IWAN KOLOS
Kurier der Aufständischen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Originaltitel Ins Deutsche übertragen von Leon Nebenza...
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IWAN KOLOS
Kurier der Aufständischen
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Originaltitel Ins Deutsche übertragen von Leon Nebenzahl
1.-70. Tausend Die Tatsachenrcihe erscheint monatlich Deutscher Militärverlag • Berlin 1969 Lizenz-Nr. 5 Umschlag: Karl Fischer Lektor: Rolf Dieter Burgdorff Vorauskorrektor: Irmgard Nickel Hersteller: Lydia Herkt Gcsamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Ich stehe am Ufer des Korma-Sees. Der große See liegt ruhig und glänzt in der Sonne so stark, daß man den Blick abwenden muß. Ringsum ragen wie eine Mauer Kiefern und Birken empor. Die Stille ist vollkommen, nur selten durch das Plätschern eines Fischs unterbrochen. Ich erkenne den Schauplatz wieder: Hier waren wir, dreizehn Aufklärer, in einer Sommernacht des Jahres 1942 mit Fallschirmen gelandet. Wie war das doch? Wie hatte das begonnen? Anfang Juni wurde ich nach Moskau beordert. Ich erinnere mich, daß ich mich sorgfältig auf die Begegnung mit dem General vorbereitete. Sorgfältiger als sonst putzte ich die Stiefel und polierte die Knöpfe an der Uniform. Aufgeregt erwartete ich die angegebene Stunde. Aber als ich das Zimmer betrat, schwand die Erregung. Der General erhob sich von seinem Platz und kam mir entgegen. „Guten Tag!... Nehmen Sie Platz. Nun, wie ist die Stimmung?" „Ganz gut. Genosse General." „Ausgezeichnet." Er öffnete einen Panzerschrank und holte ein Schriftstück heraus, einen Befehl: Ich wurde zum Kommandeur einer Aufklärergruppe ernannt. Ein Flug weit in das Hinterland des Feindes, in das belorussische Gebiet von Polessje, stand mir bevor. Mir unterstellt wurden: Grigori Rudan, Iwan Kasakow, Alexej Paschkow, Michail Rodnjuk, Nikolai Sidelnikow...
Ich kannte sie alle gut. Wir waren zusammen ausgebildet worden. Unsere Gruppe sollte mit den Partisanen Verbindung aufnehmen und die Aufklärung im Gebiet von Polessje organisieren. „Ist die Aufgabe klar?" „Klar, Genosse General!" Der Abflug war für die Nacht zum 15. Juni festgesetzt worden. Die Gruppe trat auf dem Flugplatz an. Die Ausrüstung wurde verteilt: Rucksack, Fallschirm, Maschinenpistole und Munition. Auf jeden kamen rund sechzig Kilogramm Gepäck. Dazu noch zwei Funkgeräte. Im Flugzeug lieg ich den Lichtkegel der Taschenlampe über die Gesichter der Kameraden schweifen: Alle waren ruhig. Motoren wurden angeworfen, wir starteten. Aus der Pilotenkabine hörten wir einige Zeit später die Stimme des Flugzeugkommandanten: „Höhe dreitausend Meter! Vor uns die Front!" Wir wurden plötzlich durch einen Scheinwerfer aus der Dunkelheit gerissen. Leuchtspurgeschosse zogen sich zum Flugzeug hin. Flakgeschosse krepierten. Links, rechts, vor uns ... Ein unangenehmes Bild! Wir kamen dennoch durch und erreichten den Raum südlich von Gomel. Es war soweit! Nikolai Sidelnikow tauchte als erster in die Finsternis, ihm folgte Iwan Kasakow, danach der dritte, vierte, fünfte. Dann, als vorletzter, Michail Rodnjuk, ein kleiner, aber stämmiger Bursche. Als er an die Tür trat, spürte ich, daß mir irgend etwas vor die Füße fiel. Ein Riemen hatte sich gelöst, und ein Teil von Rodnjuks Fallschirmleinen war herausgefallen.
Ich packte ihn an der Schulter und schrie ihm zu, er möge im Flugzeug bleiben und nicht springen. Aber er ließ sich nichts sagen, bückte sich, raffte die Leinen zusammen und huschte durch die offene Tür. Ich wollte ihm hinterher, jemand hielt mich an der Schulter fest. Ich wandte den Kopf und hörte: „Sie werden von der Gruppe mindestens zehn Kilometer weit fortgetragen ... Als bei dem Genossen die Verzögerung eintrat, ist das Flugzeug nicht an einer Stelle geblieben." Wir flogen noch eine Schleife. Dann sprang ich in die Dunkelheit. Der Fallschirm öffnete sich. Ich schaute nach unten und suchte den Korma-See, der uns als Orientierungspunkt diente. Da war er ja auch! Kurz darauf spürte ich Boden unter den Füßen. Keinen festen Boden, sondern einen Sumpf. Hätte ich nicht Rucksack und Waffe bei mir gehabt, wäre ich mit dem Kopf in den Sumpf getaucht. Ich kroch mit Mühe heraus, schnallte den Fallschirm ab und lauschte angespannt - niemand war zu hören. Ich holte die Taschenlampe heraus und gab Lichtzeichen. Sofort sah ich Gegenzeichen. Die Gruppe sammelte sich. Es fehlte als einziger Michail Rodnjuk. Als ich den Genossen erzählte, was sich im Flugzeug ereignet hatte, seufzte Nikolai Sidelnikow und meinte: „Noch nichts getan und schon einen Kameraden verloren ..." Wir hörten Schüsse ... Ich befahl den Genossen, auszuschwärmen und nach Rodnjuk zu suchen. Wir durchkämmten einen Teil des Waldes, einen Teil des Sumpfes. Rodnjuk blieb verschwunden. Dabei wurde die Schießerei immer heftiger. Man hörte Hundegebell. Also würden die Faschisten unsere Spur aufnehmen. Wir zogen uns zurück und marschierten eine Stunde,
eine zweite ... Alle drei bis vier Kilometer machten wir eine Rast. Der Feind aber kam immer näher. Also weiter! Wir marschierten den ganzen Tag und rasteten auch in der Nacht nicht länger als tagsüber. Den Kampf mit dem Gegner durften wir nicht riskieren, die Kräfte konnten sich als ungleich erweisen. Und vor allem mußten wir den Verbindungsmann der Partisanen treffen. Am zweiten Tag unseres Marsches hörten wir ganz in der Nähe Maschinengewehrstöße. Wir gingen in Deckung. Ich entfaltete die Karte. Wieviel Kilometer blieben denn noch bis zum Treffpunkt? Geradeaus waren es vierzehn. Durch den Wald aber war der Weg länger. Wir entschieden uns dennoch für die Marschroute durch den Wald. Ich erinnerte die Genossen noch einmal daran, daß wir uns in keinen Kampf einlassen dürften, bevor wir die Verbindung zu den Partisanen hergestellt hatten. Während ich noch die Marschrichtung auf der Karte studierte, fielen in der Nähe Revolverschüsse. Was war los? Waren wir eingekreist? Das durfte doch nicht wahr sein ... Die Schüsse kamen aus der Richtung, in die wir gehen wollten. Nikolai Sidelnikow ging mit mir auf Erkundung. Grigori Rudan übergab ich das Kommando für die Gruppe, die sich zur Verteidigung vorbereitete. Indessen gingen Nikolai und ich etwa dreihundert Meter weiter, und wir sahen eine gepflasterte Straße vor uns. Wir legten uns in den Straßengraben. Überraschend tauchte vom Westen her ein Fuhrwerk auf, gezogen von einem unansehnlichen Pferdchen. Aus der Entfernung war nicht zu erkennen, ob der Fuhrmann ein Hilfspolizist, ein Angehöriger der faschistischen Wehrmacht oder ein Zivilist war! Wir beschlossen abzuwarten.
Der Autor als Offizier der Roten Armee Dann war er nur noch dreißig, nur noch zwanzig Meter entfernt. Wir schauten genauer hin: Der Mann trug eine khakifarbene Jacke und schlug mit der Peitsche auf das Pferdchen ein. Nikolai Sidelnikow sah mich an. Wir konnten es nicht fassen. Auf dem Bock des Fuhrwerkes saß unser Michail Rodnjuk. Woher kam er?
Wir rannten auf die Straße. Michail griff nach der Maschinenpistole, erkannte uns aber sogleich, sprang vom Fuhrwerk und umarmte uns. Für Berichte hatten wir keine Zeit, deshalb nahmen wir das Pferd gleich beim Zügel und kehrten zu unseren Kameraden zurück. Mit Anbruch der Dunkelheit machten wir uns wieder auf den Weg. Michail erzählte, wie es ihm ergangen war. Er war fünf oder sechs Kilometer vom Korma-See entfernt gelandet. Rodnjuk wußte, daß er die Verbindung zur Gruppe verloren hatte. Als er Schüsse, Motorengedröhn und Hundegebell hörte, wurde ihm bewußt, daß er allein dem Verbindungsmann der Partisanen entgegengehen mußte. Am zweiten Tag näherte er sich einem Sumpf. Auch dort krachten Schüsse. Nun wich er seitlich aus und stieß auf die Landstraße. Er wagte es nicht, sie zu überqueren. Also legte er sich in den Hinterhalt. Michail Rodnjuk wartete etwa eine Stunde. Dann tauchte ein Fuhrwerk auf, darin saßen zwei Hilfspolizisten, beide betrunken, daneben hoch zu Roß ein SS-Offizier, ebenfalls betrunken. Die Betrunkenen trieben allerlei Spaße. Der eine warf die Feldmütze hoch, der andere schoß danach mit dem Gewehr. Bald versuchte sich der eine im Schießen, bald der andere. Der Deutsche lachte sie aus. »Ihr schießt aber schlecht. Wirf doch mal für mich hoch . . ." Er schoß mit der Pistole. Später stellten wir fest, daß diese Verbrecher im Dorf eine Frau und einen alten Mann erschossen hatten. Auf sie war Rodnjuk gestoßen. Er feuerte aus der Maschinenpistole vier Stöße ab. Die Polizisten waren sofort tot, der Offizier versuchte
zu fliehen, doch eine Kugel streckte auch ihn nieder. Rodnjuk nahm einem der Polizisten die Kleidung ab, setzte sich in das Fuhrwerk, ergriff die Zügel und schlug auf das Pferd ein. Er hoffte, auf der Straße einen von den Einheimischen zu treffen, den er nach der Lage in den benachbarten Dörfern ausfragen könnte . . . Das überraschende Wiedersehen mit Rodnjuk munterte uns auf. Einen Tag später waren wir bei dem Verbindungsmann, dann in der Partisanenabteilung. Wir begannen die Aufklärung in diesem Gebiet zu organisieren.
