich von der Außenwelt zurück, reagiert nicht auf Ansprache, zeigt körperliche Verfallserscheinungen, die im schlimmsten Fall zum Tod führen). Von René Spitz (1945) wurde das Krankheitsbild als anaklitische Depression bezeichnet. Er machte auf die weitreichenden Konsequenzen der frühen De-
die Ausbildung der Hospitalismus-Symptome während der oralen Phase (6.-11. Lebensmonat). Davor und danach sah er eine längere Trennung des Kindes von der Bezugsperson als weniger problematisch an. Neuere Studien zeigen allerdings, dass das Kind auch während des ersten halben Lebensjahres eine enge emotionale Bindung braucht. Nach dem ersten Lebensjahr klingt das Risiko von Spätfolgen durch eine längere Trennung allerdings ab, nach dem vierten Jahr sind solche Erfahrungen relativ unproblematisch für die weitere Entwicklung.
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Die kognitive Entwicklung Ein Schwerpunkt des folgenden Kapitels liegt auf Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung. Sie sollten sich merken, welche Stichworte den einzelnen Phasen jeweils zugeordnet werden.
wendig, wenn die Reaktion auf die neue Information so stark vom bisherigen Schema abweicht, dass sie nicht einfach durch Assimilation integriert werden kann. Versucht der Säugling beispielsweise nach Wasser zu greifen, muss er feststellen, dass sein bisheriges Greifschema nur auf feste Gegenstände anwendbar ist. Nach einigem Probieren gelingt es ihm durch eine schöpfende Handhaltung
Die kognitive Entwicklung umfasst die Verände-
das Wasser „festzuhalten“. So entsteht ein neues
rung der Erkenntnisprozesse und des Wissens. Ein Großteil der heutigen Forschung zur Entwicklung
Handlungsschema für das „Schöpfen von Flüssigkeiten“.
von Wahrnehmung, Denken, Vorstellung und Pro-
Beide Formen der Anpassung unterliegen dem Äquilibrationsprinzip (Gleichgewichtsprinzip). Das bedeutet, dass die Entwicklung eine Folge von Gleichgewichts- und Ungleichgewichtszuständen ist, die einander jeweils ablösen. Der Prozess der Assimilation führt zu einer Stabilisierung des bisher Erlernten (Gleichgewicht). Ein neu entwickeltes Schema wird auf alle möglichen ähnlichen Umweltgegebenheiten übertragen. Trifft das Kind auf Umweltereignisse, die sich nicht integrieren lassen, sondern widersprüchlich zu den bisherigen Schemata sind (Ungleichgewicht), setzt der Akkomodationsprozess ein. Durch die Entwicklung eines neuen Schemas für diese Art von Ereignissen erlangt das Kind wiederum einen Gleichgewichtszustand auf immer höherem Niveau.
blemlösen geht auf die Arbeiten des Schweizers
Jean Piaget (1896–1980) zurück. Seine systematischen Beobachtungen hatten ihren Fokus auf den qualitativen Veränderungen des Denkens im Verlauf der kindlichen Entwicklung.
Die Assimilation und die Akkommodation Nach Piagets Auffassung bildet das Kind kognitive Strukturen aus (Schemata), die seine Interaktion mit der Umwelt beschreiben. Beispielsweise verfügt ein Kind schon früh über ein Greifschema oder ein Saugschema, in denen jeweils die verschiedenen motorischen Einzelhandlungen integriert vorliegen, die zur Ausführung der entsprechenden Handlung notwendig sind. Die Entwicklung des Denkens stützt sich nach Anpassung des Individuums an seine Umwelt; die
Die Grundprinzipien der kognitiven Entwicklung nach Piaget
Assimilation und die Akkommodation. Der Säug-
Die Diskrepanzen zwischen dem, was man direkt
ling, der bereits über einfache Handlungsschemata
sieht und dem, was man denkt, beeinflussen die
verfügt, trifft immerzu auf neue Umweltereignisse,
kognitive Entwicklung des Kindes erheblich. Sie er-
die eine Neuanpassung (Adaptation) erfordern. Je nach Art der neuen Erfahrung greift einer der bei-
zwingen die Bildung angemessener neuer Schemata, die das Kind Schritt für Schritt immer unabhän-
den folgenden Prozesse:
giger von der direkten Wahrnehmung und abhän-
Bei der Assimilation wird die neue Information so
giger vom Denken machen. Kognitive Entwicklung
verändert, dass sie in das bestehende kognitive
bedeutet deswegen auch den Übergang vom Ver-
Schema eingefügt werden kann. Ein Säugling, der
trauen auf den Augenschein zum Vertrauen auf abstrakte Regeln. Während sich das Kind in den frühen kognitiven Phasen mit konkreten „greifbaren“ Gegenständen auseinandersetzt, sind in den späteren Phasen die Inhalte des Denkens symbolische Repräsentationen.
sicht Piagets auf zwei elementare Prozesse der An-
über das Schema „Greifen nach einem Ball“ verfügt, versucht erfolgreich auf dieselbe Art nach einem Würfel zu greifen. In diesem Fall kann das bestehende Greifschema einfach auf eckige Gegenstände ausgeweitet werden.
Akkomodation wird das bestehende verändert bzw. ein neues Schema entwickelt, um die neue Erfahrung aufnehmen zu können. Dieser Prozess ist immer dann not-
Bei
der
Schema
qualitativ
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Piagets Stufenmodell der kognitiven Entwicklung
mungsgesichtspunkt gleichzeitig berücksichtigen.
Piaget beschrieb die kognitive Entwicklung anhand
Dass die Fähigkeit zwei oder mehrere physikalische Dimensionen zu beachten (Dezentrierung) noch
von vier qualitativ unterschiedlichen Stufen. Er
nicht entwickelt ist, wird durch die „Umschüttauf-
nahm an, dass alle Kinder diese Stufen in derselben
gabe“ demonstriert. Hier beobachten die Kinder,
(Invariabilitätsannahme), wobei allerdings Unterschiede im Entwicklungstempo auftreten. Jede Stufe repräsentiert das Resultat der Veränderung im Denken des Kindes, wobei die Veränderungen selbst immer nach dem gleichen Prinzip der Assimilation und Akkommodation ablaufen. Die notwendige Veränderung für die jeweils nächste Stufe ist erst möglich, wenn die vorausgehende bewältigt wurde.
wie eine Flüssigkeit aus einem breiten, niedrigen
Abfolge
durchlaufen
155
Glas in ein schmales, hohes Glas gefüllt wird. Zwar wissen die 5 bis 6-Jährigen, dass im hohen Glas die gleiche Flüssigkeit ist wie vorher, aber da sie sich ausschließlich an der Höhe des Wasserspiegels orientieren, geben sie an, dass sich im hohen, schmalen Glas mehr Flüssigkeit befindet. Die Einschränkung der Beachtung verschiedener Aspekte wird auch im Egozentrismus deutlich. Hiermit ist nicht die Ich-Bezogenheit des Kindes
Die Stufe des sensumotorischen Denkens (0–2 Jahre)
gemeint, sondern seine Schwierigkeit, die Perspek-
Der Schwerpunkt der kognitiven Entwicklung liegt in den ersten zwei Lebensjahren auf der Verbes-
higkeit zu testen, wird beispielsweise das Modell einer dreidimensionalen Berglandschaft benutzt.
serung und Kombination der sensumotorischen
Das Kind sitzt auf der einen Seite und soll von
Verhaltenssequenzen. Sensumotorisch (auch sensomotorisch) bedeutet, dass eine Koordination von Wahrnehmung (Sensorik) und motorischer Ausführung notwendig ist, wie beispielsweise beim Greifen und Saugen, Schauen und Bewegen. Die Interaktion des Kindes mit der Umwelt ist direkt und im wahrsten Sinne des Wortes „greifbar“. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres besitzt das Kind die Fähigkeit der Objektpermanenz. Das bedeutet, dass Gegenstände als Dinge wahrgenommen werden, die unabhängig von der Aufmerksamkeit oder Aktivität des Kindes existieren. Nimmt man ihm zum Beispiel ein Spielzeug weg und versteckt es, beginnt es systematisch danach zu suchen. Es versteht, dass das Spielzeug auch weiterhin existiert, obwohl es gerade nicht sichtbar ist. Die Objektpermanenz bildet den Anfang der symbolischen Repräsentationsfähigkeit des Kindes. Es verfügt über eine innere Abbildung des vorher sichtbaren Objekts.
dort beschreiben, was ein Teddy, der sich auf der
Die Stufe des präoperationalen/anschaulichen Denkens (2–7 Jahre)
tive eines Anderen zu übernehmen. Um diese Fä-
gegenüberliegenden Seite befindet, sieht. Kinder im präoperationalen Stadium sind dazu noch nicht in der Lage. Weitere Charakteristika des anschaulichen Denkens sind ebenfalls durch eine egozentrische Sicht geprägt. Das Kind neigt dazu, alle Gegenstände in der Natur als belebt wahrzunehmen (animistisches Denken, z. B. „Die Wolken laufen heute besonders schnell über den Himmel.“). Natürliche Ereignisse werden durch ihren Zweck oder Nutzen für den Menschen erklärt (finalistische Erklärungen, z. B. „Der Baum wächst, um Schatten zu spenden.“). Ein weiteres Phänomen sind die artifizialistischen Naturdeutungen : Konzepte des Machens und Herstellens werden auch auf Berge oder Flüsse angewendet (z. B. „Starke Männer haben die Berge gebaut.“)
Beachte Die Stufe des präoperativen Denkens wird manchmal noch in das vorbegriffliche-symbolische Denken (2–4 Jahre) und das anschauliche Denken (4–7 Jahre) aufgeteilt.
Das wichtigste Charakteristikum des präoperationalen Denkens ist die Zentrierung des Kindes, des-
Die Stufe der konkreten Operationen (7–11 Jahre)
sen Aufmerksamkeit sich ausschließlich auf einen
Lässt man siebenjährige Kinder die oben erläuterte
Gegenstand oder ein bestimmtes Merkmal richtet.
Umschüttaufgabe ausführen, wissen sie, dass die
Das Kind kann nicht mehr als einen Wahrneh-
Flüssigkeitsmenge die gleiche bleibt, egal wie das
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation jeweilige Gefäß geformt ist. Dieses Verständnis der
konnte man feststellen, dass sie auch langfristig
Mengenerhaltung bezeichnete Piaget mit dem Begriff der Invarianz. Auf dieser Entwicklungsstufe verstehen Kinder, dass Flüssigkeiten oder feste Stoffe in ihrem Volumen oder ihrer Masse konstant bleiben, wenn sich lediglich die äußere Form verändert, aber nichts weggenommen oder hinzu getan wird. Die Erkenntnis der Mengeninvarianz lässt darauf schließen, dass Kinder in diesem Stadium konkrete kognitive Umformungen (Operationen) durchführen können, wobei sie die Reihenfolge der Verarbeitungsschritte auch umdrehen können (Reversibilität). Ein Unterschied zur folgenden formal-operatorischen Phase besteht darin, dass die Kinder nur gegebene Informationen für ihre kognitiven Operationen benutzen, während sie im darauffolgenden Stadium auch weiteres, bisher unverbundenes Wissen flexibel einbeziehen.
nicht in der Lage waren, die Defizite in ihrer sprachlichen Entwicklung vollständig zu kompensieren. Speziell das Erlernen der Grammatikregeln, die bereits von Kindern im Vorschulalter implizit beherrscht werden, scheint an ein reifungsbedingtes Zeitfenster gebunden zu sein. Aber auch das Erlernen der Bedeutung einzelner Wörter (Semantik) und der Aussprache (Phonologie) wird von Kindern mit erstaunlicher Leichtigkeit bewältigt (Tab. 4.8).
Merke Dem Spracherwerb liegt eine starke biologische Basis zugrunde, die es Kleinkindern ermöglicht, bereits komplexe Grammatikregeln intuitiv zu verstehen und anzuwenden. Tabelle 4.8 Die Stadien des Spracherwerbs
Die Stufe des formalen Denkens (ab ca. 12 Jahren)
Bezeichnung Alter (im des Stadiums Durchschnitt)
Beschreibung der Fähigkeiten
In diesem Stadium ist der Jugendliche in der Lage,
Lallstadium
ab 4.-5. Monat
Babys produzieren silbenähnliche Lautfolgen wie „dadada, lalala“, Lallen scheint ein reifungsabhängiger Vorgang zu sein, da es auch taube Kinder zeigen (unabhängig von äußerer Stimulation)
Einwortstadium
12 Monate
Kind benutzt erste einzelne Worte zur Benennung konkreter Objekte (Ball, Mama, etc.); Einwortsätze werden bereits zur Kommunikation eingesetzt
Zweiwortstadium
18 Monate
Kind kombiniert zwei Substantive oder Substantiv und Verb; Zweiwortsätze werden zur Kommunikation eingesetzt („Ball haben“)
Stadium des Telegrammstils
24 Monate
kurze, einfache Sätze aus Inhaltswörtern (wenige Funktionswörter wie Artikel oder Präpositionen)
logische Operationen auch auf abstrakte Probleme anzuwenden (z. B. mathematische Operationen). Zur Lösung von Problemen zieht er auch zusätzliche Informationen heran. Auch für die Bearbeitung hypothetischer Fragestellungen („Was wäre, wenn man im Hinterkopf auch Augen hätte?“) hat er die kognitiven Voraussetzungen. Begriffe wie „Wahrscheinlichkeit“ oder „Zufall“ werden verstanden. Das Denken des Jugendlichen ist unabhängig von der konkreten Anschauung bzw. der symbolischen Repräsentation einzelner Objekte. Statt dessen denkt und operiert er anhand abstrakter Begriffe.
Die Entwicklung der Sprache Der Spracherwerb kleiner Kinder ist eine beachtliche kognitive Leistung. Innerhalb weniger Jahre erwerben sie ausgezeichnete Sprachkenntnisse, obwohl sie nur wenig systematische Anleitung erhalten. Das enorme Tempo, aber auch der interkulturell ähnliche Verlauf der Sprachentwicklung gelten als Indiz für genetische Grundlagen, die den
Ab dem dritten Lebensjahr verläuft die sprachliche
Spracherwerb erleichtern. Zudem scheint es für
Entwicklung weniger regelhaft. Ab diesem Alter be-
das Erlernen bestimmter Aspekte der Mutterspra-
ginnen Kinder die Bedeutung abstrakter Begriffe zu
che eine kritische oder sensible Phase zu geben.
verstehen und sie zu verwenden. Sie sprechen über
Bei Kindern, die verwahrlost und ohne viel Kom-
Gefühlszustände und hypothetische Ereignisse. In
munikation
der Zeit vom dritten bis zum sechsten Lebensjahr
mit
Bezugspersonen
aufwuchsen,
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation nimmt der Umfang des Wortschatzes sprunghaft
eigenen Leistungen unabhängig von der Reaktion
zu. Zudem erwerben die Kinder weitere grammatikalische Ausdrucksmöglichkeiten.
anderer Personen beurteilen.
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Die Moralentwicklung Die Entwicklung der Leistungsmotivation
Als Moral wird ein System von Glaubenssätzen und
Wie erklären Kinder Leistung?
Werthaltungen bezeichnet, mit dessen Hilfe Urteile
Zur vollständigen Ausbildung des Leistungsmotivs
über richtige und falsche Handlungen getroffen
ist das Verständnis der Konzepte „Anstrengung“,
werden. Diese Regeln garantieren, dass die Mit-
„Schwierigkeit“ und „Fähigkeit“ notwendig. Zum Zeitpunkt der Einschulung (5–6 Jahre) verfügen Kinder noch über ein globales Tüchtigkeitskonzept. Das bedeutet, dass sie bei der Erklärung von Leistung die Konzepte Anstrengung und Schwierigkeit noch nicht trennen können. Im Alter von sieben bis neun Jahren verstehen sie dagegen Anstrengung als den wichtigsten Faktor zum Erreichen von Leistung. Erst ab einem Alter von 10 bis 11 Jahren taucht auch die individuelle Fähigkeit unsystematisch als Erklärung für eine bestimmte Leistung auf. Eine systematische Kombination von Anstrengung bzw. Motivation und Fähigkeit als Ursachenfaktoren wird erst ab dem zwölften Lebensjahr zur Erklärung von Leistungen herangezogen.
glieder einer Gesellschaft ihre gegenseitigen Rechte
Der Wetteifer, das Anspruchsniveau und die Selbstbewertung Durch Untersuchungen zur Entwicklung von Wetteifer konnte man zeigen, dass bereits vierjährige Kinder auf soziale Vergleiche reagieren. Nach anfänglichem Üben sollten sie einen Turm mit dem Versuchsleiter um die Wette bauen. Diese Instruktion motivierte ihr Verhalten bezüglich der Geschwindigkeit. Jüngere Kinder reagieren noch nicht auf die Wettkampfinstruktion, sondern bauen einfach im selben Tempo weiter. Bei Versuchen zum Setzen des Anspruchsniveaus, in dem Kinder die Schwierigkeit ihrer Aufgaben wählen durften, zeigte sich, dass die Drei- bis Vierjährigen Erfolg und Misserfolg zum ersten Mal ihrem eigenen Handeln und Bemühen zuschreiben. Noch kann das Kind allerdings nicht richtig auf den Misserfolg reagieren. Mit etwa viereinhalb Jahren ist es in der Lage, die Schwierigkeit der Aufgabe so zu wählen, dass ein Misserfolg unwahrscheinlich wird. Es setzt sein Anspruchsniveau jetzt in Abstimmung mit seinem Leistungsvermögen. Auch bezüglich der Selbstbewertung zeigte sich,
und Interessen achten und nicht verletzen. Ein neugeborenes Kind ist amoralisch, ihm fehlt jedes Bewusstsein
zwischenmenschlicher
Verantwor-
tung. Erst im Laufe der Sozialisation erwirbt es dieses Verständnis. Wie man sich den Ablauf dieses Prozesses vorstellen kann, wird im Abschnitt zur Internalisierung von Normen beschrieben (s. S. 158).
Piagets Modell der moralischen Entwicklung Piaget (1954) hat versucht, die moralische Entwicklung des Kindes mit seinem kognitiven Stufenmodell (s. o.) in Verbindung zu bringen. Je nach dem Stadium der kognitiven Entwicklung werden das
Handlungsergebnis und die Handlungsabsicht unterschiedlich stark bewertet. Während im präoperativen Stadium das Kind sein moralisches Urteil auf der Basis der konkreten Handlung fällt (jemand ist böse, wenn er aus Versehen eine Tasse kaputt macht), zieht es in späteren Stadien die Absicht in die Beurteilung mit ein (jemand ist böse, wenn er etwas zerstören will). Zudem beschrieb Piaget auch bei der Moralentwicklung zwei aufeinander folgende Stadien. Heteronome Moral: Ab dem Eintritt in die Schule beginnt sich das Kind mit Normen und Wertvorstellungen auseinanderzusetzen. Im Stadium der heteronomen Moral erkennt es die von Autoritäten gesetzten Regeln an. Gut und Böse wird an der Bewertung dieses Regelsystems gemessen. Autonome Moral: Im späten Grundschulalter (ab ca. 10–11 Jahren) wandelt sich das moralische Verständnis. Die Jugendlichen entscheiden nun selbst, was sie für richtig und falsch halten, sie handeln Ge- und Verbote untereinander aus. Dabei orientieren sie sich am Maßstab der Gerechtigkeit.
dass Kinder erst ab etwa vier bis fünf Jahren ihre
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158
4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation Kohlbergs Stufenmodell der Moralentwicklung
– Stufe 4 Recht-und-Ordnung-Orientierung: Als
Das bekannteste Modell der moralischen Entwicklung stammt von Lawrence Kohlberg (1958). Wie
Begründung wird der Gehorsam gegenüber Regeln und personenübergreifenden Autoritä-
Piaget machte er die Entwicklung der Moral allein
ten wie dem Staat oder der Religion angeführt. Ebene III postkonventionelle bzw. prinzipiengeleitete Moral: Auf dem postkonventionellen Niveau wird erkannt, dass kein Regelsystem als fraglos richtig gilt, sondern jede Regel immer frei verhandelbar zwischen den Mitgliedern ist. Personen auf dieser Ebene versuchen Regeln oder Prinzipien zu finden, die unabhängig von der Autorität einzelner Gruppen oder Personen sind. – Stufe 5 Orientierung am sozialen Vertrag: Als Begründung wird das allgemeine Wohl der Gesellschaft angeführt, Regeln des Systems werden nicht mehr als gegeben, sondern als aushandelbar begriffen. – Stufe 6 Orientierung an ethischen Prinzipien: Als Begründung werden allgemeine Prinzipien wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe etc. angeführt.
an der Art der Begründung fest, nicht am moralischen Urteil selbst. Kohlberg entwickelte ein Modell mit sieben Stufen, die sich jeweils qualitativ in der Art der Argumentation unterscheiden. Jede Stufe bildet die Grundlage für die nächsthöhere. Allerdings erreicht nach Kohlbergs Ansicht nicht jeder die höchste Stufe der moralischen Entwicklung, sondern viele Erwachsenen bleiben auf Stufe drei oder vier stehen. Um das Stadium der Moralentwicklung zu beurteilen, werden Personen Geschichten mit moralischen
Dilemmata vorgelegt. Beispielsweise hat ein Mann nicht genug Geld, um ein lebenswichtiges Medikament für seine kranke Frau zu kaufen. Die Person soll nun beurteilen, ob er es stehlen darf oder nicht und muss diese Antwort begründen. Je nach dem Inhalt der Argumente wird sie dann einer Stufe zugeordnet. Das Modell ist in drei Ebenen und in sechs Stufen unterteilt:
Ebene I präkonventionelle Moral: Auf dieser Ebene werden moralische Urteile entweder durch drohende Strafen oder eigene Interessen begründet. Die Interessen anderer werden nur im Sinne des Austauschs (Reziprozität) berücksichtigt. – Stufe 1 Orientierung an Strafe und Gehorsam: Als Begründung wird die Vermeidung von physischem Schmerz angeführt. – Stufe 2 Kosten-Nutzen-Abwägung/Reziprozität: Als Begründung wird die erwartete Belohnung bzw. die Schuld des anderen angeführt (Auge um Auge). Ebene II konventionelle Moral: Auf dem konventionellen Niveau herrscht eine Tendenz zur Aufrechterhaltung wichtiger Sozialbeziehungen vor. Während auf der dritten Stufe dabei lediglich die Beziehungen zur Kernfamilie beachtet werden, wird der Blick auf der vierten Stufe auf größere gesellschaftliche Systeme ausgedehnt. – Stufe 3 Braves-Kind-Orientierung: Als Begründung wird das Gewinnen von sozialer Anerkennung bzw. das Vermeiden von Kritik von Seiten enger Bezugspersonen angeführt („...weil X dann mit mir zufrieden ist.“).
Die Internalisierung sozialer Normen Menschen leben und entwickeln sich in sozialen
Systemen wie der Familie, der Peer-Gruppe, Nachbarschaften, Gemeinden oder Staaten. In jedem System gelten bestimmte explizite oder implizite Normen für die Zuordnung von Rechten und Pflichten der Mitglieder. Zwischen diesen Systemen und dem Individuum kann es aufgrund unterschiedlicher Auffassungen der Regeln zu Spannungen kommen. Diese Spannungen können entweder durch den Sozialisationsprozess des Individuums oder durch eine Anpassung des Systems aufgelöst werden. Die Internalisierung von Normen beschreibt einen Prozess, bei dem Normen, die zunächst von außen vorgegeben werden, von der einzelnen Person als ihre eigenen verpflichtenden Grundsätze akzeptiert werden. Nach der Verinnerlichung ist die Norm ein Teil der Person und ihrer Identität. Sie ist im Selbst-
konzept repräsentiert, sodass die Person bei ungerechtfertigten Abweichungen ein Gefühl von Scham und Schuld empfindet. Normen können sowohl durch argumentative Vermittlung als auch durch das Beobachten positiver oder negativer Beispiele oder über direkte Belohnung und Bestrafung vermittelt werden.
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation 4.7.5 Die soziokulturellen Einflüsse auf Entwicklung und Sozialisation
159
Die Kontrolle
Unter soziokulturellen Einflüssen werden Faktoren
Aufmerksamkeit allein reicht jedoch nicht aus. Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Ausmaß an Kon-
wie der kulturelle Hintergrund oder ökonomische
trolle, das die Eltern über das kindliche Verhalten
und soziale Verhältnisse verstanden, die sich auf
ausüben. Dabei hat sich ein mittleres Maß, das
die Entwicklung des Kindes auswirken. Die Wir-
das Explorationsverhalten und die Autonomie
kungsweise der einzelnen Faktoren kann man nur
(Eigenständigkeit) des Kindes fördert, als optimal
schwer untersuchen. Man sollte sie mehr als ein
erwiesen.
Geflecht verschiedener Einflüsse verstehen, die auch untereinander interagieren. Innerhalb der Familie wurden besonders der von den Eltern prakti-
Der autoritative Erziehungsstil
zierte Erziehungsstil und die Art der Interaktion
hungsstil als eine besonders günstige Umgangs-
untersucht.
weise mit dem Kind beschrieben. Autoritatives Ver-
Die Erziehungsstile Erziehungsstile beschreiben die Art der Interaktion zwischen Eltern und Kind. Wichtig ist, dass jedes Erziehungsverhalten als reziproker Prozess betrachtet werden muss, an dem sowohl die Eltern als auch das Kind beteiligt sind. Am besten stellt man sich diesen Prozess als einen Kreislauf vor, in dem das Verhalten des einen Interaktionspartners sich wiederum auf das Verhalten des anderen aus-
Diana Baumrind (1971) hat den autoritativen Erzie-
halten der Eltern umfasst eine Kombination aus hoher Kontrolle auf der einen und offener Kommunikation und Wärme (Unterstützung) auf der anderen Seite. Generell zeigen sich immer wieder zwei wichtige Dimensionen bei der Beschreibung von Erziehungsverhalten: elterliche Kontrolle und elterliche Unterstützung. Aus einer systematischen Kombination der beiden Dimensionen ergeben sich vier Erziehungsstile (Tab. 4.9).
wirkt. Ein Erziehungsstil umschreibt, wie Eltern und Kinder miteinander kommunizieren, welche
Tabelle 4.9 Ein Schema der Erziehungsstile
Sprache sie dazu benutzen und wie groß die Kontrolle bzw. die Freiheiten des Kindes sind.
Beachte Im Gegensatz zur Sozialisation ist Erziehung ein zielgerichteter Prozess. Aufgrund vielfältiger Untersuchungen wurden verschiedene Erziehungsstile definiert. Ziel dieser Studien ist es, ein Verhalten, das wahrscheinlich zu einer guten Eltern-Kind-Beziehung führt, zu beschreiben.
Die elterliche Aufmerksamkeit
elterliche Unterstützung hoch
elterliche Kontrolle hoch
elterliche Kontrolle niedrig
autoritativer Stil
permissiver Stil
elterliche Unter- autoritärer Stil stützung niedrig
vernachlässigender Stil
Merke Erziehung muss immer als gegenseitiger Prozess (reziprok) verstanden werden. Wie die Erziehungsstile wirken, ist vom Verhalten des Kindes abhängig und dieses wiederum beeinflusst den Erziehungsstil.
Als wichtige Variable für eine günstige Entwicklung hat sich die elterliche Aufmerksamkeit (Respon-
siveness) herausgestellt. Sie umfasst die Fähigkeit der Eltern, die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und sensibel auf sie zu reagieren. Besonders für eine sichere emotionale Bindung scheint die Aufmerksamkeit der wichtigste Faktor zu sein (s. S. 152).
Die Interaktion in der Familie, der Schule und der Peergroup Neben der Kernfamilie werden ab dem dritten bis vierten Lebensjahr die Einflüsse von Kindergarten, Vorschule und Schule für die Entwicklung des Kindes relevant. Besonders die neue soziale Rolle als Schüler bringt eine erhebliche Umstellung mit sich. Dabei bleibt parallel der Einfluss der Kern-
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160
4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation familie jedoch bestehen. Zudem werden bereits ab
4.7.6 Die gesellschaftlichen Determinanten
dem späteren Kindergartenalter, noch stärker mit Schulbeginn Freundschaften zu Gleichaltrigen
Neben den Einflüssen der Familie, der Peers und der Schule sind auch gesellschaftliche Faktoren
(Peers) relevant. Ihre Bedeutung steigt im Jugend-
für die Entwicklung des Kindes von Bedeutung.
alter weiter an.
Ihr Einfluss ist meistens eher indirekt. Aber aufgrund der starken Veränderungen bezüglich der
Einige Kennzeichen der Interaktion in der Familie
Familienstruktur innerhalb der letzten Generation
Die Beziehungen innerhalb der Familie zeichnen
gibt es einige Untersuchungen, die sich mit der
sich durch die Einmaligkeit und den individuell
Auswirkung der veränderten Familienverhältnisse
spezifischen Umgang miteinander aus. Reguliert wird das Zusammenleben durch die emotionalen
auf die Entwicklung beschäftigen.
Beziehungen zueinander. Massive Probleme entstehen meistens durch eine emotionale Zurückwei-
Ein paar Daten zum Strukturwandel der Familie
sung oder Kränkung. Der Soziologe Parson nennt
Die zusammengestellten Daten liefern ein Bild der
diese Art der Beziehung partikularistisch.
Familiensituation im Jahre 2000 (Quelle: Statistisches Bundesamt).
Einige Kennzeichen der Interaktion in der Vorschule/Schule
Die durchschnittliche Kinderanzahl pro Familie
Im Gegensatz zur Familie muss das Kind in der
liegt bei 1,2 Kindern. Die Zahl der Paare ohne Kinder ist ansteigend.
Schule eine neue Form der Interaktion lernen. Die
87 % der Familien haben ein oder zwei Kinder,
Beziehungen sind nicht mehr so individuell, son-
nur 13 % drei oder mehr Kinder.
dern typisierter. Sie setzen sich in ähnlicher Form
82 % der Kinder wachsen in klassischen Familien
fort, wenn der Lehrer wechselt oder der Schüler
mit Vater und Mutter auf, 18 % bei Alleinerzie-
in eine andere Klasse kommt. An das Kind wird
henden oder nicht-ehelichen Lebensgemein-
die Anforderung gestellt, sich in die soziale Rolle
schaften.
des Schülers einzufügen. Diese Rolle beinhaltet bestimmte Verhaltensweisen wie das Zuhören und
Besonders in Großstädten sind klassische Familienkonstellationen seltener geworden: Nur 2/3
auf dem Stuhl sitzen sowie das Bleiben im Unter-
aller Familien bestehen aus beiden Elternteilen
richt, die gleichermaßen an alle Schüler gestellt
und Kind.
werden. Parson bezeichnet diese Form der Bezie-
Die Scheidungsrate liegt in Deutschland relativ
hung als universalistisch.
konstant bei ca. 33 %.
Einige Kennzeichen der Interaktion mit den Peers Bereits in der Kindheit werden Gleichaltrige (Peers) zu wichtigen Bezugspersonen. Der Umgang wirkt
Einige Studien zu den Auswirkungen struktureller Veränderungen Besonders intensiv beforscht wurden die Folgen
sich auf die Entwicklung der sozialen Kompetenz
einer Scheidung der Eltern für die kindliche Ent-
(Wissen und Umsetzen von sozialen Fertigkeiten)
wicklung und die Auswirkungen der Berufstätigkeit
förderlich aus. Die Besonderheit im Gegensatz zur
der Mutter bzw. beider Elternteile.
Beziehung zu den Eltern oder Lehrern liegt in der
relativen Symmetrie der Interaktion. Unter Gleich-
Die Scheidungskinder
altrigen gibt es keine festgelegten Rollen, sondern
Die Konsequenzen von Ehescheidungen für die be-
die Beziehungen zueinander werden ausgehandelt. Diese Auseinandersetzung trägt zum Verständnis
troffenen Kinder hängen von verschiedenen Faktoren ab. Jungen haben meistens größere Schwie-
von Konzepten wie Gleichheit und Gerechtigkeit
rigkeiten mit der veränderten Situation als Mäd-
bei.
chen (Geschlechterunterschiede). Zudem spielt die Art der Trennung eine Rolle, wobei unklare Regelungen und eine Instrumentalisierung der Kinder bei den elterlichen Auseinandersetzungen beson-
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die primäre Sozialisation ders problematisch sind. Allerdings zeigt sich in den meisten Untersuchungen, dass die innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Scheidung erlebte Belastung danach zurückgeht und langfristige psychische Probleme oder Verhaltensschwierigkeiten selten sind.
Die Berufstätigkeit der Mutter Bei ca. 60 % berufstätigen Müttern in Deutschland liegt die Frage nahe, wie sich die Berufstätigkeit auf die Entwicklung des Kindes auswirkt. Pauschale Antworten sind nicht möglich, da auch hier viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielen. Ein Faktor ist das vorhandene Betreuungsangebot (Krippen, Ganztageskindergärten, etc.). Je besser und lückenloser die Betreuung, desto unproblematischer ist
161
neuer Medien (Computer, Film, Fernsehen) diskutiert. Ein besonderes Problem stellt der wahllose Konsum medialer Angebote dar. Kinder verbringen zunehmend mehr Zeit vor dem Fernseher oder Computer, wobei die Auswahl der Inhalte oft eher zufällig erfolgt. Aus medizinischer Sicht stellt der Bewegungsmangel ein Risiko für die Kinder dar. Aus pädagogischer Sicht werden eine inhaltliche Überforderung (z. B. beim Umgang mit Gewaltdarstellungen), aber auch das Risiko von Konzentrationsund Aufmerksamkeitsproblemen diskutiert. Medien werden zumehmend als eine Art „Erziehungsersatz“ genutzt. Sie übernehmen Betreuungsaufgaben („Fernseher als Babysitter“), die im Normalfall von den Eltern ausgeführt werden sollten.
die zeitweilige Abwesenheit der Mutter. Zum anderen spielt das Alter des Kindes eine Rolle. Hier kann man davon ausgehen, dass negative Folgen mütter-
4.7.7 Klinische Bezüge Krankheitsverständnis bei Kindern
licher Berufstätigkeit – wenn überhaupt – in der
Das Krankheitsverständnis eines Kindes ist abhän-
frühen Kindheit zu erwarten sind (s. S. 152). Eine
gig von seinem kognitiven Entwicklungsstadium
weitere Einflussgröße ist die Arbeitsbelastung der
(s. S. 155). Im präoperativen Stadium (2–7 Jahre)
Mutter und die Unterstützung durch den Partner.
sind die Erklärungen für Krankheit durch das fina-
Negative Auswirkungen auf die Entwicklung des
listische Denken (auf den Menschen gerichtet) ge-
Kindes sind nur dann zu erwarten, wenn die Ar-
prägt. Zum Beispiel „hat der Schnee das Fieber ge-
beitsbelastung so hoch ist, dass aufgrund der häufigen Doppelbelastung mit Arbeit und Haushalt zu
macht.“ Krankheit kann jedoch auch als Strafe für verbotenes Handeln verstanden werden (z. B. „Ich
wenig Zeit und Energie für das Kind übrig bleibt.
habe Fieber, weil ich so böse war.“). Es kann für
Auch fehlende Unterstützung durch den Partner
den behandelnden Arzt durchaus wichtig sein, die
kann sich ungünstig auswirken.
subjektive Krankheitstheorie des Kindes zu kennen
Im Normalfall zeigt sich jedoch, dass Kinder berufs-
und gegebenenfalls verständlich die tatsächlichen
tätiger Mütter unproblematisch sind und sich in
Gründe zu erläutern, um beispielsweise den klei-
bestimmten Bereichen sogar günstiger entwickeln.
nen Patienten von seinen Schuldgefühlen, die mit
Sie werden früher selbstständig, sind leistungsmotivierter und übernehmen früher Verantwor-
der Krankheit einhergehen, zu entlasten. Ab etwa dem 12. Lebensjahr (Stadium des formal-operatori-
tung.
schen Denkens nach Piaget) unterscheiden Jugendliche zwischen psychischen oder psychosomati-
Der Einfluss der Medien
schen und rein somatischen Faktoren bei der
Neben den strukturellen Veränderungen der Fami-
Krankheitsentstehung, sodass man ihnen nun bei-
lie hat sich die Umwelt heranwachsender Kinder
spielsweise den Einfluss von Stress auf eine Allergie
und Jugendlicher besonders im Bereich der Me-
oder bestimmte Schmerzen deutlich machen kann.
dienpräsenz und -nutzung gewandelt. Während man grundsätzlich unter einem Medium jede Art der Vermittlung von Informationen und Meinungen
Check-up 4
versteht, wird bei der Frage nach der Auswirkung von Medien auf die kindliche oder jugendliche Entwicklung besonders die Bedeutung sogenannter
4
Wiederholen Sie die Meilensteine der präund postnatalen Entwicklung. Rekapitulieren Sie die Entwicklungsstufen nach Piaget.
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf
162
4
4
Machen Sie sich die Bedeutung der Begriffe Objektpermanenz, Mengeninvarianz und hypothetisches Denken klar. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, dass sich das Erziehungsverhalten der Eltern und die Reaktion des Kindes gegenseitig beeinflussen, z. B. bei einem schwierigen Kind mit Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität.
4.8 Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf Lerncoach Im folgenden Kapitel werden Ihnen verschiedene Konzepte lebenslanger Entwicklung vorgestellt. Machen Sie sich bei den einzelnen Konzepten klar, was als Motor der Entwicklung verstanden wird, also woher die an das Individuum gestellten Entwicklungsaufgaben (s. u.) eigentlich kommen.
für die Weiterentwicklung des Individuums. Bei Havighurst und Erikson sind die jeweiligen Anforderungen an das Individuum zeitlich gebunden und betreffen alle Menschen. Es gibt für ein bestimmtes Alter eine „typische Aufgabe bzw. Krise“, die bewältigt werden muss. Dagegen ereignen sich kritische Lebensereignisse mehr oder weniger unvorhersehbar und treffen im Normalfall nur einzelne Individuen.
Beachte Auch Freuds Stufenmodell der psychosexuellen Entwicklung (s. S. 141) nimmt an, dass Veränderungen aufgrund der Bewältigung eines Konflikts ausgelöst werden. Allerdings beschränkt es sich auf den Altersbereich der Kindheit und Jugend.
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben nach Havighurst Nach Havighursts (1956) Konzept der Entwicklungsaufgaben gibt es für jedes Lebensalter bestimmte Anforderungen, die an das Individuum ge-
4.8.1 Der Überblick
stellt werden. Die Aufgaben werden aus drei Quel-
In diesem zweiten entwicklungspsychologischen
len abgeleitet, und zwar aus biologischen, reifungs-
Kapitel werden zunächst Entwicklungskonzepte vorgestellt, die den gesamten Lebenslauf umfassen
bedingten Veränderungen des Organismus (z. B. Pubertät oder Klimakterium), aus Anforderungen
(Eriksons Stufenmodell, Havighursts Entwicklungs-
der Gesellschaft (z. B. Schulbildung, Berufstätig-
aufgaben) oder phasenübergreifende Phänomene
keit) und aus Werten und Zielen des Individuums
schildern (Critical life events). Der zweite Teil des
(z. B. bestimmter Berufswunsch, individuelle Fami-
Kapitels schließt dann an das vorherige an und
lienplanung).
stellt phasentypische Veränderungen in der Jugend,
Die durch die Gesellschaft festgelegten Aufgaben
im Erwachsenenalter und im hohen Alter dar.
sind immer normativ. Das bedeutet, dass sie nicht
Dabei sollen einerseits normale Entwicklungsverläufe, andererseits aber auch Risikofaktoren für
nur einen Zustand beschreiben, sondern eine Art Regel darstellen, die diesen Zustand auch einfor-
eine problematische Entwicklung beleuchtet wer-
dert. Die Verbindlichkeit der von der Gesellschaft
den.
erwarteten Aufgaben ist allerdings für das Individuum unterschiedlich hoch. Während der Besuch
4.8.2 Einige Konzepte lebenslanger Entwicklung
der Schule hierzulande beispielsweise verpflich-
Die im Folgenden beschriebenen Konzepte haben
schnittlichen Heiratsalter richten.
eine wichtige Gemeinsamkeit: sie betonen die Bedeutung von Problemen, Krisen oder belastenden
Entwicklungsaufgaben werden von verschiedenen Menschen unterschiedlich aufgefasst. Während
Ereignissen für die Entwicklung. Dabei führt eine gelungene Bewältigung zum Aufbau neuer Fähigkeiten, während ein Scheitern problematische Konsequenzen nach sich zieht. Die Aufgaben an sich sind also weder gut noch schlecht, sondern wichtig
sich manche stark an gesellschaftlichen Vorgaben
tend ist, muss sich niemand nach dem durch-
und Erwartungen orientieren, sind für andere eher ihre persönlichen Maßstäbe relevant. Auch die Bewältigung der einzelnen Aufgaben ist individuell unterschiedlich. Je nach dem sozialen Umfeld, den
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf Ressourcen auf die jemand zurückgreifen kann, aber auch der eigenen Persönlichkeit gelingt die Lösung unterschiedlich leicht und gut. In Tab. 4.10 sind die wichtigsten Entwicklungsaufgaben dargestellt. Die Bezeichnung und Altersangabe der Entwicklungsperioden bezieht sich nur auf das Konzept von Havighurst. Bei der Zuordnung
163
Merke Die Entwicklungsaufgaben können sich zwischen Generationen aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch zwischen einzelnen Individuen aufgrund ihres unterschiedlichen Umfeldes unterscheiden (keine universelle Gültigkeit!).
der Aufgaben zu den Lebensabschnitten muss man bedenken, dass Havighurst sich bei dieser Aufstellung an der amerikanischen Mittelstandsgesellschaft von 1950 orientiert hat. Tabelle 4.10 Die Entwicklungsaufgaben nach Havighurst Entwicklungsperiode
Entwicklungsaufgaben
frühe Kindheit (0–2 Jahre)
Anhänglichkeit („Social Attachment“) Objektpermanenz sensomotorische Intelligenz und schlichte Kausalität motorische Funktionen
Kindheit (2–4 Jahre)
Selbstkontrolle (vor allem motorisch) Sprachentwicklung Phantasie und Spiel Verfeinerung motorischer Funktionen
Schulübergang und frühes Schulalter (5–7 Jahre)
Geschlechtsrollenidentifikation einfache moralische Entscheidungen treffen konkrete Operationen Spiel in Gruppen
mittleres Schulalter (6–12 Jahre)
soziale Kooperation Selbstbewusstsein (fleißig, tüchtig) Erwerb der Kulturtechniken (Schreiben, Lesen, etc.) Spielen und Arbeiten im Team
Adoleszenz (13–17 Jahre)
körperliche Reifung formale Operationen Gemeinschaft mit Gleichaltrigen heterosexuelle Beziehungen
Jugend (18–22 Jahre)
Autonomie von den Eltern Identität in der Geschlechtsrolle internalisiertes moralisches Bewusstsein Berufswahl
frühes Erwachsenenalter (23–30 Jahre)
Heirat Geburt von Kindern Arbeit/Beruf Lebensstil finden
mittleres ErwachseHeim/Haushalt führen nenalter (31–50 Jahre) Kinder aufziehen berufliche Karriere spätes Erwachsenenalter (51 Jahre und älter)
Energien auf neue Rollen lenken Akzeptieren des eigenen Lebens eine Haltung zum Sterben entwickeln
Eriksons Stufenmodell psychosozialer Entwicklung Bei Eriksons Entwicklungsmodell ist es wichtig, die einzelnen Krisen zu kennen und sie den jeweiligen Lebensphasen zuordnen zu können. Eriksons Modell (1959) baut direkt auf Freuds Modell psychosexueller Entwicklung (s. S. 141) auf. Auch die Grundannahme der universellen Gültig-
keit und der festen Abfolge der Stufen hat er übernommen (Tab. 4.11). Ebenfalls gilt, dass ein Misslingen der stadientypischen Krise zu bleibenden Persönlichkeitsstörungen führt. Im Gegensatz zu Freud werden die zu lösenden Konflikte oder Krisen jedoch als psychosozial beschrieben, d. h., dass die Krise durch eine Interaktion zwischen der biologischen Veränderung des Individuums und seiner sozialen Umwelt entsteht. Bei Freud bleibt die soziale Umwelt (Eltern, Gesellschaft) dagegen außen vor. Zudem hat Erikson sein Entwicklungsmodell auf das ganze Leben ausgeweitet. Im Gegensatz zu Havighurst nimmt Erikson an, dass alle Veränderungen auf universelle Reifungprozesse zurückgehen, die die Grundlage für neue Erfahrungen des Individuums bilden. Diese Annahme der Entwicklung wird als organismisch bezeichnet.
Das Konzept kritischer Lebensereignisse (Critical Life Events) Das Konzept der „kritischen Lebensereignisse“ ist eng mit dem Thema Stress verbunden (schlagen Sie ggf. auf S. 18 nach). Versuchen Sie, Ihre Kenntnisse mit den neuen Informationen zu verbinden und achten Sie darauf, wie sich kritische Lebensereignisse auf die Gesundheit auswirken.
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf Tabelle 4.11 Eriksons Modell psychosozialer Entwicklung Phase (Jahre)
Konflikt
Beschreibung des Konflikts
Resultat einer angemessenen Lösung
Resultat einer unangemessenen Lösung
oral 0–11⁄2
Urvertrauen vs. Urmisstrauen
emotionale Bindung an Bezugsperson
stabiles Sicherheitsbewusstsein
Unsicherheit, Angst
anal 11⁄2–3
Autonomie vs. Scham und Zweifel
Regeln lernen z. B. bei Selbstwahrnehmung der Sauberkeitserziehung als Handelnder
Zweifel an eigener Kontrolle über Ereignisse
phallisch 3–6
Initiative vs. Schuldgefühl
Suche nach Ich-Identität (Orientierung an Eltern)
Vertrauen auf eigene Initiative, Kreativität
mangelndes Selbstvertrauen
mittlere Kindheit 6–10
Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl
schulisches Lernen
Vertrauen auf eigene Leistung
mangelndes Vertrauen in eigene Leistung
Adoleszenz
Identität vs. Rollendiffusion
Integration der Facetten des Selbstkonzepts
Vertrauen in eigene Person
schwankendes, unsicheres Selbstbewusstsein
junges Erwachsenenalter
Intimität vs. Isolierung
Aufbau von Solidarität und Wir-Gefühl
Fähigkeit zur Nähe und Gefühl der Einsamkeit, Bindung an andere Leugnung des Bedürfnisses nach Nähe
Förderung der jungen Generation
Interesse an Familie, Gesellschaft, künftiger Generation
selbstbezogene Interessen, fehlende Zukunftsorientierung
Reflektion über eigenes Leben, Akzeptanz des Todes
Gefühl der Ganzheit, Zufriedenheit mit dem Leben
Gefühl der Vergeblichkeit, Enttäuschung
mittleres ErGenerativität vs. wachsenenalter Stagnation höheres Erwachsenenalter
Ich-Integrität vs. Verzweiflung
Als kritische Lebensereignisse werden positive und
Die Auswirkungen von kritischen Lebensereignissen
negative Veränderungen bezeichnet, die vom Individuum eine Anpassungsleistung an eine neue so-
Je nach Schweregrad und Bewältigungsmechanismen des Individuums (s. u.) ziehen kritische
ziale Situation erfordern. Diese Lebensereignisse
Lebensereignisse unterschiedliche Konsequenzen
sind im Gegensatz zu den bei Havighurst und Erik-
nach sich. Diese reichen von einer Schwächung
son aufgeführten Aufgaben nicht normativ, sondern
des Immunsystems und einer damit verbundenen
beinhalten zum Teil individuell geplante, zum Teil
erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten über die Aus-
aber auch allgemein unerwünschte Ereignisse. Bei-
bildung psychosomatischer Störungen bis zu einem
spiele sind die Geburt eines Kindes, der Verlust des
erhöhten Suizidrisiko.
Partners oder eines anderen Familienmitglieds, aber auch der Umzug in eine andere Stadt, der Wechsel oder Verlust des Arbeitsplatzes etc. Solche Ereignisse können eine Veränderung der sozialen Rollen (z. B. Elternrolle bei Geburt eines Kindes) oder persönlicher Ziele und Wertvorstellungen erfordern. Derartige Einschnitte werden auch als
psychosoziale Stressoren bezeichnet.
Beachte Als kritische Lebensereignisse werden sowohl positive als auch negative Ereignisse bezeichnet.
Die Messung des Stressgehalts kritischer Lebensereignisse Ein Instrument zur Messung der Belastung ist die Social Readjustment Scale. Zur Erstellung wurden auf Basis einer repräsentativen Stichprobe „Stresswerte“ für verschiedene Lebensereignisse ermittelt (z. B. Tod des Partners: 100 Punkte, Verlust des Arbeitsplatzes: 50 Punkte). Unabhängig vom Inhalt des kritischen Lebensereignisses machen bestimmte Merkmale eine Neuanpassung besonders schwer: geringe Kontrollierbarkeit (z. B. Naturkatastrophen)
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf große Unerwünschtheit (z. B. Schwangerschaft
Die Veränderungen in der Pubertät
bei fehlendem Kinderwunsch) geringe Vorhersagbarkeit (z. B. Tod eines Famili-
Der Begriff der Pubertät bezeichnet den Eintritt der Geschlechtsreife. Eingeleitet werden die pubertären
enmitgliedes durch Unfall)
Veränderungen meistens mit einem Wachstums-
früher biographischer Einschnitt (z. B. Tod eines
schub. Während bei Mädchen der sprunghafte An-
Elternteils in der Kindheit)
stieg der Körpergröße bereits mit ca. 10–11 Jahren
hohe persönliche Relevanz (z. B. Brand des selbst
einsetzt, findet er bei Jungen im Schnitt fast zwei
gebauten Hauses).
Jahre später statt. Zwei oder drei Jahre danach ist
165
die Pubertät (Geschlechtsreife) erreicht. Bei den
Die Risiko- und Schutzfaktoren des Individuums Ein wesentlicher Kritikpunkt an den Life-Event-
Mädchen wird sie an der Menarche, der ersten Menstruation, fest gemacht. Das Durchschnittsalter
Skalen ist, dass ein direkter Vergleich der Ereignisse
liegt bei 12–13 Jahren, mit einer Variationsbreite
eigentlich nicht möglich ist. Das individuelle Erle-
vom 10.-16. Lebensjahr. Bei Jungen beginnt die Pro-
ben bei stressvollen Ereignissen variiert stark. Bei-
duktion lebender Samenzellen, begleitet von der Fähigkeit zur Ejakulation mit etwa 14 Jahren. Auch bei ihnen gibt es eine beträchtliche Variation. Die Geschlechtsreife wird von Veränderungen der sekundären Geschlechtsmerkmale begleitet. Eine der Entwicklungsaufgaben des Jugendlichen besteht in der Akzeptanz der körperlichen Veränderungen und der ausgereiften Sexualität.
spielsweise hängt die Belastung durch die Scheidung der Eltern von Faktoren wie dem Alter des Kindes oder bereits bestehenden Problemen ab. Neben dem Stressor (stressauslösendes Ereignis) an sich ist die Auswirkung eines Ereignisses von Merkmalen der Stress erlebenden Person abhängig. Auf individuellem Niveau erweisen sich Eigenschaften wie Erfahrung mit Stress, Selbstvertrauen in die keitsüberzeugung, internale Kontrollüberzeugung
Mögliche Probleme bei der Akzeptanz körperlicher Veränderungen
(s. S. 145) und ein breites Repertoire an Problem-
Die einschneidenden körperlichen Veränderungen,
lösestrategien als günstig. Auf sozialem Niveau zeigen viele Studien die stützende Wirkung von sozialer Unterstützung („Social Support“). Besonders ungünstig wirken sich negative Reaktionen wie Vorwürfe der Selbstverschuldung oder Abwertung gegenüber den Opfern kritischer Lebensereignisse aus.
verbunden mit dem Wunsch nach Akzeptanz bei Gleichaltrigen, können zu einer gesteigerten Be-
Bewältigung kritischer Situationen, Selbstwirksam-
schäftigung mit dem eigenen Körperkonzept führen. Als Körperkonzept (auch Körperschema) wird die subjektive Erfahrung des eigenen Aussehens bezeichnet. Sie wird neben objektiven Merkmalen wie Körpergröße oder Haarfarbe von Fremdbewertungen, aber auch vom Vergleich mit geltenden
4.8.3 Die Adoleszenz Der Begriff Jugend wird häufig mit Erwachsen wer-
den assoziiert, wobei der Fokus auf dem Hineinwachsen in die Erwachsenenrolle liegt. Eine andere Perspektive ist die der Jugendphase als eigenständige Lebensphase, die eine Art Aufschub (Moratorium) vor dem Erwachsenendasein darstellt. Die zeitliche Eingrenzung dieses Altersabschnitts variiert je nach kulturellem Kontext und herangezogenen Kriterien. Der Beginn wird häufig an körperlichen Veränderungen festgemacht (Pubertät), der Eintritt ins Erwachsenenalter eher an sozialen Veränderungen (z. B. Eintritt ins Berufsleben, finanzielle Unabhängigkeit, Gründung einer eigenen Familie).
Schönheitsidealen beeinflusst. Besonders Mädchen fällt die Akzeptanz ihrer körperlichen Veränderungen häufig schwer. Eine übersteigerte Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper kann zur Entwicklung einer Essstörung führen, bzw. diese fördern (vgl. Klinischer Fall S. 232). Gerade die Anorexia nervosa (Magersucht) beginnt meistens in der Pubertät. Die betroffenen Mädchen entwickeln eine panische Angst vor Gewichtszunahme. Sie zwingen sich zu hungern und entwickeln Strategien, jede kalorienreiche Nahrungsaufnahme zu vermeiden. Die Wahrnehmung ihres eigenen Körpers ist gestört, sodass sie sich trotz gefährlichem Untergewicht immer noch zu dick fühlen. Aufgrund des extremen Gewichtsverlusts
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf kommt es zu lebensbedrohlichen körperlichen Symptomen: Die Verdauungsorgane sind beeinträchtigt, durch die begleitenden Elektrolytstörun-
Die Geschlechtsidentät und der Geschlechtsrollenerwerb Das biologische und das psychologische Geschlecht
gen kann es zu Herzrhythmusstörungen kommen.
Wenn man von Geschlechtsidentität spricht, meint
Die Bulimie ist eine Essstörung, bei der die Patien-
man das Erleben der eigenen Person als männlich
tinnen
haben.
oder weiblich. Dieses Erleben beinhaltet eine Ak-
Dabei verzehren sie in kurzer Zeit große Mengen
zeptanz des eigenen biologischen Geschlechts und
kalorienreicher Nahrung. Aufgrund der gleichzeiti-
ist wichtig für das psychische Wohlergehen des
gen Angst vor einer Gewichtszunahme versuchen
Kindes und Jugendlichen. Als biologisches Ge-
die Betroffenen durch erzwungenes Erbrechen oder Abführmittel die Nahrung wieder loszuwer-
schlecht (engl. „sex“) werden die biologisch determinierenden Merkmale bezeichnet, die Männer
den. Bulimikerinnen ist ihr abnormes Verhalten
und Frauen unterscheiden (Fortpflanzungsorgane,
durchaus bewusst. Sie entwickeln Strategien, um
sekundäre Geschlechtsmerkmale). Zudem gibt es
es möglichst lange geheim zu halten. Besonders
biologisch verankerte Unterschiede, die eine Prädis-
wiederkehrende
„Fressanfälle“
durch das häufige Erbrechen treten medizinische
position für ein bestimmtes Verhalten hervorbrin-
Probleme auf: es kann zu Dehydration (Austrock-
gen. Das bedeutet, dass es beispielsweise aufgrund
nung), Verletzungen der Speiseröhre und des Ma-
des unterschiedlichen Hormonhaushalts von Män-
gens, Nierenversagen und Störungen des Elektrolythaushaltes kommen.
nern und Frauen wahrscheinlich ist, dass Männer im Durchschnitt körperlich aktiver und aggressiver
Bei beiden Störungsbildern sind die Erklärungs-
sind. Prädispositionen beschreiben also nur eine
ansätze komplex. Die mangelnde Akzeptanz des
Tendenz und keinen Determinismus.
veränderten Körpers ist lediglich eine Komponente.
Neben den biologischen Unterschieden gibt es viele
Eine große Rolle spielen häufig familiäre Probleme.
gelernte
Ein wichtiges Element der Therapie bei Essstörun-
und Eigenschaften, die man aufgrund der eigenen
gen ist die Vermittlung eines realistischen Körper-
Sozialisation als typisch weiblich oder typisch
konzepts.
männlich ansieht. Diese Unterschiede werden als psychologisches Geschlecht (engl. „gender“) bezeichnet. Das psychologische Geschlecht ist im Gegensatz zum biologischen durch die spezifische Gesellschaft und Kultur, in der man aufwächst geformt. Die Erwartungen, aber auch die Toleranz für Abweichungen von geschlechtstypischem Verhalten, unterscheiden sich zwischen Gesellschaften. Probleme können sich ergeben, wenn ein Individuum sein biologisches Geschlecht nicht akzeptieren kann, da es als nicht passend empfunden wird. Bei Transsexuellen besteht ein Widerspruch zwischen biologischer und psychologischer Geschlechtsidentität.
Die Entwicklung sexueller Identität Die neu auftretenden sexuellen Gefühle und Impulse führen zu einer häufigen Beschäftigung mit der eigenen Sexualität. Entsprechendes Wissen und die Kommunikation mit Gleichaltrigen oder Eltern erleben viele Jugendliche als eingeschränkt. Dadurch verstärkt sich eine Unsicherheit im Umgang mit den eigenen Bedürfnissen. Speziell die sich manchmal widersprechenden Moral- und Wertvorstellungen von Eltern und Gleichaltrigen verstärken diese Orientierungsprobleme. Neben der Sammlung sexueller Erfahrungen und einer eigenen „Sexualmoral“ stellt sich für Jugendliche
geschlechtsbezogene
Verhaltensweisen
die Aufgabe, die Verantwortung für ihr Sexualverhalten zu übernehmen. Die hohe Rate von Teenager-Schwangerschaften und sexuell übertragenen Krankheiten zeigt die Schwierigkeiten dieser Verantwortung.
Der Erwerb der Geschlechtsrolle Geschlechtsrollen sind Verhaltensmuster, die in einer bestimmten Gesellschaft als für Männer und Frauen angemessen gehalten werden. Sie bilden die Definitionen für Maskulinität und Femininität. Diese Verhaltensmuster werden zum Teil offen in Form von Erwartungen und Regeln ausgesprochen,
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf zum Teil aber auch verdeckt transportiert. Die
geschlechtsspezifische Sozialisation beginnt bereits ab der Geburt. Studien zeigen, dass neugeborene Söhne im Durchschnitt als lebhafter und kräftiger wahrgenommen werden, während Töchter (bei gleichem objektivem Aktivitätsgrad und Aussehen) eher als zart und schön beschrieben werden. Anscheinend haben Eltern unbewusste Geschlechtsstereotypen, die wiederum ihr Verhalten gegenüber ihren Kindern beeinflussen. Als Kinder haben Jungen mehr Freiheiten und werden eher zu neuen Aktivitäten ermutigt, während Mädchen sich häufiger im Haus und bei der Mutter aufhalten. Geschlechtsrollen können von Kindern auf verschiedenen Art gelernt werden: Belohnung von geschlechtstypischen Verhaltensweisen und Bestrafung von geschlechtsuntypischem Verhalten (besonders Väter neigen zu negativen Reaktionen bei „mädchenhaften Verhaltensweisen“ ihrer Söhne) Modelllernen : Kinder ahmen das Verhalten von Personen des eigenen Geschlechts eher nach Übernahme von Regeln und Grundsätzen zu geschlechtsspezifischem Verhalten (z. B. Mädchen können nicht Fußball spielen). Das Ausmaß, mit dem geschlechtsspezifisches Verhalten von Kindern gefordert wird, variiert bereits beträchtlich zwischen einzelnen Familien, aber auch zwischen sozialen Schichten und Kulturen. Grundsätzlich muss man jedoch bedenken, dass viele Sozialisationsagenten (Eltern, Lehrer, Peers, Medien) Vorstellungen von geschlechtstypischem Verhalten sehr subtil transportieren. Meistens kommt es erst im Jugendalter zu einer bewussten Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschlecht und den daraus abgeleiteten Rollenerwartungen. Die Integration von der typisch männlichen und der typisch weiblichen Geschlechterrolle wird mit dem Begriff der Androgynie bezeichnet.
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Die Entwicklungsprobleme personaler und sozialer Identität Das zentrale Thema des Jugendalters ist die Entwicklung der eigenen Identität (Selbstkonzept, s. S. 145). Damit ist einerseits der Aufbau und die Festigung der eigenen Persönlichkeitsstruktur und des Bildes, das die anderen von der eigenen Persönlichkeit haben, gemeint. Anderseits bedeutet Identitätsentwicklung aber auch, einen Sinn dafür zu entwickeln, wer man ist und wer man sein will (Selbsterkenntnis). Unterscheiden kann man das persönliche Selbst (persönliche Identität) und das soziale Selbst (soziale Identität). Das persönliche Selbst bildet den lebensgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den eigenen Erfahrungen. Das soziale Selbst besteht dagegen aus dem Bild, das sich andere von der eigenen Person machen. Erst durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion kann der Jugendliche Informationen über die eigene Person bekommen. Diese Informationssuche führt gleichzeitig zur Entdeckung von Widersprüchen. Das Hauptproblem besteht in der Diskrepanz zwischen dem angestrebten Selbst (Ideal-Selbst) und dem aktuellem Zustand (Real-Selbst). Das Auseinanderklaffen von Wünschen und Realität kann zu Frustration führen. Eine weitere Entwicklungsaufgabe im Jugendalter ist die Ablösung von der eigenen Familie. Dieser Prozess hängt eng mit dem Aufbau der eigenen Identität zusammen. Gelingt er, ist der Jugendliche in der Lage, Verhaltensmaßstäbe und Ziele zu entwickeln, die unabhängig von den Eltern sind. Problematisch ist es, wenn sich der Jugendliche nicht aus der Abhängigkeit zu seiner Familie löst. Neben der finanziellen Unabhängigkeit, die aufgrund des späten Berufseinstiegs häufig erst später erreicht wird, umfasst Autonomie eine emotionale und soziale Eigenständigkeit. Dazu muss der Jugendliche gelernt haben, seine emotionalen Bedürfnisse auszudrücken und eigene soziale Beziehun-
Beachte Man kann sagen, dass Mädchen und Jungen aufgrund einer geschlechtsspezifischen Sozialisation in verschiedenen psychologischen Umwelten aufwachsen.
gen aufzubauen.
Der Suizid im Jugendalter Obwohl Identitätskrisen beim Großteil der Jugendlichen nicht auftreten, ist der Selbstmord bei deutschen Jugendlichen die zweithäufigste Todesursa-
che. Die meisten Suizidversuche werden im Alter zwischen 15 und 35 Jahren unternommen, danach
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf nimmt die Zahl ab, um im Alter wieder anzusteigen. Während Mädchen und Frauen doppelt so häufig Suizidversuche unternehmen wie Jungen
Gesundheitsgefährdendes Verhalten im Jugendalter Erste Erfahrungen mit Alkohol- und Drogenge-
und Männer, ist das Geschlechterverhältnis beim
brauch werden meistens in der Adoleszenz ge-
tödlich verlaufenden Suizid umgekehrt (ca. 3:2).
macht. Einerseits kann man das Erlernen eines ver-
Als wichtigstes Motiv für einen Suizidversuch im
antwortungsvollen Umgangs damit als Entwick-
Jugendalter werden soziale Konflikte angegeben,
lungsaufgabe auf dem Weg zum Erwachsenwerden
meistens mit den Eltern, an zweiter Stelle stehen
betrachten, andererseits ist ein beträchtliches Ri-
Liebeskummer oder Partnerprobleme. 10 % der Ju-
siko für eine langfristige Fehlentwicklung vorhan-
gendlichen geben an, dass sie mit ihrem Selbsttötungsversuch Aufmerksamkeit erregen wollten.
den. Neben Drogenkonsum können gesundheitliche Risiken aber auch durch falsche Ernährungs-
Ein Suizid ist nur in den seltensten Fällen eine
gewohnheiten, Medikamentenkonsum oder unver-
spontane Handlung. Im Normalfall gehen ihm cha-
antwortliches Sexualverhalten entstehen.
rakteristische Verhaltensweisen voraus, die durch
Beim Drogenkonsum sind zwei Entwicklungsver-
das präsuizidale Syndrom beschrieben werden:
läufe zu unterscheiden. Einerseits gibt es eine Art
Der Jugendliche zieht sich in sich selbst zurück,
Abenteuer- und Probierverhalten, das während
seine Gedanken und sein Verhalten kreisen um
des akuten Konsums gesundheitliche Risiken mit
die eigene Person. Häufig geht anderes selbstschädigendes Verhalten (Autoaggression) dem Selbst-
sich bringt. Auch Folgen wie die alkoholisierte Teilnahme am Straßenverkehr kann man dazu rechnen.
mord voraus. Zudem entwickeln gefährdete Ju-
Langfristige Konsequenzen sind eher gering, da sich
gendliche Selbstmordphantasien und kündigen
das Konsumverhalten bei Eintritt ins Erwachsenen-
ihre Absicht meistens an.
leben verändert („Adolescence-limited“). Besonders problematisch sind dagegen Entwicklungsver-
Die Bedeutung der Peer-Group
läufe, bei denen der Drogenkonsum eine langfris-
Im Jugendalter sinkt die Bedeutung der Kernfami-
tige Ersatzfunktion einnimmt („Life Course-persis-
lie. Zwar werden die Eltern von den Jugendlichen weiterhin als wichtige Bezugspersonen angesehen,
tent“). In solchen Fällen liegen meistens bereits Verhaltensprobleme in der Kindheit vor, die in der
aber einige Funktionen der Familie werden von
Jugend mit Hilfe der Drogen eine neue Ausdrucks-
den Peers (Gleichaltrigen) übernommen. Besonders
form bekommen.
altersspezifische Probleme werden eher mit Gleich-
Die hier aufgeführten Risikofaktoren für jugend-
altrigen als mit den Eltern besprochen. Die Aner-
lichen Drogenkonsum liegen selten in isolierter
kennung durch die Peer-Group ist auch für die
Form vor, sondern beeinflussen sich meistens ge-
Identitätsentwicklung (soziales Selbst) enorm wichtig. Die Bereitschaft Jugendlicher zu Peer-konformem Verhalten ist entsprechend groß. Um sich von den Erwachsenen abzugrenzen, bauen PeerGroups häufig eigene Verhaltensregeln auf, die von den Mitgliedern akzeptiert werden müssen (Konformitätsdruck). Dieser Anpassungszwang kann sich auf bestimmtes Verhalten (z. B. Gruppendruck bei Trinkgewohnheiten), aber auch auf kulturelle Ausdrucksformen wie den Kleidungsstil oder die Sprache beziehen.
genseitig:
Genetische Disposition : Speziell bei der Entwicklung von Alkoholtoleranz und -abhängigkeit deuten Studien auf eine genetische Komponente hin (s. S. 91).
Persönlichkeitseigenschaften : Probleme mit der Selbststeuerung in der Kindheit, speziell Aufmerksamkeitsstörungen, mangelnde Impulskontrolle und Aggressivität, aber auch ein geringer Selbstwert werden mit jugendlichem Drogenkonsum in Verbindung gebracht. Familiäre Risiken : Elternhäuser, die sich durch Desinteresse und Instabilität auszeichnen und dem Kind wenig emotionale Zuwendung geben, stellen einen Risikofaktor dar („Broken-HomePhänomen“).
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf Problematische Peer-Gruppen : Besonders Ju-
Zur Auswirkung von Stress im Berufsleben sind
gendliche, die im konventionellem Umfeld von Elternhaus und Schule keine Erfolgserlebnisse
zwei Modelle entwickelt worden. Sie beschreiben einen Zusammenhang zwischen stressauslösenden
haben, suchen in der Peer-Gruppe eine selbst-
Faktoren im Arbeitsleben und dem Risiko für
wertstützende Umgebung. Drogenkonsum spielt
Herz- und Kreislauferkrankungen.
bei vielen dieser Peer-Gruppen eine wichtige
Das Anforderungs-Kontroll-Modell beschreibt zwei
Rolle beim Statuserwerb.
Dimensionen, aus denen man die Belastung am Ar-
Ein weiterer Faktor mit großer Aktualität ist die
beitsplatz ableiten kann: die Menge und Beschaf-
Jugendarbeitslosigkeit. Besonders im Stadium der Identitätsfindung kann sie sich negativ auf das Selbstwertgefühl und die Kontrollüberzeugung des jungen Menschen auswirken.
fenheit von Anforderungen und die Kontrollierbar-
4.8.4 Das Erwachsenenalter Der Statuserwerb im frühen und im mittleren Erwachsenenalter
169
keit der Aufgaben.
Beachte Eine hohe Belastung resultiert aus einer großen Menge von Anforderungen bei gleichzeitig geringer Kontrollierbarkeit.
Als Entwicklungsaufgaben des Erwachsenenalters
Diese Konstellation ist besonders bei niedrigen be-
werden neben der Unabhängigkeit von der Kernfamilie der Einstieg in das Berufsleben, die Gestal-
ruflichen Positionen (z. B. Fließbandarbeit) häufig zu finden. Das Modell ist vor einiger Zeit noch um
tung der Partnerschaft und die Gründung einer Fa-
eine dritte Dimension erweitert worden: der so-
milie gesehen. Diese Schritte können gemeinsam,
ziale Rückhalt am Arbeitsplatz. Ein ausgeprägter
aber auch in zeitlichen Abständen auftreten. Auch
sozialer Rückhalt kann als Stresspuffer wirken, ge-
die gesellschaftliche Norm bezüglich des jeweils
ringer sozialer Rückhalt verschärft die wahrgenom-
angemessenen Alters ist Veränderungen unterwor-
mene Belastung.
fen. Durch die Verlängerung der schulischen und
Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen be-
beruflichen Ausbildung (Studium) findet der Berufseintritt bei Akademikern deutlich später als
schreibt die Interaktion zwischen Arbeitsumwelt und Person. Der Fokus liegt auf dem Verhältnis
bei niedrigeren Bildungsabschlüssen statt. Beim
von beruflicher Verausgabung und der dafür erhal-
Einstieg in den Beruf muss der junge Erwachsene
tenen Belohnung. Eine hohe Belastung des Arbeits-
zum ersten Mal seine in der Ausbildung erworbe-
platzinhabers entsteht aus einem Ungleichgewicht
nen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Zudem er-
zwischen seinem persönlichen Einsatz und den er-
möglicht die Berufsrolle finanzielle Unabhängig-
haltenen Gratifikationen (Belohnungen). Diese kön-
keit. Entsprechend problematisch sind Schwierig-
nen aus finanzieller Vergütung oder sozialer Aner-
keiten beim Einstieg wie zwischenzeitliche Arbeitslosigkeit oder Misserfolgserlebnisse. Neben der
kennung bestehen. Grundsätzlich zeigt sich, dass die Zufriedenheit mit
Übernahme einer Berufsrolle müssen junge Er-
der beruflichen und der familiären Situation einer-
wachsene im Privatleben die Rolle des Partners ein-
seits von den Merkmalen der Situation (z. B. objek-
nehmen. Bei Familiengründung kommt zudem
tive Arbeitsbelastung, Art und Umfang der Vergü-
noch die Elternrolle hinzu. Dabei kann es zu ver-
tung), andererseits aber auch von Merkmalen der
schiedenen Rollenkonflikten kommen (s. S. 38).
Person (persönliche Lebensziele, psychische Stabili-
Das Erwachsenenalter ist für viele Menschen durch
tät) abhängig ist. Als Pufferfaktor wirkt sich die so-
berufliche und familiäre Ansprüche gekennzeichnet. Werden die familiären Aufgaben unter den
ziale Unterstützung (Social Support) aus.
Partnern nicht aufgeteilt, kommt es bei berufstätigen Frauen und Männern häufig zu einer langfristig
Die Veränderungen im höheren Erwachsenenalter
psychisch und physisch riskanten Doppelbelastung
Als höheres Erwachsenenalter wird der Lebens-
(s. S. 160).
abschnitt vom Ausscheiden aus dem Beruf bis zum Lebensende bezeichnet. Es ist durch vielfältige
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf soziale, psychologische und biologische Veränderungen geprägt. Zwei Begriffe, die mit dieser Phase in Verbindung gebracht werden, sind unter
Die Veränderungen psychologischer Funktionen im Alter Altern wurde lange Zeit mit dem Begriff des Abbaus
biologischer Perspektive das Klimakterium und
und der Verschlechterung von Funktionen assozi-
unter eher psychologischer die Midlife-Crisis.
iert. Mittlerweile wird das Altern differenzierter betrachtet. Neben dem Verlust bestimmter Fähig-
Das Klimakterium und die „Midlife-Crisis“
keiten, gibt es andere, die bis ins hohe Alter stabil
Das Klimakterium (auch Wechseljahre) beschreibt
bleiben und wieder andere, die sich qualitativ ver-
einen Zeitabschnitt vom ca. 40.–50. Lebensjahr, in
ändern. Zudem weist der Verlauf extreme interindi-
dem bei Frauen die Fortpflanzungsfähigkeit erlischt. Es ist biologisch durch das Aussetzen der
viduelle Unterschiede auf. Das biologische Alter einer Person liefert zwar Anhaltspunkte über ihre Fähigkeiten und Kompetenzen, allerdings scheinen individuelle Lebenserfahrungen einen starken Einfluss zu haben.
Menstruation (Menopause) bestimmt. Zudem können hormonelle Störungen und ein Verlust der Libido (sexuelles Interesse) auftreten. Die psychischen Begleitzustände hängen sehr vom individuellen Erleben des Älterwerdens ab. Wird das späte Erwachsenenalter als ein weiterer Lebensabschnitt mit neuen Möglichkeiten akzeptiert, sind die psychischen Belastungen gering. Auch der Begriff der „Midlife-Crisis“ wird im Zu-
Bei den folgenden Abschnitten zu „normalen“ Veränderungen der psychischen Funktionen im Alter sollten Sie im Hinterkopf haben, dass die individuelle Entwicklung stark variiert.
sammenhang mit einer besonderen Belastung im stammt er aus der populärwissenschaftlichen Lite-
Die kognitiven Veränderungen: Intelligenz und Gedächtnis
ratur. Die Krise ist gekennzeichnet durch Sinn-
Wie bereits im Abschnitt zur Intelligenzentwick-
fragen bezüglich des eigenen Lebens, zum Teil kommt es zu einer abrupten Umorientierung. Ob und mit welchen Folgen eine solche Sinnkrise auftritt, hängt sicherlich von der individuellen Art der Lebensführung und Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen ab. Besonders anfällig scheinen Personen zu sein, die von einer ihrer Rollen (meistens im Beruf) über Jahre so absorbiert waren, dass sie andere Lebensbereiche stark vernachlässigt haben.
lung im Alter erwähnt (s. S. 111), ist der Abbau kog-
späteren Erwachsenenalter gebraucht. Allerdings
nitiver Funktionen weniger an das Lebensalter als an die intellektuelle Betätigung im Alter gebunden. Durchschnittswerte zur Intelligenzentwicklung im Alter zeigen geringe Veränderungen bis zum 75. Lebensjahr, danach ist der Abbau der kognitiven Funktionen beschleunigt. Zudem soll nach dem Intelligenzmodell von Catell die Entwicklung für verschiedene Arten der Intelligenz unterschiedlich verlaufen (s. S. 110): Während die kristalline Intelligenz bis ins Alter konstant bleibt, unterliegt die
Der Berufsausstieg und die Pensionierung
fluide Intelligenz einem konstanten Abbau ab dem
Aus soziologischer Perspektive kann man die al-
frühen Erwachsenenalter.
tersgebundenen Veränderungen anhand von Sta-
Auch bei Gedächtnisfunktionen hat sich heraus-
tus- und Rollenwechseln betrachten. Eine beson-
gestellt, dass die Abnahme der Erinnerungsleistung
ders weitreichende Veränderung ist die Beendi-
mit der Art der Informationsspeicherung zusam-
gung des Berufslebens. Mit ihr geht ein beruflicher Statusverlust einher – aus einem erfolgreichen und produktiven Anwalt, Arbeiter, Arzt oder Lehrer wird ein Pensionär bzw. Rentner. Die größte Anforderung an die neue Situation stellt sich bei der Neugestaltung des Alltags. Der Rentner/Pensionär muss eine neue Lebensaufgabe finden, mit der er seine Zeit sinnvoll gestalten kann.
menhängt. Bei alltagsnahen Informationen sind die Gedächtnisleistungen besser als bei abstraktem Material. Besondere Probleme tauchen bei der gleichzeitigen Darbietung mehrerer Informationen auf (z. B. beim dichotischem Hören, bei dem auf beiden Ohren unterschiedliche Stimuli präsentiert werden). Anscheinend sind die Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit bei alten Menschen beein-
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf trächtigt. Werden die Informationen jedoch einzeln dargeboten, sind ihre Gedächtnisleistungen kaum schlechter als im früheren Erwachsenenalter. Sowohl bezüglich der Intelligenz- als auch der Gedächtnisentwicklung im Alter gibt es zahlreiche Faktoren, die den Abbau entweder verlangsamen oder beschleunigen. Folgende Faktoren wirken sich positiv aus: hoher sozialer Status hohe Lebenszufriedenheit lange geistig herausfordernde Berufstätigkeit anregende Lebensumwelt zum Beispiel durch häufigen sozialen Kontakt, Teilnahme am politi-
171
ferenzielles Altern). Aus diesem Grund konzentriert sich die Forschung jetzt eher darauf, die Bedingungen zu analysieren, unter denen Menschen ein „erfolgreiches Altern“ erleben. Der wichtigste Faktor scheint dabei die subjektive Bewertung des eigenen Lebens zu sein. Vom normalen oder differenziellen Altern muss man den Begriff des pathologischen Alterns abgrenzen. Diese Bezeichnung wird verwendet, wenn der alte Mensch aufgrund von psychischen oder physischen Beeinträchtigungen starke Funktionseinbußen erlebt (z. B. durch Depressionen oder Demenz).
schen Leben. Der Abbau der Funktionen wird dagegen durch
Die psychosozialen Risikofaktoren im Alter
diese Faktoren beschleunigt:
Es gibt psychosoziale Bedingungen, die mit einer
sozialer Rückzug
erhöhten Wahrscheinlichkeit für pathologisches Al-
anregungsarme Umgebung schlechter Gesundheitszustand.
tern einhergehen. Hierzu zählt u. a. die soziale Isolierung. Häufig kommt es durch den Tod des Ehepartners zum sozialen Rückzug des hinterbliebenen
Die Veränderungen der Emotionen
alten Menschen. Gerade nach Partnerverlust steigt
Eine wichtige Fragestellung betrifft die Verände-
das Sterberisiko. Soziale Isolierung kann auch
rung des Emotionserlebens im Alter. Aufgrund der
durch das Altern fern der bekannten Umgebung
zunehmenden körperlichen Belastungen und Ver-
und bekannter Menschen entstehen (Entwurze-
lusterlebnisse in dieser Lebensphase könnte man
lung). Auch Altersarmut stellt ein Risiko für ein „er-
annehmen, dass alte Menschen verstärkt negative Emotionen erleben. Diese Hypothese wurde jedoch
folgreiches Altern“ dar. Finanzielle Sorgen wirken sich negativ auf den Lebenswillen und die Problem-
nicht bestätigt. Stattdessen zeigen Studien, dass
bewältigung aus.
normales Altern keineswegs eine Abnahme des
Psychosoziale Risikofaktoren gehen auch mit einer
Wohlbefindens und der Lebenszufriedenheit nach
höheren Selbstmordrate bei alten Menschen ein-
sich zieht. Auch die Intensität des Emotionserle-
her. Besonders hoch ist sie bei Personen ohne soziales Netzwerk (ledige Personen, Menschen nach Partnerverlust, politisch Verfolgte). Im Gegensatz zum jugendlichen Suizid sind Selbstmordversuche bei alten Menschen jedoch vergleichsweise selten.
bens scheint nicht dramatisch verändert. Die Wahrnehmung verminderter Emotionalität bei alten Menschen wird eher auf ihre ausgeprägten Kontrollstrategien als auf eine verminderte physiologische Reaktion zurückgeführt.