Kundschafterin Maria Ende Juli 1943 wurden SS-Einheiten gegen die Partisanen von Polessje eingesetzt. Der Stab dieser Gruppierung war in Mosyr untergebracht. Kommandeur dieser Truppen war ein höherer SS-Offizier. Für uns ergab sich die Frage: Wen könnte man in den faschistischen Stab einschleusen? Unsere Aufklärer drangen nachts in die Stadt ein, trafen sich mit Verbindungsleuten, aber das war zuwenig. Die übermittelten Informationen waren ungenau, und manche von ihnen hielten wir überhaupt für zweifelhaft. Kurzum, wir brauchten einen kühnen und vorsichtigen Menschen, dem wir diesen Auftrag übergeben konnten. Einer der Verbindungsleute nannte uns die Komsomolzin Maria. Vor dem Kriege hatte Maria in der Buchhaltung der Großbäckerei von Mosyr gearbeitet. Das Mädchen wurde unsere Aufklärerin. Anfangs stellten wir ihr keine besonders schwierigen Aufgaben.
Als ich Maria dann erklärte, daß wir einen Kundschafter in den Stab der SS-Einheit schicken müßten, bat sie: „Gestatten Sie mir, das zu tun." Der Stab war in einem zweistöckigen Gebäude auf einer Anhöhe untergebracht. Die Faschisten hatten es mit Stacheldraht umgeben und ringsum tiefe Gräben ausgehoben. Näher als dreihundert Meter wurde niemand herangelassen. In diesem Umkreis standen die Häuser leer. Die Einwohner waren von den Faschisten vertrieben worden. Wer sich hier sehen ließ, wurde ohne Warnung niedergeschossen. Maria gelang es, auf den Dachboden eines der Häuser zu steigen. Sie beobachtete mit einem Feldstecher drei Tage lang durch eine Luke das Stabsgebäude. Das erforderte Ausdauer und Willenskraft. Die Anstrengungen der Aufklärerin waren nicht umsonst. Nun wußte sie, wann die Wache abgelöst wurde, kannte die MG-Stellungen und den Weg der Posten. Sie sah, wer im Stab ein- und ausging. Das alles war für uns sehr wichtig. Am dritten Tag erblickte Maria zwei Frauen, die aus dem Stab kamen. Wer waren sie? Das Mädchen stieg vom Dachboden hinunter, holte in der Hauptstraße die Frauen ein und kam mit ihnen ins Gespräch. „Können Sie mir nicht sagen", fragte sie, „wo ich Kartoffeln bekomme?" Die Frauen wollten zunächst nicht antworten, doch dann konnte eine von ihnen, eine Schwarzhaarige, ihre Neugier nicht zähmen. „Wer bist du denn?" Maria nannte ihren Namen. „Ich kenne doch deine Mutter", erinnerte sich die Schwarzhaarige. „Wo ist sie denn jetzt?"
„Sie ist krank", antwortete das Mädchen. „Wir haben nichts zu essen ..." Die Schwarzhaarige gab Maria einen Tip, wo man Kartoffeln erhalten könne. Daheim fragte das Mädchen die Mutter, ob sie die Schwarzhaarige kenne. Die Mutter kannte diese Frau, sie hatte vor dem Krieg mit ihr zusammen im Büro der Holzflößerei gearbeitet. Maria faßte den Entschluß, über diese Bekanntschaft im Stab als Reinemachefrau unterzukommen. Im Auftrage der Tochter bat die Mutter ihre alte Freundin, Maria zu helfen. Bald darauf trat Maria vor einen SS-Unterscharführer. Er ging mit ihr einen Korridor entlang. Sie kamen in ein Zimmer, wo hinter einem Schreibtisch ein massiger SS-Offizier saß. Ihm hatte die Schwarzhaarige offenbar so manches über Maria erzählt, deshalb verzichtete er, sie zu fragen, wer sie sei und woher sie komme. Er tastete sie nur mit den Augen ab. „Weshalb willst du denn für uns arbeiten?" „Hunger", antwortete Maria lakonisch. „Gut", sagte der SS-Mann nach einer kurzen Pause. „Komm in drei Tagen um dieselbe Zeit wieder..." So drang unsere Aufklärerin in den SS-Stab ein. Am siebenten Tag, als Maria in ihrem Stockwerk mit dem Aufräumen fertig war und gehen wollte, sagte ihr der SS-Unterscharführer: „Morgen räumst du das Zimmer vom Chef auf. Gestern hat dort eine alte russische Sau aufgeräumt, hat saumäßig gearbeitet und Staub liegenlassen. Der Chef hat dem verantwortlichen Offizier eine Zigarre verpaßt, und der Offizier hat die Alte in den Karzer gesteckt. Du weißt also, was dir blühen kann..."
„Gut", antwortete Maria. „Ich werde mir Mühe geben." Als wir das erfuhren, begannen wir zu überlegen, wie man den faschistischen Kommandeur der gerechten Strafe zuführen könnte, ohne das Leben unserer Aufklärerin aufs Spiel zu setzen. In solchen Fällen halfen uns stets Magnetminen. Sie haften gut an jedem eisernen Gegenstand, an Nägeln, Schrauben, Türklinken ... Wir bereiteten eine solche Mine vor. Sie wurde nachts in die Vorstadt gebracht, und von dort aus durch Verbindungsleute in Marias Haus geschafft. Man sagte dem Mädchen, sobald es die Mine angebracht habe, müsse es die Stadt unverzüglich verlassen. Maria hatte alles begriffen. Doch wie sollte sie diese „Überraschung" in den Stab schmuggeln? Sie konnte doch kontrolliert werden. Nach einigem Überlegen fand sie einen Ausweg. Sie war ein „strammes" Mädchen, also steckte sie die Mine in den Ausschnitt ihres Kleides und zog den Gürtel fester. Über dem Kleid trug sie einen leichten Mantel. Im Stab legte Maria den Mantel ab, dann führte sie der SS-Unterscharführer sofort in das zweite Stockwerk. Hier befand sich das Dienstzimmer des Kommandeurs. Maria wischte das eine Fensterbrett, dann das andere, das dritte; im Kopf nur den einen Gedanken: Wo bringt man bloß die Mine an? Und wie? Der SSUnterscharführer schritt im Korridor auf und ab und schrie durch die offene Tür: „Schnell, schnell!" Im Raum stand ein langer, mit Tuch bedeckter Tisch. Maria kroch unter den Tisch und tat so, als würde sie dort Staub wischen. Unter der Tischplatte fühlte sie eine
metallene Verstrebung. Vorsichtig legte Maria die Mine an und ließ sie voller Angst los: Wird sie auch haftenbleiben? Und schon hörte das Mädchen wieder die Stimme des SS-Unterscharführers: „Schnell, schnell!" Schließlich war Maria mit dem Aufräumen fertig. Sie rannte die Treppe hinunter, nahm ihren Mantel. „Was ist mit dir los? Bist du krank?" „Ja, ich habe Kopfschmerzen ..." Das Mädchen zog den Mantel über und ging auf die Straße. Die Mine war um 9.45 Uhr angebracht worden. Also mußte sie in zwei Stunden, das heißt ein Viertel vor zwölf, explodieren. Bald darauf war Maria mit ihrer Mutter am Stadtrand, wo sie von Aufklärern empfangen wurden. Viertel vor zwölf gab es im Stab eine heftige Explosion. Der SSKommandeur wurde getötet. Das erfuhren wir, als wir einen Stabsoffizier gefangennahmen.
Verbindung zum Gebietskommissariat November 1943. In Dawid-Gorodok, Pinsk, Petrikow, Mosyr und den umliegenden Dörfern wurden zu dieser Zeit SS-Truppen zusammengezogen. Uns war bekannt, daß die Okkupanten in diesem Raum eine zweite Verteidigungslinie aufbauen wollten, aber gleichzeitig eine Operation zur Zerschlagung der südlich des Pripjat operierenden Partisaneneinheiten vorbereiteten. Zu dieser Zeit berichteten Aufklärer von einem deutschen Offizier aus der Verwaltung des Gebietskommissariats in Turow. Er hieß Sustel. Sein
Benehmen war etwas sonderbar. Er sprach Russisch, spazierte oft durch die Straßen und unternahm sogar allein Ausflüge in die Umgebung. Gelegentlich wies er Frauen, die sich an ihn wandten, eine Nahrungsmittelration an. Natürlich interessierte uns dieser Offizier, und wir beschlossen, die Aufklärerin Olja Sajewitsch zu ihm zu schicken. Wir wollten wissen, was er sagt, wenn sie ihn um Hilfe für die „hungernde Familie" bitten würde. Vor dem Haus des Gebietskommissariats forderte der Wachposten von Olja einen Passierschein. „Habe keinen." Das Mädchen zuckte resigniert die Achseln. Der Wachposten richtete auf Olja die Maschinenpistole. „Zurück!" Olja wich ein wenig zurück und sagte, daß sie zum Herrn Offizier Sustel möchte. Da öffnete sich die Tür, und im Türrahmen erschien ein grauhaariger, hochgewachsener Offizier. Es war Sustel. „Willst du zu mir, Mädchen?" fragte er. „Ja, zu Ihnen." Sustel wies den Wachposten an, Olja passieren zu lassen. In seinem Zimmer sagte sie: „Sie, Herr Offizier, sollen, wie es heißt. Hungernden helfen ... Also bin ich gekommen. Sie entweder um eine Ration oder um Arbeit zu bitten." „Weshalb sollte ich dir wohl eine Ration ausschreiben? Wie hast du denn bisher gelebt?" „Ich habe alles, was ich besaß, in den Dörfern gegen Brot eingetauscht. Jetzt besitze ich nichts mehr..." „Wo wohnst du und bei wem? Wie heißt du?" „In der Podgornajastraße fünfundzwanzig. Ich wohne
mit meiner Mutter und meinem kleinen Bruder zusammen und heiße Olja." Der Deutsche notierte sich zwischendurch etwas das Gespräch wurde durch Telefonanrufe unterbrochen. Dann blickte er Olja prüfend an und sagte: „Wer hat dich hergeschickt?" Olja schrak zusammen, faßte sich aber schnell. „Mich hat niemand hergeschickt. Ein Hungernder sucht eben nach einem Ausweg... Und man hört Gutes von Ihnen." „So, so ... Ich soll dir also helfen? Na, schön ..." Er schrieb einen Zettel aus und streckte ihn Olja entgegen. „Hier. Laß dir im Lager eine Ration geben." Das Mädchen nahm den Zettel, dankte und wollte gehen. Sie stand schon an der Tür, als der Offizier sagte: „Nein, warte mal. Nimm Platz,.." Sustel ging im Zimmer auf und ab, schaute aus dem Fenster, dann trat er dicht an Olja heran und fragte, ihr mitten in die Augen blickend, aufs neue: „Dich hat also niemand zu mir geschickt?" „Nein, Herr Offizier." „Dann sag mir mal, was du von den Partisanen weißt." Olja antwortete ausweichend: „Wie es heißt, lassen sich Partisanen zuweilen am Stadtrand sehen." Sie überlegte, warum Sustel sie gerade nach Partisanen fragte. „Wie oft? Und wo?" „Das weiß ich nicht, ich habe sie nie gesehen." Sustel telefonierte, doch in seinem Gespräch fiel das Wort „Partisan" nicht. Dann fragte er wieder Olja: „Partisanen lassen sich also blicken?" „Ja, das kommt vor."
„Du bist wie ich sehe, ein braves Mädchen, Olja. Wenn du wieder mal Hilfe brauchst, komm nur. Und noch etwas: Sollten in eurer Straße Partisanen auftauchen, teile mir das mit. Abgemacht?" „Abgemacht, Herr Offizier." Nachts berichtete mir Olja über dieses Gespräch. Wir überlegten, ob Sustel auf diese Art und Weise versuchte, die Frauen, die ihn um eine Zuweisung für eine zusätzliche Ration baten, für Spitzeldienste zu gewinnen. Dafür erschien uns Sustels Vorgehen jedoch zu primitiv. Warum aber wollte er etwas über die Partisanen wissen? Wir beratschlagten und beschlossen: Olja Sajewitsch wird nach Turow zurückkehren, und zwei Tage später werden wir an den Stadtrand eine Gruppe schicken, die einen Überfall vortäuschen soll. Wir wollten sehen, wie Sustel reagierte, wenn Olja ihm von den Partisanen berichtete. Am festgelegten Abend näherten sich achtzehn Reiter der Stadt, saßen ab, überwältigten den Wachposten und begannen zu schießen... Als Olja Schüsse hörte, rannte sie zum Gebietskommissariat. „Partisanen in der Stadt!" rief sie aus, als sie vorgelassen wurde. „Ja, ja", sagte Sustel, „das weiß ich bereits. Das wurde mir gemeldet... Und du hast sie nicht gesehen?" „Nein, aber ..." „Ja, du bist ein braves Mädchen", unterbrach sie der Offizier. „Das nächste Mal, wenn Partisanen aufkreuzen, komm nicht zu mir, sondern versuche mit ihnen Kontakt aufzunehmen." Olja horchte auf. „Ja", wiederholte Sustel, „nimm Verbindung zu ihrem
Kommandeur auf. Sage ihm, ich hätte ihn gern unter vier Augen gesprochen... das bleibt natürlich unter uns!" Das Mädchen hatte diese Reaktion von Sustel nicht erwartet. Aber auch wir waren, offen gestanden, zunächst mißtrauisch. Was hat er eigentlich vor? Weshalb nimmt er das Risiko auf sich? Wir erinnerten uns an einen Oberleutnant, der Anfang des Jahres 1943 zu uns übergelaufen war. Nur gut, daß wir ihn rechtzeitig als Provokateur durchschauten und das Schlimmste abwenden konnten. Konnte Sustel auch ein Provokateur sein? Sollte er dafür seine Funktion im Gebietskommissariat nutzen? Wir wogen das Für und Wider ab und beschlossen, es auf eine Begegnung mit ihm ankommen zu lassen. Diese Aktion überlegten wir bis in die kleinste Einzelheit, und um nicht überrascht zu werden zogen wir eine Partisanenabteilung heran, die sich in den Hinterhalt legte. Die von Semjon Schukanow befehligten MPi-Schützen konnten uns jederzeit Feuerschutz geben. Vor der ausgemachten Zeit war ich mit dem Melder Sascha am Treffpunkt. Ich trug eine Fellmütze und Lederjacke, besaß eine Mauserpistole und einen Feldstecher. Sascha führte das Pferd in den Wald, kehrte dann zurück und baute ein provisorisches Zelt auf, in dem wir unser Gespräch führen sollten. Es blieb noch eine halbe Stunde bis zur festgesetzten Zeit. Sascha ließ die Straße nicht aus den Augen. Dann winkte er, und ich sah in der Kurve den deutschen Offizier. Sustel ritt einen Braunen. Er kam heran, sprang aus dem Sattel, schlug die Hacken zusammen und fragte auf russisch: „Kann ich Ihren Kommandeur sprechen?"
„Der bin ich." Er musterte mich vom Scheitel bis zur Fußsohle. Erst später im Gespräch gestand Sustel, man hätte ihm berichtet, ich sei ein General und trage einen Bart. Und plötzlich sah er sich einem jungen Mann gegenüber. Ich bat Sustel in das Zelt. Er trat ein, schaute sich um, nahm die Mütze ab. Sofort griff er in die Tasche, holte ein Päckchen Zigaretten heraus und riß es auf. Während er das tat, hatte ich bereits die „Papirossy" in der Hand. Ein Aufklärer besaß noch eine Schachtel von einer Vorkriegssorte als Reserve, und diese hatte ich auf alle Fälle erhalten. Sustel bot mir Zigaretten und ich ihm „papirossy" an. Nachdem die Zigaretten brannten, stellte ich die erste Frage: „Was führt Sie zu uns?" Sustel zuckte die Schultern, bevor er antwortete. „Ich verstehe Ihre Frage. Wundern Sie sich nicht, daß ich, ein deutscher Offizier, Militärbeamter im Gebietskommissariat, zu Ihnen gekommen bin. Mein Vater und ich sind Antifaschisten. Ich habe mit Hitler eine Rechnung zu begleichen. Ja, ja, Antifaschisten." Er wiederholte dieses Wort mehrere Male und fuhr fort: „Als Hitler im Jahre dreiunddreißig an die Macht kam, war uns klar, daß er Deutschland in die Katastrophe führen wird, daß er ein Abenteurer ist... Wir haßten ihn, doch was sollten wir allein ohne Verbindung zu Gleichgesinnten tun? Wir mußten uns abfinden, durften unsere Unzufriedenheit nicht zeigen." Sustel machte einen tiefen Zug, dann zerdrückte er die „papirossy" und sprach weiter: „Wissen Sie, als er die Truppen gegen Rußland warf, ahnten wir, daß dies ein schlechtes Ende nehmen würde. So kam es denn auch. Ich arbeitete anfangs auf meinem Hof, baute Gemüse an.
Vor sieben Monaten wurde ich zur Wehrmacht einberufen. Jetzt werden auch die Alten geholt. Ich habe seinerzeit die Heeresverwaltungsschule absolviert. Jetzt bin ich vierund-fünfzig Jahre alt. Als ich in das Gebietskommissariat kam, traute ich einfach meinen Augen nicht, was hier mit dem russischen Volk getrieben wird ..." „Das sind alles Worte", antwortete ich Sustel. „Bei uns gelten aber nur Taten." „Sie wollen also Beweise? Aber welche? Sie wollen doch nicht etwa, daß ich zu Ihnen in die Partisanenabteilung komme?" „An Kämpfern fehlt es in unserer Abteilung nicht", bemerkte ich, „doch Waffen, Lebensmittel und Medikamente würden wir nicht ablehnen." „Mit Waffen kann ich Ihnen nicht helfen, Kommandeur. Die Waffen verwaltet die SS... Was aber Lebensrnittel betrifft, so müßte man sich das durch den Kopf gehen lassen." „Wie viele SS-Männer gibt es denn in der Stadt?" Sustel antwortete nicht sofort, nannte dann die Zahl von sechshundertfünfzig. „Siebenhundert", präzisierte ich. „Oh, Sie wissen es besser!" „Und wieviel Schützenpanzerwagen?" „Zwei." „Nein, vier." „Entschuldigen Sie, aber ich war auf die Beantwortung solcher Fragen nicht vorbereitet." „Könnten Sie uns entsprechende Angaben in zwei, drei Tagen zusammenstellen?" fragte ich. Damit stellten wir Sustel auf die Probe, denn über die Lage in der Garnison und in der Stadt waren wir gut informiert.
„Doch, das kann ich. Ich will es versuchen. Schicken Sie wieder Olja zu mir. Ich werde ihr die Medikamente übergeben." „Wie wird das Lebensmittellager bewacht?" stellte ich ihm eine neue Frage. „Rings um das Lager ist freies Schußfeld, und die Wachmannschaft hat Maschinengewehre", antwortete er. „Wenn Sie Lebensmittel brauchen, müßte man es anders anfangen. Ich werde sechs bis sieben Fuhrwerke auftreiben, sie mit Konserven, Mehl und Nährmitteln beladen lassen und unter schwacher Bewachung an das Flußufer schicken. Ich kann das als Auslagerung begründen. Sie aber legen sich dort in den Hinterhalt und..." Dieser Plan war einfacher und ungefährlicher. Wir kamen überein, wo und wann die Fuhrwerke überfallen werden und wo wir uns das zweite Mal treffen wollten. „Herr Sustel", sagte ich abschließend, „Sie sind vor kurzem aus Deutschland gekommen. Wo haben Sie dort gedient?" Sustel antwortete unbestimmt, ausweichend, gab aber schließlich zu, daß er als Intendant im Heereslager des deutschen Oberkommandos in Bernau gearbeitet hatte. Sustel überlegte ein wenig und sagte dann: „Gut, das mache ich. Ich muß zurück, ich habe in der Kommandantur gesagt, daß ich ein wenig ausreiten möchte." „Wir wollen Sie nicht aufhalten, reiten Sie zurück", antwortete ich und fragte abschließend: „Also, in drei Tagen?" Sustel ging auf sein Pferd zu. Er schnallte die Satteltasche auf, holte eine Flasche Wein mit einem bunten Etikett und zwei kleine Gläser heraus.