Das Defizit- versus Kompetenzmodell des Alterns
Die Modelle des Alterns
Lange Zeit wurde Altern als ein Entwicklungspro-
Normales versus pathologisches Altern
zess des ständigen Abbaus und Verlusts von Fähig-
In der gerontopsychologischen Forschung (Psycho-
keiten angesehen. Diese defizitäre Sicht des Altern
logie des Alterns) gab es zahlreiche Versuche, den
hat sich gewandelt. Die folgenden Theorien schil-
Prozess des „normalen Alterns“ zu beschreiben. Ein Beispiel dafür ist das im nächsten Abschnitt
dern den Prozess des Alterns, wobei die jeweiligen Annahmen über die Charakteristika sehr unter-
vorgestellte Defizit- und Kompetenzmodell. Durch
schiedlich sind.
die Zunahme der Forschung über alte Menschen zeigt sich inzwischen aber immer deutlicher, dass es keinen universellen Prozess des Alterns gibt, sondern dass viele Arten des Alterns existieren (dif-
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4 Theoretische Grundlagen Die Entwicklung und die Sozialisation im Lebenslauf Merke Dem Defizitmodell des Alterns (Abbau und Verlust) wird ein Kompetenzmodell (Erwerb selektiver Fähigkeiten) entgegengesetzt.
dar, das alle Funktionsbereiche einschließt. Sie hat große Ähnlichkeit mit der sozial-emotionalen Selektivitätstheorie. Grundannahme ist, dass Altern zwar eine Abnahme der Anpassungskapazität des Organismus
Disengagement-Theory: Die Grundannahme der Disengagement-Theory ist, dass der Prozess des Alterns nicht nur durch den Verlust sozialer Rollen (z. B. Beruf) geprägt ist, sondern dass alte Menschen auch das Bedürfnis nach sozialem Rückzug verspüren. Altern beinhaltet demnach den Wunsch nach einer stärkeren Besinnung auf die eigene Person, die mit einer freiwilligen Aufgabe sozialer Kontakte einhergeht. Aktivitätsansatz: Im deutlichen Gegensatz zur Disengagement-Theory betont der Aktivitätsansatz, dass gerade der alternde Mensch soziale Integration anstrebe und sozial aktiv sein wolle. Die geringe soziale Eingebundenheit vieler alter Menschen ist demnach nicht ihr Wunsch, sondern Folge der gesellschaftlichen Verhältnisse. Kontinuitätshypothese des Alterns: Die Kontinuitätshypothese bildet eine Art Synthese aus den Annahmen der vorherigen Ansätze. Die Grundannahme lautet, dass sich die sozialen Bedürfnisse des Menschen auch im Alter nicht ändern, sondern sich kontinuierlich fortsetzen. Menschen, die zuvor introvertiert waren, ziehen sich auch im Alter zurück, während Menschen mit einem starken Bedürfnis nach sozialen Kontakten diese auch weiterhin pflegen. Sozial-emotionale Selektivitätstheorie: Die Selektivitätstheorie erklärt die Abnahme der sozialen Beziehungen durch ihren qualitativen Wandel. Während jüngere Menschen viele zweckgebundene Sozialkontakte haben (z. B. Arbeitskollegen) sind nach Beendigung der Eingebundenheit in solche Zweckbeziehungen bei alten Menschen nur noch wenige Kontakte übrig. Diese zeichnen sich aber durch ihre besondere emotionale Qualität aus. Sie stellen sozusagen eine Auswahl (Selektion) wichtiger Sozialkontakte dar.
Modell der selektiven Optimierung durch Kompensation
stellt dagegen ein umfassendes Modell des Alterns
dieses
„Defizit“
jedoch
bereiche kompensiert werden kann. Mit anderen Worten: Alte Menschen konzentrieren sich auf besonders wichtige Verhaltensbereiche mit deren Hilfe sie potenzielle und tatsächliche Verluste ausgleichen können. Beispielsweise entwickeln sie eine spezielle Technik, mit der sie wichtige Informationen festhalten, damit sie nicht von den Unzulänglichkeiten des Gedächtnisses bedroht sind. Altern bedeutet demnach nicht nur den Verlust von Fähigkeiten, sondern auch den Aufbau wichtiger Spezial-Kompetenzen (Kompetenzmodell des Alterns).
4.8.5 Klinische Bezüge Demenz Die Altersdemenz ist charakterisiert durch eine schwerwiegende Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit, wovon das Gedächtnis, aber auch Orientierung, Sprache und Urteilsfähigkeit betroffen sind. Die Erkrankung belastet den Betroffenen und seine Angehörigen meist stark. In Deutschland schätzt man die Prävalenz der Erkrankung bei über 65-Jährigen auf ca. 7–8 % (Bickel, 2000). Die Häufigkeit steigt mit zunehmendem Lebensalter steil an (ca. 40 % bei über 90-Jährigen). In etwa 60 % der Fälle ist die Alzheimer-Erkrankung die Ursache der Demenz. Durch die demenzbedingten Beeinträchtigungen kommt es aufgrund von Vergesslichkeit und Kommunikationsproblemen leicht zur sozialen Isolation der Betroffenen. In späten Stadien werden einige Patienten für die Angehörigen bzw. ihre Wohnumgebung sehr belastend, was u. a. bedingt ist durch Desorientierheit, Fehlhandlungen, aber auch aggressive Ausbrüche und Selbstgefährdung. Aus diesem Grund ist es für den behandelnden Arzt wichtig die Angehörigen über die Symptomatik aufzuklären, und gegebenenfalls bei einer Entscheidung für ein Pflegeheim zu unterstützen.
Check-up
Alle vorgestellten Ansätze thematisieren speziell den sozialen Aspekt des Alterns. Diese Theorie
bedeutet,
durch die Optimierung ausgewählter Verhaltens-
4
Rekapitulieren Sie, welche Konzepte lebenslanger Entwicklung Sie kennen-
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs
4
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gelernt haben, vor allem die Krisen nach Eriksons Modell. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, welche Veränderungen sich in der Pubertät vollziehen und wodurch in dieser Zeit Probleme auftreten können. Machen Sie sich noch einmal klar, welche sozialen Rollen ein Individuum beim Eintritt ins Erwachsenenalter übernehmen kann, bzw. muss und wie Konflikte zwischen den verschiedenen Rollenanforderungen entstehen können.
4.9 Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs
173
nicht schwer zu verstehen. Besonders wichtig sind die Begriffe aus der Epidemiologie.
4.9.2 Die Methoden und die Gliederungsprinzipien Die Methoden der Demographie Die Demographie bedient sich vieler verschiedener
Kennziffern (s. u.), um den Zustand und die Veränderung der Bevölkerung zu beschreiben. Diese Kennziffern werden anhand großer Stichproben gewonnen. Zur Ermittlung der Daten werden verschiedene Instrumente eingesetzt.
Die Volkszählung Bei der Volkszählung wird eine Totalerhebung der Bevölkerung bezüglich wichtiger demographischer,
Lerncoach
sozialer und wirtschaftlicher Daten durchgeführt.
Die Inhalte dieses Kapitels werden Sie vielleicht erstaunen und Sie werden sich fragen, warum sich ein Medizinstudent ausgerechnet mit Grundbegriffen der Bevölkerungsbeschreibung beschäftigen soll. Es ist jedoch wichtig, dass Sie die Grundbegriffe und Methoden der Demographie kennen, da die Ursachen für viele aktuell diskutierten Probleme im Gesundheits- und Sozialbereich auf demographische Bezüge zurückgehen.
Als Bevölkerung wird die Gesamtzahl der Einwohner eines bestimmten Gebiets (z. B. Bundesrepublik Deutschland) zu einem bestimmten Zeitpunkt (Stichtag) verstanden. Wegen des hohen Kostenaufwands sind Volkszählungen relativ selten (zuletzt 1971 und 1987). Ihre Daten dienen einerseits einer Überprüfung der Bevölkerungsentwicklung (Prognose), andererseits werden sie für politische Planungen herangezogen.
Der Mikrozensus
del der sozialmedizinischen Bedürfnisse und des
Der Mikrozensus ist eine jährlich durchgeführte repräsentative Erhebung demographischer Standarddaten der deutschen Bevölkerung. Es werden Daten von ca. 1 % der Einwohner erfasst. Zudem gibt es in regelmäßigen Abständen auch erweiterte Datenerhebungen (z. B. zum Thema Bildung). Aufgrund der jährlich vorhandenen Daten kann man rückblickend Analysen über den Zusammenhang zwischen bestimmten Umweltereignissen und gesundheitlichen Veränderungen durchführen. Beispielsweise kann die Auftretenshäufigkeit von Krebserkrankungen vor und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl verglichen werden.
Krankheitsspektrums bildet. Gerade der Beruf des Arztes wird von demographischen Verände-
Die Sterbetafel
rungen stark beeinflusst.
Die Sterbetafel wird zur Ermittlung der durch-
4.9.1 Der Überblick Die Demographie beschreibt den Bevölkerungsstand und die wirtschafts- und sozialpolitischen Veränderungen der Bevölkerung. Anhand der Kennwerte der Bevölkerungsbeschreibung kann man die Bewegung (Veränderung) der Bevölkerung aufzeigen. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland hat auch Konsequenzen für den sozialen und medizinischen Bereich, da eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur die Rahmenbedingungen für einen Wan-
schnittlichen Lebenserwartung von Neugeborenen,
Die vielen Begriffsdefinitionen in diesem Kapitel sollten Sie nicht abschrecken: die Inhalte, die hinter den Definitionen stecken, sind
des Geburtenüberschusses und der altersspezifischen Sterblichkeit herangezogen. Sie bildet zu einem bestimmten Zeitpunkt den jeweiligen Anteil
Aus J. Schüler u. F. Dietz: Kurzlehrbuch Med. Psychologie (ISBN 3-13-136421-1) © Georg Thieme Verlag Stuttgart 2004 Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden!
4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs
4
4
gelernt haben, vor allem die Krisen nach Eriksons Modell. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, welche Veränderungen sich in der Pubertät vollziehen und wodurch in dieser Zeit Probleme auftreten können. Machen Sie sich noch einmal klar, welche sozialen Rollen ein Individuum beim Eintritt ins Erwachsenenalter übernehmen kann, bzw. muss und wie Konflikte zwischen den verschiedenen Rollenanforderungen entstehen können.
4.9 Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs
173
nicht schwer zu verstehen. Besonders wichtig sind die Begriffe aus der Epidemiologie.
4.9.2 Die Methoden und die Gliederungsprinzipien Die Methoden der Demographie Die Demographie bedient sich vieler verschiedener
Kennziffern (s. u.), um den Zustand und die Veränderung der Bevölkerung zu beschreiben. Diese Kennziffern werden anhand großer Stichproben gewonnen. Zur Ermittlung der Daten werden verschiedene Instrumente eingesetzt.
Die Volkszählung Bei der Volkszählung wird eine Totalerhebung der Bevölkerung bezüglich wichtiger demographischer,
Lerncoach
sozialer und wirtschaftlicher Daten durchgeführt.
Die Inhalte dieses Kapitels werden Sie vielleicht erstaunen und Sie werden sich fragen, warum sich ein Medizinstudent ausgerechnet mit Grundbegriffen der Bevölkerungsbeschreibung beschäftigen soll. Es ist jedoch wichtig, dass Sie die Grundbegriffe und Methoden der Demographie kennen, da die Ursachen für viele aktuell diskutierten Probleme im Gesundheits- und Sozialbereich auf demographische Bezüge zurückgehen.
Als Bevölkerung wird die Gesamtzahl der Einwohner eines bestimmten Gebiets (z. B. Bundesrepublik Deutschland) zu einem bestimmten Zeitpunkt (Stichtag) verstanden. Wegen des hohen Kostenaufwands sind Volkszählungen relativ selten (zuletzt 1971 und 1987). Ihre Daten dienen einerseits einer Überprüfung der Bevölkerungsentwicklung (Prognose), andererseits werden sie für politische Planungen herangezogen.
Der Mikrozensus
del der sozialmedizinischen Bedürfnisse und des
Der Mikrozensus ist eine jährlich durchgeführte repräsentative Erhebung demographischer Standarddaten der deutschen Bevölkerung. Es werden Daten von ca. 1 % der Einwohner erfasst. Zudem gibt es in regelmäßigen Abständen auch erweiterte Datenerhebungen (z. B. zum Thema Bildung). Aufgrund der jährlich vorhandenen Daten kann man rückblickend Analysen über den Zusammenhang zwischen bestimmten Umweltereignissen und gesundheitlichen Veränderungen durchführen. Beispielsweise kann die Auftretenshäufigkeit von Krebserkrankungen vor und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl verglichen werden.
Krankheitsspektrums bildet. Gerade der Beruf des Arztes wird von demographischen Verände-
Die Sterbetafel
rungen stark beeinflusst.
Die Sterbetafel wird zur Ermittlung der durch-
4.9.1 Der Überblick Die Demographie beschreibt den Bevölkerungsstand und die wirtschafts- und sozialpolitischen Veränderungen der Bevölkerung. Anhand der Kennwerte der Bevölkerungsbeschreibung kann man die Bewegung (Veränderung) der Bevölkerung aufzeigen. Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland hat auch Konsequenzen für den sozialen und medizinischen Bereich, da eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur die Rahmenbedingungen für einen Wan-
schnittlichen Lebenserwartung von Neugeborenen,
Die vielen Begriffsdefinitionen in diesem Kapitel sollten Sie nicht abschrecken: die Inhalte, die hinter den Definitionen stecken, sind
des Geburtenüberschusses und der altersspezifischen Sterblichkeit herangezogen. Sie bildet zu einem bestimmten Zeitpunkt den jeweiligen Anteil
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs der nach einem, zwei, fünf oder 10, 20 usw. Lebens-
weils den Überschuss eines Geschlechts in einer
jahren Verstorbenen ab. Die durchschnittliche Lebenserwartung wird aus den altersspezifischen
bestimmten Altersgruppe an (Abb. 4.8).
Sterbeziffern (s. u.) berechnet. Sie gibt die Anzahl
Verschiedene Formen von Bevölkerungspyramiden
von Jahren an, die ein Mensch bestimmten Alters
Aus Bevölkerungspyramiden kann man mehr able-
gemäß den bestehenden Sterbeverhältnissen noch
sen als die aktuelle Altersstruktur eines Staates.
vor sich hat. Normalerweise wird diese Zahl nach
Starke Schwankungen von Geburtenabnahme und
Geschlechtern getrennt angegeben. Sie steigt auf-
-zunahme sind Hinweise auf außergewöhnliche
grund verbesserter Ernährungsbedingungen und
soziale Umstände (z. B. wirtschaftliche Krisen oder
Gesundheitsversorgung weiterhin an und liegt momentan bei ca. 75 Jahren für Männer und 81
Boomjahre, aber auch Epidemien). Verschiebungen der Geschlechterverhältnisse zugunsten der Frauen
Jahren für Frauen (nach aktueller Sterbetafel von
sind ein Indikator für kriegerische Auseinanderset-
2001).
zungen.
Die altersspezifische Sterbeziffer berechnet sich aus
Neben diesen retrospektiven Betrachtungen kann
dem Anteil von 1000 Personen, die ein bestimmtes
man aus dem Aufbau der Pyramide aber auch Hin-
Alter erreicht haben und im Laufe des nächsten Jah-
weise auf die weitere Entwicklung bekommen. Die
res gestorben sind.
vorgestellten Grundformen sind typisch für ein be-
Von einem Geburtenüberschuss spricht man, wenn innerhalb einer Zeitspanne (meistens ein Jahr) die
stimmtes Entwicklungsstadium einer Gesellschaft. Man muss sie allerdings als Idealtypen verstehen,
Anzahl der Neugeborenen (Natalität) größer ist als
die genau so in der Realität wohl nicht zu finden
die der Verstorbenen insgesamt (Mortalität).
sind (Abb. 4.9).
Pyramide : Die Pyramidenform der Altersstruk-
Merke Die durchschnittliche Lebenserwartung ist definiert als die Anzahl von Jahren, die ein Mensch bestimmten Alters gemäß der bestehenden Sterbeverhältnisse durchschnittlich noch zu erwarten hat.
tur ist typisch für Entwicklungsländer. Die breite Basis spiegelt die hohe Zahl von Geburten bei gleichzeitig hoher Säuglings- und Kindersterblichkeit wieder. Insgesamt ist die Lebenserwartung gering. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung erreicht ein höheres Alter. Die Altersstruktur (breite Basis, die sich nach oben immer mehr
Die Gliederungsprinzipen
verengt) spricht für eine Zunahme der Bevölke-
Die Bevölkerung kann hinsichtlich verschiedener
rung.
Merkmale beschrieben werden. Wichtige sozio-
Glocke : Länder, in denen sich die Geburten- und Sterberate die Waage halten, weisen eine glockenförmige Form auf. Man spricht von stagnierendem Wachstum oder einer stationären Bevölkerung. Urne (oder Pilz) : Verengt sich die Basis (geringe Geburtenrate über längere Zeit) gegenüber dem Mittelbau der Pyramide, ist das ein Hinweis auf Bevölkerungsabnahme. Die Geburtenrate liegt unter der Sterberate, d. h. das Bevölkerungswachstum nimmt ab.
demographische Merkmale, nach denen man eine Gesellschaft aufgliedern kann, sind sozioökonomischer Status (Anteil verschiedener Bildungsabschlüsse, beruflicher Stellungen oder Einkommensgruppen etc.), Nationalität (Anteil der Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft), Alter (dargestellt in der Alterspyramide oder anhand der Altenquote) und Familienstand (Anteil lediger, verheirateter, geschiedener Menschen).
Die Bevölkerungspyramide Die Altersstruktur einer Bevölkerung lässt sich in
Die Erwerbstätigkeit
Form einer Alterspyramide darstellen. Neben dem
Neben dem Alter ist die Erwerbstätigkeit in der
relativen Anteil der verschiedenen Altersgruppen
Bundesrepublik Deutschland ein wesentlicher Fak-
kann man auch die Geschlechterzusammensetzung
tor für die Kennzeichnung der Gesellschaftsstruk-
ablesen. Die dunkel schraffierten Flächen zeigen je-
tur. Zum einen spielt die Erwerbstätigkeit eine tra-
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs
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Alter in Jahren Gefallene des 2.Weltkriegs
Geburtenausfall im 1.Weltkrieg
Geburtenausfall während der Wirtschaftskrise um 1932
100
Frauenüberschuss
90
Geburtenausfall im 1.Weltkrieg
80
Geburtenausfall während der Wirtschaftskrise um 1932
70
60 Geburtenausfall Ende des 2.Weltkriegs
Geburtenausfall Ende des 2.Weltkriegs
50
40 Männerüberschuss
30
20
10 Männer
Frauen 0
800
600
400
200
0
0
200
400
600
800
Tausend je Altersjahr
Abb. 4.8 Bevölkerungspyramide der Bundesrepublik Deutschland vom 31.12.2000 (Quelle: Statistisches Bundesamt)
gende Rolle bei den deutschen gesellschaftlichen
Erwerbslose : Personen ohne Arbeitsverhältnis,
Sicherungssystemen. Sowohl die Krankenversicherung als auch das Rentensystem basieren auf dem Zustand der Erwerbstätigkeit. Zudem weisen die Faktoren Alter und Familienstand systematische Zusammenhänge mit der Art der Erwerbstätigkeit auf. Im Bereich der Erwerbstätigkeit werden folgende Definitionen verwendet: Erwerbstätige : Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen oder selbstständig ein Gewerbe führen und Einkommenssteuer zahlen müssen.
die sich um eine Arbeitsstelle bemühen (Arbeitslose).
Erwerbsfähige : Personen im erwerbsfähigen Alter, die sich entweder in einem Arbeitsverhältnis befinden oder eines suchen (Summe aus Erwerbstätigen und Erwerbslosen).
Erwerbsquote : gibt das Verhältnis von Erwerbstätigen in Bezug zur Gesamtbevölkerung an.
4.9.3 Die Bevölkerungsbewegung Als Bevölkerungsbewegung wird eine Veränderung der Altersstruktur bezeichnet. Wachstum oder Abnahme bestimmter Altersgruppen können auf
Alter [ Jahren]
60 45 15
A
B
C
Abb. 4.9 Vier Grundformen der Bevölkerungspyramide; A Pyramide, B Glocke, C Urne (nach Bähr/Jentsch/Kuls)
verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Von natürlicher Bevölkerungsbewegung spricht man, wenn sich das Verhältnis von Geburts- und Sterberate verändert. Dagegen wird eine Veränderung aufgrund von Ein- oder Auswanderung (Migration) als künstliche Bevölkerungsbewegung bezeichnet.
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs Die Kennwerte des generativen Verhaltens
Die Nettoreproduktionsziffer ist das Verhältnis der
Um die natürliche Bevölkerungsbewegung zu beschreiben, existiert eine Reihe von Kennwerten.
gesund geborenen Mädchen zur Zahl der Mütter im gebärfähigen Alter. Der Grundgedanke dieses Kenn-
Eine Quote beschreibt immer das Verhältnis einer
wertes ist, dass eine Bevölkerung sich dann voll-
Teilmenge zu der Gesamtmenge in der Bevölkerung
ständig reproduzieren kann, wenn im Durchschnitt
(z. B. Altenquote: Anteil der über 65-Jährigen an
jede Frau eine Tochter bekommt (NRZ = 1), die
der Gesamtbevölkerung). Dagegen gibt eine Ziffer
dann selber wieder Kinder bekommen kann. Sinkt
den Quotienten aus zwei Teilmengen an (z. B. Ster-
die NRZ unter den Wert von 1 zieht die Verringe-
beziffer: Tote/1000 Einwohner).
rung der Geburtenzahl eine weitere demographi-
Die folgenden Begriffe dienen der Beschreibung von Veränderungen in der Zusammensetzung der
sche Reduktion im Abstand von einer Generation nach sich, da die „fehlenden Töchter“ keine Kinder
Bevölkerung, die sich aus dem generativen Verhalten (Fortpflanzungsverhalten) ergeben oder mit ihm zusammenhängen. Zur Illustration werden Angaben zum aktuellen Stand bzw. der Veränderung dieser Kennwerte in der Bundesrepublik Deutschland genannt. Die allgemeine Geburtenziffer (Natalität) ist die Zahl der Geburten auf 1000 Einwohner in einem Jahr. In Deutschland ist die Natalität innerhalb der letzten 50 Jahre deutlich rückläufig. Die zusammengefasste Geburtenziffer, die die durchschnittliche Anzahl von Kindern pro Frau (über ihr ganzes Leben) erfasst, sank von 2,09 im Jahr 1950 auf 1,36 im Jahr 2000. Die altersspezifische Geburtenziffer ist die Zahl der Geburten auf 1000 Frauen einer bestimmten Altersgruppe. Neben dem Absinken der allgemeinen Geburtenziffer haben sich die altersspezifischen Geburtenziffern innerhalb der letzten 50 Jahre stark verändert. Während in den 40er- und 50er-Jahren die höchsten alterspezifischen Geburtenziffern bei Frauen Anfang Zwanzig zu finden waren, liegen die Maxima jetzt bei 27 bis 29 Jahren. Die geschlechtsspezifische Geburtenziffer ist die Zahl der neu geborenen Mädchen oder Jungen auf 1000 Einwohner. In Deutschland liegt die geschlechtsspezifische Geburtenziffer der Jungen leicht über der der Mädchen. Allerdings gleichen sich die Geschlechterproportionen (Verhältnis von Männern zu Frauen) durch die höhere Sterblichkeit von Jungen bis zum 18. Lebensjahr im Erwachsenenalter wieder aus. Die Fertilitätsziffer drückt das Verhältnis der Anzahl von Geburten zu Frauen im gebärfähigen Alter aus. In Deutschland ist sie rückläufig, da viele fruchtbare (fertile) Frauen keine Kinder bekommen.
bekommen. Aktuell liegt die NRZ in Deutschland bei 0,62. Die Nuptialität ist die Anzahl der verheirateten Paare. In Deutschland ist die Zahl der Ehepaare im Zeitraum von 1991–2001 um drei Prozent gestiegen, ebenso der Anteil kinderloser Paare (alte Bundesländer: 17 %; neue Bundesländer: 9 % Prozent). Die allgemeine Sterbeziffer (Mortalität) bezeichnet die Anzahl der Sterbefälle bezogen auf 1000 Einwohner. Die altersspezifische Sterbeziffer ist die Anzahl der Sterbenden bezogen auf 1000 noch lebende Menschen desselben Alters (z. B. sterben von 1000 80-jährigen im Laufe des 81. Lebensjahres 100, dann beträgt die altersspezifische Sterbeziffer 0,1 oder 10 %). Die Altenquote ist der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung (die Altersgrenze kann je nach Fragestellung unterschiedlich gewählt werden). In Deutschland steigt die Altenquote kontinuierlich an. Im Jahre 2001 lag sie bei 17 %. Die Säuglingssterblichkeit ist die Anzahl der im ersten Lebensjahr verstorbenen Säuglinge bezogen auf die Anzahl der Geburten. Die Säuglingssterblichkeit wird auch heute noch als ein Maßstab für die Qualität der gesundheitlichen Versorgung eines Gebietes angesehen. Ein Vergleich der Säuglingssterblichkeit in verschiedenen Regionen kann dazu dienen, Gebiete mit medizinischer Unterversorgung ausfindig zu machen. Der Wert der Säuglingssterblichkeit wird mit 1000 multipliziert: In Deutschland nahm die Säuglingssterblichkeit von 1950 mit 60,2 bis heute mit ca. 6,0 kontinuierlich ab. Weitere Maßzahlen für das Sterben im Kindesalter sind z. B.:
perinatale Sterblichkeit : Summe aller Sterbefälle zwischen der 28. Schwangerschaftswoche
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs und der ersten Lebenswoche bezogen auf alle
resinzidenz, also die Zahl der Neuerkrankungen
Lebendgeburten. Totgeburtlichkeit : Anzahl der Totgeborenen be-
innerhalb eines Jahres verwendet. Die Prävalenz gibt die Gesamtanzahl der zu
zogen auf die Anzahl der Lebendgeborenen.
einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz)
177
oder einem Zeitraum (Periodenprävalenz) an
Das demographische Altern
einer Krankheit leidenden Personen an. Die An-
Der Begriff des demographischen Alterns hängt eng
zahl wird zur Gesamtpopulation ins Verhältnis
mit der Altenquote zusammen. Soziologen verste-
gesetzt.
hen darunter die Verschiebung der Altersverteilung
Die Letalität gibt die Zahl der Todesfälle an einer
innerhalb einer Gesellschaft. Auskunft über die komplette Altersstruktur einer Bevölkerung gibt
bestimmten Krankheit im Verhältnis zu 1000 an dieser Krankheit Erkrankten an. Die krankheits-
die Bevölkerungspyramide (s. o.). Der Umfang des
spezifische Sterbeziffer definiert die Anzahl der
demographischen Alterns wird anhand des Verhält-
innerhalb eines Jahres an einer Krankheit Ver-
nisses von alten zu jungen Menschen abgeschätzt.
storbenen im Verhältnis zur Gesamtbevölke-
In Deutschland liegt das Verhältnis zwischen dem
rung.
Anteil jüngerer Menschen (unter 20 Jahren) und dem Anteil der über 65-Jährigen momentan bei 22 % zu 17 %. Es wird sich nach den vorliegenden Prognosemodellen weiterhin zugunsten des Altenanteils verschieben. Das bedeutet eine weitere Erhöhung des demographischen Alterns. Diese Ent-
Beachte Die Morbidität beschreibt die Auftretenshäufigkeit einer Krankheit. Die Mortalität ist die allgemeine Sterbeziffer (unabhängig von der Todesursache).
wicklung bringt große Probleme für das auf Generationsausgleich basierende Rentensystem, aber
Die Migration
auch einschneidende Veränderungen in der Ge-
Der Begriff Migration beschreibt Wanderungsbe-
sundheitsversorgung (s. u.) mit sich. Die Verschie-
wegungen von Menschen. Dabei werden zwei
bung der Altersstruktur wird in Deutschland vor allem durch den Rückgang der Geburtenziffer bei
Bewegungsrichtungen unterschieden. Horizontale Mobilität bedeutet einen Wechsel des Aufenthalts-
gleichzeitig konstant niedriger Sterbeziffer aus-
orts (geographische Wanderung). Vertikale Mobili-
gelöst.
tät bedeutet einen sozialen Auf- oder Abstieg innerhalb der gesellschaftlichen Schichten). Für die demographische Betrachtung der Bevölkerungsbewegung interessiert nur der Begriff der horizontalen Mobilität. Die vertikale Mobilität wird auf S. 187 behandelt. (Wanderung
Einige Kennwerte aus dem Bereich der Epidemiologie Die Epidemiologie beschäftigt sich mit der Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung und den sozialen Folgen von Epidemien (zeittypischen Massenkrankheiten). Sie arbeitet mit Kennwerten, die spezielle
Die horizontale Mobilität
Angaben zur Auftretenshäufigkeit einer Krankheit
Die demographische Entwicklung der Bevölkerung
und dem Risiko eines tödlichen Verlaufs machen.
hängt neben der natürlichen Bevölkerungsbewe-
Auch diese Kennwerte sind immer auf eine be-
gung (generatives Verhalten) in großem Maße von
stimmte Bevölkerung (Population) bezogen.
der sogenannten künstlichen Bewegung, der Wan-
Die Morbidität (morbus lat. Krankheit) ist defi-
derung oder Migration, ab. Migration kommt in
niert als Auftretenshäufigkeit von Krankheit innerhalb einer Population in einem bestimmten
verschiedener Ausprägung vor. Dazu gerechnet werden u. a. Aussiedler, Fremdarbeiter, Asylanten.
Zeitraum.
Die Beweggründe, die hinter der örtlichen Verände-
Die Inzidenz gibt den Anteil der Neuerkrankun-
rung stehen, können vielfältig sein. Theoretisch
gen bezüglich einer bestimmten Erkrankung in-
kann man sie aus der Disparität der Lebensbedingungen begründen. Das bedeutet, dass aufgrund der Verschiedenartigkeit der Angebote und Lebens-
nerhalb einer Population bezogen auf einen bestimmten Zeitraum an. Meistens wird die Jah-
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs umstände Menschen den Ort wechseln, um eine für
kende Sterbeziffern aus. Besonders die Säuglings-
sie geeignetere Umwelt zu finden. Die Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen umfasst dabei
und Kindersterblichkeit ist hoch. Die gleichzeitig hohe Geburts- und Sterbeziffer bedeuten einen
politische Rechte (z. B. als Motiv bei politischen
ausgeprägten Bevölkerungsumsatz. Dabei bleibt
Flüchtlingen) oder Umweltveränderungen genauso
das Wachstum gering. Phase 2: In der frühtransformativen Phase sinken die Sterbeziffern langsam ab. Vor allem die Säuglings- und Kindersterblichkeit wird niedriger. Die Geburtenziffern bleiben hoch. Daraus resultiert ein Wachstum der Bevölkerung. Phase 3: In der mitteltransformativen oder Umschwungphase sinken die Sterbeziffern noch weiter ab. Auch die Geburtenziffern beginnen langsam zu sinken. Das Bevölkerungswachstum erreicht seinen Höhepunkt. Schließlich sinken die Geburtenziffern so stark, dass sie unter den Sterbeziffern liegen. Damit beginnt die Bevölkerung langsam wieder abzunehmen (Umschwung). Phase 4: In der spättransformativen Phase sinken die Geburtenziffern weiter ab. Die Sterbeziffern bleiben dabei konstant niedrig. Aus niedrigeren Geburten- als Sterbeziffern resultiert die kontinuierliche Abnahme des Bevölkerungswachstums. Phase 5: Die posttransformative Phase zeichnet sich durch ein konstant niedriges Niveau der Geburten- und Sterbeziffern aus. Sie halten sich in etwa die Waage, sodass das Bevölkerungswachstum um Null liegt. Im Vergleich zu der Sterbeziffer ist die Geburtenziffer jedoch stärkeren Schwankungen unterworfen. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich nach diesem Modell in der posttransformativen Phase bei einem aktuellen geringen Geburtendefizit.
wie die Infrastruktur oder das Arbeitsplatzangebot. Innerhalb der horizontalen Mobilität werden die
Binnen- und die Außenwanderung unterschieden, je nachdem, ob die Wanderung innerhalb eines definiertes Gebiets oder über die Grenzen dieses Gebiets hinaus erfolgt. Auch für die Beschreibung der räumlichen Mobilität gibt es Kennwerte: Die Mobilitätsziffer gibt das Wanderungsvolumen, d. h. die Summe aller Binnen- und Außenwanderungen bezogen auf 1000 Einwohner an. Als Wanderungssaldo wird die Differenz zwischen Zu- und Abwanderung bezeichnet. Der Wanderungsgewinn (positiver Saldo) oder Wan-
derungsverlust (negativer Saldo) wird bezogen auf 1000 Einwohner angegeben. Die Effektivitätsziffer beschreibt das Verhältnis von Wanderungssaldo (S) zu Wanderungsvolumen (V): S/V p 100 Im Zusammenhang mit der Außenwanderung ist zudem der Begriff der Akkulturation wichtig. Er beschreibt die Anpassung eines Individuums oder einer Gruppe an ein fremdes Milieu. Diese Anpassung kann in Form der Übernahme sprachlicher und kultureller Gewohnheiten, aber auch im Bereich der Wertvorstellungen stattfinden.
Die Theorie des demographischen Übergangs Theorie der demographischen Transformation) be-
Die Kritik an der Theorie des demographischen Übergangs
schreibt die Veränderungen der generativen Be-
In der Theorie des demographischen Übergangs
völkerungsstruktur während der Industrialisierung eines Landes. Der Einfluss der Geburten- und Sterberate auf die Bevölkerungsentwicklung wird beschrieben. Dieser Prozess wird auch mit dem Begriff der Modernisierung in Beziehung gesetzt. Die Theorie stammt aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, hat aber trotzdem immer noch Einfluss auf die Denkweise der Bevölkerungswissenschaft. Phase 1: Die prätransformative Phase zeichnet sich durch hohe Geburtenziffern und hohe schwan-
wird postuliert, dass jede Gesellschaft letztendlich
Die Theorie des demographischen Übergangs (auch
bemüht ist, eine Balance zwischen Geburten- und Sterbeziffern zu erreichen. Diese Entwicklung wird aus den durch die Industrialisierung bedingten Veränderungen hergeleitet. Dabei bleibt die Wirkweise dieses Zusammenhangs jedoch unklar. Zudem stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, eine universelle Verbindung zwischen Industrialisierung und Bevölkerungsentwicklung anzunehmen, die beispielsweise auch Prognosen in den Entwicklungsländern der dritten Welt erlauben würde.
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs Die demographische Situation der Weltbevölkerung Neben
der
demographischen
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Annahmen zur Entwicklung der Bevölkerung sehen Entwicklung
in
folgendermaßen aus: Aufgrund des Geschlechtstriebes wird die Be-
Deutschland, die im Großen und Ganzen auch in
völkerung ständig wachsen.
den anderen Industrienationen ähnlich verläuft,
Die Vermehrung wird lediglich durch Krankhei-
ist es wichtig, sich die Bevölkerungsveränderungen
ten, Hungersnöte oder gezielte Enthaltsamkeit
bezogen auf die gesamte Weltbevölkerung vor
der fruchtbaren Bevölkerung verlangsamt.
Augen zu führen. Im Jahre 2000 zählte die Weltbevölkerung 6,055 Milliarden Menschen. Für 2015 geben die Prognosen eine Zahl von 7,154 Milliarden an. Während die Industrienationen (Europa, Nordamerika) ein stagnierendes Wachstum aufweisen (durchschnittliche Fertilitätsziffer von 1,7), steigen
Merke Nach Malthus Gesetz verläuft das Bevölkerungswachstum exponenziell (1, 2, 4, 16, . . .). Dagegen nimmt die Menge an Nahrungsmitteln nur linear (1, 2, 4, 8, . . .) zu.
die Bevölkerungszahlen der Entwicklungsländer um jährlich 2–3 %. In einzelnen Ländern ist die
Aufgrund dieser Entwicklung kommt es nach Mal-
Wachstumsgeschwindigkeit sogar deutlich höher
thus Vorstellung zwangsläufig zu einer Hunger-
(durchschnittliche Fertilitätsziffer in Afrika bei
katastrophe, wenn nicht bevölkerungspolitische
4,5 Kindern pro Frau). Das Auseinanderklaffen der Geburtenziffer steht unter anderem mit religiösen
Maßnahmen ergriffen werden, um das Wachstum zu stoppen. Zu seiner Zeit wurden entsprechende
und kulturellen Normen im Zusammenhang.
kontrazeptive (empfängnisverhütende) Möglich-
Besonders rapide wächst die Bevölkerung in den
keiten überlegt, um auf diesem Weg das Bevölke-
Metropolen. Nach Schätzungen der Vereinten Na-
rungswachstum zu dämpfen. Inzwischen weiß
tionen werden in zehn Jahren über die Hälfte aller
man allerdings, dass neben der Existenz von Verhü-
Menschen in Städten leben. Besonders in den Ent-
tungsmitteln auch ökonomische und soziokultu-
wicklungsländern hält die Land-Stadt-Wanderung
relle Faktoren einen Einfluss auf die Fertilität ha-
weiterhin an. Die Vergrößerung der Ballungszentren bringt allerdings zahlreiche Probleme mit
ben. Entgegen früherer Vorstellungen hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre gezeigt, dass eine Ver-
sich: Neben einer oft unzureichenden Infrastruktur
mehrung des allgemeinen Wohlstands mit einem
steigt die Umweltverschmutzung durch Industrie-
Rückgang der Fertilität einhergeht.
und Autoabgase sowie durch wachsende MüllDas starke Wachstum der Entwicklungsländer führt
Die Folgen demographischer Entwicklung für die Sozial- und Gesundheitspolitik
zu einer weiteren Benachteiligung der dortigen
Die Veränderung des Krankheitsspektrums
armen Bevölkerung. Fruchtbarkeit und Armut bilden eine Art Teufelskreis, der kaum zu durchbre-
In den Industrienationen hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte das Krankheitsspektrum deut-
mengen.
chen ist. Je zahlreicher die Bevölkerung, desto
lich gewandelt. Die Anzahl akuter Erkrankungen
mehr ökonomische Ressourcen müssen für den ein-
ist rückläufig, dagegen nehmen chronisch-degene-
fachen Lebenserhalt eingesetzt werden. Dadurch
rative Erkrankungen zu. Diese Entwicklung kann
stehen keine Ressourcen für Bildung und berufliche
auf verschiedene Ursachen zurückgeführt werden.
Qualifikation zur Verfügung, die jedoch für eine Be-
Einerseits hat die Medizin große Erfolge bei der Be-
kämpfung der Armut notwendig wären. Zudem
handlung akuter Krankheiten zu verzeichnen (z. B.
geht die Armut mit Mangel- und Unterernährung großer Bevölkerungsteile einher.
bei Infektionskrankheiten). Andererseits führt die Verschiebung der Altersstruktur zu einer Zunahme alter Menschen in der Bevölkerung, die wiederum
Das Malthus-Gesetz
im Schnitt häufiger chronische Erkrankungen auf-
Einer der ersten Theoretiker, der sich bereits um
weisen als junge Menschen.
1800 über bevölkerungspolitische Maßnahmen Gedanken machte, war Thomas Robert Malthus. Seine
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs Die Todesursachen
nischen Krankheiten weist besondere Merkmale
Im Zusammenhang mit der Veränderung des Krankheitspanoramas haben sich auch die Todes-
auf: Die Ätiologie (Entstehungsgeschichte) ist meistens multifaktoriell. Der Krankheitsverlauf ist
ursachen innerhalb der letzten 100 Jahre in den In-
langfristig und meistens progredient (sich ver-
dustrienationen deutlich verändert. Während An-
schlimmernd). Hinzu kommt der Einfluss des Pa-
fang des 20. Jahrhunderts die meisten Menschen
tientenverhaltens auf den Verlauf der Krankheit.
aufgrund einer Infektionskrankheit starben, liegt
Bei der medizinischen Behandlung geht es im sel-
der Anteil heutzutage bei ca. 10 %. Die häufigste
tensten Fall um eine endgültige Heilung, sondern
Todesursache stellen heute mit 33 % die Herz-Kreis-
vielmehr um die Erhaltung der Lebensqualität des
lauf-Erkrankungen (Herzinfarkte, Schlaganfälle) dar, gefolgt von bösartigen Tumoren (ca. 20 %). Die Todesursachen in der Ländern der Dritten Welt zeigen dagegen große Ähnlichkeit mit den Industrienationen im letzten Jahrhundert. Hier überwiegen Infektionskrankheiten, während Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs eine verhältnismäßig geringe Rolle spielen.
Patienten. Dabei darf der Patient nicht passiv bleiben, sondern er muss mit Hilfe des Arztes einen möglichst günstigen aktiven Umgang mit seiner Krankheit erlernen (vgl. S. 233). Chronische Krankheiten haben Folgen in allen Lebensbereichen. Neben der rein körperlichen Versorgung sollte die Behandlung daher auch mögliche Aktivitätseinschränkungen des Patienten und die
Die Konsequenzen des demographischen Alterns
emotionale Belastung durch die Krankheit mit einbeziehen. Im Rahmen dieser umfassenden Perspek-
Besonders problematisch ist die Verschiebung der
tive der ärztlichen Versorgung geht es also nicht
Altersstruktur für die sozialen Sicherungssysteme.
allein um die körperlichen Einschränkungen, son-
Das deutsche Rentensystem , das zum Großteil auf
dern auch um die Beurteilung des funktionalen
einem Generationenvertrag beruht, stößt bereits
Status (was kann der Patient in den verschiedenen
unter heutigen Verhältnissen an seine Grenzen.
Lebensbereichen, welche Probleme gibt es) und
Die kleiner werdende Zahl der erwerbsfähigen jun-
seine Lebensqualität.
gen Menschen kann die Rentenansprüche der anwachsenden alten Generation nicht mehr aufbrin-
Das veränderte Zeitmuster des Familienzyklus
gen. Die Problematik wird zudem durch die hohe
Der Familienzyklus ist durch einschneidende Ereig-
Arbeitslosenzahl verschärft, da der Rentenbeitrag
nisse wie die Heirat, die Geburt der Kinder oder ihr
von den Erwerbslosen ausfällt. Die Einführung
Verlassen des Elternhauses definiert. Aufgrund der
einer privaten Altersvorsorge (Riester-Rente) ist
verlängerten Ausbildungszeit der Frauen verschiebt
ein Versuch, eine mögliche Reduzierung der Rente
sich das Heiratsalter auf Mitte bis Ende zwanzig.
zu kompensieren.
Auch die Geburt des ersten Kindes findet im Le-
Für das Gesundheitssystem resultiert aus dem erhöhten Anteil der alten Bevölkerung ein beträcht-
benszyklus junger Erwachsener im Schnitt später als vor 40 Jahren statt. Während 1961 Frauen ihr
licher Anstieg der Gesundheitsausgaben. Die höhe-
erstes Kind mit durchschnittlich 25 Jahren beka-
ren Ausgaben, die für die Behandlung alter Men-
men, lag das Durchschnittsalter bei der ersten Ge-
schen notwendig sind, können aufgrund der gerin-
burt im Jahre 2000 auf 29 Jahre angestiegen. Beson-
gen Anzahl relativ gesunder junger Erwerbstätiger
ders ausgeprägt ist diese zeitliche Verschiebung bei
nur schwer aufgefangen werden. Als Folge sind
Frauen mit Hochschulabschluss. Zudem wächst der
die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherun-
Anteil der spätgebärenden Frauen: 1990 waren
gen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen.
lediglich 5 % der Erstgebärenden über 35 Jahre alt, 2000 waren es dagegen 16 %.
Aber auch für den Arzt bringt die erhöhte Anzahl
Da die meisten Frauen nur ein oder zwei Kinder be-
alter Patienten Veränderungen mit sich. So leiden
kommen, ist die Dauer der Reproduktionsphase
alte Menschen häufig unter mehreren Erkrankun-
(Zeitintervall zwischen Geburt des ersten und letz-
gen (Multi-Morbidität), die gleichzeitig behandelt
ten Kindes) verkürzt. Viele Frauen kehren danach
werden müssen. Gerade der Umgang mit chro-
wieder in ihren Beruf zurück. Zudem bleibt nach
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4 Theoretische Grundlagen Die soziodemographischen Determinanten des Lebenslaufs der Konzentration auf die Kindererziehung aufgrund der höheren Lebenserwartung eine vergleichsweise längere Lebensspanne (Spätphase),
181
4.9.4 Klinische Bezüge Chronische Erkrankungen Die steigende Relevanz chronischer Erkrankungen
nachdem die Kinder das Elternhaus verlassen ha-
für den Arztberuf wird am Beispiel des Diabetes
ben.
mellitus deutlich. Während in Deutschland am Typ I (juveniler) Diabetes mellitus ca. 300.000 Men-
Merke Die Reproduktionsphase ist bei Frauen heutzutage verkürzt. Die Spätphase nach dem Aufziehen der Kinder dauert länger als früher.
schen erkrankt sind, liegt die Prävalenz des Alters-
Die Auswirkungen veränderter Familienstrukturen auf das Gesundheitssystem
40-Jährigen sind keine Seltenheit) bei gleichzeiti-
Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert nahmen
und teuer wird die Behandlung dann, wenn der Pa-
einige Soziologen an, dass der gesellschaftliche Ent-
tient sich nicht strikt an die ärztlichen Anweisun-
wicklungsprozess zu immer kleineren Familien
gen hält und beispielsweise seine ungesunde Er-
führt und die Solidarität zwischen Menschen sich
nährung nicht verändert. Diese Patienten riskieren
auf immer kleinere Kreise bezieht. Diese These, die unter dem Titel „Kontraktionsgesetz“ bekannt
gefährliche Folgeerkrankungen wie Nierenversagen, Erblindung oder Herzprobleme und kosten
wurde, beruft sich auf die immer größer werden-
die Krankenkassen leicht das zehnfache eines „gut
den sozialen Sicherungsaufgaben des Staates, der
eingestellten“ Patienten (ca. 700 Euro pro Jahr). Ak-
damit viele Funktionen der Kernfamilie übernimmt.
tuell fallen 80 % der Kosten im deutschen Gesund-
Tatsächlich sprechen einige Veränderungen für das
heitssystem für chronische Erkrankungen an. Für
Kontraktionsgesetz,
jedoch
den Arzt bedeutet diese Krankheitsverschiebung,
berücksichtigen, dass trotz staatlicher Sicherungs-
dass er sich auf die veränderte Patientenstruktur
systeme die Familie nach wie vor das wichtigste Netz bezüglich sozialer und finanzieller Hilfe ist.
und deren Bedürfnisse einstellen sollte.
dabei
muss
man
diabetes (Typ II) bei 4,8 Millionen – mit deutlich steigender Tendenz. Die Entwicklung des Altersdiabetes ist dramatisch: Das Erkrankungsalter der Patienten sinkt zunehmend (Diagnosen bei 30- bis gem Anstieg der Lebenserwartung. Problematisch
Check-up
Andere Veränderungen haben dagegen eindeutige Auswirkungen gerade auf den medizinischen Be-
4
reich. In Deutschland nimmt der Anteil der Einund Zweipersonenhaushalte kontinuierlich zu. Fa-
4
milien, in denen drei Generationen unter einem Dach leben, werden seltener. Aufgaben, die traditionell von der Familie übernommen wurden, wie die Versorgung bei Krankheit oder die Pflege alter Menschen, müssen anderweitig organisiert werden. Während früher in vielen Familien die Großeltern-
4
Wiederholen Sie die Phasen des demographischen Übergangs. Rekapitulieren Sie, was man unter natürlicher und künstlicher Bevölkerungsbewegung versteht. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, wie sich die Familienstruktur von der frühindustriellen zur gegenwärtigen Gesellschaft gewandelt hat.
generation von der nicht berufstätigen Mutter betreut wurde, existiert diese Konstellation aufgrund der häufigen Berufstätigkeit beider Ehepartner nur noch selten. Diese Veränderungen bewirken einen gesteigerten Bedarf an Krankenhausbetten, Pflegeund Altenheimen. Ein Resultat der veränderten Familienstruktur ist daher der Ausbau sozialstaat-
licher Leistungen wie zum Beispiel vermehrte Angebote zur Kinderbetreuung oder Altenpflege.
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs
4.10 Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs
einer unbekannten Person an ihrer Kleidung oder Sprache fest. Weiß man mehr über die Person, werden zudem Information über ihre Ausbildung (Schulabschluss), ihren Beruf oder ihre Besitzver-
Lerncoach
hältnisse (Auto, Wohnung, etc.) mit in die „soziale
Im folgenden Kapitel lernen Sie verschiedene Möglichkeiten der Einteilung einer Gesellschaft kennen. Machen Sie sich dabei die jeweilige theoretische Perspektive klar und überlegen Sie wie soziale Ungleichheiten erklärt werden. Die soziologischen Grundbegriffe müssen Sie einfach auswendig lernen, sie werden gern geprüft.
Analyse“ einbezogen.
Die sozialen Schichten und Klassen Die sozialen Schichten Die Grundidee des Konzepts sozialer Schichtung ist es, die Gesamtbevölkerung einer Gesellschaft in hierarchische Gruppen von Individuen einzuteilen, die sich jeweils in einer ähnlichen Lebenslage befinden. Die Lebenslage hängt wiederum mit Lebenschancen bezüglich Einkommen, Bildung, sozia-
4.10.1 Der Überblick
lem Einfluss und Prestige zusammen. Die soziale
Die soziale Schichtzugehörigkeit eines Menschen hat
Schicht wird definiert als interindividuelle Gemein-
großen Einfluss auf seine Lebensumstände. In diesem Kapitel wird zunächst dargestellt, was mit sozialer
samkeiten im Hinblick auf Lebensstandard, Chancen und Risiken, soziales Ansehen, Privilegien oder Diskriminierungen. Angehörige verschiedener sozialer Schichten besitzen einen hierarchisch höheren oder niedrigeren sozialen Status (vertikale Ungleichheit). Für das genaue Aussehen eines Schichtenmodells gibt es verschiedene Möglichkeiten (s. u.). Je nachdem, welche Statusmerkmale zur Bildung der Schichten herangezogen werden, kann man z. B. Einkommensschichten oder Ausbildungsschichten abbilden. Meistens wird eine Kombination verschiedener Kriterien bevorzugt (s. S. 185).
Ungleichheit gemeint ist. Zudem wird die Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland dargestellt und es werden schichtspezifische Verhaltensweisen aufgeführt. Die Bevölkerungsstruktur einer Gesellschaft steht im engen Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Verhältnissen, entsprechend verändert sich die deutsche Gesellschaft aufgrund wirtschaftlicher Entwicklungen. Zudem findet sich die soziale Ungleichheit auch im Gesundheitsbereich wieder: Bezüglich der gesundheitlichen Versorgung und Risiken zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten existieren Unterschiede, die man auf verschiedene Weise erklären kann.
Der Klassenbegriff bei Karl Marx Die Einteilung der Gesellschaft in Klassen stammt
4.10.2 Die soziale Differenzierung Der Begriff der sozialen Differenzierung beschreibt die Aufgliederung der Gesellschaft in verschiedene Klassen, Stände oder Schichten. Soziale Unterschiede gibt es in jeder Gesellschaft. Nach welchen Kriterien eine Gesellschaft allerdings eingeteilt wird, hängt von der theoretischen Perspektive ab (s. u.). Jede Art der Einteilung stellt dabei nur ein Modell dar, das auf bestimmten Annahmen über die Wichtigkeit einzelner Kriterien beruht (z. B. Einteilung der Gesellschaft nach Einkommen oder nach Besitzverhältnissen). Soziale Unterschiede sind aber nichts rein Theoretisches, sondern sie sind auch im Alltag offensichtlich. Beispielsweise macht man den sozialen Status
aus der Lehre von Karl Marx (1818–1883). Als Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Klasse verwendete er den Besitz oder Zugang zu Produktionsmitteln. Demnach steht die besitzlose Arbeiterklasse (das Proletariat) den Privatbesitzern (Bourgeoisie) gegenüber, die über die Produktionsmittel verfügen. Die Klassenzugehörigkeit bestimmt nach Marx das Bewusstsein des Menschen, aber auch seine Lebenschancen und Interessen. Im Gegensatz zum Schichtenkonzept, in dem die Aufgliederung der Gesellschaft in verschiedene Schichten nicht direkt in Frage gestellt wird, sind nach der marxistischen Auffassung die antagonistischen (gegensätzlichen) Klassen nur ein Zwischenstadium in der gesellschaftlichen Entwicklung.
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Der Klassenbegriff bei Max Weber Auch Max Weber (1864–1920) beschreibt soziale Ungleichheiten und verwendet dabei unter anderem den Begriff der Klasse. Allerdings beschreibt er die Unterschiede im Vergleich zur marxistischen Klassentheorie differenzierter. Der Klassenbegriff
183
Beachte Die Statuszuschreibung erfolgt bei Weber nach subjektiven Kriterien (Prestige und Lebensführung). Die Klassenzugehörigkeit wird dagegen durch objektive ökonomische Merkmale bestimmt.
bezieht sich bei ihm zwar auch auf wirtschaftliche Bedingungen, aber Klassenunterschiede werden
Die neue soziale Ungleichheit
nicht wie bei Marx allein am Besitz oder Nicht-Be-
In der Bundesrepublik Deutschland hat die Un-
sitz der Produktionsmittel festgemacht. Eine Klasse wird als eine Gruppe von Menschen definiert, die
gleichheit bei der Verteilung der Einkommen innerhalb der letzten zwanzig Jahre deutlich zugenom-
sich in der gleichen Klassenlage befinden. Die Klas-
men. Die Einkommensschere wird mit dem Begriff
senlage beschreibt die Chance des Einzelnen, aufgrund seiner Verfügungsgewalt über Güter und Qualifikationen unter gegebenen wirtschaftlichen Bedingungen Einkommen oder Einkünfte zu erzielen. Angehörige einer Klasse zeichnen sich also durch eine Ähnlichkeit der Eigentumsverhältnisse, aber auch der beruflichen Qualifikationen aus. Aufgrund der unterschiedlichen Fähigkeiten und Kenntnisse haben sie einen höheren oder niedrigeren „Arbeitsmarktwert“. Zudem unterscheidet Weber drei Arten von Klassen: Der Begriff der Besitzklasse wird verwendet, wenn die Lebenslage vom Profit aus dem Eigentum abhängt (z. B. Großgrundbesitzer). Als Erwerbsklasse wird eine Klasse bezeichnet, wenn ihre Lebenslage primär von ihren Chancen auf dem Markt abhängt (z. B. normaler Arbeitnehmer). Innerhalb der Besitz- und Erwerbsklassen gibt es eine weitere Einteilung: die sozialen Klassen. Diese stehen für die Gesamtheit ähnlicher Lebenslagen zwischen denen ein Wechsel für den Einzelnen möglich ist. Ein ähnlicher Begriff ist die von Lepsius (1979) eingeführte Versorgungsklasse. Er wird für die Klasse verwendet, deren Lebenslage von sozialstaatlicher Zuwendung (z. B. Sozialhilfe, Rente, Arbeitslosengeld) abhängt. Allerdings ist die Versorgungsklasse nicht vollkommen unabhängig von der Erwerbsklasse eines Menschen, da die Arbeitslosenhilfe oder die Rente mit dem früheren Gehalt zusammenhängen. Neben der Differenzierung des Klassenbegriffs führte Max Weber auch den Begriff des Standes (oder Status) ein. Status bezieht sich nach Weber auf die Unterschiede sozialer Gruppen hinsichtlich des Ansehens, das sie bei anderen genießen.
der Disparität bezeichnet. Während in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre die Ungleichheit aufgrund des soliden Wirtschaftswachstums sank, nahm die Einkommensdisparität in der ersten Hälfte der 90er-Jahre wieder zu. Nach dem Armutsbericht der Bundesregierung verfügten im Jahre 1998 nur 365.000 Personen (0,4 % der Bevölkerung) über rund 26 % des gesamten deutschen Vermögens. Das oberste Fünftel der Bevölkerung verfügt über fast die Hälfte des Nettovermögens (46 %). Demgegenüber steht das unterste Fünftel mit nur 3,1 %. Das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt in Deutschland bei 19.250 Euro. Als „arm“ werden Personen definiert, die über weniger als die Hälfte dieses Durchschnittseinkommens verfügen. Das sind in Deutschland ca. 10 %. Besonders schwierig ist die finanzielle Situation für Alleinerziehende. Aber auch Familien mit Kindern sind durchschnittlich finanziell schlechter gestellt als Haushalte ohne Kinder. Als soziale Rand-
gruppen gelten zudem Arbeitslose und Rentner, die im Vergleich zu ihrer Anzahl unverhältnismäßig wenig soziale und politische Beachtung finden. Allerdings haben sich unter anderem aufgrund des Bildungsbooms in den 70er-Jahren immer mehr so-
ziale Milieus herausgebildet, die sich nicht mit den verschiedenen horizontalen Schichten decken. Stattdessen gibt es innerhalb der einzelnen Schichten sehr unterschiedliche Lebensstile und Lebenslagen.
Beachte Neben der Ungleichheit zwischen verschiedenen Schichten gibt es eine zunehmende neue soziale Ungleichheit, die vertikal zu den Schichten verläuft.
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Unter „neuer sozialer Ungleichheit“ versteht man
Index aus Einkommen, Beruf und Ausbildung er-
die Ungleichheit zwischen Geschlechtern, zwischen Regionen und die Disparitäten zwischen ethnischen
mittelt (Abb. 4.10). An dem Modell wird sichtbar, dass die Abgrenzung
Gruppen. Allerdings handelt es sich bei diesen Dif-
der Schichten zueinander nicht scharf verläuft, son-
ferenzen nicht um neue Verhältnisse. Vielmehr ist
dern die Übergänge an den Rändern fließend sind.
die Sensibilität gegenüber sozialen Ungleichheiten
Die anteilsmäßig am stärksten besetzten Schichten
gewachsen. Ungleichheiten, die allein auf angebo-
sind die untere Mitte und die unterste Mitte bzw.
rene Merkmale zurückgehen, werden gesellschaft-
oberes Unten. Allein in diesen Bereichen befanden
lich weniger toleriert. Die Diskussion um die im
sich 1988 58 % der Bevölkerung. Fragt man in der
Grundgesetz festgeschriebene Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse hat durch die Ungleichheit zwi-
Bevölkerung nach den Merkmalen des mittleren Status, wird diese Mitte des Schichtmodells – also
schen Ost- und Westdeutschland eine weitere Be-
die Schicht, oberhalb und unterhalb der je 50 %
deutung bekommen.
der Bevölkerung liegen – stark überschätzt.
Die soziale Struktur der Bundesrepublik Deutschland
Das schichtspezifische Verhalten
Bolte hat 1988 ein zwiebelförmiges Schichtenmo-
benslagen verstanden werden (s. o.), stellt sich die
dell der Bundesrepublik Deutschland publiziert, in dem der Anteil der verschiedenen Statusgruppen
Frage, ob es neben den Statusmerkmalen, die zur Schichtenzuordnung verwendet werden, weitere
abzulesen ist. Der Status wurde anhand eines
Unterschiede zwischen Angehörigen verschiedener
Wenn soziale Schichten als unterschiedliche Le-
Bezeichnung der Statuszone
Anteil
Oberschicht
ca. 2%
obere Mitte
ca. 5 %
mittlere Mitte
ca. 14 %
untere Mitte
ca. 29
unterste Mitte/ oberes Unten
ca. 29
unten
ca. 17 %
58 %
sozialer Bodensatz ca. 4% Angehörige des sog.neuen Mittelstands Angehörige des sog.alten Mittelstands Angehörige der sog.Arbeiterschaft zeigt an, dass ein bestimmter gesellschaftlicher Status fixiert werden kann weisen darauf hin, dass nur eine Zone bezeichnet werden kann, innerhalb derer jemand etwa im Statusaufbau liegt mittlere Mitte nach den Vorstellungen der Bevölkerung Mitte nach der Verteilung der Bevölkerung. 50% liegen oberhalb bzw. unterhalb im Statusaufbau
Abb. 4.10
Schichtenmodell der Bundesrepublik Deutschland (ohne neue Bundesländer) (nach Bolte/Hradil)
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Schichten gibt. In der Soziologie werden verschie-
schen der Mittel- und Oberschicht auf der einen
dene Verhaltensbereiche genannt, in denen Schichtunterschiede auftreten. Dabei sind die fol-
und der Unterschicht auf der anderen Seite ausmachen:
genden Charakteristika der Ober-, Mittel- und Un-
Erziehungsziele : Während Eltern in der Unter-
terschicht nur als typische, nicht aber notwendiger-
schicht mehr Wert auf Gehorsam und Regelbe-
weise auf jeden zutreffende Beschreibung zu sehen.
folgung legen und Disziplin und Ordnung von
Oberschicht : Trotz der hohen beruflichen Positionen und Einkommen, die die Angehörigen der Oberschicht aufweisen, gibt es kaum hervorstechende Verhaltensweisen, die sich von denen der Mittelschicht abheben. Aufgrund ihrer günstigen ökonomischen und gesellschaftlichen Lage sind sie grundsätzlich auf eine Wahrung der Verhältnisse bedacht und somit politisch eher konservativ. Mittelschicht : Angehörige der Mittelschicht weisen meistens eine ausgeprägte Aufstiegsorientierung auf. Damit im Zusammenhang steht ein hohes Anspruchsniveau und eine starke Zukunftsorientierung. Das bedeutet, dass sie bereit sind, in der Gegenwart viel zu leisten um davon in der Zukunft zu profitieren. Passend in dieses Muster fügt sich auch der Belohnungsaufschub („Delay of Gratification“), d. h. die Fähigkeit das eigene Handeln an zukünftigen Belohnungen ausrichten zu können. Unterschicht : Aus der eher schwierigen ökonomischen Lage der Unterschicht soll eine Werthaltung resultieren, die eher „das Einfache und Natürliche“ schätzt. Zudem wird der Wert körperlicher Arbeit gegenüber der weniger greifbaren geistigen Arbeit betont. In der Unterschicht ist häufiger eine Gegenwartsorientierung zu finden. Statt für die Zukunft zu leben, liegt der Fokus im Hier und Jetzt. Diese Werthaltungen werden durch das Modellverhalten der Eltern auch den Kindern im Laufe des Sozialisationsprozesses vermittelt.
ihren Kindern fordern, wird in der Mittel- und
185
Oberschicht die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Kindes betont.
Erziehungsverhalten : Eltern verschiedener Schichten unterscheiden sich in ihrem Sanktionsverhalten. Sind Kinder ungezogen oder verstoßen gegen aufgestellte Regeln, reagieren Eltern der Unterschicht häufiger mit körperlicher Strafe. Dagegen neigen Eltern der Mittelund Oberschicht eher zur Anwendung psychologischer Sanktionen wie der Nicht-Beachtung des Kindes (Liebesentzug). Zudem hat sich gezeigt, dass Eltern in der Unterschicht häufiger Verhaltenskonsequenzen bestrafen (Kind hat eine Tasse heruntergeworfen und kaputt gemacht), während in der Mittel- und Oberschicht die Bestrafung eher an der Verhaltensabsicht ausgerichtet wird (Kind wollte die Tasse herunterwerfen, um die Mutter zu ärgern). Neben der Beschreibung der Unterschiede, versucht die Sozialisationsforschung auch deren Ursachen aufzudecken. Ein wichtiger Faktor scheint die Gestaltung des Arbeitsplatzes der Eltern zu sein.
Merke Der Grad an Autonomie und Komplexität am Arbeitsplatz wirkt sich auf das Erziehungsverhalten aus. Anscheinend geben Eltern, die am Arbeitsplatz selbst große Freiheiten haben, diese auch ihren Kindern zu Hause. Dagegen werden Kinder stärker reglementiert und kontrolliert, wenn auch die El-
Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und Sozialisation
tern geringen Spielraum beim Arbeiten haben.
Neben den Werthaltungen, die sich zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten unterschei-
Die Schichtindizes
den, hat sich die Sozialisationsforschung mit der
meinsamkeiten dokumentieren, nach denen sich soziale Gruppen in ihren Lebenslagen einteilen lassen. Es ist die Aufgabe der Soziologie, Merkmale zu finden, die besonders wichtig für die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht sind. Diese Merkmale
Frage beschäftigt, ob sich bezüglich der Erziehungsziele oder des Erziehungsverhaltens in den verschiedenen Schichten Differenzen ergeben. In folgenden Bereichen kann man Unterschiede zwi-
Schichtindizes sollen die Unterschiede und Ge-
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs müssen sich zwischen Angehörigen derselben
zusätzliche Gruppenbildung, da innerhalb der
Schicht ähneln und Unterschiede zu Angehörigen anderer Schichten aufweisen.
Gruppe der Nicht-Erwerbstätigen große Unterschiede bei den anderen Statusmerkmalen (Ein-
Als Kriterien für die Erfassung des Sozialstatus wer-
kommen, Ausbildung) bestehen können. Zudem
den je nach Fragestellung unterschiedliche Merk-
sind zwar die erfassten Statusmerkmale objektiv,
male herangezogen. Dazu gehören unter anderem
die Festlegung der Grenzen für die Einordnung in
Ausbildung bzw. höchster Schulabschluss, berufli-
unterschiedliche soziale Schichten geschieht dage-
che Stellung, Einkommen, Besitz und Wohngegend.
gen ohne zwingendes Kriterium. Wo zum Beispiel
Alle diese Kriterien stellen objektive Statusmerk-
soll die Grenze für das Oberschicht-Einkommen
male dar. Die Einteilung erfolgt jeweils anhand fester Kategorien. Beispielsweise unterscheidet man beim Schulabschluss zwischen Haupt- oder Volksschule, Realschule, Abitur und Hochschulabschluss.
gegenüber der oberen Mittelschicht liegen?
Die Statuskonsistenz und die Statusinkonsistenz Bei der Konstruktion von Statusindizes wurde bereits angesprochen, dass es Personen gibt, die je nach verwendetem Statusmerkmal einer unter-
Der multiple Schichtindex
schiedlichen sozialen Schicht zugeordnet werden.
Eine Person kann bei verschiedenen Statusmerkma-
Eine Heterogenität der sozialen Verortung wird
len eine unterschiedliche Einstufung bekommen. Beispielsweise würde ein promovierter Taxifahrer
als Statusinkonsistenz bezeichnet. Wird eine Person bei allen Statusmerkmalen gleich verortet,
aufgrund seines Bildungsabschlusses in die höchste
spricht man von Statuskonsistenz.
Kategorie, bezüglich seines Einkommens jedoch
Die Anzahl der inkonsistenten Personen hat inner-
wahrscheinlich sehr viel niedriger eingestuft. Des-
halb der letzten 25 Jahre stark zugenommen und
wegen hängt die Einteilung einer solchen inkonsis-
liegt inzwischen bei über 25 %. Ursachen für die
tenten Person (s. u.) allein von der Verwendung des
häufige Diskrepanz verschiedener Statusmerkmale
jeweiligen Statusmerkmals ab. Um solche Unstim-
liegen unter anderem in einer geringeren Kopplung
migkeiten zu vermeiden, wird meist ein multipler Schichtindex verwendet, bei dem mehrere objek-
von Ausbildungsstand und beruflicher Stellung bzw. Einkommen. Trotzdem ist die Homogenität
tive Statusmerkmale mit einbezogen werden.
der Statusmerkmale bzw. Lebenslagen immer noch der Normalfall.
Merke Beim multiplen Schichtindex werden mehrere objektive Statusmerkmale einbezogen.
Der zugeschriebene und der erworbene Status Die Statusmerkmale, die im Normalfall zur Berechnung der Schichtzugehörigkeit verwendet werden
Als aussagekräftigste Kombination hat sich die Verwendung von Ausbildungsstand, Einkommen und
(Ausbildung, Beruf, Einkommen), gehören alle zu den erworbenen Statusmerkmalen. Als erworbener
beruflicher Position herauskristallisiert. Der Index
Status wird der Status bezeichnet, den sich ein Mensch durch seine Leistung selbst erwirbt. Diese Merkmale zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch die Fähigkeiten und Bemühungen der einzelnen Person erreicht wurden. Im Gegensatz dazu steht der zugeschriebene Status. Der zugeschriebene Status wird einem Menschen aufgrund seiner Herkunft zugeschrieben. Zugeschriebene Statusmerkmale wie Geschlecht, Familienprestige oder ethnische Zugehörigkeit sind von der Person nicht zu beeinflussen. Sie wird in diese Merkmale „hineingeboren“.
wird gebildet, indem einer Person für alle drei Statusmerkmale ein Punktwert zugeordnet wird. Die Punkte werden dann zu einem Gesamtindex des Sozialstatus addiert. Ein Problem der Schichtindizes stellt die soziale Verortung (Einordnung) von Personen dar, die bei den verwendeten Kriterien keinen messbaren Wert aufweisen. Bei der Standardkombination von Ausbildung, Beruf und Einkommen fallen beispielsweise alle nicht erwerbstätigen Personen (Hausfrauen, Rentner, Arbeitslose) heraus. Dass man sie nicht zuordnen kann, rechtfertigt allerdings keine
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Merke Als erworbener Status wird der Status bezeichnet, den sich ein Mensch durch seine Leistung selbst erwirbt. Der zugeschriebene Status wird einem Menschen aufgrund seiner Herkunft zugeschrieben.
187
Ein Mann, der mit einem Hauptschulabschluss die Schule verlassen hat, sich nach einigen Jahren als Facharbeiter aber weiterbildet und an der Abendschule schließlich noch sein Abitur macht, wäre ein Beispiel für Intragenerationsmobilität. Ein weiteres Beispiel ist der studierte Apotheker, der nach mehreren Jahren im Beruf arbeitslos wird
Die soziale Mobilität
und schließlich als Laborant arbeitet. Verändert
Eine Gesellschaft hat keine starre Sozialstruktur.
sich dagegen die soziale Position der Kinder gegen-
Das Bild, das in einem Schichtenmodell gezeichnet wird, ist nur eine Art Momentaufnahme. Ebenso
über der der Eltern (z. B. Vater angestellter Bürokaufmann, Sohn selbstständiger Arzt) liegt ein Bei-
kennzeichnend wie die relative Verteilung der so-
spiel für Intergenerationsmobilität vor.
zialen Schichten ist die Dynamik zwischen ihnen.
Betrachtet
man
verschiedene
Erwerbsgruppen
bezüglich ihrer intergenerativen Mobilität, zeigen
Merke Der soziale Auf- und Abstieg innerhalb einer Gesellschaft wird als soziale Mobilität bezeichnet.
sich große Unterschiede. Beispielsweise ist der
Soziale Mobilität bezieht sich also auf die soziale
4.10.3 Die Veränderung der Erwerbsstruktur
Positionsveränderung des einzelnen Menschen. Sie
Ein wichtiger Einflussfaktor für den gesellschaft-
kann von weiter unten nach oben oder von weiter
lichen Wandel ist die wirtschaftliche Struktur.
oben nach unten verlaufen. Aufgrund ihrer Bewe-
Über die Veränderungen der Erwerbssektoren
gungsrichtung wird sie auch als vertikale Mobilität
wurde von Fourastié ein Modell entwickelt. Aus
bezeichnet. Die vertikale Mobilität ist ein wichtiger
ihm lassen sich Hypothesen bezüglich der Entwick-
Indikator für die Offenheit einer Gesellschaft. Offen steht dabei für die Möglichkeit einer sozialen Ver-
lung der wirtschaftlichen Struktur ableiten.
änderung, unabhängig von ihrer Richtung. Sie
Die Sektoren der Erwerbstätigkeit
zeigt auf, inwiefern es unter den gegebenen Rah-
Fourastié (1954) entwickelte ein Modell zur Eintei-
menbedingungen möglich ist, durch eigene Fähig-
lung der Wirtschaft. Er unterschied drei Sektoren:
keiten und Anstrengung seine soziale Position zu
primärer Wirtschaftssektor : Fischfang, Forstund Landwirtschaft sekundärer Wirtschaftssektor : Industrie tertiärer Wirtschaftssektor : Dienstleitung, Handel Fourasties Hypothese lautet, dass sich aufgrund des technischen Fortschritts die Zahl der im primären und sekundären Sektor Beschäftigten reduzieren wird. Dagegen wird der Anteil der Erwerbstätigen im tertiären Sektor ansteigen, da sich im Bereich der Dienstleitung und des Handels kaum Maschinen einsetzen lassen, die menschliche Arbeit ersetzen könnten. Wie der nächste Abschnitt zeigt, ist diese Entwicklung in Deutschland durchaus eingetreten.
beeinflussen. Während sich die mittelalterliche Ständegesellschaft durch eine extrem niedrige soziale Mobilität auszeichnete, ist die heutige Gesellschaft dagegen relativ durchlässig. Allerdings zeigt sich
in
Zeiten
ökonomischer
Rezession
ein
Rückgang der sozialen Mobilität. Zudem unterscheidet sich die Mobilität zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten. In der aufstiegsorientierten Mittelschicht ist sie im Vergleich zur Unterschicht deutlich höher. Man kann gesellschaftlichen Wandel aus unterschiedlichen Zeitperspektiven betrachten. Intrage-
nerationenmobilität
bezeichnet
den
Positions-
wechsel innerhalb derselben Generation. Interge-
Wechsel zwischen Facharbeitern und niedrigen Angestellten relativ hoch. Dagegen ist die Intergenerationenmobilität bei Selbstständigen eher gering.
nerationsmobilität steht für einen Positionswechsel innerhalb mehrerer Generationen.
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Die Modernisierung der Gesellschaft
Dienstleistungssektor Beschäftigten kontinuierlich
Mit dem Beginn der Industrialisierung hat sich in Deutschland eine Verschiebung der Erwerbstätig-
an. Der Begriff der Informationsgesellschaft betont den
keit vom landwirtschaftlichen zum industriellen
immens gestiegenen Wert von Wissen in der Ge-
Bereich vollzogen. Während zu Beginn des 19. Jahr-
sellschaft. Während in der industriellen Gesell-
hunderts noch der Großteil der Erwerbstätigen in
schaft die Haupt-Wertschöpfung durch die Produk-
der Land- und Viehwirtschaft beschäftigt war,
tion von Gütern erwirtschaftet wurde, beruht heut-
waren es um 1950 gerade noch 22 %. Dagegen
zutage ein großer Teil des wirtschaftlichen Umsat-
wurde durch die Zunahme industrieller Fertigung
zes auf dem Austausch von Informationen.
der Anteil der Arbeiter im Produktionsbereich immer größer. Die Maschinisierung und Automati-
Das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit
sierung machte sich auch in der Landwirtschaft bemerkbar: Dank neuer Techniken konnte derselbe Ertrag an landwirtschaftlichen Gütern mit viel geringerem Personalbedarf gedeckt werden. Diese Entwicklung, die auch als Modernisierungsprozess bezeichnet wird, ging mit weiteren einschneidenden gesellschaftlichen Veränderungen einher. Geprägt durch den wirtschaftlichen Bereich, setzte sich das Prinzip des zweckrationalen Handelns (der Begriff stammt von Max Weber) als Wertvorstellung durch. Es steht für die Haltung, jede Entscheidung nach möglichst objektiven rationalen Argumenten zu treffen, wobei der Zweck des Handelns jeweils im Vordergrund steht. Wo vorher aufgrund von verwandtschaftlichen Beziehungen oder einfach der Tradition Geschäfte gemacht wurden, sollten nun Zahlen und Daten entscheiden. Statt der Religion wurde zunehmend die Wissenschaft bei wichtigen Fragen konsultiert. Der Glaube an den technischen Fortschritt war nahezu unbegrenzt. Zudem wurde Arbeit und familiäres Leben stärker getrennt als in der vorindustriellen Agrargesellschaft. Die Arbeit selber war durch die zunehmende Automatisierung und Mechanisierung geprägt. Statt der Erstellung ganzer Produkte zeichneten sich die einzelnen Arbeitsplätze durch eine stärker werdende Spezialisierung und Arbeitsteilung aus.
Ein Problem der geschilderten Veränderung ist die steigende strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland. Strukturelle Arbeitslosigkeit bedeutet, dass das veränderte Angebot der Arbeitsplätze nicht den strukturell bedingten Qualifikationen der Erwerbstätigen entspricht. Viele Industriearbeiter, die vor zwanzig oder dreißig Jahren ausgebildet wurden, werden unter den veränderten Bedingungen einfach nicht mehr gebraucht. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen die Industriebetriebe mit immer weniger Beschäftigten immer mehr produzieren. Der Einsatz neuer Maschinen und Verfahren macht dies möglich. Ansonsten muss die Produktion in Länder ausgelagert werden, die den Faktor „Arbeitskraft“ günstiger anbieten können. Gleichzeitig gibt es im Dienstleistungsbereich durchaus freie Stellen, da das Arbeitsplatzangebot seit 1990 ständig steigt. Allerdings werden meistens hochqualifizierte junge Arbeitskräfte gesucht, sodass eine „Verschiebung“ der Erwerbsfähigen nicht möglich ist.
Die Differenzierung der Gesellschaft Ein wichtiger sozialer Prozess, der zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen hat, ist die Individualisierung. Bedingt durch die Anforderungen des Arbeitsmarktes nehmen die traditionellen Bindungen an die Familie oder eine Re-
Von der Industrie- zur Informationsgesellschaft
gion ab. Die Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüche
Innerhalb der letzten 50 Jahre hat sich in Deutsch-
lassen sich nicht mit traditionellen Bindungen in Einklang bringen. Ein- und Zweipersonenhaushalte
land eine weitere wirtschaftliche Veränderung voll-
kommen immer häufiger vor. Nach Beck (1983,
zogen: Der Anteil der in der Industrie beschäftigten
1986), einem wichtigen Vertreter der Individuali-
Erwerbstätigen nimmt kontinuierlich ab. Allein im
sierungstheorie, bedeutet Individualisierung aber
Zeitraum von 1991 bis 1999 ist er von 27 % auf
auch eine verstärkte Akzentuierung des eigenen Le-
23 % gesunken. Dagegen steigt der Anteil der im
bensstils. Aufgrund des höheren Wohlstands ist
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs eine stärkere Differenzierung auch im Konsumverhalten möglich. Viele können sich ihr Leben zumindest materiell nach eigenen Vorstellungen gestalten. Die Teilnahme am höheren Bildungssystem führt zudem zu einer Schwächung traditioneller Normen. Man begreift sich weniger als Teil einer gesellschaftlichen Gruppe (früher z. B. als Angehöriger des Arbeitermilieus), deren Lebensformen und Wertvorstellungen man sich anpasst, sondern entwickelt ein stärker individualisiertes Wertesystem.
4.10.4 Der Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit Die soziale Ungleichheit im Gesundheitsbereich ist laut verschiedener Studien eklatant. Die wichtigste Frage ist, wie es zu diesen Unterschieden kommt. Prägen Sie sich daher die Erklärungsansätze gut ein. Bereits zu Beginn des Kapitels wurden typische Werthaltungen und Verhaltensweisen der verschiedenen Gesellschaftsschichten beschrieben. Die dort aufgeführten Unterschiede sind zwar interessant
189
Lebenserwartung bei jeder darunter liegenden Schicht weiter reduziert. Dieses Muster lässt sich in allen bisher untersuchten europäischen Ländern und den USA wiederfinden. Die absolute Differenz zwischen Ober- und Unterschicht beträgt je nach Land, Altersgruppe und Geschlecht zwischen 3 und 10 Jahren. Sie ist bei Männern im mittleren Erwachsenenalter im Schnitt am größten. Es ist besonders bedenklich, dass sich der soziale Gradient in den 90er-Jahren sogar weiter vergrößert hat. Epidemiologische Studien aus Großbritannien, Finnland und Schweden zeigen, dass die altersspezifische Mortalitätsziffer der unteren im Vergleich zur oberen Sozialschicht in den 70er-Jahren um das 1,8fache erhöht war. In den 90er-Jahren betrug sie dagegen das 2,8fache. Diese Ergebnisse sind auch deswegen besonders bedenklich, weil gerade die skandinavischen Staaten für ihr gesamtgesellschaftliches Wohlfahrtsmodell bekannt sind. Diese Ergebnisse stehen im Gegensatz zur Annahme, dass die Bevölkerung im Großen und Ganzen eine homogene Gesundheitsversorgung erhält und lediglich eine kleine Gruppe extrem sozial Benachteiligter herausfallen würde.
und beispielsweise für den Umgang mit Patienten mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund durchaus hilfreich, viel wichtiger ist allerdings die Frage
Die Unterschiede zwischen Ländern
nach schichtspezifischen Unterschieden im Ge-
tung zwischen Entwicklungsländern und industrialisierten Staaten werden zum großen Teil durch die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern erklärt. Aber auch zwischen West- und Osteuropa gibt es deutliche Unterschiede. Die Lebenserwartung für 15-jährige Jungen liegt in Osteuropa im Schnitt zehn Jahre unter der für gleichaltrige westeuropäische Jungen; bei Mädchen beträgt diese Differenz ca. sechs Jahre. Diese Unterschiede werden unter anderem auf die stärkere Exzesssterblichkeit osteuropäischer Männer im mittleren Lebensalter zurückgeführt. Exzesssterblichkeit bedeutet, dass die Todesursachen (HerzKreislauf-Sterblichkeit, Lungenkrebssterblichkeit, tödliche Unfälle) mit einen übersteigerten Genuss von Alkohol, Zigaretten oder riskanten Lebensumständen in Verbindung stehen. Interessant an dieser Erklärung ist, dass es sich nicht um eine Versorgungslücke, sondern um eine verhaltensbedingte Erklärung handelt.
sundheitsbereich. Große epidemiologische Studien haben in den letzten Jahren Aufsehen erregende Ergebnisse geliefert, die eine starke soziale Ungleichheit bezüglich der Mortalität (Sterblichkeit) und
Morbidität (Krankheitsrate) aufzeigen. Diese Ungleichheit besteht einerseits zwischen unterschiedlich entwickelten Gesellschaften, andererseits aber auch innerhalb der einzelnen hoch entwickelten Staaten.
Merke In Deutschland durchzieht die soziale Ungleichheit von Gesundheit die gesamte Sozialstruktur der Gesellschaft. Das Merkmal „Gesundheit“ weist also einen sozialen Gradienten auf. Konkret bedeutet das, dass ein 30-jähriger Angehöriger der Oberschicht beispielsweise eine höhere Lebenserwartung hat als ein 30-Jähriger der oberen
Die gravierenden Unterschiede in der Lebenserwar-
Mittelschicht und dass sich die durchschnittliche
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Die Unterschiede innerhalb der Gesellschaft
menhang äußerst komplex ist und durch viele ver-
Die Studienergebnisse, die im folgenden Abschnitt erwähnt werden, stammen aus repräsentativen Un-
schiedene Faktoren beeinflusst wird. In den folgenden Abschnitten werden einige wichtige Erklä-
tersuchungen, die in verschiedenen westeuropä-
rungsansätze vorgestellt.
ischen Staaten in den letzten fünf Jahren durchist dabei auch in Deutschland bearbeitet worden.
Die Unterschiede in der Inanspruchnahme und Versorgungsqualität des Gesundheitssystems
Die vorhandenen deutschen Daten zeigen aller-
Der Grundgedanke ist, dass Angehörige unterer so-
dings eine große Übereinstimmung mit der sons-
zialer Schichten die Angebote des Gesundheitssys-
tigen westeuropäischen Lage, sodass es zulässig erscheint, die Ergebnisse auch auf die deutsche
tems einerseits weniger nutzen, andererseits werden sie, wenn sie diese nutzen, qualitativ schlech-
Bevölkerung zu übertragen.
ter behandelt. Die erste Hypothese kann durch Stu-
geführt wurden. Nicht jede einzelne Fragestellung
dien, die die Inanspruchnahme von Präventions-
Bei welchen Todesursachen und Krankheiten gibt es soziale Ungleichheit?
gleichen, unterstützt werden. Angehörige unterer
Ein sozialer Gradient von Morbidität und Mortalität
sozialer Schichten nehmen seltener an Vorsorgeun-
ist für eine Vielzahl chronischer Erkrankungen
tersuchungen teil. Zudem hat sich in Studien zur Symptomaufmerksamkeit gezeigt, dass in den unteren Schichten eine höhere Toleranz für Krankheitssymptome besteht. In solchen Studien wird in repräsentativen Stichproben danach gefragt, was man beim Auftreten einer bestimmten Symptomatik (z. B. Rückenschmerzen) tun würde. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Angehörige höherer sozialer Schichten eher professionelle Hilfe aufsuchen, während in unteren sozialen Schichten damit länger gewartet wird bzw. nur bei wirklich schwerer Symptomatik ein Arzt aufgesucht wird. Ein weiterer stützender Befund für Unterschiede in der Versorgung liegt im häufigeren Auftreten von Non-Compliance (die ärztlichen Ratschläge werden nicht befolgt) bei Patienten aus der Unterschicht.
nachgewiesen. Am ausführlichsten untersucht ist die soziale Ungleichheit bei der koronaren Herzerkrankung. Dieses Krankheitsbild galt lange Zeit als Krankheit einer sozial besser gestellten Gruppe (vgl. S. 145). Tatsächlich hat es aber in den letzten Jahrzehnten eine Veränderung in der schichtspezifischen Prävalenz und Inzidenz gegeben. Heute ist die altersstandardisierte Mortalitätsrate bei Mitgliedern der Unterschicht im Vergleich zur Oberschicht um das Zwei- bis Dreifache höher. Weitere Krankheitsbilder und Todesursachen, die einen sozialen Gradienten aufweisen sind Schlaganfall, Herzinsuffizienz, Bronchialkarzinom, aber auch Diabetes mellitus und Asthma bronchiale. Auch bei einigen psychischen Störungen wie Schizophrenie und Depression ist die Prävalenz in den unteren Schichten höher. Zudem weist die Anzahl tödlich verlaufender Unfälle und der Immunschwäche-
untersuchungen zwischen sozialen Schichten ver-
krankheit AIDS einen sozialen Gradienten auf.
Die schichtspezifischen Unterschiede genetischer Ausstattung bzw. frühkindlicher Entwicklung
Aus dieser Vielzahl verschiedener Erkrankungen
Dieser Erklärungsansatz geht davon aus, dass be-
und Todesursachen ergibt sich eine deutliche Diffe-
reits die genetischen Grundlagen schichtspezifische
renz der schichtspezifischen Gesamtmortalität mit
Unterschiede aufweisen, wobei die genetische Basis
der größten Kluft zwischen Unter- und Oberschicht
der Unterschicht als weniger günstig angesehen
im mittleren Erwachsenenalter.
wird. Dafür gibt es keine direkten Belege. Aller-
Wie lässt sich die gesundheitliche soziale Ungleichheit erklären?
dings zeigen Studien zum Verhalten der Mütter während der Schwangerschaft, dass Mütter aus unteren sozialen Schichten die Entwicklung ihres Kin-
Eindeutige Erklärungen für den Zusammenhang
des häufiger durch den Konsum von Zigaretten
zwischen Mortalitäts- und Morbiditätsraten und
oder Alkohol oder durch eine falsche Ernährung ge-
der sozialen Schichtzugehörigkeit existieren (noch)
fährden. Je nach Entwicklungsstadium des Kindes
nicht. Es ist wahrscheinlich, dass dieser Zusam-
können bleibende Schäden entstehen (vgl. S. 150).
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs Auch während der frühen Kindheit sind Kinder
Eine weitere Erklärung für die Verhaltensunter-
unterer sozialer Schichten im Schnitt größeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt, die wiederum die
schiede könnte im schichtabhängigen Wissen über die gesundheitsschädigende Wirkung be-
Anfälligkeit für weitere Krankheiten begünstigen
stimmter Verhaltensweisen liegen. Die oberen so-
können.
zialen Schichten verfügen über besseren Zugang
191
zu gesundheitsrelevanten Informationen. Aufgrund
Das gesundheitsschädigende Verhalten
ihrer höheren Bildung sind sie eher in der Lage,
Einer der dominanten Einflussfaktoren auf die Mor-
auch komplizierte Zusammenhänge zu verstehen
biditäts- und Mortalitätsraten der verschiedenen
und die Erkenntnisse auf ihr Verhalten zu übertra-
Gesellschaftsschichten ist das Ausmaß an gesundheitsschädigenden Verhaltensweisen. Die Belege
gen. Allerdings hat sich die Verbreitung von Informationen zu Risikofaktoren in den letzten Jahr-
für einen Zusammenhang zwischen dem Konsum
zehnten deutlich erhöht (z. B. Fernsehspots und
von Alkohol, Zigaretten und fettreicher Ernährung
Plakate bei AIDS-Kampagnen). Aus diesem Grund
mit der sozialen Schichtzugehörigkeit wurden in
erscheint es wahrscheinlicher, dass es nicht so
zahlreichen Studien repliziert. Besonders beunruhi-
sehr die Zugänglichkeit, sondern eher das Interesse
gend ist der Zusammenhang beim Zigarettenrau-
und die Wertschätzung der Gesundheitsinformatio-
chen, das den bevölkerungsmedizinisch bedeut-
nen sind, die bei den sozialen Schichten unter-
samsten Risikofaktor für vermeidbare chronische Erkrankungen darstellt. Aber auch mangelnde Ge-
schiedlich ausgeprägt sind.
wichtskontrolle und Bewegungsarmut sowie fett-
Die psychosozialen Belastungsbedingungen im Erwachsenenalter
reiche und vitaminarme Ernährung tragen zur schichtspezifischen Exzessmorbidität und -mortalität wesentlich bei. Unterschiede im gesundheitbewussten bzw. -schädigenden Verhalten kann man zumindest zum Teil auf ein anderes Verständnis des eigenen Körpers und der Wertschätzung von Gesundheit an sich
Um die Wirkung von sozialer und beruflicher Belastung auf die Gesundheit zu verstehen, können Sie eventuell noch einmal im Kapitel „Stress“ (s. S. 18) nachschlagen.
zurückführen.
Eine weitere Hypothese besagt, dass die unter-
Ein instrumentelles Verständnis zeichnet sich da-
schiedliche Mortalität und Morbidität zwischen
durch aus, dass der Körper unter rein funktionellen
gesellschaftlichen Schichten durch eine vermehrte
Gesichtspunkten gesehen wird. Solange man seine
psychosoziale Belastung in den unteren Schichten
Arbeit ausführen kann und nicht durch Schmerzen
erklärt werden kann. Auch für diese Annahme
daran gehindert wird, gibt es keinen Anlass, sich
gibt es zahlreiche Belege. Als psychosoziale Belas-
um das Wohlergehen des Körpers zu kümmern. Eine solche Einstellung steht im deutlichen Wider-
tungsfaktoren haben sich einerseits die Arbeitsbedingungen, andererseits die persönliche Lebensf-
spruch zu einem modernen präventiven Ansatz in
ührung erwiesen. In beiden Bereichen gibt es deut-
der Medizin. Dagegen trägt eine hohe Wertschät-
liche schichtspezifische Unterschiede. Aus umfang-
zung der Gesundheit eindeutig zu einer bewussteren Lebensweise bezüglich Ernährung und Bewegung bei.
reichen Forschungsaktivitäten hat sich eine Sammlung von Risikofaktoren ergeben, die mit erhöhter Morbidität und Mortalität im Zusammenhang stehen.
Beachte Während in unteren sozialen Schichten ein instrumentelles Verständnis des Körpers vorherrscht, wird in höheren Schichten die Gesundheit als Wert an sich verstanden.
Erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko: In einer finnischen Studie zeigte sich bei Beschäftigten, die innerhalb der letzten zwei Jahre Arbeitslosigkeit erlebt hatten im Vergleich zu stabil Beschäftigten ein um ca. 50 % erhöhtes Mortalitätsrisiko. Allein die Gefährdung des Arbeitsplatzes wirkt sich schon negativ auf den Gesundheitszustand aus (insbesondere erhöh-
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4 Theoretische Grundlagen Die sozialstrukturellen Determinanten des Lebenslaufs tes Risiko für Herzkrankheit). Neben dem Verlust des Arbeitsplatzes zeigen Studien, dass auch die Bedrohung des Status (z. B. im Sinne eines beruflichen
4.10.5 Klinische Bezüge Belastungsfaktoren bei der Arbeit Eine medizinische Konsequenz unserer verän-
Abstiegs) sich negativ auf die Gesundheit auswirkt.
derten Arbeits- und Lebensbedingungen ist die Zu-
Einkommensverminderungen: Die Unsicherheit eines schwankenden Einkommens wirkt sich, besonders bei bedeutsamen Einschnitten, negativ auf den Gesundheitszustand aus. Merkmale des Arbeitsplatzes: Arbeitsbedingungen, die sich durch einen geringen Kontrollspielraum, hohe Eintönigkeit und häufig hohe quantitative Arbeitsanforderungen auszeichnen, stellen eine besondere Belastung dar. Ein Prototyp solcher Arbeitsbedingungen ist der Arbeitsplatz am Fließband, bei dem das Tempo nicht selbst bestimmt werden kann und zudem die Entlohnung häufig nach Anzahl der bearbeiteten Stücke (Akkordlohn) erfolgt. Die genaue Wirkweise wird anhand des Anforderung-Kontroll-Modells erklärt (s. S. 169). Berufliche Gratifikationskrisen: Ein Ungleichgewicht zwischen hoher beruflicher Verausgabung und geringer Belohnung führt zum Erleben von Stress und wirkt sich negativ auf die Immunabwehr aus. Geringe Einbindung in soziale Netzwerke: Neben Belastungen am Arbeitsplatz und materiellen Konsequenzen von Arbeitslosigkeit hat sich die mangelnde Eingebundenheit in ein soziales Netzwerk als Risikofaktor gezeigt. Die Wirkweise ist im Gegensatz zu den anderen Risikofaktoren eine indirekte. Ein vorhandener sozialer Rückhalt, stellt eine Art Puffer gegenüber Belastungsfaktoren dar. Fehlt dieser emotionale Rückhalt wirken sich andere Risikofaktoren sozusagen ungedämpft auf die psychische und physische Gesundheit aus. Die geschilderten Erklärungsansätze haben gesundheitspolitisch einen wichtigen Stellenwert, da aus ihnen Interventionsansätze zur Behebung der sozialen Ungleichheit im Gesundheitsbereich abgeleitet werden. Aus den Studien kann man ableiten, dass ein großer Bedarf an verhaltensbezogenen Maßnahmen besteht, die für ein besseres Verständnis von gesundheitsbewusstem gegenüber riskantem Verhalten sorgen sollen. Zudem lassen sich wichtige Ansatzpunkte für eine gesundheitsverträgliche Gestaltung von Arbeitsplätzen ableiten.
nahme
von
Rückenproblemen.
Büroarbeit
bei
gleichzeitigem Bewegungsmangel führt zu einer Häufung von Patienten mit diffusen Rückenschmerzen. Zudem ist ein Anstieg psychosomatischer Erkrankungen zu verzeichnen, die auch zum Teil auf die Arbeitsbelastungen zurückgeführt werden können. Unsicherheit über den Arbeitsplatz, weil Kündigungen bevorstehen, lange Arbeitszeiten und hoher Erfolgsdruck verschärfen den psychischen Stress, der sich häufig in Form somatischer Beschwerden (z. B. Magenprobleme, Schlafstörungen, Kopfschmerzen) äußert. Diese Beispiele illustrieren, wie wichtig es ist, dass der Arzt die Lebens- und Arbeitssituation seines Patienten erfragt, um die jeweilige Symptomatik besser zu verstehen.
Check-up 4 4
4
Wiederholen Sie, was man unter sozialer Mobilität versteht. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, wie sich die Veränderung der Erwerbstätigkeit auf die Gesellschaft auswirkt. Machen Sie sich auch den Zusammenhang zwischen sozialem Status und Gesundheit noch einmal klar.
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Kapitel
5
Arzt-Patient-Beziehung 5.1
Die Professionalisierung des Arztberufes 195
5.2
Die Arztrolle 197
5.3
Die Krankenrolle 199
5.4
Die Kommunikation und die Interaktion 202
5.5
Die Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation 209
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194
Klinischer Fall
Unglück im Unglück
Multiple echoarme Lebermetastasen (M) im Ultraschall.
Sobald man den weißen Kittel anzieht, schlüpft man in eine neue Rolle: Die des Famulanten, die des PJ-Studenten und später die des Arztes. Keine leichte Aufgabe: Die Patienten erwarten Kompetenz, Einfühlungsvermögen und eine gute Beratung. Dem gerecht zu werden ist nicht immer leicht. Einem Kranken mitzuteilen, dass er an einer schweren Krankheit leidet oder bald sterben muss, gehört sicher zu den schwierigsten Aufgaben des Arztberufs. Eine Aufgabe, vor der sich manche Ärzte gerne drücken, wie Marlene und Helmut R. feststellen. Glück im Unglück? „Da haben Sie aber Glück im Unglück gehabt“, sagt der Sanitäter, als er Marlene und Helmut R. aus dem Auto befreit hat. Ein Wunder, dass das Rentnerpaar bei dieser Massenkarambolage im Novembernebel mit ein paar Kratzern davongekommen ist. Trotzdem werden die beiden ins Krankenhaus gebracht. Ein paar kleinere Wunden müssen versorgt werden. Außerdem werden beide auf innere Verletzungen untersucht: Der Thorax wird geröntgt und der Bauchraum mit Ultraschall untersucht. „Alles in Ordnung“, bescheinigt die untersuchende Ärztin. Dennoch empfehlen die Ärzte, die Nacht im Krankenhaus zu verbringen. Am nächsten Morgen kommt ein Oberarzt zu Marlene R. ins Zimmer. „Wir können Sie leider noch nicht entlassen“, sagt er. „Wir müssen noch einige Untersuchungen durchführen.“ Marlene R. wundert sich. Der Arzt versichert, dass dies nur eine Vorsichtsmaßnahme sei. Doch sein Gesicht spricht eine andere Sprache. Marlene R.
spürt, dass es sich um etwas Ernstes handelt – obwohl der Arzt das mit keinem Wort erwähnt. Paradoxe Kommunikation Marlene R. ist Opfer einer paradoxen Kommunikation geworden. Auf der Inhaltsebene hat ihr der Arzt gesagt, dass alles in Ordnung ist. Aber seine Mimik hat eine andere Sprache gesprochen: Bei der Ultraschalluntersuchung am Vorabend waren in der Leber Metastasen gefunden worden – von einem bisher nicht bekannten Tumor. Doch unmittelbar nach dem Unfall will man Frau R. nicht mit dieser Diagnose belasten. Erst drei Tage später klärt der Oberarzt die Patientin auf. Marlene und Helmut R. sind entsetzt – und zugleicht empört, dass man ihnen diese Information so lange vorenthalten hat. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin ist zerstört. Marlene R. lässt sich zur Weiterbehandlung in ein anderes Krankenhaus verlegen. Operation mit Information In der neuen Klinik nehmen sich die Ärzte Zeit, mit Marlene R. über ihre Krebserkrankung zu sprechen. Durch eine Darmspiegelung wird klar, dass Marlene R. an einem Kolonkarzinom, also einem bösartigen Tumor des Dickdarms, erkrankt ist. Bis auf die Lebermetastasen werden keine weiteren Metastasen gefunden. Daher wollen die Ärzte das Kolonkarzinom entfernen. Sie klären Marlene R. über die Operation und ihre Risiken auf. Marlene und Helmut R. stellen viele Fragen und geben schließlich ihre Einwilligung zur Operation, ihren „informed consent“. Als Marlene R. aus der Narkose erwacht ist, erklärt ihr die Oberärztin auf einfühlsame Weise, dass man im Bauchraum zahlreiche Metastasen gefunden habe. Man habe den Tumor nicht entfernen können, sondern nur einen Anus praeter, einen künstlichen Darmausgang, angelegt: Darüber ist auch dann Stuhlgang möglich, wenn der Tumor weiter wächst und eines Tages das Darmlumen verlegt. Eine Chemotherapie oder Bestrahlung könnten möglicherweise die Lebensqualität verbessern. Marlene R. begreift, dass es keine Hoffnung gibt, den Tumor zu besiegen. Sie bespricht mit den Ärzten, wie die weitere Behandlung aussehen soll. Bis zu ihrem Tod ein halbes Jahr später verbringt sie viel Zeit zu Hause, wo sie durch einen mobilen Pflegedienst betreut wird.
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Professionalisierung des Arztberufes
5
Arzt-Patient-Beziehung
5.1 Die Professionalisierung des Arztberufes Lerncoach Im folgenden Kapitel lernen Sie die wichtigsten Merkmale der Professionalisierung des Arztberufes kennen. Sie müssen diese Merkmale nicht auswendig wissen; dennoch ist es für Sie als angehenden Mediziner wichtig zu verstehen, was zur Professionalisierung dieses Berufes beiträgt.
5.1.1 Der Überblick Die Professionalisierung einer Berufsgruppe beinhaltet u. a. die Erlangung von Expertenwissen, die berufliche Autonomie, den Zusammenschluss zu beruflichen Interessenvertretungen und ein monopolartiges Leistungsangebot. Beim Arztberuf sind diese Merkmale erfüllt: der Zulassung als Arzt/Ärz-
195
Unter dem Begriff monopolartiges Leistungsange-
bot versteht man die Ausbreitung eines staatlich geschützten Dienstleistungsmarktes. Ein Beispiel ist das Behandlungsmonopol der Ärzte. Die Monopolposition gerät jedoch in den letzten Jahren durch die steigenden Wettbewerbsbedingungen, zum Beispiel durch die Privatisierung von Krankenhäusern, und durch die Konkurrenz mit anderen Dienstleistungen im Gesundheitssektor vermehrt ins Wanken. So wird beispielsweise das Behandlungsangebot im Bereich der Psychotherapie durch die durch das Psychotherapeutengesetz gleichgestellten Psychologen ergänzt.
Merke Das Aufweichen von Charakteristika, die eine Profession kennzeichnen, wie auch z. B. die stärkere Einschränkung der beruflichen Autonomie durch gesetzliche Vorgaben (z. B. die Stärkung der Patientenrechte), wird als Tendenz zur Entprofessionalisierung bezeichnet.
tin geht eine langjährige Ausbildung voraus, fachliche Entscheidungen werden eigenverantwortlich
Die bisher genannten Merkmale galten allgemein
getroffen, die Ärzteschaft hat weitgehend ein Mo-
für eine Profession. Sie werden durch spezifische
nopol auf ihre ärztlichen Leistungen und wird von
Bestandteile der Professionalisierung des Arztberu-
berufspolitischen Organisationen repräsentiert. Die ärztliche Berufsethik hat ihren Ursprung im
fes ergänzt.
Hippokratischen Eid und ist ein weiteres Charakte-
5.1.3 Die Merkmale der Professionalisierung des Arztberufes Die Berufsbezeichnung und die Ausbildung
ristikum des Arztberufes.
5.1.2 Die Profession Zu den soziologischen Merkmalen einer Berufsgruppe, die als „Profession“ bezeichnet wird, zählen folgende Punkte: Das Expertenwissen : Eine Berufsgruppe gewinnt wissenschaftliche Erkenntnisse, sammelt Erfahrungswissen und häuft so berufsspezifisches Expertenwissen an. Durch die Ausbildung Anderer sichert sie dieses Wissen auch für die Zukunft. Die berufliche Autonomie : Eine Profession bestimmt selbst, was wissenschaftlich akzeptable Praktiken der Berufsausübung sind. Die kollegiale Eigenkontrolle : Eine Profession
Arzt und Ärztin sind geschützte Berufsbezeichnungen, die Personen tragen dürfen, die die staatliche Zulassung zur Ausübung des Arztberufes entsprechend der Bundesärzteordnung (BÄO) und der Approbationsordnung für Ärzte (AppOÄ) erhalten haben. Die BÄO ist die Berufsordnung, die AppOÄ ist die Ausbildungsordnung für Ärzte. Der Zulassung geht eine genormte langjährige Ausbildung bestehend aus einem Hochschulstudium einschließlich dem praktischen Jahr und eine 18-monatige Phase als Arzt im Praktikum voraus.
kontrolliert den Inhalt ihrer eigenen Arbeit.
Der Zusammenschluss zu einer berufspolitischen Organisation
Hierunter fällt zum Beispiel die Eigenkontrolle
Die Ärztekammer
ärztlicher Tätigkeiten durch ärztliche Berufs-
Jeder Arzt gehört einer Berufsorganisation an, der
gerichte, die Verstöße gegen die Berufsordnung
Ärztekammer. Eine Ärztekammer gibt es in jedem
ahnden.
Bundesland (NRW hat sogar zwei). Die Ärztekam-
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Professionalisierung des Arztberufes mern der Länder sind auf Bundesebene in der Bundesärztekammer zusammengeschlossen. Zu ihren Aufgaben zählen: die Überwachung der ärztlichen Berufspflichten das politische Mitwirken im Gesundheitswesen das Vertreten der Berufsinteressen der Ärzte die Festlegung geregelter Normen für die Berufsausübung. Die Regelungen für die Berufsausübung betreffen zum Beispiel die Fort- und Weiterbildung, die Schweigepflicht und die Aufklärungspflicht und sind in der Berufsordnung für Ärzte (Bundesärzteordnung BÄO) und in den Berufsordnungen für Ärzte der Landesärztekammern festgehalten.
Beachte § 1 der Bundesärzteordnung betont den Arztberuf als Dienstleistungsberuf: „Der Arzt dient der Gesundheit des Einzelnen und des gesamten Volkes.“ Die kassenärztliche Vereinigung Kassenärztlich tätige Ärzte gehören neben der Ärztekammer in der Regel zudem der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) an. Ihr Zusammenschluss auf Bundesebene ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV). Zu ihren Aufgaben zählen: der Abschluss von Verträgen mit den Krankenkassen die Sicherstellung der ambulanten medizinischen Versorgung der Sozialversicherten die Verteilung der Gesamtvergütung unter die Kassenärzte die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung. Zur kassenärztlichen Versorgung gehören zum Beispiel Psychotherapie, medizinische Leistungen zur Rehabilitation und Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Sowohl die Ärztekammer als auch die Kassenärztliche Vereinigung unterliegen als Körperschaften des öffentlichen Rechts der staatlichen Aufsicht.
geht. In einigen Punkten, wie zum Beispiel der Wiederherstellung der Gesundheit und die Schweigepflicht, besitzt sie noch immer Gültigkeit. Andere Punkte werden vom gegenwärtigen „Standpunkt der Ethik“ aus anders betrachtet. Wir kommen später noch auf einige problematische Situationen zurück. Zur Illustration ein Auszug aus dem Hippokratischen Eid : „Ich schwöre, Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen anrufend, dass ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde: [...] Meine Verordnung werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken, nach bestem Vermögen und Urteil; ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Auch werde ich den Blasenstein nicht operieren, sondern es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist. Welche Häuser ich betreten werde, ich will zu Nutz und Frommen der Kranken eintreten, mich enthalten jedes willkürlichen Unrechtes und jeder anderen Schädigung, auch aller Werke der Wollust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was ich bei der Behandlung sehe oder höre oder auch außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen, werde ich, soweit man es nicht ausplaudern darf, verschweigen und solches als ein Geheimnis betrachten. Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht verletze, möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg zuteil werden und Ruhm bei allen Menschen bis in ewige Zeiten; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, das Gegenteil.“
Die Spezialisierung Die ärztliche Berufsethik
Auch die funktionale Differenzierung ärztlicher
Der Arztberuf kennzeichnet sich durch eine Berufs-
Tätigkeitsfelder ist ein Merkmal der Professiona-
ethik, deren Grundzüge auf den Hippokratischen
lisierung. Nach einer gemeinsamen Ausbildung für
Eid – einer Schwurformel von Hippokrates, dem Begründer der wissenschaftlichen Medizin – zurück-
alle Ärzte besteht die Möglichkeit zur Spezialisierung in den unterschiedlichsten Bereichen. Der
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Arztrolle Arzt kann sich in einer Reihe von Gebieten (z. B. Au-
liert sind. Allerdings bringt der Arztberuf unweiger-
genheilkunde, Psychotherapie und Psychiatrie, Chirurgie) und Schwerpunkten (z. B. Gefäßchirurgie,
lich auch ethische Entscheidungskonflikte mit sich, wie z. B. bei einem gewünschten Schwangerschafts-
Unfallchirurgie) zur Erlangung des Rechts zum Füh-
abbruch, der diesem Gelöbnis widerspricht. Psy-
ren einer Facharztbezeichnung oder Schwerpunkt-
chische Belastungen des Arztberufes äußern sich
bezeichnung weiterbilden.
z. B. durch Rollenkonflikte oder Burn-out-Syndrom.
5.1.4 Klinische Bezüge Der Hippokratische Eid
5.2.2 Die Normen der Arztrolle
Der Hippokratische Eid enthält Grundsätze, die auch heute noch zur Berufsethik des Arztberufes
Verhaltensmustern, das von einer Person, die eine bestimmte Funktion in einer Gruppe einnimmt,
zählen und die in das alltägliche Handeln des Arz-
erwartet wird (s. S. 38).
197
Eine soziale Rolle ist ein Set aus definierten
tes einfließen. Hierzu zählt beispielsweise das Erkennen von Kompetenzen und das Verweisen an andere Fachärzte („[...] es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist“) und die ärztliche Schweigepflicht („[...] verschweigen und solches als Geheimnis betrachten“). Der ethische Charakter anderer Grundsätze hingegen, wie „niemandem auf seine Bitte hin zum Tode zu verhelfen“ oder nie
Beachte Die von Geburt an eingenommene Rolle nennt man eine zugeschriebene Rolle (z. B. Sohn, Baron), erarbeitete Rollen, wie Berufsrollen, heißen erworbene Rollen. Die Bevölkerung stellt nach dem amerikanischen
eine Abtreibung vorzunehmen wird in der Gegen-
Soziologen Parsons (1951) die folgenden fünf
wart aus dem Blickwinkel einer anderen Ethik in
Erwartungen an die Arztrolle:
Frage gestellt.
Kompetenz : Der Arzt verfügt über fachliche Kompetenz, die er spezifisch für seinen ärzt-
4 4
Check-up
lichen Auftrag der Diagnostik und Therapie von
Wiederholen Sie die Merkmale der Professionalisierung des Arztberufes. Rekapitulieren Sie, was Sie über den Hippokratischen Eid gelesen haben.
Krankheiten einsetzt. Funktionale Spezifität : Der Arzt nutzt seine
5.2 Die Arztrolle
Rolle weder aus (enthält sich nach Hippokrates also z. B. den „Werken der Wollust“ ), noch überschreitet er seine Kompetenzen, indem er Aufgaben anderer Fachärzte übernimmt („ich werde es denen überlassen, deren Gewerbe dies ist“).
Lerncoach
Affektive Neutralität : Das Handeln des Arztes
Menschen stellen bestimmte Erwartungen an einen Arzt, von denen Sie einige im folgenden Abschnitt kennenlernen werden. Prägen Sie sich vor allem die fünf Haupterwartungen nach Parsons gut ein.
sollte sich durch Rationalität und durch positive Zuwendung zum Patienten kennzeichnen.
5.2.1 Der Überblick Die Rolle des Arztes ist mit einer Reihe von Erwar-
tungen verknüpft: ein Arzt muss z. B. kompetent, neutral, unvoreingenommen und uneigennützig sein. Er darf seine Rolle weder ausnutzen, noch seine Kompetenzen überschreiten. Durch die berufliche Sozialisation verinnerlicht der angehende Arzt die geltenden Normen und Wertvorstellungen, die im Genfer Ärztegelöbnis formu-
Beachte Vom Arzt wird nicht verlangt, dass er affektiv neutral im Sinne von „emotionslos“ ist, sondern dass er seine Emotionen – vor allem die negativen – kontrollieren kann und sie nicht seine Arbeit beeinflussen lässt. Universalismus : Die Hilfsbereitschaft des Arztes ist uneingeschränkt. Sie richtet sich auf alle Menschen gleichermaßen, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen und sozialen Herkunft oder ihrer Religion.
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Arztrolle Kollektivitätsorientierung : Ein Arzt dient dem
„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufs-
Wohl der Gemeinschaft (dem „Kollektiv“) und stellt den Nutzen für sich als Individuum hin-
stand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen
tenan. Eigennütziges Handeln (z. B. Erhöhung
Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.
des Profits durch Werbung) widerspricht der
Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesund-
erwarteten altruistischen Orientierung.
heit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten
5.2.3 Die Motivation zum Arztberuf
Geheimnisse wahren. Ich werde mit allen meinen
Eine Vielzahl von Studien haben nach den Beweg-
Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des
gründen gefragt, die einen Menschen dazu bringen Arzt zu werden. Die Beweggründe lassen sich am besten den folgenden vier Bereichen zuordnen. Humanitäre und idealistische Motive (der Wunsch anderen Menschen zu helfen) naturwissenschaftliches und fachliches Interesse sozioökonomische Motive (finanzielle Sicherheit, Sozialprestige, selbstbestimmtes Arbeiten) Erwartungen anderer (der Arzt verlangt, dass seine Tochter ebenfalls Ärztin wird).
ärztlichen Berufes aufrechterhalten und mich in meinen ärztlichen Pflichten nicht durch Religion, Nationalität, Rasse, Parteipolitik oder soziale Stellung beeinflussen lassen. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde meinen Lehrern und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich feierlich auf meine Ehre.“ Die Forderung, die Gesundheit zu erhalten oder
5.2.4 Die berufliche Sozialisation zum Arzt
wiederherzustellen, und die Forderung jedem Men-
Der Begriff der Sozialisation bezeichnet einen Pro-
schenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht ent-
zess des Lernens, in dem sich die Persönlichkeit
gegenbringen, bringt ethische Entscheidungskon-
ausbildet und entwickelt und zwar in einer gegen-
flikte mit sich.
seitigen Wechselwirkung mit der sozialen und materiellen Umwelt. Hierbei wächst das Indivi-
Der Schwangerschaftsabbruch
duum auch in gesellschaftlich definierte Positionen
Der Schutz des Lebens als oberstes Ziel ärztlichen
(die Rollen) hinein.
Handelns umfasst auch das ungeborene Leben.
Die berufliche Sozialisation beschränkt sich auf den
Der Abbruch einer Schwangerschaft ist ethisch am
Zeitabschnitt der Berufsausbildung und Berufsaus-
ehesten zu rechtfertigen, wenn damit das Leben
übung und meint den Erwerb berufsbezogener Fer-
der Schwangeren geschützt wird und gesundheit-
tigkeiten (z. B. psychomotorische Fertigkeiten, Ge-
licher Schaden abgewendet werden kann. Wie ist
sprächsführung), Kenntnisse (z. B. Fachwissen, Fachsprache), Werte und Einstellungen (Hilfeleistung,
es aber mit ungewollt Schwangeren, die sich in einem sozialen und psychischen Konflikt befinden
Achtung des Lebens). Die berufliche Sozialisation
und den Schwangerschaftsabbruch wünschen?
erfährt der Arzt sowohl im Rahmen der genormten Ausbildung an der Universität, als auch später als
Die Begleitung bis zum Tod
approbierter Arzt in seinem beruflichen Umfeld.
Zu den Aufgaben des Arztes gehört es auch, den Sterbenden durch Behandlung und Beistand bis
5.2.5 Einige ethische Entscheidungskonflikte ärztlichen Handelns
zum Tode zu begleiten, so dass er in Würde sterben
Zur beruflichen Sozialisation gehört ebenfalls die
kann. Grundsätzlich umfasst dies auch Maßnahmen, die der Lebenserhaltung dienen. Der Arzt hat
Übernahme von Wert- und Normensystemen, die
jedoch den Willen des entscheidungsfähigen und
im Genfer Ärztegelöbnis (1948) explizit formuliert
gut beratenen Patienten zu respektieren, schon ein-
sind. Das Gelöbnis lehnt sich an den Hippokrati-
geleitete lebenserhaltende technische Maßnahmen
schen Eid an, seine Forderungen sind in der Berufs-
beenden zu wollen. Bei nicht mehr entscheidungs-
ordnung wiederzufinden:
fähigen Patienten muss der mutmaßliche Wille des
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Krankenrolle Patienten aus schriftlichen Dokumenten oder Aussagen naher Angehöriger erschlossen werden.
5.2.6 Die psychischen Belastungen des Arztberufes
199
fikation mit der jeweiligen Rolle (Rollenidentifikation) ab. Übt jemand seinen Beruf nur widerwillig aus, ist er weniger bereit, die typischen Anforderungen zu akzeptieren. Stellt der Rollenträger sein Handeln in Frage spricht man von Rollendistanz.
Neben der körperlichen Belastung durch lange Arbeitszeiten und Wechseldienste bringt die Rolle
Das Helfersyndrom
des Arztes auch psychische Belastungen mit sich.
Das Helfersyndrom ist eine Bezeichnung für die
Die hohe Verantwortung für das Leben anderer,
Tendenz vieler professioneller Helfer, die eigene
das Arbeiten unter Zeitdruck, ethische Entscheidungskonflikte und die Konfrontation mit dem
Hilfsbedürftigkeit dadurch zu überdecken, dass sie im Beruf Beziehungen mit besonders hilfsbedürf-
Tod sind nur einige Beispiele psychischer Anforde-
tigen und regressiven Beziehungspartnern suchen.
rungen, die zu einer Überlastung führen können.
Dieses Verhaltensmuster dient dem Ziel, das Bild
Die im Folgenden aufgelisteten Rollenkonflikte, das
von sich selbst als einen autonomen starken Men-
Helfersyndrom und das Burn-out-Syndrom sind
schen aufrechtzuerhalten. Eine Folge des Helfersyn-
keine für den Arztberuf spezifischen Merkmale,
droms kann das Burn-out-Syndrom sein (s. u.).
treffen jedoch häufig auf diesen zu.
Die Rollenkonflikte
5.2.7 Klinische Bezüge Burn-out-Syndrom
Die Arztrolle birgt in sich Konflikte und kann mit
Das zentrale Symptom des Burn-out-Syndroms ist
anderen Rollenerwartungen unvereinbar sein. Wi-
ein Zustand hochgradiger Erschöpfung. Er tritt be-
dersprechen sich die Erwartungen, die von unter-
sonders häufig bei professionellen Helfern gemein-
schiedlichen Sendern an den Arzt herangetragen
sam mit dem Gefühl auf überfordert zu sein, mit
werden, spricht man von einem Intrarollenkonflikt.
dem Verlust von Einfühlungsvermögen und einer
Dieser kann bestehen, wenn beispielsweise der Ge-
insgesamt negativ veränderten Einstellung der
setzgeber verlangt, weniger oder kostengünstigere Medikamente zu verschreiben, der Patient jedoch
Arbeit und den Patienten gegenüber.
Check-up
erwartet, dass ihm nur das Beste zuteil wird. Ein Interrollenkonflikt besteht, wenn unvereinbare
4
Anforderungen an eine Person gestellt werden, die mehrere Rollen innehat. So verlangt die Arztrolle viel Zeit und Aufmerksamkeit, die mit den Erwartungen des Lebensgefährten an die Partnerrolle durchaus in Konkurrenz treten kann.
Beachte Beim Intrarollenkonflikt besteht der Konflikt innerhalb einer Rolle, beim Interrollenkonflikt besteht er zwischen mehreren Rollen. Eine andere Form von Konflikt wäre die Rollen-
abweichung. Sie bezeichnet Verhaltensweisen, die nicht den Erwartungen an eine bestimmte Rolle entsprechen (z. B. Arzt in T-Shirt und Jeans). Bei erwartungsgemäßem Verhalten spricht man dagegen
4
Rekapitulieren Sie die fünf Erwartungen, die laut Parsons von der Bevölkerung an einen Arzt gestellt werden. Machen Sie sich nochmals klar, was man unter einem Intra- und einem Interrollenkonflikt versteht.
5.3 Die Krankenrolle Lerncoach Das Verständnis der Rolle des Kranken kann im Arzt-Patienten-Kontakt sehr hilfreich sein. Prägen Sie sich deshalb die Merkmale der Krankenrolle gut ein und versuchen Sie, diese auch in der Rolle des Arztes (z. B. bei Famulaturen) mit zu bedenken.
von Rollenkonformität (z. B. Arzt im weißen Kittel). Wieweit eine Person die an sie gestellten Rollenerwartungen erfüllt, hängt zudem von ihrer Identi-
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200
5 Arzt-Patient-Beziehung Die Krankenrolle 5.3.1 Der Überblick
zählt auch, dass er ärztliche Hilfe in Anspruch
Auch die Rolle des Kranken ist mit Erwartungen, allerdings auch mit außergewöhnlichen Rechten
nimmt.
verbunden. Da es der betroffenen Person im Krank-
Die Verpflichtung zur Kooperation mit Ärzten
heitsfall meist nicht mehr möglich ist, ihre sozialen Rollen zu erfüllen, wird sie von dieser Pflicht be-
Unter Compliance wird die Bereitschaft verstanden,
freit. Vom Kranken wird allerdings erwartet, sich
sich an den ärztlichen Rat zu halten und mit den
zu bemühen, diese Aufgaben so schnell wie mög-
Ärzten zu kooperieren (s. S. 210). Zahlreiche Unter-
lich wieder aufzunehmen. Dazu sollte er ärztliche
suchungen zeigen jedoch, dass viele Patienten
Hilfe in Anspruch nehmen und mit den Ärzten kooperieren.
dieser Erwartung nicht gerecht werden.
Werden die Rollenverpflichtungen als Last empfun-
Sowohl die erste Wahrnehmung eines Symptoms
Merke Mehr als ein Drittel der Patienten hält sich nicht an die verordnete Medikamenteneinnahme, bei Langzeitbehandlungen liegt das Ausmaß der Non-Compliance noch weit höher (Wilker et. al, 1994).
als auch die anschließende Krankheitsbewältigung wird zudem von subjektiven Krankheitstheorien
Weitere Einflussfaktoren der Krankenrolle
mitbestimmt.
Wann jemand als krank gilt, ist letztendlich eine
den, kann die Krankheit und die damit verbundene Entbindung von diesen Verpflichtungen durchaus auch einen Gewinn darstellen. Es kann zur Simulation, bzw. Aggravation von Beschwerden kommen.
Frage der Definition und der Betrachtungsperspek-
5.3.2 Die Merkmale der Krankenrolle
tive. Der drohende Verlust des Arbeitsplatzes und
Wie mit jeder anderen Rolle sind auch mit der Rolle
damit verbundene Existenzängste können dazu
des Kranken Rechte und durch die an ihn gestellten
beitragen, sich nicht krankschreiben zu lassen,
Erwartungen Pflichten verbunden. Parsons charak-
also nicht offiziell die Krankenrolle einzunehmen,
terisiert die Merkmale.
während dies bei einem entspannten Arbeitsmarkt eher möglich ist.
Krankenrolle
durch
verschiedene
Auch kann die Rolle des Kranken nicht so einfach
Die Entbindung von Rollenverpflichtungen
eingenommen werden, wenn man sich als Eltern-
Dem Kranken wird zugestanden, dass er seinen
teil um ein Kind kümmern muss, obwohl man
sozialen
nicht
sich als Kranker selbst in der Position des Hilfs-
nachkommen kann. Er wird beispielsweise von
bedürftigen befindet. Auch wirtschaftliche und familiäre Faktoren beeinflussen also die Krankenrolle.
Rollenverpflichtungen
zeitweise
seinen Arbeits- und Haushaltspflichten befreit. Nach Parsons handelt es sich beim Kranksein um von der Norm abweichendes Verhalten, das Kosten für die Gesellschaft verursacht, die so ge-
5.3.3 Die andere Seite des Krankseins
ring wie möglich gehalten werden müssen. Hierzu
In der Regel ist davon auszugehen, dass der Kranke
muss auch der Patient beitragen, indem er sich
den unangenehmen, mit Schmerzen oder Beein-
bemüht, die Norm wiederherzustellen und seine
trächtigungen verbundenen Zustand des Krank-
Rolle und Funktion in der Gesellschaft wieder ein-
seins ändern will. Neben den Nachteilen gibt es
zunehmen.
jedoch auch positive Seiten, die ihn vom Gesundwerden abhalten können.
Die Bemühung um die Wiederherstellung von Gesundheit
Der primäre Krankheitsgewinn Begriff
des
primären
Krankheitsgewinns
Es wird erwartet, dass der Patient bestrebt ist, so
Der
schnell wie möglich zu gesunden (nach Parsons
stammt aus der Psychoanalyse und meint die Ent-
ist er dazu verpflichtet) und dass sich dieses Bestre-
lastung des psychischen Systems durch den Span-
ben in seinem Verhalten bemerkbar macht. Hierzu
nungsabbau bei Ausdruck in einem körperlichen
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Krankenrolle Symptom. Es handelt sich hierbei um einen unbe-
Das Coping
wussten Gewinn durch das Kranksein.
Die Krankheitsbewältigung wird als Coping bezeichnet.
201
Der sekundäre Krankheitsgewinn Werden Rollenverpflichtungen als belastend oder lästig erlebt, kann eine Entbindung aus ihnen durchaus einen Gewinn darstellen. Der Profit des Krankseins kann zudem in einer verstärkten sozialen Zuwendung bestehen oder einen finanziellen Vorteil (z. B. Rente) bedeuten. Wenn der Kranke bewusst Vorteile aus seinem Zustand zieht, spricht man von einem sekundären Krankheitsgewinn.
Beachte Coping meint nicht nur Verhalten, das auf die Wiederherstellung der Gesundheit gerichtet ist (Arztbesuch, Bettruhe), sondern auch kognitive und emotionale Prozesse der Krankheitsverarbeitung. Zu den emotionsbezogenen Prozessen gehören beispielsweise das Erleben von Zuversicht, Resignation
Die (Dis-)Simulation und die Aggravation
oder Ärger. Kognitive Prozesse können in der Ak-
Der Mensch kann die Vor- und Nachteile des
zeptanz oder dem Bagatellisieren der Symptome
Krankseins bewusst reflektieren und sie so natür-
bestehen. Im Sinne der Stressforschung (s. S. 18)
lich auch für absichtliche Täuschungen zu seinen
können Symptome als Bedrohung erlebt werden,
Gunsten nutzen. So kann er Symptome absichtlich vortäuschen, also simulieren, um beispielsweise
der man als Herausforderung mit Engagement und Kontrolle begegnet, oder auf die man mit
krank geschrieben zu werden. Von der Simulation
Angst, Passivität und Resignation reagiert.
ist die Aggravation – ein Übertreiben bestehender
Für die kognitive Bewertung von Symptomen und
Beeinträchtigungen – zu unterscheiden.
ihrer Behandlung spielen auch die Attributionen
Die Absicht hinter einer bewussten Täuschung
eine Rolle (s. S. 131). Für die Behandlung ist die
kann auch darin bestehen, ein Symptom zu leug-
Annahme nützlich, die Krankheit selbst beein-
nen, um beispielsweise seine Chancen auf eine
flussen zu können, ihre Ursache nicht für stabil,
Arbeitsstelle zu erhöhen. In diesem Falle spricht man von Dissimulation.
sondern für veränderlich zu halten und sie als spezifisch auf ein (Krankheits-) Ereignis eingegrenzt zu erleben. Um die Fachtermini der Attribu-
5.3.4 Vom Symptom bis zur Krankheitsbewältigung Die Patientenkarrieren
tionstheorie zu gebrauchen, ist also eine internale, variable und spezifische Ursachenzuschreibung günstig.
Der Weg von der Symptomwahrnehmung über die Inanspruchnahme von Laiensystemen zur Erklärung und Behandlung von Symptomen bis hin zur ärztlichen Diagnose der Krankheit bezeichnet man als Patientenkarriere (s. S. 267).
5.3.5 Klinische Bezüge Sekundärer Krankheitsgewinn Ein Patient kooperiert zu Beginn einer Erkrankung mit dem Arzt und scheint sehr daran interessiert, schnell zu gesunden. Nach und nach beginnt er je-
Die subjektiven Krankheitstheorien
doch die positiven Seiten des Krankseins zu genie-
Bis zur Diagnose durch den Arzt – und häufig auch
ßen. So ist er beispielsweise von beruflichen Rol-
trotz Edukation darüber hinaus – bestimmen sub-
lenverpflichtungen, die ihm verhasst sind, entbun-
jektive Krankheitstheorien das Verhalten und Erle-
den und erfährt mehr emotionale Zuwendung
ben mit. So bestimmt beispielsweise das Laienwissen des Kranken und seines sozialen Umfeldes über
durch sein soziales Umfeld. Dies macht sich in seinem Verhalten bemerkbar: Seine anfangs hohe
den Ursprung und die Beständigkeit von Sympto-
Compliance lässt nach, er nimmt seine Medika-
men, ob und wann ein Arzt aufgesucht wird und
mente nicht mehr regelmäßig und missachtet den
ob die Anordnungen des Arztes befolgt werden.
Rat seines Arztes.
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion
202
4 4
Check-up
nauso Kommunikation. Aufgrund ihrer Allgegen-
Wiederholen Sie die Merkmale der Krankenrolle nach Parsons. Wiederholen Sie noch einmal emotionsund kognitionsbezogene Prozesse des Copings.
wärtigkeit kann man die Bedeutung von Kommunikation für zwischenmenschliche Beziehungen
5.4 Die Kommunikation und die Interaktion Lerncoach Die Beziehung zwischen Arzt und Patient ist durch die angenommene Arzt- und Krankenrolle geprägt, die Sie in den letzten Kapiteln kennengelernt haben. Im folgenden Abschnitt geht es um die besonderen Formen der Kommunikation und Interaktion zwischen Arzt und Patient. Es ist wichtig, dass Sie verstehen, welche (z. T. unbewussten) Botschaften bei der Kommunikation übermittelt werden. Prägen Sie sich die verschiedenen Arten und Ebenen von Botschaften gut ein, viele psychologische Phänomene beruhen darauf.
5.4.1 Der Überblick
kaum überschätzen. Auch die Beziehung zwischen Art und Patient unterliegt den „Gesetzen“ der Kommunikation.
Eine Definition Kommunikation besteht aus vier Elementen: dem Sender, der Botschaft, dem Empfänger und dem Medium. Der Sender möchte jemandem (Empfän-
ger) eine Botschaft übermitteln. Dazu wählt er ein bestimmtes Medium (Stimme, Schrift, etc.). Der Inhalt der Botschaft kann für die Übermittlung mehr oder weniger verschlüsselt werden. Will der Sender an den Empfänger appellieren, dass er das Fenster schließen soll, kann er die Botschaft ohne Verschlüsselung senden („Mach das Fenster zu.“) oder eine verschlüsselte Form wählen (z. B. „Es zieht.“). Je weniger direkt die Botschaft übermittelt wird, um so mehr „Entschlüsselungsarbeit“ hat der Empfänger zu leisten. Andererseits gibt es Botschaften, die aufgrund unserer Konventionen oder wegen der Eigenheiten des Empfängers verschlüsselt werden müssen, um die erwünschte Wirkung zu erzielen. In diesem Fall spricht man von indirekter Kommunikation.
Dieses Kapitel behandelt Aspekte der Kommunikation. Nach einer Begriffsdefinition und der Erläu-
Die Funktionen der Kommunikation
terung der Funktionen von Kommunikation wer-
In der Regel erfolgt Kommunikation zielgerichtet.
den verschiedene Formen beschrieben, wie man
Der Sender möchte mit seiner Botschaft etwas Be-
miteinander in Verbindung treten kann und ihre
stimmtes erreichen. Wenn man sich die Kommu-
jeweiligen Besonderheiten diskutiert. Kommuni-
nikation zwischen Arzt und Patient ansieht, kann
kation findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie wird von den organisatorisch-institutio-
man mehrere Funktionen der Kommunikation unterscheiden.
nellen und den soziokulturellen Rahmenbedingungen beeinflusst. Zudem wird die Bedeutung der
Der Beziehungsaufbau
Kommunikation und Interaktion für die Arzt-
Ein wichtiges Ziel der Kommunikation zwischen
Patient-Beziehung an einem klinischen Beispiel
Arzt und Patient ist der Aufbau einer positiven, vertrauensvollen Beziehung zueinander. Eine solche Beziehung stellt die Basis für die Aufnahme der Krankengeschichte (Anamnese), aber auch für die Diagnosestellung dar. Zudem wirkt sich eine gute Beziehung positiv auf alle weiteren Behandlungsschritte aus. Sie fördert die Kooperation des Patienten, und ist gleichzeitig Voraussetzung dafür, dass ein Patient offen über seine Zweifel und Ängste berichtet.
aufgezeigt.
5.4.2 Was ist Kommunikation? „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ lautet Paul Watzlawicks (1978) erstes Grundgesetz der Kommunikation. Das bedeutet, dass letztendlich jedes Verhalten in Anwesenheit anderer Kommunikation darstellt. Sage ich etwas, kommuniziere ich offensichtlich. Sage ich nichts, ist das ge-
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion Die Orientierung
5.4.3 Die Formen der Kommunikation
Eine weitere Funktion der Kommunikation liegt in der Erhebung von Informationen über den Patien-
Die Grundform der Kommunikation wurde oben als Übermittlung einer Nachricht beschrieben. Diese
ten. Eine umfangreiche Orientierung schließt alle
Übermittlung kann auf unterschiedliche Arten
subjektiven und objektiven Informationen über
erfolgen.
203
den Patienten ein, die dem Arzt bei der Diagnosestellung und Therapieplanung hilfreich sein können.
Die verbale und die nonverbale Kommunikation Bei der verbalen Kommunikation dient die Sprache
Die Information Neben der Informationsgewinnung auf Seiten des
als Medium. Sie schließt sowohl mündlich als auch schriftlich übermittelte Botschaften ein. Die verbale
Arztes (Orientierung) wird Kommunikation in der
Kommunikation besteht aus linguistischen Phäno-
Arzt-Patienten-Beziehung zur Übermittlung von
menen, der Wortwahl (Vokabular) und der gram-
behandlungsbezogenen Informationen an den Pa-
matikalischen Struktur des Gesagten oder Geschrie-
tienten genutzt. Hier ist das Ziel, dass dem Patien-
benen. Sie umfasst die inhaltlichen Aspekte der Bot-
ten ein möglichst umfangreiches und für ihn ver-
schaft. Daneben existiert noch die paraverbale Kom-
ständliches Bild seiner Erkrankung und des wei-
munikationsebene : sie setzt sich aus so genannten
teren Vorgehens vermittelt wird. Eine spezielle Art der Informationsübermittlung ist die Aufklä-
paralinguistischen Phänomenen wie dem Sprechtempo, der Tonhöhe oder der Dialektfärbung zu-
rung über mögliche Behandlungsrisiken. Besonders
sammen. Bei der Schriftsprache stellen die Eigen-
in Fällen, in denen der Patient eine Entscheidung
arten der Handschrift paralinguistische Elemente
über das weitere Vorgehen treffen muss, weil
dar. Die paraverbale Kommunikation beschreibt
seine Einwilligung für die anstehende Behandlung
also die Darbietungsart der verbalen Botschaft.
notwendig ist, ist eine objektive, ausführliche Infor-
Nonverbale Kommunikation umfasst jede weitere
mation notwendig. Zudem muss der Arzt sich ver-
Art der nicht sprachlichen Übermittlung von Bot-
gewissern, dass der Patient die mit den verschiedenen Möglichkeiten verbundenen Risiken versteht,
schaften. Dazu gehören Gestik (Körpergebärden), Mimik (Gesichtsausdruck), aber auch die Körperhal-
damit er seine Einwilligung („informed consent“)
tung oder der Körperkontakt. Eine weitere wichtige Rolle in der nonverbalen Kommunikation spielt der Blickkontakt. Er ist ein guter Indikator für das Verhältnis von Interaktionspartnern. Beispielsweise steigt die Häufigkeit und Dauer von Blickkontakt mit zunehmender Vertrautheit von Personen an. Neben dem direkten Körperkontakt hat auch der räumliche Abstand von Interaktionspartnern eine kommunikative Funktion. Die Interpretation von Nähe und Distanz ist kulturell bedingt. In unserer mitteleuropäischen Kultur gibt es eine unausgesprochene Konvention, dass man bei fremden Menschen etwa eine Armeslänge Abstand hält. Wird diese Intimdistanz unterschritten, fühlen sich die meisten Menschen unangenehm bedrängt. In Situationen, wo ein Unterschreiten dieses Abstandes notwendig ist (z. B. im vollen Fahrstuhl oder auch bei der körperlichen Untersuchung des Arztes) versuchen wir das Unterschreiten der normalen Distanz zu kompensieren, indem wir beispielsweise den Blickkontakt vermeiden.
geben kann.
Die Kooperation Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient hat jedoch noch eine weitere Funktion: sie soll den Patienten zur Kooperation bei der Behandlung motivieren. Besonders wichtig wird diese Funktion in Fällen, in denen Patienten zu einer Änderung langjähriger Verhaltensweisen aufgefordert werden. Solche Maßnahmen sind nur durch die ehrliche Mitarbeit des Patienten erfolgreich. Um seine Kooperation zu sichern, muss der Arzt dem Patienten verständlich machen, wie wichtig diese Verhaltensänderung für ihn selber ist. Der Kooperationsaspekt hängt also eng mit der Information, aber auch mit dem Beziehungsaspekt der Kommunikation zusammen, denn bei einer persönlich ablehnenden Haltung des Patienten ist es eher unwahrscheinlich, dass er bereit ist, die Empfehlungen des Arztes tatsächlich umzusetzen.
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion Merke Die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation wird zumeist unterschätzt. Dabei hat sich gezeigt, dass in Gesprächen etwa 70 % des Signalaustauschs über nonverbale Kontakte ablaufen.
Die zwei Ebenen einer Botschaft Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick hat ein Kommunikationsmodell entwickelt, in dem zwei verschiedene Ebenen der zu übermittelnden Botschaft beschrieben werden. Dieses Modell ist unter anderem darum so einflussreich, weil es hilft, kommunikative Missverständnisse zu
Auch im Arzt-Patienten-Gespräch sollte man den
erklären.
Einfluss nonverbaler Kommunikation nicht unterschätzen. Im Gegensatz zur verbalen Kommunikation kontrollieren wir unsere nonverbalen Signale weniger. Dadurch kann es vorkommen, dass uns die Widersprüchlichkeit zwischen dem, was wir verbal und nonverbal kommunizieren nicht be-
Für das Verständnis einer übermittelten Botschaft ist es wichtig sich zu merken, dass jede Botschaft sowohl eine Aussage auf der Inhalts- als auch auf der Beziehungsebene enthält.
wusst ist (Doublebind). Derartige Überlegungen zum Funktionieren von
Die Aussagen können dabei beide sowohl verbal
Kommunikation
der
als auch nonverbal vermittelt werden. Die Inhalts-
Metakommunikation. Der Begriff der Metakommunikation bezeichnet die „Kommunikation über das Kommunizieren“; also beispielsweise ein Gespräch, in dem eine gute Kommunikation selbst das Thema ist.
ebene beschreibt sozusagen den „objektiven Informationsgehalt“ der Botschaft. Die Beziehungsebene
gehören
in
den
Bereich
drückt – meistens in Form von paraverbalen oder nonverbalen Signalen – die Beziehung vom Sender zum Empfänger aus. Diese Informationsübermittlung muss dem Sender nicht bewusst sein.
Die persönliche und die mediale Kommunikation Als persönlich wird Kommunikation bezeichnet, wenn zwei oder mehrere Personen sich im direkten Kontakt („Face to Face“) zueinander austauschen.
Merke Fallen die Aussagen auf der Inhalt- und auf der Beziehungsebene auseinander, spricht man von paradoxer Kommunikation.
Jede andere Form der Kommunikation wird als me-
dial bezeichnet. Als Medium kann beispielsweise
Ein Beispiel dafür wäre ein Arzt, der zu seinem tod-
das Telefon, Briefe, Bücher, das Internet oder ein
kranken Patienten sagt, dass er noch auf zusätz-
Film dienen. Bei diesen Medien muss man einsei-
liche Analysen warten müsse, um dem Patienten
tige (z. B. Buch, Broschüre) von zweiseitigen (z. B. Telefon, E-Mail) Kanälen unterscheiden, bei denen eine Interaktion, d. h. ein wechselseitiges aufeinander Reagieren der Kommunikationspartner möglich ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Signalumfang der verschiedenen Medien. Während im direkten Kontakt neben den inhaltlichen (linguistischen) Signalen auch die paraverbalen und nonverbalen Signale komplett vorhanden sind, muss man sich am Telefon auf die verbalen und paraverbalen Signale beschränken. Bei der E-Mail oder im Brief können lediglich linguistische Signale übermittelt werden. Aufgrund dieser Einschränkungen sollte der Kommunikationskanal immer an den zu übermittelnden Inhalt angepasst sein.
eine Prognose seines Krankheitsverlaufs zu stellen. Dabei wirkt er aber von seiner Körperhaltung und Stimme derartig bedrückt, dass er nonverbal die schlechten Chancen bereits übermittelt. Besondere Aufmerksamkeit hat das Muster der paradoxen Kommunikation im Zusammenhang mit der Erforschung der Schizophrenie erhalten. Lange Zeit ging man davon aus, dass das Risiko an Schizophrenie zu erkranken unter anderem durch sogenannte „Doublebind“-Kommunikation erhöht würde. Unter „Doublebind“ (deutsch: Doppelbin-
dung) versteht man Kommunikationsmuster, in denen der Sender widersprüchliche Botschaften an den Empfänger sendet. Das besondere Problem besteht in der Konstellation von Sender und Empfänger. Da sich der Empfänger in einer engen Ab-
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion hängigkeit vom Sender befindet, kann er die Dop-
ihren eigenen Verhaltensplänen folgen bzw. diese
pelbindung nicht auflösen (z. B. durch Ansprechen des Beziehungsaspekts auf der metakommunikati-
auf ihr Gegenüber abstimmen. Eine wechselseitige Kontingenz bedeutet, dass beide Gesprächspartner sowohl gleichermaßen ihre eigenen Bedürfnisse äußern als auch auf die des anderen eingehen. Bei der asymmetrischen Kontingenz hält der eine Interaktionspartner an seinen Verhaltensplänen fest und beeinflusst seinen Partner, ohne auf dessen Bedürfnisse einzugehen. Eine solche Situation ergibt sich beispielsweise, wenn ein Arzt nicht auf die Angstäußerungen seines Patienten eingeht, sondern sich gleich wieder seiner Sprechstundenhilfe zuwendet (Adressatenwechsel).
ven Ebene). Er ist zwischen zwei widersprüchlichen Aufforderungen gefangen, sodass er es dem Sender – egal wofür er sich entscheidet – nie vollkommen recht machen kann. Empfängt eine Mutter ihr Kind beispielsweise mit den Worten „Wie schön, dass du da bist.“, macht dabei aber einen abweisenden Gesichtsausdruck, weiß das Kind nicht, nach welchem der Signale es sich richten soll. Der vermutete Zusammenhang mit Schizophrenie hat sich nicht bestätigt. Trotzdem gelten Doppelbindungen gerade in engen abhängigen Beziehungen (z. B. Mutter–Kind) als sehr problematisch.
Verschiedene Strukturen der Kommunikation Menschen, die miteinander kommunizieren, haben jeweils bestimmte Ziele und Bedürfnisse. Andererseits müssen sie auf die Botschaften ihres Kom-
Merke Bei einer wechselseitigen Kontingenz wird Kommunikation als besonders befriedigend erlebt. Asymmetrische Kontingenz führt dagegen beim nicht beachteten Partner zu Unzufriedenheit.
munikationspartners reagieren. Im Folgenden werden verschiedene Konstellationen beschrieben, wie
Als pseudo-kontingent wird Kommunikation dann
Kommunikationspartner sich nach ihren eigenen
bezeichnet, wenn beide Partner ihren Verhaltens-
Bedürfnissen oder denen des anderen richten und
plänen folgen, ohne auf den anderen zu reagieren.
wie sich diese Konstellationen auf ihre Beziehung
Wirkliche Kommunikation im Sinne eines Aus-
zueinander auswirken.
tauschs findet hier nicht statt: die Gesprächspartner reden aneinander vorbei oder betreiben Small-Talk.
Die symmetrische und die asymmetrische Kommunikation
Als vierte Form der Kontingenz haben Jones und
Innerhalb der bidirektionalen Kommunikation kann
gehen die Kommunikationspartner so stark auf
man zwischen symmetrischer und asymmetrischer
die Bedürfnisse des Gegenübers ein, dass sie
Interaktion unterscheiden. Symmetrisch ist die Struktur bei Gleichheit der Partner (z. B. Gespräch unter Kollegen), asymmetrisch bei einer ungleichen Machtposition (z. B. Lehrer-Schüler). Auch bei der Arzt-Patient-Kommunikation handelt es sich um eine asymmetrische Struktur. Das fachspezifische Wissen und die berufliche Kompetenz verleihen dem Arzt funktionale Autorität. Dagegen ist der Patient der Hilfesuchende, der vom Arzt Informationen haben möchte.
darüber vorübergehend ihre eigenen Verhaltens-
Gerard die reaktive Kontingenz beschrieben: Hier
pläne zurückstellen.
Die direktive und die non-direktive Kommunikation Am Beispiel des Arzt-Patienten-Gesprächs kann man auch einen direktiven von einem non-direktiven Gesprächsstil abgrenzen. Direktiv bezeichnet eine Art der Kommunikation, bei der einer der Gesprächsteilnehmer die Richtung
vorgibt.
In
Bezug auf die Arzt-Patient-Interaktion spricht
Vier Formen der Kontingenz
man dabei auch von einer arztzentrierten Interaktion. Ein Beispiel dafür wäre das standardisierte
Der Grad der Symmetrie einer Interaktion lässt sich
Vorgehen eines Arztes bei der Anamnese. Dabei
auch auf der Ebene der Interaktionskontingenz be-
verfährt er nach einem festen Fragenkatalog, der
schreiben. Der Begriff der Kontingenz nach Jones
unabhängig von den Antworten des Patienten ab-
und Gerard (1967) beschreibt die Art, wie die Inter-
gefragt wird. Als non-direktiv würde die Interaktion
aktionspartner in der Kommunikationssituation
dagegen bezeichnet, wenn sich die weitere Rich-
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion tung des Gesprächs aus den Antworten des Patien-
naher Sprache, die auf medizinische Fachausdrücke
ten ergibt. Der Arzt stellt offene Fragen nach dem Grund für den Besuch und überlässt dem Patienten
verzichtet. Weitere Grundelemente der Gesprächsführung, die
dabei die Reihenfolge und Struktur seiner Darstel-
auch für den Aufbau einer vertrauensvollen Arzt-
lung. Diese Form der Interaktion wird auch als pa-
Patienten-Beziehung eine Rolle spielen sind die Wertschätzung, die Empathie und die Kongruenz (s. S. 242).
tientenzentriert bezeichnet. Bei der Wahl der Interaktionsform sollte man die Vor- und Nachteile des direktiven und des nondirektiven Vorgehens bedenken. Für eine direktive Interaktion spricht, dass man relativ schnell die Informationen erhält, die man benötigt. Allerdings kann eine starre Vorgehensweise dazu führen, dass bestimmte Fakten und Eigenarten, die bei diesem Patienten erwähnenswert wären, unter den Tisch fallen. Zudem kann ein Patient sich durch diese Form der Interaktion zurückgewiesen fühlen. Der non-direktive Stil fördert dagegen die Zufriedenheit des Patienten und wirkt sich förderlich auf das Vertrauensverhältnis aus. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient wichtige persönliche Aspekte äußert, die für die Diagnosestellung und den weiteren Behandlungsverlauf relevant sein könnten. Allerdings wird ein Patient sicher nicht alle Informationen selber liefern, die der Arzt benötigt.
Beachte Die Interaktion sollte daher so non-direktiv wie möglich und so direktiv wie nötig ablaufen.
Die Übertragung und die Gegenübertragung Das Phänomen der Übertragung und Gegenübertragung spielt in der psychoanalytischen Therapie eine wichtige Rolle (s. S. 238). Da es sich dabei um ein sog. „Interaktionsphänomen“ handelt, soll es hier kurz erläutert werden. Wenn wir mit anderen Menschen interagieren, vergleichen wir den anderen aufgrund unserer bisherigen zwischenmenschlichen Erfahrungen mit anderen Interaktionspartnern. Diese Vergleiche laufen nur teilweise auf der bewussten Ebene ab. Sie werden sicher das Gefühl erlebt haben, dass jemand, den Sie gerade erst kennenlernen, Ihnen besonders sympathisch oder unsympathisch ist, ohne dass sein Verhalten zu diesem Urteil Anlass gegeben hätte. Der psychoanalytische Begriff der Übertragung bezeichnet den Vorgang, bei dem frühe zwischenmenschliche Erfahrungen in aktuellen Interaktionen wieder aktiviert werden. Dabei können sowohl positive wie auch negative Emotionen ausgelöst werden. Die Art der Projektion wird auch vom Verhalten und Aussehen des Interaktionspartners beeinflusst.
Die Kommunikation und die Beziehung Bereits oben wurde erwähnt, dass jede Botschaft neben einem inhaltlichen Aspekt auch eine Aussage zur Beziehung zwischen dem Sender und Empfänger enthält. Für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung, wie sie zwischen Arzt und Patient erreicht werden sollte, ist die Beziehungsebene der Kommunikation besonders wichtig. Außerdem gibt es noch spezielle Kommunikationsmerkmale, die zum Aufbau eines Vertrauensverhältnisses beitragen. Hierzu zählt zum Beispiel die Transparenz : Transparent zu handeln bedeutet, dass der Arzt dem Patienten Einblick in seine Handlungen und Beweggründe gibt. Dazu muss der Arzt sein Vorgehen in verständlicher Weise erklären und dem Patienten die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen. Hilfreich ist dabei die Verwendung alltags-
Merke Übertragung geht immer vom Patienten aus. Er projiziert frühere Erfahrungen mit einer anderen Person auf den Arzt (oder Therapeuten). Dagegen beschreibt der Begriff der Gegenübertragung die emotionalen Reaktionen sowie den Einfluss unbewusster Konflikte und Wünsche des Arztes auf seine Wahrnehmung des Patienten. Das Wissen über Übertragungsvorgänge kann dabei helfen, unerwartete Reaktionen beim Patienten, aber auch bei sich selber besser zu verstehen.
Problematische Interaktionsmuster Zu den problematischen Interaktionsmustern zählt das aus der Psychoanalyse stammende Konzept
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion der Kollusion. Es beschreibt das Zusammenspiel
der medizinischen Versorgung durchaus sinnvoll.
von Interaktionspartnern, die sich in ihren neurotischen Bedürfnissen verstricken. Es wird ange-
Sie bieten sich aus zwei verschiedenen Gründen an. Erstens wenn eine Gruppe von Patienten mehr
nommen, dass sich Menschen aufgrund ihrer
oder weniger dieselben Informationen erhalten
meist unbewussten Bedürfnisse bestimmte Partner
soll (z. B. bei Patientenschulungen). Dabei ist ein
suchen, die diese Bedürfnisse besonders gut er-
Gruppensetting deutlich ökonomischer. Zudem
füllen. Beispielsweise sucht ein anlehnungsbedürf-
können Patienten bei einer ähnlichen Interessenlage von ihren gegenseitigen Fragen und Anregungen profitieren. Ein weiterer Grund für ein Gruppengespräch liegt vor, wenn außer dem Patienten noch andere Personen (Familienmitglieder, enge Freunde) von seiner Erkrankung oder der weiteren Behandlung betroffen sind. Solche Gespräche müssen immer im Einverständnis mit dem Patienten stattfinden. Gerade bei langwierigen Behandlungen (z. B. chronischen Erkrankungen) ist es sinnvoll, den Kreis von Personen, der von der veränderten Lage betroffen ist, zu informieren und gegebenenfalls mit in die Behandlungsplanung einzubeziehen. Die Zielsetzung solcher Gespräche ist, die soziale Unterstützung der wichtigen Bezugspersonen für den Patienten zu mobilisieren, aber auch mögliche Schwierigkeiten (z. B. durch zusätzliche Belastungen) im Vorfeld zu erkennen und anzusprechen. Zudem sollen die Angehörigen eine Möglichkeit haben, ihre Ängste und Befürchtungen zu äußern und Fragen zu stellen. Durch die Verstärkung einer offenen Kommunikation über die jeweilige Erkrankung wird die Beziehung zwischen dem Patienten und seinen Bezugspersonen meistens verbessert.
tiger Mensch sich einen stabilen, autonomen Partner. Verstärken sich die gegensätzlichen Verhaltensweisen nun in der Interaktion (der eine wird immer anlehnungsbedürftiger, der andere immer autonomer), kann das Gleichgewicht zwischen den Partnern ins Wanken geraten, da sie nicht mehr in der Lage sind, die Rollen zu wechseln. Man spricht von neurotischen Mustern oder Ver-
strickungen. in der Arzt-Patient-Interaktion können ungünstige Interaktionen zu Problemen führen. Ein Beispiel dafür ist die iatrogene Fixierung. Hier entwickelt der Patient eine durch den Arzt bzw. sein Handeln hervorgerufene (griech. iatros = der Arzt) Einstellung, Krankheit oder Symptomatik. Beispielsweise könnte ein systematisches Abtasten des Bauches dazu führen, dass der Patient unabhängig von der ärztlichen Diagnose daran festhält, dort müsste eine Symptomatik vorliegen. Auch
5.4.4 Die organisatorisch-institutionellen Rahmenbedingungen Kommunikation und Interaktion finden nie im leeren Raum statt, sondern werden immer durch
207
die Rahmenbedingungen mit beeinflusst. Zum Teil kann der Arzt diese Rahmenbedingungen (Setting)
Die Familien- und Paartherapie
frei wählen. Beispielsweise kann er ein wichtiges Gespräch mit einem Patienten bei diesem zu
Die Familien- und die Paartherapie betonen die Bedeutung der sozialen Beziehungen für die seelische
Hause oder in seiner Praxis führen. Gerade in stark
Gesundheit des Einzelnen (vgl. S. 244). Im Gegen-
strukturierten Organisationen wie dem Kranken-
satz zu anderen Therapieformen finden die Sitzun-
haus muss der Arzt sich über die Wirkung dieser
gen mit mehreren Familienmitgliedern bzw. beiden
Strukturen für seine Patienten bewusst sein, und
Partnern statt. Dabei nutzt der Therapeut die Inter-
sie in seiner Interaktion mit ihm berücksichtigen.
aktion der Familienmitglieder oder des Paares untereinander, um Informationen über ihre jeweili-
Das Einzel- und das Gruppengespräch Die meisten Arzt-Patienten-Gespräche finden als
gen Positionen und Umgangsformen zu gewinnen. Die Überlegung, dass das Problem des Einzelnen
Einzelgespräche statt. Geht es um persönliche
immer in Verbindung mit seinem „Familiensystem“
Angaben des Patienten, Diagnosestellung oder Be-
gesehen werden muss, lässt sich auch auf den me-
handlungspläne ist dieses Setting schon allein auf-
dizinischen Bereich übertragen. Jede Veränderung
grund des Schutzes der Intimsphäre des Patienten
eines Mitglieds hat Auswirkungen auf die ganze
angebracht. Aber auch Gruppengespräche sind in
Familie. Beispielsweise kann die schwere Erkran-
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208
5 Arzt-Patient-Beziehung Die Kommunikation und die Interaktion kung eines Kindes dazu führen, dass sich die Eltern
Umfeld der Praxis verzichtet, andererseits, dass
besonders um das kranke Kind kümmern und sich die anderen Kinder zurückgesetzt fühlen.
er Einblick in die Privatsphäre des Patienten bekommt. Der Arzt muss sich über die (im Vergleich
Die ambulante und die stationäre Versorgung Die Interaktion zwischen Arzt und Patient sollte den jeweiligen Rahmenbedingungen angemessen sein. Unterschiede der Rahmenbedingungen bestehen beispielsweise im ambulanten oder stationären Setting. Der Patient, der in die Praxis kommt, nimmt diesen Besuch als einen Abschnitt seines Ta-
zur Praxis oder dem Krankenhaus) veränderte Rollenverteilung bewusst sein: beim Hausbesuch ist der Patient der „Gastgeber“. Der Arzt sollte als Besucher Respekt gegenüber der Privatsphäre des Patienten zeigen. Das Zusammentreffen im häuslichen Rahmen wirkt sich meistens günstig auf die Beziehung aus.