„Kommandeur! Ich möchte mit Ihnen auf gute Freundschaft trinken." Ich hob das Gläschen und sagte: „Lassen Sie uns zuerst auf die Tat trinken. Das ist bei uns so üblich: Erst die Tat und dann die Freundschaft." Als Sustel fort war, informierten wir Olja. Nach zwei Tagen teilte uns das Mädchen mit, Sustel hätte ihr Medikamente übergeben. Am dritten Tag kam er zum Treffpunkt. Er brachte alles, worum ich ihn gebeten hatte, schriftlich mit. So knüpften wir Verbindungen zum Gebietskommissariat an. Später traf ich Sustel noch mehrere Male und erhielt von ihm nicht wenige wertvolle Informationen, vor allem über den Bau von Verteidigungsstellungen im Hinterland. Alle diese Nachrichten vermittelten wir zur Auswertung weiter. Dann teilte mir Sustel mit, daß die Deutschen Turow demnächst räumen würden. Wir erhielten aus Moskau, wo unsere Verbindung zu Sustel von Anfang an bekannt war, die Weisung, einen unserer Aufklärer vorzubereiten, zusammen mit Sustel nach Deutschland zu fahren. Ich brachte Sustel mit Alexej Selesnew zusammen. Sustel und Selesnew erreichten wohlbehalten Berlin und von da aus Sustels Gehöft in der Nähe von Magdeburg. Sie konnten bis zum Kriegsende erfolgreich als Aufklärer arbeiten. Das war Anfang 1944. Unsere im Hinterland des Feindes operierende Gruppe von Aufklärern wurde nach Moskau gerufen.
Moskauer Begegnungen Im Zentralen Partisanenstab wurde ich von Oberst Below empfangen. Alexander Wassiljewitsch Below war ich
auch schon früher begegnet. Dieser noch junge Offizier gefiel mir besonders, da er immer optimistisch gestimmt war und sich stets um seine Untergebenen sorgte. Als ich in sein Zimmer trat, um eine formgerechte Meldung zu erstatten, sagte er lächelnd: „Lassen wir das!" Im geräumigen Dienstzimmer Belows hingen Karten mit verschiedenen Markierungszeichen an den Wänden, mit Bögen, Zickzacklinien, Kreisen und fetten Pfeilen, die nach Westen wiesen. Das noch vom Feind besetzte Territorium trug ebenfalls Zeichen. Es waren die Partisanenstützpunkte. Nach einem kurzen, freundschaftlichen Gespräch trat Oberst Below an eine der Karten. Er wies mit dem Zeigestock auf eine bestimmte Stelle und fragte: „Bist du in dieser Gegend schon mal gewesen?" „Nein." „Das sind die Wälder von Naliboki im Gebiet Baranowitschi. Dort wirst du mit deiner Gruppe eingesetzt. Unser Kommando muß über den Gegner in diesem Raum buchstäblich alles wissen. Und jetzt mach dich mit der Kampfaufgabe vertraut." Ich verließ das Zimmer des Obersten zufrieden und ein wenig erregt. Im Vorzimmer traf ich ganz unerwartet Galina Chromuschina, die Dolmetscherin. Sie war neu eingekleidet. Die Mütze mit Ohrenklappen ließ ihr rundes, gerötetes Gesicht dem eines Knaben gleichen. Wir waren beide überrascht. Hatten wir uns doch seit reichlich einem Jahr nicht mehr gesehen und vor allem mit einer Begegnung hier, in Moskau, überhaupt nicht gerechnet. Galina sagte, daß sie mit einem besonderen Auftrag in den Partisanenstab gekommen sei.
„Ich arbeite jetzt mit deutschen Kriegsgefangenen zusammen. Es gibt gute Kerle unter ihnen. Viele wollen zu den Partisanen..." Galina zeigte mir einen versiegelten Umschlag und fügte, als sie schon in Belows Zimmer hineinging, hinzu: „Warte doch mal auf mich..." Deutsche, genauer gesagt, Faschisten, wie wir sie damals nannten, wollten plötzlich ... zu den Partisanen, dachte ich verwundert. Und da fiel mir der Offizier Sustel ein. Er war zwar kein Partisan, aber er arbeitete mit uns zusammen und tat das auch jetzt, in Deutschland ... Im Vorzimmer von Oberst Below herrschte reger Betrieb, aber ich saß auf dem Diwan und überlegte. Ich dachte daran, daß Deutsche, wahre Patrioten ihres Heimatlandes, in den Reihen der Partisanen großen Nutzen bringen könnten. Dabei betrachtete ich diese Problematik zunächst ausschließlich aus der Sicht meiner bisherigen Erfahrungen als Aufklärer im Partisanengebiet. In Gedanken arbeitete ich bereits Kampfoperationen unter Mitwirkung von Deutschen aus. Da kam Galina. „Alles in Ordnung", sagte sie. „Dem Ersuchen ist stattgegeben worden ... Auch ich gehe zusammen mit den Deutschen zu den Partisanen." „Wohin denn?" „Das wird sich morgen herausstellen." Gemeinsam mit Galina verließ ich den Zentralen Partisanenstab. Der Gedanke an die deutschen Antifaschisten, die bei den Partisanen kämpfen wollten, ließ mich nicht mehr los. In meinem Kopf reifte ein Entschluß. Am nächsten Morgen ließ ich mich noch einmal bei Oberst Below melden. Alexander Wassiljewitsch blickte mich erstaunt an.
„Was ist denn. Genosse Kolos?" „Ich habe erfahren, daß Sie dem Ersuchen deutscher Genossen stattgegeben haben", begann ich. „Aha, die alte Bekannte hat geplaudert!" sagte Below gut gelaunt. „So, so." Ich fühlte, daß Below bereits erraten hatte, worum ich ihn bitten wollte. Er wählte eine Telefonnummer, führte ein Gespräch und wandte sich dann an mich: „Gut, die deutschen Genossen fliegen zusammen mit Ihrer Gruppe." Drei Tage später kam es zur ersten Bekanntschaft mit deutschen Antifaschisten, unseren jetzigen Waffengefährten. Es waren Hugo Bahrs und Felix Scheffler, beide aus Hamburg, Karl Rinagel aus Österreich und Herbert Hentschke, Mitarbeiter der Komintern. Unsere Begegnung fand in einem Raum des Partisanenstabes statt. Von den Moskauer Straßen her drang der Lärm der Großstadt. Ich blickte in die Gesichter der deutschen Genossen, die ein wenig verlegen, aber ehrlich und offen waren. Worüber konnten wir miteinander reden? Wir erzählten aus unserem Leben und sprachen auch über den Krieg. Am ungezwungensten gab sich Felix Scheffler. Wenn er sprach, geriet alles an ihm in Bewegung. Er war hochgewachsen, ging aber leicht gebeugt, hatte kräftige Hände und ein ausdrucksvolles Gesicht. Felix Scheffler war Matrose bei der Handelsmarine gewesen, mußte Soldat der faschistischen Wehrmacht werden und geriet im September 1941 vor Leningrad in sowjetische Gefangenschaft. Im Gefangenenlager dachte er über sein bisheriges Leben nach, konnte Gespräche mit
sowjetischen Soldaten und Offizieren führen, las zum erstenmal marxistische Schriften, fragte, zweifelte, stritt. Und allmählich wurde er zum überzeugten Antifaschisten. Als Delegierter seines Lagers fuhr er im Juli 1943 nach Krasnogorsk zum Gründungskongreß des Nationalkomitees „Freies Deutschland". In Krasnogorsk besuchte er die Antifaschule, hörte die Vorlesungen von Professor Nikolai Janzen über Marxismus-Leninismus, die ihm die Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte bewußt werden ließen. All das formte seine politischen Anschauungen. Er wollte sie mit Taten beweisen. Dafür war er jetzt hier, gemeinsam mit seinen anderen Kampfgefährten. Hugo Bahrs, ebenfalls Hamburger wie Scheffler, war kein Seemann, sondern Tischler. Er hatte sich als Dreizehnjähriger der Sozialistischen Arbeiterjugend angeschlossen, nahm an Versammlungen teil, erlebte Streiks. Vergeblich versuchten die Nazis ihn für ihre SA zu begeistern. Doch Soldat der Wehrmacht mußte er werden. Als Pionier schlug er Brücken in Polen, Frankreich und in der Sowjetunion. Im Februar 1942 kam er verwundet in sowjetische Gefangenschaft. Ein Jahr später konnte er in Krasnogorsk die Antifaschule besuchen. Gemeinsam mit Felix Scheffler war er an dieser Schule eines Tages mitten in einer Unterrichtsstunde zur Schulleitung gerufen worden. Sie wurden gefragt ob sie einen Sonderauftrag des Nationalkomitees „Freies Deutschland" übernehmen würden. Mit einem Omnibus fuhren sie nach Moskau. Im Haus des Nationalkomitees „Freies Deutschland" wurden sie bereits zusammen mit anderen Antifaschisten erwartet.
Walter Ulbricht und Erich Weinert vom Nationalkomitee „Freies Deutschland" sprachen zu ihnen und General Burzew, der Verteter der Roten Armee. Die Genossen berieten mit ihnen den künftigen Einsatz im Hinterland der faschistischen Wehrmacht. Es gelte, durch eine vielfältige Agitation und Aufklärung mitzuhelfen, daß möglichst viele deutsche Soldaten den Kampf einstellen und so zur Beendigung des sinnlosen faschistischen Raubkrieges beitragen. Galina Chromuschina übersetzte die Schilderungen von Felix Scheffler und Hugo Bahrs. Ich freute mich über diese Genossen. Der Schweigsamste war Herbert Hentschke. Äußerlich wirkte er ganz ruhig, doch die längeren Pausen im Gespräch, die zusammengezogenen Brauen verrieten, daß ihn etwas bewegte, daß er etwas Wichtiges sagen wollte, es aber nicht auszusprechen wagte. „Genosse Hauptmann", preßte er schließlich heraus, „wann fliegen wir denn zu den Partisanen?" Alle wurden still. Das war es also, was Hentschke bewegte! Aber er hatte sich in der Hand. „In Kürze", antwortete ich. Ich wußte selbst nicht genau, wann wir fliegen würden, deshalb wechselte ich sofort das Thema und sagte: „Im Hinterland des Gegners wird es schwer sein, lebensgefährlich ... Haben Sie daran gedacht?" Felix Scheffler antwortete: „Das Nazi-Deutschland ist nicht mein Deutschland. Es wird noch viel deutsches Blut fließen, aber es wird fließen für eine neue, gerechte Welt." „Denken Sie an Spanien neunzehnhundertsechsunddreißig, Genosse Hauptmann!" wandte sich Hugo
Bahrs an mich. „Gegen General Franco kämpften zusammen mit den Spaniern Franzosen, Ungarn, Deutsche, Russen ... Kämpfer der internationalen Arbeiterklasse! Sie kämpften nicht nur für ein freies Spanien. Sie kämpften gegen die Kräfte der Weltreaktion." Diese interessanten Gedanken hatte ich von Hugo Bahrs, ehrlich gesagt, nicht erwartet. Er aber fuhr fort: „In Sowjetrußland tötete im Bürgerkrieg ein Bruder den anderen. Ich weiß das aus der Literatur. Es war ein Kampf zweier Welten." „Aber Sie könnten doch abwarten, bis der Krieg vorüber ist", warf ich ein. Da ergriff Felix Scheffler wieder das Wort: „Nein. So kann man das neue Deutschland nicht aufbauen. Kennen Sie die Worte unseres großen Goethe? ,Nur der verdient sich Freiheit und das Leben, der täglich sie erobern muß'." Ich wollte den Standpunkt der deutschen Genossen noch zu einer anderen Frage klären: „Sie hoffen, daß es ein neues Deutschland geben wird?" Hugo Bahrs schwang seine Faust durch die Luft und sagte entschieden: „Aber gewiß!" Seit diesem ersten Gespräch bestanden zwischen uns klare, kameradschaftliche Beziehungen, wie stets zwischen Menschen, die ein gemeinsames, hohes Ziel anstreben. Gleich hier, im Stab, machte ich die deutschen Genossen mit den Kämpfern der Aufklärergruppe bekannt. Sie wechselten kräftige Händedrücke.
Im Partisanenwald Als wir landeten, wurden wir im Wald von Partisanen empfangen. Der Stab des Verbandes war informiert, daß
mit uns zusammen auch deutsche Genossen kamen, um am Kampf gegen den Faschismus teilzunehmen. Bei aller Freude des Wiedersehens vergaß ich nicht meine Pflichten als Kommandeur der Gruppe und wollte überprüfen, ob am Lagerfeuer alle beisammen waren. Felix Scheffler fehlte. Wo war er? Die Partisanen schwärmten sofort im Walde aus. Es begann die Suche. Scheffler wurde sehr bald zweihundert Meter von der Lichtung entfernt gefunden. Er stöhnte. Felix hatte sich den Fuß verstaucht, und der Partisanenarzt leistete ihm bereits Erste Hilfe. Irgend jemand leuchtete dabei mit der Taschenlampe. „Auch das noch!" stöhnte Felix Scheffler. „Habe noch nichts getan und bin schon Ballast geworden." Scheffler wurde verbunden, auf eine Trage gelegt und im Schlitten zum Partisanenlazarett gebracht. Die Nacht war klar. Der Kommandeur der Brigade Michail Gribanow und der Kommissar Iwan Kasak führten uns in einen Erdbunker. Im Bunker war es warm. Eine aus einer Patronenhülse gefertigte kleine Ölfunzel verbreitete trübes Licht. Es roch herb nach Fichtennadeln und Fußlappen, die zum Trocknen aufgehängt waren. Unsere deutschen Genossen standen im Mittelpunkt. Kommissar Kasak berichtete von den letzten Aktionen der Brigade: Munitionszüge und eine Eisenbahnbrücke gesprengt, Verbindung zwischen Molodetschno und Baranowitschi unterbrochen, eine Kompanie SS-Leute aufgerieben... Galina dolmetschte. Dann setzte man uns einen Partisanenimbiß vor. Anschließend begaben wir uns in das zentrale Lager zum
Kommandeur des Partisanenverbandes von Barano-witschi, Wassili Jefimowitsch Tschernischow, auch Platon genannt. Dieser Partisanenname war den Okkupanten wohlbekannt, und schon seine bloße Erwähnung versetzte sie in Schrecken. Die gut gefütterten, flinken Pferde legten die fünfundzwanzig Kilometer auf der verschneiten Straße schnell zurück. Wir hielten mitten im dichten Fichtenwald am Hang eines Hügels, dem Standort des Stabes des Verbandes. Im Bunker empfing uns ein General mit dem Goldenen Stern eines Helden der Sowjetunion an der Uniform. Es war Platon. Wir machten uns bekannt, unterhielten uns ein wenig, dann ordnete er an, uns in einen freien Bunker zu geleiten. „Die Aufgaben besprechen wir morgen", sagte er. Ich wußte, daß in den umliegenden Wäldern fünfundzwanzig Partisanenbrigaden und fünf einzelne Abteilungen operierten. Der Partisanenkampf wurde in diesem Raum vom illegalen Gebietsparteikomitee Baranowitschi geleitet. Der Morgen brach an. Felix Scheffler stöhnte - er konnte nicht gehen. Karl Rinagel, Hugo Bahrs und Herbert Hentschke hofften, sofort einen Kampfauftrag zu erhalten. „Ich billige euren Entschluß, gegen unseren gemeinsamen Feind, den Faschismus, zu kämpfen", sagte Platon zu den deutschen Genossen. „Ihr seid im Auftrag des Nationalkomitees ,Freies Deutschland' zu uns gekommen. Über eure Aufgaben wurde bereits in Moskau gesprochen. Nun hätte ich gern von euch gewußt, was ihr zu tun gedenkt..." Zwischen Platon und Bahrs saß Galina. Sie sorgte für die Verständigung.
„Wir wollen Seite an Seite mit den Partisanen kämpfen, dort, wo es gefährlich ist", antwortete Hugo Bahrs für alle. „Gut, ich werde euch zum Beispiel in ein Dorf schicken, um die Kommandantur auszuheben ... Ich zweifle nicht daran, daß ihr die Aufgabe erfüllen werdet. Aber wenn ihr dabei fallt? Ob ihr damit viel Nutzen erreicht?" Galina übersetzte, die Deutschen hörten zu. „Der Nutzen dürfte sehr gering sein", fuhr der Kommandeur fort. „Jetzt dämmert es den deutschen Soldaten, daß der Führer sie hereingelegt hat. Also müßtet ihr, so meine ich, nicht mit Kugeln, sondern mit Flugblättern schießen. Macht euren Landsleuten klar, wie verhängnisvoll die faschistiche Politik, wie wahnwitzig das Kriegsziel ist. Fordert schließlich von ihnen, auf unsere Seite überzugehen. Gute Propaganda ist eine wichtige, verantwortungsvolle Aufgabe. Auf euch wartet deshalb die ,Partisanka' -unsere kleine Druckmaschine. Also könnt ihr Flugblätter drucken. Einverstanden?" „Einverstanden, Genosse Kommandeur!" „Da sind wir uns also einig. Das Scheitern der faschistischen Kriegspolitik den deutschen Soldaten überzeugend vor Augen führen, heißt Regimenter und Divisionen außer Gefecht setzen, die Niederlage der Faschisten riäherrücken und die Verlusta» verringern. Ist es keine edle Aufgabe? Man wird dafür etwas wagen müssen; viel wagen! Aber frisch gewagt ist halb gewonnen." Galina wurde die Verantwortung für die Herstellung von Flugblättern und Aufrufen übertragen. „Sie aber, Genosse Hauptmann", wandte sich Platon an
mich, „gehen an die Erfüllung Ihrer Aufträge. Auch für Sie wird viel zu tun sein..." Der Tag verging bei allerlei Besorgungen, aber am nächsten Morgen begannen Hugo Bahrs, Herbert Hentschke und Karl Rinagel mit dem Druck der Flugblätter.
„Gruppe 117" in Aktion Wir verstärkten die Aufklärung von Tag zu Tag. Unser Kommando war über die deutschen Garnisonen in Minsk, Molodetschno und Wilejka sowie über den Verkehr auf den Eisenbahnstrecken von Wiljnus nach Minsk und zwischen Lida und Molodetschno bereits gründlich informiert. Nun brauchten wir Nachrichten über die Stadt und den wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Baranowitschi. In dieser Stadt wollten die deutschen Genossen auch ihre Flugblätter unter den Soldaten der Garnison verbreiten. Der erste, der sich nach Baranowitschi begab, war Felix Scheffler. Sein Fuß war ausgeheilt, aber er hinkte ein wenig. Scheffler bereitete sich sehr gründlich auf das Unternehmen vor. Wir statteten ihn mit den erforderlichen Dokumenten und dem Stadtplan aus, den er fleißig studierte. Viel über die Stadt erzählten ihm Partisanen, die aus Baranowitschi stammten. Gemeinsam wurde die Marschroute ausgearbeitet. Es wurde beschlossen, die Siedlung Ljubtscha rechts liegen zu lassen, an der Stadt Nowogrudok vorbei zum SwitjasSee und von dort durch den Wald nach Baranowitschi zu marschieren. Auch Dmitri Stenko, der Felix begleiten
sollte, hielt diese Route für richtig. Stenko war ein Aufklärer meiner Gruppe, der auch als Funker eingesetzt werden konnte. Felix wirkte ruhig, als ginge er zu einem Spaziergang. Platon fragte ihn, wie er sich fühle. „Ausgezeichnet, Genosse General", antwortete Scheffler zurückhaltend. „Ich darf Sie aber um ein paar Handgranaten bitten. Wenn es schief gehen sollte, will ich mich nicht lebend ergeben." Felix Scheffler hatte zwar eine Pistole, aber Handgranaten wären auch nicht schlecht, und er erhielt sie sofort. Er trug eine Feldwebeluniform. Als er abmarschbereit war und die Gruppe sich versammelte, um die beiden Kämpfer zu verabschieden, streckte er mir ein kleines Päckchen entgegen. „Genosse Hauptmann, das sind Briefe von zu Hause, Bilder meiner Frau und meiner Kinder. Wenn ich fallen sollte, schicken Sie das meiner Frau. Und schreiben Sie, daß ich dem neuen Deutschland ehrlich gedient habe .. ." Ich nahm das Päckchen. „Wir wollen hoffen, daß alles gut geht. Vor allem, seid vorsichtig - kein unnötiges Risiko!" Wir umarmten uns, dann verabschiedete sich Felix von seinen Landsleuten. Es war warm, aber windig. Der Wald rauschte. Nowogrudok erreichten die Partisanen ohne Zwischenfälle, aber als sie die Stadt umgingen, trafen sie auf der Landstraße einen etwa vierzigjährigen Mann. Der Mann war ganz außer Atem, sein Gesicht war mit Schweißtropfen übersät. Er sprach Scheffler auf deutsch an, dieser unterbrach ihn aber: „Sprechen Sie Russisch." Der Unbekannte schielte zu Dmitri Stenko hinüber, aber