Gang. Auch wenn er den Arzt wegen seiner medizi-
5.4.5 Der soziokulturelle Rahmen der Kommunikation Der Sprachcode
nischen Kompetenz um Hilfe bittet, hat er den Ein-
Ein wichtiger Aspekt der Kommunikation ist der
gesablaufs wahr. Dabei geht sein normales Leben inklusive aller sozialen Kontakte seinen gewohnten
druck über das weitere Vorgehen mitbestimmen zu
verwendetete Sprachcode. Je nach soziokulturellen
können. Entsprechend ist die Beziehung zwischen
Bedingungen kann sich die verwendete Sprache
Patient und Arzt relativ symmetrisch. Im Gegensatz dazu ist der Patient in der stationä-
stark unterscheiden. Während ein Arzt im Kollegenkreis die medizinische Fachsprache wählt, um
ren Versorgung von seinen normalen sozialen Rollen (z. B. im Beruf, in der Familie) für die Dauer seines Krankenhausaufenthalts entbunden. Seine dominante Rolle ist die des Patienten. Aufgrund der organisatorischen Gegebenheiten im Krankenhaus bestimmt er nicht über seinen Tagesablauf. Alle seine Aktivitäten unterliegen einer mehr oder weniger ausgeprägten Kontrolle. Er muss bei vielen Wünschen um Erlaubnis bitten und ist bei alltäglichen Vorgängen auf Hilfe angewiesen (z. B. Körperpflege). Zudem erscheint die Krankenhausumgebung für einen Patienten häufig undurchschaubar und Angst erregend. Die erzwungene Abhängigkeit und Unselbstständigkeit des Patienten führt zu einer stärkeren Asymmetrie in der Beziehung zwischen Arzt und Patient. Durch das Setting fühlt sich der Kranke häufig in eine Kinderrolle zurückversetzt (Infantilisierung), die auch zur Wiederaufnahme kindlicher Verhaltensweisen (Regression) führen kann. In der Kommunikation sollte der Arzt berücksichtigen, dass der Patient durch die Umgebung verunsichert sein kann. Zudem kann es hilfreich sein, den Patienten an sein „normales Leben“ zu erinnern, um ihm die Sicherheit seiner familiären und beruflichen Position zurückzugeben. Eine besondere Situation stellt der Hausbesuch beim Patienten dar. Er bedeutet für den Arzt einerseits, dass er auf sein gewohntes professionelles
die Verständigung untereinander besonders effektiv und präzise zu gestalten, muss er sich gegenüber dem Pflegepersonal und besonders gegenüber Patienten mit Fachausdrücken zurückhalten. Je nach Bildungsgrad des Patienten ist eine alltags-
sprachliche Darstellung des medizinischen Sachverhalts angemessener. Gerade weniger selbstsichere Patienten trauen sich häufig nicht, bei allen ihnen unbekannten Begriffen nachzufragen. Dadurch bleibt das Vorgehen des Arztes für sie undurchsichtig, und sie haben den Eindruck, nicht zu verstehen, was mit ihnen passiert. Auch innerhalb der Alltagssprache kann man verschiedene Sprachcodes unterscheiden. Der elabo-
rierte Sprachcode zeichnet sich durch komplexe grammatikalische Strukturen, sowie zahlreiche Adjektive und Adverbien aus. Er wird vor allem von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht gesprochen. Dagegen beschränkt sich der restringierte Sprachcode auf kurze, einfache Sätze mit wenigen ausdrucksstarken Adjektiven, Adverbien oder Konjunktionen. Er ist besonders bei Angehörigen der unteren Schichten zu finden.
Merke Die Beachtung des Sprachcodes ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens sollte sich der Arzt dem Sprachcode des Patienten soweit wie möglich anpassen um eine besonders gute
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation Verständigung zu erreichen. Zweitens muss er, wenn der Patient seine Symptomatik schildert, den speziellen Sprachcode bei der Interpretation des Gesagten im Hinterkopf haben.
über, wird er sich selbst eher als gleichwertiger Gesprächspartner empfinden.
Check-up 4
Die Kommunikation mit fremdsprachigen Patienten Ein besonderes Problem stellt die Behandlung fremdsprachiger Kranker dar, die nur über geringe oder keine Deutschkenntnisse verfügen. Um eine Verständigung zu ermöglichen, werden zum Teil
Übersetzer herangezogen. Manchmal fungiert auch ein Familienmitglied als Übersetzer. In beiden Fällen ist durch die Anwesenheit einer Übermittlerperson der Kontakt von Arzt und Patient weniger vertraulich. Der Aufbau einer guten Beziehung ist schwieriger. Zudem kann der Arzt nie sicher sein, dass alle wichtigen Informationen richtig verstanden wurden. Die beste Lösung stellen sicherlich Mediziner mit entsprechenden Fremdsprachenkenntnissen dar. Ein weiterer Aspekt, der neben den sprachlichen Verständnisschwierigkeiten beachtet werden sollte, sind die kulturellen Unterschiede zwischen Arzt und Patient. Neben der allgemeinen Unsicherheit, die mit dem Status des Kranken und Hilfesuchenden einhergeht, ist die Situation für einen Kranken aus einer anderen Kultur noch viel schwieriger, weil er die Institution „deutsches Krankenhaus“ nicht kennt und nicht einschätzen kann. In so einem Fall ist es besonders wichtig, mithilfe eines Übersetzers den Patienten ausführlich zu informieren.
5.4.6 Klinische Bezüge Asymmetrie in der Behandlungssituation
209
4
Wiederholen Sie, welche Formen von Kommunikation Sie kennengelernt haben. Machen Sie sich dabei auch klar, was man unter der Inhalts- und der Beziehungsebene einer Botschaft versteht. Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, welchen Einfluss die Rahmenbedingungen eines Gesprächs auf die Kommunikation haben. Sie können sich dazu einen Ihrer eigenen Arztbesuche ins Gedächtnis rufen und überlegen, wie Sie die jeweilige Kommunikation beschreiben würden.
5.5 Die Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation Lerncoach Im Folgenden werden Ihnen noch einige Kooperationsformen sowie Besonderheiten der Kommunikation vorgestellt. Prägen Sie sich am besten anhand der Beispiele ein, unter welchen Bedingungen Kommunikation und Kooperation schwierig werden und was Sie als Arzt dagegen tun können.
5.5.1 Der Überblick Die Kommunikation und Kooperation zwischen Arzt und Patient können in unterschiedlichen Formen gestaltet werden. So kann der Patient aktiv oder passiv, autonom oder heteronom mitarbeiten,
Örtliche oder zeitliche Rahmenbedingungen kön-
compliant oder non-compliant kooperieren.
nen die Kommunikationsstruktur zwischen Arzt
Auch auf der Ebene der Ärzte existieren verschie-
und Patient ungewollt beeinflussen. Befindet sich
dene Formen der Zusammenarbeit. Zudem sollen
der Patient nach einer Untersuchung noch auf der
in diesem Kapitel Situationen mit besonderen kom-
Behandlungsliege, verstärkt bereits diese Position
munikativen Anforderungen dargestellt werden.
eine Asymmetrie zwischen den Gesprächspartnern. Zeigt der Arzt zudem noch durch den Blick auf die
Darüber hinaus ist es wichtig, mögliche Ursachen für Störungen von Kommunikation und Koope-
Armbanduhr und nervöses Fingertrommeln (non-
ration zu kennen, um diese im klinischen Alltag
verbale Signale), dass er seinem Terminplan schon
zu vermeiden.
deutlich hinterherhinkt, wird der Patient zusätzlich entmutigt, weitere Fragen zu stellen. Sitzt er dagegen dem Arzt an seinem Schreibtisch gegen-
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210
5 Arzt-Patient-Beziehung Die Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation 5.5.2 Die Formen der Kooperation mit dem Patienten
5.5.3 Die Formen der Kooperation bei Ärzten
Wie die Kooperation mit dem Patienten genau aus-
Die Zusammenarbeit von Ärzten kann zwei ver-
sieht, ist zum einen von der Erkrankung abhängig,
schiedenen Hauptgründen dienen. Sie kann zum
zum anderen aber auch von Eigenschaften des Arz-
einen technikorientiert sein, das heißt, dass meh-
tes und des Patienten bzw. ihrer Interaktion. Be-
rere Ärzte gemeinsam dieselben Geräte nutzen,
reits im vorigen Kapitel wurde angesprochen, dass
um geringere Kosten zu haben. Die andere
die beste Voraussetzung für eine gute Kooperation
Möglichkeit ist eine patientenorientierte Koope-
des Patienten eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Be-
ration. Dabei arbeiten verschiedene Ärzte mit un-
ziehung ist. Zudem ist es wichtig, dass der Arzt die Wichtigkeit einer partnerschaftlichen Zusammen-
terschiedlichen fachlichen Schwerpunkten zusammen. Der Patient wird je nach Anliegen von den
arbeit klarmacht und dem Patienten damit eine
zuständigen Spezialisten betreut, wobei diese
Mitverantwortung für die Behandlung gibt.
sich über ihn austauschen, um eine ganzheitliche
Als Formen der Kooperation werden die aktive und
Betrachtungsweise zu ermöglichen. Meistens geht
die passive Mitarbeit des Patienten unterschieden.
eine
Sie bilden die Extrempole auf einem Kontinuum.
einem niedergelassenen Allgemeinmediziner aus,
Während der aktive Patient sich bemüht alle Fra-
der als Hausarzt seine Patienten gut kennt und
gen des Arztes (z. B. bei der Anamnese) zu beantworten und aktiv bei allen Schritten der Behand-
bei speziellen Anliegen mit anderen Fachkollegen kooperiert (Praxisnetze).
patientenorientierte
Zusammenarbeit
von
lung mitarbeitet, lässt der passiv-kooperierende Die autonome Kooperation bezeichnet ein selbst-
5.5.4 Besondere kommunikative Anforderungen
ständiges und freiwilliges Mitarbeiten des Patien-
Je nach Arbeitsfeld des Arztes werden an ihn unter-
ten, während bei der heteronomen Kooperation
schiedliche Anforderungen bezüglich der Patien-
die Mitarbeit allein aus der Befolgung der Anwei-
tenkommunikation gestellt. Die besonderen Anfor-
sungen des Arztes besteht und als aufgezwungen und fremdbestimmt erlebt wird.
derungen ergeben sich einerseits aus der Schwere der Erkrankungen, andererseits aus der Verstän-
Zudem kann man die compliante und non-compliante Kooperation unterscheiden. Beide Formen der Mitarbeit beziehen sich auf den Begriff der Compliance. Compliance steht, wie schon erwähnt, für die Befolgung und Einhaltung der ärztlichen Vorgaben. Ein complianter Patient richtet sich vollständig nach dem Behandlungsplan, während bei non-complianter Kooperation die Anweisungen nicht befolgt werden. Als „intelligente Non-Compliance“ wird der Fall bezeichnet, in dem ein Patient die Anweisungen des Arztes aus sinnvollen medizinischen Gründen nicht befolgt. Tritt beispielsweise bei der Einnahme eines Medikaments nach Behandlungsplan der entgegengesetzte Effekt auf, würde man die Reaktion des Patienten, der das Medikament sofort wieder absetzt, als intelligente Non-Compliance bezeichnen.
digungsmöglichkeit mit den jeweiligen Patienten.
Patient alles über sich ergehen.
Bei Schwerkranken und Sterbenden stellt das Fehlen der Aussicht auf
Besserung ein besonderes
Problem dar. Der Arzt muss sich selbst und dem Kranken häufig gestehen, dass er am Ende seiner Hilfsmöglichkeiten angekommen ist. Eine weitere Kommunikationshürde stellt die Überbringung ungünstiger Diagnosen dar. Besonders schwierig ist die Situation, wenn der Betroffene nicht mit der Diagnose rechnet. In so einem Fall sollte der Arzt sich gut auf das Gespräch vorbereiten. Auch die Verständigung mit Kindern kann eine Problemsituation darstellen. Gerade bei kleinen Kindern, die sprachlich noch nicht in der Lage sind, über ihre Symptomatik zu berichten, sollte ein Elternteil hinzugezogen werden. Bei älteren Kindern ist es wichtig, dass der Arzt seinen Kommunikationsstil an deren sprachlichen und kognitiven Entwicklungsstand anpasst.
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5 Arzt-Patient-Beziehung Die Besonderheiten der Kommunikation und Kooperation 5.5.5 Mögliche Ursachen für Störungen der Kommunikation und Kooperation Die organisatorisch-rechtlichen Bedingungen
5.5.6 Klinische Bezüge „Schwierige Patienten“
Selbst wenn sowohl Arzt wie auch Patient bemüht
gen Patienten“. Es kann sich dabei z. B. um einen
sind, eine gute Beziehung aufzubauen, kann dieses
Patienten handeln, der trotz ausführlicher Bespre-
Vorhaben durch den organisatorischen Rahmen
chung des Behandlungsplans keine Compliance
erschwert werden. Störungen organisatorischer
zeigt und die Kompetenz des Arztes immer wieder
Bedingungen in der Arztpraxis oder im Kranken-
in Frage stellt. In solchen Fällen ist es für den Arzt
haus sind zum Beispiel die hohe Patientenzahl,
wichtig, aufkommende Reaktanz („Warum soll ich
die den Arzt unter Zeitdruck setzt oder die fehlende Privatsphäre beim Gespräch in einem Mehrbett-
es ihm noch mal erklären, wenn er mir doch nicht zuhört...“) zu kontrollieren und sich zu bemühen,
zimmer im Krankenhaus. Aber auch rechtliche
die Beweggründe hinter dem Verhalten des Patien-
Faktoren wie die ärztliche Gebührenordnung, die
ten herauszubekommen.
211
Jeder Arzt begegnet früher oder später „schwieri-
ausführliche Beratungsgespräche nur sehr gering
Check-up
finanziell honoriert, können eine gute Kommunikation erschweren.
Die Wahrnehmungs- und Beurteilungsfehler Auf Seiten des Arztes kann der Aufbau einer guten Beziehung durch eine verzerrte Wahrnehmung
4
Machen Sie sich nochmals klar, unter welchen Bedingungen es zur Störung der Kommunikation und Kooperation kommen kann und wie Sie dem entgegenwirken können.
des Patienten erschwert sein. (zu einer detaillierten Darstellung von Wahrnehmungs- und Beurteilungsfehlern, s. S. 216).
Die Reaktanz Reaktanz bezeichnet eine Art Trotzreaktion, bei der man genau das Gegenteil tut, was einem von anderen geraten wird. Diese Reaktion tritt häufig auf, wenn man sich in seiner Rolle angegriffen und in seiner Handlungs- und Entscheidungsfreiheit begrenzt fühlt. Beispielsweise kann ein Arzt, der sich von seinem Patienten in seiner Arztrolle kritisiert fühlt, mit Reaktanz reagieren, indem er die Kritikpunkte des Patienten nicht beachtet, sondern auf seinem Vorgehen beharrt.
Die Erwartungsenttäuschung des Kranken Besonders bei Patienten, die eine große Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit haben und ihrerseits alles tun, damit eine baldige Besserung eintritt, kann die Kooperation geschwächt werden, wenn keine baldige Besserung eintritt. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Erwartungen des Patienten in realistische Bahnen zu lenken.
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Kapitel
6
Die Untersuchung und das Gespräch 6.1
Der Erstkontakt 215
6.2
Die Exploration und die Anamnese 217
6.3
Die körperliche Untersuchung 218
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214
Klinischer Fall
Erschwerte Bedingungen
Nierenstein in der Sonographie: Typischer heller Steinreflex (p) bei einem Kelchstein mit dahinter liegendem Schallschatten.
Vor die Diagnose, so lautet eine alte Ärzteweisheit, haben die Götter Untersuchung und Anamnese gestellt. Unter der Anamnese versteht man das Gespräch zwischen Arzt und Patient über die Vorgeschichte der Erkrankung. Ärztliches Gespräch und körperliche Untersuchung sind auch Thema des nächsten Kapitels. Wie wichtig diese beiden Elemente sind, merkt man, wenn sie – wie bei Dr. Schlüter und seiner Patientin – nicht möglich sind. Ohne Worte Es ist Donnerstagabend, 22 Uhr. Vier Stunden Bereitschaftsdienst liegen hinter Dr. Schlüter – und etliche noch vor ihm. Seine nächste Patientin kommt in Begleitung ihres Mannes. Dr. Schlüter merkt schnell, dass die fast völlig verhüllte Frau kein Deutsch spricht und der Ehemann nur ein paar Brocken. Dieser erklärt dem Arzt, dass seine Familie seit einem halben Jahr in Deutschland sei und im nahe gelegenen Asylbewerberheim wohne. Nun habe seine Frau seit dem Nachmittag Schmerzen. Weiter kommt Dr. Schlüter mit der Anamnese zunächst nicht. Nun gut, denkt er sich, dann untersuche ich erst einmal. Schmerzen im Unterbauch Er bittet die Frau, sich auf die Untersuchungsliege zu legen, doch der Ehemann erklärt mit Worten und Gesten, dass sich seine Frau nur von einer Frau untersuchen lasse. Was tun? In dem kleinen Kreiskrankenhaus ist Dr. Schlüter der einzige Dienst
habende Internist. Zum Glück hat in der Chirurgie heute eine Ärztin Dienst. Doch als Dr. Schlüter sie anpiepst, erfährt er, dass sie gerade im OP ist. Dr. Schlüter versucht nochmals, mehr von der Patientin zu erfahren. Schließlich bekommt er heraus, dass die 35-jährige Frau unter Schmerzen im rechten Unterbauch leidet und zu Hause bereits zweimal erbrochen hat. Um welche Erkrankung könnte es sich handeln? Eine Adnexitis, eine Entzündung des Eileiters? Vielleicht eine Blinddarmentzündung? Oder eine Divertikulitis, also eine Entzündung von Ausstülpungen der Darmschleimhaut? Dr. Schlüter kommt nicht weiter. Da fällt ihm eine Untersuchung ein, die er durchführen kann: Er gibt der Patientin ein Gefäß und schickt sie auf die Toilette. Die Urinuntersuchung ergibt eine Makrohämaturie – also deutliche Spuren von Blut im Harn. Der Stein des Anstoßes Dr. Schlüter bittet die Patientin nochmals, ihm zu zeigen, wo die Schmerzen sind. Jetzt fällt ihm auf, dass die Frau mit der Hand von der Taille in den Unterbauch fährt. Womöglich strahlen die Schmerzen von der Flanke in den Unterbauch aus. Nun fügt sich langsam das Bild zusammen. Als seine Kollegin aus dem OP kommt, hat Dr. Schlüter bereits eine Hypothese, um welche Krankheit es sich handeln könnte: Eine Nierenkolik. Dabei lagern sich in der Niere feste Substanzen ab, so genannte Nierensteine. Werden diese mit dem Urin in den Harnleiter gespült, können sie stecken bleiben und eine Kolik verursachen. Je nach Sitz des Steins werden die krampfartigen Schmerzen im Rücken oder im Unterbauch empfunden. Die Dienst habende Chirurgin nimmt die Patientin mit in den Ultraschallraum und bestätigt Dr. Schlüters Diagnose wenige Minuten später: In der Sonographie sieht man tatsächlich einen Stein im rechten Harnleiter. Dr. Schlüter injiziert der Patientin ein krampflösendes Medikament und rät ihr, viel zu trinken. Meist wird der Stein innerhalb von 48 Stunden nach draußen gespült. Sollte dies nicht der Fall sein, kann man den Stein operativ entfernen. Ein schüchternes Lächeln bestätigt Dr. Schlüter, dass die Schmerzen nachlassen. Der Ehemann der Patientin bedankt sich überschwänglich. Und Dr. Schlüter ist stolz, dass er auch unter diesen erschwerten Bedingungen auf die richtige Diagnose gekommen ist.
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6 Untersuchung und Gespräch Der Erstkontakt
6
Untersuchung und Gespräch
6.1 Der Erstkontakt
215
Die Vorerfahrungen Der Patient bringt Vorerfahrungen mit, die das Verhalten, Erleben und die Erwartungen an den Arztbesuch bestimmen. Schlechte Erfahrungen können
Lerncoach
ihn zu einem misstrauischen Interaktionspartner
Im folgenden Kapitel erfahren Sie, welchen Beurteilungsfehlern man im Erstkontakt zwischen Arzt und Patient aufsitzen kann. Es ist wichtig, dass Sie sich diese gut einprägen, damit Sie versuchen können, sie auch schon im jetzigen ersten Kontakt mit den Patienten zu vermeiden.
machen, der nur ungern Informationen preisgibt. Dies beeinflusst wiederum das Verhalten des Gegenübers, der beispielsweise eher dazu neigen wird, Fragen auszusparen, die als unangenehm empfunden werden könnten und die die gespannte Atmosphäre noch verstärken. Auch wird er dazu tendieren, ein zähes Gespräch eher zu beenden, als wenn er es mit einer aufgeschlossenen, ihm
6.1.1 Der Überblick
Vertrauen und Sympathie entgegenbringenden
Das erste Zusammentreffen von Arzt und Patient
Person zu tun hat.
und die Atmosphäre bei der Anamnese bestimmen
Es ist die Aufgabe des Arztes eine solche Situation
die weitere Beziehung bedeutend mit. Hier soll der
zu erkennen, diesen Tendenzen entgegenzuwirken
Grundstein dafür gelegt werden, dass ein tragfähiges „Arbeitsbündnis“ zwischen Patient und Arzt
und eine Situation zu schaffen, in der der Patient seine negativen Erfahrungen korrigieren kann.
entsteht. Für den diagnostischen und therapeuti-
gemeinsame Arbeitsaufgabe, die in der Wiederher-
Denken Sie daran, dass durch unterschiedliche Vorerfahrungen des Patienten völlig unterschiedliche Voraussetzungen für die Exploration gegeben sein können, obwohl die Situation und das Verhalten des Arztes gleich sind.
stellung der Gesundheit des Patienten besteht. Ansonsten befinden sich Patient und Arzt jedoch in
Die Erwartungen
einer völlig unterschiedlichen Ausgangsposition.
Im Erstgespräch ist es wichtig, die Vorstellungen,
schen Prozess ist eine auf beiden Seiten vertrauensvolle Haltung förderlich. Der Patient muss den Fähigkeiten des Arztes vertrauen und dieser dessen Compliance. Das Arbeitsbündnis kennzeichnet eine
Erwartungen und Einstellungen des Patienten zu
6.1.2 Die Patientenperspektive Die subjektive Betroffenheit
erfragen. Unausgesprochene Erwartungen, zum Bei-
Der Patient ist unmittelbar und zumeist emotional
gesprächs oder an die Behandlungs- und Genesungs-
von der Krankheit betroffen. Er leidet an Schmerzen
dauer im Allgemeinen, können unrealistisch sein
oder Beeinträchtigungen und ist zumindest unsicher, häufig auch ängstlich oder verzweifelt. Er ist
und zu Enttäuschung und Unzufriedenheit führen. Auch die Erwartungen an das zukünftige Ar-
in der Regel als ganze Person involviert, d. h. auch
beitsbündnis können interindividuell sehr ver-
sein soziales Umfeld (Familie, Partner) und der be-
schieden sein. Erwarten die Patienten, dass von
rufliche Kontext (Arbeitskollegen, Verdienstausfall)
nun an die Verantwortung allein beim Arzt liegt
sind betroffen.
(die Arbeit ist also ungleich verteilt) oder gehen
Der Patient begegnet dem ersten Kontakt mit dem
sie davon aus, aktiv mitarbeiten zu können und
Arzt nicht neutral, sondern bringt Vorkenntnisse,
ebenso Verantwortung und Anstrengungen auf
Krankheitsüberzeugungen und Attributionsstile (s. S. 130) in die Interaktion mit ein. Diese Vorerfahrungen und Erwartungen beeinflussen die Interaktion.
sich nehmen zu müssen? Sehen sie den Arzt als einen Dienstleister, der ihnen
spiel an die zur Verfügung stehende Zeit des Erst-
Ratschläge zu einem von ihnen vorgetragenen Problem gibt, die sie eigenverantwortlich annehmen oder ablehnen können? Oder erwarten sie Verordnungen, die sie sich auf jeden Fall vornehmen umzusetzen?
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6 Untersuchung und Gespräch Der Erstkontakt Um Missverständnisse zu vermeiden, ist ein aus-
Die Stereotypien
führliches wechselseitiges Gespräch nötig, das auch die Äußerungen von Erwartungen möglich
Bei der Beurteilung von Menschen spielen Überzeugungen eine Rolle, dass Mitglieder bestimmter so-
macht. Dennoch ist davon auszugehen, dass einige
zialer Gruppen für sie typische Merkmale besitzen.
der Erwartungen, Hoffnungen und Ängste unaus-
Solche Überzeugungen heißen Stereotypien und
gesprochen bleiben oder unbewusst wirken und
werden automatisch abgerufen. Ein Beispiel sind
das Verhalten des Patienten häufig unerklärlich
Geschlechtsrollenstereotype: Ein Arzt könnte von
scheinen lassen.
seinen Patientinnen annehmen, dass sie eher über Schmerzen klagen als seine männlichen Patienten,
6.1.3 Die Arztperspektive Die fachliche Betroffenheit
oder umgekehrt.
Im Gegensatz zum Patienten ist der Arzt in die Kran-
Der Haloeffekt
kengeschichte nicht unmittelbar emotional invol-
Ein Haloeffekt (auch: Überstrahlungsfehler) be-
viert. Im besten Falle bringt er dem Patienten Empa-
zeichnet den unzulässigen Schluss von der Bewer-
thie entgegen, der Krankheit steht er jedoch in einer
tung eines Merkmals auf ein anderes Merkmal.
sachlichen und objektiven Beziehung gegenüber.
Hierzu zwei Beispiele: In der klinischen Praxis schließt der Arzt fälschlicherweise von einem be-
Die Beurteilungsfehler Im Erstkontakt mit dem Patienten, wie auch bei
sonders auffälligen Merkmal, wie dem langsamen Sprechtempo eines Patienten auf eine geringe Intel-
allen anderen zwischenmenschlichen Interaktio-
ligenz. Er nimmt von einem ungepflegt erscheinen-
nen, besteht die Gefahr von Beurteilungsfehlern.
den Patienten an, dass er hinsichtlich der Medika-
Nur wenn man um sie weiß, kann man sie zu
menteneinnahme unzuverlässig ist.
verhindern versuchen.
Der Kontrastfehler Der erste und der letzte Eindruck
Bei einem Kontrastfehler bestimmt der Kontrast zu
Die Begriffe „Primacy-Effect“ und „Recency-Effect“ stammen aus der Gedächtnispsychologie und mei-
einer Referenzgruppe das Urteil mit. Die Unterschiede hinsichtlich des zu messenden Merkmals
nen eine Überbetonung des zuerst und zuletzt dar-
erscheinen größer, als sie eigentlich sind: Wurden
gebotenen Objekts in einer Reihe anderer. In Merk-
vorab Personen beurteilt, die besonders gut/ängst-
fähigkeitsexperimenten zeigt sich, dass Objekte an
lich/krank waren, kann die Beurteilung einer
erster oder letzter Position besser erinnert werden
mittelmäßig guten/ängstlichen/kranken Person im
als die mittleren. Dies ist auch für die Beurteilung
Vergleich dazu besonders schlecht/wenig ängstlich
von Personen relevant.
oder krank ausfallen.
Beachte Der erste und der letzte Eindruck, den ein Patient hinterlässt, bestimmen das Gesamturteil über den Patienten unverhältnismäßig stärker mit als Informationen mitten im Gespräch.
Der Milde- und der Strengefehler Bei einem Mildeeffekt werden Merkmale systematisch zu gering, bei einem Strengefehler (Härtefehler) zu hoch beurteilt. Ein Psychiater, dem es unangenehm ist, seinen männlichen Patienten ein hohes Ausmaß an Angst zu bescheinigen, beurteilt das
Der erste Eindruck beeinflusst zudem das weitere
Merkmal zu milde.
Verhalten des Beurteilers. Wird zum Beispiel von einer sofort auffallenden Gesichtsfärbung des Pa-
Die Projektion
tienten auf ausgiebigen Alkoholkonsum geschlos-
Der Begriff der Projektion stammt aus der Psycho-
sen, kann dies den Arzt dazu verleiten, bei der
analyse und meint einen Abwehrmechanismus,
folgenden Informationsgewinnung Fragen in diese
bei dem eigene Wünsche oder Eigenschaften, die
Richtung zu stellen und andere außen vor zu
aufgrund ihrer Bedrohlichkeit für den psychischen
lassen.
Apparat nicht akzeptiert werden können, anderen
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6 Untersuchung und Gespräch Die Exploration und die Anamnese Menschen zugeschrieben werden. Diese Zuschrei-
sorgfältig erfasst werden soll die Vorgeschichte
bungen sind natürlich Fehler bei der Fremdbewertung.
einer psychischen oder körperlichen Erkrankung. Hierzu werden Erkundungen angestellt (Explora-
Der Effekt der zentralen Tendenz Der Effekt der zentralen Tendenz meint, dass Menschen extreme Beurteilungen vermeiden und statt dessen mittlere Beurteilungen wählen. Ein Beispiel: Soll ein Merkmal eines Patienten auf einer 7-stufigen Skala beurteilt werden, werden häufiger mittlere Beurteilungen abgegeben als dass eine „1“ oder eine „7“ gewählt wird.
6.1.4 Klinische Bezüge Auswirkung des „Primacy-Effects“ in der Praxis Ein Arzt führt mit einem Patienten ein längeres Gespräch ohne sich Notizen zu machen. Als er sich später einige Gesprächsnotizen machen will, kann
217
tion), die zu einer Sammlung von Daten führen, anhand derer eine Diagnose gestellt werden kann und aus denen Hinweise auf Ursachen gewonnen werden können. Die Informationen bilden die Grundlage für die Therapieplanung. Neben der diagnostischen Funktion erfüllt das anamnestische Gespräch auch bereits eine erste therapeutische Funktion : Der Arzt hört dem Patienten zu, interessiert sich für seine Beschwerden und signalisiert Unterstützung. Durch eine ausführliche Edukation nimmt er dem Patienten Angst und reduziert Unsicherheit.
6.2.2 Die Arten einer Anamnese Die Eigen- und die Fremdanamnese Die erste Einteilung des Anamnesebegriffs betrifft
er sich detailliert an den Beginn und an das Ende
die Quelle der Informationen. Wenn die Kranken-
des Gesprächs erinnern, eine Rekonstruktion der
geschichte im ärztlichen Gespräch mit dem Patien-
Mitte des Gesprächs bereitet ihm jedoch Schwierig-
ten selbst erhoben wird, spricht man von einer
keiten. Eine Gleichgewichtung aller relevanten
Eigenanamnese (der Kranke hat die Daten sozu-
Informationen, und die damit verbundene sachge-
sagen selbst erhoben). Von einer Fremdanamnese
rechtere Beurteilung, ist ihm im Nachhinein nicht
ist hingegen die Rede, wenn Angehörige, der Vor-
mehr möglich.
mund, Bekannte oder Kollegen zur Krankheitsgeschichte eines Patienten befragt werden.
Check-up 4
4
Rekapitulieren Sie, welche Faktoren von Patientenseite aus die Interaktion beeinflussen können. Wiederholen Sie auch, wodurch es zu Beurteilungsfehlern vonseiten des Arztes kommen kann.
6.2 Die Exploration und die Anamnese Lerncoach Exploration und Anamnese sind wichtige Informationsquellen um herauszufinden, was dem Patienten fehlt. Sie sollten sich deshalb die Funktion und die verschiedenen Arten gut einprägen.
Weitere Formen der Anamnese Eine weitere Einteilung des Anamnesebegriffs geschieht anhand des Inhalts der erfassten Informationen. Die Anamnese kann aus einer allgemeinen Anamnese bestehen, in der biographische und medizinische Daten erhoben werden, oder sich speziell auf die Entwicklung und den Verlauf des aktuellen Krankheitsbildes beziehen. In diesem Fall spricht man von einer Krankheitsanamnese. Bei der Familienanamnese werden beispielsweise erbliche Belastungen und der familiäre Rückhalt des Patienten erfragt. Eine Medikamentenanamnese dient der Erfassung der aktuellen und bisherigen Medikation und deren Wirkung.
Die Verhaltensanalyse Die Verhaltensanalyse dient der Erfassung von
6.2.1 Der Überblick
Informationen über die Entstehung und Aufrecht-
Der Begriff „Anamnese“ stammt aus dem Grie-
erhaltung eines Störungsbildes (vgl. S. 92). Anhand
chischen und bedeutet „Erinnerung“. Erinnert und
des SORCK-Schemas werden Bedingungsfaktoren
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218
6 Untersuchung und Gespräch Die körperliche Untersuchung aufgedeckt, deren Beseitigung das Ziel der anschließenden Therapie ist. Zur Erinnerung: „S“ steht für den Stimulus, der auf einen Organismus „O“ trifft,
6.2.4 Klinische Bezüge Anamnese bei einem Kind Ein Arzt behandelt ein Kind, dessen sprachliche
der auf diesen reagiert (R). Seine Reaktion hat wie-
Ausdrucksfähigkeit noch nicht so weit ausgeprägt
derum bestimmte Konsequenzen (C), die mehr oder
ist, dass es detailliert auf die Fragen des Arztes ant-
weniger kontingent (K) folgen. Die Reaktionen stel-
worten kann. So kombiniert der Arzt eine Eigen-
len hierbei das problemrelevante Verhalten dar,
mit einer Fremdanamnese: Neben einfachen Fra-
das häufig durch Verstärker (Konsequenzen wie
gen, die er an das Kind direkt richtet, wie beispiels-
das Nachlassen von Angst) aufrechterhalten wird.
weise die Frage nach dessen Alter (Teil der all-
6.2.3 Die Struktur der Anamnese
gemeinen Anamnese), befragt er auch die anwesenden Eltern nach dem Verlauf und der Entwicklung
Die Anamnese dient wie das Interview (s. S. 66) der
des Krankheitsbildes (Krankheitsanamnese).
zielgerichteten
Gewinnung
von
Informationen.
Check-up
Auch ein anamnestisches Gespräch kann direktiv oder non-direktiv geführt werden und unterschiedliche Frageformen enthalten.
Zu Beginn der Anamnese bietet sich ein non-direktives oder patientenorientiertes Vorgehen an (zu den Strukturen der Kommunikation s. S. 202). Der Patient bestimmt hierbei den Verlauf und die Inhalte des Gesprächs mit und erhält die Gelegenheit, ihm wichtige Informationen mitzuteilen. Dies wird durch offene Fragen realisiert, d. h. durch Fragen, die eine große Bandbreite von Antworten zulassen. Eine häufig genanntes Beispiel ist die Frage nach dem Anlass des Arztbesuches: „Was führt Sie zu mir?“. Durch offene Fragen wie „Woher glauben Sie stammen Ihre Schmerzen?“ kann der Arzt auch Einblick in die subjektiven Krankheitstheorien des Patienten gewinnen. Eine Sondierungsfrage ist eine offene Frage, die einer groben ersten Orientierung dient (z. B. „Bei welchen Aktivitäten tritt dieser Schmerz auf?“). Das non-direktive geht häufig im Laufe des Gesprächs in ein direktives oder arztzentriertes Vorgehen über. Bei dieser Gesprächsform lenkt der Arzt den Verlauf und die Inhalte durch die Formulierung seiner Fragen. Es kommen hierin überwiegend geschlossene Fragen vor. Sie beschränken die Antwortmöglichkeiten des Patienten und werden häufig eingesetzt, um grundlegende Informationen zu sammeln. Beispiele für geschlossene Fragen sind: „Wie alt sind Sie?“ oder „Nehmen Ihre Schmerzen über den Tag hinweg zu, ab oder bleiben sie unverändert?“ (Alternativ- oder Katalogfrage, s. S. 67).
4
Wiederholen Sie, wie eine Anamnese strukturiert sein sollte. Machen Sie sich dabei vor allem noch einmal klar, welches Vorgehen zu Beginn einer Anamnese sinnvoll ist.
6.3 Die körperliche Untersuchung Lerncoach Im folgenden Abschnitt wird ein psychologischer Blick auf die körperliche Untersuchung geworfen. Eine solche Perspektive kann Ihnen helfen, die Beziehung zwischen Arzt und Patient während einer körperlichen Untersuchung besser zu verstehen und die Situation für beide Seiten angenehmer zu gestalten. Machen Sie sich deshalb die psychosozialen Aspekte klar.
6.3.1 Der Überblick Die körperliche Untersuchung ist mehr als das Anwenden medizinischer Behandlungstechniken. Sie schafft eine besondere psychologische Situation, die sich in vielerlei Hinsicht von üblichen zwischenmenschlichen Beziehungen abhebt. Dies gilt für den Patienten und für den Arzt.
6.3.2 Einige psychosoziale Aspekte aus der Patientenperspektive Für die meisten Patienten stellt die körperliche Untersuchung eine Ausnahmesituation dar, in der ihre Privat- und Intimsphäre betreten wird.
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6 Untersuchung und Gespräch Die körperliche Untersuchung Beachte Unter der Intimsphäre wird der Bereich verstanden, der üblicherweise vor dem Eindringen anderer geschützt wird.
219
bei einem besonders harten und als ungerecht empfundenen Patientenschicksal, das Sich-angezogen-Fühlen von einem attraktiven Patienten oder
Abneigung und Ekel gegenüber eines verwahrlosten, übelriechenden Patienten. Hier gilt es die
Die Intimsphäre umfasst sowohl psychische als
Erwartung an die affektive Neutralität zu erfüllen
auch physische Komponenten: Gedanken und
und die eigenen Gefühle nicht das ärztliche Han-
Gefühle sollen nicht öffentlich werden, eine ge-
deln zum Nachteil des Patienten leiten zu lassen.
wisse räumliche Distanz vor allem von Fremden
Der Arzt hat das Recht, in die Privat- und In-
zum eigenen Körper ist erwünscht. Im ärztlichen Gespräch und bei der körperlichen
timsphäre des Patienten einzudringen und körperliche Eingriffe vorzunehmen (Eingriffsrecht). Mit
Untersuchung bleibt es nun häufig nicht aus, zu-
diesem Recht ist die Pflicht verbunden, sorgfältig
mindest teilweise gegen beide Anliegen zu versto-
und gewissenhaft mit dem ärztlichen Auftrag um-
ßen. Die Patienten werden über Dinge befragt, die
zugehen. Dies bedeutet auch, die emotionale Be-
ihnen unangenehm sein können und persönliche
findlichkeit des Patienten zu bemerken und sofern
oder gesellschaftliche Tabus überschreiten (Alko-
möglich zu berücksichtigen. Trotz praktischer
holkonsum, Sexualverhalten) und der eigene, häu-
Zwänge wie Zeitdruck und Routine sollte der Arzt
fig entkleidete Körper wird von einer fremden Person berührt.
das ihm entgegengebrachte Vertrauen zu schätzen wissen und behutsam damit umgehen.
Auf Verletzungen der Intimsphäre (z. B. bei gynämit Scham. Hinzu kommen weitere negative Emo-
6.3.4 Klinische Bezüge Gynäkologische Untersuchung
tionen wie die Angst vor chirurgischen Eingriffen
Viele Patientinnen verbinden mit dem völligen
und vor Schmerzen, die der Arzt zum Beispiel
Nacktsein Gefühle der Scham und des Unwohlseins.
beim Setzen von Spritzen zufügen muss. Auch das
Dies kann durch ein zweischrittiges Vorgehen bei
Gefühl der Abhängigkeit und des Ausgeliefertseins kennzeichnen die körperliche Untersuchung aus
einer gynäkologischen Untersuchung umgangen werden: Bei der Untersuchung der Brust entkleidet
der Perspektive des Patienten.
die Patientin nur den Oberkörper, bei der anschlie-
Eine offene und empathische Kommunikation zwi-
ßenden gynäkologischen Untersuchung nur den
schen Arzt und Patient helfen eine vertrauensvolle
Unterkörper.
kologischen Untersuchungen) reagieren Menschen
Beziehung aufzubauen, die diese negativen Emotio-
Check-up
nen abschwächen.
4
6.3.3 Einige psychosoziale Aspekte aus der Arztperspektive Im Gegensatz zum Patienten hat der Arzt in der
Machen Sie sich noch einmal klar, warum die körperliche Untersuchung für die meisten Patienten eine Ausnahmesituation darstellt.
Regel tagtäglich mit der Situation einer körperlichen Untersuchung zu tun. Er konnte Erfahrungen und Bewältigungskompetenzen ausbilden und ist so gegenüber dem Patienten im Vorteil. Die sich zwangsläufig einstellende Routine im Umgang mit der Situation sollte nicht dazu verleiten, die Besonderheit der Situation für den Patienten zu unterschätzen. Aber auch der Arzt gerät in Situationen, die von seiner Routine als Mediziner abweichen und persönliche Gefühle und Einstellungen präsenter machen. Beispiele sind das Empfinden von Trauer oder Wut
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Kapitel
7
Urteilsbildung und Entscheidung 7.1
Die verschiedenen Arten der diagnostischen Entscheidung 223
7.2
Die Grundlagen der Entscheidung 224
7.3
Die Urteilsqualität und die Qualitätskontrolle 225
7.4
Die Entscheidungskonflikte und die Entscheidungsfehler 227
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222
Klinischer Fall
Rettende Pollen
KHK in der Koronarangiograpie: Hochgradige Stenose am Übergang vom proximalen zum mittleren Drittel des R. circumflexus (p) der linken Herzkranzarterie.
Um eine Diagnose zu stellen, muss der Arzt oft viele Bausteine zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Manchmal reicht aber auch ein kleines Steinchen, um eine Hypothese zu bilden und damit den Stein ins Rollen zu bringen ... So auch bei Herrn O. Eine kleine Bemerkung und die Aufmerksamkeit seines Arztes rettet ihm vielleicht sogar das Leben. Wie Ärzte von der Hypothese zur Diagnose gelangen – und welche Konflikte mit Entscheidungen verbunden sein können –, lesen Sie im folgenden Kapitel. Pollen unter der Haut Hautarzt Dr. Stark zieht die Spritze aus dem Unterhautgewebe des Patienten. „Alles o. k.?“ fragt er seinen Patienten, den 52-jährigen Walter O. „Danke“, erwidert dieser und greift sich an die Brust. „Nur dieses Sodbrennen wird immer lästiger.“ Dr. Stark verabschiedet seinen Patienten bis zur nächsten Woche: Herr O. macht seit fast zwei Jahren eine Hyposensibilisierung wegen seines Heuschnupfens. Dabei werden ihm die allergieauslösenden Pollen in geringer Dosis subkutan gespritzt. Ziel ist es, die Überempfindlichkeit gegen diese Allergene herabzusetzen. Vor der Behandlung ist Walter O. von seinem Hausarzt durchgecheckt worden. Denn bei schweren Erkrankungen sollte man eine Hyposensibilisierung nicht durchführen. Sodbrennen gehört natürlich nicht dazu – aber irgendwie hat Dr. Stark das Gefühl, dass da noch etwas anderes dahinter stecken könnte.
Diagnose am Stammtisch „Wann haben Sie denn Ihr Sodbrennen?“, fragt Dr. Stark beim nächsten Termin. Und er wird hellhörig, als sein Patient sagt, die Beschwerden träten oft beim Treppensteigen auf. Zu Sodbrennen – einem Rückfluss von Mageninhalt in die Speiseröhre – kommt es meist im Liegen und nach Mahlzeiten. Dr. Stark hat nun eine Hypothese, worunter Herr O. leiden könnte. Zwei Tage später ist Ärztestammtisch im Ratskeller. Unter den vielen Medizinern entdeckt Dr. Stark auch Dr. Hübner, den Hausarzt von Herrn O. Er nimmt ihn beiseite und berichtet ihm von den Beschwerden ihres gemeinsamen Patienten. Dr. Stark teilt ihm auch mit, welche Diagnose er vermutet: eine Koronare Herzkrankheit (KHK). Bei dieser Erkrankung sind die Herzkranzgefäße – die das Herz mit Blut versorgen – verengt. Dafür sind arteriosklerotische Gefäßveränderungen, also „Verkalkungen“, verantwortlich. Ist eine der Arterien ganz verschlossen, kann es zum Herzinfarkt kommen. Die meisten Patienten haben aber schon bei Gefäßverengungen Symptome, so genannte Angina pectoris. Die Betroffenen klagen über heftige Brustschmerzen, die vor allem bei körperlicher Belastung auftreten. Bei Herrn O. sind diese pektanginösen Beschwerden offenbar so gering, dass er sie für Sodbrennen hält. Der richtige Riecher Dr. Hübner bittet seinen Kollegen, Herrn O. möglichst schnell in seine Praxis zu schicken. Dann hört Dr. Stark lange Zeit nichts von Herrn O. Seine Termine hat er abgesagt. Eines Tages ruft ihn Dr. Hübner an: „Sie hatten den richtigen Riecher“, lobt er seinen Kollegen: Herr O. hat eine KHK. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass zwei Koronararterien kurz vor dem Verschluss standen. Deshalb ist eine Koronarangioplastie durchgeführt worden: Durch einen kleinen, in die Herzkranzgefäße eingeführten Ballon sind die Stenosen wieder erweitert worden. Außerdem hat man einen Stent eingesetzt, ein kleines Röhrchen, das die Arterie künftig offen halten soll. Zusätzlich nimmt Herr O. Medikamente ein. Insgesamt geht es dem Patienten gut. Einige Wochen später schaut er bei Dr. Stark in der Praxis vorbei und bedankt sich mit einem großen Blumenstrauß: Durch die Aufmerksamkeit seines Arztes ist Herr O. möglicherweise vor einem Herzinfarkt bewahrt worden.
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7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Arten der diagnostischen Entscheidung
7
Urteilsbildung und Entscheidung
7.1 Die verschiedenen Arten der diagnostischen Entscheidung
223
beschrieben und soweit möglich einem Störungsbild zugeordnet. Im Gegensatz zum kurativen Ansatz in der Medizin, soll der Patient jedoch nicht im klassischen Sinne „geheilt“ werden, sondern meistens möchte er eine bestimmte Verhaltens-
Lerncoach
veränderung (beispielsweise die Reduzierung un-
Diagnostik bedeutet erkennen und beurteilen. Im folgenden Kapitel lernen Sie verschiedene Möglichkeiten kennen, zu einer diagnostischen Entscheidung zu kommen. Es ist wichtig, dass Sie sich beim Lesen der verschiedenen Diagnostik-Arten klarmachen, an welchem Punkt im therapeutischen Prozess sie ansetzen und was sie jeweils beurteilen.
angemessener Ängste) erreichen. Das Ziel ist also kein fest definierter Zustand, sondern ergibt sich aus den individuellen Wünschen und Vorstellungen des Patienten, die er mit seinem Therapeuten diskutiert und erarbeitet. Aufgrund des Störungsbildes und des persönlichen Behandlungsziels des Patienten folgt in der Indikationsdiagnostik die Zuweisung einer bestimmten Behandlungsmethode. Bei der prognostischen oder selektiven Indikation versucht man für ein bestimmtes Störungsbild die
7.1.1 Der Überblick
optimale Therapiemethode zu ermitteln. Daraus
Nach der ersten Untersuchung ist der Arzt oder Psychotherapeut aufgefordert, eine Diagnose zu er-
würde auf Basis der Befundlage die Wahl eines entsprechenden Therapeuten und des speziellen The-
stellen. Aufgrund seiner Beobachtungen und Unter-
rapieverfahrens folgen. Im Normalfall wählt der
suchungsbefunde soll er eine Beurteilung über den
Patient jedoch bereits im Voraus den Therapeuten
Zustand des Patienten bzw. über das weitere Vor-
und mit ihm auch eine bestimmte Therapierich-
gehen treffen. Dabei werden mehrere Arten der
tung.
diagnostischen Entscheidung unterschieden.
7.1.3 Die Prozessdiagnostik 7.1.2 Die Indikationsdiagnostik Der Grundgedanke der Indikationsdiagnostik (auch:
Im Gegensatz zur Indikationsdiagnostik, die dem therapeutischen Prozess zeitlich vorausgeht, ver-
Eingangsdiagnostik) ist folgender: Aufgrund des
läuft die Prozessdiagnostik therapiebegleitend. Ihr
Vorliegens bestimmter Anzeichen (Indikatoren)
Ziel ist eine Feinabstimmung des therapeutischen
zieht der Diagnostiker die Schlussfolgerung, dass
Vorgehens, sodass die einzelnen Behandlungs-
eine bestimmte Krankheit oder psychische Störung
methoden an den Verlauf angepasst werden kön-
vorliegt. Der jeweilige Befund indiziert ein be-
nen (adaptive Diagnostik). Besonders bei Behand-
stimmtes Vorgehen, beispielsweise die Anwendung
lungsmethoden, die große Schwankungen in der
eines bestimmten Heilverfahrens oder die Gabe eines Medikaments. Die Indikationsdiagnostik
Wirksamkeit aufweisen, ist eine Prozessdiagnostik sinnvoll, um die Zwischenergebnisse sofort für
geht also dem therapeutischen Prozess voraus.
das weitere Vorgehen zu nutzen. Beispielsweise erlauben tägliche Messungen der relevanten Para-
Merke Indikation wird als „Grund zur Anwendung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens in einem Erkrankungsfall, der seine Anwendung hinreichend rechtfertigt“ definiert (Pschyrembel 2001).
meter eine schnelle optimale Anpassung, wenn es um die Verträglichkeit und individuelle Dosierung eines Medikaments geht. In der Psychotherapie werden häufig Fragebögen zur Prozessdiagnostik eingesetzt, die beispielsweise die Stimmung des Patienten erfassen. Der Therapeut kann aus dieser Verlaufsmessung erkennen,
In der Psychotherapie ist eine solche Schlussfol-
welche Interventionen sich günstig und welche
gerung meistens komplizierter. Auf der Basis von
sich nicht oder ungünstig auf die Befindlichkeit
Informationen aus der Anamnese und diverser
des Patienten ausgewirkt haben und dieses Wissen
Testverfahren (s. S. 224) wird der aktuelle Zustand
im weiteren Therapieverlauf berücksichtigen.
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224
7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Grundlagen der Entscheidung 7.1.4 Die Ergebnisdiagnostik
Check-up
Die Ergebnisdiagnostik stellt eine Art Erfolgskontrolle des therapeutischen Vorgehens dar. Am Ende der Therapie wird festgestellt, inwieweit die angestrebten Therapieziele erreicht wurden. Aus diesem Grund ist es wichtig, zu Beginn der Therapie
4
Wiederholen Sie, welche Arten der Diagnostik Sie kennengelernt haben.
7.2 Die Grundlagen der Entscheidung
die Zielvorstellungen genau zu definieren und operationalisierbar zu machen. Das bedeutet, dass der
Lerncoach
Therapeut mit dem Patienten konkrete, überprüf-
Im folgenden Abschnitt erfahren Sie, wie Sie Informationen erhalten und interpretieren. Prägen Sie sich dabei vor allem ein, wie Sie diese richtig nutzen können, um eine sichere Diagnose zu stellen.
bare Ziele erarbeitet (Nicht: „Ich möchte, dass meine Angst verschwindet.“, sondern: „Ich möchte, dass meine Angst sich so reduziert, dass ich es mir wieder zutraue, alleine Einkaufen zu gehen.“). Neben
dem
Abgleich
zwischen
angestrebtem
Zielzustand und tatsächlich Erreichtem kann man
7.2.1 Der Überblick
durch die Ergebnisdiagnostik auch die absolute
Um eine diagnostische Entscheidung zu treffen,
Veränderung vom Ausgangszustand bei Therapiebeginn mit der Befindlichkeit bei Therapieende vergleichen, um ein Maß für die Effektivität der jeweiligen therapeutischen Maßnahme zu haben. Dazu werden dem Patienten die Tests und Fragebogen von der Eingangsdiagnostik am Ende noch einmal vorgelegt, um die jeweiligen Testwerte zu vergleichen.
benötigt der Arzt oder Psychotherapeut diverse Informationen über den Patienten und seine Symptomatik. Diese Informationen erhält der Diagnostiker zum einen im Gespräch mit dem Patienten, zum anderen aus Ergebnissen von eingesetzten Fragebogen, Testverfahren oder Laborergebnissen. Die Sammlung aller Informationen bildet den Befund. Dieses Bild, das einerseits den Zustand des Patienten möglichst gut darstellen soll und andererseits
7.1.5 Klinische Bezüge Verzahnung von Diagnostik und therapeutischer Intervention
weitere Informationen enthält, die zum Verständnis seiner Problematik oder zur Begründung des
Als Arzt sollte man sich über die weiteren Schritte
allerdings nach der Eingangsdiagnostik nicht voll-
nach der Eingangsdiagnostik im Klaren sein: Sind
ständig. Der Befund kann während des Therapie-
Diagnostik und therapeutische Intervention eng
verlaufs durch weitere Informationen ergänzt
miteinander verzahnt, kann der Arzt auf Basis der
werden.
therapeutischen Vorgehens beitragen können, ist
Befundlage die ersten Behandlungsschritte einleiten. Problematisch wird es dagegen, wenn in einem Bereich zwar eine ausgefeilte Diagnostik
7.2.2 Der diagnostische Prozess
existiert, aber kaum entsprechend abgestimmte
Informationen über einen neuen Patienten meis-
Der Arzt oder Psychotherapeut gewinnt die ersten
Therapiemethoden. Beispielsweise wird bei Schlag-
tens im Erstgespräch. Ein wichtiger Bestandteil
anfallpatienten häufig eine aufwendige neurologi-
davon
sche und neuropsychologische Diagnostik durch-
s. S. 217). Zudem kann er aus der Verhaltensbeob-
geführt, um neben den Funktionsbeeinträchtigun-
achtung des Patienten weitere Informationen ableiten. Auch Überweisungsberichte anderer Ärzte oder Therapeuten sind eine Informationsquelle.
gen auch das vom Infarkt betroffene Gehirnareal zu lokalisieren (z. B. mit der Hilfe bildgebender Verfahren). Die Therapie richtet sich jedoch allein nach den Funktionsbeeinträchtigungen (z. B. Logopädie bei Sprachstörungen). Welches Hirnareal genau betroffen ist, spielt für das weitere Vorgehen dagegen (bisher) keine Rolle, sodass die vorausgehende Läsionsdiagnostik streng genommen ins Leere läuft.
ist
die
Anamnese
(Krankengeschichte,
Merke Auf Basis dieser ersten Informationen werden in der Diagnostik Hypothesen entwickelt, die im Folgenden systematisch überprüft werden sollen.
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7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Urteilsqualität und die Qualitätskontrolle Der Diagnostiker leitet aus dem bestehenden
Ein wichtiger Grund für die Verwendung festgeleg-
Befund eine Fragestellung ab, die die Problematik des Patienten verständlicher machen soll. Beispiels-
ter Klassifikationskriterien liegt darin, dass sie eine notwendige Voraussetzung für die Überprüfung der
weise könnte ein Psychotherapeut Vermutungen
diagnostischen und therapeutischen Qualität dar-
über die Ursachen oder die aufrechterhaltenden Be-
stellen (s. u.).
225
dingungen einer psychischen Störung formulieren. könnte der Therapeut die Hypothese aufstellen,
7.2.4 Klinische Bezüge Diagnostischer Prozess
dass eine Konzentrationsschwäche vorliegt.
Für den Arzt beginnt der diagnostische Prozess be-
Der weitere diagnostische Prozess wird je nach Art und Inhalt der Hypothesen gestaltet. In diesem Fall
reits beim Eintreten des Patienten in den Behandlungsraum. Allein durch die Beobachtung des Pa-
wird ein Konzentrationstest und vielleicht zusätz-
tienten, durch seine Art auf Fragen zu reagieren,
lich ein Intelligenztest durchgeführt, um mögliche
seine Bewegungen und sein Aussehen gewinnt der
Ursachen für die Lernschwierigkeiten zu über-
Arzt schon erste, allerdings unsystematische Infor-
prüfen.
mationen. Gerade bei wichtigen Entscheidungen
In der psychologischen Diagnostik werden je nach
(z. B. Ist der Patient noch arbeitsfähig oder soll
Art der Fragestellung Leistungs- und Persönlich-
sein Rentenbegehren unterstützt werden?) sind
keitstests (s. S. 68) eingesetzt. Dabei kann man zwischen allgemeinen Verfahren, die einen breiten Verhaltens- und Erlebensbereich abdecken (z. B. Persönlichkeitstests wie der FPI) und meistens zu Beginn des diagnostischen Prozesses eingesetzt werden, und spezifischen Verfahren unterscheiden. Die spezifischen Tests oder Fragebögen werden passend zur vorliegenden Problematik ausgewählt. Beispielsweise ist das Beck-Depressions-Inventar (BDI) ein typischer Fragebogen zur Diagnostik von depressiven Störungen. Für diese Testverfahren liegen Normwerte vor, die eine Einordnung des individuellen Testwerts ermöglichen. So kann man aufgrund der geschlechtsspezifischen Normen im BDI den Punktwert, den ein Proband erreicht, als Normalbereich, Bereich der leichten oder schwereren Depression klassifizieren.
standardisierte Diagnoseinstrumente von großer Hilfe. Beispielsweise können im Falle eines Renten-
Bei einem Schüler mit großen Lernschwierigkeiten
begehrens verschiedene Untersuchungen durchgeführt werden. Deren Ergebnis vergleicht der Arzt dann mit den vorhandenen Normwerten und gewinnt so eine sichere Basis für seine Entscheidung.
Check-up 4
Machen Sie sich noch einmal klar, welche Bedeutung das Bilden von Hypothesen und deren jeweilige Überprüfung im diagnostischen Prozess hat.
7.3 Die Urteilsqualität und die Qualitätskontrolle Lerncoach
7.2.3 Die Klassifikationssysteme Bei der Diagnosestellung richtet sich der Arzt oder Psychotherapeut nach den Kriterien eines Klassifikationssystems (ICD oder DSM, s. S. 7). Um die Diagnostik auf Basis dieser Klassifikationssysteme zu erleichtern, gibt es standardisierte Interview-
verfahren. Sie werden verwendet um systematisch die verschiedenen Kriterien abzufragen. Ein solches Verfahren ist beispielsweise das Diagnostische Interview bei psychischen Störungen (DIPS, Margraf et al., 1994). Es beruht auf den Kategorien
Im folgenden Kapitel lernen Sie, warum es notwendig ist, die Qualität diagnostischer Entscheidungen zu überprüfen und welche Kriterien dabei eine Rolle spielen. Sie können sich das Lernen erleichtern, indem Sie versuchen, sich einerseits aus der Sicht des Patienten, andererseits aber auch aus Sicht der Krankenkassen klarzumachen, welche Ansprüche jeweils an diagnostische Entscheidungen und therapeutisches Vorgehen gestellt werden.
des DSM.
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7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Urteilsqualität und die Qualitätskontrolle 7.3.1 Der Überblick
menen Indikation zu sammeln. Kaum eine medizi-
Zunächst werden in diesem Kapitel zwei Wege zur Diagnosestellung dargestellt, die additive und die
nische Diagnose ist vollkommen sicher. Stattdessen sollte man sie als eine Art erste Annahme verste-
lineare Schlussfolgerung. Anschließend geht es um
hen, die im Laufe der Therapie überprüft werden
die Frage, wie man die Güte diagnostischer Ent-
muss. Eine Möglichkeit einer solchen Überprüfung
scheidungen überprüfen kann und welche Kriterien
bieten Verlaufsdokumentationen. Sie sind ein Ele-
dazu herangezogen werden sollten.
ment der Prozessdiagnostik (s. o.). Mithilfe einer Aufzeichnung der wichtigen Krankheitsparameter
7.3.2 Die Arten der Schlussfolgerung bei der Diagnosestellung
kann der Arzt die Gültigkeit seiner Diagnose und
Hat der Arzt innerhalb der Exploration und der kör-
der darauf aufbauenden Behandlungsmaßnahmen (z. B. die Gabe eines bestimmten Medikaments)
perlichen Untersuchung Informationen gesammelt,
überprüfen. Den Abschluss der Dokumentation
muss er diese nun zusammenfügen, um eine erste
bildet die Katamnese (Abschlussbericht der Kran-
Diagnose abzuleiten. Dabei gibt es zwei verschie-
kenbehandlung).
dene Möglichkeiten:
Um die allgemeine Urteilsqualität medizinischer
Bei der additiven Schlussfolgerung werden zu-
Entscheidungen zu messen, werden Methoden der
nächst alle Informationen erhoben, die vom
Prozess- und Evaluationsforschung eingesetzt. Die Prozessforschung geht der Frage nach, wie sich bestimmte Krankheits- und Gesundheitsmaße im Laufe des Therapieprozesses verändern. Dagegen ist das Ziel der Evaluationsforschung allgemeiner: Mithilfe einer systematischen Messung von therapeutischen Effekten und dem Vergleich verschiedener Behandlungsmethoden, soll die Wirksamkeit der einzelnen Therapiemethoden gemessen werden. Durch den Vergleich unterschiedlicher therapeutischer Methoden soll gesichert werden, dass sich die wirksamste Therapie durchsetzt. Methodisch können solche Vergleiche mithilfe von Metaanalysen durchgeführt werden. Dabei handelt es sich um ein statistisches Verfahren, bei dem die Ergebnisse vieler einzelner Studien zusammengetragen werden, um möglichst allgemeingültige Aussagen machen zu können.
Arzt benötigt werden. In einem zweiten Schritt werden die verschiedenen Informationen miteinander verrechnet, d. h. der Arzt fügt die einzelnen Bausteine zu einem Gesamtbild zusammen. Bei der linearen Schlussfolgerung erhebt der Arzt schrittweise Informationen, die er jeweils im Hinblick auf einen bestimmten Verdacht auswertet. Das Ergebnis weist ihm dann den Weg für das weitere diagnostische Vorgehen, beispielsweise eine genauere Eingrenzung der Symptomatik. Der Vorteil der additiven Schlussfolgerung liegt in ihrer größeren Präzision und dem geringeren Risiko, etwas zu übersehen, da alle Informationen vorliegen, bevor eine Diagnose erstellt wird. Allerdings sind additive Schlussfolgerungen deutlich zeitaufwendiger als lineare. Die größere Ökonomie ist rung. Ihr Nachteil liegt im Risiko, sich zu Beginn
Die Kriterien für die Qualität medizinischer Behandlung
des Prozesses für einen falschen Weg zu entschei-
Die Qualität der medizinischen Behandlung kann
den und damit wichtige Informationen zu über-
man in unterschiedliche Teilbereiche aufgliedern.
sehen bzw. gar nicht erst zu erheben.
Bereits im letzten Absatz wurde die Wirksamkeit
dann auch der Vorteil der linearen Schlussfolge-
einer Behandlung angesprochen. Sie ist ein Teil
7.3.3 Die Qualitätskontrolle diagnostischer Entscheidungen Die Messung der Urteilsqualität
der Ergebnisqualität, bei der allein der Endzustand der Behandlung betrachtet wird.
Medizinische Diagnosen müssen immer wieder
zu garantieren, reicht es allerdings nicht aus, den
überprüft werden, um einerseits den Therapiever-
unmittelbaren Behandlungserfolg zu messen. Viel-
lauf des Patienten zu optimieren und andererseits
mehr sollten Nachuntersuchungen (z. B. eine 1-Jah-
Wissen über die Berechtigung einer angenom-
res-Katamnese) nach Abschluss der Behandlung
Um die langfristige Wirksamkeit einer Behandlung
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7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Entscheidungskonflikte und die Entscheidungsfehler erfolgen. Nur so lässt sich etwas über die Stabilität des Ergebnisses aussagen. Bei der Beurteilung der Prozessqualität geht es dagegen um den Ablauf der Behandlung. Eine hohe Prozessqualität würde sich beispielsweise aus einem reibungslosen Ablauf bei der Zusammenarbeit mehrerer am Behandlungsprozess beteiligter Ärzte ergeben (z. B. wenn jedem folgenden Arzt immer die kompletten Informationen seiner Kollegen vorliegen). Die Kontrolle der verschiedenen Qualitätsarten erfolgt anhand verschiedener Kriterien. Beispielsweise können die Behandlungsmethoden nach wissenschaftlichen Kriterien gemessen werden. Es wird also bewertet, inwiefern sie dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung entsprechen. Ein anderes Kriterium ist der Kostenfaktor: Eine Behandlung kann nach ökonomischen Kriterien beurteilt werden, wenn verglichen wird, ob es andere preiswertere Methoden gibt, die genauso wirksam sind. Ein anderes Qualitätskriterium ist die Patientenzufriedenheit . Eine Möglichkeit zur Sicherung eines hohen internen Qualitätsstandards in Unternehmen oder Institutionen ist die Einrichtung von Qualitätszirkeln. Hier treffen Mitarbeiter der Einrichtung zusammen, um Qualitätsstandards zu definieren und Schritte für eine Verbesserung der Leistungsqualität zu finden. Dahinter steckt die Idee, dass die Mitarbeiter eines Unternehmens meistens am besten wissen, welche Probleme z. B. in ihrer Klinik existieren und häufig auch Ideen zu einer durchführbaren Lösung beitragen können. Aus dem Grund versucht man, Prozesse der Qualitätssicherung nicht allein vom Management aus zu lösen, sondern direkt die Betroffenen als Experten einzubeziehen.
stand in diesem Gebiet bekommt und eine Entscheidung nach wissenschaftlichen Kriterien treffen kann.
Check-up 4
4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, was man unter einer additiven und einer linearen Schlussfolgerung versteht. Wiederholen Sie, welche Möglichkeiten zur Qualitätskontolle diagnostischer Entscheidungen Sie kennengelernt haben.
7.4 Die Entscheidungskonflikte und die Entscheidungsfehler Lerncoach Es ist wichtig, dass Sie sich klarmachen, welchen Entscheidungskonflikten Ärzte im Alltag ausgesetzt sein können. Verdeutlichen Sie sich bereits im Vorfeld, wie sich z. B. die Kommunikations- und Interaktionskultur zwischen Ärzten auf die Lösung von fachlichen Meinungsverschiedenheiten auswirken kann.
7.4.1 Der Überblick Der Arztberuf bringt täglich sowohl individuelle Entscheidungskonflikte als auch Konflikte zwischen Ärzten mit sich. Die Lösung dieser Konflikte ist eine der wichtigsten professionellen Leistungen des ärztlichen Berufes. Da diagnostische Entscheidungen auf Wahrnehmungs- und Beobachtungsprozessen beruhen, können durchaus auch Fehler passieren.
7.4.2 Die individuellen Entscheidungskonflikte
7.3.4 Klinische Bezüge Unsicherheit bei der diagnostischen Entscheidung
Das Auftreten von Entscheidungskonflikten ist trotz
Ist sich ein Mediziner unsicher, welche diagnos-
Entscheidungen eigenverantwortlich treffen. Kon-
tische Entscheidung er aufgrund der Befundlage treffen soll, weil mehrere Behandlungsmethoden
flikte können einerseits auftreten, wenn er selber Schwierigkeiten beim Fällen einer endgültigen Ent-
in Frage kommen, können metaanalytische Studien
scheidung hat, oder wenn verschiedene Ärzte ein
von praktischer Hilfe sein. Hier werden Publika-
unterschiedliches Vorgehen fordern. Im ersten Fall
tionen zu verschiedenen Therapien bei einer be-
kann man die individuellen Konflikte weiter in
stimmten Symptomatik zusammengetragen, sodass
Intra- oder Interrollenkonflikte (s. S. 199) einteilen. Hinter solchen Konfliktsituationen stehen häufig
der Praktiker einen Überblick über den Forschungs-
227
diagnostischer Leitlinien nicht zu verhindern. Als Inhaber eines freien Berufs muss der Arzt fachliche
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7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Entscheidungskonflikte und die Entscheidungsfehler ethische Fragen, bei denen verschiedene Prinzipien
zudem die Achtung von funktionaler Autorität, das
(z. B. die Lebensbewahrungspflicht des Arztes und das Recht auf Selbstbestimmung des Patienten)
heißt, dass dem Fachmann (beispielsweise einem Facharzt oder Spezialisten für die jeweilige Fra-
aufeinanderprallen. Eine besondere Problematik
gestellung) besonderes Gewicht zugemessen wird.
für den Arzt kann aus der gleichzeitigen Verpflich-
Davon muss man die positionale Autorität, die al-
tung gegenüber dem individuellen und dem all-
lein durch die Hierarchiestufe (Position) eines Arz-
gemeinen Wohl entstehen. Auf der einen Seite ist
tes begründet wird, unterscheiden. Die Betonung
er dem einzelnen Patienten gegenüber verpflichtet,
positionaler Autorität geht mit einem direktiven
ihn bestmöglichst zu behandeln, auf der anderen
Führungsstil einher, der sich dadurch auszeichnet,
Seite ist er der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, die ihm anvertrauten Ressourcen verantwortungs-
dass Entscheidungen auf oberster Ebene ohne eine Beratung mit den hierarchisch unterstellten Ärzten
voll einzusetzen. Diese Problematik wird ange-
getroffen werden. Ein direktiver Führungsstil kann
sichts der Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich
zwar gewisse Konflikte reduzieren, da die Entschei-
immer
in
dungskompetenzen klar zugeteilt sind, aber er ver-
Deutschland diskutiert, ob bestimmte operative
hindert auch eine offene Diskussion über fachliche
Eingriffe nur noch bis zu einer gewissen Alters-
Probleme und Fehleinschätzungen.
ausgeprägter.
Beispielsweise
wird
grenze durchgeführt werden sollten, um damit Kosten zu sparen. In anderen europäischen Ländern (z. B. Großbritannien) sind altersgebundene Be-
7.4.4 Die Entscheidungsfehler
handlungsmethoden schon an der Tagesordnung.
mungs- und Beurteilungsprozessen, die anfällig
Die Eigenverantwortlichkeit stellt den praktizieren-
für bestimmte Fehler sind. Die verschiedenen Beur-
Das diagnostische Urteil basiert auf Wahrneh-
den Arzt zudem vor die Frage, wann er seine Ent-
teilungs- und Beobachtungsfehler wurden bereits
scheidung durch weiteren fachlichen Rat absichern
auf S. 216 vorgestellt. Sie können allerdings nicht
sollte. Während im stationären Bereich das Hin-
nur bei der Erstuntersuchung, sondern auch im
zuziehen eines Kollegen noch relativ einfach mög-
weiteren diagnostischen Prozess wirksam werden.
lich ist, ist ein solches Vorgehen für den niedergelassenen Arzt aufwändiger. Neben dem organisa-
Beispielsweise kann ein Haloeffekt dadurch auftreten, dass man bei einem Patienten im Laufe der
torischen Aufwand kann auch die Befürchtung, dass
Prozessdiagnostik gleich zu Beginn der Behandlung
die eigene Kompetenz in Frage gestellt wird, von
eine schnelle Besserung feststellt. Die Besserung
der Einbeziehung der Kollegen abhalten.
des Zustandes wird vom Arzt als ein Erfolg bewertet, der die weitere Betrachtung des Verlaufs be-
7.4.3 Die Entscheidungskonflikte zwischen Ärzten
einflusst. Der Arzt bemerkt beispielsweise gar
Im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen Ärzten spricht man von einem fachlichen Dissens.
abschwächt und schließlich komplett stagniert. Auch bei fachlichen Diskussionen zur diagnos-
Das Auftreten solcher Meinungsverschiedenheiten
tischen Entscheidung muss man mögliche Urteils-
hat durchaus positive Seiten, da es eine neue
verzerrungen beachten. So kann beispielsweise
Betrachtungsweise der fachlichen Entscheidung er-
der Meinung eines anerkannten Spezialisten auf-
zwingt. Allerdings ist der Umgang mit derartigen
grund seines fachlichen Rufs so großes Gewicht
Konfliktsituationen zwischen Ärzten stark von
beigemessen werden, dass eigentlich angebrachte
der
abhängig.
Einwände von einem weniger bekannten Kollegen
Eine gute interne Kommunikation und ein offener Umgang mit Fehlern haben positiven Einfluss auf
nicht geäußert werden. Auch in einer solchen Situation ist eine Art Haloeffekt wirksam, dieses
die Lösung von fachlichen Entscheidungskonflikten.
Mal bezogen auf die diagnostische Kompetenz des
Diese Faktoren werden durch einen partizipativen
Fachmanns.
Führungsstil, der sich durch die Mitwirkung aller hierarchischen Ebenen an Entscheidungen auszeichnet, gefördert. Eine solche Atmosphäre fördert
Neben den geschilderten Beurteilungs- und Be-
internen
„Unternehmenskultur“
nicht, dass der anfängliche Aufwärtstrend sich
obachtungsfehlern muss man noch zwei grundlegende Arten von diagnostischen Fehlentscheidun-
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7 Urteilsbildung und Entscheidung Die Entscheidungskonflikte und die Entscheidungsfehler gen berücksichtigen: Den Fehler erster Art und den
Fehler zweiter Art.
229
7.4.5 Klinische Bezüge Vorsorgeuntersuchung Am Beispiel einer Vorsorgeuntersuchung für Brust-
Die beiden Fehlerarten sind Ihnen schon bei der Interferenzstatistik begegnet (s. S. 72), in der es darum geht, ein Stichprobenergebnis auf seine Generalisierbarkeit für die Gesamtpopulation zu überprüfen. Die Logik im Bereich der Diagnostik ist dabei genau dieselbe.
krebs kann man sich gut die Konsequenzen der diagnostischen Fehler erster und zweiter Art vor Augen führen. Primäres Ziel bei einer solchen Untersuchung ist es, keine Erkrankung zu übersehen (Vermeiden des Fehlers zweiter Art), da die „Kosten“ für Nicht-Entdeckung immens sind (geringere
Der Fehler erster Art bezeichnet das Stellen einer
Heilungswahrscheinlichkeit, etc.). Dabei nimmt man gleichzeitig eine höhere Wahrscheinlichkeit
Krankheitsdiagnose, obwohl keine Krankheit vor-
des Fehlers erster Art in Kauf, der – das darf man
handen ist (falsch positiv). Der Fehler zweiter Art
nicht übersehen – auch „Kosten“ in Form von un-
dagegen bezeichnet das Diagnostizieren eines
nötiger Verunsicherung der Patientin oder sogar
kranken Patienten als gesund (falsch negativ). Je
einer nicht notwendigen und mit Nebenwirkungen
nach Art der Erkrankung und den mit ihr verbunde-
verbundenen Therapie nach sich zieht.
nen Behandlungsschritten und Kosten sind die je-
Check-up
weiligen Fehler unterschiedlich schwerwiegend.
4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, unter welchen Bedingungen der Zusammenarbeit diagnostische Entscheidungsfehler besonders wahrscheinlich sind und wie man Bedingungen schaffen kann unter denen solche Fehlentscheidungen möglichst selten auftreten.
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Kapitel
8
Interventionsformen 8.1
Die ärztliche Beratung und die Patientenschulung 233
8.2
Die Psychotherapie 235
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232
Klinischer Fall
Ein Vertrag mit Sophie
Patientinnen mit Anorexia nervosa leiden unter einer Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur sowie des Körpergewichts und überschätzen ihren Körperumfang.