als er vom Feldwebel hörte, dieser wäre sein Freund, brach es aus ihm heraus: „Im Hause des Försters hält sich ein verwundeter Partisan versteckt. Wenn wir uns beeilen, erwischen wir ihn noch. Die Kommandantur liegt im Stadtzentrum, und ich verliere mindestens zwei Stunden, bis ich das melde. Er könnte entwischen." „Führe uns zum Förster!" sagte Stenko entschlossen und bedeutete Felix, ihm zu folgen. Die Situation war günstig, um den Verräter unschädlich zu machen: Es ging auf den Abend zu, und sie entfernten sich immer mehr von der Straße. Dmitri griff bereits nach der Pistole, doch da kam ihm Scheffler mit seinem finnischen Messer zuvor. In der Nähe des Switjas-Sees machten sie bei einem Bauern Rast. Dieser staunte nicht wenig, als er Stenko mit einem deutschen Feldwebel sah. Im ersten Augenblick wußte er nicht, wie er sich verhalten und was er sagen sollte. Mit einem Deutschen waren die Partisanen noch nicht zu ihm gekommen. „Mein Kamerad hat dir wohl einen Schrecken eingejagt?" scherzte Stenko, als er sich an den Tisch setzte. „Felix ist tatsächlich ein Deutscher." „Wirklich?" „Doch, doch", bestätigte Felix selbst in gebrochenem Russisch. Der Bauer begriff, daß man sich keinen Spaß mit ihm erlaubte. „Wie ist denn das? Ein Deutscher und plötzlich ... ein Partisan!" Felix lächelte. „Faschisten sind eure und meine Feinde ..." Am nächsten Abend kamen die Partisanen in
Baranowitschi an. Dmitri Stenko blieb beim Verbindungsmann in der Wohnung, Scheffler aber begab sich sofort in die Stadt. Bis zum Morgengrauen hatte er seine Aufgabe erfüllt: Die Flugblätter waren überall, wo sie sich nur anbringen ließen. Besonders viele waren es in den belebten Straßen des Stadtzentrums. Alle Blätter mit dem Aufruf an die deutschen Soldaten trugen die Unterschrift: „Die Beauftragten des Nationalkomitees .Freies Deutschland' im Hinterland, Abschnitt Mitte, Gruppe 117". So nannten sich Felix Scheffler und seine Kameraden. Das war für die deutschen Behörden ein Alarmsignal. Als Felix Scheffler um elf Uhr auf den Bahnhof kam, hörte er aus dem Lautsprecher eine Durchsage: Für die Festnahme der Partisanen, die die Flugblätter verteilt hatten, wurde eine hohe Belohnung - fünftausend Mark ausgesetzt. Der umgängliche Felix knüpfte indessen auf dem Bahnhof rasch Bekanntschaften an, erkundigte sich nach der Stimmung unter den Soldaten, erfuhr von ihnen, woher sie kamen und wohin sie fuhren. Wenn sich die Gelegenheit bot, steckte er seinen Gesprächspartnern Flugblätter zu. Bis zum Anbruch der Dunkelheit hatte es Felix Scheffler außerdem fertiggebracht, zwei deutsche Soldaten zum Überlaufen auf die Seite der Partisanen zu überreden. Er und Stenko brachten sie ins Lager. „Du hast uns ein Licht aufgesteckt", sagten die Soldaten zu Felix. „Frage doch mal den Kommandeur, ob wir nicht noch einmal nach Baranowitschi dürfen. Wir werden weitere Kameraden mitbringen." „Alles zu seiner Zeit", antwortete Felix.
Ich wußte damals noch nicht, welcher Plan in seinem Kopf heranreifte.
Entscheidung an der Kreuzung Das Wetter war prächtig, und wir saßen vor dem Erdbunker und arbeiteten an unserem nächsten Flugblatt. Hentschke, Bahrs und Scheffler verfaßten den Text, Karl Rinagel und Georg Cronauer hantierten an der „Partisanka"; Georg Cronauer gehörte zu den ersten deutschen Soldaten, die den Ruf ihrer Landsleute verstanden hatten und freiwillig zu den Partisanen gekommen waren. Die „Gruppe 117" hatte Verstärkung erhalten. Trotzdem war die Stimmung unserer deutschen Freunde manchmal gedrückt. Ich hatte dafür Verständnis. Ihre Landsleute kamen zu Hunderten und Tausenden ums Leben, und wofür? Wie konnte man bloß die deutschen Soldaten dazu veranlassen, daß sie die Waffen streckten? Der Funker Dmitri Stenko, der mit Felix seit der Flugblattaktion befreundet war, trat heran. „Wichtige Information - die Deutschen evakuieren in unserem Raum die Etappe." Als Scheffler das hörte, sprang er hoch. Seine Augen leuchteten. „Genosse Hauptmann", sprach er mich an, „gestatten Sie mir morgen ein Unternehmen? Ich gehe mitten unter die Soldaten und bringe ein ganzes Regiment mit." „Ein ganzes Regiment?!" staunte Georg. „Aber wie denn?" Nun legte Felix Scheffler seinen Plan dar. Er schien mir recht einleuchtend, wenn auch sehr gewagt zu sein. Doch warum sollte man es nicht versuchen?
Wir arbeiteten auf der Stelle gemeinsam die Einzelheiten der bevorstehenden Aktion aus. Auch General Platon billigte den von Scheffler vorgeschlagenen Plan, gab aber noch einige Ratschläge. Am nächsten Tag war unsere Gruppe um 23.00 Uhr an der Chaussee Minsk-Baranowitschi. Zwei Abteilungen versteckten sich im Gebüsch. Auch wir anderen verschwanden. Felix Scheffler aber stellte sich als Verkehrsposten auf die Kreuzung der Straßen MirNeswish und Minsk-Baranowitschi. Aus der Deckung sah ich seine dunkle Gestalt. Gegen zwei Uhr morgens hörten wir Motorräder knattern. Mit abgeblendeten Scheinwerfern brausten sie heran. Noch eine Minute, und Scheffler hielt sie an. Ein kurzer Wortwechsel, dann rasten die Kradfahrer davon. Nach einer weiteren halben Stunde vernahmen wir den Tritt beschlagener Stiefel und deutsche Worte. Infanterie war im Anmarsch. Als sich der Voraustrupp der Kreuzung näherte, hob Felix den Arm, stellte sich vor und fragte: „Wo ist der Kommandeur?" „Weiter hinten, beim Regiment." Es dauerte nicht lange, dann kam ein Major. Das Regiment, von dem nicht mehr als vierhundert Mann übriggeblieben waren, machte Halt. Felix erwies eine ordnungsgemäße Ehrenbezeugung und meldete die Lage: „Die Straße ist von starken gegnerischen Kräften abgeschnitten. Sie haben als Umleitung diese Straße zu benutzen!" „Verdammt!" fluchte der Major. Das Regiment bog auf die von Scheffler gewiesene Straße ab. Unsere Abteilungen bewegten sich parallel
zum Regiment. Als die Soldaten auf der Landstraße etwa zwölf Kilometer durch den Wald marschiert waren, tauchte an der Spitze der Marschkolonne plötzlich Felix Scheffler auf. „Landsleute, Kameraden!" rief er. „Hört mich bitte ruhig an, ohne jede Panik und Furcht. Ich bin hier, um euch vor dem sicheren Tod zu retten." Der verdutzte Major, der einen Meuterer vor sich zu haben glaubte, riß die Pistole aus der Tasche. „Ich knall dich über den Haufen!" brüllte er, verstummte aber, als ihn Karl Rinagel und Hugo Bahrs in deutscher Uniform umringten. Felix Scheffler aber fuhr fort: „Wie ihr seht, sind wir Deutsche. Aber wir hatten keine Lust mehr, unser Blut für eine schlechte Sache zu vergießen, und haben uns deshalb entschlossen, auf die Seite der sowjetischen Partisanen zu gehen. Hitler hat vielen Völkern und auch unserem deutschen Volk Unglück gebracht. Er hat Deutschland mit Schande bedeckt. Und nun frage ich euch: Wozu wollt ihr sinnlos Widerstand leisten? Ist es nicht besser, die Waffen niederzulegen und damit den Zusammenbruch der Hitlerdiktatur zu beschleunigen?" „Wo sind wir denn?" fragte einer der Soldaten. „Ihr seid an einem sicheren Ort", erklärte Hugo Bahrs. „Ihr seid bei den Partisanen, und ich, ein ehemaliger Soldat, garantiere für eure Sicherheit!" „Ja, Freunde, euch droht keine Gefahr", bestätigte Felix Scheffler. „Legt die Waffen nieder!" Jetzt traten die Partisanen aus der Deckung. Die Soldaten waren anfangs erschrocken, doch als sie sahen, daß sich diese „sonderbaren Russen" friedlich benahmen und sogar lächelten, begannen sie ihre Maschinenpistolen,
Handgranaten, Seitengewehre und leichten Maschinengewehre zusammenzulegen. Hugo Bahrs, Karl Rinagel und die anderen Antifaschisten verteilten Flugblätter unter den Soldaten. So hatte sich ein Regiment ergeben, ohne daß auch nur ein einziger Blutstropfen geflossen war.
Der Befehl des „Inspekteurs" Anfang Juni 1944 kam ich mit einer Partisanengruppe, zu der auch Hugo Bahrs gehörte, in das Lager einer Abteilung, die von Fjodor Danowitsch befehligt wurde. Wir sollten Bahrs in die Siedlung Ljubtscha schicken, um dort zu „inspizieren". Uns interessierten die Hilfspolizisten in Ljubtscha. „Es dürfte sehr schwer sein, sich dort einzuschleichen", sagte Danowitsch, „aber es wird uns schon etwas einfallen . .. Wir setzen den Genossen über den Neman." Hugo Bahrs zog eine Leutnantsuniform an, betrachtete sich in einem Spiegelscherben und lachte. „Ein regelrechter Inspekteur, wie vom deutschen Oberkommando", sagte einer der Partisanen. „Wenn schon nicht vom Oberkommando, dann aber aus der Polizeiverwaltung von Baranowitschi", entgegnete Danowitsch. Das Übersetzen glückte sehr gut. Bahrs ging anfangs durch das Gebüsch am Ufer entlang und schwenkte dann auf das Gelände eines alten gräflichen Anwesens ein. Gegen Mitternacht näherte er sich Ljubtscha, umging die Siedlung vom Osten her und erreichte die Kleinbahnstrecke, die Ljubtscha mit der Stadt Nowogrudok verband. Vor ihm lag die Station.
Im engen und stickigen Wartesaal des Bahnhofs, den Hugo Bahrs betrat, saßen schläfrige Fahrgäste. „Wo ist der Stationsvorsteher?" fragte er auf Deutsch. „Nicht verstehen", antwortete ein bärtiger Alter. „Bring mich zum Stationsvorsteher", befahl Bahrs. Der Bärtige erhob sich schwerfällig, aber da ging schon die Tür auf, und in den Raum trat hastig ein hagerer Mann. „Ich Stationsvorsteher, Herr Offizier", radebrechte er in deutscher Sprache. „Warum holen Sie mich nicht ab?" „Keine Verbindung, Herr Offizier. Ich gar nicht wissen, daß ..." „Sie heißen?" „Polizist Adamczyk." „Führen Sie mich in Ihren Dienstraum!" Im Dienstraum stellte sich Bahrs als Inspekteur aus Baranowitschi vor und erfuhr von Adamczyk alles, was. er wissen wollte. Dann sagte er: „Bringen Sie mich zum Polizeichef!" „Jawohl, Herr Offizier!" antwortete Adamczyk. Sie traten in den Hof. Adamczyk hängte sich ein Gewehr um und schritt an Bahrs Seite zum Zentrum der Siedlung. Unterwegs erklärte er, warum in den Fenstern der Häuser kein Licht zu sehen war: Es war Verdunkelung angeordnet worden. Neben einem langgestreckten Haus wurden sie von einem Posten angehalten. Adamczyk nannte seinen Namen und die Parole. Dann fügte er hinzu, mit ihm sei ein Herr Inspekteur aus Baranowitschi gekommen, der den Vorgesetzten sprechen möchte. Eine Taschenlampe leuchtete auf, dann sagte der Posten: „Passieren."
Der Korridor war mit einer Petroleumlampe erleuchtet, man sah Gewehre und Maschinenpistolen in Ständern. Ein großer, breitschultriger Mann eilte Bahrs entgegen. Im Gehen rückte er die Pistolentasche zurecht, nahm dann Haltung an und stellte sich vor: „Oberpolizist Babenko!" „Warum ist am Bahnhof keine Sicherung?" fragte Bahrs ärgerlich. „Moment, Herr Leutnant, gleich kommt Dolmetscher." Der Dolmetscher, ein alter Mann, trat zu ihnen. Bahrs wiederholte seine Frage. „Sicherung, Herr Leutnant, haben wir am Flußufer und am Westrand der Siedlung", antwortete Babenko. „Der südliche Rand ist nicht so gefährdet. Dort sind Patrouillen eingesetzt. Wir richten uns genau nach der Anweisung des Herrn SSKommandeurs." Bahrs prüfte mit zusammengezogenen Brauen die Listen mit den Namen der Babenko unterstellten Hilfs-polizisten, erkundigte sich, wie sie ihren Dienst versahen. „Sagen Sie Babenko", wandte er sich an den Dolmetscher, „daß er sofort fünfzehn .Hilfspolizisten einteilen soll, die mich bis Korelitschi begleiten. Außerdem brauche ich Fuhrwerke." Hugo Bahrs wartete auf die Übersetzung. „Klar?" „Alles klar, Herr Leutnant!" Babenko schlug die Hacken zusammen. Im Lager hatten wir mit Hugo Bahrs den Zeitpunkt für seine Rückkehr vereinbart. Sollte es ihm gelingen, Hilfspolizisten oder SS-Leute mitzubringen, dann würde er auf der Straße Ljubtscha-Korelitschi zurückkehren. Wenn er allein wäre, käme er den alten Weg am Flußufer entlang. Im Morgengrauen war eine von Zarjuk befehligte Partisanengruppe an der Straße.
Hugo Bahrs und Felix Scheffler bei der Wiederbegegnung mit ehemaligen sowjetischen Partisanen; Felix Scheffler ist heute Konteradmiral der Volksmarine, Hugo Bahrs ist Verwaltungsdirektor des Staatlichen Tanzensembles der DDR
Mit einem Feldstecher beobachtete Zarjuk unablässig die Straße. Als von Ljubtscha her Fuhrwerke in Sicht kamen, ließ er durch die Kette das Kommando weitergeben: „Volle Bereitschaft!" Auf dem ersten Fuhrwerk saß Bahrs mit zwei Hilfspolizisten. Er ließ die Kolonne halten. „Was sollen wir denn tun, Herr Leutnant?" wurde er gefragt. „Antreten!" Die Polizisten traten schnell an; Bahrs befahl: „Die Waffen in die Fuhrwerke legen!" In diesem Augenblick traten die Partisanen wortlos aus
dem Gebüsch... Kein einziger Schuß fiel auf der in diesen frühen Morgenstunden öden Straße.
Sprung in die flammende Stadt „Heute haben wir einen großen Tag. Unsere Truppen haben sich lange vorbereitet, und nun geht es vorwärts. Ihr wißt das sicherlich schon aus den Zeitungen. Sollte es gelingen, den Erfolg weiterzu-entwickeln, dann wird ganz Polen in wenigen Wochen befreit sein. Das Kriegsende ist nah!" Diesen Brief schrieb ich meinen Verwandten am 23. Juli 1944, und am 1. August erreichten unsere Truppen nach langen und zähen Kämpfen zusammen mit der 1. Polnischen Armee das Ufer der Weichsel. Auf der anderen Seite lag Warschau. In Warschau hörte man Tag und Nacht heftiges Schießen. Gebäude brannten. Über der Stadt kreisten deutsche Flugzeuge. Was ging in Warschau vor? Lückenhafte Informationen besagten, daß in der Stadt ein Aufstand ausgebrochen war. Unbegreiflich war eines: Die Organisatoren des Aufstandes hatten den Zeitpunkt ihrer Aktion nicht mit den strategischen Plänen der Roten Armee und der 1. Polnischen Armee abgestimmt. Wie war das möglich? Auf Weisung des sowjetischen Oberkommandos begann die Versorgung der Aufständischen mit Munition, Waffen, Medikamenten und Lebensmitteln aus der Luft. Gleichzeitig wurde über Warschau eine Gruppe unserer Aufklärer abgesetzt, um die Situation zu erkunden. Diese Gruppe verschwand spurlos. Auch von einer zweiten
Gruppe, die in die flammende Stadt geschickt wurde, kam keine Nachricht. In jenen Tagen wurde ich in den Stab der 1. Belorussischen Front beordert. Dort empfingen mich Generalleutnant Telegin und der Oberbefehlshaber der Front, Marschall Rokossowski. „Man hat mir über Sie, Genosse Kolos, bereits berichtet", begann Rokossowski. „Nehmen Sie Platz.. ." Ich setzte mich. „Sie haben sicherlich bereits gelesen, daß in Warschau ein Aufstand ausgebrochen ist?" „Das habe ich. Genosse Oberbefehlshaber." „Und nun ..." Rokossowski begann zu erklären. Ich sollte am nächsten Tage über dem brennenden Warschau abspringen und dort die Stärke der deutschen Truppen erkunden. Außerdem hatte ich die Aufgabe, Verbindung mit dem Kommando der Armia Ludowa aufzunehmen und zu erfahren, was die Aufständischen brauchten. „Ein Funker fliegt mit Ihnen." „Alles klar, Genosse Oberbefehlshaber!" „Führen Sie Ihren Auftrag aus!" Der Funker hieß Dmitri Stenko. Wir waren beide erfreut, wieder zusammen eingesetzt zu werden. Dmitri erinnerte mich an unseren Einsatz mit den deutschen Genossen der „Gruppe 117" im Gebiet von Baranowitschi. Vor dem Abflug hörten wir uns den neuesten Frontbericht an, dann kam Oberst Below, mein alter Bekannter, in einem Kübelwagen vorgefahren. Auch mit ihm verbanden sich meine Erinnerungen an die Wälder von Naliboki. Obwohl er frohgelaunt schien und scherzte, ahnte ich, daß er sich Sorgen machte. Ich konnte ihn verstehen.
Wir begaben uns in eine Stadt, aus der bereits zwei Aufklärergruppen nicht zurückgekehrt waren. Nahezu die ganze Mannschaft des Geschwaders kam auf das Flugfeld, um uns zu verabschieden. In der Nacht waren die Gesichter nicht zu erkennen. Man sah nur hier und da Zigaretten glimmen. Zum Abschied wollten alle mir die Hand drücken. Nur Dmitri Stenko gab mir nicht die Hand. Ich tat es ebenfalls nicht, sollten wir uns doch nach ein oder zwei Stunden in Warschau wiedersehen. „Sehen wir uns auch wieder?" „Bis bald!" sagte er und ging zu seinem Flugzeug. Ich ging zu meiner Maschine. Als ich es mir in der Kabine hinter dem Rücken des Piloten bequem machte, dachte ich einen Augenblick: Vielleicht hätte ich Dmitri doch die Hand drücken sollen? Die Motoren unserer Po-2 heulten auf, und schon waren wir in der Luft. Wir überflogen dunkle Felder, dann Praga, einen Vorort von Warschau, der von den Truppen unserer Front inzwischen besetzt worden war. Hier legten wir unseren „Paß", eine grüne Signalrakete, vor. Im Tiefflug überflogen wir die Weichsel. Die gegnerische Luftabwehr erfaßte uns mit Scheinwerfern und eröffnete das Feuer. Leuchtspurgeschosse zogen durch die Finsternis bunte Punktlinien, die sich im Fluß widerspiegelten. Es war unangenehm zu hören, wie nahe von der lächerlich dünnen Verkleidung unseres Flugzeugs Granatsplitter kreischten. Die Fliegerabwehrgeschütze waren am Rande von Warschau konzentriert. Das Stadtzentrum hingegen blieb stumm. Von einem Kranz der Mündungsfeuer umrahmt, schien es ein tiefes, schwarzes Loch zu sein. Und der Durchmesser dieses Loches war gar nicht so groß.