Bei Interventionen in der Medizin denkt man zunächst an körperliche Eingriffe, an eine Herzkatheteruntersuchung oder eine Operation. Es gibt jedoch noch eine andere Art ärztlicher Interventionen, die nicht weniger effektiv ist: Im folgenden Kapitel erfahren Sie mehr über ärztliche Beratung, Patientenschulung und über die verschiedenen Formen der Psychotherapie. Auch Sophie D. hat eine Psychotherapie hinter sich. Die 16-jährige Gymnasiastin war an Magersucht erkrankt. Wenig Essen, viel Sport Silke D. ist besorgt; irgendetwas stimmt mit ihrer Tochter nicht. Angefangen hatte alles vor über einem halben Jahr: Die 16-Jährige begann plötzlich, drei- bis viermal in der Woche Sport zu treiben. Wenn sie nach Hause kam, behauptete sie oft, sie habe schon bei ihrer Freundin Carla zu Abend gegessen. Dann verschwand sie in ihrem Zimmer, um für Klausuren zu lernen, manchmal bis spät in die Nacht. Zum Frühstück erschien sie stets zu spät, schnappte sich nur das Pausenbrot und rannte zum Bus. Erst vor kurzem ist Silke D. aufgefallen, dass ihre Tochter nicht mehr sportlich-schlank, sondern geradezu mager geworden ist. Richtig stutzig ist sie allerdings erst geworden, als sie Carlas Mutter getroffen hat. „Ich wollte Sie längst mal anrufen – Sophie isst ja fast jeden Abend bei Ihnen.“ „Sophie? Die habe ich schon wochenlang nicht mehr gesehen.“
Je dünner, desto besser Kein Zweifel also: Ihre Tochter leidet an Anorexia nervosa, Magersucht. Sophie hat eine gestörte Einstellung zur Nahrungsaufnahme: Sie verweigert Nahrung und versucht, durch exzessiven Sport ihr viel zu niedriges Körpergewicht beizubehalten. Silke D. kennt die Krankheit aus den Medien, doch dass ihre Tochter daran leiden könnte, hätte sie nie gedacht. Die Mutter wendet sich zunächst hilfesuchend an ihren eigenen Hausarzt, der Silke D. empfiehlt, mit dem Mädchen einen Psychotherapeuten aufzusuchen. Sophie begleitet ihre Mutter nur widerwillig. Der Arzt bestätigt die Diagnose Anorexia nervosa. Sophie zeigt jedoch keinerlei Krankheitseinsicht, d. h., sie bestreitet, an Magersucht erkrankt zu sein. Da ihr Gewicht mit 40 kg jedoch schon bedrohlich niedrig ist, weist der Psychotherapeut sie in eine psychosomatische Spezialklinik ein, in der Magersüchtige behandelt werden. Die meisten Mitpatientinnen (Anorexie betriff fast ausschließlich junge Mädchen) sind in Sophies Alter. Essen nach Plan Zunächst liegt das Hauptaugenmerk der Behandlung darin, Sophie wieder „aufzufüttern“. Die Ärzte schließen mit der jungen Patientin eine Art Vertrag, in dem sie ein Zielgewicht für Sophie festlegen. Sophie erhält einen Essensplan, für dessen Einhaltung sie zunehmend selbst verantwortlich ist. Darüber hinaus hat sie Einzelgespräche mit dem behandelnden Psychotherapeuten und nimmt an Gruppentherapien teil. Auch die Eltern und ihr Bruder werden im Rahmen einer Familientherapie in die Behandlung miteinbezogen, da bei Magersucht häufig Familienkonflikte eine Rolle spielen. Insgesamt verbringt Sophie vier Monate in der Klinik. Als sie in eine ambulante Behandlung wechselt, hat sie deutlich zugenommen und auch an Selbstbewusstsein gewonnen. Inzwischen ist ihr klar, dass Anorexie eine Krankheit ist, an der man sogar sterben kann. Deshalb schließt sie mit sich selbst einen Vertrag: Sie möchte niemals rückfällig werden.
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8 Interventionsformen Die ärztliche Beratung und die Patientenschulung
8
Interventionsformen
8.1 Die ärztliche Beratung und die Patientenschulung
233
verantwortlich. Eine ärztliche Erklärung, wie beispielsweise die Erläuterung, dass stresshafte Umweltereignisse zur Entwicklung einer psychischen Störung beitragen, kann dem Patienten das Schuldgefühl nehmen und ihn von der Last der Verant-
Lerncoach
wortung befreien. Neben dieser Funktion ist es,
Im folgenden Abschnitt lernen Sie verschiedene Interventionsformen kennen. Um diese Maßnahmen besser voneinander abgrenzen zu können, ist es wichtig, dass Sie sich die Zielsetzung des jeweiligen Vorgehens klarmachen.
unabhängig von der Art der Erkrankung, für den Patienten hilfreich, die Entstehungsbedingungen seiner Symptomatik zu erfahren und zu verstehen. Er kann dann bestimmte Risikofaktoren besser einschätzen und diese ab jetzt wenn möglich vermei-
den. Beispielsweise kann ein Patient, der sich im Urlaub eine Tropenkrankheit zugezogen hat, dieses
8.1.1 Der Überblick
Risiko
Die ärztliche Beratung ist eine zielgerichtete Inter-
nächsten Mal umgehen.
vention, die ca. ein Viertel der Arbeitszeit eines
Zudem darf man als Arzt nicht die Bedeutsamkeit
Arztes ausmacht. Je nach Fachrichtung bestehen je-
der Krankheitserklärung an sich unterschätzen:
doch starke Unterschiede. Die spezielle Zielsetzung kann unterschiedlich sein; übergeordnet geht es
Allein das Wissen um die Entstehung seiner Krankheit gibt dem Patienten ein subjektives Gefühl
durch
entsprechende
Impfungen
beim
jedoch immer darum, dem Patienten sowohl In-
von größerer Kontrolle. Die Verunsicherung, die
formationen als auch emotionale Unterstützung zu
ihn beim Auftreten seiner Krankheitssymptomatik
geben. Der Patient soll durch die Beratung aktiv in
überkommt, kann durch eine ausführliche Darstel-
das therapeutische Vorgehen einbezogen werden.
lung der Pathogenese reduziert werden.
So ist die Beratung beispielsweise eine notwendige Voraussetzung für die Entscheidungen, die der Patient fällen muss. Ärztliche Beratung kann zu allen Zeitpunkten des Krankheitsverlaufs ansetzen.
Die Erklärung des diagnostischen Vorgehens Ebenso wichtig wie eine Darlegung der Pathoge-
Beim Vorliegen einer Erkrankung kann man ver-
nese ist eine ärztliche Erklärung des diagnostischen
schiedene Bausteine der Beratung unterscheiden:
Prozesses. Dabei sollte der Patient sowohl über die
die Erklärungen zur Pathogenese, zur Diagnose
verschiedenen Untersuchungsverfahren und ihren
und zur Behandlung des Patienten. Diese Bera-
diagnostischen Wert als auch über die Schluss-
tungsmodule stehen jedoch nicht isoliert neben-
folgerung des Arztes, die er auf Basis der Unter-
einander, sondern bauen aufeinander auf. Das Ziel
suchungsergebnisse vornimmt, informiert werden.
der Gesundheitsberatung ist es dagegen, das Auftreten einer Krankheit zu verhindern.
Dem Patienten fällt es umso leichter, die Diagnosestellung des Arztes zu akzeptieren, je mehr er diese
Die Patientenschulung gehört zu den edukativen
einzelnen Schritte nachvollziehen kann. Die Über-
Maßnahmen, bei denen die Informationsvermitt-
zeugung von der Richtigkeit der diagnostischen
lung im Vordergrund steht. Sie wird im Rahmen
Entscheidung bildet die Grundlage für die Kooperation des Patienten bei der anschließenden Behandlung. Zudem trägt möglichst große Transparenz des Vorgehens zu einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung bei, die ebenfalls für den weiteren Behandlungsprozess förderlich ist. Besonders wichtig wird eine Erläuterung des diagnostischen Vorgehens dann, wenn die Untersuchungen für den Patienten nicht durchschaubar oder unangenehm sein können. In beiden Fällen sollte der Arzt die Notwendigkeit des Vorgehens
der tertiären Prävention eingesetzt.
8.1.2 Die Ziele der ärztlichen Beratung Die Erklärung der Pathogenese Die Pathogenese umfasst eine Darstellung der an der Entstehung und Entwicklung der Krankheit beteiligten Faktoren. Für den Patienten kann dieses Wissen aus verschiedenen Gründen große Relevanz haben. Gerade im Bereich psychischer Störungen fühlen sich Patienten häufig für ihre Symptomatik
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234
8 Interventionsformen Die ärztliche Beratung und die Patientenschulung unbedingt erklären, um die Compliance des Patien-
8.1.3 Die Gesundheitsberatung
ten zu erhöhen. Eine besondere Schwierigkeit stellt die Mitteilung
Die Gesundheitsberatung ist eine Form der ärztlichen Beratung und der primären Prävention (s. S.
ungünstiger Diagnosen dar. Für diese Situation
274) zuzurechnen. Ziel ist es, dem Ratsuchenden
gibt es keine optimale Lösung. Stattdessen sollte
Informationen zur Förderung seiner Gesundheit
der Arzt die Art seiner Übermittlung an der Aufnah-
zu geben, wobei Gesundheit im Sinne salu-
mefähigkeit und Belastbarkeit des Patienten orien-
togenetischer Konzepte dabei nicht als Gegenpol
tieren und sich auf jeden Fall genügend Zeit für das
zur Krankheit sondern als eigene Dimension ver-
Gespräch nehmen. Wichtig ist in jedem Fall eine
standen wird (s. S. 274). Die Zielgruppe für Gesund-
ehrliche Darstellung, da das Vorenthalten der Diagnose für den Patienten kaum eine dauerhafte
heitsberatung ist damit nicht auf bereits erkrankte Personen beschränkt, sondern richtet sich gerade
Lösung darstellt und zudem der ärztlichen Informa-
an Menschen, die sich ihre Gesundheit bewusst er-
tions- und Aufklärungspflicht widerspricht.
halten wollen. Themenbereiche der Beratung können alle Faktoren eines gesundheitsbewussten Le-
Die Erklärung der Behandlung
bens sein (Ernährung, Bewegung, geringer Alkohol-
Eine für den Patienten verständliche Darstellung
konsum, etc.).
der Behandlungsschritte ist eine weitere notwen-
Die Gesundheitsberatung gewinnt im Rahmen
dige Voraussetzung für seine Kooperation. Dabei muss zunächst gesichert sein, dass der Patient
einer präventionsorientierten Medizin einen immer größeren Stellenwert. Diese Bedeutung resul-
weiß, welches Verhalten von ihm in der Behand-
tiert aus dem Wissen, dass das Risiko vieler der ver-
lung erwartet wird. Gerade bei einer umfangrei-
breitetsten chronischen Erkrankungen (Diabetes
chen Medikation sollte der Arzt unbedingt einen
mellitus Typ II, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, etc.)
schriftlichen Behandlungsplan ausarbeiten, damit der Patient Einnahmezeiten und Dosierungen jederzeit nachlesen kann. Genauso wichtig ist ein deutlicher Hinweis auf bestimmte Risiken bzw. zu unterlassende Handlungen (z. B. Autofahren bei Einnahme von Beruhigungsmitteln). Der Arzt sollte sich am besten vom Patienten selber noch einmal den gesamten Behandlungsplan schildern lassen, um sicherzugehen, dass alle wichtigen Punkte verstanden wurden. Die Kooperationsfähigkeit des Patienten durch eine klar verständliche Erklärung der Behandlungsschritte herzustellen, ist der erste Schritt. Damit der Patient auch bereit ist, sich an diese Vorschriften zu halten (Compliance), sollte der Arzt ihm zudem den Sinn der einzelnen Maßnahmen erläutern. Diese Informationen tragen wesentlich dazu bei, dass ein Patient sich an den Behandlungsplan hält. An diesem Punkt sollte der Arzt dem Patienten Raum für seine Fragen und Zweifel lassen („Warum muss ich dieses Medikament mit den gefährlichen Nebenwirkungen nehmen? Gibt es keine Alternative?“) und sie – wenn möglich – ausräumen. Ziel der Erklärung sollte ein Behandlungsplan sein, zu dem auch der Patient sein Einverständnis gegeben hat.
durch das eigene Gesundheitsverhalten beeinflusst wird.
8.1.4 Die Patientenschulung Die Patientenschulung gehört zu den edukativen Maßnahmen, bei denen die Informationsvermittlung im Vordergrund steht. Der Vorteil von Schulungsmaßnahmen ist ihre Ökonomie: Es werden dieselben Informationen an einen größeren Personenkreis übermittelt. Im Gegensatz zur Beratung (s. o.) sind sie weniger an die individuellen Zuhörer angepasst, ihre Durchführung ist standardisierter und der Charakter der Informationsübermittlung sachlicher. Patientenschulungen nehmen einen wichtigen Bereich innerhalb der tertiären Prävention ein. Bei chronischen Krankheiten stellen sie meistens einen Pfeiler in einem mehrteiligen Therapiegebilde dar, indem sie z. B. eine Ergänzung zu einer medikamentösen und verhaltenstherapeutischen Behandlung bieten. Den Patienten soll ein differenziertes Wissen über ihre Krankheit vermittelt und damit ihre Compliance und eine aktive Mitarbeit ermöglicht werden. Sie sollen selbst zu Experten für ihre Krankheit werden, die wissen, was ihnen gut tut und welches Verhalten eine Verschlechte-
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie rung nach sich zieht. Dahinter steht der Grund-
oder Rheumaerkrankungen sind sie Teil eines inte-
gedanke, dass man über die Vermittlung dieser Informationen bei den Patienten eine Einstellungs-
grierten Therapiekonzepts. Ziel der Angebote ist es, die Motivation der Patienten z. B. über eine höhere
änderung bewirkt, die im nächsten Schritt ihr Ver-
Selbstwirksamkeitserfahrung zu stärken und ihre
halten positiv beeinflusst. Zudem sollen die Patien-
Lebensqualität durch einen günstigen Umgang mit
ten durch diese Maßnahme darin gefördert werden,
der Krankheit zu erhöhen. Während Patientenschu-
wieder verstärkt die Verantwortung für ihr Han-
lungen bis in die 80er-Jahre größtenteils aus der
deln zu übernehmen. Gerade nach langen Kranken-
Vermittlung von Faktenwissen bestanden, werden
hausaufenthalten besteht das Risiko, dass Patienten
neben Informationen heute Elemente des Selbst-
sich abhängig von ihren Ärzten, aber auch von der Hilfe ihrer Angehörigen fühlen. Durch detaillierte
managements, also des Umgangs mit der veränderten Situation, betont.
235
Informationen zu ihrer Krankheit wird ihnen wie-
Check-up
der das Gefühl stärkerer Selbstbestimmung ermöglicht. Dies erhöht zum einen die subjektive Lebens-
qualität, zum anderen werden die Bezugspersonen entlastet. Es kann hilfreich sein, auch die Bezugspersonen an den Schulungen teilnehmen zu lassen. Bei Kindern liegt dieses Vorgehen auf der Hand, aber auch bei erwachsenen Patienten ist es durchaus sinnvoll, da der Patient durch ein solches Vorgehen entlastet wird. Wissen die wichtigsten Angehörigen ebenfalls über den Verlauf und günstige und ungünstige Bedingungen der Krankheit Bescheid, erspart dieses Wissen dem Patienten beispielsweise Erklärungen, warum für ihn bestimmte Unternehmungen riskant sind oder worauf er bei seiner Ernährung achten soll. Eine weitere Zielsetzung von Patientenschulungen ist nicht zuletzt die Reduzierung von Krankheitskosten. In Studien zur Effektivität von Schulungsmaßnahmen hat sich gezeigt, dass Patienten, die ein differenziertes Wissen über ihre Krankheit besitzen, eine günstigere Prognose haben. Diese Ergebnisse lassen sich einerseits darauf zurückführen, dass das Wissen um Risikofaktoren und ungünstiges Verhalten dazu führt, dieses zu vermeiden. Andererseits könnte der bessere Verlauf auch durch eine höhere internale Kontrollüberzeugung (s. S. 145) vermittelt werden, da dem Patienten bekannt ist, wie er selbst auf den Verlauf seiner Krankheit einwirken kann.
4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, worauf einerseits eine Patientenschulung abzielt und worum es andererseits bei der ärztlichen Beratung geht. Überlegen Sie sich, in welchen Fällen Patientenschulungen sinnvoll sind und wann eher eine ärztliche Beratung angebracht ist.
8.2 Die Psychotherapie Lerncoach In diesem Kapitel werden Sie die Hauptrichtungen der Psychotherapie kennenlernen. Um Ihnen zunächst eine Idee über die Vielzahl der verschiedenartigen psychischen Störungen zu vermitteln, stellen wir Ihnen erst die Kategorien psychischer Störungen vor, die Sie jedoch nicht auswendig kennen müssen.
8.2.1 Der Überblick Psychotherapien
zielen
darauf
ab,
psychische
Störungen entweder aufzuheben oder zumindest so zu verändern, dass sich der Leidensdruck verringert. Obwohl dieses Ziel von unterschiedlichen Therapierichtungen auf verschiedenen Wegen verfolgt wird, lassen sich doch einige wesentliche gemeinsame Aspekte herauskristallisieren: Das wichtigste „Werkzeug“ der Psychotherapeuten ist die verbale und nonverbale Kommunikation.
8.1.5 Klinische Bezüge Patientenschulungen in Reha-Kliniken
Die Mittel, die die Psychotherapie zur Steigerung
Fast alle Reha-Kliniken, die sich auf die Behandlung
des Wohlbefindens einsetzt, sind von den medi-
chronischer Krankheiten spezialisiert haben, bieten
zinischen Mitteln
heutzutage Patientenschulungen als Teil ihres Be-
abzugrenzen.
(Medikamente, Operationen)
handlungsprogramms an. Bei Asthma-, Diabetes-
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Psychotherapie ist professionell und hebt sich von
lientherapie. Diese vier Psychotherapierichtungen
Hilfestellungen durch Laien (z. B. Ratschläge von Freunden) ab.
werden im Folgenden näher erläutert.
Merke Psychotherapie beruht auf dem Fundament einer Theorie über menschliches Erleben und Verhalten, die Erklärungen für die Entstehung gestörten Verhaltens und die Grundlage zur Ableitung von Interventionsmaßnahmen bietet.
8.2.2 Die Klassifikation und die Kategorien psychischer Störungen Emil Kraepelin stellte 1881 das erste Klassifikationssystem für gestörtes Verhalten auf, indem er Symptome, die häufig gemeinsam auftreten, einen ähnlichen Verlauf nehmen und auf Behandlungsansätze ähnlich reagieren, zu psychischen Störungen zusammenfasste. Auf dieser Idee basieren
Das therapeutische Vorgehen ist im Vergleich zum
auch die aktuellen Klassifikationssysteme (ICD-10
(durchaus auch nützlichen, aber eher zufälligen)
und DSM-IV, s. S. 7).
Vorgehen des Laien bewusst, geplant und theorie-
An dieser Stelle wollen wir auf die Gruppierung der
orientiert. Durch die Therapieorientierung ist das
psychischen Störungen im DSM-IV eingehen. Der
psychotherapeutische Vorgehen lehr- und lernbar.
Zustand des Klienten wird anhand von fünf
Ein weiterer Punkt ist die Übereinkunft (der Kon-
Informationsbereichen, den so genannten Achsen,
sens) von Patient und Therapeut über den Bedarf einer Therapie und ihrer Ziele.
beurteilt. Auf Achse I des DSM-IV finden sich die wichtigsten klinischen Störungen. Sie sind unter-
Als weitere wichtige Bedingung, die zum Erfolg
schiedlichen Gruppen zugeordnet (Tab. 8.1).
einer Therapie beiträgt, gilt eine vertrauensvolle
Achse II umfasst lang andauernde Probleme (z. B.
Beziehung zwischen Klient und Therapeut. Psychotherapien werden von Psychotherapeuten, also von Ärzten oder Psychologen, die eine mehrjährige therapeutische Zusatzausbildung absolviert haben, an einer breiten Klientel (Kinder, Erwachsene, Paare, Familien) mit den unterschiedlichsten Störungen durchgeführt. Die Berufsbezeichnung „Psychologischer Psychotherapeut“ und „Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut“ ist durch das seit 1999 geltende Psychotherapeutengesetz geschützt. Das Gesetz macht es Psychologen möglich, die psychotherapeutische Behandlung direkt mit den Krankenkassen abzurechnen. Sie werden also diesbezüglich den ärztlichen Therapeuten gleichgestellt. Die Kostenerstattung für Psychotherapie beschränkt sich allerdings auf die sogenannten Richtlinienverfahren, also auf Therapierichtungen, deren Wirksamkeit durch empirische Untersuchungen als gesichert gilt. Hierzu zählen bisher die psychodynamisch orientierten Psychotherapieverfahren und die Verhaltenstherapie. Zudem befindet sich die Gesprächspsychotherapie zur Zeit erfolgversprechend in der Anerkennungsphase als Richtlinienverfahren. Eine weitere in der Praxis häufig eingesetzte und erfolgreiche Therapieform ist die systemische Therapie, vor allem die systemische Fami-
Persönlichkeitsstörungen), Achse III führt allgemeinmedizinische Beschwerden auf, die für die Behandlung relevant sein könnten. Achse IV dient der Diagnose des Schweregrades psychosozialer und umweltbedingter Probleme (z. B. berufliche Probleme). Achse V ist eine globale Einschätzung des psychischen, sozialen und beruflichen Funktionsniveaus. Um eine Störung diagnostizieren zu können, müssen die zu ihr angegebenen Kriterien erfüllt sein. Für die Diagnose spezifische Phobie müssen z. B. laut DSM-IV die folgenden Merkmale zutreffen: Ausgeprägte und anhaltende Angst, die übertrieben oder unbegründet ist und die durch das Vorhandensein oder die Erwartung eines spezifischen Objektes oder einer spezifischen Situation ausgelöst wird (z. B. Fliegen, Höhen, Tiere). Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz ruft fast immer eine unmittelbare Angstreaktion hervor, die das Erscheinungsbild einer situationsgebundenen Panikattacke annehmen kann. Eine Panikattacke ist eine klar abgegrenzte Episode intensiver Angst, bei der mindestens vier von dreizehn genannten Symptomen (z. B. beschleunigter Herzschlag, Zittern, Erstickungsgefühle, Schwindel, Angst zu sterben) abrupt auftreten und innerhalb von 10 Minuten ihren Höhepunkt erreichen.
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Tabelle 8.1 Kategorien psychischer Störungen nach Achse I des DSM IV Kategorie
Beispiel
Störungen, die typischerweise im Kleinkindalter, in der Kindheit oder im frühen Erwachsenenalter diagnostiziert werden
Autismus, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung
Delir, Demenz, amnestische und andere kognitive Störungen
Demenz vom AlzheimerTyp, Chorea Huntington
Psychische Störungen, die auf eine medizinische Erkrankung zurückgehen
Schlafstörung aufgrund einer medizinisch definierten Erkrankung
Substanzbezogene Störungen
alkoholbezogene Störungen, Abhängigkeit von Beruhigungsmitteln
Affektive Störungen
majore depressive Störung, bipolare Störung
Schizophrenie und andere psychische Störungen
psychotische Symptome wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen
237
Das Vermeidungsverhalten, die ängstliche Erwartungshaltung oder das Unbehagen in den gefürchteten Situationen schränkt deutlich die normale Lebensführung der Person, ihre berufliche (oder schulische) Leistung oder soziale Aktivitäten oder Beziehungen ein, oder die Phobie verursacht erhebliches Leiden für die Person.
Angststörungen
generalisierte Angststörung, Phobie, Panikstörung, Zwangsstörung, posttraumatische Belastungsstörung
Somatoforme Störungen
Schmerzstörung, Hypochondrie
Vorgetäuschte Störungen
Vortäuschung psychischer oder physischer Symptome
Dissoziative Störungen
multiple Persönlichkeitsstörung
Essstörungen
Anorexia nervosa, Bulimia nervosa
Sexuelle Störungen
verminderte sexuelle Appetenz, Fetischismus
Schlafstörungen
Dyssomnien, Parasomnien
Störungen der Impulskontrolle
Kleptomanie, Pyromanie
Anpassungsstörungen
fehlangepasste Reaktionen auf eine Belastung
Andere auffällige Zustände
Beziehungsprobleme, psychosomatische Störungen
Die Person erkennt, dass die Angst übertrieben oder unbegründet ist. Die phobischen Situationen werden gemieden bzw. nur unter starker Angst ertragen.
Bei Personen unter 18 Jahren hält die Phobie über mindestens sechs Monate an. Die Angst, Panikattacken oder das phobische Vermeidungsverhalten, die mit dem spezifischen Objekt oder der spezifischen Situation assoziiert sind, werden nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt.
8.2.3 Die psychodynamisch orientierten Psychotherapien Beim Lesen der verschiedenen Therapierichtungen könnte es hilfreich sein, sich zunächst klarzumachen, dass die Therapierichtungen aus unterschiedlichen Theorien über menschliches Erleben und Verhalten abgeleitet sind. Wenn Sie sich einige Kerngedanken dieser Theorien einprägen, wird das Verständnis für die Therapiemethoden erleichtert.
Das Ziel psychodynamischer Therapien Zu den psychodynamisch orientierten Psychotherapien werden die von Freud begründete Psycho-
analyse, aber auch Therapien, die auf verwandten tiefenpsychologischen Konzepten (z. B. Adler, Jung) beruhen und ihre modernen Weiterentwicklungen gezählt. Sie beruhen auf dem psychodynamischen Modell (s. S. 139). Die Hauptaussage lautet, dass die Ursache von gegenwärtigem Missbefinden und Störungen in frühen emotionalen Konflikten liegt: Traumatische Ereignisse der Vergangenheit und unannehmbare Es-Impulse werden aufgrund ihrer Bedrohlichkeit für den psychischen Apparat vom Ich ins Unbewusste verdrängt und dort in Schach gehalten. Sie verhalten sich dort aber nicht ruhig, sondern äußern sich in Symptomen, die vom Klienten und Therapeuten beobachtet werden können. Die Symptome sind allerdings nicht die eigentliche Störung, sondern nur Signale für einen inneren bislang unbewussten Konflikt. Entsprechend zielt die
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Therapie darauf ab, die verursachenden Konflikte
So können auch unbewusste Geschehnisse ans
aufzulösen und so automatisch auch die Symptome zu beseitigen. Hierzu muss das unbewusste Ereig-
Tageslicht gelangen. Sind sie erst einmal ausgesprochen und erkannt, können die häufig bedroh-
nis ins Bewusstsein gelangen und die mit ihm ver-
lichen und unangenehmen Impulse und Konflikte
bundenen Emotionen erneut erlebt und schließlich
bearbeitet werden.
verarbeitet werden. Mit den Worten Freuds (1914) besteht die psychoanalytische Methode im „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“. Psychodynamisch orientierte Therapien werden häufig auch als „Einsichtstherapien“ bezeichnet, da der Klient Einsicht in die Zusammenhänge seiner derzeitigen Krankheitssymptome mit vergangenen Geschehnissen erlangen soll. Dies geschieht zwar auch auf der Ebene des Verstandes, muss jedoch durch die „emotionale Einsicht“ begleitet sein. Nur das Wiedererleben verdrängter Gefühle führt zu einem Nachlassen der emotionalen Spannung. Die resultierende emotionale Erleichterung wird als Katharsis (Reinigung) bezeichnet.
Merke Die Hauptaufgabe psychodynamisch orientierter Therapien besteht darin, bislang unbewusste Konflikte bewusst zu machen. Hierzu verwenden psychodynamisch orientierte Therapeuten unterschiedliche Verfahren, von
Die Deutung Der psychodynamisch orientierte Therapeut verleiht drei Phänomenen durch seine Interpretation Bedeutung: dem Widerstand, der Übertragung und Gegenübertragung sowie dem Traum.
Die Analyse des Widerstandes Wenn die mit Hilfe der Abwehrmechanismen mühsam im Unbewussten gehaltenen Konflikte im Rahmen der Therapie aufgedeckt zu werden drohen, reagiert der psychische Apparat mit Widerstand. Der Widerstand kann sich darin zeigen, dass die freien Assoziationen blockiert werden, der Klient bestimmten Themen ausweicht, Sitzungstermine vergisst und die Deutungen des Therapeuten für unsinnig und absurd erklärt. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, solche Widerstände zu erkennen und sie zu deuten. Er bringt den Klienten dazu, sie zu überwinden und sich so mit den einst verdrängten, meist schmerzhaften und unangenehmen Bewusstseinsinhalten zu konfrontieren.
denen die wichtigsten die freie Assoziation und die Deutungen durch den Therapeuten sind.
Die Analyse der Übertragung und der Gegenübertragung
Die freie Assoziation
Werden Gefühle, die der Klient gegenüber einer
Um die unbewussten Triebe, Wünsche und Kon-
wichtigen frühen Person hegte, auf den Therapeu-
flikte seiner Klienten aufzuspüren, bediente sich
ten projiziert, spricht man von Übertragung. Über-
Freud zunächst der Hypnose, einem meist von außen herbeigeführten Zustand begrenzter Auf-
tragen werden können positive Gefühle wie Sympathie und Liebe oder negative Gefühle wie Hass,
merksamkeit mit hoher Empfänglichkeit für Sug-
Neid und Ablehnung. Durch die Deutung dieser
gestion (Beeinflussbarkeit durch andere Personen).
Übertragung werden die wahren Emotionen gegen-
Später erkannte er die spontane Gedankenäuße-
über wichtigen Bezugspersonen, die häufig im Zen-
rung als wirksame und einfache Methode. Bei der
trum des Konflikts stehen, aufgedeckt. Auch der
freien Assoziation fordert der Therapeut den Klienten dazu auf, seinen Gedanken, Gefühlen und Vorstellungen freien Lauf zu lassen und sie ganz unüberlegt zu äußern, selbst wenn sie ihm unwichtig, eigentlich zu intim oder unbedeutend erscheinen mögen. Nach psychoanalytischer Auffassung kommen die Assoziationen dem Patienten nicht zufällig in den Sinn (besser: ins Bewusstsein), sondern sind der Ausdruck intrapsychischer Prozesse.
Therapeut wird in seiner Beziehung zum Klienten von Gefühlen und Konflikten seiner eigenen Vergangenheit beeinflusst. Diese gilt es zu erkennen und eine Gegenübertragung, die sich nachteilig auf den therapeutischen Prozess auswirken soll, zu verhindern.
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Beachte Während die Übertragung beabsichtigt und ein wesentliches Element für die Wirksamkeit des therapeutischen Prozesses ist, sollte nach Auffassung freudianischer Therapeuten eine Gegenübertragung vermieden werden.
blem, heraus, das in einer begrenzten Anzahl von
Die Analyse von Trauminhalten Wir sind im Kapitel über den Schlaf (s. S. 25) bereits
8.2.4 Die Verhaltenstherapie Die grundlegende Idee
auf die wichtigsten Grundgedanken zur Traumdeutung eingegangen. Zur Wiederholung: Nach Freud
Die Verhaltenstherapie haben wir bereits im Kapitel über das Lernen als praktische Anwendung der
arbeiten die Abwehrmechanismen des Ich und die
Lerntheorien vorgestellt (s. S. 91).
239
wöchentlich stattfindenden Sitzungen bearbeitet wird. Die Auflösung dieses spezifischen Fokus soll sich dann auch auf andere Bereiche ausdehnen und das psychische Befinden des Klienten verbessern.
Zensur des Über-Ich während des Schlafes weniger gründlich, so dass sich hier ein Zugang zu unbewussten Trieben und Wünschen aus dem Es öffnet. Die Arbeit des Psychoanalytikers besteht darin, die latenten Trauminhalte durch die Deutung des ma-
nifesten Traums, der berichtet werden kann, freizulegen.
Merke Die Kernhypothese der Lerntheorie lautet, dass Verhalten auf Lernvorgängen beruht, also auch gestörtes Verhalten nichts anderes als eine gelernte Verhaltensweise ist. Konsequenterweise wendet die klassische Verhal-
Neuere Entwicklungen in der Psychoanalyse
tenstherapie zur Beseitigung von Störungen lern-
Die klassische Therapiemethode nach Freud (Psy-
theoretische Prinzipien an: Die Behandlung beginnt
choanalyse) erstreckte sich in ihrer ursprünglichen
mit einer genauen Verhaltensanalyse (s. S. 99), die
Form über mehrere Jahre, in denen Therapeut und
Behandlungskonzepte beruhen auf den Lernprinzi-
Klient sich häufig, zum Teil sogar täglich trafen,
pien des klassischen und operanten Konditionie-
um Konflikte durchzuarbeiten, deren Ursache häufig in psychosexuellen Konflikten gesehen wurde.
rens und des Modelllernens (s. u.). Die klassische Verhaltenstherapie zielt also auf eine Analyse und
Die Nachfolger Freuds haben die psychodynami-
Veränderung des beobachtbaren Verhaltens ab.
sche Theorie und Therapie zwar in ihren grund-
Diese Prinzipien werden in der kognitiven Ver-
legenden Ideen beibehalten, die Schwerpunkte je-
haltenstherapie um die Annahme erweitert, dass Kognitionen, also Denk- und Wahrnehmungsmuster (z. B. Erwartungen) das Verhalten beeinflussen. Eine Veränderung von Kognitionen in der Therapie ändert demnach auch das Verhalten (s. S. 15). Die Verhaltenstherapie richtet sich gezielt auf die Beseitigung der Symptome und nicht, wie die psychodynamisch orientierte Therapie, auf das Auflösen eines zugrundeliegenden Konflikts.
doch etwas verlagert. Anstatt auf (sexuelle) Triebe als Ursachenfaktoren zu fokussieren, betonen sie die
Rolle
zwischenmenschlicher
Beziehungen.
Unsichere Bindungen an wichtige Bezugspersonen der frühen Kindheit führen zu psychischen Störungen, gute Beziehungen tragen zu psychischer Gesundheit bei. Die neueren Entwicklungen lenken zudem das Augenmerk weg von den Konflikten zwischen Es und Über-Ich hin auf die Entwicklung des Selbst-
konzeptes (ähnlich Freuds Ich). Moderne psychodynamische Therapieansätze sind im allgemeinen von kürzerer Dauer als die ursprüngliche Psychoanalyse und greifen bestimmte Problembereiche heraus, anstatt auf eine globale Persönlichkeitsveränderung abzuzielen. Bei psychodynamischen Kurztherapien greifen Therapeut und Klient einen dynamischen Fokus, d. h. ein eingegrenztes Pro-
Um verhaltenstherapeutische und psychodynamisch orientierte Methoden zu unterscheiden, können Sie sich einprägen, dass für die Verhaltenstherapeuten das Symptom das eigentliche Problem ist, während es für psychodynamisch orientierte Therapeuten nur ein Signal darstellt.
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Die Kritik vonseiten der psychodynamisch orien-
Bei der systematischen Desensibilisierung ist es die
tierten Therapeuten, dass das Abschaffen von Symptomen nur zu einer Symptomverschiebung
Entspannung, die dem Erleben von Angst entgegengesetzt wird. Abb. 8.1 zeigt zwei Situationen, die
führt und das eigentliche Problem an anderer Stelle
sich zur Reizkonfrontationstherapie mit einer
ausbrechen wird, erwies sich in empirischen Unter-
höhenängstlichen Person eignen könnten. Zur Erin-
suchungen als unbegründet: Verhaltenstherapeu-
nerung: Der Klient lernt sich auf Hinweisreize (Sti-
tisch behandelte Klienten litten später nicht an
mulus), die sonst Angst ausgelöst hätten (uner-
anderen Symptomen.
wünschte Reaktion), zu entspannen (neue Reaktion), bevor er die von ihm aufgestellte Angsthie-
Die Behandlungskonzepte Die Methoden der klassischen Konditionierung
rarchie Schritt für Schritt abarbeitet. Bei der Aversionstherapie wird ein unangenehmer
Das klassische Konditionieren wurde bereits auf
Zustand dem Erleben eines angenehmen entgegen-
S. 92 ausführlich erläutert. Zur Wiederholung: Bei
gesetzt. Dies macht natürlich nur Sinn, wenn der
einer klassischen Konditionierung wird ein ur-
angenehm erlebte Zustand unerwünscht ist. Ziehen
sprünglich neutraler Reiz mit einem Reiz verknüpft,
wir das Beispiel eines Menschen heran, der eine
der eine bestimmte Reaktion nach sich zieht. Bei
Verhaltensweise – das Rauchen – unterlassen
mehrmaliger Kopplung der beiden Reize löst der
will: Der Anblick der Zigarette (NS, neutraler
ursprünglich neutrale Reize auch für sich allein die Reaktion aus. Im Falle psychischer Störungen
Stimulus), der bisher wohlwollendes Verlangen auslöste, wird mehrmals mit einer Substanz (UCS,
ist die Reaktion in ihrem neuen Kontext jedoch dys-
unkonditionierter Stimulus) verknüpft, die Übelkeit
funktional, beeinträchtigt das Leben des Klienten
(UCR, unkonditionierte Reaktion) erzeugt. Nach
und verursacht erheblichen Leidensdruck (z. B.
einigen Durchgängen löst schon allein die Zigarette
Angst vor harmlosen Objekten). Die therapeuti-
(CS, konditionierter Stimulus) eine unangenehme
schen Methoden, die der klassischen Konditionie-
Reaktion (CR, konditionierte Reaktion) aus und
rung zugeordnet werden, sollen die dysfunktiona-
das Rauchen wird unterlassen.
len Reaktionen des Klienten auf Stimuli ändern. Zu ihnen zählen die systematische Desensibilisie-
Die Methoden der operanten Konditionierung
rung (s. S. 99) und die Aversionstherapie.
Der Grundgedanke des operanten Konditionierens besteht darin, dass Verhalten durch seine Folgen
Beachte Der Wirkmechanismus beider Methoden besteht in einer Gegenkonditionierung: Es wird eine neue Reaktion auf einen Stimulus gelernt, die der unerwünschten Reaktion entgegengesetzt ist.
bestimmt wird: Positive Konsequenzen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten erneut auftritt, negative Konsequenzen machen es unwahrscheinlicher. Um das Verhalten zu beeinflussen, kontrollieren und verändern die Verhaltenstherapeuten also seine Konsequenzen.
Abb. 8.1 Zwei mögliche Reizkonfrontationen für die Therapie eines Höhenängstlichen (aus Möller/Laux/ Deister)
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Zu den Methoden der operanten Konditionierung
beispielsweise angstfrei und entspannt mit dem
zählen Strategien der positiven Verstärkung zum Aufbau von erwünschtem Verhalten und Strategien
Tier um und fordert den Klienten zur Nachahmung auf. Auch beim Training sozialer Kompetenzen
der Löschung zum Abbau von unerwünschtem
kann der Therapeut in Rollenspielen als Vorbild
Verhalten.
für sozial angemessenes Verhalten fungieren, das
Der Aufbau erwünschten Verhaltens gelingt bei-
vom Klienten nachgeahmt, geübt und auf reale
spielsweise durch sogenannte Wertmarken-Ver-
Situationen übertragen wird.
stärkungsprogramme („token economies“), die auf dem Prinzip der positiven Verstärkung beruhen. Erwünschtes Verhalten wird mit Wertmarken belohnt, die in bestimmte Vorrechte oder materielle Belohnungen eingetauscht werden können. Die Token-Programme erwiesen sich als nützlich, um geistig Behinderten Fertigkeiten beizubringen oder das Lernverhalten von problematischen Schülern zu verbessern. Unerwünschte Verhaltensweisen – also auch Symptome – werden häufig unbeabsichtigt durch positive Konsequenzen verstärkt und so aufrechterhalten. Das auffällige und aggressive Verhalten eines Kindes oder die starken Angstreaktionen eines Klienten können beispielsweise auftreten, weil sie trotz des erfahrenen Leidensdrucks positive Konsequenzen wie die Zuwendung und Aufmerksamkeit wichtiger Bezugspersonen nach sich ziehen. Das Verhalten kann gelöscht werden, wenn die Bedingungen seiner Aufrechterhaltung erkannt und die Belohnung des Verhaltens vermieden wird. Durch den Entzug von positiven Verstärkern wird die Auftretenswahrscheinlichkeit des unerwünschten Verhaltens also verringert. Parallel dazu sollte erwünschtes Verhalten verstärkt werden. Die direkte Bestrafung (z. B. körperliche Gewalt) erweist sich hingegen immer wieder als wenig nützlich: Das Verhalten wird häufig nur solange unterdrückt, wie die strafende Instanz anwesend ist.
Die Methoden des Modelllernens Menschen lernen, weil sie Verhaltensweisen und deren Konsequenzen bei anderen beobachten und nachahmen. Dies machen sich Therapeuten zunutze, indem sie dem Klienten als Modell für angemessenes Verhalten oder angemessene Emotionen dienen. Dieses Vorgehen erwies sich besonders bei der
Therapie von Phobien als effektiv. Bei der Behandlung einer Schlangenphobien geht der Therapeut
241
Weitere Verfahren der Verhaltenstherapie Weitere Techniken, die in der Verhaltenstherapie Anwendung finden, sind Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelrelaxation oder das autogene Training, die zur Reduzierung meist vegetativer Erregung eingesetzt werden. Die progressive Muskelrelaxation beispielsweise ist fester Bestandteil der systematischen Desensibilisierung (s. o.). Ein weiteres Verfahren ist das Biofeedback (s. S. 100) und die Implosionstherapie (s. S. 100).
Die Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie Kognitiv orientierte Verhaltenstherapeuten gehen davon aus, dass gestörtes Verhalten und emotionale Probleme durch falsches Denken, zum Beispiel durch unangemessene Überzeugungen und Ein-
stellungen sich selbst und anderen gegenüber, verursacht werden. Zu den Hauptverfahren der kognitiven Verhaltenstherapie zählen die rational-emotive Therapie von Ellis, die kognitive Therapie von Beck und das
Selbstinstruktionstraining nach Meichenbaum. Nach der rational-emotiven Theorie (RET) von Ellis lösen irrationale Überzeugungen wie „Ich muss in allem was ich tue, perfekt sein“ oder „Ich werde nur geliebt, wenn ich es allen recht mache“ negative Emotionen wie Ängste aus, die Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung blockieren. In der RET werden solche Überzeugungen aufgedeckt und hinsichtlich ihrer Rationalität überprüft. Ellis stellt seinen Klienten beispielsweise Hausaufgaben, bei denen sie ihre Überzeugungen an der Realität prüfen und alternative Erklärungen für das eigene und das Verhalten anderer finden sollen. Die irrationalen Überzeugungen werden gegen alternative, selbstwertdienliche Überzeugungen eingetauscht. Die kognitive Therapie von Beck wird überwiegend zur Behandlung von Depressionen eingesetzt. Nach Beck sind für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen negative selbstbezogene
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Kognitionen („Schon wieder ein Misserfolg. Ich bin ein totaler Versager“) verantwortlich, die automatisch auftreten. In der Therapie werden negative
men verschüttet liegen, zugreifen können und sie als Teil ihrer Selbst annehmen.
Annahmen und verzerrte Interpretationen ent-
Die Charakteristika der Gesprächsführung
deckt, in Frage gestellt und durch alternative Denk-
Die Gesprächspsychotherapie trägt auch die Namen „klientenzentrierte Psychotherapie“ oder „nichtdirektive Gesprächspsychotherapie“ : Der Klient mit seinem gegenwärtigen Erleben ist der Mittelpunkt des Gesprächs, der Therapeut unterstützt durch eine nicht-lenkende Gesprächsführung die Äußerungen des Klienten. Er verhilft ihm zu einer besseren Selbstwahrnehmung und -akzeptanz, indem er den emotionalen Gehalt des Gesagten versteht, das Erleben und die Erfahrungen des Klienten noch klarer herauskristallisiert und dies in einer wertschätzenden Weise verbalisiert. Hierbei sind drei Haltungen des Therapeuten die entscheidenden Wirkfaktoren: Bedingungslose Wertschätzung : Der Therapeut begegnet dem Klienten mit einer akzeptierenden Haltung, die – ganz gleich was der Klient auch sagt – frei von jeder Bewertung ist. Da diese Art der Wertschätzung an keinerlei Bedingungen (z. B. an Leistungskriterien) geknüpft ist, wird sie als „unbedingte positive Wertschätzung“ bezeichnet. Empathie bezeichnet das Vermögen des Therapeuten einfühlsam zuzuhören und die Gefühle des Klienten verstehen und nachempfinden zu können. Kongruenz : Der Therapeut ist in seiner Interaktion mit dem Klienten „er selbst“, das heißt, seine Gedanken, Gefühle und Äußerungen stimmen miteinander überein; er ist „echt“ und stellt keine Fassade dar. Eine durch diese drei Variablen gekennzeichnete Therapieatmosphäre ermöglicht es dem Klienten seine Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen zu schätzen (immerhin werden sie ja auch vom Therapeuten wertschätzend akzeptiert!), in sein Selbstkonzept einzubauen und zu aktzeptieren.
weisen ersetzt. Der Klient wird unter anderem dabei unterstützt, Misserfolge external zu attribuieren (Attributionstheorie, s. S. 130) und konstruktive Lösungen für Probleme zu finden. Meichenbaum geht bei seinem Selbstinstruktionsoder Stressimpfungstraining davon aus, dass innere Monologe und Selbstverbalisierungen („Siehst du, jetzt klappt das schon wieder nicht. Ich weiß jetzt schon, dass es in einer Katastrophe enden wird.“) Störungen verursachen und – umgewandelt in die richtige Form – Störungen auch beseitigen können. Es werden günstige Verbalisationen geübt, die als Selbstinstruktionen in beängstigenden Situationen das Verhalten und Erleben lenken können („Jetzt bleib ganz ruhig und gehe Schritt für Schritt vor.“).
8.2.5 Die Gesprächspsychotherapie Das Menschenbild Die von Carl Rogers (1951) begründete Gesprächs-
psychotherapie beruht, ebenso wie die Gestaltherapie und das Psychodrama, auf den Grundgedanken der humanistischen Psychologie (s. S. 128 Bedürfnishierarchie nach Maslow): Der Mensch ist von Natur aus bestrebt, seine ihm innewohnenden Potenziale zu entfalten und individuell zu wachsen. Kurz gesagt: Der Mensch strebt nach Selbstver-
wirklichung. Neben dieser Kraft von innen wird das Leben des Menschen jedoch auch von Regeln, Kritik und den Bewertungen seiner Umwelt bestimmt. Diese werden häufig als die eigenen Lebensgrundsätze angenommen, auch dann, wenn sie nicht mit den eigenen Bedürfnissen und Wünschen übereinstimmen. Solche Nicht-Übereinstimmungen (Inkongruenzen) blockieren den natürlichen Weg der Entfaltung und sind die Ursache für Zweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Ängste und Depressionen.
Merke Ziel der Gesprächspsychotherapie ist, dass die Klienten besser auf ihre eigenen Bedürfnisse und wahren Gefühle, die häufig unter sozialen Nor-
8.2.6 Die systemische Therapie Die grundlegende Idee Die systemische Therapie ist als systemische Familientherapie bekannt geworden, bezieht sich heute jedoch auf jede Art von Systemkonstellation (z. B. Arbeitssysteme). Sie trägt dem Umstand Rechnung,
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie dass Menschen nicht isoliert leben, sondern in
schen anderen gefragt („Welche Idee glauben Sie
soziale Systeme (z. B. Familien) eingebettet sind, die ihr Tun, Fühlen und Denken mitbestimmen. Nach der Idee der Systemtheorie weisen solche Systeme eine Eigendynamik auf und organisieren sich selbst (Selbstorganisation). Jedes Verhalten und jede Deutung der Wirklichkeit (Wirklichkeitskonstruktion) einzelner Systemmitglieder wirken auf das Gesamtsystem, das wiederum auf die Einzelmitglieder zurückwirkt. Das System formt sich selbst zu einem komplexen Geflecht aus Interaktionsstrukturen, in dessen Zusammenhang auch die Symptome Einzelner betrachtet werden müssen. Die dem System eigenen impliziten sozialen Regeln, Beziehungsstrukturen und Kommunikationsmuster können dazu führen, dass sich ein System nicht günstig für alle Beteiligten organisiert, sondern sich in unbefriedigender Art und Weise „festfährt“. Die Störungen einzelner Systemmitglieder bringen dies zum Ausdruck. Das sich selbstorganisierende System kann durch die Therapie von außen angestoßen werden, um zu befriedigenderen Organisationsformen zu finden. Dies geschieht, indem die Zahl von Denkund Handlungsmöglichkeiten erhöht wird, die die eingefahrenen Strukturen des Systems aufweichen. Hierzu stehen den systemisch orientierten Therapeuten eine Vielzahl von Techniken zur Verfügung.
hat Ihr Mann dazu, dass Ihre Tochter sich entschlossen hat, keine Nahrung mehr zu sich zu neh-
243
men?“ „Wie beurteilt ihr Bruder das Verhältnis Ihrer Eltern?“).
Die Kommentare Eine weitere Methode sind Kommentare. Ein Beispiel ist das „Reframing“ oder Umdeuten. Es verleiht einer Verhaltensweise oder einem Symptom eine andere Bedeutung, indem es in einen anderen Rahmen („frame“) oder Kontext gestellt und betrachtet wird. Die Klientenäußerung „Unser Sohn macht alles auf eigene Faust und bezieht uns nicht in sein Leben ein.“ könnte der Therapeut beispielsweise wie folgt kommentieren: „Ihr Sohn bemüht sich um Selbstständigkeit. Vielleicht versucht er so seine Eltern zu beeindrucken?“
Die metaphorischen Techniken Metaphorische Techniken gehen über die herkömmliche verbale Kommunikation hinaus und ermöglichen ein besonderes Verstehen über die Ebene des Erlebens. Eine bekannte Methode ist die Familienskulptur : Durch das Aufstellen der Systemmitglieder im Raum wird mit Hilfe von Symbolen eine ganzheitliche Repräsentation der Beziehungsstrukturen, wie sie von einer Person
Einige systemische Methoden
wahrgenommen werden, geschaffen. Hierbei sym-
Die systemischen Methoden bestehen in besonde-
bolisieren beispielsweise die räumliche Nähe und
ren Formen des Fragens, in Kommentaren, in meta-
Ferne die emotionale Distanz zwischen den Fami-
phorischen Techniken und dem Herstellen beson-
lienmitgliedern, Gestik und Mimik können Zu-
derer Kommunikationskontexte.
und Abneigung ausdrücken.
Die systemischen Frageformen Die bekannteste systemische Frageform ist das
Das Herstellen besonderer Kommunikationskontexte
zirkuläre Fragen. Es beruht auf der Idee, dass alles,
Der Einsatz eines reflektierenden Teams stellt
was gesagt oder gezeigt wird (z. B. in Form von
einen Kommunikationskontext dar, der eine Viel-
Symptomen, Ausdruck von Gefühlen) auch immer
zahl unterschiedlicher Ideen und Sichtweisen pro-
eine Botschaft in wechselseitigen Beziehungen
duziert. Der Therapeut führt in diesem mehrstufi-
darstellt, die von den Interaktionspartnern unterschiedlich wahrgenommen und verstanden wird.
gen Prozess zunächst ein Interview, bei dem jedes Systemmitglied die Möglichkeit erhält, seine Sicht
Um dies zu verdeutlichen und den Informations-
der Ereignisse zu äußern und die Sicht der anderen
gehalt im System zu erhöhen, wird nicht wie
zu hören. Das Gespräch wird dann durch eine
herkömmlich direkt gefragt, wie sich jemand fühlt
Reflexionsphase unterbrochen, in der die Mitglie-
oder ein Problem beurteilt, sondern es wird nach
der eines etwas abseits sitzenden reflektierenden
Wahrnehmungen von Beziehungsaspekten zwi-
Teams (ca. 2–5 Personen) Gedanken äußern, die
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie ihnen während des Gesprächs in den Sinn gekom-
rung, die sie durch das soziale Umfeld verursacht
men sind. Sie reflektieren in wertschätzender Weise sozusagen auf einer Metaebene über das
sehen. Bei der Partnertherapie (auch Paar- oder Ehethera-
Gesagte. Die Systemmitglieder hören diesen Refle-
pie) deckt der Therapeut mit zwei Menschen, die
xionen zu, ohne aktiv erwidern zu müssen, und
ihre Beziehung als konfliktreich und bedroht
können sich der für sie in Frage kommenden
erleben, nachteiliges Beziehungsverhalten auf und
Ideen bedienen. Anschließend können weitere In-
versucht hinderliche Strukturen und Kommunika-
terview- und Reflexionsphasen folgen. Die Sitzun-
tionsmuster zu ändern. In verhaltenstherapeu-
gen enden immer mit abschließenden Worten der
tischen Paartherapien werden beispielsweise spezi-
Systemmitglieder.
fische Kommunikationsfertigkeiten – wie das Nennen konkreter störender Verhaltensweisen, anstatt
Merke Den systemischen Techniken ist gemeinsam, dass sie die unterschiedlichen Problemsichtweisen (allgemeiner: „Wirklichkeiten“) aufdecken und verändern.
verallgemeinernder Aussagen – geübt.
8.2.8 Die Evaluation von Psychotherapie Die Therapieforschung hat zur Aufgabe, die Wirksamkeit von Psychotherapie zu bewerten. Die Bewertung fußt auf Evaluationsstudien, die die Fort-
In den Therapiesitzungen selbst werden jedoch lediglich Ideen erzeugt, die das System zu Verände-
schritte von psychotherapeutisch behandelten (Experimentalgruppe) und nicht behandelten Klien-
rungen provozieren. Im mehrwöchigen Zeitraum
ten (Kontrollgruppe) vergleichen oder die Fort-
zwischen den Sitzungen wirken dann die selbst or-
schritte von mit unterschiedlichen Therapieformen
ganisierenden Kräfte des Systems, die im besten
behandelten Klienten gegenüberstellen. Die mo-
Falle zu hilfreicheren Ordnungen führen.
derne Evaluationsforschung bedient sich zu diesem Zweck besonderer statistischer Verfahren, den sog.
8.2.7 Die Therapiemodi Die oben genannten Therapierichtungen können in verschiedenen Formen angewandt werden. Die wichtigsten Therapiemodi sind die Einzel-, Gruppen-, Familien- und Partnertherapien. Die Einzeltherapie ist das klassische therapeutische Setting, bei dem ein Klient einen Therapeuten übli-
Metaanalysen. Sie fassen die Befunde einer Vielzahl von Evaluationsstudien durch eine Standardisierung der Ergebnisse zusammen und ermöglichen so aussagekräftigere Schlussfolgerungen über die Effektivität von Therapien. Die Evaluationsforschung sucht Antworten auf drei Fragen:
cherweise einmal pro Woche aufsucht. Wie bereits erwähnt, sind die Sitzungsabstände bei psychoana-
Ist Psychotherapie überhaupt wirksam?
lytisch orientierten Therapien der vergangenen Jahre kürzer und bei den systemischen Therapien
Umfangreiche Metaanalysen zeigen, dass Psychotherapien – hier wurden unterschiedliche Thera-
länger.
pierichtungen in einen Topf geworfen – wirksamer
Gruppentherapien nutzen die Anwesenheit anderer. Wenn Menschen mit ähnlichen Problemen zusammentreffen, entsteht häufig eine verständnisvolle Atmosphäre, in der sich die Gruppenmitglieder gegenseitig unterstützen können. Die Gruppe liefert zum Beispiel Modelle angemessenen Verhaltens und bietet einen Übungsraum für den Erwerb sozialer Fertigkeiten. Den Grundgedanken der Familientherapie haben wir bereits bei der systemischen Therapie kennengelernt: Die Therapeuten arbeiten mit mehreren Familienmitgliedern an der Auflösung einer Stö-
sind als gar keine Psychotherapie.
Sind bestimmte Therapieformen wirksamer als andere? Die meisten Evaluationsstudien, die die „großen“ Therapieformen – also die Verhaltenstherapie, psychodynamische und Gesprächspsychotherapie – getrennt betrachten, zeigen, dass sie alle der Option „keine Behandlung“ überlegen sind. Studien, die die Wirksamkeit unterschiedlicher Therapieformen direkt miteinander vergleichen, kamen zu dem Ergebnis, dass sie sich in ihrer
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Wirkung sehr ähnlich sind (wenn auch in einigen Studien die Verhaltenstherapie etwas besser abschneidet).
Welche Therapieformen wirken bei welchen Problemen am besten? Die Verhaltenstherapie erwies sich in einer Reihe
Die ähnlich guten Erfolge werfen die Frage auf, ob
von Untersuchungen als wirksame Methode bei
es gemeinsame therapeutische Grundbestandteile
der Behandlung von Angststörungen, besonders
(z. B.
Vermittlung
von Phobien (Tab. 8.2). Bei Panikstörungen zeigt
von Hoffnung) gibt, die zu der Verbesserung bei-
die kognitive Verhaltenstherapie die größte Wir-
tragen oder ob sich das therapeutische Vorgehen
kung, bei Depressionen sind kognitive Therapien –
doch stärker ähnelt, als es die Vertreter der unter-
auch in Kombination mit Medikamenten – sehr er-
schiedlichen Therapieschulen zugeben mögen. Viele praktisch arbeitende Therapeuten geben
folgreich, während sich bei schizophrenen Störungen die medikamentöse Behandlung als die effek-
ohnehin an, sich nicht strikt auf eine therapeuti-
tivste Methode erwies.
sche Richtung zu beschränken, sondern auch Me-
Neuere Entwicklungen in der klinischen Forschung
thoden anderer Richtungen in ihre Behandlung zu
beschäftigen sich neben der Beseitigung bereits
integrieren.
entstandener psychischer Probleme vermehrt mit
Aufmerksamkeitszuwendung,
245
den Ursachen ihrer Entstehung. Gemäß dem
Merke Die Kombination von Verfahren verschiedener Therapierichtungen wird als eklektische Therapie bezeichnet.
Motto „Die beste Lösung ist, ein Problem gar nicht erst entstehen zu lassen“ werden Ursachenfaktoren aufgedeckt und durch Präventionsstrategien (s. S. 274) beseitigt. Im Amerikanischen wurde diese Idee mit dem Begriff „Public Health“ versehen.
Tabelle 8.2 Psychotherapieverfahren (nach Möller/Laux/Deister) Klassische Psychoanalyse
Verhaltenstherapie
Gesprächspsychotherapie
Systemische Therapie
Grundlagen, Methodik, Technik
Bewusstmachung und Bearbeitung unbewussten, verdrängten Materials Nacherleben (früh-)kindlicher Träume
„beobachtbares Verhalten“ Anwendung lern-psychologischer Gesetze „Verlernen“ falscher, Erlernen neuer Verhaltensmuster
emotionale-persönliche Defizite „Selbstverwirklichung“ Verbalisierung von Gefühlen
Aufdecken und Verändern von Denkmustern eines oder mehrerer Systemmitglieder, indem neue Denkmöglichkeiten, vor allem durch das systemische Fragen, erzeugt werden
Zeitfokus
vergangenheitsorientiert
gegenwartsbezogen
größtenteils gegenwartsbezogen
gegenwartsbezogen und zukunftsbezogen
Aktivität des Therapeuten
„abstinent/neutralindifferent“ (minimal)
psychoedukativ (groß) Kooperation
„non-direktiv“ (mittel)
Therapeut als Gesprächsmoderator (mittel)
Hauptindikationen
„Neurosen“ Persönlichkeitsstörungen
Phobien Depressionen Zwangsstörungen
Neurosen psychosomatische Störungen
Neurosen
Behandlungsziele
Aufarbeitung intrapsychischer Konflikte („wo Es war, soll Ich werden“) Erkennen unbewusster Motive, Neustrukturierung der Persönlichkeit
Symptomreduktion/ -beseitigung Selbstkontrolle Kompetenztraining
Symptomreduktion Aufbau, Findung, Stabilisierung der eige- und -beseitigung durch die Veränderung nen Persönlichkeit dysfunktionaler Denkmuster und Beziehungsstrukturen
durchschnittliche Behandlungsdauer
Jahre
Monate
Monate
Monate
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8 Interventionsformen Die Psychotherapie Beachte Die Förderung von psychischer Gesundheit ist neben dem Beheben von psychischer Krankheit eine weitere wichtige Aufgabe der klinischen Psychologie geworden.
verordnet
antipsychotische
Medikamente
(z. B.
Chlorpromazin oder Haloperidol), die die schizophrenen Symptome reduzieren. Oft ermöglicht es erst die Milderung von Denk- und Wahrnehmungsstörungen, den Realitätsbezug wiederherzustellen, der für eine Zusammenarbeit mit dem Therapeuten
8.2.9 Klinische Bezüge Patient mit Schizophrenie
nötig ist. Als Familientherapeut legt der Arzt den
Ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie be-
die Kooperation mit der ganzen Familie. Er erklärt
handelt einen Patienten, dessen Symptome auf eine schizophrene Erkrankung hinweisen: Der Patient
dem Patienten und den Angehörigen das Krankheitsbild der Schizophrenie (Psychoedukation),
zeigt ein organisiertes System von Wahnideen
hilft realistische Erwartungen zu entwickeln, pro-
und auditorischen Halluzinationen. So glaubt der
blematische Interaktionen in der Familie zu ver-
Patient, dass Menschen im Fernsehen seine Gedan-
meiden und übt neue Kommunikations- und Inter-
ken lesen, seine Ideen stehlen und ihn für ihre Zwe-
aktionsformen in der Familie ein.
Schwerpunkt der therapeutischen Intervention auf
cke instrumentalisieren wollen (Beziehungswahn).
Check-up
Zudem hört er Stimmen, die alles, was er tut, kommentieren und kritisieren (auditorische Halluzinationen). Diese Symptome beeinträchtigen sein
4
Leben bereits seit einigen Monaten und haben
4
dazu geführt, dass seine Leistungen im Beruf und in seinen sozialen Beziehungen stark gesunken sind. Laut DSM IV sind diese Symptome charakteristisch für den paranoiden Typus der Schizophrenie. Der Arzt entschließt sich zu einer Therapiekombination aus Medikation und Psychotherapie. Er
4
Rekapitulieren Sie die Grundideen der vier Hauptrichtungen der Psychotherapie. Ordnen Sie die einzelnen verhaltenstherapeutischen Verfahren noch einmal den unterschiedlichen Lernprinzipien zu. Wiederholen Sie, worin für einen systemischen Therapeuten, einen Verhaltenstherapeuten, einen Psychoanalytiker und einen klientenzentrierten Therapeuten der „Therapieerfolg“ besteht.
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Kapitel
9
Besondere medizinische Situationen 9.1
Die medizinischen und die psychologischen Belastungsfaktoren 249
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Klinischer Fall
Ein unvergesslicher Tag
Bis heute konnte keine sichere und einheitliche Ursache des ALTE bewiesen werden. Man geht von einer multifaktoriellen Genese aus. Über 90 % der Fälle ereignen sich im Schlaf.
Sekunden entscheiden in der Medizin manchmal über Leben und Tod. Eine Fehleinschätzung kann in solchen Notfallsituationen fatale Folgen haben. Auf den behandelnden Ärzten lastet ein riesiger Druck. Junge Ärztinnen und Ärzte müssen lernen, auch in dieser Lage schnell die richtige Entscheidung zu treffen. Die psychische Belastung in der Intensivmedizin oder der Onkologie ist groß. Von solchen schwierigen medizinischen Situationen handelt das folgende Kapitel. Mit der Zeit lernt man, wie man Patienten und Angehörigen das Gefühl gibt, dass sie fachlich und menschlich gut aufgehoben sind. Wie bei Ursula und Christian T. und ihrem Sohn Ruben. Im Rettungswagen in die Klinik Gegen 16 Uhr betritt Ursula T. das Schlafzimmer, in dem ihr zweimonatiger Sohn Ruben in seiner Wiege schläft. Sofort merkt sie, dass etwas nicht stimmt: Ruben atmet kaum noch und ist ganz blau angelaufen. Die junge Mutter schreit auf, reißt Ruben aus seinem Bett und versucht, ihn zu beatmen. Ihr Mann benachrichtigt gleichzeitig den Notarzt. Die Minuten bis der Rettungswagen eintrifft, scheinen Stunden zu dauern. Als der Arzt den Säugling untersucht, atmet dieser wieder normal und seine Hautfarbe ist blassrosa. Trotzdem nehmen die Notärzte die Sorge der aufgeregten Eltern ernst und bringen das Baby ins Krankenhaus. Die Eltern begleiten ihr Kind. Im Krankenwagen wird ein EKG abgeleitet
und die Sauerstoffsättigung des Blutes gemessen. Zum Glück ist alles normal. Das Baby beobachtet ein wenig verschlafen die Lichter an der Decke des Rettungswagens und scheint sich recht wohl zu fühlen. Nur Ursula T. und ihr Mann Christian sind noch immer aufgeregt. Sie sind behandlungsbedürftiger als das Kind. Ein traumatisches Erlebnis In der Klinik angekommen, wird Ruben gründlich untersucht. Die Ärzte versuchen mit viel Einfühlungsvermögen, die fassungslosen Eltern zu beruhigen. Erst nach einigen Stunden gelingt ein sachliches Gespräch über den Zustand des Kindes. Acute life threatening event (ALTE) nennen die Ärzte das, was Ruben durchgemacht hat. Dieses bedrohliche Ereignis ist möglicherweise eine Vorstufe zum „Plötzlichen Kindstod“, einem plötzlichen, unerwarteten Tod bei Säuglingen, dessen Ursache nicht eindeutig geklärt ist. Risikofaktoren sind beispielsweise das Schlafen in Bauchlage, Überwärmung oder verminderte Zuwendung. Manche Babys haben zuvor an Schlafapnoe (Atemaussetzern während des Schlafes) gelitten oder sind als Frühgeborene auf die Welt gekommen. Der beinahe Tod eines Kindes ist für die Eltern selbstverständlich ein traumatisches Erlebnis, und ihre Betreuung ist eine der schwierigsten Aufgaben für Ärzte. Am Monitor Zum Glück hat Ruben den Vorfall gut überstanden. In der Klinik wird das Kind rund um die Uhr überwacht. Doch alles ist unauffällig. Da Babys nach einem ALTE stärker gefährdet sind, unerwartet zu versterben, besprechen die Ärzte mit den Eltern alle Risikofaktoren für den plötzlichen Kindstod. Außerdem erhält Ruben ein Überwachungsgerät, das Herzfunktion und Atmung überprüft. Es dient auch der Beruhigung der Eltern, die sonst vermutlich in den darauf folgenden Wochen nachts kein Auge mehr zugetan hätten. In den folgenden Monaten wächst Ruben zu einem wahren Wonneproppen heran. Alle Kontrolluntersuchungen in der Klinik und beim Kinderarzt sind völlig unauffällig. Dennoch: Vergessen wird Ursula T. den Augenblick nie, als sie Ruben blau und leblos in seiner Wiege liegen sah.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren
9
Besondere medizinische Situationen
9.1 Die medizinischen und die psychologischen Belastungsfaktoren
249
Schlafen begünstigt die Orientierungslosigkeit hinsichtlich der Zeit. Durch ständige Überwachungsund Therapiemaßnahmen wird die Schlafarchitektur vor allem zu Ungunsten der Tiefschlafphasen und des REM-Schlafes gestört, so dass die negativen Auswirkungen des Schlafentzugs (s. S. 27) noch hinzukommen.
Lerncoach
Von vielen Patienten wird die Entmündigung und
Im folgenden Kapitel werden Ihnen einige Extremsituationen vorgestellt, die mit einer starken psychosozialen Belastung aller Beteiligten sowie mit besonderen Betreuungserfordernissen einhergehen. Machen Sie sich beim Lesen klar, welche Belastungsfaktoren sich aus diesen Situationen jeweils für die Patienten, die Angehörigen und das Klinikpersonal ergeben. Oft hilft schon das Wissen um die Sorgen und Ängste des Gegenübers, um besser damit umgehen bzw. gegensteuern zu können.
das Gefühl nicht selbst agieren und entscheiden zu können als belastend erlebt. Es besteht ein Kontrollverlust über die eigenen Körperfunktionen und die unter normalen Umständen gewohnte Kontrolle von Umgebungsfaktoren gelingt erst recht nicht. Weitere häufig ermittelte psychosoziale Belastungsfaktoren sind der Verlust der Intimsphäre, ein durch seltene situationsbezogene Auskünfte und durch ständig wechselnde Bezugspersonen bedingtes Kommunikations- und Informationsdefizit und das Ausgesetztsein einer Reizmonotonie optischer und akustischer Reize, zum Beispiel durch gleichmäßige Apparatgeräusche.
9.1.1 Der Überblick
Die Reaktionen auf die Belastungsfaktoren
Es gibt Situationen, die sowohl aus medizinischer
Der Patient erlebt seinen Aufenthalt auf der Inten-
Sicht, als auch aus psychologischer Sicht eine
sivstation als eine Extremsituation, die er psychisch
Besonderheit darstellen. Dabei ergeben sich sowohl für die Patienten, als auch für die Angehö-
bewältigen muss. Das psychoanalytische Modell nimmt an, dass in solchen Situationen typische
rigen sowie das Klinikpersonal psychische Be-
Abwehrmechanismen (s. S. 35) aktiviert werden.
lastungsfaktoren. Solche Extremsituationen entstehen z. B. auf der Intensivstation, in der Notfallmedizin, der Onkologie oder der Transplantationsmedizin.
Beachte Ein gewisses Ausmaß an Verleugnung und Verdrängung der Lebensbedrohlichkeit kann durchaus nützlich sein.
9.1.2 Die Intensivmedizin Der Patient auf der Intensivstation
Diese Abwehrmechanismen lassen überwältigende
Die Belastungsfaktoren
Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
Die intensivmedizinische Betreuung ermöglicht
nicht aufkommen. Zu stark ausgeprägte Abwehr-
eine optimale Behandlung der Organkrankheit
mechanismen führen jedoch zu fehlangepasstem
vital bedrohter Patienten, stellt jedoch eine psy-
Verhalten, zum Beispiel zu einer Überschätzung
chisch belastende Situation dar. Der Patient befin-
der körperlichen Fähigkeiten, die in Frustration
det sich in einer Situation, die durch Schmerzen,
münden kann.
eventuell Luftnot und Sprechverlust Angst auslöst und in der er von der Außenwelt weitestgehend
Auch die Regression auf eine passive Stufe, die der frühkindlichen Situation der mangelnden Fähigkeit
isoliert ist. Soziale Zeitgeber wie das Lärmen oder Ruhen der Bettnachbarn fallen als Hinweise weg, die Informationen über die Tageszeit liefern. Die Rund-um-die-Uhr-Betreuung und die krankheitsbedingte unregelmäßige Abfolge von Wachen und
zur Eigenversorgung bei absoluter Versorgung von außen ähnelt, ist ein durchaus förderlicher Mechanismus, der natürlich mit der Besserung des körperlichen Zustandes wieder aufgehoben werden muss.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren Die Betreuungserfordernisse
werden zu können, ist es nötig, andere Berufsgrup-
Die Intensivmedizin begrenzt sich nicht auf die rein medizinische Betreuung des Patienten, sondern
pen wie Psychologen, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter oder Seelsorger mit anderen Arbeitsschwer-
erfordert die Einbeziehung seines Umfeldes.
punkten einzubeziehen. Auch die Vermittlung von Informationen über Selbsthilfegruppen für den
Die Einbeziehung der Angehörigen
Erkrankten oder dessen Angehörige schafft eine
Zum Behandlungskonzept intensivmedizinischer
Entlastung bei der Bewältigung der Erkrankung.
Betreuung gehört auch die Einbeziehung von Angehörigen, die ebenso wie Patient und Arzt einer Vielzahl von Belastungsfaktoren ausgesetzt sind. Sie sind emotional belastet durch ihre Sorge und
Die Belastungen beim ärztlichen und pflegerischen Personal Die Belastungsfaktoren
Trauer, ängstigen sich vor einer ungewissen Zu-
Auch für die Ärzte und das Pflegepersonal stellt die
kunft, fühlen sich mit der aktuellen Lebenssituation
Arbeit auf der Intensivstation eine körperliche und
überfordert oder fürchten, ihr zukünftiges Leben mit einem durch die Erkrankung behinderten Lebenspartner (z. B. durch Schlaganfall) nicht meistern zu können. Durch den Arbeitsausfall des Patienten können finanzielle Einbußen hinzukommen. Das eingebrachte Engagement und der zeitliche Aufwand bei der Betreuung eines Schwerkranken führen zu Einschränkung des eigenen sozialen Lebens und stellen gerade für ältere Menschen eine immense körperliche Belastung dar. Durch Gespräche mit Ärzten und dem Pflegepersonal, in denen sie mit Informationen versorgt werden und in denen sie positive Zuwendung, Empathie und Verständnis erfahren, können einige der Belastungsfaktoren vermindert werden.
psychische Extremsituation dar: Die ständige Konfrontation mit lebensbedrohlich erkrankten Menschen, für die man eine hohe Verantwortung trägt und die zu jeder Zeit eine hundertprozentige Leistungsfähigkeit erfordern, schaffen eine heikle Situation auf dem engen Pfad zwischen Herausforderung und Stress. Hinzu kommen weitere Belastungsfaktoren wie Schichtdienste, Zeitdruck, die trotz der Anstrengung hohe Mortalitätsrate, chronischer Zeitmangel, die hohen Erwartungen der Patienten und der Umgang mit emotional stark reagierenden Angehörigen.
Die Reaktionen auf die Belastungsfaktoren Die besondere psychische Beanspruchung bei der Arbeit auf der Intensivstation bleibt nicht fol-
Merke Dem Behandlungsteam muss es gelingen, die Angehörigen zur Kooperation zu motivieren und so deren Potenziale nutzbar zu machen: Die Angehörigen stellen für den Arzt wichtige Informationsquellen (z. B. für die Fremdanamnese) dar und tragen durch emotionale und praktische Unterstützung wesentlich zum Heilungserfolg bei.
genlos: Der Krankenstand des Personals und die
Fluktuationsrate sind auf Intensivstationen höher als auf anderen Stationen eines Krankenhauses. Die stressreiche Situation vergrößert die Gefahr eines Burn-Out-Syndroms (s. S. 199) und psycho-
somatischer Beeinträchtigungen .
9.1.3 Die Notfallmedizin Die besonderen psychosozialen Merkmale des Notfalls für den Arzt
Die Einbeziehug anderer Hilfssysteme
Ein medizinischer Notfall ist ein akuter vital be-
Obwohl der Arzt durch angemessene Kommunikation auch zur psychischen Gesundheit des Patien-
drohlicher Zustand, der häufig in Intensivstationen, Notfallambulanzen oder bei Rettungseinsätzen
ten und der Angehörigen beisteuern kann, liegt
direkt an Unfallorten vorkommt. Die meisten der
sein Arbeitsschwerpunkt doch auf der medizi-
oben genannten psychosozialen Belastungsfaktoren
nischen Versorgung körperlicher Beschwerden.
für Patienten, Angehörige und Ärzte auf einer
Um auch andere Bereiche hinreichend abzudecken
Intensivstation treffen auch auf die Notfallmedi-
und dem Patienten als ganzheitliche Person gerecht
zin zu.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren Für den Arzt verschärft sich jedoch noch ein wich-
Gespräch (unbedingt: Floskeln vermeiden) unter
tiger Stressfaktor: der immense Zeitdruck. Ohne ausreichend Zeit für die Analyse der Situation zu
angemessenen Rahmenbedingungen (z. B. keine Zeitbegrenzung auf 2 Minuten, keine Übermittlung
haben, muss er von einer sehr eingeschränkten In-
am Telefon) hilfreich sein.
251
formationsbasis aus wichtige Entscheidungen treffen. Zum Entscheidungsdruck gesellt sich der Hand-
9.1.4 Die Transplantationsmedizin
lungsdruck und die Angst vor Fehlentscheidungen und Fehlhandlungen.
Man kann Transplantationen nach der Art der transplantierten Organe (Leber, Niere, Knochenmark, Herz) und nach der Übereinstimmung von Spender
Die Patientenreaktionen Notfallsituationen können bei Patienten zu extre-
und Empfänger unterteilen. Die Übertragung von Organen oder Geweben auf eine andere, genetisch
men psychischen Reaktionen wie Panikattacken,
unterschiedliche Person kommt am häufigsten vor
Aggression oder zu Gefühlen des absoluten Aus-
und wird als Allotransplantation bezeichnet. Wird
geliefertseins führen.
das Transplantat von einer anderen Spezies über-
Eine häufige Reaktion auf die Bedrohung des eige-
nommen, spricht man von einer Xenotransplan-
nen Lebens oder des Lebens anderer ist der Schock.
tation. Stimmen Explantations- und Transplantationsort überein, wird von einer orthotopen Transplantation gesprochen. Kommt zur örtlichen die gewebliche Übereinstimmung hinzu, heißt sie isotope Transplantation. Liegt keine örtliche Übereinstimmung vor, ist die Transplantation heterotop. Die Transplantationsmedizin wirft eine Reihe ethischer Fragen auf. Ist es z. B. gerechtfertigt, den gesunden Organismus des Spenders durch eine schwere Operation zu gefährden (z. B. bei Lebendspende einer Niere)? Jeder Versuch ein Leben durch die Transplantation eines kostbaren Spenderorgans zu retten, bedeutet gleichzeitig, dass man dieses Organ jedem anderen Patienten auf der Warteliste versagt und ihn weiterhin einem hohen Mortalitätsrisiko während der Wartezeit aussetzt.
Im psychologischen Sinne ist eine starke psychische
Erschütterung durch das überraschende, unerwartete Auftreten einer bedrohlichen Situation (z. B. Verkehrsunfall) gemeint. Die psychischen Reaktionen sind hier verzögert. So tritt ein Gefühl der Betroffenheit, Angst oder Entsetzen oder andere der Situation angemessene Emotionen nicht unmittelbar nach dem Ereignis, sondern erst später auf. Vegetative Begleiterscheinungen sind z. B. starkes Schwitzen, Herzrasen oder Ohnmacht.
Beachte Zur Milderung des Schocks ist die Kommunikation mit den Schockpatienten (z. B. am Unfallort) unbedingt erforderlich.
Das Gespräch als Intervention Auch in der Notfallmedizin kann sich beim medizinischen Personal Routine einschleichen. Der Arzt
Die psychischen Belastungen bei Transplantationen Patienten, die sich vor einer Transplantation befin-
sollte sich jedoch darüber bewusst sein, dass die
den, haben meist eine längere Zeit schwerer Krank-
Situation für die Angehörigen und den Patienten
heit und Beeinträchtigung (vor allem bei Nieren-
einen absoluten Ausnahmezustand darstellt, für
transplantationen) sowie eine psychisch belastende
den sie noch keinerlei Bewältigungsstrategien ent-
Wartezeit hinter sich. Diese Zeit stellt einen Stresszustand dar, in dem diese Patienten, bei ständiger Angst um ihr Leben, nur auf ein geeignetes Spenderorgan hoffen können. Ansonsten sind sie in eine passive Rolle gedrängt, in der sie häufig ein Gefühl der Hilflosigkeit erleben. Hat eine Transplantation stattgefunden, ist zwar eine erste Hürde genommen, Grund zur Sorge und Angst besteht jedoch durch das Risiko der Abstoßung des Transplantats noch immer.
wickelt haben. Die Notfallsituation verlangt einen besonders sensiblen Umgang mit den Betroffenen. Möglichst frühe Gespräche zur Aufklärung über den gesundheitlichen Zustand, in denen gleichzeitig die Emotionen ernst genommen werden, dienen als erste verbale Kriseninterventionen. Auch bei der Übermittlung einer Todesnachricht kann der Arzt durch ein einfühlsam gestaltetes
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren Zudem ist das eigene Körpergefühl nicht stimmig. Das transplantierte Organ wird zunächst als Fremdkörper („foreign body stage“) erlebt und erst nach
9.1.5 Die Onkologie Die Verarbeitung einer Krebsdiagnose Wie bei allen Erkrankungen gibt es auch bei der
und nach über die Stufe der teilweisen Zugehörig-
Verarbeitung einer Krebserkrankung unterschied-
keit („partial incorporation“) als vollständig zum
liche Formen der Krankheitsbewältigung. Die Diag-
Körper gehörend („complete incorporation“) emp-
nose einer Krebserkrankung löst beim Patienten
funden.
und seinen Angehörigen häufig existenzielle Krisen
Ein weiterer Belastungsfaktor ist die Spender-
aus. Von einem Tag auf den anderen erscheint die
Empfänger-Problematik. Bei einer Lebendspende befürchten manche Patienten dem Spender gegenüber in eine emotionale Abhängigkeit zu geraten oder fühlen sich in einer Schuld stehend, die sie nie begleichen können. Aus dem Tod eines anderen Menschen (bei einer Leichenspende) eigene gesundheitliche Vorteile zu ziehen, löst bei vielen Transplantationsempfängern Schuldgefühle aus.
Zukunft viel unsicherer als vorher. Viele Patienten
Um diese Problematik besser zu verstehen, können Sie versuchen nachzuempfinden, wie es ist, als 60-Jährige(r) mit dem Herz eines tödlich verunglückten 20-Jährigen weiterzuleben.
Die Bewältigungsstile des „Sensitization“ und „Re-
schwanken einerseits zwischen der Idee einer vernichtenden Katastrophe bestehend aus einer Zukunft aus Schmerzen, körperlichem Abbau und belastenden therapeutischen Maßnahmen sowie andererseits dem Optimismus und der Zuversicht wieder zu genesen.
Die Sensitization und die Repression im Umgang mit einer Krebserkrankung pression“ (s. S. 117) werden als stabile Persönlichkeitsmerkmale verstanden, die sich bei der Verarbeitung bedrohlicher Informationen, so also auch bei einer Krebserkrankung, bemerkbar machen.
Die psychoimmunologischen Aspekte der Transplantation
Der Sensitizer sammelt beispielsweise alle erdenk-
Je nach Art der Transplantation ist mit unterschiedlichen immunologischen Reaktionen zu rechnen.
und spricht häufig mit Angehörigen oder Ärzten über seine Erwartungen und sein erworbenes Wis-
Bei allogenen oder xenogenen Transplantationen
sen. Auch wird ein möglicher drohender Tod nicht
bestehen Unterschiede im Antigenmuster bei Spen-
als Tabuthema behandelt, sondern offen angespro-
lichen Informationen über seine Krebserkrankung
der und Empfänger, die dazu führen, dass das
chen. Ein Represser hingegen verhält sich genau ge-
Transplantat als fremd erkannt wird und eine
genteilig. Er meidet wenn möglich die Konfronta-
Immunantwort auslöst (Lymphozyten- und Anti-
tion mit seiner Krankheit und will nicht informiert
körperbildung), die sich gegen das Transplantat
und erinnert werden. Beides sind Möglichkeiten
richten. Diese sogenannte Abstoßungsreaktion körperfremden Gewebes kann durch eine me-
mit einer Krankheit umzugehen, die von den Angehörigen und Ärzten akzeptiert und berücksichtigt
dikamentöse Unterdrückung der Immunreaktion
werden sollten.
gehemmt werden. Neben der Immunsuppression durch Medikamente
Das Coping-Modell
besteht die Möglichkeit, die Aktivität des Immun-
Ein einflussreiches Modell der Krankheitsverarbei-
systems durch Konditionierungsprozesse zu beein-
tung ist das Coping-Modell von Lazarus (s. S. 21).
flussen. Im Kapitel über das Lernen wurde bereits
Man kann es auch als Krankheitsverarbeitungs-
erläutert, dass durch die Kopplung eines neutralen Stimulus (Saccharinlösung) mit einem immunsup-
modell betrachten: Die Krankheit stellt eine Anforderung dar, die die Fähigkeiten des Erkrankten
pressiv wirkenden Stimulus (Cyclophosphamid)
beansprucht und übersteigt. Eine solche Situation
eine klassische Konditionierung mit dem Ergebnis
führt zunächst zu einer primären Bewertung, in
erreicht wurde, dass allein der ursprünglich neu-
der eingeschätzt wird, ob sie relevant und stress-
trale Stimulus zu einer Unterdrückung der Immun-
reich ist und wenn ja, ob sie als Herausforderung
funktionen führt.
betrachtet werden kann oder eine Bedrohung dar-
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren stellt. In der sekundären Bewertung werden die zur
schiedliche Art und Weise die Krankheitsverar-
Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten (z. B. persönliche und soziale Ressourcen, Unter-
beitung. Entspannungstraining dient der Angstreduktion
stützung durch Ärzte) herangezogen und einge-
und ist ein wirksames Mittel gegen Schlaflosig-
setzt. Die Bewältigung kann problembezogen sein,
keit.
also auf die Veränderung der Ursachen abzielen
Meditation, also das Nach-innen-Wenden der
(regelmäßige Medikamenteneinnahme, Stress ver-
Konzentration und zeitweise Außen-vor-Lassen
meiden, Immunsystem durch Sport stärken), oder
aller Stressoren, erleichtert den Umgang mit
emotionsbezogen sein, also die eigenen Emotionen zu regulieren versuchen (Hoffnung schöpfen, Ablenkung bei Verzweiflung und Trauer). Während des Bewältigungsprozesses finden ständig Neubewertungen der Situation und der Nützlichkeit der Bewältigungsmaßnahmen statt, die als Informationen bei der zukünftigen Bewältigung mit berücksichtigt werden.
Schmerzen.
253
Auch kognitive Interventionen wie das Stressimpfungstraining erwiesen sich als nützlich. Der zuvor geübte Wechseln von negativen inneren Aussagen („Diesen Schmerz kann ich nicht länger aushalten“) zu bewältigungsorientierten Aussagen („Wenn der Schmerz kommt, bleibe ich ruhig und überlege, was als nächstes zu tun ist“) lassen dem Patienten chronische oder
Die Krebspersönlichkeit? Ähnlich wie beim Persönlichkeits-Typ A, der ein
schwere Schmerzzustände weniger stark erscheinen.
erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen
Die systematische Desensibilisierung kann er-
haben soll (s. S. 145), hat man auch Persönlichkeits-
folgreich gegen die „antizipatorischer Übelkeit“
merkmale zu identifizieren versucht, die mit einer
(s. S. 100) eingesetzt werden.
wurde
Neben der Behandlung einzelner Patienten erwie-
eine Typ-C-Persönlichkeit postuliert, die durch das
sen sich auch Gruppentraining oder Selbsthilfegruppen als förderlich. Die Anwesenheit anderer Betroffener stellt durch den Erfahrungsaustausch und das Erlebnis, verstanden zu werden eine wichtige psychosoziale Unterstützung dar. Spiegel et al. (1981) konnten beispielsweise in einem angeleiteten Gruppentraining zeigen, dass Frauen mit Brustkrebs, die an einem mehrmonatigen, einmal wöchentlich stattfindenden unterstützten Gruppenprogramm teilnahmen, seltener unter Ängstlichkeit, Müdigkeit, Unruhe und Verwirrtheit litten als eine unbehandelte Kontrollgruppe. Das Programm sollte es den Frauen ermöglichen, auch während der Krankheit ein erfülltes Leben zu führen, die Beziehungen zu Angehörigen und Ärzten zu verbessern und alltägliche Probleme im Zusammenhang mit der Krankheit zu lösen.
Krebserkrankung
zusammenhängen.
Es
Leugnen negativer Emotionen, die Unfähigkeit Ärger auszudrücken, die Neigung zu depressiver Verstimmung und das Sich-nicht-Zugestehen eigener Interessen und Wünsche gekennzeichnet sein soll.
Beachte Wie auch bei Typ A konnte jedoch auch dieses Persönlichkeitskonzept empirisch nicht bestätigt werden. Der Einfluss von gesundheitsgefährdenden Verhaltensweisen wie Rauchen, übermäßiges Sonnenbaden (ultraviolette Strahlen) und Dauerstress (Kortisol wirkt als Immunsuppressivum!) auf die Krebsentstehung ist hingegen nachgewiesen. Dieses Wissen ist jedoch nur bei wenigen Menschen Anlass für eine Verhaltensänderung.
9.1.6 Die humangenetische Beratung Die Humangenetik
Einige psychologische Interventionsformen bei Krebserkrankungen
Die Humangenetik ist ein Fachgebiet der Medizin,
Eine Reihe empirischer Untersuchungen zeigen die
Krankheiten befasst und sie zu vermeiden bzw. zu
positiven Effekte psychotherapeutischer Maßnah-
behandeln versucht. Mithilfe moderner human-
men bei Krebspatienten. Sie erleichtern auf unter-
genetischer Diagnostik können z. B. heute rund
die sich mit den Ursachen genetisch bedingter
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren auf die individuelle Situation der Eltern und deren Ängste und Erwartungen eingegangen wird. In Gesprächen können Faktoren wie der soziale Rückhalt, die persönlichen und finanziellen Ressourcen sowie ethische und religiöse Überzeugungen herausgearbeitet werden, die eine tragbare Entscheidung erst möglich machen.
Die Pränataldiagnostik und die prädiktive Medizin Unter den Begriff pränatale Diagnostik fallen alle Abb. 9.1 Karyogramm eines Jungen mit Trisomie 21 (q) (Karyotyp 47, XY S 21) (aus Sitzmann)
100 Stoffwechselkrankheiten und doppelt so viele Einzelgenerkrankungen festgestellt werden. Zu den genetischen Krankheiten oder Erbkrankheiten zählen beispielsweise das Down-Syndrom (Trisomie 21, Mongolismus, Abb. 9.1) oder die Chorea Huntington (Veitstanz) (s. S. 259).
Die Beratung Bei einer humangenetischen Beratung werden die Eltern über das Risiko einer möglichen Erkrankung ihres Kindes und deren Auswirkungen aufgeklärt.
Untersuchungen am ungeborenen Kind, um Abweichungen vom normalen Verlauf der Schwangerschaft festzustellen. Hierzu dienen Routineverfahren, wie zum Beispiel die Ultraschalluntersuchung. Liegt ein genetischer Defekt bei den Eltern vor, ist die Mutter älter als 35 Jahre oder der Vater älter als 50 Jahre, kann zusätzlich eine Fruchtwasserdiagnostik (z. B. Amniozentese) durchgeführt werden. Die prädiktive Diagnostik macht Vorhersagen über zukünftige Erberkrankungen und wird zumeist bei Familien mit Erbkrankheiten eingesetzt. Sie dient dazu, mögliche präventive und therapeutische Maßnahmen initiieren zu können, vor allem aber liefert sie die Informationsgrundlage für den humangenetischen Beratungsprozess.
Sie werden in einem sensiblen Beratungsprozess
entscheiden oder welche alternativen Möglich-
9.1.7 Die Reproduktionsmedizin Die psychosozialen Faktoren der Fertilität und Infertilität
keiten (z. B. Adoption) bestehen.
Sowohl die Fruchtbarkeit (Fertilität), als auch die
Wenn die Frau bereits schwanger ist, benötigt sie
Unfruchtbarkeit (Infertilität) können je nach Lebenssituation und Lebensplanung eine psychische Belastung darstellen. Bei einer ungewollten Schwangerschaft erleben die Frauen und deren Partner aufgrund des Entscheidungskonfliktes, das Kind zu bekommen oder einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen, häufig Gefühle von Angst, Schuld und Überforderung. Ungewollt Kinderlose leiden hingegen darunter, dass ihr Lebensplan mit einem gemeinsamen Kind nicht in Erfüllung geht. Viele fühlen sich schuldig oder hilflos, weil sie glauben, den Anforderungen der Gesellschaft oder ihren eigenen Erwartungen an die Rolle einer Frau oder eines Mannes nicht gerecht zu werden. Häufig wird über sexuelle Schwierigkeiten berichtet, die sich durch den hohen psy-
bei der Entscheidungsfindung unterstützt, ob sie sich trotz eines hohen Risikos für ein eigenes Kind
ebenfalls Informationen darüber, wie hoch das Risiko einer erblichen Erkrankung ihres Kindes ist und welche Auswirkungen eine solche Erkrankung für dessen und ihr Leben haben wird. Gegebenenfalls muss die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs überdacht werden. Die Grundlage für die Beratung bilden Informationen, die aus einer ausführlichen Familienanamnese (Aufstellen eines Familienstammbaumes) gewonnen werden, die Erkrankungswahrscheinlichkeit und Möglichkeiten der Diagnose und Therapie. In einem interdisziplinären Beratungsteam, bestehend aus Fachärzten und Psychologen kann psy-
chosozialen Aspekten die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt werden, indem beispielsweise
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren chischen Druck ergeben. Hinzu können Partnerschaftsprobleme und gegenseitige Schuldzuschreibungen kommen.
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9.1.8 Die Sexualmedizin Die psychophysiologischen Grundlagen sexueller Reaktionen Die Sexualhormone
Die Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit
Die sexuelle Reaktion ist ein komplexes Geschehen,
Die medizinische Behandlung
auf das zahlreiche zentralnervöse und hormonelle
Moderne medizinische Maßnahmen helfen dem
Faktoren Einfluss nehmen. Wichtig sind die Sexual-
Kinderwunsch nach. Bei der In-vitro-Fertilisation
hormone, die der Fortpflanzung dienen und die Ausbildung weiblicher und männlicher Geschlechtsmerkmale veranlassen. Weibliche Sexualhormone (Steroidhormone) sind Östrogene und Progesteron (Gestagene), zu den männlichen Steroidhormone zählen die Androgene wie das Testosteron.
(IVF) werden reife Eizellen außerhalb des Körpers befruchtet. Die Eizellen werden im Reagenzglas („in vitro“) mit den Spermien zusammengebracht und in einer Nährlösung im Brutkasten gehalten. Die anschließende Übertragung der Zygote in den Uterus oder Eileiter wird als Embryonentransfer bezeichnet. Die Schwangerschaftsrate beträgt ca. 20 % pro Embryonentransfer. Die Erfolgsrate wird durch eine verfeinerte Methode, die intrazytoplasmatische Spermatozoeninjektion (ICSI), noch erhöht. Bei der ICSI wird mit einer Spermieninjektionsnadel ein Spermium in das Zytosplasma eines jeden Eis injiziert. Bei reproduktionsmedizinischer Behandlung steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit für eine Mehrlingsgeburt erheblich an. Die Eltern sollten hierüber informiert werden und auf die Folgen vorbereitet werden. Die Betreuung von Zwillingen oder Drillingen stellt einen hohen Stressfaktor dar, der, verbunden mit einer immensen körperlichen Anstrengung und finanziellen Mehrkosten, leicht zu einer Überforderung führen kann.
Der sexuelle Reaktionszyklus William Masters und Virginia Johnson beschrieben Mitte der 60er-Jahre die physiologischen Veränderungen beim Geschlechtsverkehr und der Masturbation in einer idealtypischen Abfolge von Phasen, dem sog. sexuellen Reaktionszyklus.
Erregungsphase : Die Erregungsphase ist die auf eine Stimulation folgende Reaktion der Sexualorgane einschließlich der Steigerung der Herzfrequenz und des Blutdrucks und der Zunahme von Atemfrequenz und Atemtiefe. Beim Mann kommt es zur Erektion des Penis, bei der Frau schwellen Klitoris, Schamlippen und Brustwarzen an. Bei beiden Geschlechtern kommt es zu Hautrötungen besonders am Hals und Dekolletee, die man als „Sex flush“ bezeichnet.
Die psychologische Betreuung
Plateauphase : In der Plateauphase steigt die
Kinderlose Paare können, um ihr emotionales
körperliche Erregung weiter an. So erhöht sich
Wohlbefinden zu verbessern, durch eine psychologische Beratung unterstützt werden. Angezeigt
der Muskeltonus und auch Herzfrequenz und Blutdruck steigen. Beim Mann wird ein Sekret
sind Einzel- oder Paarberatungen, in denen alterna-
aus den Cowper-Drüsen abgesondert, bei der
tive Lebenspläne erarbeitet werden und möglicher-
Frau weiten sich die äußeren Schamlippen, es
weise entstandene Partnerschaftsschwierigkeiten
wird
und sexuelle Probleme z. B. durch Kommunika-
wird ein zunehmender Kontrollverlust erlebt.
tionstraining und Sexualtherapie beseitigt werden.
Orgasmusphase : Mit dem Orgasmus ist der Höhepunkt der körperlichen Erregung erreicht. Er ist ein komplexer psychophysiologischer Vorgang, an dem der gesamte Organismus beteiligt ist. Es treten unwillkürliche Muskelkontraktionen in Genital- und Analregion auf. Beim Mann kommt es zur Ejakulation mit rhythmischen Kontraktionen der Beckenmuskulatur, bei der Frau zur rhythmischen Kontraktionen
Psychologische Interventionen, die auf eine Stress-
reduktion abzielen (z. B. Stressimpfungstraining, Entspannungstraining) reduzieren das Missbefinden und verbessern sogar die Fertilitätsparameter.
Gleitflüssigkeit
abgesondert.
Subjektiv
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren der orgastischen Manschette, des Uterus und
läuft ein bestimmter Abschnitt des sexuellen Reak-
der Beckenmuskulatur. Subjektiv wird die Spannung und Spannungsentladung als äußerst
tionszyklus nicht normal ab. Bei sexuellen Abweichungen handelt es sich um sexuelle Vorlieben,
lustvoll erlebt.
die vom Großteil der Gesellschaft nicht geteilt
Rückbildungsphase : Wie der Name „Rückbildungs“- Phase schon sagt, gehen nach dem Orgasmus alle Zeichen körperlicher Erregung zurück. Die Herz- und Atemfrequenz, der Blutdruck und der Muskeltonus sinken. Beim Mann bildet sich die Erektion des Penis zurück, bei der Frau verkleinern sich Klitoris und Schamlippen. Refraktärphase : Der Orgasmusphase folgt eine Zeit der Nichterregbarkeit. Sie dauert beim Mann im allgemeinen länger als bei der Frau, die von der Orgasmusphase schnell in die Plateauphase wechseln kann, aus der ein neuer Orgasmus möglich ist (multiple Orgasmen).
werden.
Einige psychische Einflussfaktoren auf die Sexualität Obwohl die physiologischen Prozesse beim Sexualverhalten weitestgehend gleich sind, unterscheidet sich das Erleben und das Ausmaß der sexuellen Befriedigung sowohl inter- als auch intraindividuell. Ursache hierfür sind psychische Faktoren. Als Hauptfaktor bei der Entstehung von sexuellem Missbefinden oder gar sexuellen Störungen gilt eine sexualfeindliche Erziehung, die beispielsweise sexuelle Praktiken mit Tabus belegt. Mangelndes Wissen und die unreflektierte Akzeptanz gesell-
schaftlicher Normen, zum Beispiel bezüglich der Häufigkeit sexueller Aktivitäten oder der Anzahl „erlaubter“ Sexualpartner, können ebenfalls zu Ängsten, Schuld- und Schamgefühlen führen, die eine befriedigende Sexualität erschweren. Auch ein hoher Leistungsdruck, der durch die eigenen Erwartungen oder die des Partners entsteht, allgemeine Probleme in der Partnerschaft wie Kommunikations- und Verhaltensdefizite oder eine
mangelnde Akzeptanz der eigenen Körperformen sind ebenfalls beeinträchtigende Faktoren. Der Einfluss einiger dieser Faktoren wird in der Sexualtherapie erfolgreich verringert.
Die sexuellen Störungen Es sind zwei Arten sexueller Störungen zu unterscheiden: Bei den sexuellen Funktionsstörungen
Die sexuellen Funktionsstörungen Störungen der sexuellen Appetenz: Unter die Störungen der sexuellen Appetenz fasst man die Verminderung oder den Verlust von Interesse an sexueller Aktivität (Lustlosigkeit) und die Ausbildung einer Abneigung gegen Sexualität (sexuelle Aversion) zusammen. Störungen der Erregungsphase: Zu den Störungen der Erregungsphase zählt die Erektionsstörung beim Mann, die eine Sekundärfolge körperlicher Störungen sein kann oder psychische Ursachen (z. B. Erwartungsängste) hat. Auch bei der Frau ist in körperliche und emotionale Störungen der sexuellen Erregung zu unterscheiden. Während der Erregungsphase wird keine oder zuwenig Gleitsubstanz aus der Vagina abgesondert. Störungen der Orgasmusphase: Die Störung kann darin bestehen, dass der Orgasmus zu früh oder zu spät auftritt oder aber ganz ausbleibt: Mit „Ejaculatio praecox“ ist ein zu früher Samenerguss gemeint, der häufig bei jungen unerfahrenen Männern auftritt. Gehemmte Ejakulationen können durch einen niedrigen Testosteronspiegel bedingt sein, oder durch Drogen, die die sympathische Erregung hemmen. Frauen geben als Störungen an, dass der Orgasmus zu spät kommt oder ganz ausbleibt. Das Ausbleiben des Orgasmus wird beim Mann als „ejaculation deficiens“ und bei der Frau als „Anorgasmie“ bezeichnet. Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen: Hierzu zählen der Vaginismus und die Dyspareunie bei der Frau. Der Vaginismus ist ein Krampf der Becken-Boden-Muskulatur bei Eindringen des Gliedes in die Vagina. Diese Störung gilt als konditionierte Angstreaktion, die sich aufgrund negativer sexueller Erfahrungen oder durch Schmerzen beim Sexualverkehr ausgebildet hat. Der Begriff Dyspareunie bezeichnet Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die häufig körperliche Ursachen (Erkrankungen im Beckenraum; Folgeschäden einer Entbindung) haben.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren Die sexuellen Abweichungen
erster Linie die Aufklärung und Informationsver-
Die sexuellen Abweichungen werden als praktizierte und – im Vergleich zu den oben genannten
mittlung, die Änderung problematischer Einstellungen und Überzeugungen, die Beseitigung von Leis-
Funktionsstörungen – funktionierende Sexualität
tungsangst, die Verbesserung der Kommunikation
verstanden, bei der jedoch das Triebziel eingeengt
zwischen den Sexualpartnern, das Erlernen sexu-
ist. Die Homosexualität, die früher zu den sexuellen
eller Techniken und die Sensibilisierung für die
Abweichungen gerechnet wurde, heute jedoch
eigene körperliche Erregung (z. B. durch selbst-
nicht mehr dazu zählt, ist ein gutes Beispiel dafür,
erkundende Masturbationen).
257
dass die Definition einer sexuellen Norm genau wie allgemeine Einstellungen zur Sexualität einem gesellschaftlichen und sozialen (Werte-)Wandel unterworfen ist.
9.1.9 Der Tod, das Sterben und die Trauer Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod
Zu den sexuellen Abweichungen zählen zum heu-
Die amerikanische Psychiaterin Kübler-Ross (1969)
tigen Zeitpunkt beispielsweise:
hat sich in ihrer Monographie „Interviews mit
Exibitionismus : Die Angst und das Entsetzen
Sterbenden“ mit dem Sterben auseinandergesetzt.
des Gegenübers bei Entblößen des Geschlechts-
Sie nimmt an, dass sterbende Menschen eine
organs steigert die sexuelle Erregung.
sehr ähnliche Sequenz emotionaler Stufen durch-
Voyeurismus : Hier wirkt die Beobachtung anderer beim Geschlechtsverkehr sexuell erregend. Fetischismus : Bestimmte Gegenstände wie Slips, BHs, Schuhe versetzen in Erregung. Sadismus und Masochismus : Das Zufügen oder Erleben von Schmerzen wird als sexuelle Erregung erlebt. Transsexualität : Die Transsexualität bezeichnet das Nicht-Übereinstimmen der psychischen Geschlechtsidentität und dem körperlichen Geschlecht. Die Betroffenen fühlen sich dem anderen Geschlecht zugehörig und empfinden im „falschen Körper“ einen hohen Leidensdruck. Viele Transsexuelle streben eine Geschlechtsumwandlung an, die in Hormonbehandlungen und chirurgischen Eingriffen besteht. Von der Transsexualität ist der Transvestismus zu unterscheiden. Transvestiten sind häufig heterosexuelle Männer, die das Bedürfnis haben, die Kleidung des anderen Geschlechts anzulegen. Sie bezweifeln ihre biologische sexuelle Identität nicht und verhalten sich meistens heterosexuell.
laufen: Die Phase der Abwehr und des Nicht-wahr-
haben-Wollens zeigt sich in einer Verleugnung des drohenden Todes oder in erlebter Hilflosigkeit. Die Protestphase ist gekennzeichnet durch ein Auflehnen gegen den Tod, das in Ärger und Klagen gegenüber Angehörigen, Ärzten und dem Pflegepersonal seinen Ausdruck finden kann. In der Phase des Verhandelns versucht der Erkrankte mit seinem Schicksal, mit den Ärzten oder mit Gott zu verhandeln, dass er diesmal noch vom Tod verschont bleibt. Die Depression ist eine Phase der Traurigkeit, in der die Motivation zur Mitarbeit des Patienten an seiner Behandlung häufig reduziert ist. Das Akzeptieren des eigenen Todes sollte die letzte Phase darstellen. Neuere Untersuchungen über das Sterben haben jedoch gezeigt, dass es starke interindividuelle Unter-
schiede in der emotionalen Reaktion auf den bevorstehenden Tod gibt. Die oben geschilderten Emotionen wie Verzweiflung, Ärger und Verleugnung können miteinander kombiniert auftreten, sich wieder-
Die Sexualtherapie In den 70er-Jahren wurde von Masters und Johnson
holen, einige Emotionen können ausgespart bleiben und andere hinzukommen. Die Erwartungen an den
die Sexualtherapie entwickelt, deren Grundzüge in
Tod, wie das Befürchten von Schmerzen oder die
vielen moderneren Sexualtherapien noch immer
Vorstellung an ein Leben danach, sind kognitive
zu finden sind.
Faktoren, die die emotionalen Reaktionen mit-
Die Ziele der Sexualtherapie, die häufig in Form
bestimmen und das Sterben erleichtern oder er-
einer Partnertherapie durchgeführt wird, sind in
schweren können.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren Die Auseinandersetzung mit dem Tod eines Nahestehenden
bereits dargestellt (s. S. 40). Nach ihr kann die so-
Die emotionalen Reaktionen
ziale Umfeld die Wucht der emotionalen Reaktionen dämpfen. Dies ist auch der Sinn von Hospizen,
Für die Familie und die Freunde eines Verstorbenen
Angehörigengruppen und Balintgruppen.
bleiben über dessen Tod hinaus Schmerz- und Verlustgefühle bestehen, die es zu bewältigen gilt.
Einige Formen sozialer Unterstützung
Einige Wissenschaftler machten auch bei den
Ein Hospiz meint im ursprünglichen Sinne eine
Trauernden bestimmte Phasen der Trauer aus, die
Sterbeklinik, in der Sterbende angemessen statio-
denen des Sterbenden ähneln. Die Phase des
när behandelt werden können. Im weiteren Sinne
Schocks kennzeichnet sich durch das emotionale Unverständnis, dass es sich um einen endgültigen Verlust handelt. Die Trauernden ertappen sich beispielsweise bei dem Gefühl, dass der Verstorbene nur verreist sei. Die Phase der Sehnsucht besteht in dem starken Wunsch nach der Nähe des anderen. Es folgt eine Phase der Depression, die häufig auch mit Verzweiflung oder Ärger verbunden ist. In der Erholungsphase wird der Tod schließlich angenommen und in eine bedeutungsvolle Perspektive gerückt.
und aus modernerer Sicht wird mit „Hospiz“ aber auch eine aus speziell geschulten Ärzten, Psycho-
Die körperlichen Reaktionen Die Trauer und das Leiden werden nicht nur als negative Emotionen erlebt, sondern haben auch körperliche Auswirkungen. Gerade bei Ehepartnern, die den größten Teil ihres Lebens gemeinsam verbracht haben, steigt nach dem Tod des Partners die Gefahr selbst zu erkranken rapide an. Schleifer et al. (1983) konnten zeigen, dass intensives Trauern immunsuppressiv wirkt. Sie haben bei Männern unterschiedlichen Alters, deren Frauen an einer Krebserkrankung litten, die Lymphozytenbildung untersucht und eine Beeinträchtigung vom Zeitpunkt während der Erkrankung bis nach deren Tod festgestellt. Sie begründen so die erhöhte
logen, Pflegepersonal und Laien bestehende Einrichtung bezeichnet, die die häusliche Sterbebegleitung unterstützt (z. B. ambulante Hospizdienste). Die Sterbenden sollen sozial integriert und bis zum Tod in ihr vertrautes soziales und räumliches Umfeld eingebunden bleiben. Angehörigengruppen sind Gruppierungen von Angehörigen zumeist schwer Erkrankter, die über den Austausch mit ebenfalls Betroffenen die mit der besonderen Situation verbundenen Probleme zu bewältigen versuchen. Solche Gruppen gibt es beispielsweise für Angehörige von Krebskranken, HIV-Infizierten oder für Eltern, deren Kind an einer unheilbaren Erkrankung leidet oder die ihr Kind bereits verloren haben („verwaiste Eltern“). Balintgruppen sind sozusagen die Selbsthilfegruppen für die professionellen Helfer. Es sind Zusammenschlüsse von Ärzten mit dem Ziel, sich über affektive Komponenten der Arzt-Patient-Beziehung auszutauschen. Die Gruppen gehen von Fallbesprechungen der ärztlichen Praxis aus und stellen ein Forum dar, in dem auch der Umgang mit Trauer, Verzweiflung und Depression über Tod und Sterben zum Thema werden kann.
Mortalität bei trauernden Witwern.
Die Todesvorstellungen Die soziale Unterstützung
Für ein Kind vom ersten bis zum dritten Lebensjahr
Die Wirkung sozialer Unterstützung
ist der Tod nicht mehr als ein Verschwinden, eine
Sowohl der Sterbende als auch Personengruppen
Art vorübergehende Abwesenheit. Bis zum fünften
wie Angehörige und Ärzte, die mit dem Tod anderer
Lebensjahr glauben die Kinder, dass man dem Tod
konfrontiert werden, benötigen häufig emotionale Hilfestellungen bei der Auseinandersetzung mit
durch Weglaufen oder Sich-Verstecken entgehen kann und fühlen sich selbst und die Eltern nicht
dem Sterben und Leiden. Es ist bekannt, dass die
betroffen. Zwischen fünf und neun Jahren tritt erst-
oben beschriebenen emotionalen Reaktionen von
mals der Gedanke an den individuellen Tod auf und
der sozialen Unterstützung moderiert werden, die
die Kriterien des Todeskonzeptes kristallisieren
die Beteiligten während kritischer Phasen erleben.
sich bis etwa dem zwölften Jahr immer mehr bis
Die Pufferhypothese des „social supports“ wurde
zu einem „reifen“ Verständnis des Todes heraus.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren Das Todeskonzept des Erwachsenen besteht aus den drei Dimensionen: „Irreversibilität“ (der Erwachsene begreift, dass der Tod nicht rückgängig zu machen ist)
„Nonfunktionalität“ (alle Körperfunktionen versagen) „Universalität“ (der Tod ist das Ende aller Lebewesen).
Beachte Das Kind versteht diese Kriterien erst ab etwa seinem neunten Lebensjahr, vorher fehlen wichtige Bestandteile des Todeskonzeptes.
259
Beachte Steht der Tod unausweichlich bevor, kann – wenn es der ausdrückliche Wunsch des Patienten ist – auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet werden. Dies wäre ein Beispiel für eine passive Sterbehilfe.
9.1.10 Klinische Bezüge Zwei Beispiele für genetische Erkrankungen: Down-Syndrom und Chorea Huntington Die Ursache des Down-Syndroms ist eine numerische Abweichung von der normalen Chromosomenzahl, die autosomal vererbt wird (s. S. 254). Es zeigt sich klinisch in einer geistigen Behinderung,
Der Begriff der Euthanasie
die
Der Begriff Euthanasie ist ein medizinischer Ter-
Geförderte Kinder können ein hohes Ausmaß an
minus, der aus dem Griechischen stammt und mit
Selbstständigkeit und sozialer Kompetenz errei-
„leichter Tod“ zu übersetzen ist (zu Unrecht wurde mit Euthanasie zur Zeit des Nationalsozia-
chen. Körperliche Auffälligkeiten sind ein rundes Gesicht mit schräg gestellten Augen, tiefsitzenden
lismus die Vernichtung so genannten „unwerten
Ohren und meist offen stehendem Mund. Viele
Lebens“ bezeichnet).
am Down-Syndrom Erkrankte leiden an Herzfeh-
Euthanasie meint heutzutage eine aktive oder pas-
lern, die Lebenserwartung ist in den letzten Jahren
sive Sterbehilfe, die ein menschenwürdiges Aus-
jedoch gestiegen. Etwa 80 % erreichen das 30. Le-
scheiden aus dem Leben zum Ziel hat. Der Begriff
bensjahr.
Sterbehilfe bezeichnet ganz allgemein eine wie auch immer geartete Beschleunigung des Sterbeprozesses und der Herbeiführung des Todes bei unheilbar Kranken oder Sterbenden. Man unterscheidet dabei zwischen aktiver, indirekter und passiver Sterbehilfe. Aktive Sterbehilfe ist die direkte, aktive Tötung eines Menschen durch Beihilfe zum Suizid oder die Verabreichung von Medikamenten. Sie ist in Deutschland verboten, auch wenn sie auf ausdrücklichen Wunsch des Betroffenen geschieht. Indirekte Sterbehilfe ist die bewusste Inkaufnahme einer Lebensverkürzung durch eine notwendige, z. B. schmerzlindernde Behandlung. Unter dem Begriff passive Sterbehilfe versteht man das Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen (z. B. Nichtbehandeln eintretender Komplikationen oder Absetzen der Intensivbehandlung). Die Richtlinien zur Sterbebegleitung der Bundesärztekammer schreiben dem Arzt die Pflicht zu, dem Patienten beizustehen und sein Leiden, zum Beispiel durch die Vergabe von Schmerzmedikamenten (z. B. Morphium) zu lindern.
eine
frühe
Förderung
notwendig
macht.
Die Chorea Huntington oder Chorea major ist eine autosomal-dominant erbliche Erkrankung mit einem Defekt auf dem kurzen Arm des Chromosom 4. Sie wird wegen ihrer auffälligen Körperbewegungen auch als „Veitstanz“ bezeichnet. Unregelmäßige, plötzliche Bewegungen der Arme, Beine oder der Gesichtsmuskulatur kennzeichnen das extrapyramidale Syndrom, das autosomal-dominant vererbt wird. Das Syndrom manifestiert sich erst zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr und ist mit fortschreitender Demenz verbunden.
Check-up 4
4
4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal den Unterschied zwischen sexuellen Funktionsstörungen und sexuellen Abweichungen. Rekapitulieren Sie, welchen psychosozialen Belastungsfaktoren ein Patient auf der Intensivstation ausgesetzt ist. Wiederholen Sie die Phasen der Auseinandersetzung mit dem Sterben.
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9 Besondere medizinische Situationen Die Belastungsfaktoren
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Kapitel
10
Patient und Gesundheitssystem 10.1
Die Stadien des Hilfesuchens 263
10.2
Der Bedarf und die Nachfrage 265
10.3
Die Patientenkarrieren im Versorgungssystem 267
10.4
Das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen 269
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262
Klinischer Fall
Tatort Bauch
Helicobacter pylori in einer Magendrüse.
Jeder Mensch geht mit Schmerzen anders um. Der eine rennt schon beim kleinsten Zipperlein zum Arzt, der andere geht erst, wenn er sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Und nicht jeder sucht bei Beschwerden den Arzt auf: Viele wenden alte Hausmittel an oder finden Hilfe in alternativen Therapien, seien es Akupunktur, Homöopathie oder andere – bei Medizinern oft umstrittene – Verfahren. Manchmal führen auch diese Therapiemethoden zum Erfolg. Bei Marianne P. jedoch nicht: Sie hat schon eine längere Patientenkarriere hinter sich, als ihr endlich eine Ärztin helfen kann. Mehr über die verschiedenen Stadien des Hilfesuchens und den Weg der Patienten durch das Gesundheitssystem erfahren Sie im folgenden Kapitel. Ein lästiges Druckgefühl Sonntagabend. Marianne P. sitzt vor dem Fernseher und schaut sich den „Tatort“ an, ist jedoch nicht recht bei der Sache. Immer dieses seltsame Druckgefühl im Bauch! Seit drei Wochen nehmen ihre Beschwerden ständig zu. Nachts kann sie kaum schlafen, so unangenehm ist das Gefühl. Vielleicht weiß eine ihrer Freundinnen Rat? Denn eines möchte die 46-jährige geschiedene Büroangestellte nicht: zum Arzt gehen. Dann müsste sie wahrscheinlich wieder diesen schrecklichen Schlauch schlucken. Schon vor einigen Jahren hatte sie einmal Magenbeschwerden gehabt. Damals hatte ihr Internist eine Magenspiegelung gemacht. Eine halbe Ewigkeit hatte sie den dicken Schlauch im Mund gehabt, dabei heftig gewürgt und gehustet, bis sie Todesangst bekommen hatte.
Seitdem ist sie nicht mehr beim Arzt gewesen, weder bei diesem, noch bei einem anderen. Kamillentee und Heilerde Mariannes Freundinnen sind voller Mitgefühl. Eine empfiehlt Kamillentee. Eine andere Heilerde. Die dritte rät Marianne P., einen Heilpraktiker aufzusuchen. Marianne befolgt alle Ratschläge der Reihe nach. Von ihrer Cousine lässt sie sich zu einer Behandlung mit Bach-Blüten-Therapie überreden. Manchmal geht es ihr für einige Zeit besser, doch die Beschwerden kehren nach kurzer Zeit zurück. Schließlich empfiehlt ihr ein Nachbar, doch mal zu der neuen Ärztin zwei Straßen weiter zu gehen. Die sei sehr nett und einfühlsam. Da es Marianne gerade wieder richtig schlecht geht – und sie die Beschwerden inzwischen seit einem Jahr hat –, lässt sie sich einen Termin geben und sitzt eine halbe Woche später bei Dr. Winter im Sprechzimmer. Ein Bakterium war’s! Dr. Winter hört sich die Leidensgeschichte ihrer Patientin an. Bei diesen unspezifischen Oberbauchbeschwerden denkt sie sofort an eine chronische Gastritis, also eine Entzündung der Magenschleimhaut. Um eine sichere Diagnose zu stellen, müsste sie eine Magenspiegelung durchführen. Doch Frau P. hat unmissverständlich klargemacht, dass sie genau das nicht möchte. Aber es gibt noch eine andere Methode, sich der Diagnose zu nähern: Etwa 85 % der Magenschleimhautentzündungen sind durch das Bakterium Helicobacter pylori verursacht. Ob das Bakterium im Magen ist, kann man auch mit einem 13C-Atemtest feststellen. Dazu muss Marianne P. 13C-Harnstoff einnehmen. Dieser wird durch die Urease der Bakterien gespalten und als 13CO2 ausgeatmet. Bei Marianne P. ist der Test positiv; d. h. in ihrem Magen findet sich Helicobacter pylori. Marianne P. erhält ein Rezept für drei Medikamente: zwei Antibiotika und einen Protonenpumpenhemmer. Letzterer soll die Säureproduktion im Magen unterbinden. Obwohl sie noch immer skeptisch ist, führt sie die sog. „Triple-Therapie“ über sieben Tage durch. Es geht ihr schlagartig besser – und die Besserung hält an. Kein Völlegefühl mehr, kein lästiges Drücken im Bauch! Am nächsten Sonntagabend kann sie beim „Tatort“ wieder richtig mitfiebern – und anschließend trotz des aufregenden Films ruhig schlafen.
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10 Patient und Gesundheitssystem Die Stadien des Hilfesuchens
10
Patient und Gesundheitssystem
10.1 Die Stadien des Hilfesuchens
263
Einschränkungen (z. B. ein längerer stationärer Aufenthalt) mit seinen momentanen Lebensumständen und Aufgaben, wird er eher dazu neigen, die Symptomatik abzuwerten. Bevor der Betroffene andere Personen zu Rate zieht,
Lerncoach
wird er zunächst eine eigene Diagnose stellen. Mit
Im folgenden Kapitel werden Ihnen die einzelnen Schritte eines Menschen von der Symptomwahrnehmung bis zum Aufsuchen professioneller Hilfe vorgestellt. Achten Sie vor allem auf mögliche Hindernisse, die jemanden von weiteren Schritten abhalten könnten.
Hilfe seines medizinischen Wissens wird er über-
10.1.1 Der Überblick Das Krankheitsverhalten beschreibt die Schritte, die ein Mensch unternehmen kann, wenn er sich krank fühlt. Aus Sicht des Betroffenen wird dieser Weg als Patientenkarriere bezeichnet. Die Stadien des Hilfesuchens variieren zwischen verschiedenen Personen. Es lassen sich jedoch bestimmte Bedingungen festmachen, die jemanden dazu veranlassen, einen bestimmten Schritt zu unternehmen oder zu unterlassen.
10.1.2 Der erste Schritt: die Symptomwahrnehmung
legen, welche Art von Behandlung sinnvoll wäre und welche Ursachen seine Symptomatik haben könnte. Diese Überlegungen werden als Laienätiologie (Laie = Nicht-Mediziner) bezeichnet. Nachdem er eine eigene Diagnose gestellt hat, muss der Betroffene sich nun entscheiden, ob er seine Symptomatik als „behandelnswert“ ansieht oder nicht. Entscheidet er sich dagegen, spricht man von einer Bagatellisierung (Herunterspielen der Symptomatik) bzw. von Verleugnung (psychoanalytischer Abwehrmechanismus, bei dem die wahrgenommene Realität „geleugnet“ wird). Wenn er seine Symptomatik als beachtenswert bewertet, wird er wahrscheinlich zunächst Maßnahmen zur Selbstbehandlung ergreifen. Unter diesen Begriff fallen alle nicht ärztlich verordneten Maßnahmen der Selbstmedikation bzw. Verwendung von Hausmitteln, die der Betroffene ergreift, um seinen Zustand zu verbessern (z. B. Einnahme von Schmerzmitteln, Ruhe, etc.).
Die Initiierung des Hilfesuchens erfolgt meist durch die Feststellung des Betroffenen, dass „etwas mit ihm nicht in Ordnung ist“. Beispielsweise kann ihn das Auftreten von Schmerzen aufmerksam machen. Ob er diesen Eindruck seiner körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung weiter verfolgt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Unter folgenden Bedingungen ist das Hilfesuchen besonders wahrscheinlich:
Merke Zwischen der Bereitschaft zur Selbstmedikation und der sozialen Schichtzugehörigkeit besteht ein kurvilinearer Zusammenhang: Sowohl Akademiker, leitende Angestellte und Selbstständige als auch die Gruppe anund ungelernter Arbeiter greifen eher zur Selbsthilfe.
Die Beeinträchtigung ist mit starken Schmerzen verbunden.
Allerdings liegen dem Verhalten der beiden Grup-
Die Symptomatik ist sichtbar und auffällig.
pen unterschiedliche Motive zugrunde: Während
Die von ihm angenommene zugrunde liegende
Angehörige höherer Schichten wegen ihres größe-
Krankheit erscheint dem Betroffenen bedrohlich.
ren medizinischen Wissens bewusst alle Möglich-
Das Symptom hält über längere Zeit an oder kehrt immer wieder.
keiten der Selbstmedikation ausnutzen und erst dann professionelle Hilfe in Anspruch nehmen,
Der Betroffene hat das Gefühl, dass er es „sich
wenn es nötig ist, ist für das hohe Maß an Selbst-
leisten kann, krank zu sein“.
hilfe in der Unterschicht (inklusive des Hinzu-
Der letzte Punkt bezieht sich auf die erwarteten
ziehens
Einschränkungen, die der Betroffene mit der anti-
Distanz zum Arzt verantwortlich (Cockerham,
zipierten Krankenrolle verbindet. Kollidieren diese
Kunz & Lueschen, 1986).
des
Laiensystems)
die
große
soziale
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10 Patient und Gesundheitssystem Die Stadien des Hilfesuchens 10.1.3 Der zweite Schritt: die Information von Bezugspersonen
betroffenen Person selbst und ihrer eigenen Hal-
Meistens wendet sich der Betroffene an wichtige
tung gegenüber einem Arztbesuch hängt die weitere Versorgung auch stark von den weiteren ein-
Bezugspersonen, denen er seine Problematik anver-
bezogenen Personen ab. Bei ausgeprägter Neigung,
traut. Familienangehörige oder Freunde werden ein-
professionelle medizinische Hilfe in Anspruch zu
geweiht und um Rat gefragt. Das heißt, dass der Be-
nehmen, spricht man von einer arztaffinen Haltung.
troffene Hilfe im so genannten Laiensystem sucht.
Ihr Gegenteil stellt die arztmeidende (oder arzt-
Merke Als Laiensystem wird das gesamte Informationssystem des Nicht-Mediziners bezeichnet. Dazu gehört das Wissen aller nicht-medizinischen Hilfsangebote (Familie, Freunde, etc.) über Krankheitsursachen (Laienätiologie) und Behandlungsmöglichkeiten.
Rat gebetener Freunde gegenüber professioneller
Je nach Art der Symptomatik kann dieser Schritt
Merke In unteren sozialen Schichten spielt das Laienzuweisungssystem eine größere Rolle als in höheren sozialen Schichten.
aversive) Haltung dar. Je nach der Einstellung um
leicht oder schwer fallen. Gerade in Fällen, in denen der betroffene eine Stigmatisierung (diskriminierende Kennzeichnung) fürchtet, wie bei-
medizinischer Hilfe kann es sein, dass der Betroffene zunächst beim Apotheker, beim Heilpraktiker, in einer Arztpraxis oder auf der Notfallstation des Krankenhauses landet. Diese Einflussnahme des sozialen Bezugssystems wird als Laienzuweisungssystem bezeichnet.
spielsweise bei einem Verdacht auf AIDS, Sexualkrankheiten oder auch bei vielen psychischen
Dieser Tatbestand wird einerseits dadurch erklärt,
Störungen, fällt dieser Schritt häufig sehr schwer
dass in gesellschaftlichen Randgruppen die soziale
und kann auch ganz übersprungen werden.
Vernetzung zum Teil weniger ausgeprägt ist, was
Bei Erkrankungen mit mangelnder Krankheitsein-
wiederum zu längerem „Suchen“ im Laienzuwei-
sicht, beispielsweise bei Anorexia nervosa (Magersucht) oder Persönlichkeitsstörungen (s. S. 142) sind es meistens die Familienangehörigen oder Freunde, die den Betreffenden auf seine Symptomatik aufmerksam machen. Dieser Fall ist besonders schwierig, da sich ohne das Eigeninteresse des Betroffenen der weitere Prozess des Hilfesuchens verzögern kann. Sind die anderen informiert, werden sie sich ihrerseits eine Meinung über die Ernsthaftigkeit der Symptomatik des Betroffenen bilden und ihre Vermutungen über Ursachen, Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten abgeben.
sungssystem führt. Zudem scheint die eigene soziale Distanz zum Arzt eine besondere Abhängigkeit von Personen der nahen Umgebung und ihrer Meinung zu fördern.
10.1.5 Der vierte Schritt: die Inanspruchnahme professioneller Hilfe Entschließt sich der Betroffene, einen Arzt aufzusuchen, vollzieht sich an dieser Stelle der Übergang vom Laiensystem zum professionellen Versorgungssystem; der Betroffene wird zum Patienten. Befragungen haben jedoch ergeben, dass viele Betroffene keinen Arzt aufsuchen, sondern mit ihren Beschwerden im Laiensystem bleiben und dort
10.1.4 Der dritte Schritt: die Inanspruchnahme von Unterstützung im Laiensystem Je nach Meinung der zu Rat gezogenen Personen
häufig ohne ärztliche Hilfe gesunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Betroffener professionelle Hilfe in Anspruch nimmt, hängt von verschiedenen Faktoren ab.
wird der Betroffene entweder direkt an das medizinische Versorgungssystem (s. „vierter Schritt“) oder an weitere Instanzen des Laiensystems verwiesen. Beispielsweise wird der Betroffene zu besonders kompetent geltenden Freunde gemischt. Neben der
Merke: Die wichtigste Einflussgröße auf die Entscheidung einen Arzt zu konsultieren, ist der subjektive Gesundheitszustand des Patienten.
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10 Patient und Gesundheitssystem Der Bedarf und die Nachfrage Weitere Faktoren sind:
Für den behandelnden Arzt ist es wichtig, sich
Die Finanzierung der Behandlung: Das Aufsuchen des Arztes ist wahrscheinlicher, wenn der Patient
darüber bewusst zu sein, dass der Patient, der seine Praxis zum ersten Mal betritt, häufig bereits
annimmt, dass die notwendige Behandlung von sei-
verschiedene Schritte des Hilfesuchens hinter sich
ner Krankenkasse finanziert wird. Das gilt für alle
hat. Entsprechend sollte er unbedingt im Zuge der
Maßnahmen, die im jeweiligen Leistungskatalog
Anamnese danach fragen, wie der Weg von der Symptomwahrnehmung bis zum Besuch in seiner Praxis verlaufen ist. Dabei kann er auch gleich erfahren, welche Behandlungsmöglichkeiten bereits mehr oder weniger erfolgreich ausprobiert wurden.
der Krankenkasse aufgeführt werden. Die Erreichbarkeit des Arztes: Je geringer der Aufwand für einen Arztbesuch, desto eher wird er in Angriff genommen. Eine wichtige Rolle spielen dabei sowohl die geographische Nähe als auch die Die Einschätzung der Ernsthaftigkeit der Erkran-
10.1.6 Klinische Bezüge Inanspruchnahme professioneller Hilfe
Wartezeit auf den Termin.
kung: Dabei sind neben dem Laienwissen des Pa-
Neben Schichtunterschieden bezüglich der Inan-
tienten auch seine individuelle Einstellung gegen-
spruchnahme von professioneller Hilfe gibt es auch
über Krankheit und der Rolle als Hilfsbedürftigen
andere Faktoren, die einen Einfluss darauf haben,
von Bedeutung. Eine hinderliche Rolle kann zu-
ob jemand einen Arzt aufsucht oder anderweitig
dem sowohl übermäßige als auch zu geringe Angst darstellen.
Hilfe sucht. Eine Gruppe, die besonders schnell diesen Schritt in Angriff nimmt, sind sozial isolierte
Die Einstellung gegenüber dem medizinischen Ver-
Personen. Bei ihnen reicht ein vergleichsweise gerin-
sorgungssystem: Eigene Erfahrungen mit ärztlicher Versorgung spielen eine wichtige Rolle dabei, ob der Betroffene davon ausgeht, dass ein Arzt ihm tatsächlich dieses Mal helfen kann. Auch die Erfahrungsberichte von Familie und Bekannten fließen in diese Erwartung mit ein. Ein Modell, dass versucht, die Motivation für das Handeln des Betroffenen systematisch zusammenzufassen, ist das Health Belief Modell (s. S. 276). Entscheidet sich der Betroffene nun dazu, dass medizinische Versorgungssystem in Anspruch zu nehmen, sollte er nach den Bedingungen für die Inanspruchnahme von Ärzten, die im Sozialgesetzbuch V festgeschrieben sind, zunächst einen Primärarzt (Allgemeinmediziner, Gynäkologe, Pädiater) konsultieren. Gegebenenfalls entscheidet dieser dann, dass eine Überweisung an einen Facharzt oder ein Krankenhaus notwendig erscheint. Bei Personen, die dem schulmedizinischen Vorgehen aufgrund früherer Erfahrungen oder aufgrund weltanschaulicher Überzeugungen skeptisch gegenüberstehen, kann hier auch die Entscheidung für eine alternative Heilkunde (z. B. ayurvedische Medizin, Akupunktur, etc.) fallen. Zudem nutzen Patienten, bei deren Symptomatik schulmedizinische Methoden bisher keine Wirksamkeit gezeigt haben, solche Verfahren häufig als Ergänzung (komplementäre Heilkunde).
ger subjektiver Leidensdruck, denn neben medizi-
265
nischer Hilfe erhoffen sie sich vom Arztbesuch auch sozialen Kontakt und Anteilnahme. An diesem Beispiel wird deutlich,dass neben dem ausgesprochenen medizinischen Anliegen häufig weitere Beweggründe hinter dem Arztbesuch stecken, die der Arzt im Idealfall erkennen und beachten sollte.
Check-up 4
Wiederholen Sie, was man unter „Laienätiologie“, „Laiensystem“ und „Laienzuweisungssystem“ versteht.
10.2 Der Bedarf und die Nachfrage Lerncoach Beim Lesen des folgenden Abschnitts sollten Sie sich vor allem auf die Begriffsdefinitionen konzentrieren.
10.2.1 Der Überblick Ob Personen, die an sich Besorgnis erregende Symptome feststellen, einen Arzt aufsuchen, hängt primär von ihrer subjektiven Befindlichkeit (Be-
darf), zum anderem vom vorhandenen medizinischen Angebot (Versorgung) ab. Das Ziel einer bedarfsgerechten Versorgung ist es, Nachfrage und Angebot so aufeinander abzustimmen, dass eine
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10 Patient und Gesundheitssystem Der Bedarf und die Nachfrage angemessene Inanspruchnahme ärztlicher Leistun-
duellen Bedarfs hinaus geht oder keinen hinrei-
gen entsteht.
chend gesicherten medizinischen Nutzen aufweist. Der Grund für eine Überversorgung kann zum Bei-
10.2.2 Der Bedarf und die Versorgung
spiels in einer ärztlichen Gefälligkeit (Bewilligung
Der Bedarf (auch Bedürfnis) an medizinischer Ver-
eines Kuraufenthalts) oder in finanziellen Interes-
sorgung soll das Ausmaß notwendiger Einrichtun-
sen (Abrechnung zusätzlicher Leistungen), aber
gen aus Sicht der Patienten beschreiben. Allerdings
auch einfach in mangelndem Wissen des Arztes
muss man diese Größe differenzierter betrachten:
liegen. Davon unterscheiden muss man die Fehlversorgung. Sie bezeichnet jede Versorgung, bei der ein vermeidbarer Schaden entsteht bzw. eine Versorgungsleistung deren Schaden größer ist als ihr Nutzen (z. B. Durchführung einer wenig effektiven Behandlung mit starken Nebenwirkungen). Zur Fehlversorgung werden auch iatrogene (durch den Arzt bzw. die Behandlung verursachte) Gesundheitsschäden gezählt. Dazu gehören beispielsweise Infektionen nach Operationen im Krankenhaus, ärztliche Kunstfehler oder auch Schäden, die durch die Medikalisierung von Störungen entstehen, die eigentlich keine organische Ursache haben wie z. B. Nebenwirkungen von Hormonpräparaten bei Frauen im Klimakterium.
Zum einen gibt es den subjektiven Bedarf, der dem subjektiven Wunsch der Patienten nach Versorgung entspricht. Ihm wird der objektive Bedarf gegenübergestellt, der sich nach dem tatsächlichen Vorhandensein einer Krankheit oder Funktionseinschränkung bemisst. Die beiden Größen sind nicht unbedingt deckungsgleich. Beispielsweise haben Hypochonder (Menschen mit einer übertriebenen Sorge um die eigene Gesundheit) einen hohen subjektiven Bedarf bei gleichzeitig geringem objektivem Bedarf, da meistens keine Erkrankung diagnostiziert werden kann. Aber auch der umgekehrte Fall existiert: Es kann objektiver Versorgungsbedarf vorhanden sein, wobei der Betroffene jedoch keine Krankheitseinsicht bzw. keinen subjektiven Bedarf verspürt. Diese Diskrepanz wird auch als latenter Bedarf bezeichnet.
Merke Die Diskrepanz zwischen subjektivem und objektivem Bedarf wird als Over- bzw. Under-Utilization bezeichnet. Dabei steht Over-Utilization für eine Nachfrage trotz fehlendem objektivem Bedarf, Under-Utilization für einen Nachfragemangel trotz objektiv vorhandenem Bedarf.
10.2.3 Der Einfluss des Ärzteangebots auf die Nachfrage Wie bereits oben geschildert wurde, ist der Bedarf, den Menschen an medizinischer Versorgung haben, eine subjektive Größe. Durch Studien, in denen die Nachfrage an ärztlichen Leistungen in Regionen mit unterschiedlicher Versorgungsdichte verglichen wurde, hat sich herausgestellt, dass das jeweilige Angebot an ärztlichen Leistungen mit der regionalen Nachfrage zusammenhängt. Man spricht
Eine bedarfsgerechte Versorgung bezieht sich so-
hier von einer angebotsinduzierten Nachfrage. Das bedeutet, je mehr Ärzte vorhanden sind,
wohl auf die subjektive als auch auf die profes-
desto mehr werden auch ärztliche Leistungen in
sionelle, wissenschaftliche Einschätzung, ob für
Anspruch genommen. Dieser Tatbestand gilt auch
die vorhandenen behandlungsbedürftigen Erkran-
für die Anzahl von Fachärzten. Diese gesteigerte
kungen und Funktionseinschränkungen ausrei-
Nachfrage lässt sich zum Teil auf das häufige Wie-
chende Versorgungsmöglichkeiten existieren.
dereinbestellen von Patienten zurückführen, was
Von einer Unterversorgung spricht man, wenn bei
nicht wirklich notwendig wäre (Überversorgung).
anerkanntem Bedarf (subjektiv und objektiv) eine medizinische Versorgung, obwohl sie grundsätzlich
Hinter derartigen Entscheidungen stecken meistens finanzielle Interessen, die durch eine ausgeprägte
möglich wäre, verweigert wird bzw. mit nicht
Konkurrenzsituation in einer Region mit hoher
zumutbarem Aufwand (z. B. Entfernung, Kosten)
Versorgungsdichte noch verstärkt werden.
verbunden ist.
Um derartige Entwicklungen zu stoppen haben
Eine Überversorgung dagegen bezeichnet eine Ver-
die Krankenkassen Maßnahmen entwickelt, die zu
sorgung, die entweder über die Deckung des indivi-
einer kostenbewussteren Nutzung der ärztlichen
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10 Patient und Gesundheitssystem Die Patientenkarrieren im Versorgungssystem Leistungen führen sollen. Dazu gehören auf der
system erhebliche Kosten verursachen. Dagegen ste-
Seite der Patienten beispielsweise die Rückerstattung von Beiträgen an den Versicherten, wenn er
hen sie der Annahme, dass psychische Faktoren ihre Beschwerden zumindest mit beeinflussen meistens
keine Versicherungsleistungen beansprucht hat
sehr skeptisch gegenüber.
267
oder die Zahlung von Prämien bei der Befolgung
Check-up
präventionsorientierter Programme. Neben diesen
finanziellen Anreizen für den Patienten sind den Ärzten von Seiten der Krankenkassen Restriktionen bezüglich ihres Budgets für Arzneimittel auferlegt worden, um einen weiteren Anstieg der Kosten einzudämmen. Zudem hat die Kassenärztliche Vereinigung Restriktionen bezüglich der Niederlassungsmöglichkeit von Ärzten eingeführt, um einer Überversorgung entgegenzuwirken. Bei diesen Maßnahmen sollte man neben ihrer kostenreduzierenden Anreizfunktion auch immer bedenken, welche weiteren Folgen sie nach sich ziehen. Beispielsweise ist es im Hinblick auf Patienten mit einer eher arztaversiven Haltung unklug, die Schwelle für den Besuch des Arztes (z. B. durch die Einführung der ab 2004 geltenden Praxisgebühr) weiter zu erhöhen. Viele Kritiker befürchten zudem, dass sich durch die Einschränkung der Arzneimittelverschreibung die notwendige Versorgung der Patienten verschlechtern könnte.
10.2.4 Klinische Bezüge Somatoforme Störungen Für den niedergelassenen Arzt kann die Diskrepanz
4
4
Machen Sie sich noch einmal klar, was man unter „Over“- bzw. „UnderUtilization“ versteht. Wiederholen Sie den Unterschied zwischen subjektivem und objektivem Bedarf.
10.3 Die Patientenkarrieren im Versorgungssystem Lerncoach Im folgenden Abschnitt stellen wir Ihnen die Strukturierung des Gesundheitssystems vor. Achten Sie darauf, welche Konsequenzen dadurch für Ärzte (z. B. erhöhter Koordinationsbedarf) und Patienten (Durchlaufen vieler „Einheiten“) entstehen.
10.3.1 Der Überblick Die Zielsetzung des medizinischen Versorgungssystems ist eine bedarfsgerechte Behandlung, die einerseits möglichst effektiv (wirksam bezüglich des Zieles, den Gesundheitszustand des Patienten zu verbessern und seine Lebensqualität zu erhö-
zwischen objektivem und subjektivem Bedarf durch-
hen) und andererseits möglichst effizient (geringst
aus problematisch sein. Konfrontiert wird er mit die-
mögliche Kosten bei größtmöglichem Nutzen)
sem Problem beispielsweise bei Patienten mit soge-
sein sollte. Um diese Ziele zu erreichen, ist eine
nannten somatoformen Störungen. Dazu gehören
klare Strukturierung des Gesundheitssystems not-
Patienten mit einer hypochondrischen Störung, die eine übersteigerte Angst vor einer bestimmten
wendig, wobei die verschiedenen Einheiten jeweils unterschiedliche Aufgaben abdecken.
Krankheit (z. B. Krebs, Aids) haben, oder Patienten denartigen körperlichen Beschwerden leiden, für die
10.3.2 Die Funktion der Primärärzte und der Spezialisten
sich keine organische Ursache findet. Das besondere
Der Eintritt des Patienten in das Versorgungssys-
Problem besteht darin, dass sie dem Arzt einen nega-
tem soll beim Primärarzt beginnen (Allgemeinme-
tiven medizinischen Befund nicht glauben und auf-
diziner, praktischer Arzt, Gynäkologe oder Pädia-
grund ihrer ausgeprägten Sensibilität für alle möglichen Anzeichen einer krankhaften Veränderung
ter). Die Primärarztfunktion besteht darin, eine erste Begutachtung des Patienten und seiner Symp-
auch immer wieder Bestätigungen für ihren „Krank-
tomatik zu leisten, um ihn je nach Diagnose entwe-
heitsverdacht“ finden. Die dauernde Angst vor der
der selber zu behandeln oder gegebenenfalls an
mit einer Somatisierungsstörung, die unter verschie-
Erkrankung lässt sie einen Arzt nach dem anderen
einen Spezialisten bzw. ein Krankenhaus zu über-
konsultieren, immer auf der Suche nach Bestätigung
weisen. Diese Soll-Vorstellung wird durch das
für ihre Vermutung, wobei sie für das Gesundheits-
Recht des Patienten auf freie Arztwahl jedoch häu-
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10 Patient und Gesundheitssystem Die Patientenkarrieren im Versorgungssystem fig umgangen, da der Patient beispielsweise sofort den Spezialisten konsultiert. Die Grundidee hinter der Funktion des Primärarztes ist es, dass an einer Stelle alle medizinischen Informationen über den Patienten zusammenlaufen. Durch die zunehmende Spezialisierung vieler niedergelassener Ärzte ist der Koordinationsbedarf zwischen ihnen gewachsen. Um den Patienten aus ganzheitlicher (holistischer) Sicht zu betrachten, müssen die verschiedenen Ärzte miteinander kooperieren. Verläuft die Koope-
ration unzureichend, wirkt sich das Informationsdefizit des jeweils behandelnden Arztes negativ auf die Qualität des Versorgungsprozesses aus: Es kann zu Überversorgungen (z. B. durch Wiederholung von Untersuchungsverfahren) oder aber auch zu Unter- und Fehlversorgung (z. B. durch Informationsverlust) kommen.
10.3.3 Die Schnittstellenproblematik bei chronisch Kranken Ein besonders schwieriger Prozess ist die bedarfsgerechte Versorgung chronisch Kranker. Die besondere Problematik entsteht aufgrund der Vielzahl beteiligter Versorgungseinheiten (ambulante und stationäre Versorgung mit verschiedenen Ärzten, Rehabilitationsmaßnahmen mit Krankengymnasten, Ergotherapeuten, etc.), die häufig nur unzureichend miteinander kommunizieren. Daraus ergibt sich für den Patienten beispielsweise das Problem, dass er häufig nicht weiß, wer für welche Anliegen jeweils zuständig ist. Zudem kann die mangelnde Weitergabe von Informationen dazu führen, dass der Patient jedem weiteren Arzt gegenüber seine Anamneseangaben mühsam wiederholen muss, was die Genauigkeit der Angaben und die Motivation der Patienten senkt. Zudem trägt die strikte Trennung zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung im deutschen Gesundheitssystem dazu bei, dass der Kranke im Laufe seiner Patientenkarriere mit mehreren Ärzten konfrontiert ist, zu denen er jeweils ein neues Vertrauensverhältnis aufbauen muss.
10.3.4 Die strukturellen Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems
Das deutsche Gesundheitssystem beruht auf einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung. Die Versicherungsstruktur teilt sich in den Großteil (ca. 90 %) gesetzlich versicherter Einwohner und ca. 10 % privat versicherte Einwohner. Die Krankenversicherung ist in Deutschland eine Pflichtversicherung (s. S. 11). Eine weitere Besonderheit des deutschen Systems ist die strikte Unterteilung der ärztlichen Versorgung in einen ambulanten (niedergelassene Ärzte in privater Praxis) und einen stationären Sektor (Krankenhäuser). Die Zahl der erwerbstätigen Ärzte teilt sich etwa gleichmäßig zwischen den beiden Bereichen auf (je ca. 130.000 im Jahr 2000). Die ambulante Versorgung gesetzlich krankenversicherter Patienten erfolgt durch sogenannte Vertragsärzte, die eine Zulassung der regionalen kassenärztlichen Vereinigung haben. Während beispielsweise in vielen anderen europäischen Ländern der Patient seine Behandlung zunächst bezahlt und dann später den Betrag (teilweise oder ganz) von der Krankenkasse erstattet bekommt, gilt in Deutschland für alle gesetzlich Krankenversicherten das Sachleistungsprinzip. Das bedeutet, dass der gesetzlich versicherte Patient über seinen Krankenkassenbeitrag das Recht zur ärztlichen Versorgung erwirbt und der Arzt mit der Krankenkasse, nicht dem Patienten, seine Leistungen abrechnet. Der Arzt wird somit indirekt, nämlich über den Umweg der kassenärztlichen Vereinigung, honoriert. Der Patient dagegen hat keine Einsicht in die von ihm verursachten Kosten. Anders sieht es jedoch bei den privat versicherten Patienten in Deutschland aus: Sie erhalten die Rechnung des Arztes und müssen diese auch zunächst begleichen, bevor sie von ihrer Krankenkasse erstattet wird. Weitere Kennzeichen der ambulanten Versorgung sind das Recht auf eine freie Arztwahl des Patienten und der direkte Zugang zum Facharzt. Beide Rechte bringen bei der Versorgung auch Probleme mit sich, da die größere Freiheit des Patienten auf der ärztlichen Seite eine bessere Kooperation und Kommunikation unter Kollegen erfordert.
Die Patientenkarrieren im Versorgungssystem wer-
10.3.5 Klinische Bezüge Disease Management
den auch von der Struktur des jeweiligen Gesund-
Ein Ansatz, der Schnittstellenproblematik bei der
heitssystems mit beeinflusst.
Behandlung chronisch Kranker entgegenzutreten,
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10 Patient und Gesundheitssystem Das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen ist das Disease Management. Hier werden alle The-
hören die personellen Voraussetzungen (z. B. An-
rapieschritte, von der Diagnostik über Behandlungs- und Rehabilitationsmaßnahmen aufeinander
zahl und Qualifikation der Mitarbeiter), die räumliche und apparative Ausstattung und die finan-
abgestimmt. Ziel der umfassenden Versorgung ist
zielle Lage des Unternehmens. Die Strukturqualität
eine komplette Fallführung (case management)
sagt also etwas aus über das Potenzial, das ein Un-
chronisch Kranker, bei der die Abstimmung aller
ternehmen hat, um Qualität hervorzubringen. Bei
beteiligten Instanzen (Pflegedienst, Krankenhaus,
Krankenhäusern existieren eine Reihe von Mindestanforderungen bezüglich der Strukturqualität, die gesetzlich vorgegeben sind. Beispielsweise gibt es Vorschriften für den Personalschlüssel (das Verhältnis von Versorgenden zu Patienten) oder die Mindestraumgrößen von Behandlungs- und Patientenzimmern. Die Strukturqualität bezieht sich also vor allem auf relativ exakt erfassbare Größen. Die Prozessqualität beschreibt sämtliche diagnostischen, pflegerischen und therapeutischen Maßnahmen innerhalb eines Versorgungsablaufs. Die Bewertung der Prozessqualität ergibt sich meistens aus einem Vergleich mit vorhandenen Standardwerten. Ihre Erfassung ist jedoch schwieriger, weil die entsprechenden Kriterien für eine hohe Prozessqualität weniger gut messbar sind. Die Ergebnisqualität orientiert sich an den Zielen der medizinischen Versorgung und beschreibt das Ausmaß, in dem die gesetzten Ziele erreicht werden. Beispielsweise können die Mortalitätsrate oder die durchschnittliche Verweildauer von Patienten als Parameter für die Ergebnisqualität herangezogen werden. Zudem können auch subjektive Größen wie zum Beispiel die Patientenzufriedenheit oder die subjektive Lebensqualität der Patienten nach der Behandlung verglichen werden. Auch bei einzelnen therapeutischen Maßnahmen kann man die Ergebnisqualität untersuchen, indem man den vorgenommenen Zielzustand mit dem erreichten Behandlungserfolg vergleicht.
Rehabilitationseinrichtung etc.) optimiert wird. Seit dem 1.7.2002 sind die Anforderungen an Behandlungsprogramme für Diabetes mellitus Typ 2 und Brustkrebs beschlossen worden. Die Ausarbeitung von Programmen für die Krankheitsbilder Diabetes mellitus Typ 1, koronare Herzerkrankung und chronische Atemwegserkrankungen sollen folgen.
Check-up 4
Machen Sie sich noch einmal die Problematik bei der Versorgung chronisch Kranker klar und überlegen Sie, wie man ihre Versorgung verbessern könnte.
10.4 Das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen Lerncoach In diesem Abschnitt lernen Sie als Grundlage für die Qualitätssicherung die drei Bereiche der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität kennen. Da dieses Konzept international anerkannt ist, sollten Sie sich die Bedeutung dieser Begriffe gut einprägen.
10.4.1 Der Überblick Durch das Gesundheitsstrukturgesetz und aufgrund des steigenden finanziellen Drucks sind Kranken-
269
häuser verstärkt dazu aufgerufen, Rechenschaft legen. Ziel aller Qualitätssicherungsmaßnahmen
10.4.3 Die Maßnahmen der Qualitätssicherung
ist eine Verbesserung der Versorgung. Das Quali-
Jedes Qualitätsmanagement beginnt mit der Erfas-
über die Qualität ihrer Patientenversorgung abzu-
tätsmanagement umfasst dabei drei verschiedene
sung des Ist-Zustands. Nur wenn bekannt ist,
Bereiche: die Struktur-, die Prozess- und die Ergebnisqualität.
welche Qualitätsstandards ein Krankenhaus momentan erfüllt, können sinnvolle Verbesserungsmaßnahmen geplant, durchgeführt und wiederum
10.4.2 Die Struktur-, Prozessund Ergebnisqualität
überprüft werden. Um über den Zustand eines
Die Strukturqualität bezieht sich auf die Rahmen-
litätsarten (s. o.) Aufschluss zu erlangen, können
bedingungen medizinischer Versorgung. Dazu ge-
verschiedene Maßnahmen angewendet werden.
Krankenhauses bezüglich der verschiedenen Qua-
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270
10 Patient und Gesundheitssystem Das Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen Zentral ist die Durchführung von Qualitätskontrol-
den Kranken- und Rentenversicherungen stärker
len. Diese können sowohl von einer internen Stelle (z. B. einem Team für Qualitätssicherung) oder von externen Personen durchgeführt werden. Häufig hat die externe Kontrolle den Vorteil, dass die Qualitätsprüfer einen objektiveren Blick auf die Zustände haben, da sie nicht durch interne Informationen vorbelastet sind. Im kleineren Bereich kann Qualitätskontrolle durch sogenannte Peer-Reviews durchgeführt werden. Die Peers sind dabei Fachkollegen, die die medizinische Versorgung beurteilen. Die Kollegenmeinung kann sowohl vor einer Maßnahme (z. B. Einholung einer Zweitmeinung vor einer aufwendigen Operation) oder retrospektiv eingeholt werden. Auch die Supervision ist eine Art der Leistungskontrolle, bei der einem Ausbilder (Supervisor) aktuelle Fälle vorgestellt werden und das weitere Vorgehen diskutiert wird. Eine weitere Möglichkeit der Qualitätsverbesserung und -sicherung stellen Qualitätszirkel dar (s. S. 226). Hier sollen vonseiten der Mitarbeiter Missstände aufgezeigt und Lösungsmöglichkeiten diskutiert werden. Ein besonderer Vorteil dieser Form der internen Qualitätskontrolle ist es, dass die Beteiligten selbst Verbesserungsmöglichkeiten erarbeiten, die ihnen auch realistisch erscheinen und zu deren Durchführung sie motiviert sind.
eingefordert. Dabei spielt neben „harten Kriterien“ (z. B. Kosten) auch die Zufriedenheit der Patienten eine immer größere Rolle („Kundenzufriedenheit“). Aus diesem Grund sind medizinische Einrichtungen verstärkt dazu aufgerufen, ihre Patienten auch im Sinne eines zuvorkommenden Dienstleistungsunternehmens zu behandeln.
10.4.5 Die Grundprinzipien evidenzbasierter Medizin Eine andere Entwicklung, die sich auch aus steigenden Qualitätsansprüchen herleitet, ist die der evidenzbasierten Medizin (s. S. 226). Hier soll auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes über die einzelnen Behandlungsschritte entschieden werden, sodass das Vorgehen mit der höchsten Wirksamkeit allen anderen vorgezogen wird. Neben der externen Evidenz (Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung) müssen in eine qualitätsorientierte Entscheidung natürlich auch die klinische Erfahrung des behandelnden Arztes und die Wünsche des Patienten einbezogen werden.
10.4.6 Klinische Bezüge Patientenzufriedenheit Da die Patientenzufriedenheit im Bereich der Qualitätssicherung ein immer wichtigeres Kriterium wird, ist es für den Arzt relevant, die Faktoren zu
10.4.4 Die Veränderungen im Gesundheitswesen
kennen, von denen dieses Kriterium abhängt.
Aufgrund des steigenden Kostendrucks müssen
denheit zum Teil auf ein mangelndes Wissen
Krankenhäuser ökonomische Kriterien verstärkt
bezüglich der Erwartungen, die Patienten an ihren
beachten. Die Patienten werden immer mehr zu Kunden, die zwischen verschiedenen medizini-
Arzt stellen, zurückzuführen sein. Bei Befragen rangieren dort Wünsche, dass der Arzt sich ausrei-
schen Versorgungsangeboten (z. B. verschiedenen
chend Zeit nehmen und zuhören können soll,
Reha-Kliniken) wählen. Diese Veränderung zieht
sowie eine ausreichende Versorgung mit Informa-
auch Konsequenzen für das Selbstverständnis der
tionen an vorderster Stelle. Zudem werden fach-
medizinischen Einrichtungen nach sich: Während
liche Kompetenz, Empathie, aber auch eine Auto-
Krankenhäuser sich früher kaum um ihre Außen-
nomie gewährende Behandlung gewünscht.
Nicht zuletzt dürfte eine geringe Patientenzufrie-
wirkung kümmern mussten, werden qualitative Standards heute auch zu einem Argument, um Patienten zu gewinnen. Gerade bei Behandlungen,
Check-up 4
die von den Patienten privat finanziert werden, werden die Kosten zu einem ausschlaggebenden Faktor für die Wahl der Klinik. Aber auch Informationen über die Effektivität der Behandlungen werden sowohl von potenziellen Kunden als auch von
4
Machen Sie sich noch einmal klar, was man unter Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität versteht. Wiederholen Sie, welche Probleme und welche Vorteile es mit sich bringt, wenn der Patient zum „Kunden“ wird.
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Kapitel
11
Prävention 11.1
Der Präventionsbegriff 273
11.2
Die primäre Prävention 274
11.3
Die sekundäre Prävention 277
11.4
Die tertiäre Prävention und die Rehabilitation 280
11.5
Die Formen psychosozialer Hilfe und die Sozialberatung 281
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272
Klinischer Fall
Just in time
Zytologischer Abstrich der Zervix, Pap IV A: ausgeprägte Dyskaryosen der tiefen Zellschicht (p).
Krankheiten vorzubeugen – wäre das nicht viel besser, als Krankheiten zu behandeln? Bei einigen Erkrankungen ist eine solche Prävention möglich: Das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, ist für Nichtraucher erheblich geringer, und Menschen, die Sport treiben, beugen damit Herz-KreislaufErkrankungen vor. Andere Erkrankungen kann man nicht verhindern, aber man kann dafür sorgen, dass sie rechtzeitig erkannt werden: Mit Früherkennungsuntersuchungen können Krebserkrankungen in einem so frühen Stadium entdeckt werden, dass sie noch geheilt werden können. Wie bei Claudia. Einmal im Jahr zur Arzt Leise stiehlt sich Claudia aus der Vorlesung und geht zügig zur Bushaltestelle: Die 27-jährige Chemiestudentin hat heute einen Termin bei ihrer Gynäkologin. Beschwerden hat sie nicht, aber einmal im Jahr geht sie zur Kontrolle. Eine Tante von ihr ist kürzlich an Brustkrebs verstorben – das hat Claudia noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig Krebsfrüherkennung ist. Aber nicht im Traum hätte sie damit gerechnet, selbst betroffen zu sein. Alles beginnt wie immer: Ihre Frauenärztin, Dr. Kaul, fragt nach Krankheiten oder Auffälligkeiten im letzten Jahr; dann bittet sie Claudia in den Nachbarraum, wo der Untersuchungsstuhl steht. Zunächst tastet die Ärztin die Brust und die Achselhöhlen ab. Danach setzt sich Claudia auf den Untersuchungsstuhl, und Dr. Kaul untersucht das Genitale. Dazu führt sie ein Spekulum in die
Scheide ein. Nun kann sie die Vagina und die Cervix uteri betrachten. Außerdem macht sie einen Abstrich von der Schleimhaut des Gebärmutterhalses. Pap IVA Claudia hat den Besuch bei ihrer Gynäkologin schon wieder völlig vergessen, als sie drei Tage später einen Anruf erhält: Bei der Untersuchung des Abstriches seien Unregelmäßigkeiten entdeckt worden. Die Ärztin bittet sie, am nächsten Tag vorbei zu kommen, damit sie alles weitere mit ihr besprechen kann. Mit etwas mulmigem Gefühl sitzt Claudia am nächsten Tag im Sprechzimmer. Die Ärztin erklärt ihr, dass sie den Abstrich vom Gebärmutterhals in ein Labor geschickt hat. Dort werden die Zellen nach der Methode von Papanicolaou gefärbt und beurteilt. Sind die im Abstrich gefundenen Zellen normal, werden sie als „Pap I“ klassifiziert. „Pap V“ bedeutet Zervixkarzinom, also einen bösartigen Tumor des Gebärmutterhalses. Bei Claudia hat die Untersuchung „Pap IV A“ ergeben. Das heißt, bei ihr sind die Zellen dysplastisch, also fehlgebildet. Claudia hat (noch) kein Zervixkarzinom, aber die Epithelzellen sind bereits verändert, es kann sich ein bösartiger Tumor entwickeln. Therapie: Konisation Claudia ist den Tränen nahe. Doch die Ärztin beruhigt sie: Da die Zellfehlbildungen rechtzeitig entdeckt worden seien, müsse nur eine Konisation vorgenommen werden. Bei dieser Operation schneidet man ein kegelförmiges Stück des Zervixhalses rund um den Muttermund heraus. Anschließend wird das Gewebsstück unter dem Mikroskop untersucht. Die Gebärmutter bleibt an ihrem Platz – und selbstverständlich, beteuert die Ärztin, könne Claudia später Kinder bekommen. Die Studentin ist erleichtert. Eine Woche später wird sie in der Frauenklinik stationär aufgenommen; gleich am Tag darauf findet die Operaton statt. Ihre Kommilitoninnen besuchen sie in der Klinik. Claudia erzählt von ihrer Krankheit und der Operation. Sie rät allen, regelmäßig zur Vorsorge zu gehen. Das gilt übrigens nicht nur für Frauen: Auch bei Männern kann ein Prostata- oder Dickdarmtumor in einer Früherkennungsuntersuchung entdeckt werden, noch bevor sich gefährliche Metastasen gebildet haben.
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11 Prävention Der Präventionsbegriff
11
Prävention
11.1 Der Präventionsbegriff
273
11.1.2 Warum ist Prävention so wichtig? Prävention ist in unserer Gesellschaft immer wichtiger geworden. Das liegt vor allem an den Veränderungen in der Art der Erkrankungen. Akute
Lerncoach
Erkrankungen wie beispielsweise Infektionen sind
In diesem Abschnitt können Sie sich schon einmal einen Überblick darüber verschaffen, was das Ziel primärer, sekundärer und tertiärer Prävention ist und in welchem Stadium von Gesundheit und Krankheit sie jeweils ansetzen. Es wird Ihnen dann in den folgenden Abschnitten leichter fallen, das Gelesene in einen Gesamtkontext einzuordnen.
aufgrund des medizinischen Fortschritts, verbes-
11.1.1 Was ist Prävention? Der Begriff der Prävention ist vom lateinischen Wort „praevenire = zuvorkommen, vorbeugen“ abgeleitet. Man versteht unter Prävention die Förderung der Gesundheitspflege und die Verhinderung von Erkrankungen bzw. deren Verschlimmerung (Chronifizierung). Somit werden alle Konzepte, Programme und Maßnahmen, deren Ziel es ist, die Entstehung und Chronifizierung von Krankheiten zu verhindern, unter dem Begriff der Prävention zusammengefasst. Der Präventionsbegriff orientiert sich an einem Phasenmodell von Gesundheit und Krankheit, in dem der „typische Verlauf“ vom gesunden Stadium über die akute Erkrankung, die Chronifizierung und Verschlimmerung bis zum Tod beschrieben wird. Die verschiedenen Stadien der Prävention richten sich nach den Phasen des Krankheitsverlaufs: Die primäre Prävention umfasst alle Maßnahmen, die das Auftreten von Krankheiten verhindern sollen. Die sekundäre Prävention umfasst Maßnahmen zum frühzeitigen Erkennen von Krankheiten. Durch das Erkennen soll eine Verschlimmerung und Chronifizierung der Erkrankung verhindert werden. Die tertiäre Prävention umfasst alle Maßnah-
serter materieller Lebensbedingungen und höherer Hygienestandards zurückgegangen. Dagegen ist der Anteil chronisch-degenerativer Erkrankungen gestiegen. Die rein organmedizinisch orientierte Betrachtungsweise greift bei vielen der chronischen Krankheiten zu kurz, da sie größtenteils kurativ (curare, lat.: heilen) orientiert ist. Das bedeutet, dass sie bei akuten Erkrankungen nach Methoden zur vollständigen Gesundung sucht. Als Alternative hat sich bei chronischen Erkrankungen ein präven-
tiver und rehabilitativer Ansatz etabliert. Grundgedanke ist, dass das Risiko und der Verlauf chronischer Erkrankungen einen engen Bezug zum Verhalten aufweisen. Gesundheitserhaltendes Verhalten soll gefördert, gesundheitsschädigendes Verhalten verhütet werden. Es steht also weniger die vollständige Gesundung des Patienten im Mittelpunkt als vielmehr eine Vermeidung von riskantem Verhalten, das eine Erkrankung oder – bei bereits vorliegender Krankheit – eine Verschlimmerung verhindern soll. Zu den typischen Risikover-
haltensweisen gehören ungesunde und übermäßige Ernährung, Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum, mangelnde körperliche Bewegung, aber auch psychische und physische Überbelastung (Stress). Nicht zu vergessen ist zudem die finanzielle Bedeutung der Präventionsmedizin. Besonders die Reduzierung kostspieliger chronischer Erkrankungen wirkt sich positiv auf die Finanzierung des Gesundheitssystems aus. Zudem ermöglicht die Früherkennung bei vielen Erkrankungen eine effektive Behandlung, wie sie bei fortgeschrittenem Krankheitsverlauf nicht mehr möglich wäre.
men zur Verhütung bzw. Verminderung von Folgeschäden bei bereits bestehenden chronifizierten Erkrankungen. Zu den möglichen Folgeschäden der Erkrankung gehören auch die gesellschaftliche Ausgliederung des Erkrankten. Hier setzten Rehabilitationsmaßnahmen an, die die Wiedereingliederung des Kranken in das berufli-
Check-up 4
Machen Sie sich nochmals klar, welche Maßnahmen die primäre, sekundäre und tertiäre Prävention jeweils umfasst und warum ihnen eine so große Bedeutung zukommt.
che und gesellschaftliche Leben zum Ziel haben.
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274
11 Prävention Die primäre Prävention
11.2 Die primäre Prävention Lerncoach Im folgenden Kapitel werden Ihnen drei verschiedene Konzepte zur primären Prävention vorgestellt: die Protektion, die Resilienz und die Salutogenese. Prägen Sie sich diese Begriffe gut ein, sie werden häufig geprüft.
Beachte Die Verschiebung in Richtung der positiven Wertschätzung von Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für die Teilnahme an primären Präventionsmaßnahmen, da sie darauf abzielen, sich aktiv um die Erhaltung des gesunden Körpers zu kümmern. Im Bereich der primären Prävention haben sich verschiedene Konzepte entwickelt.
11.2.1 Der Überblick Die primäre Prävention umfasst alle Maßnahmen,
Die Protektion
die Risikofaktoren verringern und dadurch Krank-
Bei der Protektion bemüht man sich, individuelle
heiten verhindern sollen. Voraussetzung für die
und soziale Schutzfaktoren (protektive Faktoren)
Nutzung solcher Maßnahmen ist eine positive
zu identifizieren und zu stärken. Auf individueller
Wertschätzung von Gesundheit. Im ersten Ab-
Ebene gehören dazu beispielsweise das Persönlich-
schnitt werden aus diesem Grund Konzepte vor-
keitsmerkmal des Optimismus oder eine hohe
gestellt, die bei einer Förderung der Gesundheit ansetzen. Neben individuellen Einstellungen haben
Selbstwirksamkeitserwartung. Auf sozialer Ebene wird besonders die soziale Unterstützung („social
zudem soziale Faktoren einen großen Einfluss auf
support“) betont.
die Wahl eines mehr oder weniger gesundheitsbewussten Lebensstils. Danach werden verschie-
Die Resilienz (psychische Elastizität)
dene Modelle vorgestellt, die jeweils beschreiben,
Ähnlich wie bei der Protektion geht es auch bei die-
welche Faktoren bezüglich des eigenen Gesund-
sem Konstrukt um den Umgang mit belastenden
heitsverhaltens eine Rolle spielen. Diese Modelle
Ereignissen. Als Resilienz werden die psychischen
sind nicht alternativ, sondern ergänzend zu verstehen.
und physischen Fähigkeiten eines Individuums bezeichnet, die es ihm ermöglichen, Lebenskrisen oder schwere Krankheiten ohne langfristige Beein-
11.2.2 Der Wert der Gesundheit
trächtigung zu meistern. Hohe Resilienz im Um-
In den westlichen Gesellschaften wird Gesundheit
gang mit Krisen zeichnet sich dadurch aus, dass
immer stärker als eigener Wert angesehen. Aus die-
der Mensch die Situation akzeptiert, dass er aktiv
ser Einstellung folgt die Bereitschaft, sich aktiv um
nach einer Lösung sucht (aktives Coping), dass er
die Erhaltung der eigenen Gesundheit zu kümmern
Hilfe und Unterstützung einfordert und trotz der
und beispielsweise durch einen gesundheitsbewussten Lebensstil das Verhalten an diesem
ungünstigen Situation die Überzeugung bewahrt, dass sie sich wieder bessern wird. Weitere Kennzei-
Ziel auszurichten. Diese Einstellung muss man
chen der Resilienz sind eine hohe internale Kon-
von einer rein instrumentellen Vorstellung des
negativ bewertet, da sie die Funktionalität des
trollüberzeugung (s. S. 145) und ein günstiger Attributionsstil (s. S. 130), bei dem positive Ereignisse internal (auf die eigene Person) und negative Ereignisse external (auf andere Faktoren außerhalb der eigenen Person) attribuiert werden.
Körpers einschränkt. Der gesunde Zustand würde dagegen nicht als etwas Positives, Erstrebenswertes
Die Salutogenese
hervorgehoben, sondern einfach als eine Art neu-
Das Konzept der Salutogenese nach Antonovsky
traler Normalzustand („Alles in Ordnung.“).
(1993) versucht zu ergründen, welche persönlichen
eigenen Körpers unterscheiden, bei der sich der Wert des Körpers allein nach seiner Funktionsfähigkeit richtig. Krankheit wird in diesem Fall als
und in der Umwelt liegenden Faktoren dazu führen, dass jemand trotz ungünstiger Verhältnisse gesund bleibt.
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11 Prävention Die primäre Prävention Merke Im Gegensatz zur pathogenetischen Perspektive, die sich um die Erklärung der Entstehung von Krankheiten kümmert, ist die salutogenetische Perspektive auf die Entstehungs- und Erhaltungsbedingungen der Gesundheit gerichtet. Nach dem Konzept der Salutogenese sind Krankheit und Gesundheit zwei unabhängige Faktoren, so dass die Förderung der Gesundheit etwas anderes beinhaltet als nur die Reduzierung von Krankheit. Im
salutogenetischen
Konzept
werden
zwei
Kernstücke für die Erhaltung der Gesundheit betont: die allgemeinen Widerstandsressourcen und der Kohärenzsinn. Zu den Widerstandsressourcen zählen alle Fähigkeiten eines Menschen, die ihm dabei helfen, mit biologischen, psychischen oder sozialen Spannungen und Belastungen besser umzugehen. Ein funktionierendes Immunsystem gegen Krankheitserreger zählt genauso dazu, wie ein soziales Netzwerk oder Intelligenz und geistige Flexibilität, die eine gute Anpassung an die Umwelt ermöglichen. Als Kohärenzsinn wird eine stabile Handlungsorientierung bezeichnet. Sie ist bei Menschen hoch ausgeprägt, die das Gefühl haben, dass sie die Welt, in der sie leben, verstehen, mit ihren gegebenen persönlichen Ressourcen umgehen und dem Leben einen Sinn abgewinnen können. Sind diese Überzeugungen wenig ausgeprägt, ist der Kohärenzsinn gering und damit zur Erhaltung der Ge-
275
ist der Anteil der Raucher größer als in höheren Schichten. Abhängig davon, welche gesundheitsbezogenen Normen in einer gesellschaftlichen Gruppe gelten, wird entsprechendes normabweichendes Verhalten negativ sanktioniert. Wird starker Alkoholkonsum in einem Weinanbaugebiet als „normal“ betrachtet, erfolgt auf entsprechendes Trinkverhalten keine gesellschaftliche Ächtung, während in bestimmten religiösen Gruppen (bspw. bei den Zeugen Jehovas) jeglicher Alkoholkonsum eine Regelverletzung darstellt. Besonders deutlich wird der soziale Einfluss auf das Gesundheitsverhalten in der Adoleszenz. Der Gruppendruck in der Peer-Group (s. S. 168) kann dazu beitragen, dass riskantes Gesundheitsverhalten, wie Rauchen und anderer Drogenkonsum, gezeigt wird, um den eigenen Status in der Gruppe der Gleichaltrigen zu sichern. Zudem hat sich in epidemiologischen Studien gezeigt, dass die im Jugendalter begonnenen Verhaltensweisen häufig beibehalten werden. Beispielsweise zeigte sich bei einer amerikanischen Studie zum Einstiegsalter beim Rauchen, dass fast 90 % der rauchenden Erwachsenen damit bereits im Jugendalter begonnen hatten. Aus diesem Grund sind Ansätze der primären Prävention im Jugendalter besonders wichtig, aber auch schwierig. Eine Möglichkeit ist es, attraktive Modelle, beispielsweise populäre Sportler, als Kampagnenträger zu nutzen, die einerseits auf das Risiko von gesundheitsschädigendem Verhalten hinweisen und andererseits einen positiven Gegenentwurf anbieten.
sundheit weniger günstig.
11.2.3 Die Bedeutung sozialer Faktoren beim Gesundheitsverhalten
11.2.4 Verschiedene Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens Im Bereich der Gesundheitspsychologie versucht
Ob man sich bemüht gesund zu leben oder nicht,
man zu erklären, unter welchen Bedingungen Men-
wird neben der individuellen Haltung stark von
schen gesundheitsbewusstes Verhalten zeigen bzw.
sozialen Faktoren beeinflusst. Je nachdem, wie die
welche Umstände sich eher ungünstig auswirken.
eigene Umgebung, die Familie, der Freundeskreis
Die besondere Schwierigkeit des Gesundheitsver-
oder die Arbeitskollegen gesundheitsrelevantes
haltens liegt darin, dass ungesunde Gewohnheiten
Verhalten beurteilen (Einstellung) und selbst handhaben (Verhalten), wird die individuelle Entschei-
(Alkohol, Rauchen, fettreiche Nahrung, etc.) eng mit Genuss verbunden sind, sodass eine Verhal-
dung für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen
tensänderung, auch wenn sie sich langfristig
beeinflusst. So ist beispielsweise die Akzeptanz ve-
günstig auswirken soll, kurzfristig einen Verzicht
getarischer Ernährung in höheren sozialen Schich-
bedeutet (s. S. 287). Die im Folgenden beschrie-
ten größer. Auch beim Rauchen gibt es einen deut-
benen Modelle gesundheitsrelevanten Verhaltens
lichen sozialen Gradienten: in unteren Schichten
beschreiben verschiedene Faktoren, die bei der
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11 Prävention Die primäre Prävention Veränderung oder Beibehaltung von gewohnten
Ausführung der Handlung (gesundes Essen) gibt.
Verhaltensweisen wichtig sind.
Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht absolut, sondern wird von verschiedenen Faktoren beein-
Sie erhalten nachfolgend einen Einblick in den Bereich der Gesundheitspsychologie. Versuchen Sie nachzuvollziehen, wie die verschiedenen psychologischen Modelle erklären, unter welchen Bedingungen gesundheitsbewusstes Verhalten wahrscheinlich ist.
flusst (Abb. 11.1).
Das Health-Belief-Modell
Beachte Nach dem Modell des geplanten Verhaltens wird aufgrund einer Einstellung zunächst eine Verhaltensabsicht (Intention) gebildet. Die Verhaltensabsicht führt unter günstigen Bedingungen dann zum tatsächlichen Verhalten.
Das Health-Belief-Modell betont die Wichtigkeit der individuellen gesundheitsbezogenen Überzeugun-
Ob es tatsächlich zur Bildung einer Verhaltens-
gen („beliefs“). Präventives Verhalten wird begünstigt, wenn die Gefährlichkeit einer Erkrankung als hoch eingeschätzt wird die eigene Gefährdung durch die Krankheit als hoch eingeschätzt wird die präventiven Maßnahmen als effektiv (wirksam) eingeschätzt werden der Aufwand der präventiven Verhaltensweisen als gering eingeschätzt wird. Sind diese Voraussetzungen alle gegeben, ist gesundheitsbewusstes Verhalten sehr wahrscheinlich. In Bezug auf die Nutzung von Kondomen als primäre Prävention bei HIV würde das bedeuten, dass jemand, der AIDS als gefährlich einschätzt, sich selbst zur Risikogruppe zählt und annimmt, dass Kondome einen wirksamen Schutz bieten, und der zudem auch den Aufwand und die Kosten, sie zu besorgen, als gering ansieht, sich mit großer Wahrscheinlichkeit mit Kondomen schützen wird.
absicht kommt, hängt neben der eigenen Einstel-
Merke Vergleicht man verschiedene Bevölkerungsgruppen bezüglich der Nutzung von Präventivmaßnahmen, fällt auf, dass Frauen und Angehörige höherer sozialer Schichten mehr für ihre Gesundheit tun.
lung auch davon ab, wie man die Erwartungen anderer wichtiger Bezugsgruppen bezüglich des geplanten Verhaltens einschätzt (z. B. „Meine Freunde finden es albern, auf die Ernährung zu achten.“). Je nachdem, wie stark das Individuum die eigene Einstellung bzw. die erwartete Einstellung der anderen (subjektive Norm) jeweils gewichtet, wird es aus diesen zwei Größen seine Verhaltensabsicht ableiten (z. B. „Was die anderen denken, ist mir ziemlich egal, denn schließlich geht es um meine Gesundheit.“). Bis jetzt wurde allerdings nur die Absicht gebildet, sich gesund zu ernähren. Ob sie tatsächlich umgesetzt wird, hängt von der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle ab. Die Verhaltenskontrolle wird konzipiert als Erwartung einer Person, dass bestimmte Ereignisse sie davon abhalten könnten, das angestrebte Verhalten in die Tat umzusetzen. Beispielsweise hätte eine Person, die keine Gelegenheit hat, frisches Obst und Gemüse zu kaufen, weil es bei ihr in der Nähe keinen entsprechenden
Einstellung
subjektive Norm
Absicht
Verhalten
Das Modell des geplanten Verhaltens Grundgedanke des Modell des geplanten Verhal-
tens (Aizen & Fishbein, 1977) ist, dass es einen Zusammenhang zwischen der persönlichen Einstellung gegenüber einer Handlung („Ich finde es gut, mich gesund zu ernähren.“) und der tatsächlichen
subjektive Verhaltenskontrolle
Abb. 11.1 Das Modell des geplanten Verhaltens (nach Ajzen)
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11 Prävention Die sekundäre Prävention Laden gibt, eine geringere Verhaltenskontrolle. Sie
ben dabei andere Personen (subjektive Norm, so-
würde trotz ihrer positiven Einstellung das geplante Verhalten wahrscheinlich nicht zeigen.
ziale Vergleiche)? Und, falls er eine Veränderungsabsicht gebildet hat, welche weiteren Hindernisse
Übertragen auf den Präventionsbereich macht diese
stehen ihrer Umsetzung im Weg? Die Klärung
Theorie klar, dass neben einer positiven Einstellung
derartiger Fragen erlaubt eine individuell passende
der einzelnen Person auch die subjektive Erwar-
Form der primären Prävention, deren Erfolgsaus-
tung, wie andere das Verhalten bewerten, eine
sicht sicherlich höher ist, als nur die Konfrontation
große Rolle spielt. Diese Überlegung hat besonders
mit diversen Risikoinformationen. Auf die Verände-
im Jugendalter eine große Bedeutung, da die Peer-
rung dieser dargestellten Variablen zielen Gesund-
Normen in dieser Zeit einen besonders starken Einfluss auf das eigene Verhalten haben. Ein weiterer
heitsförderungsmaßnahmen ab.
Check-up
Punkt der Theorie ist die Erkenntnis, dass es trotz vorliegender Verhaltensabsicht nicht unbedingt
4
zur Ausführung der Handlung kommen muss, wenn der subjektive Eindruck besteht, dass sich irgendwelche Hindernisse im Weg zur erfolgreichen Ausführung befinden. Entsprechend sollte bei der Beratung von Patienten auch immer erfragt werden, welche möglichen Schwierigkeiten auftauchen könnten, um diese zu antizipieren und aus dem Weg zu räumen.
Das Modell der sozialen Vergleichsprozesse Menschen neigen dazu, ihr Verhalten mit dem ihrer Mitmenschen zu vergleichen. Nach dem Modell so-
zialer Vergleichsprozesse (Rijsman, 1983) wird dieser Faktor in den Mittelpunkt gerückt. Wenn gese-
277
4
Machen Sie sich noch einmal klar, was man unter Protektion, Resilienz und Salutogenese versteht. Wiederholen Sie die Faktoren, die nach den verschiedenen Modellen bei der Veränderung oder Beibehaltung von gewohnten Verhaltensweisen wichtig sind. Stellen Sie sich vor, Sie sollen eine Präventionskampagne zu gesunder Ernährung als Schutz vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwerfen. Welche Informationen sollten enthalten sein, damit Sie eine möglichst große Wirksamkeit erwarten können?
11.3 Die sekundäre Prävention
hen wird, dass es anderen gesundheitlich gut geht, obwohl sie weiterhin rauchen, trinken und sich
Lerncoach
kaum bewegen, dann kann dies als Vergleich ge-
Im folgenden Abschnitt werden Sie die Hintergründe für das Phänomen kennenlernen, dass ein Patient an einem Risikoverhalten festhalten kann, obwohl er von der existierenden Gefahr weiß. Es ist wichtig, dass Sie diese Zusammenhänge verstehen, um ggf. gegensteuern zu können.
nutzt werden um das eigene Verhalten zu rechtfertigen. Andererseits können soziale Vergleichsprozesse aber auch präventives Verhalten unterstützen, wenn in der Umgebung großer Wert auf gesundheitsbewusstes Verhalten gelegt wird.
11.2.5 Klinische Bezüge Die Motivation bei Verhaltensänderung Als Arzt, der seine Patienten von der Wichtigkeit
11.3.1 Der Überblick
eines gesundheitsbewussten Lebensstils überzeu-
In der sekundären Prävention geht es um spezi-
gen möchte, ist es wichtig, neben bloßer Wissens-
fische Maßnahmen, die eine Früherkennung von Erkrankungen ermöglichen. Aufgrund bekannter Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren und Erkrankungen werden Programme oder Interventionen zur Senkung eines vorhandenen Risikofaktors durchgeführt, beispielsweise Maßnahmen zur Senkung von Cholesterin oder erhöhtem Blutdruck, da aus einer Vielzahl von Studien
vermittlung (z. B. „Rauchen ist ungesund.“) die motivationalen Faktoren einer Veränderung abzuklären. Sieht der Patient sich selbst beispielsweise als gefährdet (health belief)? Und fühlt er sich überhaupt dazu in der Lage sein Verhalten in seiner momentanen Situation zu ändern (Selbstwirksamkeitserwartung, s. S. 39)? Welchen Einfluss ha-
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11 Prävention Die sekundäre Prävention Blutdruck-
eine größere Stichprobe Betroffener mit Nicht-
und Cholesterinwerten und einem erhöhten Herzinfarktrisiko bekannt ist. Die Interventionen
Betroffenen vergleichen zu können. Andererseits sind rückblickend erhobene Verhaltensdaten
können sich entweder auf einzelne Individuen
immer ungenauer und weniger zuverlässig. Liegt
(individuelle Betrachtung) oder aber auf spezielle Gruppen, beispielsweise bestimmte RisikoBerufsgruppen, beziehen (gruppenbezogene Betrachtung).
bereits eine Vermutung über einen Wirkungs-
der Zusammenhang zwischen
den
zusammenhang vor, sind prospektive Studien von Vorteil. Wird der Zusammenhang zwischen verschiedenen Risikofaktoren und einer Erkrankung untersucht,
11.3.2 Der Zusammenhang zwischen Risikofaktor und Krankheit
spricht man von analytischer Epidemiologie. Untersucht man im zweiten Schritt eine Interventions-
Um sekundäre Präventionsmaßnahmen durchfüh-
maßnahme zur Reduzierung des Risikos, wird
ren zu können, müssen gesicherte Befunde zum
dieses Vorgehen als interventionelle Epidemiologie
Zusammenhang zwischen dem Risikofaktor (bei-
bezeichnet.
spielsweise Bluthochdruck) und einer Erkrankung anfall) vorliegen. Idealerweise ist die gesamte Wir-
11.3.3 Die Probleme bei der Veränderung von Risikoverhalten
kungskette und damit der kausale Zusammenhang zwischen Risikofaktor und Erkrankung bekannt.
Trotz des Wissens über die Zusammenhänge zwischen gesundheitsschädlichen Verhaltenswei-
Da die meisten Erkrankungen jedoch mehrere
sen und der Chronifizierung oder Verschlechterung
miteinander interagierende Ursachen haben (Multi-
einer Erkrankung gelingt längst nicht allen Patien-
kausalität), weiß man selten, wie genau der einzelne Risikofaktor tatsächlich mit der Erkrankung zusammenhängt. Es existieren allerdings verschiedene Zusammenhangsmaße, die das Zusammenspiel von Risikofaktor und Krankheit objektivieren sollen. Hierzu zählen das relative und das absolute Risiko, die bereits auf S. 63 dargestellt wurden, und die Odds-Ratio. Die Odds-Ratio beschreibt das Risiko, mit dem man aufgrund eines bestimmten Risikofaktors eine Krankheit häufiger bekommt als der Durchschnitt der Bevölkerung ohne diese Risikokonstellation. Um Erkenntnisse über den Zusammenhang von bestimmten Verhaltensweisen oder Umweltfaktoren und der Erkrankungshäufigkeit zu erhalten, werden epidemiologische Studien durchgeführt. Dabei muss man zwei Arten des Vorgehens unterscheiden. Bei retrospektiven Studien wird rückwirkend geschaut, wie sich das Verhalten von Gesunden und Kranken unterschieden hat. Bei prospektiven Studien wird beobachtet, ob ein vermuteter Risikofaktor tatsächlich zum Auftreten bestimmter Erkrankungen führt. Beide Vorgehensweisen haben Vor- und Nachteile. Gerade wenn bei seltenen Erkrankungen die Risikofaktoren noch wenig spezifiziert sind, sind häufig nur retrospektive Studien möglich, um überhaupt
ten tatsächlich die Änderung des relevanten Ver-
(beispielsweise einem Myokardinfakt oder Schlag-
haltens. Gründe hierfür können beispielsweise sein:
Mangelnde Einsicht : Damit eine Verhaltensänderung umgesetzt werden kann, muss der Patient zunächst einsehen und verstehen, wie sein Verhalten mit der Erkrankung zusammenhängt. Dazu sollte der Patient eine positive Beziehung zu seinem Arzt haben, die ihm dazu verhilft, dessen Rat als kompetent und hilfreich zu akzeptieren, obwohl die Verhaltensänderung für den Patienten zunächst unangenehm ist.
Widerstand : Auch wenn Patienten die Notwendigkeit einsehen, können sie Widerstand gegenüber den notwendigen Veränderungsschritten zeigen. Eine Widerstandsreaktion ist besonders wahrscheinlich, wenn sich jemand durch die Veränderungen stark in seinem persönlichen Lebensstil eingeschränkt fühlt. Ein weiterer theoretischer Ansatz, der den Umgang mit auseinander klaffendem Wissen und Verhalten erklärt, ist die Theorie der kognitiven Dissonanz (s. S. 39). Nach Annahmen der Dissonanztheorie versucht ein Patient, der beispielsweise das Rauchen aufgrund seines erhöhten Infarktrisikos aufgeben soll, Gründe zu finden, die ihn darin bestätigen, dass das Rauchen doch gar nicht so schädlich
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11 Prävention Die sekundäre Prävention für ihn sei. Um die für ihn unangenehme Dissonanz
Veränderung inklusive möglicher Schwierigkeiten
abzubauen, achtet er beispielsweise eher auf Informationen, die gegen die gesundheitsschädigende
besonders günstig ist. Ein Risiko in dieser Phase liegt dagegen darin, dass allein der Entschluss,
Wirkung des Rauchens sprechen (selektive Infor-
eine Veränderung einzuleiten bereits ein Gefühl
mationssuche).
des Erfolgs auslöst, über dem das wirkliche Han-
Das größte Problem beim Versuch, das gewohnte
deln dann ausbleibt.
279
Verhalten zu verändern, ist die häufig kaum beachtete „Belohnung“. Kurzfristig angenehme Verhal-
Stufe 4: Handeln
tensweisen (z. B. Rauchen, Alkohol) müssen zu-
In dieser Phase werden die Änderungsabsichten
gunsten einer langfristigen Gesundheitsverbesserung zurückgestellt werden.
nun in die Tat umgesetzt. Je konkreter die einzelnen Schritte in der Vorbereitungsphase bereits geplant wurden, desto größer ist die Wahrscheinlich-
11.3.4 Ein Stufenmodell der Verhaltensänderung
keit, dass das neue Verhalten auch gezeigt wird.
Anhand zahlreicher Studien über erfolgreiche oder
dagegen häufig instabil und anfällig gegenüber
misslungene Veränderungsversuche haben Pro-
Rückschlägen.
Nicht ausreichend geplante Veränderungen sind
chaska, Norcross und DiClemento (1994) ein Modell entwickelt, das den Prozess einer gelungenen Verhaltensänderung beschreibt.
Stufe 5: Rückschläge aushalten Selbst
bei
gut
geplanter
Verhaltensänderung
kommt es in bestimmten Situationen zu Rückschlä-
Stufe 1: Abwehren
gen. Beispielsweise kann sozialer Druck dazu füh-
In diesem Stadium ist der Betroffene noch nicht
ren, dass man ein eigentlich aufgegebenes Verhal-
bereit, das existierende Problem wahrzunehmen.
ten (z. B. Alkohol trinken, Rauchen) wieder zeigt.
Hinweise oder Hilfsangebote von Freunden oder
Ein weiteres Risiko stellen Stresssituationen dar,
Familienmitgliedern werden abgeblockt und Ände-
in denen die Energie zum aktiven Beibehalten der
rungsbedarf wird geleugnet. Auch Ratschläge des Arztes, die beispielsweise auf eine Veränderung
Veränderung oft fehlt bzw. die besondere Situation als „Erlaubnis“ für einen Rückfall genutzt wird
des ungesunden Lebensstils des Patienten abzielen,
(„Ich rauche nur wegen des Prüfungsstress.“).
werden ignoriert oder erzeugen sogar Reaktanz
Wichtig ist, dass der Betroffene dann nicht wieder
(Trotzreaktion).
vollkommen im Veränderungsprozess zurückfällt und resigniert, sondern beispielsweise auf der
Stufe 2: Bewusst werden
Stufe des „Vorbereitens“ wieder einsteigt.
In dieser Phase erkennt der Betroffene, dass er ein Problem hat und eine Veränderung notwendig ist. Allerdings handelt er noch nicht aktiv, sondern
Stufe 6: Stabilisieren
wägt zunächst Vor- und Nachteile der verschiede-
fen, muss der Mensch sein verändertes Verhalten
nen Handlungsmöglichkeiten ab. In diesem Sta-
weiter stabilisieren, damit es Gewohnheitscharak-
dium können Techniken der Dissonanzreduktion
ter bekommt. Bei vielen Veränderungsprozessen
dazu führen, dass trotz des Erkennens des Problem-
wird diese Stufe nie erreicht, sondern der Betrof-
verhaltens dieses beibehalten wird, weil es die
fene muss sich ständig um ein Aufrechterhalten
leichtere Lösung zu sein scheint.
seines Handelns bemühen (Stufe 5).
Stufe 3: Vorbereiten Aus dem Abwägeprozess der Stufe 2 hat sich nun
11.3.5 Klinische Bezüge Brustkrebsscreening
eine Entscheidung herauskristallisiert. In dieser
Die Vor- und Nachteile von umfangreichen Vorsor-
Phase werden die konkreten Schritte der Verände-
gemaßnahmen werden seit einiger Zeit durchaus
rung geplant. Dabei hat sich gezeigt, dass ein mög-
kontrovers diskutiert. Während bis vor kurzem
lichst genaues und realistisches Antizipieren der
beispielsweise jede Art des Brustkrebsscreenings
Wird der Prozess bis hierher erfolgreich durchlau-
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11 Prävention Die tertiäre Prävention und die Rehabilitation
280
grundsätzlich als sinnvoll propagiert wurde, hat die Amerikanische Krebsgesellschaft im Mai 2003 ihre Empfehlungen für die Selbstuntersuchung einge-
Folgeschäden evtl. verhindert werden können.
schränkt: Da eindeutige empirische Belege für den
11.4.1 Der Überblick
Erfolg dieser Vorsorgemaßnahme fehlen, sollen
Die Maßnahmen der tertiären Prävention setzen
Frauen nicht zu Selbstuntersuchungen gedrängt
ein, wenn eine chronische Krankheit bereits
werden. Zudem sollen sie auch über die Grenzen
besteht. Ihr Ziel ist es, einerseits mögliche me-
der Maßnahme aufgeklärt werden. Diese Änderung
dizinische Folgeschäden (beispielsweise schwere
weist auf eine wichtige Aufgabe des Arztes hin: Bei
Rückfälle) zu verhindern, andererseits einer ge-
Vorsorgemaßnahmen sollte er seine Patienten immer darüber informieren, wie das absolute Ri-
sellschaftlichen Ausgliederung des Patienten entgegenzuwirken. Der zweite Aspekt, nämlich eine
siko einer Erkrankung im Verhältnis zur Sicherheit
Wiedereingliederung in das berufliche und soziale
der Diagnose steht. Bei Brustkrebsscreenings sieht
Leben, wird auch mit dem Begriff der Rehabilitation
es zum Beispiel so aus, dass auch „harmlose“ Wu-
bezeichnet. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen
cherungen entdeckt werden, die jedoch nicht ein-
beiden Begriffen eher unscharf.
deutig identifiziert werden können. Somit besteht in diesen Fällen das Risiko einer Fehlbehandlung (Operation, Bestrahlung, Chemotherapie) mit erheblichen Nebenwirkungen. Solche Risikoüberle-
11.4.2 Die Folgen chronischer Erkrankungen und Behinderungen Chronische Krankheiten und Behinderungen ziehen
gungen, die mit der einen oder anderen Entschei-
häufig irreversible gesundheitliche Schädigungen
dung verbunden sind, sollte der Arzt dem Patienten
mit sich. Zudem können sie den Betroffenen durch
genau erklären, damit dieser selbstverantwortlich
funktionale Ausfälle (beispielsweise Einschränkung
seine Entscheidung treffen kann. Auf der anderen
oder Verlust von Sinnesorganen oder des Bewe-
Seite haben sich Früherkennungsmaßnahmen in
gungsapparats) in seinem täglichen Leben beein-
vielen Bereichen als extrem nützlich und lebensret-
trächtigen. Aus diesem Grund sind häufig berufliche
tend erwiesen (z. B. die Koloskopie [Darmspiegelung] als Darmkrebsvorsorge). Umso wichtiger ist
Umschulungsmaßnahmen notwendig. Sie bilden einen wichtigen praktischen Teil der sozialen Wie-
es, die Vor- und Nachteile der einzelnen Präven-
dereingliederung (Rehabilitation) und sollen dabei
tionsmaßnahmen genau zu kennen und dem
helfen, dem Patienten weiterhin einen sinnvollen
Patienten zu kommunizieren.
beruflichen Lebensinhalt zu geben, der für sein Selbstkonzept wichtig ist („Ich kann trotz meiner
4
Check-up
Einschränkung etwas Sinnvolles tun.“). Zudem soll
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal die verschiedenen Stufen einer gelungenen Verhaltensänderung. Sie können sich dazu in Erinnerung rufen, wie es Ihnen selbst ergangen ist, als Sie versucht haben, ein bestimmtes Verhalten zu verändern.
eine drohende Abwärtsmobilität (s. S. 187) verhin-
11.4 Die tertiäre Prävention und die Rehabilitation Lerncoach Versuchen Sie beim Lesen des folgenden Abschnittes nachzuvollziehen, welche einschneidenden Veränderungen eine chronische Erkrankung oder Behinderung für den Patienten mit sich bringt und wie
dert werden, die durch eine dauerhafte Arbeitslosigkeit aufgrund der Behinderung drohen kann. Die Funktionseinschränkungen ziehen meistens auch direkte soziale Folgen nach sich: Ein Mensch mit Behinderung wird z. B. je nach Art und Ausmaß seiner Einschränkung von seinen Mitmenschen anders wahrgenommen. Als soziale Risikofaktoren werden Umstände oder Bedingungen bezeichnet, die den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen, bzw. die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöhen. Dazu gehören die soziale Ausgrenzung (oder sozialer Ausschluss) des Kranken, die im Extremfall zur völligen sozialen Isolation führen können. Ein solcher Prozess wird sowohl von Faktoren der Umwelt (z. B. Diskriminierung
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11 Prävention Die Formen psychosozialer Hilfe und die Sozialberatung
281
Alle
niedriger EE-Wert 13%
unter 35 Stunden Gesichtskontakt pro Woche 28%
Untergruppen:
1. Dauermedikation 12%
hoher EE-Wert 51%
2. ohne Dauermedikation 15%
3. Dauermedikation 15%
4. ohne Dauermedikation 42%
35 und mehr Stunden Gesichtskontakt pro Woche 71%
5. Dauermedikation 55%
6. ohne Dauermedikation 92%
EE = Expressed Emotions. Niedriger EE-Wert: n = 69, hoher EE-Wert: n = 56.
Abb. 11.2 Rückfallrate einer Gruppe von 125 schizophrenen Patienten innerhalb von neun Monaten nach Entlassung aus stationärer Behandlung im Bezug zum Familienklima (aus Möller/Laux/Deister)
und Stigmatisierung von Behinderten), als auch von
(Sprachstörung) leidet, wird nach seinem Aufent-
den Bewältigungsmöglichkeiten des Kranken be-
halt in einer Akutklinik in eine Rehabilitationsklinik
stimmt.
eingeliefert, in der neben einer medizinischen Erst-
Besonders wichtig ist die Reaktion des engen sozia-
versorgung, Sprachtherapie (z. B. Logopädie), Phy-
len Umfelds (Partner, Freunde, Familie). Je besser der soziale Rückhalt und je enger und stabiler das
siotherapie, Ergotherapie auch ein spezielles Training für Patienten mit Hirnleistungsstörungen an-
soziale Netzwerk, desto wahrscheinlicher ist ein günstiger Krankheitsverlauf. Zudem hat man bei einzelnen psychischen Störungen Interaktionsbedingungen identifiziert, die das Rückfallrisiko (Rezidivrisiko) eines Patienten beeinflussen. Gut gestützte Ergebnisse liegen z. B. für die Rückfallvorsorge bei Schizophrenen vor. Hier hat sich herausgestellt, dass eine starke Emotionsdichte („Expressed Emotions“) in der familiären Interaktion einen Rückfall begünstigt (Abb. 11.2). Ein hohes Maß an Expressed Emotions kennzeichnet Familien, in denen viel Kritik und Feindseligkeit, aber auch positives emotionales Überengagement, das den Patienten „erdrückt“, in der Interaktion auftreten.
geboten werden. Zusätzlich wird versucht, inner-
11.4.3 Klinische Bezüge Rehabilitation nach Schlaganfall Das Zusammenwirken verschiedener Fachleute im Bereich der Rehabilitation wird am Beispiel eines Schlaganfallpatienten deutlich. Ein Patient, der aufgrund eines Schlaganfalls unter einer Aphasie
halb von psychosozialen Betreuungsmaßnahmen Möglichkeiten für eine berufliche Wiedereingliederung zu finden, die realistischerweise im Falle eines Aphasikers eher gering sind.
Check-up 4
Vergegenwärtigen Sie sich noch einmal, wodurch das Rezidivrisiko beeinflusst wird.
11.5 Die Formen psychosozialer Hilfe und die Sozialberatung Lerncoach Im folgenden Abschnitt sind verschiedene Hilfsangebote nach dem Zeitpunkt ihres Eingreifens aufgelistet. Sie sollten verstehen, in welchem Stadium der Gesundheit und Krankheit die verschiedenen Hilfsmaßnahmen ansetzen, und was die jeweiligen Ziele sind.
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282
11 Prävention Die Formen psychosozialer Hilfe und die Sozialberatung 11.5.1 Der Überblick
Ratgeber fungieren, sind jedoch kein fester Be-
Die psychosoziale Hilfe dient der Behandlung des Patienten über die Organerkrankung hinaus, d. h.
standteil der Gruppe.
es werden die berufliche, soziale und psychische
11.5.3 Die Sozialberatung
Situation des Patienten betrachtet. Ziel ist die Er-
Die Sozialberatung hat zum Ziel, hilfsbedürftige
haltung bzw. Wiederherstellung der Selbstständig-
Personen zu unterstützen, damit ihre soziale Wie-
keit des Patienten.
dereingliederung so gut wie möglich gelingt. Gerade bei Behinderten mit starken funktionellen
11.5.2 Die psychosozialen Hilfsangebote
Beeinträchtigungen ist es wichtig, dass der Patient
Man kann die verschiedenen Hilfsangebote bei verschiedenen Formen von Krankheit nach ihrem
eine möglichst große Selbstständigkeit wiedergewinnt. Abhängigkeiten, beispielsweise von
„Angriffspunkt“ im Krankheitsverlauf systematisch
der Hilfe anderer Familienmitglieder, können auf
aufteilen.
Dauer zu einer großen Belastung werden. Entspre-
Prävention : Wie bereits dargestellt setzen primäre Präventionsmaßnahmen beim Gesunden an. Sie sollen über Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren und Krankheiten aufklären und somit jede Erkrankung im Vorfeld vermeiden. Durch Maßnahmen der sekundären Prävention (z. B. umfangreiche Screenings) soll eine Krankheit möglichst früh entdeckt werden, um bestmögliche Chancen bei der Behandlung zu garantieren. Krisenintervention : Kriseninterventionen sind Hilfsmaßnahmen, die in akuten Notsituationen eingesetzt werden. Ziel der Maßnahmen ist die schnelle Behebung eines kritischen Zustands. Kriseninterventionen finden im psychiatrischen Bereich beispielsweise bei suizidalen Patienten oder akuten Erregungszuständen (z. B. im Rahmen einer akuten Psychose) Anwendung. Aber auch andere akute psychische oder physische Belastungen (Geburt eines behinderten Kindes, Verlust des Partners) können ein schnelles Eingreifen und Helfen notwendig machen. Rehabilitation (auch tertiäre Prävention): Bei Rehabilitationsmaßnahmen geht es darum, die Folgen einer bestehenden Krankheit oder Behinderung günstig zu beeinflussen (s. S. 289). Soziale Unterstützung durch Selbsthilfegruppen : Gerade in praktischen Lebensfragen zum Umgang mit der neuen Situation können sie für den chronisch Kranken eine wichtige Hilfe bedeuten. Das besondere Kennzeichen von Selbsthilfegruppen ist, dass sie zum primären Hilfssystem (keine professionelle medizinische Leitung) gehören. Mediziner können zwar als
chend setzt die Sozialberatung sowohl beim einzelnen Patienten, als auch bei betroffenen Familien an und steht ihnen unterstützend zur Seite. Die Beratungsangebote decken einen breiten Inhaltsbereich ab: Probleme der häuslichen Pflege und Versorgung, der finanziellen Sicherung, der beruflichen Wiedereingliederung oder der schulischen Möglichkeiten bei Kindern oder Jugendlichen werden thematisiert. Aber es wird auch an Kompetenzen zur Selbsthilfe gearbeitet, die dem Betroffenen eine möglichst gute soziale Integration erlauben sollen.
11.5.4 Klinische Bezüge Der Arzt als Informationsvermittler Bezogen auf die verschiedenen psychosozialen Hilfsangebote sollte sich der Arzt primär als Informationsgeber und Vermittler verstehen. Da er meistens die erste Anlaufstelle für Patienten nach einschlägigen Lebensveränderungen (z. B. Behinderung durch Unfall, Diagnose einer chronischen Krankheit) ist, ist es wichtig, dass er einen Überblick über weitere Hilfsmöglichkeiten hat, um die Patienten schnell an kompetente Ansprechpartner zu vermitteln. Gerade im Bereich der chronischen Krankheiten hat sich ein ganzes Hilfsnetz etabliert, in dem Betroffene zu vielen Fragen ihrer veränderten Lebenssituation Unterstützung bekommen können.
Check-up 4
Wiederholen Sie die psychosozialen Hilfsangebote.
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Kapitel
12
Maßnahmen 12.1
Die Gesundheitserziehung und -förderung 285
12.2
Die Verhaltensänderung 287
12.3
Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege 289
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Klinischer Fall
Keinen Tropfen mehr!
Zu den krankheitstypischen Verhaltensweisen beim Alkoholismus zählen Verleugnung und Verheimlichungstendenzen.
Gesundheit kann man erlernen. Wer weiß, wie schädlich Zigaretten oder Alkohol sind, greift seltener zu Glimmstengel oder Flasche. Doch Wissen ist nicht alles: Selbst wenn man weiß, dass man sich zu wenig bewegt oder zu fettreich ernährt, muss man noch lernen, sich anders zu verhalten. Am schwierigsten ist der Weg aus einer körperlichen Abhängigkeit, z. B. von Alkohol – wie im Fall von Volker B. Im folgenden Kapitel erfahren Sie mehr über Gesundheitserziehung und Rehabilitation, d. h. die Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach einer Erkrankung. Chronisch krank Angefangen hatte alles mit ein paar Bier nach der Arbeit. Doch irgendwann trank Volker B. auch zwischendurch, heimlich, und dann, nachdem man ihm gekündigt hat, auch schon mal morgens. Na und? Irgendwann wird er wieder damit aufhören, denkt er sich. Aber der 27-jährige gelernte Schlosser täuscht sich. Er ist längst abhängig vom Alkohol. Sein ganzes Denken kreist um Alkohol, seine Hobbys hat er weitgehend aufgegeben, und wenn er mal ein paar Stunden kein Glas in der Hand hat, beginnt er zu zittern: Er bekommt Entzugssymptome. Wer weiß, wie es mit Volker weitergegangen wäre, wenn ihm nicht an jenem Novemberabend ein Kumpel eine Bierflasche über den Kopf gehauen hätte?
Mit blutüberströmtem Gesicht landet er in der Praxis von Dr. Weller. Entzug und Entwöhnung Dr. Wellers Praxis liegt mitten im sozialen Brennpunkt der Stadt. Der Arzt hat Erfahrung im Umgang mit Drogensüchtigen und Alkoholikern. Auch bei Volker hat er das richtige Händchen. Er versorgt die Kopfplatzwunde und unterhält sich dabei mit seinem Patienten. Volker fasst Vertrauen zu dem Arzt, und als ihn zwei Monate später eine schwere Erkältung plagt, sucht er Dr. Weller wieder auf. Im Wartezimmer blättert Volker Unterlagen der „Anonymen Alkoholiker“ durch. Und als der Arzt ihn fragt, ob er eigentlich schon einmal über eine Entzugstherapie nachgedacht hätte, ist Volker kein bisschen verärgert: Sein Alkoholproblem ist ihm inzwischen bewusst. Aber erst ein halbes Jahr später ist Volker tatsächlich zu einer Therapie bereit. Er lässt sich in eine spezielle Klinik aufnehmen, in der eine Entgiftung eingeleitet wird. Volker leidet an einem starken Entzugssyndrom mit Brechreiz, Durchfällen, Schlaf- und Kreislaufstörungen. Ein Alkoholdelir mit optischen und akustischen Halluzinationen bleibt ihm jedoch erspart. Nach zwei Wochen wird Volker entlassen. Nun wird er ambulant weiterbetreut. Er muss lernen, im Alltag ohne Alkohol zurechtzukommen. In dieser Entwöhnungsphase ist der Mittwochabend für ihn besonders wichtig: Hier besucht er eine Gruppe der Anonymen Alkoholiker. Angst vor dem Rückfall Erst jetzt, als Volker von der Alkoholsucht befreit ist, wird er sich über die gesundheitlichen Folgen des Alkoholkonsums klar: Etwa die Hälfte aller Alkoholiker leidet an atrophischen Hirnveränderungen. Gedächtnisstörungen bis hin zur Demenz sind die Folge. Fast ebenso häufig sind Polyneuropathien, also Nervenschädigungen, die meist die Beine betreffen. Auch die inneren Organe kann der Alkohol schädigen: Magen, Leber, Herz, ... fast alle Organe können betroffen sein. Noch heute, Jahre nach seiner Alkoholsucht, begleitet Volker die Angst, wieder rückfällig zu werden. Er weiß: Er könnte wieder in die Sucht abrutschen.
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12 Maßnahmen Die Gesundheitserziehung und -förderung
12
Maßnahmen
285
der Ernährung und die sportlichen Aktivitäten betrifft. Natürlich übernehmen sie auch Einstellungen (z. B. zum Zigarettenrauchen) und Gewohn-
12.1 Die Gesundheitserziehung und -förderung
heiten (z. B. mangelnde Bewegung), die ihrer Gesundheit schaden.
Lerncoach
Neben der Gesundheitsförderung durch die unmit-
Sie werden im Folgenden verschiedene „Institutionen“ kennenlernen, die an der Gesundheitserziehung und -förderung beteiligt sind. Prägen Sie sich beim Lesen ein, wodurch sich das Gesundheitsverhalten positiv beeinflussen lässt und wer sich alles an der „Gesundheitserziehung“ beteiligen kann.
telbare Umwelt gibt es in Deutschland eine Reihe von staatlichen Trägern, die für Gesundheitserziehung und -förderung verantwortlich sind. Hierzu zählen zum Beispiel das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherheit und auf Länderebene die Landesministerien für Gesundheit und Soziales. Hinzu kommen öffentlich-rechtliche Körperschaften (z. B. Bundesverbände der Krankenkassen) und freie Träger (z. B. Verbraucherzentralen).
12.1.1 Der Überblick
Sie müssen ein Gegengewicht gegen die verlocken-
Die Gesundheitserziehung ist der Versuch, positi-
den Aufrufe zu gesundheitsschädigendem Verhal-
ven Einfluss auf das Gesundheitsverhalten auszuüben. Das Ziel besteht darin, dass die „zu Erziehen-
ten darstellen. Gemeint sind zum Beispiel teure Werbekampagnen der Tabakkonzerne, die die un-
den“ ein Gesundheitskonzept entwickeln, das ge-
terschiedlichsten Zielgruppen ansprechen. Meist
sundheitsförderliches Verhalten wahrscheinlicher
wird das Rauchen mit Attributen wie cool, sexy,
und gesundheitsschädigendes Verhalten unwahr-
abenteuerlustig und extravagant verknüpft, für
scheinlicher macht. Dies gelingt zum Beispiel
die ältere Zielgruppe werden erstrebenswerte
durch die Vorgabe positiver Rollenmodelle, die Auf-
Eigenschaften wie Weisheit, Erfahrung und Beson-
klärung über die Zusammenhänge von Verhalten
nenheit gewählt. Um dem entgegenzuhalten, müs-
und Gesundheit, die Darstellung von Risiken und Möglichkeiten der Risikovermeidung. Zusammen-
sen sich Gesundheitskampagnen an den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Zielgruppe
fassend strebt die Gesundheitserziehung an, die
orientieren.
Fähigkeiten zu einer gesunden Lebensführung zu erhöhen. Die Gesundheitserziehung ist mit den im vorangegangenen Kapitel behandelten Begriffen der Prävention verbunden. Sie dient in erster Linie der primären Prävention, also dazu, die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung durch eine gesundheitsbewusste Erziehung von vornherein zu senken. Zudem soll sie dazu beitragen, sich im Krankheitsfalle richtig zu verhalten (sekundäre Prävention) und eine angemessene Nachsorge zu betreiben (tertiäre Prävention).
Beachte Gesundheitskampagnen zielen auf Verhaltensmodifikation und auf langfristige Einstellungsänderungen in der Gesellschaft ab.
12.1.3 Die Formen der Gesundheitsförderung Die personale Gesundheitsförderung setzt am Individuum an und versucht dessen Verhalten zu ändern (s. S. 234). Beispiele sind Kampagnen, die die Kondombenutzung durch ansprechende Werbung enttabusieren, die Einschränkung der Ziga-
12.1.2 Die Instanzen Als ein Teil der Erziehung beginnt auch die Gesund-
rettenwerbung, um positive Assoziationen mit dem Rauchen zu vermeiden und die Einführung
heitserziehung in der Familie und setzt sich in der
von Drogenpräventionsprogrammen an Schulen.
Schule und später in Arbeitsorganisationen fort. In
Die strukturelle Gesundheitsförderung verändert
der Familie lernen die Kinder von ihren Bezugsper-
Strukturen, also die Lebensumwelt, um gesund-
sonen
zum
heitsförderliches Verhalten zu erleichtern oder
Beispiel was die regelmäßige Körperpflege, die Art
gesundheitsschädigendes zu erschweren. Hierzu
gesundheitsförderliches
Verhalten,
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12 Maßnahmen Die Gesundheitserziehung und -förderung zählen beispielsweise die Einführung von Genuss-
Bei einem zu hohen Angstniveau kann es sogar zu
mittel- und Tabaksteuer, die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und des Zugangs zu Naherho-
sogenannten paradoxen Reaktionen kommen, bei denen die als Abschreckung konzipierte Informa-
lungsgebieten, die gesetzliche Verpflichtung zum
tion den Wert durch das Spiel mit dem Risiko er-
Anschnallen im Auto und die Einführung von
höht. Beispielsweise bevorzugen Jugendliche zum
Rauchverboten in öffentlichen Gebäuden.
Teil Zigarettenmarken, die als ganz besonders gefährlich gelten. Macht jemand genau das Gegenteil
12.1.4 Die Wirksamkeit
von dem, was ihm geraten wird, dann bezeichnet
Die Bewertung der Effektivität von Maßnahmen der
man diese Trotzreaktion als Reaktanz (s. S. 211).
Gesundheitsförderung gestaltet sich schwierig, da die abhängigen Variablen häufig schlecht messbar sind oder zuwenig über die Dauer und den Wirkmechanismus von beispielsweise Aufklärungskampagnen bekannt ist. So stellt sich z. B. die Frage, ob sich die Erfolge sofort einstellen oder sich erst
Wiederholen Sie die Bedeutung der kognitiven Dissonanzreduktion (vgl. S. 39) und erklären Sie, wie dieser psychische Mechanismus die Wirksamkeit von Aufklärungskampagnen über Risikofaktoren beeinträchtigt.
Jahre später äußern bzw. ob sie von Dauer sind. einige Antworten ab, indem sich aus vielen Untersuchungen ein Ergebnis herauskristallisiert.
12.1.5 Die Gesundheitsförderung in Organisationen Die Gesundheitsförderung in Schulen
Hierzu zwei Beispiele: Eine Reihe von Studien
In Schulen werden durch die Einführung von Ge-
konnte zeigen, dass allein die Vermittlung von In-
sundheitsprogrammen Informationen, Fähigkeiten und Einstellungen vermittelt, die – angepasst an die aktuellen Entwicklungsstadien mit ihren typischen Problemen – zu gesundheitsbewusstem Verhalten anleiten sollen. Hierzu zählen u. a. Sportangebote, der Abbau von sozialem Stress durch Konfliktberatung, schulpsychologische Betreuung oder der jährliche Besuch des Zahnarztes in der Schule. Die Suchtprävention in der Schule gehört ebenfalls hierzu und besteht häufig in einer Kombination aus Wissensvermittlung, Einstellungsbildung und konkreten Verhaltensübungen. Sachinformationen über die Wirkung von Drogen und die Drogentherapie werden um Übungen ergänzt, die soziale Kompetenz und Selbstwirksamkeitserfahrungen erzeugen sollen. Methoden der Stressbewältigung werden vorgestellt und Unterstützungen beim Aufbau eines tragfähigen sozialen Netzwerkes geboten.
Neben diesen Fragen zeichnen sich jedoch auch
formationen über Risikofaktoren zum Beispiel mit Hilfe von Massenmedien (Fernsehen, Zeitungen, Radio, Internet) zwar zu einem Wissenserwerb beitragen, dieser jedoch nicht ausreichend ist, um zu einer Verhaltensänderung zu führen. Kampagnen hingegen, die zusätzlich Lernprogramme zur Veränderung ganz konkreter Lebensgewohnheiten ergänzten, erwiesen sich als sehr erfolgreich. Wissen ist Macht – um sie auszuüben, bedarf es jedoch ganz konkreter Hilfestellungen. Es zeigte sich außerdem, dass die Induktion von Angst vor schweren Erkrankungen nur unter ganz bestimmten Bedingungen zum Unterlassen von Risikoverhalten führt. Kampagnen, die beispielsweise vor den negativen Folgen des Rauchens warnen indem sie Bilder von fortgeschrittenem Krebs zeigen, schrecken nicht ab, sondern induzieren ein so hohes
Angstniveau,
dass
Abwehrmechanismen
aktiviert werden und die Gefährdung geleugnet
Die Gesundheitsförderung in Betrieben
oder heruntergespielt wird.
Die Gesundheitsförderung beschränkt sich nicht
Beachte Ein zu hohes und ein zu niedriges Angstniveau nutzen der Verhaltensänderung nicht, am ehesten ist hierfür ein mittleres Angstniveau geeignet.
auf die Jugend und Kindheit, sondern reicht ins Erwachsenenalter, zum Beispiel ins Berufsleben, fort. Verantwortungsvolle Arbeitgeber zielen mit ihrer Organisations- und Personalentwicklung nicht nur auf die Entwicklung von fachlichen Kompetenzen ihrer Mitarbeiter ab, sondern sichern auch die persönlichen Ressourcen des Individuums und
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12 Maßnahmen Die Verhaltensänderung Check-up
bauen diese aus. Zu den persönlichen Ressourcen zählen auch das Wohlbefinden und die Gesundheit des Einzelnen am Arbeitsplatz. Viele Betriebe
4
fördern die Gesundheit der Arbeitnehmer durch
4
das Angebot von Stress- und Entspannungstraining, Supervisionen bei Konflikten und Diät- oder Nichtraucher-Training.
287
Wiederholen Sie die Instanzen der Gesundheitserziehung und -förderung. Rekapitulieren Sie, wodurch sich die Effektivität von Maßnahmen der Gesundheitsförderung am ehesten steigern lässt.
12.2 Die Verhaltensänderung
Die Gesundheitsförderung in der Kommune Die Gesundheitsförderung kann auch über einzelne Organisationen hinausgehen und zum Ziel ganzer Gemeinden werden. Ein Beispiel ist die „GesundeStädte-Bewegung“ der Weltgesundheitsorganisation. Mittlerweile gibt es ein hierauf aufbauendes bundesdeutsches Gesunde-Städte-Netzwerk, dem zur Zeit 54 Kommunen angehören. Das Programm bezieht in fachlicher und fachpolitischer Hinsicht das Gesundheitsamt, das Sozialamt, Selbsthilfegruppen, das Wohnungsamt und die Stadtentwick-
Lerncoach In diesem Abschnitt werden Ihnen einige Faktoren und Methoden zur Änderung des Gesundheitsverhaltens vorgestellt. Zum besseren Verständnis dieser verhaltenstherapeutischen Ansätze könnte es hilfreich sein, noch einmal einige Begriffe im Kapitel über die verhaltenstherapeutischen Methoden nachzulesen (z. B. Verstärkung, vgl. S. 240).
lungsplanung ein. Im Rahmen der Stadtentwicklungsplanung wird
12.2.1 Der Überblick
beispielsweise versucht, Wohnungen und Wohn-
Einen wesentlichen Beitrag zu den häufigsten drei
gegenden zu schaffen, die eine Erhöhung des
Todesursachen (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs,
Wohlbefindens der Bewohner ermöglichen und
Schlaganfall) leisten gesundheitsgefährdende Ver-
ihren Bedürfnissen gerecht werden. Dies kann z. B.
haltensweisen wie Essgewohnheiten und Rauchen.
erreicht werden, indem ausreichend Erholungsflächen bereitgestellt und Spielplätze und soziale
Eine Änderung dieser Verhaltensweisen kann in vielen Fällen schwerwiegende Erkrankungen ver-
Treffpunkte errichtet werden.
hindern. Verändert werden kann in zwei Richtungen: Zum einen wird gesundheitsschädigendes
12.1.6 Klinische Bezüge Gesundheitsförderung in der Praxis Der Arzt leistet täglich einen Beitrag zur Gesundheitserziehung und -förderung auf sehr individueller Ebene. Durch die Information, wie Risikoverhalten mit Erkrankungen zusammenhängt, schafft er beim Patienten die nötige Wissensbasis, die die Voraussetzung für eine Verhaltensänderung darstellt. Der Arzt kann beispielsweise erklären, dass
Verhalten unterlassen und zum anderen werden gesundheitsförderliche Gewohnheiten aufgebaut. Zu den häufig genannten förderlichen Verhaltensweisen gehören beispielsweise regelmäßige sportliche Betätigung, eine ausgewogene Ernährung, der Verzicht auf Alkohol und Nikotin, das Halten von Normalgewicht, ausreichend Schlaf, die Vermeidung von Stress und regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim Arzt.
großer Stress zu einer Suppression des Immunsystems führt und wie der Zusammenhang konkret
12.2.2 Die Faktoren der Verhaltensänderung
aussieht (s. S. 20).
Für die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person ihr
Diese Aufklärung ist eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Maßnahme zur Verhaltensänderung.
gesundheitsschädigendes Verhalten aufgibt und gesundheitsförderliches annimmt, sind dieselben
Der Edukation sollten konkrete Anleitungen für
vier Faktoren, die bereits im Zusammenhang mit
eine Verhaltensänderung (hier: Stressabbau) fol-
der Teilnahmebereitschaft an präventiven Maßnah-
gen.
ein
men (s. S. 274) genannt wurden relevant: die Ein-
Entspannungs- oder ein Zeitmanagementtraining
sicht in die Gefährdung, die persönliche Betroffen-
empfohlen werden.
heit, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung und die
Dem
Patienten
kann
beispielsweise
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12 Maßnahmen Die Verhaltensänderung Höhe des vermuteten Aufwands beziehungsweise
Das Ergebnis einer solchen Verhaltensanalyse kann
der Kosten bei Verhaltensänderung. Maccoby und Solomon (1981) haben eine Verhal-
Vielerlei zu Tage bringen: Ein Jugendlicher raucht zum Beispiel, um von seinem rauchenden Freun-
tensänderungshierarchie vorgeschlagen, die diese
deskreises nicht als „uncool“ abgelehnt zu werden.
Aspekte berücksichtigt. Zunächst muss durch Infor-
Das Rauchen wird also durch das Ausbleiben nega-
mation und Aufklärung ein Problembewusstsein
tiver Konsequenzen verstärkt. Bleiben diese aus
erzeugt werden (z. B. Übergewicht oder Rauchen
(z. B. wenn der Jugendliche alleine ist), wird das ge-
als Risikofaktor). Anschließend gilt es durch Bera-
sundheitsschädigende Verhalten auch nicht ge-
tung zu überzeugen und die Motivation zu fördern.
zeigt. Ein anderes Beispiel ist ein Übergewichtiger,
Diese wird benötigt, um neue Fähigkeiten durch das Einüben von Verhaltensweisen zu erwerben
der beim Anblick der Sahnetorte im Schaufenster eines Cafés jedesmal in Versuchung gerät, der er
(z. B. kontrolliertes Essen oder Rauchen). Damit
nicht widerstehen kann. Das Verspeisen der Kalo-
die neu erworbenen Fähigkeiten zum Einsatz kom-
rienbombe wird durch den Wohlgenuss positiv
men, müssen die äußeren Anreize kontrolliert wer-
verstärkt oder ist eine angenehme Ablenkung von
den, indem man sich beispielsweise nicht in Situationen begibt, die das schädigende Verhalten wahrscheinlich machen (z. B. voller Kühlschrank, Kneipenbesuch). Soziale Unterstützung trägt dazu bei, das gesundheitsförderliche Verhalten aufrecht zu erhalten.
Frustrationen in anderen Lebensbereichen.
12.2.3 Die verhaltenstherapeutischen Ansätze
Merke Eine Verhaltensänderung kann durch die Kontrolle der auslösenden Reize (Stimuluskontrolle), der aufrechterhaltenden Konsequenzen und durch das Erlernen alternativen Verhaltens erreicht werden.
Wie auch bei der Verhaltensmodifikation im
Auf die o. g. Beispiele bezogen kann eine Stimulus-
Rahmen psychischer Störungen geht es auch bei
kontrolle für den Übergewichtigen darin bestehen,
der Änderung von Gesundheitsverhalten entweder um den Aufbau von erwünschtem Verhalten (= ge-
die leichte Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln einzuschränken, indem er weniger einkauft und nicht
sundheitsförderliches Verhalten) oder um den Ab-
am Schaufenster des Cafés vorbeigeht. Die Auftre-
bau von unerwünschten Verhaltensweisen (= ge-
tenswahrscheinlichkeit des Rauchens wird redu-
sundheitsschädliches Verhalten). Im Kapitel über
ziert, wenn der Jugendliche die Erfahrung macht,
das Lernen (s. S. 91) wurde bereits ausführlich
dass die befürchteten negativen Konsequenz des
geschildert, dass sich dies gut durch Methoden
Nichtrauchens ausbleiben.
erreichen lässt, die sich an der Lernpsychologie ori-
Da Verhaltensmodifikationen einfacher an der Per-
entieren. Zum Zwecke der Änderung des Gesundheitsverhaltens bieten sich nahezu alle verhaltens-
son selbst und weniger gut an ihrer sozialen Umwelt vorgenommen werden können (indem man
therapeutischen oder kognitiv-verhaltenstherapeutischen Methoden an. Es seien einige Beispiele herausgegriffen: Die operanten Lernprogramme basieren auf dem Prinzip der operanten Konditionierung. Sie gehen also davon aus, dass Verhalten durch seine Konsequenzen bestimmt wird. Um die Bedingungen für das Auftreten des Verhaltens, seine Konsequenzen und deren Regelmäßigkeit zu erfassen, wird mit einer genauen Verhaltensanalyse begonnen, die bereits auf S. 99 ausführlich beschrieben wurde.
die Freunde auffordert das Nichtrauchen zu verstärken), bietet sich für den rauchenden Jugendlichen ein Selbstsicherheitstraining an, in dem er lernt, auch non-konformes Verhalten zu zeigen und sich damit zu behaupten. Ein Bestandteil des Selbstsicherheitstrainings ist der Aufbau sozial kompententen Verhaltens zum Beispiel durch Rollenspiele oder Modelllernen. Es lässt sich also am besten als Gruppentherapie durchführen.
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12 Maßnahmen Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege 12.2.4 Klinische Bezüge Bluthochdruck als dysfunktionales Verhalten
289
zählen die Rehabilitation, die Unterstützung durch
Im weiteren Sinne können auch Probleme, die
ein gesundheitsförderliches soziales Netzwerk (Soziotherapie und Selbsthilfegruppen) und die
Ihnen im medizinischen Alltag begegnen, wie Blut-
pflegerische Betreuung der Kranken (Pflege).
hochdruck und unangemessene Muskelspannung, als „Verhalten“ bezeichnet werden. Dies sind dysfunktionale Reaktionen des Individuums auf innere oder äußere Anforderungen, die der Gesundheit und dem Befinden schaden. Mithilfe verhaltenstherapeutischer Maßnahmen können auch solche Verhaltensparameter verändert werden. So wird beispielsweise das Biofeedback sehr erfolgreich zur Reduktion des Blutdrucks eingesetzt (s. S. 100). Die
körperliche
Aktivierung
kann
durch
ein
Stressbewältigungstraining reduziert werden. Hier werden
Stressmanagementstrategien
erarbeitet,
zu denen beispielsweise praktische Handlungsanleitungen zum Umgang mit Stressoren, Entspannungstechniken, Problemlösetraining und kognitives Umstrukturieren zählen.
Check-up 4
4
Wiederholen Sie die Faktoren, die bei der Änderung des Gesundheitsverhaltens eine Rolle spielen. Rekapitulieren Sie, wie sich nach verhaltenstherapeutischen Ansätzen Modifikationen des Verhaltens am ehesten erreichen lassen.
12.3 Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege Lerncoach Im folgenden Kapitel geht es um verschiedene Maßnahmen der Reduktion von Erkrankungsfolgen. Hier ist es wichtig, die Bedeutung der genannten Begriffe zu verstehen und einen Eindruck über die mit ihnen assoziierten Gebiete zu erhalten.
12.3.2 Die Rehabilitation Das Ziel der Rehabilitation Die Rehabilitation dient dem Ziel der tertiären Prävention, also der Reduktion der Folgen einer Erkrankung. Dem Patienten soll es möglich werden, sich nach einer akuten oder chronischen Krankheitsbehandlung wieder in die Arbeit, den Beruf und die Gesellschaft einzugliedern. Behinderungen sollen abgewendet, beseitigt oder eine Verschlimmerung verhindert werden. Ein übliches Vorgehen, das sogenannte Fünf-Phasen-Modell der Rehabilitation, umfasst die medizinische Behandlung, die Überleitung in die berufliche Rehabilitation und anschließend die berufliche, familiäre und soziale Rehabilitation.
Merke Rehabilitationsträger sind die gesetzlichen Kranken-, Renten- und Unfallversicherungen, die Bundesanstalt für Arbeit, Kinder- und Jugendhilfe sowie Sozialhilfe. Vor Beantragung einer Rehabilitation muss der Arzt prüfen, ob der Patient die medizinischen Voraussetzungen erfüllt. Dies ist der Fall wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist und zusätzlich voraussichtlich durch eine Rehabilitationsmaßnahme entweder die erhebliche Gefährdung beseitigt, die bereits geminderte Erwerbsfähigkeit wesentlich gebessert oder bei der bereits geminderten Erwerbsfähigkeit der Eintritt von Berufsoder Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden kann.
12.3.1 Der Überblick
Die Rehabilitationskonzepte
Neben der ersten medizinischen Versorgung der
Rehabilitation findet noch immer in erster Linie stationär statt (Rehakliniken), die Möglichkeiten zu ambulanten Rehabiliationsmaßnahmen (z. B. ambulante Physiotherapie) nehmen jedoch in neuerer Zeit zu.
akuten Erkrankung spielen weitere medizinische, psychologische und soziale Maßnahmen eine entscheidende Rolle zur Wiederherstellung und zur längerfristigen Erhaltung der Gesundheit. Hierzu
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12 Maßnahmen Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege Die gemeindenahe Versorgung
telbaren Angehörigen in den sozialen Prozess mit
Ein Beispiel für nicht-stationäre Wiedereingliederungsmaßnahmen ist das Konzept der gemeinde-
einbezogen. Die Stärkung ihrer Potenziale (z. B. durch die Teilnahme an Angehörigengruppen) stellt
nahen Versorgung, das sich vor allem in der psychiatrischen Versorgung erfolgreich entwickelt hat. Die gemeindenahe Versorgung zielt darauf ab, Hilfe für psychisch kranke Personen zu bieten, die sie in Anspruch nehmen können, ohne dass sie ihren gewohnten Lebensraum verlassen müssen. Zu diesen Hilfen zählen zum Beispiel das Angebot von Ansprechpartnern in Sozialpsychiatrischen Zentren, die Betreuung in Tageskliniken, das Angebot von Krisendiensten und betreutem Wohnen und das Bereitstellen niedrigschwelliger Arbeitsangebote.
wichtige Ressourcen für den Patienten bereit (s. S. 250). Neben der Veränderung des unmittelbaren Umfeldes unterstützt die Soziotherapie beim Aufbau eines sozialen Netzwerkes, bei der Sicherung des Arbeitsplatzes und hilft bei der Wohnungsbeschaffung (Abb. 12.1). Im engeren Sinne meint Soziotherapie die Unterstützung psychisch Kranker bei der Inanspruchnahme von Leistungen zur gesundheitlichen Versorgung. Sie ist seit der Gesundheitsreform 2000 eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung.
Die Beratung chronisch Kranker Die Relevanz chronischer Krankheiten sowohl für die unmittelbar Betroffenen als auch für die Gesell-
12.3.4 Die Selbsthilfegruppen
schaft (hohe Kosten im Gesundheitswesen) machen
ren medizinischen Situationen auf den Nutzen
besondere Beratungsangebote erforderlich. Diese
von Selbsthilfegruppen eingegangen (s. S. 253). An
Beratungsangebote werden übernommen von nie-
dieser Stelle soll die Darstellung um einige Aspekte
dergelassenen Ärzte, dem öffentlichen Gesund-
ergänzt werden.
Es wurde bereits bei der Darstellung der besonde-
heitsdienst, den Wohlfahrtsverbänden und Selbsthilfeorganisationen.
Der Grundgedanke
12.3.3 Die Soziotherapie
Selbsthilfegruppen sind Zusammenschlüsse von Betroffenen, die ihre Erfahrungen mit der Erkran-
Die Soziotherapie ist im weiteren Sinne ein Ober-
kung selbst, ihrer Therapie und ihren Folgen für
begriff für Verfahren, die den sozialen Kontext
das gesamte Leben austauschen. Sie teilen eine
des Patienten so verändern sollen, dass die Erkran-
wichtige Gemeinsamkeit, die häufig ein zentrales
kung günstig beeinflusst wird. Zum sozialen Um-
Lebensthema ist, und bilden so eine Gruppe, in
feld gehören alle Personen, die mit dem Patien-
der es wahrscheinlich ist, verstanden zu werden.
ten in sozialem Kontakt stehen, wie beispiels-
Neben der Gemeinsamkeit sind es Unterschiede,
weise die Familie, die Verwandtschaft, Freunde, Kollegen und Nachbarn. Häufig werden die unmit-
die die Selbsthilfegruppen fruchtbar machen. Da jedes Gruppenmitglied aus einer individuellen Per-
vollstationär
Milieugestaltung
Ergotherapie
teilstationär
Tagklinik
niedergelassener Nervenarzt
betreutes Wohnen
Institutsambulanz
Sozialdienst
Angehörigenarbeit
ambulant/ komplementär
Nachtklinik
sozialpsychiatrischer Dienst Tageszentrum
berufliche Rehabilitation betreutes Arbeiten
Abb. 12.1 Behandlungskette soziotherapeutischer Maßnahmen (aus Möller/Laux/ Deister)
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12 Maßnahmen Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege spektive Gedanken und Lösungen zum Umgang mit
das Wissensgefälle zwischen Arzt und Patienten
der Lebenssituation entwickelt, werden für alle anderen neue Denk- und Handlungsmöglichkeiten
ab. Der Patient ist informierter, engagierter, gleichberechtigter und sollte die Möglichkeit zur Selbst-
bereitgestellt.
verantwortung erhalten.
Bekannte Beispiele für Selbsthilfegruppen sind die
Die Mitgestaltung der Patienten am Gesundheits-
Anonymen Alkoholiker und die Weight-Watchers.
wesen wird auch politisch thematisiert. Bei den
Selbsthilfegruppen gibt es darüber hinaus mittler-
Koalitionsvereinbarungen der rot-grünen Koalition
weile zu fast jeder Art von Erkrankung (z. B. Patien-
im Jahre 1998 wurde von der damaligen Gesund-
ten mit Essstörungen, Psychiatrie-Erfahrene, Brust-
heitsministerin Andrea Fischer die Stärkung der
krebspatientinnen). Zudem gruppieren sich nicht nur die Erkrankten selbst, sondern auch die indi-
Patientenrechte explizit betont. Auch Ulla Schmidt formulierte dies als wichtiges Anliegen. Im Jahre
rekt Betroffenen, wie beispielsweise die Eltern
2000 sind mit der Gesetzlichen Krankenversiche-
chronisch kranker Kinder und die Angehörigen
rungs-Gesundheitsreform Regelungen zur Stärkung
von alkoholkranken Menschen.
der Patientenrechte ins Sozialgesetzbuch auf-
291
genommen worden, so z. B.:
Die Formen
Patientenberatung (§ 65 b SGB V): Die Kranken-
Informelle Selbsthilfegruppen sind formlose Zusammenschlüsse, die sich allein auf den privaten Bereich beziehen. Aber auch hier gibt es meistens Absprachen über den Umgang miteinander. Zu den häufigen Regeln gehört zum Beispiel, dass alle Gruppenmitglieder gleichberechtigt sind, jeder Teilnehmer nur über sich selbst bestimmt und keiner Informationen nach außen trägt (Schweigepflicht). Formelle Selbsthilfegruppen zeichnen sich durch eine stärkere Strukturierung aus und gehen über den privaten Bereich hinaus. In ausgereifter Form spricht man von Selbsthilfeorganisationen, die einer formalen Rechtsform (z. B. Verein) angehören, meist eine große Anzahl von Mitgliedern umfassen – was eine formale Verwaltung nötig macht – und die die Interessen ihrer Mitglieder auch auf gesundheits- und sozialpolitischer Ebene vertreten.
kassen sind verpflichtet unabhängige Einrichtungen zur Verbraucher- und Patientenberatung mit jährlich rund 5 Mio. Euro im Rahmen von Modellprojekten zu fördern.
Förderung von Prävention und Selbsthilfe (§§ 20 ff SGB V): Die Gesundheitsförderung der Patienten wurde erheblich ausgebaut. Die Förderung von Selbsthilfeeinrichtungen (s. o.) wird mit 35 Mio. Euro von den Krankenkassen gestärkt. Das Bundesgesundheitsministerium hat Ende 1999 eine Arbeitsgruppe „Patientenrechte in Deutschland: Fortentwicklungsbedarf und Fortentwicklungsmöglichkeiten“ gegründet, in der Vertreter mit unterschiedlichen Interessen (z. B. Bundesgesundheits- und Bundesjustizministerium, Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen, Patienten- und Verbraucherschutzverbände, Bundesärztekammer) Berichte zur Verbesserung der Transparenz im Gesundheitswesen, zur institutionellen
12.3.5 Die Mitwirkung von Patientenvertretern im Gesundheitswesen
Erweiterung der Patientenbeteiligung, zum Arzt-
Die aus verschiedenen Richtungen immer lauter
lern erarbeiteten, die derzeit ausgewertet werden.
werdende Forderung nach einer stärkeren Betei-
Trotz der gesellschaftlichen und politischen Forde-
ligung der Patienten im Gesundheitswesen ist vor
rungen ist die Mitwirkung von Patientenvertretern
allem durch den Wandel der Patientenrolle und sei-
im deutschen Gesundheitswesen (verglichen zum
ner Beziehung zum Arzt begründet. Das ungleiche Verhältnis zwischen dem aktiv anleitenden Arzt
Beispiel mit den Niederlanden, die durch eine übergreifende Patientenorganisation einen höheren Ein-
und dem passiv befolgenden Patienten wird von
fluss haben) jedoch gering. Die Etablierung einer
der Tendenz abgelöst, sich als Patient aktiv an der
stärkeren Patientenbeteiligung ist ein komplexer
Behandlung zu beteiligen und den Genesungspro-
und langwieriger Prozess, dessen Fortschritt durch
zess mitzugestalten. Durch den vereinfachten
unterschiedliche Interessen erschwert wird. Zu-
Zugang zu medizinischem Wissen nimmt auch
künftige Entwicklungen sind abzuwarten.
vertragsrecht und zur Haftung bei Behandlungsfeh-
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292
12 Maßnahmen Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege 12.3.6 Die Pflege Die Krankenpflege
Arbeit unter harten Bedingungen (körperliche Be-
Unter Krankenpflege versteht man die ganzheit-
lastung, Nachtdienste) leisten. Ungenügende Personalausstattung im Pflegebereich und der dadurch
liche pflegerische Betreuung von Kranken durch
bedingte Zeitdruck verschärfen die Belastungs-
Vertreter eines gesetzlich geregelten Ausbildungs-
faktoren, eine Folge kann das Burn-Out-Syndrom
berufs (Krankenschwester und -pfleger, Kranken-
(s. S. 199) sein.
pflegehelfer/in). Das Ziel der Krankenpflege ist die Förderung der Gesundung unter Berücksichtigung
Die Belastung bei Angehörigen
physischer, psychischer und sozialer Faktoren. Sie
Häufig leisten die unmittelbaren Angehörigen eine
erfordert eine Pflegeanamnese, also die Erfassung von Informationen, die für eine Pflegeplanung not-
umfassende pflegerische Versorgung, für die sie nicht ausgebildet sind und die sie, weil sie emotio-
wendig sind. Die Pflegeplanung umfasst die indivi-
nal stark involviert sind, nicht nur körperlich,
duelle und generelle Problemstellung, die Fest-
sondern auch psychisch stark belastet.
setzung der Pflegeziele und einen Plan über die
Dies kann besonders gut am Beispiel eines Angehö-
Pflegemaßnahmen.
rigen verdeutlicht werden, der seinen an Alzheimer-
Die Pflege als wichtige Teildisziplin in der medinzi-
Demenz erkrankten Lebenspartner pflegt. Er ist
nischen Versorgung hat sich mittlerweile auch als
einer Lebenssituation ausgesetzt, in der er den kör-
Pflegewissenschaft etabliert. Besonders in den letzten 10 Jahren hat sich eine beeindruckende Wissensstruktur mit einer Vielzahl von pflegewissenschaftlich orientierten Studiengängen und Pflegeforschungsinstituten entwickelt.
perlichen und geistigen Abbau eines nahestehenden Menschen beobachten muss ohne ihn verhindern zu können. Er erlebt die Veränderung seiner Persönlichkeit und die Auflösung der vorherigen Beziehungsqualität (z. B. erkennt der Erkrankte seinen Ehepartner nicht mehr).
Die Pflegeversicherung
Meistens sind die Pflegenden selbst ältere Men-
Die Pflegeversicherung ist seit 1995 Teil des sozia-
schen, für die die Pflege (z. B. das Umlagern im
len Sicherungssystems. Der medizinische Dienst der Krankenkassen begutachtet die Pflegebedürf-
Krankenbett) eine hohe körperliche Belastung darstellt. Ihre alltäglichen Aufgaben erweitern sich im-
tigkeit, indem er nach einem festgelegten Punkte-
mens: Neben der Pflege des Angehörigen müssen
system die Anzahl erforderlicher Pflegeminuten
die Aufgaben, die dieser vorher übernommen hat
ermittelt (z. B. für Unterstützung bei der Nahrungs-
(z. B. Finanzen) zusätzlich zu den eigenen Aufgaben
aufnahme und der Körperpflege), die wiederum die
übernommen werden (z. B. Haushalt, Arbeitstätig-
Grundlage zur Zuordnung einer der drei Pflegestufe
keit).
darstellt. Die Pflegestufen unterscheiden in „erheb-
All dies stellt hohe Anforderungen an die Pflegen-
lich Pflegebedürftige“, „schwer Pflegebedürftige“ und „schwerst Pflegebedürftige“, und bestimmen
den, die leicht die Grenzen der Belastbarkeit überschreiten können. Entlastung kann durch das Hin-
die Höhe der finanziellen Mittel.
zuziehen von Pflegediensten und die Unterstützung von weiteren Familienangehörigen oder Nachbarn
Die psychosozialen Belastungen der Pflege
geschaffen werden.
Die Belastung bei professionellen Pflegern einen engeren persönlichen Kontakt zu den Patien-
12.3.7 Klinische Bezüge Vernetzte Praxen
ten als die betreuenden Ärzte und sind häufig Ansprechpartner für den Patienten. Sie erleben erfolg-
Die Aufgabe des niedergelassenen Arztes ist es, die medizinischen, psychologischen und sozialen Auf-
reiche und erfolglose Behandlungen und den Tod
gaben, die zur Versorgung eines Patienten not-
von Menschen, zu denen ein längerer Kontakt
wendig sind, sektorübergreifend zu koordinieren.
bestand. Trotz der persönlichen Schicksale dürfen
Gerade bei chronisch Kranken, also bei Menschen,
sie sich emotional nicht zu sehr einnehmen lassen,
deren Krankheit langwierig verläuft und die häu-
sondern müssen jederzeit fachlich anspruchsvolle
fig und verschiedene medizinische Leistungen in
Krankenschwestern und Krankenpfleger haben oft
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12 Maßnahmen Die Rehabilitation, die Soziotherapie, die Selbsthilfe und die Pflege Check-up
Anspruch nehmen, ist eine ganzheitliche und koordinierte Versorgung besonders angezeigt. In jüngerer Zeit wächst die Zahl von „Vernetzen Praxen“, die diese wichtige Koordinationsaufgabe vereinfachen. Das Ziel vernetzter Praxen ist es,
293
4
Führen Sie sich die Ziele der Rehabilitationsmaßnahmen und ihre modernen Weiterentwicklungen noch einmal vor Augen.
medizinische, psychologische und psychosoziale Dienstleistungsangebote aufeinander abzustimmen und sie den individuellen Bedürfnissen einzelner Patienten oder Patientengruppen anzupassen. Das Prinzip der ganzheitlichen Versorgung, bei der das Versorgungsangebot auf individuelle „Fälle“ zugeschnitten wird, heisst „case management“.
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Quellenverzeichnis
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Quellenverzeichnis Abdolvahab-Emminger, H.: Physikum exakt. 3. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2003 Ajzen, I. (1991). The theory of planned behavior. Organizational behavior and human decision processes, 50, 179–211 Bähr, J., Jentsch, C., Kuls, W.: Bevölkerungsgeographie. de Gruyter, Stuttgart, 1992 Bolte, K. M., Hradil, S.: Soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland. Leske S Budrich, Opladen, 1988 Duus, P.: Neurologisch-topische Diagnostik. 7. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2001 Klinke, R., Silbernagl, S.: Lehrbuch der Physiologie. 4. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2003 Möller, H. J., Laux, G., Deister, A.: Duale Reihe Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2001 Silbernagl, S., Despopoulos, A.: Taschenatlas der Physiologie. 6. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2003 Sitzmann, F. C.: Duale Reihe Pädiatrie. 2. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2002 Zimbardo, P. G.: Psychologie. 7. Aufl., Springer, Berlin, 1999
Abbildungen Inhaltsübersichten: Kap. 1, 2, 4, 6, 9, 10, 11, 12: photoDisc Inc., Seattle Kap. 5, 7: Georg Thieme Verlag
Abbildungen Klinische Fälle als Kapiteleinstieg: Kap. 1, 3, 8, 9: photoDisc Inc., Seattle Kap. 2: Henne-Bruns, D., Dürig, M., Kremer, B.: Duale Reihe Chirurgie. 2. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2003 Kap. 4: Lüllmann-Rauch, R.: Histologie. Thieme, Stuttgart, 2003 Kap. 5: Schmidt, G.: Checkliste Sonographie. 2. Aufl., Thieme, Stuttgart, 1999 Kap. 6, 7: Baenkler, H. W. et al.: Duale Reihe Innere Medizin. Thieme, Stuttgart, 2001 Kap. 10: Malfertheiner, P.: Helicobacter pylori – Von der Grundlage zur Therapie. 3. Aufl., Thieme, Stuttgart, 2000 Kap. 11: Stauber, M., Weyerstahl, T.: Duale Reihe Gynäkologie und Geburtshilfe. Thieme, Stuttgart, 2001 Kap. 12: MEV-Verlag, Augsburg
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Quellenverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Sachverzeichnis halbfette Seitenzahl = Haupttextstelle
A Abhängigkeit 284 – Alkohol 91 – körperliche 132 – Medikamente 101 – psychische 133 Abrufen, Gedächtnisinhalt 29 Abstoßungsreaktion 252 Abwehr – Sterben 257 – Verhaltensänderung 279 Abwehrmechanismen 35 – Bewusstsein 35 – Intensivstation 249 – Krankheit 37 – Widerstand 238 Abweichung, sexuelle 257 Abweichungsintelligenzquotient 108 Abweichungsnorm 55 ACTH 19 Adaptation – Habituation 98 – kognitive Entwicklung 155 Adaptationssyndrom, allgemeines 19 Adipositas 134 Adoleszenz 165 Adoptionsstudie 90 Adrenalin 19 Affekt 113 Aggravation 201 Aggregatdaten 65, 71 Aggression 119 – autotelische 119 – instrumentelle 120 – Todestrieb 119 Agnosie 86 – Gesichter 86 – Objekte 86 – taktile 85 Agoraphobie 119 Agraphie 85f Akalkulie 85f Akkommodation 154 Akkulturation 178 Akquisition, Verhalten 96 Akteur-Beobachter-Unterschied 132 Aktivation 24 Alarmphase (Adaptationssyndrom) 19 Alexie 86 Algesimetrie 32 – experimentelle 32 – Schmerzwahrnehmung 32 – subjektive 32 Algorithmen (Problemlösen) 106
Alkoholismus – Genetikeinfluss 91 – Korsakow-Syndrom 112 Allotransplantation 251 Alpha-Blockade 23f Alpha-Fehler 73 Alpha-Welle 23 Altenquote 176 Alter – Emotionen 171 – Gedächtnis 170 – Intelligenz 170 – Intelligenzentwicklung 111 – psychologische Funktionen 170 Altern – Defizitmodell 171 – demographisches 177, 180 – differenzielles 172 – Kompetenzmodell 171 – Kontinuitätshypothese 172 – Modelle 171 – normales 171 – pathologisches 171 – Selektivitätstheorie 172 Alternativhypothese 49 Altersdemenz 172 Alterspyramide 174 Alzheimer-Erkrankung 172 Ambivalenzkonflikt 129 Amnesie 86 – anterograde 91, 104 – Korsakow-Syndrom 112 – retrograde 104 Amygdala – Basalganglien 83 – Emotion 115 – Hunger 130 – Temporallappen 85 Analogskala – numerische 53 – visuelle 53 Analyse – bivariate 75 – multivariate 75 – quantitative Daten 71 – univariate 75 Anamnese 6, 214, 217f – allgemeine 217 – humangenetische Beratung 254 – Patientenkarriere 265 – Pflege 292 – Struktur 218 Änderungssensitivität 58 Androgynie 168 Anforderungs-Kontroll-Modell 169 Angehörige – Intensivmedizin 250
– mangelnde Krankheitseinsicht 264 – Pflege 292 – Sterben 258 Angst 117f – Aufrechterhaltung 99 – Entstehung 98 – Formen 117 – Intensivstation 249 – Komponenten 113 – Löschung 99 – Phobie 236 – Symptome 117 – Transplantation 251 Angsthierarchie 99 Angststörung 118f Anorexia nervosa 43, 165, 232 Anorgasmie 256 Anreiz – Behaviorismus 126 – Motivation 123 – Sucht 134 Anspruchsniveau (Leistung) 157 Aphasie 86 – Broca- 86 – globale 107 – Wernicke- 86 Appetenz 129 – sexuelle 256 Appetenz-Aversions-Konflikt 129 Appetenzkonflikt 129 Appetenzverhalten 124 Apraxie 86 Äquilibrationsprinzip 154 Äquivalenznorm 55 ARAS (aufsteigendes retikuläres aktivierendes System) 24, 83, 138 Arbeitsbündnis Arzt-Patient 215 Arbeitsgedächtnis 104 Arbeitslosigkeit – Jugendalter 169 – Mortalitätsrisiko 191 – soziale Rolle 38 – strukturelle 188 Arbeitsunfähigkeit 10 Armutsbericht Bundesregierung 183 Arousal 24 Arten (Untersuchung) 59 Arzt – Gesundheitsförderung 287 – Informationsvermittler 282 Arzt-Patient-Beziehung 193ff – Kommunikation 193, 202 – Kooperation 210 Arztaffinität 264
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Sachverzeichnis
Arztaversion 264 Arztberuf – Berufsethik 196 – Entscheidungskonflikte 227 – Motivation 198 – Professionalisierung 193ff – psychische Belastung 199 Ärzteangebot 266 Ärztekammer 195 Arztkonsultation 264 Arztperspektive – Erstkontakt 216 – psychosoziale Aspekte 219 Arztrolle 193, 197 Arztwahl, freie 267f Assimilation 105, 154 Assoziation, freie 238 Ätiologie 3 Attachment Theory 152 Attribution 201 – externale 131 – globale 132 – internale 131 – Kausalattribution 131f – spezifische 132 – stabile 131 – Stile 132, 147 – variable 131 Attributionsfehler, fundamentaler 132 Attributionsstil 132, 146 Attributionstheorie 201 Außenwanderung 178 Aufklärung, Kommunikation 203 Aufmerksamkeit – elterliche 159 – kognitive Verarbeitung 102f – Störung 103 Aufsuchen-Konflikt 129 Aufsuchen-Meiden-Konflikt 129 Ausdruckskomponente (Emotion) 113 Auswertung, Daten 47, 70 Auswertungsobjektivität 75 Auswertungsverfahren – qualitatives 75 – quantitatives 71 Autoaggression 119 Autonomie – Arbeitsplatz und Erziehung 185 – berufliche 195 – elterliche Kontrolle 160 – Entwicklung 168 Autorität – funktionale 228 – positionale 228 Aversion 129 Aversionskonflikt 129 Aversionstherapie 240
B Bagatellisierung 263 Balintgruppe 258 Bandura 96 Basalganglien 83 Basisemotion 113 Beck-Therapie 241 Bedarf 265ff – latenter 266 – objektiver 266 – subjektiver 266 Bedeutung, Schlaf 27 Bedürfnishierarchie 128 Befinden – physisches 5 – psychisches 5 – soziales 6 – subjektives 4f – Wahrnehmung 4 Befund – Indikationsdiagnostik 223 – medizinischer 5, 51, 224 Befunderhebung, medizinische 6 Behalten (Gedächtnis) 104 Behandlung – Anorexia nervosa 232 – Erklärung 234 – Kinderlosigkeit 255 – Verhaltenstherapie 240 Behandlungsplan, schriftlicher 234 Behaviorismus 15 Belastung – psychische 248 – psychosoziale 247ff, 292 Belastungsfaktoren – Angehörige 250 – Infertilität 254 – Intensivstation 249 – medizinisches Personal 250 – psychosoziale 191 – Transplantation 251 Belastungsstörung, posttraumatische 22 Belohnungslernen 94 Beobachtung – empirische Forschung 48 – nicht-teilnehmende 66 – Objektivität 66 – offene 66 – subjektive 47 – systematische 66 – teilnehmende 66 – unsystematische 66 – verdeckte 66 Beobachtungslernen 96 Beratung – ärztliche 233 – Gesundheitsberatung 233f – humangenetische 253f – Rehabilitation 290
– Sozialberatung 281f Bereitschaftspotenzial (EEG) 24 Berufsausstieg 170 Berufsbezeichnung 195 Berufseintritt 170 Berufsethik, ärztliche 196 – Entscheidungskonflikte 198 – Schwangerschaftsabbruch 198 Berufsleben – Anforderungs-Kontroll-Modell 169 – Beendigung 171 – Eintritt 170 Besitzklasse 183 Bestimmung, Schmerzschwelle 32 Bestrafung 94 – negative 94 – positive 94 Beta-Fehler 73 Beta-Welle 23 Betroffenheit – fachliche 216 – subjektive 215 Beurteilungsfehler 216 Beurteilungsskala 52 – absolute 53 – Merkmale 52 – relative 53 Bevölkerungsbewegung 175 Bevölkerungspyramide 174f Bevölkerungsstruktur 173 Bewertung, kognitives Modell 16 Bewusstsein – psychodynamische Theorie 34 – topographisches Modell 34f Beziehung, Arzt-Patient 202 Beziehungswahn 246 Big Five 138 Bindungstheorie 152 Bindungsverhalten 151 Binnenwanderung 178 Biofeedback 33, 100 Biopsychologie 18 – Verhalten 18 Blickkontakt 203 Blindheit, hysterische 37 Blindstudie 62 Borderline-Persönlichkeit 143 Botschaft 204 Bottom-Up-Prozess 102 Broca-Aphasie 86, 107 Broca-Areal 84ff, 107 Brustkrebsscreening 279 Bruxismus 29 Bulimia nervosa 43 Bulimie 165 Bundesärztekammer 196 Bundesärzteordnung 196 – Arztberuf 196 Bundesvereinigung, kassenärztliche 196 Burn-out-Syndrom 199
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Sachverzeichnis
C Case Management 269, 293 Catell – Intelligenzmodell 110 – Persönlichkeitsmodell 139 Charakter 135 – Persönlichkeitsstörungen 143 – psychosexuelle Entwicklung 141 Chi-Quadrat-Test 74 Chorea Huntington 259 Chronifizierung 3 Chronobiologie 29 CNV (Contingent Negative Variation) 24 Cold-Pressure-Test 32 Compliance 200 – Beratung 234 – soziale Schicht 41 Coping 22, 201 – aktives 274 Coping-Modell 21 – Krebs 252 – Modelle 21 Coping-Strategie – emotionszentrierte 22 – problemzentrierte 22 Critical Life Events 163
D Daten – qualitative 75 – quantitative 71 Datengewinnung 47, 65 – Methoden 65f – Patient 65 – Untersuchung 65 Decodierung 103 Deduktion 48 Defensivreaktion 25 Definition – Gesundheit 3 – Schmerz 30 Delta-Welle 23 Demenz 172 Demographie 173 – Methoden 173 Denken – animistisches 155 – anschauliches 155 – formales 155 – präoperationales 155 – vorbegrifflich-symbolisches 155 Denkfehler, systematischer 106 Depression 121 – anaklitische 153 – bipolare 121 – kognitive Therapie 241 – Sterben 257 – Theorie 121 – unipolare 121
Deprivation 88 – sensorische 153 Deprivationsversuch 148 Descartes 81 Desensibilisierung, systematische 99, 240 Desynchronisation, Elektroenzephalogramm 23ff Deutung 238 Devianz 9, 38 Diabetes mellitus, Fall-KontrollStudie 64 Diagnose 3, 6 Diagnosemitteilung 234 Diagnosestellung 226 – Klassifikationssysteme 225 Diagnostik 223ff – adaptive 223 – Erläuterung 233 – Klassifikationssysteme 225 – prädiktive 254 – pränatale 254 – Prozess 224 Dichotomie, Gesundheit und Krankheit 3 Dienzephalon 83 Differenzierung, soziale 182 Dis-Stress 18 Disease Management 268 Disengagement-Theory 172 Dishabituation 98 Diskriminierung, Gesellschaft 9f Disparität 183 Disposition 17 Dissens, fachlicher 228 Dissimulation 201 Dissonanz, kognitive 39 Dissonanztheorie 278 Dokumentation 3 Dokumentationspflicht 3 Dokumentenanalyse 76 Dopaminrezeptor 91 Doppelbindung 204 Doppelblindstudie 61 Doublebind 204 Down-Syndrom 259 Drei-Speicher-Modell 103 Drifthypothese, soziale 41 DSM-IV 7f, 237 Durst, primäres Motiv 127 Dyspareunie 256 Dyssomnie 28
E EBM (evidenzbasierte Medizin) 77 EEG siehe Elektroenzephalogramm Effektivität – Gesundheitsförderung 286 – Patientenschulung 235 Effektivitätsziffer 178
299
Effizienz 77 Ego 34 Egozentrismus 155 Eigenanamnese 217 Eigenkontrolle, kollegiale 195 Eigenschaftstheorie Persönlichkeit 136 Eigensteuerung 97 Eindruck – erster 216 – letzter 216 Einflüsse – Gesundheit 5 – Krankheit 5 Einflussfaktoren, Schmerz 32 Eingangsdiagnostik 223 Eingriffsrecht 219 Einsicht, mangelnde 278 Einsichtstherapie 238 Einstellung 38 – Emotion 38 – Kognition 38 Einstellungen, Verhalten 39 Einwilligung, Kommunikation 203 Einwortstadium 156 Einzelfallstudie 63 Einzelgespräch 207 Einzeltherapie 244 Ejaculatio praecox 256 Elastizität, psychische 4, 274 Elektrakomplex 141 Elektroenzephalogramm 22ff, 82 – Amplitude 23f – Bewusstsein 24 – Frequenz 23f Ellis-Therapie 241 Emotion 79, 112ff – Alter 171 – Ausdruckskomponente 113 – Definition 112 – kognitive Theorien 116 – Komponenten 113 – neurobiologische Grundlagen 114 – Ontogenese 113 – primäre 113 – sekundäre 114 – spezifische 117 – spontane 116 – Theorien 116 – Zwei-Komponenten-Theorie 116 Emotionstheorie, kognitive 116 Empathie 242 Encodierung 103 Endhandlung, konsumatorische 124 Engramm 103 Entprofessionalisierung 195 Entscheidung, diagnostische 58, 222ff Entscheidungsfehler 227f Entscheidungskonflikt 227 – Ärzte 228
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Sachverzeichnis
– individueller 227 Entscheidungskonflikt, ethischer 198 Entscheidungstheorie 58 Entspannungstechnik 33, 241 Entspannungstraining, Desensibilisierung 99 Entwicklung 146 – Emotionen 114, 152f – frühkindliche 151 – Gesellschaftseinfluss 159 – Intelligenz 111 – intrauterine 149 – kognitive 154f, 157 – lebenslange 162 – moralische 157 – motorische 151 – Persönlichkeit 141 – psychische Störungen 36 – psychosexuelle 34, 141 – psychosoziale 164 – Sprache 156 – ZNS 149 Entwicklungsaufgaben 162 Entwicklungspsychologie 147f – Methoden 148 Entzug 284 Epidemiologie 177 Epinephrin 19 Erblichkeitsschätzung 90 Erektionsstörung 256 Erfolg – Kausalattribution 131 – Leistungsmotivation 130 – Lernen am 94 Erfolgsmotivierte 130ff Ergebnisbewertung 47, 77 – Untersuchung 77 Ergebnisdiagnostik 224 Ergebnisqualität 226, 269 Ergebnisse, Replizierbarkeit 77 Erikson-Stufenmodell 163 Erkrankung, Subjektivität 6 Eros 34 Erregungsphase 255 Erschöpfungsphase (Adaptationssyndrom) 20 Erstkontakt 215 Erwachsenenalter 169f Erwartung 126 – Patient 215 – unausgesprochene 215 Erwartung-x-Wert-Modell 126 Erwartungsenttäuschung 211 Erwerbsfähigkeit 175 Erwerbsklasse 183 Erwerbslosigkeit 175 Erwerbsstruktur 187 Erwerbstätigkeit 174 – Sektoren 188 Erwerbsunfähigkeit 11
Erziehung – Gesundheitserziehung 285 – sexualfeindliche 256 Erziehungsstil 159 – autoritärer 159 – autoritativer 159 – permissiver 159 – Schichtzugehörigkeit 185 – vernachlässigender 160 Erziehungsziel, Schichtzugehörigkeit 185 Es (Strukturmodell) 35, 139 Essstörung 165 Ethologie 123 Etikettierung, Gesellschaft 10 Etikettierungsansatz 10 – Stigma 10 Eu-Stress 18 Euthanasie 259 Evaluation, Psychotherapie 244 Evaluationsforschung 226 Evaluationsstudie 64 Exibitionismus 257 Experiment 59ff – Untersuchung 59 Experimentalgruppe 60 Expertenurteil 70 Expertenwissen 195 Exploration 6, 217f Expressed Emotions 281 Extinktion – Habituation 98 – klassisches Konditionieren 93 – operantes Konditionieren 95 Extraversion 138 Extraversions-Neurotizismus-Zirkel 137 Exzesssterblichkeit 189 Eysenck 138 Eysenck Personality Inventory 139 Eysenck-Modell 136
F Fachsprache, medizinische 208 Facial Action Coding System 113 Facial-Feedback-Hypothese 113 Faktoren – ökologische 42 – ökonomische 42 – protektive 4 – soziostrukturelle 41 Faktorenanalyse – Intelligenzmodell 109 – Persönlichkeitsmodell 137f Fall-Kontroll-Studie 63 – Kontrollgruppe 63 – Randomisierung 63 Falsifikation (Hypothese) 48 Familie
– Gesundheitssystem 182 – Interaktion 160 – primäre Sozialisation 148 – Strukturwandel 160 Familienanamnese 217, 254 Familienskulptur 243 Familientherapie 207, 244 – Anorexia nervosa 232 – systemische 236, 242 Familienzyklus 180 Fehler – erster Art 229 – Hypothese 73 – systematischer 62 – Untersuchung 61 – zweiter Art 229 Fehlerwahrscheinlichkeit 72 Fehlversorgung 266 Feindseligkeit 146 Feldabhängigkeit 143 Feldstudie 62 – Untersuchung 62 Fertilität 254 Fertilitätsziffer 176 Fetischismus 257 Fight-or-flight-Syndrom 19 Fixierung – iatrogene 207 – Psychoanalyse 140 Flash Back 22 Flooding 100 Formatio reticularis 83, 138 Formen, Hypothese 48 Forschung – empirische 48 – psychologische 48 FPI (Freiburger-PersönlichkeitsInventar) 68 Frage – dichotome 67 – geschlossene 67, 218 – offene 68, 218 Fragen, zirkuläres 243 Freiburger-Persönlichkeits-Inventar 68 Fremdanamnese 214, 217 Fremdbeurteilung 70 Fremdbild 145 Fremdeln 118, 152 Frequenzbänder (EEG) 23f Fresszentrum 130 Freud 34 Freudsche Versprecher 35 Frontallappen 84 – Emotion 115 – Sprache 107 Frühgeborene 150 Frustrations-Aggressions-Hypothese 120 Frustrationstoleranz 120 Führungsstil
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Sachverzeichnis
– direktiver 228 – partizipativer 228 Fünf-Phasen-Modell (Rehabilitation) 289 Funktion, autonome 83 Funktion, psychische – Lateralisation 86 – Repräsentation 82 Funktionsnorm 9 Funktionsstörung, sexuelle 256 Furcht 117 – Misserfolg 130
G g-Faktor 110 Gate-Control-Modell 31 – Modelle 31 – Schmerz 31 – Schmerzwahrnehmung 31 Geburtenüberschuss 174 Geburtenziffer – allgemeine 176 – altersspezifische 176 – geschlechtsspezifische 176 – Rückgang 178 Gedächtnis 103f – Alter 170 – episodisches 104 – prozedurales 104 – semantisches 104 – sensorisches 103 – temporäres 84 Gedächtnisinhalt – expliziter 104 – impliziter 104 Gedächtnisspur 103 Gedächtnisstörung 91 Gedächtnisverlust 86 Gefühl 113 Gegenkonditionierung 99, 240 Gegenübertragung 206 – Analyse 238 Gehirn – Entwicklung 149 – Interaktion mit Verhalten 81 – Organisationsprinzip 82 – psychische Funktionen 82ff Generalisierbarkeit 77 Generationenvertrag 180 Genetik – Motivation 124 – Primäremotion 113 – sekundäre Motive 128 – Verhalten 81, 89 Genfer Ärztegelöbnis 198 Geschlecht – biologisches 166 – psychologisches 166 Geschlechtsidentät 166
Geschlechtsrollenerwerb 166 Geschlechtsumwandlung 257 Gesellschaft 8 – Differenzierung 188 – Emotionen 114 – Entwicklungsstadium 174 – Gesundheit 8 – Krankheit 8 – lebenslange Entwicklung 163 – Modernisierung 188 – soziale Differenzierung 182 – Sozialisation 159 – vertikale Mobilität 187 Gesichter-Namen-Strategie 104 Gesprächspsychotherapie 242 – nicht-direktive 242 – Überblick 245 – Wirksamkeit 244 Gesunde-Städte-Bewegung 287 Gesundheit – Arbeitslosigkeit 42 – berufliche Belastung 192 – biologisch-medizinische Vorstellung 9 – Erwerbstätigkeit 42 – Gefährdung im Jugendalter 168 – kritische Lebensereignisse 165 – Protektion 274 – Resilienz 274 – Salutogenese 275 – soziale Belastung 192 – sozialer Status 189 – subjektive 4f – Subjektivität 4 – Wert 274 – Wertschätzung 191 Gesundheit und Krankheit, Kontinuum 3 Gesundheitsbegriff, Subjektivität 3 Gesundheitsberatung 233f Gesundheitsdefinition, WHO 3 Gesundheitserziehung 285 Gesundheitsförderung 285ff – Betriebe 286 – Kommune 287 – personale 285 – Praxis 287 – Schulen 286 – strukturelle 285 Gesundheitskampagne 285 Gesundheitsmodell 15 Gesundheitssystem 10, 263, 267, 268 – Familienstrukturen 181 Gesundheitsverhalten – Gesundheitserziehung 285 – Prävention 275 – soziale Schicht 41 – sozialpsychologische Modelle 38 Gesundheitswesen – Patientenvertreter 291
301
– Qualitätsmanagement 269f – Veränderungen 270 Gewöhnung 25 Gleichaltrige – Abweichungs-IQ 108 – Bedeutung 169 – Interaktion 160f Gleichgewichtsprinzip 154 Globalität (Kausalattribution) 131 Gratifikationskrisen, berufliche 169, 192 Grundzüge, Klassifikationssysteme 7 Gruppendiskussion 76 Gruppengespräch 207 Gruppentherapie 244 Gültigkeit 57
H Habituation 25, 97 Halluzinationen 246 Haloeffekt 216, 228 Hamburg-Wechsler-Intelligenztest 56, 68, 110 Handlungs-IQ 110 Handlungskontrolle, willentliche 127 Handlungssystem 6 Hardiness 21 Härtefehler 216 Häufigkeitsverteilung 71 – Statistik 71 Hausbesuch 208 Havighurst 162 HAWIE (Hamburg-WechslerIntelligenztest für Erwachsene) 56, 68, 110 HAWIK (Hamburg-WechslerIntelligenztest für Kinder) 110 Hawthorne-Effekt 62, 66 Health-Belief-Modell 276 Hebb-Synapse 88 Heilkunde – alternative 265 – komplementäre 265 Helfersyndrom 199 Hemisphäre – dominante linke 87 – dominante rechte 87 – Spezialisierung 86 Hemmung – proaktive 103 – retroaktive 103 – reziproke 99 Henry-Stressmodell 20 – Emotion 20 – Modelle 20 Heuristiken (Problemlösen) 106 Hilfesuchen, Stadien 263 Hilfsangebote, psychosoziale 282
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Sachverzeichnis
Hippocampus – Basalganglien 83 – Emotion 115 – Gedächtnis 91 Hippokratischer Eid 196 Hirnhälfte – dominante linke 87 – dominante rechte 87 – Spezialisierung 86 Hirnrinde 84 Hirnstamm 83 Homosexualität 257 Homunculus 85 Hormon – adrenocorticotropes 19 – thyreotropes 19 Hörsinn, Entwicklung 151 Hospitalismus 153f – psychischer 153 Hospiz 258 Hufeland 153 Humangenetik 253 Hunger – Appetenzkonflikt 129 – Neurobiologie 130 – primäres Motiv 127 – willentliche Handlung 127 Hyperaktivitätsstörung 103 Hypersomnie 28 Hypnose, Psychoanalyse 238 Hypochonder 266 HypophysenvorderlappenNebennierenrinden-System 19 Hyposomnie 28 Hypothalamus – Emotion 115 – Hunger 130 – innere Uhr 29 – Selbststimulierung 96 – Verhalten 83 Hypothese 47f, 222 – deterministische 47f – Fehler 73 – individualspezifische 21 – probabilistische 47f – reizspezifische 21 – soziogene 41 – stimulusspezifische 21 Hypothesenbildung 47ff, 222 – Untersuchung 47
I ICD-10 7 – WHO 7 Ich (Strukturmodell) 35, 140 ICSI (intrazytoplasmatische Spermatozoeninjektion) 255 Ideal-Selbst 167 Idealbild 145 Idealnorm 9, 38
Identität – Entwicklung 167f – persönliche 167 – sexuelle 166 – soziale 167 Imagery 104 Immunsystem – klassisches Konditionieren 101 – Stress 20 – Transplantation 252 – Trauer 258 In-vitro-Fertilisation 255 Indikation 223 – prognostische 223 – selektive 223 Indikationsdiagnostik 223 Individualdaten 65 Individualisierung 188 Induktion 48 Industrialisierung 188 Infantilisierung 208 Infertilität 254 Informationsaufnahme, selektive 105 Informationsbewertung 105 Informationsgesellschaft 188 Informationsgewinnung 203 Informationsverarbeitung 105 Inhaltsanalyse 75 Inhaltsvalidität 57 Instinkt 123 Instinkthandlung 123 Intelligenz 107ff – allgemeine 110 – Alter 170 – Definition 107 – Entwicklung 111 – Eysenck-Modell der Persönlichkeit 138 – fluide 110 – g-Faktor 110 – Generalfaktor 110 – Genetikeinfluss 90 – kristalline 110 – Mehrfaktorentheorie 110 – Modelle 109 – s-Faktor 110 Intelligenz-Struktur-Test 56, 68, 110 Intelligenzquotient 107 – Abweichungsintelligenzquotient 108 – klassischer 107 Intelligenztest 68, 110 – HAWIE 56, 68, 110 – HAWIK 110 – IST 111 – Leistungsprognose 111 Intensivmedizin 249 Interaktion – arztzentrierte 205
– asymmetrische 205 – Erziehungsstil 159 – Familie 160 – Familienmitglieder 207 – Gehirn und Verhalten 81 – non-direktiv 205 – Schule 160 – symmetrische 205 – Vorschule 160 Interaktionismus 139 Interaktionskontingenz 205 Interaktionsmuster, problematische 206 Interferenzneigung 144 Interferenzschluss 72 Interferenzstatistik 71f – Statistik 72 Intergenerationsmobilität 187 Interozeption 4 Interpretation – Daten 70 – kognitives Modell 16 Interrollenkonflikt 199 Interstimulusintervall 92 Intervallskalenniveau 51f Intervallverstärkung 95 Intervention 232 – Formen 233 – Krebserkrankung 253 Interview 66 – qualitatives 67 – quantitatives 67 – standardisiertes 67 – strukturiertes 67 – teilstandardisiertes 67 – unstandardisiertes 67 – unstrukturiertes 67 Interviewverfahren, standardisiertes 225 Intimdistanz 203 Intimsphäre 219 Intragenerationenmobilität 187 Intrarollenkonflikt 199 Introversion 138 Invarianz 156 Inzidenz 177 Isolation, soziale 40 Isolierung 36 Itemanalyse 54 Itemselektion 54 IVF (In-vitro-Fertilisation) 255
J Ja-Sage-Tendenz 69 Jacobson-Muskelrelaxation James-Lange-Theorie 117 Jet-lag 30
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Sachverzeichnis
K K-Komplex 26 Kaspar-Hauser-Versuch 148 Kassenärztliche Bundesvereinigung 196 Kassenärztliche Vereinigung 196 Kastrationsangst 141 Katalogfrage 68 Katamnese 226 Katecholamine 19 Katharsis 238 Katharsishypothese (Aggression) 119 Kausalattribution – Dimensionen 130 – Einfluss 131 – Erfolg 130 – Misserfolg 131 Kindchenschema 125 Kinderlosigkeit, ungewollte 255 Klassenbegriff – Marx 182 – Weber 183 Klassifikation – dichotome 3 – Klassifikationssysteme 225 – Krankheit 7 – Merkmale 50 – Störung 7 – Wissenssystem 7 Klassifikationssysteme 225 – psychische Störungen 236 Klassifizierung, Persönlichkeitsstörung 143 Kleinhirn 83 Klimakterium 170 Klinikbezug, Datengewinnung 70 Klumpenstichprobe 64 Kognition 79, 101f Kohärenzsinn 275 Kohorteneffekt 63, 148 Kohortenstudie 63 – prospektive 63 – retrospektive 63 Kollektivitätsorientierung 198 Kollusion 207 Kommunikation 202 – Arzt-Patient 193, 202 – asymmetrische 205 – besondere Anforderungen 210 – Beziehungsebene 206 – direktive 205, 218 – Formen 203 – fremdsprachige Patienten 209 – Intensivstation 249 – Kontingenz 205 – mediale 204 – non-direktive 205, 218 – nonverbale 203 – Notfallsituation 251
– paradoxe 204 – persönliche 204 – pseudo-kontingente 205 – Psychotherapie 235 – Schockpatient 251 – Setting 207f – soziokultureller Rahmen 208 – Sprachcode 208 – Störungen 211 – Strukturen 205 – symmetrische 205 – Transparenz 206 – verbale 203 Komorbidität, Panikstörung 119 Kompetenz – Alter 172 – fachliche 197 – soziale 161 Komponenten, Schmerz 31 Konditionieren – klassisches 15, 92f – operantes 15, 94ff Konditionierung – Furcht 93 – höherer Ordnung 93 – Immunfunktionen 101 – klassische 240 – Little Albert 94 – operante 240 – Sucht 134 Konfabulation 112 Konfidenzintervall 57 Konflikt 129 – Motivation 129 – Psychoanalyse 142 – Psychodynamik 237 – psychosoziale Entwicklung 164 – Rollen 169 – Strukturmodell 140 – unbewusster 36, 237 – verdrängter 37 Konflikttypologie 128 Konformitätsdruck 168 Konfrontationstherapie 22, 99 Kongruenz 242 Konsistenz, innere 57 Konsistenzanalyse 56 Konstrukt, hypothetisches 50, 108 Konstruktvalidität 57 Kontingenz 95, 205 – asymmetrische 205 – pseudo-kontingente 205 – reaktive 205 – wechselseitige 205 Kontraktionsgesetz 181 Kontrastfehler 216 Kontrollbedürfnis 146 Kontrolle – Depression 122 – elterliche 160
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Kontrollgruppe 60 Kontrollüberzeugung 145 Konversion 36 Konversionsstörung 5, 36 Konzentrationstest 68 Konzeptbildung 104 Kooperation 203, 210 – Ärzte im Gesundheitssystem 268 – autonome 210 – Beratung 233 – compliante 210 – heteronome 210 – non-compliante 210 – patientenorientierte 210 – Störungen 211 – technikorientierte 210 Kopfschmerzen 33 – Stress 33 Körperkonzept 166 – instrumentelles Verständnis 191 Körpervorgänge, Wahrnehmung 4 Korrelationsanalyse 74 – Testgütekriterien 74 Korrelationskoeffizient 56, 74f – Kausalität 74 – negativer 74 – positiver 74 – Ursache-Wirkungs-Beziehung 74 Korsakow-Syndrom 111 Kovarianz 74 Krankengeld 10 Krankengeschichte 3 Krankenpflege 292 Krankenrolle 193, 199f, 263 Krankenversicherung 11 – gesetzliche 11 – Gesundheitssystem 268 – private 11 Krankheit 3 – Abwehrmechanismen 37 – Attributionsstil 147 – biologisch-medizinische Vorstellung 9 – chronische 3, 181, 280 – Locus of Control 146 – Prävention 273 – psychische 9 – Risikofaktoren 278 – Salutogenese 275 – soziale Schicht 41 – sozialer Gradient 190 – subjektive 4f – Veränderung des Spektrums 179 Krankheitsanamnese 217 Krankheitsbewältigung 201 – Coping-Modell 252 – Krebs 252 Krankheitseinfluss – Angst 5 – Emotion 5 – Kognition 5
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Sachverzeichnis
Krankheitseinsicht, mangelnde 264 Krankheitsgewinn – primärer 37, 200 – sekundärer 37, 201 – Verhaltenstherapie 37 Krankheitsmodell 15 – Modelle 15 Krankheitstheorie – implizite 5 – subjektive 201 Krankheitsverhalten 262f – soziale Schicht 41 – sozialpsychologische Modelle 38 Krankheitsverständnis, kindliches 161 Krankschreibung 10 Kreativität 108 Krebsdiagnose 252 Krebspersönlichkeit 253 Krebsvorsorge 272 Kreuztabelle 74 Kreuzvalidierung 77 Kriterien, Untersuchung 47, 54 Kriteriumsvalidität 57 Kritik, Klassifikationssysteme 7 Kulturunterschiede 209 Kurzzeitgedächtnis 103
L Labeling 7 Labeling-Theorie 10 Lächeln, soziales 152 Lachen 152 Laienätiologie 263 Laiensystem 264 Laienwissen 201 Laienzuweisungssystem 264 Lallstadium 156 Land-Stadt-Wanderung 179 Längsschnittstudie 62f, 147 – Untersuchung 62 Langzeitgedächtnis 85, 103 Läsionsstudie 82 Lateralisierung – Emotion 115 – Hirnfunktionen 86 Lazarus-Stressmodell 21 – Modelle 21 Lebensereignis, kritisches 163 Lebenserwartung, durchschnittliche 43, 174, 189 Lebensqualität – Ergebnisqualität 269 – gesundheitsbezogene 5 – Patientenschulung 235 Lebensstil, gesundheitsbewusster 274 Leerlaufhandlung 125
Leib-Seele-Problem 81 Leistungsangebot, monopolartiges 195 Leistungsmotiv 129 Leistungsmotivation 129 – Entwicklung 157 Leistungstest 68 Lernen 79, 91ff – am Modell 96 – durch Eigensteuerung 97 – durch Einsicht 97 – Entwicklungspsychologie 148 – lebenslanges 111 – neuronale Plastizität 87f – respondentes 15 Lernerfahrung, Krankheit 17 Lernformen 92 – kognitive 97 – nicht assoziatives 98 Lerntheorie 239 – Aggression 120 – Persönlichkeitsmodell 142 – Schmerz 32 – soziale 96 – Verhalten 16 Lerntransfer – negativer 97 – positiver 97 Letalität 177 Lewin 129 Lexikon, mentales 107 Libido 34 Likert-Skala 52 Loci-Methode 104 Locus of Control 145 Lohnfortzahlungsgesetz 10 Lokation (Kausalattribution) 131 Lorenz 124 Löschung – Habituation 98 – klassisches Konditionieren 93 – operantes Konditionieren 95 Lügendetektor 116
M Magengeschwür 20 – Stress 20 Magersucht 43, 232 Magnetresonanztomographie, funktionale 82 Major Depression 121 Malthus-Gesetz 179 Marx-Klassenbegriff 182 Maslow-Bedürfnishierarchie 128 Maslow-Bedürfnistherapie 242 Masochismus 257 Matched Samples 62 Maturation 148 Mechanismus – angeborener auslösender 124
– neuronale Plastizität 88 Median 51 Medien, Entwicklungseinfluss 161 Medikamente, negative Verstärkung 101 Medikamentenanamnese 217 Medizin – evidenzbasierte 77, 270 – Klassifikationen 6 Mehrfaktorentheorie der Intelligenz 109 Meiden-Konflikt 129 Menarche 165 Menopause 170 Merkfähigkeit 111 Merkmale – Krankenrolle 200 – Professionalisierung 195 Merkmalsausprägung 51 Messgenauigkeit 56 Messung 50 – Emotion 115 – Leistungsmotiv 131 – projektiver Test 69 – psychophysiologischer Prozesse 69 – Schmerz 32 – Stressgehalt kritischer Lebensereignisse 164 – Urteilsqualität 226 Messverfahren, psychophysiologische Prozesse 70 Metaanalyse 244 Metakommunikation 204 Methoden – Datengewinnung 66 – Demographie 174 – Entwicklungspsychologie 148 – Erblichkeitsschätzung 90 – Lokalisation von Hirnfunktionen 81 – Qualitätskontrolle 226 Methodik – Forschung 47f – Untersuchung 47 Methodik (Untersuchungen) 47 Midlife-Crisis 170 Migration 177 Mikrozensus 173 Mildeeffekt 216 Minnesota-MultiphasicPersonality-Inventory 69 Misserfolg – Kausalattribution 131 – Leistungsmotivation 130 Misserfolgsmotivierte 130ff Mitarbeit (Patient) 210 Mittel – arithmetisches 51 – geometrisches 51 Mittelwert 71
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Sachverzeichnis
MMPI (Minnesota-MultiphasicPersonality-Inventory) 69 Mnemo-Techniken 104 Mobilität – horizontale 177 – soziale 187 – vertikale 177, 187 Mobilitätsziffer 178 Modalwert 51 Modell – behavioristisches 15 – biopsychologisches 17 – biopsychosoziales 9, 31 – interaktionistisches 136 – kognitiv-behaviorales 15f – kognitives 15f – Kommunikation 204 – lerntheoretisches 15 – statistisches (Persönlichkeit) 136 – topographisches 34f Modell-Lernen 96 – Aggression 120 – Geschlechtsrollenerwerb 167 Modelle – Altern 171 – biopsychologisches Modell 17 – Drei-Speicher-Modell 103 – Erwartung-x-Wert-Modell 126 – Gesundheitsverhalten 275 – Health-Belief-Modell 276 – Intelligenz 109 – Moralentwicklung 157 – Persönlichkeit 137f – Piaget-Modell 154 – psychodynamische 34f – Risiko-Wahl-Modell 133 – Rubikon-Modell 127 – SORKC-Modell 99 – soziale Vergleichsprozesse 277 – sozialpsychologische 38 – soziologische 40ff – Suchtmodell 134 – Thurstone-Intelligenzmodell 110 – Zwei-Faktoren-Modell (Intelligenz) 109 Modelllernen 15, 96, 241 Modus 51 Mongolismus 259 Moral – autonome 157 – Entwicklung 157 – heteronome 157 – konventionelle 158 – präkonventionelle 158 – prinzipiengeleitete 158 Moralentwicklung 158 – Kohlberg-Modell 158 Morbidität 177 – psychosoziale Belastung 191 – Schichtabhängigkeit 190 Mortalität 177
– psychosoziale Belastung 191 – Schichtabhängigkeit 190 Motiv 123 – Erlernen 128 – homöostatisches 127 – Leistung 130 – primäres 126 – sekundäres 127 – Sucht 134 Motivation 79, 122ff – Leistung 130 – neurobiologische Grundlagen 129 – Patientenschulung 235 – Sucht 133 – Verhaltensänderung 277, 288 Motivationshierarchie 128 Motivationskonflikt 128 Motivationspsychologie 123 Motivationstheorie 123 Motorik, Entwicklung 151 Multikausalität 278 Multimorbidität 8 Muskelrelaxation, progressive 33
N Nachahmungslernen 96 Nachfrage 265 – angebotsinduzierte 266 Narkolepsie 28f – Emotion 29 Natalität 176 Navajo-Indianer, Krankheit 9 Nebennierenmark-System 19 Negativierung (EEG) 24 Nein-Sage-Tendenz 69 NEO-FFI (Neo-Fünf-FaktorenInventar) 69, 139 Neokortex 84 Nettoreproduktionsziffer 176 Neuropsychologie 18, 81 Neurose 37 – Angststörung 118 Neurotizismus 137 Neurotransmitter 88f – Sensation Seeking 145 Neutralität, affektive 197, 219 Nominalskala, Klassifikation 50 Nominalskalenniveau 50ff Non-Compliance – Häufigkeit 200 – intelligente 210 Non-Konformität 9 Noradrenalin 19 – Sensation Seeking 145 Norepinephrin 19 Normalverteilung 55f Normen 38, 54 – Arztrolle 197 – Entwicklungspsychologie 147 – Gesundheit 9
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– gesundheitsbezogene 275 – Internalisierung 158 – Krankheit 9 – motorische Entwicklung 152 – Sexualität 256 – soziale 9 – statistische 9 – Stressoren 38 Notfallmedizin 250 Nozizeption 4 NREM-Schlaf 26 Nucleus – accumbens 96 – suprachiasmaticus 29 Nullhypothese 47ff, 73 Nullkorrelation 74 Nullpunkt, absoluter 51 Nuptialität 176
O Oberflächenschmerz 30 Objektagnosie 86 Objektpermanenz 155 Odd-ball-Paradigma 24 Odds-Ratio 278 Ödipuskomplex 141 Ökonomie, Test 58 Okzipitallappen 85 Onkologie 252 Ontogenese 147 Operationalisierung 47, 49ff – Beobachtung 49 – emotionale Belastung 65 – Messung 49 – Untersuchung 49 Operationsangst 122 Optimismus 4, 39 Ordinalskalenniveau 51f Organbefund, objektiver 5 Organisation, berufspolitische 195 Orientierungsreaktion 25 – Aufmerksamkeit 25 Over-Utilization 266 Overachiever 111
P P300 24 Paartherapie 207, 244 Paarvergleich 53 Panikstörung 119 Parallelisierung 62 Paralleltest-Reliabilität 56 Parasomnie 29 Parasympathikus, Emotion 115 Parietallappen 85 Partnertherapie 244 Pathogenese 3, 233 Patient – aktiver 210
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Sachverzeichnis
– Arzt-Patient-Beziehung 195 – Compliance 210 – Erwartungen 215 – Erwartungsenttäuschung 211 – fremdsprachiger 209 – Gesundheitssystem 263 – Intensivstation 249 – Kooperation 200 – Krankenrolle 193, 199 – Notfallsituation 251 – passiv-kooperierender 210 – schwieriger 211 – Übertragung 206 Patientenberatung 291 Patientenkarriere 201, 262f, 267f Patientenperspektive – Erstkontakt 215 – psychosoziale Aspekte 218 Patientenrechte 291 Patientenrolle 193, 199f Patientenschulung 233f – Reha-Klinik 235 Patientenvertreter 291 Patientenzufriedenheit 269f Pawlow 92 Peer-Group 159f – Bedeutung 167 – Gesundheitsgefährdung im Jugendalter 168 Peer-Normen 277 Peer-Review 270 Penisneid 141 Pensionierung 170 Performanz, Verhalten 96 Periode – Entwicklung 163 – kritische 148 Perseveration 84 Personalschlüssel 269 Persönlichkeit 79, 134f – antisoziale 143 – Definition 134 – dependente 143 – Dimensionen 138 – Eigenschaftstheorie 136 – Entwicklung 141 – Fehlentwicklungen 142 – Genetikeinfluss 90 – Gesundheitsgefährdung im Jugendalter 169 – histrionische 143 – narzisstische 143 – paranoide 142 – schizoide 142 – schizotype 143 – selbstunsichere 143 – statistische Modell 137 – Strukturmodell 140 – topographisches Modell 34f – zwanghafte 143
Persönlichkeits-Faktoren-Test, 16-Persönlichkeits-Faktoren-Test 68 Persönlichkeitskonstrukt 144 Persönlichkeitsmodell – Catell 138 – Eysenck 138 – lerntheoretisches 141 – Psychoanalyse 140ff Persönlichkeitspsychologie 135 Persönlichkeitsstörung 142 – Psychoanalyse 141 Persönlichkeitstest 68 – Dissimulation 69 – Projektion 69 – Simulation 69 Persönlichkeitstests, Fehler 69 Persönlichkeitstheorie, psychodynamische 34 PET (Positronenemissionstomographie) 82 Pfadanalyse 74 Pflege 292 Pflegeanamnese 292 Pflegebedürftigkeit 292 Pflegeversicherung 292 Pflegewissenschaft 292 Phantomschmerz 30 Phobie 118 – Behandlung 99 – Lerntheorie 98 – Merkmale 236 – Modelllernen 241 – soziale 119 Phylogenese 147 Piaget 154 Piaget-Modell 155 Planmäßigkeit 60 Planung, Untersuchung 59 Plastizität, neuronale 87f Plateauphase 255 Platzierung, selektive 90 Positivierung (EEG) 24 Positronenemissionstomographie 82 Potenziale, evozierte 23 Powertest 68 Prädiktionswert – negativer 59 – positiver 59 – Wahrscheinlichkeit 59 Prädispositionismus 137 Prägung 124 Pränataldiagnostik 254 Prävalenz 62, 177 Prävention 272ff – Förderung 291 – Gesundheitsberatung 234 – Gesundheitserziehung 285 – Patientenschulung 234 – primäre 274f
– sekundäre 277ff – tertiäre 280f, 289 Präventionsmaßnahmen – Gesundheitsverhalten 40 – Krankheitsverhalten 40 Praxis, vernetzte 292 Premack-Prinzip 94 Preparedness 98 Primacy-Effect 216 Primärarzt 265 – Funktion 267 Primärdaten 65 Primäremotion 113 Probandengruppe 60 Problem – Definition 106f – Leib-Seele- 81 Problembewusstsein 288 Problemlösen 106 – Intelligenz 108 – kognitive Entwicklung 154 Problemraum 106 Produkt-Moment-Korrelation 75 Profession 195 Professionalisierung Arztberuf 193ff Projektion 36, 216 Prompting 95 Prophezeiung, sich selbst erfüllende 106 Propriozeption 4 Prosodie 85 Prosopagnosie 86 Protektion 274 Protestphase, Sterben 257 Prozentrang 56 Prozess – diagnostischer 224f – psychophysiologischer 69 Prozessdiagnostik 223 Prozessforschung 226 Prozessqualität 227, 269 Psychoanalyse 34f, 237ff – Entwicklungen 239 – Gegenübertragung 206 – Krankheitsgewinn 37 – Persönlichkeitsentwicklung 141 – Persönlichkeitsmodell 140ff – projektive Tests 69 – Überblick 245 – Übertragung 206 – Wirksamkeit 244 Psychodynamik 34f, 236 – Psychotherapie 237 Psychoendokrinologie 18 Psychologie – differenzielle 89 – Gesundheitspsychologie 275 – humanistische 242 – kognitive 102f – physiologische 18
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Psychoneuroimmunologie 18, 20 Psychophysiologie 18 Psychotherapeut, psychologischer 236 Psychotherapeutengesetz 236 Psychotherapie 232, 235 – Diagnostik 223 – Evaluation 244 – Indikationsdiagnostik 223 – klientenzentrierte 242 – psychodynamisch orientierte 237 – Wirksamkeit 244 Psychotizismus 138 Pubertät 165 Public Health 245
Q Qualitätskontrolle 225f, 270 Qualitätsmanagement, Gesundheitswesen 269f Qualitätssicherung 269f Qualitätszirkel 227, 270 Quasiexperiment 61 Querschnittstudie 62, 147 – Untersuchung 62 Quote 176 Quotenstichprobe 64 Quotenverstärkung 95
R Randgruppe, soziale 183 Randomisieren, Normalverteilung 62 Randomisierung 62 Rangkorrelation 75 Rangskala 51 Rangskalenniveau 52 Rangvergleich 53 Ratingskala 52 Rationalisierung 36 Reaktanz 211, 286 Reaktion – konditionierte 92 – unkonditionierte 92 Reaktionsbildung 36 Reaktionsnorm 90 Reaktionszyklus, sexueller 255 Real-Selbst 167 Realangst 117 Realismus 138 Reasoning 110 Recency-Effect 216 Reflex, angeborener unbedingter 92 Refraktärphase 256 Reframing 243 Regeneration – Hirnschädigung 87 – neuronale Plastizität 88 Regression 208 – Intensivstation 249
– Psychoanalyse 140 Regressionsanalyse 74 Rehabilitation 3f, 280, 289 – Fünf-Phasen-Modell 289 – Konzepte 289 – Patientenschulung 235 – Schlaganfall 281 – Ziel 289 Rehabilitationsträger 289 Reifung (Entwicklungspsychologie) 148 Reihenfolgeneffekt 62 Reiz – Gestaltveränderung 105 – Informationsaufnahme 105 – irrelevanter 144 – konditionierter 92 – neutraler 92 Reizdiskrimination 93, 95 Reizgeneralisation 93ff Reizüberflutung 100 Reliabilität 56 – mangelnde 57 Reliabilitätskoeffizient 57 REM-Rebound 28 REM-Schlaf 26 – Theta-Welle 26 – Träumen 26 Rentensystem 180 Rentenversicherung 11 – gesetzliche 11 Replizierbarkeit 60 Repräsentativität 64 Repression – Angst 118 – Krebs 252 Reproduktionsmedizin 254 Reproduktionsphase 180 Resilienz 4, 274 Resistenzphase (Adaptationssyndrom) 20 Restriktion, Arzneimittelbudget 267 Retention 104 Retest-Reliabilität 56, 75 Retikulärformation 83 Rezidiv 3 – Krankheit 3 Rezidivrisiko 281 Rhythmus, zirkadianer 29 Risiko – absolutes 63 – relatives 63 – vorgeburtliches 150 Risiko-Wahl-Modell 133 Risikofaktoren – Aufklärung 65 – Bedeutung 278 – Beratung 233 – Gesundheitsförderung 286 – Gesundheitsgefährdung im Jugendalter 168
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– individuelle 39 – kindliche Entwicklung 150 – Krankheit 39 – pathologisches Altern 172 – psychosoziale 151 – soziale 40, 280 Risikofaktorenforschung 63 Risikogeburt 150 Risikokind 150 Risikoverhalten 278 – Gesundheitsförderung 286 Rod-Frame-Test 144 Rogers-Gesprächstherapie 242 Rolle – Arzt 193, 197 – erworbene 197 – Konflikte 38, 199 – Kranker 193, 199f, 263 – soziale 9, 38, 197 – zugeschriebene 197 Rollenabweichung 199 Rollendistanz 199 Rollenidentifikation 38, 199 Rollenkonflikt 38, 199 – Erwachsenenalter 169 Rollenkonformität 199 Rollenverlust 38 Rollenverpflichtung 200 Rorschach-Test 69 Rosenthal-Effekt 61 Rubikon-Modell 126 Rückbildungsphase 256 Rückfall siehe Rezidiv Rückfallrisiko 281
S s-Faktor 110 Sachleistungsprinzip 268 Sadismus 257 Salutogenese 274 Sättigungszentrum 130 Säuglingssterblichkeit 177 Scheidungskinder 160 Scheinkorrelation 75 Scheitellappen 85 Schicht, soziale 41, 182 – Laienzuweisungssystem 264 – Selbstmedikation 263 Schichtenmodell Bundesrepublik Deutschland 184f Schichtindizes 185 Schizophrenie 204, 246 – Genetikeinfluss 90 Schlaf 25ff – Alpha-Welle 26 – Alter 27 – Delta-Welle 26 – paradoxer 26 – Theta-Welle 26 Schlaf-Apnoe-Syndrom 28
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Sachverzeichnis
Schlaf-Wach-Rhythmus 29f Schlafarchitektur 27 Schlafattacke 29 Schläfenlappen 85 Schlafentzug 27 – Schlafphasen 28 – selektiver 28 – totaler 27 – Wahrnehmung 27 Schlaffunktion 27 – Homöostase 27 – restaurative Theorie 27 – zirkadiane Theorie 27 Schlafphasen 26f Schlafspindel 26 Schlafstörung 28 Schlafwandeln 29 Schlüsselreiz 124 Schlussfolgerung 226 – additive 226 – lineare 226 Schmerz 30 – akuter 30 – chronischer 30 – Emotion 31f – Kognition 31f – Modelle 31 Schmerzempfinden 29, 32 – Subjektivität 32 Schmerzgedächtnis 30 Schmerztherapie – kognitiv-verhaltenstherapeutische 33 – negative Verstärkung 101 Schmerztoleranz 32 Schmerzverarbeitung 31 Schock 251 Schuldgefühl, Transplantation 252 Schutzfaktoren – individuelle 39 – Krankheit 39 – Primärprävention 274 – soziale 40 Schwangerschaft, Gesellschaftseinflüsse 150 Schwangerschaftsabbruch 198 Schwierigkeitsindex 54 Screeningtest 59 Sehsinn, Entwicklung 151 Sekundärdaten 65 Selbstbehandlung 263 Selbstbestimmung, Patientenschulung 235 Selbstbeurteilung 69f – Leistung 157 Selbstbewertungsaffekt – Attributionen 132 – Leistungsmotivation 130 Selbstbild 145 Selbsterhaltungstrieb 34 Selbsterkenntnis 167
Selbsthilfegruppe 253, 282, 290 – formelle 291 – informelle 291 – Sterben 258 Selbsthilfeorganisation 291 Selbstinstruktionstraining 241 Selbstkonzept 145 – Entwicklung 152 Selbstmedikation 262 Selbstreizung, intrakranielle 96 Selbstsicherheitstraining 288 Selbststimulierung 96 Selbstunsicherheit 144 Selbstverwirklichung 242 Selbstwirksamkeit 4 Selbstwirksamkeitserwartung 39 – Krankheit 39 Self-Efficacy 39 Seligman 121 Selye-Stressmodell 19 – Modelle 19 Sensation Seeking 144 Sensation Seeking Scale 144 Sensibilisierung 98 Sensitivität 58 – Wahrscheinlichkeit 58 Sensitization – Angst 118 – Krebs 252 Setting, Kommunikation 207f Sexualhormone 255 Sexualmedizin 255f Sexualtherapie 257 Sexualtrieb 34 Shaping 95 Short-Form-36 Health Survey 6 Signallernen 92 Signifikanz, statistische 72 Signifikanzniveau 72 Signifikanztest, statistischer 73 Simulation 201 Situation, besondere 248f Situationismus (Persönlichkeitstheorie) 135, 139 Skalen, Transformation 51 Skalenniveau 50ff 86 – Anamnese 53 Skalierungsmethode 52 SKID (strukturiertes klinisches Interview) 67 Skinnerbox 94 Slow-Wave-Sleep 26 Social Readjustment Scale 164 Social Support 40 Somatisierungsstörung 5, 267 Somnambolismus 29 SORCK-Schema 99, 217 Sozialberatung 282 Sozialisation 147 – berufliche 197f – geschlechtsspezifische 167
– Gesellschaftseinfluss 159 – primäre 147, 151 – Schichtzugehörigkeit 185 – sekundäre 147 Sozialsystem 10 Soziogramm 53 Soziometrie 53, 76 Soziotherapie 290 Spannungskopfschmerz, Biofeedback 101 Spearman-Modell (Intelligenz) 109 Speedtest 68 Spezialisierung 196 Spezifität 59 – funktionale 197 – Wahrscheinlichkeit 59 Spielsucht 101 Spindel, b-Spindel 26 Spitz 153 Split-half-Reliabilität 57 Spontan-EEG 22f Sprachcode 208 – elaborierter 208 – restringierter 208 Sprache 106 – Entwicklung 156 – linke Hemisphäre 87 Sprachproduktion 107 Sprachverständnis 85, 107 Sprouting 88 Stabilität – emotionale 138 – Kausalattribution 131 – transsituationale 136 Standardabweichung 51, 55, 72 Standardisierung 61 Standardmessfehler 57 – Standardabweichung 57 Standardnorm 56 Standardnormalverteilung 56 State 135 – Angst 117 Statistik, deskriptive 71 Status – erworbener 186 – zugeschriebener 186 Statuserwerb 169 Statusinkonsistenz 186 Statuskonsistenz 186 Statusmerkmal, objektives 186 Sterbehilfe 259 – aktive 259 – indirekte 259 – passive 259 Sterben 257 Sterbetafel 173 Sterbeziffer – allgemeine 176 – altersspezifische 174, 176 – krankheitsspezifische 177 Sterblichkeit, perinatale 176
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Sachverzeichnis
Stereotypen 105 Stereotypie 216 Stichprobe 64 – abhängige 73 – Merkmale 64 – nicht-probabilistische 64 – probabilistische 64 – unabhängige 73 Stigma, psychische Krankheit 10 Stigmatisierung 264 Stimmung 113 Stimulus, unkonditionierter 92 Stirnlappen 84 Störung – neurotische 37 – psychische 36 – sexuelle 256 – somatoforme 5, 267 Störung, psychische – Frontallappen 84 – Genetikeinfluss 91 – Klassifikation 236f – Okzipitallappen 86 – Parietallappen 85 – Temporallappen 85 Strengefehler 216 Stress 18 – akuter 19 – Berufsleben 170 – chronischer 19 – Gewöhnung 20 – Homöostase 18 – Hypothalamus 19 – Immunsystem 20 – Intensivmedizin 250 – kritische Lebensereignisse 164 – negative Auswirkungen 20 – Notfallmedizin 251 – psychosozialer 164 – Sympathikus 19 – Transplantation 251 Stress-Diathese-Modell 17, 22 – Genetik 22 – Modelle 22 Stressbewältigung 22 Stresshormon 19 Stressimpfungstraining 242 Stressmanagement 289 Stressmodell – Angst 20 – Ärger 20 – Depression 20 – psychoendokrines 20 Stressnerv 19 Stressoren 19 – physische 19 – psychische 19f – psychosoziale 164 – soziale Rolle 38 Stressreaktion – interindividuelle Unterschiede 21
– pathologische 21 – physiologische 19 – psychologische 21 Stresssituation, Bewertung 21 Stresszentrum 19 Streuung 72 – Daten 72 Stroop-Test 145 Strukturmodell 140 – Konflikt 35 – Persönlichkeit 35 Strukturmodell der Persönlichkeit, Modelle 35 Strukturqualität 269 Studiendesign 60 Sublimierung 34, 36 Sucht 132f – Motivation 132 – multifaktorielles Modell 134 – sekundäres Motiv 134 Suchtprävention 286 Suggestivfrage 68 Suizid, Jugendalter 167 Supervision 270 Sympathikus, Emotion 115 Symptombildung, Konflikt 37 Symptomverschiebung 240 Symptomwahrnehmung 263 Syndrom – Korsakow- 112 – präsuizidales 168 System – aufsteigendes retikuläres aktivierendes 24, 83, 138 – dopaminerges 89 – gesellschaftliches 9 – limbisches 83, 115, 117, 138 – mesolimbisches dopaminerges 96 – multiaxiales 8 – serotonerges 89 – soziales 9 Systemtheorie 243
T T-Test 73 Tagesschwankung – Aufmerksamkeit 29 – Schmerzschwelle 29 – Schmerzwahrnehmung 29 TAT (Thematischer Apperzeptionstest) 69 Team, reflektierendes 243 Temperament 135 Temporallappen 85 – Gedächtnis 91 Tendenz, zentrale 217 Test – Eichung 54 – Merkmale 54 – Normen 54
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– Normierung 54ff – Objektivität 56 – Ökonomie 58 – projektiver 69 – psychologischer 54 Testgütekriterien 56f Testhalbierungsreliabilität 57 Testkonstruktion 54 Testnormierung 54ff Tests, Signifikanz 73 Testverfahren, psychologisches 68 Testverlängerung 57 Testwiederholungs-Reliabilität 56 Thalamus 84 Thanatos 34 – Aggression 120 Thematischer Auffassungs-Test 69 Theorie 48 – Depression 121 – Emotion 116 – Intelligenz 109 – kognitive Dissonanz 39, 278 – Persönlichkeit 136 – psychodynamische 34 – rational-emotive 241 – restaurative 27 – zirkadiane 27 Theoriebildung 48 Therapie – eklektische 245 – kognitive 241 – systemische 242, 245 Theta-Welle 23 Thurstone-Intelligenzmodell 109f Thurstone-Skala 53 Tiefeninterview 76 Tiefenschmerz 30 Tiefschlaf 26 – Träumen 26 Tod 257f Todeskonzept 259 Todestrieb 34 Todesursachen 180 Token-Programm 241 Toleranzentwicklung 132 Top-Down-Prozess 102 Totgeburtlichkeit 177 Trait 135 – Angst 117 Transfer, Lernen 97 Transformation, demographische 178 Transparenz 233 – Kommunikation 206 Transplantation – heterotope 251 – isotope 251 – orthotope 251 Transplantationsmedizin 251 Transsexualität 257 Transvestismus 257
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Sachverzeichnis
Trauer 120, 258 – pathologische 121 – Symptome 121 Traumdeutung 28, 239 Träumen 28 – Gedächtnisinhalt 28 – Psychoanalyse 28 Traumentzug 28 Trennschärfekoeffizient 54 Trennungsangst 117, 153 Trisomie 21 259 Trotzreaktion 286 TSH 19 Typ-A-Verhalten 145 Typ-B-Verhalten 145 Typ-C-Persönlichkeit 253 Typen, Schmerz 30
U Übelkeit, klassisches Konditionieren 100 Über-Ich (Strukturmodell) 35, 140 Übereinstimmungsvalidität 57 Übergang, demographischer 178 Übergewicht 134 Übersetzer 209 Übersprungshandlung 125 Überstrahlungsfehler 216 Übertragung 206 – Analyse 238 Überversorgung 266 Uhr, innere 29 Ulcus ventriculi siehe Magengeschwür Umdeuten 243 Umstrukturierung, kognitive 33 Umwelt – kulturelle 42 – natürliche 42 – soziale 42 – technische 42 Under-Utilization 266 Underachiever 111 Ungleichheit – gesundheitliche soziale 190f – soziale 183f – vertikale 182 Universalismus 197 Unterstützung – Laiensystem 264 – Selbsthilfegruppen 282 – soziale 40, 258 Untersuchung – Entwicklungspsychologie 148 – Erstkontakt 215 – gynäkologische 219 – körperliche 218 – Neuropsychologie 81 – wissenschaftliche 47 Untersuchungsplanung 47
Unterversorgung 266 Ursache-Wirkungs-Beziehung Ursachen, Analyse 63 Urteilsqualität 225f
59
V Vaginismus 256 Validität 57, 75 – externe 57 – interne 57 – prädiktive 57 Validitätskoeffizient 77 Variabilitätsmaß 72 Variabilitätsnorm 55 Variable – abhängige 60 – unabhängige 60 Varianz 72 – Analyse 73 – gemeinsame 74 Varianzanalyse – multivariate 73 – univariate 73 Variierbarkeit 60 Veitstanz 259 Verarbeitung, kognitive 102 Verbal-IQ 110 Verdrängung 35 Vereinigung, kassenärztliche 196 Verfahren, bildgebende 82 Verhalten – Aggression 120 – autoritatives 160 – Beobachtung 66 – erworbenes 124 – feldunabhängiges 144 – generatives 176 – Genetik 89 – gesundheitsschädigendes 191 – Interaktion mit dem Gehirn 81 – Mittelschicht 185 – Neurotransmitter 88 – Oberschicht 185 – operantes 94 – pränatales 150 – psychodynamische Theorie 34 – respondentes 92 – schichtspezifisches 184 – Unterschicht 185 – Zielgerichtetheit 123 Verhaltensabsicht, Gesundheitsverhalten 276 Verhaltensanalyse 217, 239 – funktionale 16, 99 Verhaltensänderung 287ff – Faktoren 287 – Gesundheitsförderung 286 – Risikoverhalten 278f Verhaltensaneignung 96 Verhaltensäußerung 96
Verhaltensbeobachtung 66 Verhaltenseinfluss, Genetik 17 Verhaltensgenetik 17 – Angststörung 17 – Depression 17 – Schizophrenie 17 Verhaltenskontrolle 276 Verhaltensmedizin 16 Verhaltensmodell 15 – Kognition 15 – Modelle 15 Verhaltensmodifikation 99 Verhaltensstil 144 – kognitiver 144 Verhaltensstörung, Hirnschädigung 86 Verhaltenstheorie, klassische 15 Verhaltenstherapie 16, 236ff – kognitive 16, 241 – Lerntheorie 98 – Überblick 245 – Verhaltensänderung 288 – Wirksamkeit 245 Verhältnisskalenniveau 51f Verifikation (Hypothese) 48 Verlaufsdokumentation 226 Verleugnung 35 – Krankheit 36 – Symptomwahrnehmung 263 Vermeidungsverhalten 99 Verschiebung 36 – Emotion 36 Versorgung – ambulante 268 – bedarfsgerechte 266 – gemeindenahe 290 – psychiatrische 290 – stationäre 268 Versorgungsklasse 183 Verstärker – Motivation 129 – primäre 94 – sekundäre 95 – Sucht 133 Verstärkerplan 95 Verstärkung – intermittierende 95, 101 – kontinuierliche 95 – negative 94 – neurobiologische Grundlagen 95 – positive 94, 241 – stellvertretende 96 Versuchsdesign 60f Versuchsleiterfehler 61 Versuchspersonenfehler 61 Versuchsplan – balancierter 62 – sequenzieller 148 Vertragsarzt 268 Vertrauensintervall 57 Verzerrung, kognitive 106
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Sachverzeichnis
Vier-Felder-Schema 58 Vigilanz 103 Viszerozeption 4 Volkszählung 173 Vorgehen – deduktives 48 – induktives 48 Vorhersagevalidität 57, 75 Vorsorgeuntersuchung 229 – Brustkrebs 279 Voyeurismus 257 Vulnerabilität – Alkoholismus 91 – Schizophrenie 91
W Wahrnehmung – hysterische Blindheit 37 – kognitive Verarbeitung 102 – objektive 5 – subjektive 4ff – Subjektivität 4f – subliminale 117 – Symptom 263 Wanderungssaldo 178 Wartezeit, Transplantation 251 Weber-Klassenbegriff 183 Wechseljahre 170 Welle – a-Welle 23
– b-Welle 23 – d-Welle 23 – 4-Welle 23 Weltbevölkerung 179 Wernicke-Aphasie 85f, 107 Wernicke-Areal 86f, 107 Wertschätzung – bedingungslose 242 – Gesundheit 274 Wetteifer 158 WHO-Definition, Gesundheit 3 Widerstand – Psychoanalyse 238 – Verhaltensänderung 278 Widerstandsfähigkeit 21 – Stress 21 Widerstandsphase (Adaptationssyndrom) 20 Widerstandsressourcen 275 Wiedereingliederung 280 Wiederholbarkeit 60 Willen, Motivation 126 Willkürlichkeit 60 Wirtschaftssektor – primärer 187 – sekundärer 187 – tertiärer 187 Wissen – deklaratives 104f – Organisation 105 – prozedurales 105
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Wissenssystem 6 – Diagnose 8 World Health Organisation siehe WHO 3
X Xenotransplantation
251
Y Yerkes-Dodson-Gesetz
24f
Z z-Transformation 56 Zähneknirschen 29 Zeitgeber 29 Zerebellum 83 Ziffer 176 Zufallsstichprobe 64 Zuverlässigkeit 56 Zwanghaftigkeit 144 Zwangsstörung 119 Zwei-Faktoren-Modell (Intelligenz) 108 Zwei-Komponenten-Theorie (Emotion) 115 Zweiwortstadium 156 Zwillingsstudie 90 Zwischenhirn 83
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