Ich vergaß die Flakgeschütze. Das wichtigste war, nicht zum Gegner abzuspringen, sondern zu den Aufständischen. Da mußte ich mich auf den Piloten verlassen. Der Flugzeugführer hob den Arm. Das war für mich das Zeichen. Gegen heulenden Wind ankämpfend, kletterte ich auf die Tragfläche. Unter uns die von den Aufständischen gehaltenen Stadtviertel, mit dichtem Rauch überzogen. Stellenweise schlugen Flammen durch die Rauchdecke. Das war sicherlich die PoniatowskiBrücke... Und das die Marszalkowska . .. Ohne rechten Grund streifte ich unter Lebensgefahr die Lederhandschuhe, die mir Oberst Below geschenkt hatte, ab und reichte sie dem Piloten. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr: 3.10 Uhr. Der Motor war abgestellt. Lauter heulte der Wind, lauter krachten die Schüsse. Wo war Dmitri? Ich zwang mich, nach unten zu schauen. Der Pilot... Warum zögerte er denn? In der Sekunde, als die Erde unerträglich nahegerückt war, als die Mauern der zerstörten vielstöckigen Häuser schon das Fahrwerk zu kratzen schienen, riß der Pilot seinen Arm hoch. „Los!" Ich erinnere mich oft an diesen Sprung und kann bis heute nicht den Eindruck loswerden, daß der Fallschirm sich erst im Augenblick der Landung öffnete - so gering war die Höhe, aus der ich gesprungen war. Vom Aufprall wurde mir dunkel vor Augen ... Als das Bewußtsein wiederkam, spürte ich dumpf, daß ich noch am Leben war. Ich betastete mit dem kraftlosen rechten Arm den Kopf und die Brust. Der linke Arm, der bis an die Schulter mit glühendem Blei angefüllt zu sein schien, ließ sich überhaupt nicht bewegen. Ich versuchte
die Knie zu beugen. Die Beine waren steif, aber schienen heil zu sein. Ringsum absolute Finsternis mit flimmernden Funken. Sollte ich blind geworden sein? Nein, das Sehvermögen und das Gehör kamen wieder. Ich lag auf Trümmern, Betonbrocken und Glasscherben. Von unten drang stickiger Rauch hoch. Ich versuchte mein finnisches Messer zu packen. Das gelang mir endlich. Es war nicht leicht, mit einer Hand die Leinen des Fallschirms zu fassen und abzuschneiden. Ich hörte in der Nähe Putz herabrieseln, ließ das Messer fallen und griff nach der Handgranate. Dann löste ich die Karabinerhaken der Tragegurte, holte die Pistole aus der Tasche. Zwischen bizarr verzogenen Eisenträgern begann ich im Rauch irgendwelche Schatten zu erkennen. Da vernahm ich dumpfe Stimmen. Menschen! Sie kamen näher. Irgend etwas klirrte, und wieder rieselte Putz. Tief, wie in eine Schlucht herabfallend, weckte er ein hallendes Echo. Wo war ich denn? Ich starrte so angespannt in die Dunkelheit, daß Tränen in die Augen traten. Doch vergeblich, ich hörte nur die polnischen Worte: „Hier, Stefan, hier! Schau, ein Fallschirm l" Ich atmete erleichtert auf: Es waren Polen! Ja, aber welche? „Halt, keinen Schritt weiter!" rief ich heiser. Die Männer blieben stehen. „Sind Sie ein Russe?" Ohne die Pistole loszulassen, versuchte ich aufzustehen und wurde im gleichen Augenblick durch einen vorüberhuschenden Scheinwerferstrahl geblendet. Und dann ein Einschlag! Als ich die Augen wieder öffnete, lag neben mir, die
Arme ausgebreitet, ein toter Pole. Seine Kleidung, seine Arme und sein Gesicht waren mit Ziegelstaub bedeckt. Andere Männer tauchten auf. Ich suchte und sah meine Pistole, konnte sie aber nicht mehr greifen. Es blieben mir noch das Messer und die Handgranate. Ich tastete mit der Hand langsam zum Gürtel. Da sah ich zwei Schritte vor mir einen polnischen Offizier. „Sind Sie ein Russe?" fragte er. Ich wollte antworten, konnte aber nicht. Als er keine Antwort erhielt, zuckte der Offizier mit den Schultern, betrachtete den Fallschirm und blickte in den glutroten Himmel. „Aber gewiß ein Russe!" hörte man hinter ihm eine helle, jugendliche Stimme. „Wie kommt er denn bloß her, Jozef? Etwa aus einem abgeschossenen Flugzeug?" „Er lebt! Er atmet!" rief erfreut der Offizier aus, den der andere mit Jozef angeredet hatte. Ich hob den Kopf. Über die in der Morgendämmerung grauen Gesichter der Polen huschte ein Lächeln. Man half mir aufstehen. Ich fühlte Schmerzen im linken Bein. Der linke Arm war irgendwie verdreht und angeschwollen. Er mußte in eine Schlinge gelegt werden. In diesen Minuten arbeitete mein Bewußtsein besonders exakt, trotz des Dröh-nens im Kopf und in den Ohren. Ich erfaßte alles um mich ungewöhnlich rasch, nur reden wollte ich nicht. Oder, genauer gesagt, das Sprechen fiel mir schwer. Die Aufständischen stiegen mit mir eine beschädigte Treppe hinunter. Jozef trug meinen Fliegerhelm, den er zwischen den Ziegeln gefunden hatte, klopfte ihn aus, putzte die Brillengläser sauber. Ich war, wie sich herausstellte, glücklicherweise in den
zerstörten Dachstuhl eines sechsstöckigen Hauses gefallen. Ob Dmitri ebensoviel Glück gehabt hat? Als wir zwei Stockwerke tiefer angelangt waren, blieb Jozef stehen und wies durch einen Mauerdurchbruch auf das Nachbargebäude, eine Ruine. „Faschisten!" sagte Jozef. Kugeln prasselten gegen Ziegelsteine. Wir mußten etwas warten. Ich fragte nach Dmitri Stenko. Jozef war froh, als er mich Russisch sprechen hörte! Hatte ich doch bislang geschwiegen, und er zweifelte schon daran, daß ich ihn überhaupt verstand. Jozef versprach, unverzüglich eine Gruppe auf die Suche nach dem zweiten russischen Flieger auszuschicken. Wir kamen endlich unten an und stiegen dann in einen Keller. „Wir sind da!" sagte Jozef. So geriet ich unter die Warschauer Aufständischen.
Kampf um Keller und Kanäle Im Keller waren viele Menschen beisammen. Sie umringten mich, starrten auf meine Schulterstücke und tuschelten miteinander, mutmaßten sicherlich, was für einen Dienstgrad ich hätte. Jozef ging hinaus und kehrte mit einem Stuhl zurück. Dann kam ein Mann, dem die Partisanen respektvoll Platz machten. „Major Senk, Kommandeur einer Sammelgruppe der Armia Ludowa", stellte er sich vor. Es war also eine Gruppe der Armia Ludowa, der von der Polnischen Arbeiterpartei geleiteten Volksarmee? Nun konnte ich der aufrichtigen Freundschaft der Menschen um mich ganz sicher sein.
„Die Suche nach Ihrem Kameraden geht weiter", sagte der Major, während mir eine Krankenschwester den Rock auszog und den Arm verband. „Sagen Sie mir aber vor allem, was sich an der Front tut." Ich erfreute die Aufständischen mit der Neuigkeit: Sowjetische und polnische Soldaten haben die Weichsel südlich von Sandomierz überquert, an allen Fronten verstärkt sich der Druck, und die Faschisten erleiden riesige Verluste. Von mir sagte ich nur, daß ich im Auftrag Rokossowskis eingetroffen sei. Major Senks Augen leuchteten auf. Er gebot mit einer Armbewegung Ruhe und sagte: „Da! Ihr seht, Freunde, wirkliche Hilfe kommt aus dem Osten und nicht aus dem Westen! Nein, wir sind nicht allein..." Indessen lag auf dem Tisch ein Haufen Zwieback, und daneben stand ein Krug ohne Henkel. Chorzinski, ein älterer Mann mit großem Schnurrbart, teilte die Zwiebäcke in gleiche Teile, dann goß er Wasser in Gläser, Becher und Feldflaschen. Man verfolgte schweigend sein Hantieren, und erst jetzt bemerkte ich, wie blaß die Gesichter der Menschen und wie tief eingefallen ihre Augen waren. Ich holte aus der Tasche meiner Fliegerbluse das Paket mit der eisernen Ration, riß es auf und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Senk schob unverzüglich alles zu mir. „Nimm das zurück! Jetzt wird unsere Lage besser - eure Flugzeuge haben mit dem Abwurf von Nahrungsmitteln begonnen. Wenn es doch schneller ginge... Wir haben hier viele Frauen, Kinder ..." „Dann gebt das doch Frauen und Kindern!" Der Schnurrbärtige räusperte sich laut und versteckte seine feuchten Augen unter den dichten Augenbrauen.
Jozef wandte sich ebenfalls ab. Die Aufständischen stellten sich an, um Zwieback und Wasser zu erhalten, dann gingen sie wieder in den Kampf. Ich spürte Major Senks Hand auf meiner Schulter. „Du denkst, ich sehe es nicht? Du hast doch nicht alles gesagt..." Wir unterhielten uns lange in einer dunklen Ecke des Kellers. Des Majors Worte waren leidenschaftlich und zornig, als er auf das tragische Schicksal der Warschauer Bevölkerung zu sprechen kam. „Begreifst du, das Sanacjaregime möchte über unsere Leichen wieder an die Macht kommen... General BorKomorowski brauchte den Aufstand, um uns, das freie Polen, zu bekämpfen. Nicht die Okkupanten ... Das ist uns klar! Klar ist auch, daß es in Warschau Menschen gibt, die sich noch nicht ganz klar vorstellen, wo BorKomorowski und seine Londoner Auftraggeber aus der Exilregierung mit ihnen hin wollen. Wir haben uns deshalb dem Aufstand angeschlossen, um - wenn es geht - die Katastrophe zu verhindern... Aber laß nur! Ich schwöre, daß wir früher oder später alle diese Verräter aus Polen hinausfeuern werden!" Ich verstand den Zorn des Majors. Das berüchtigte Sanacjaregime war nach dem Staatsstreich des Marschalls Pilsudski im Jahre 1926 entstanden. Die herrschende Klasse entwickelte das Programm der „Sanacja" - das Programm der „Säuberung" des Landes von der „Infektion des Bolschewismus". Nach der Aufhebung des Achtstundentages und brutaler Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Arbeiterklasse wurden mit der zunehmenden Faschisierung Polens in den dreißiger Jahren auch die wenigen noch
verbliebenen bürgerlich-demokratischen Freiheiten für alle polnischen Bürger beseitigt. Und die Londoner Regierung wollte die alten Verhältnisse wiederherstellen, wollte wieder ein Polen der Pane. Ich bewunderte den Kampfesmut dieses Kommandeurs und seiner Männer. Nach unserem Gespräch rief Major Senk Jozef heran: „Was ist denn mit dem zweiten Genossen?" „Ist vorläufig noch nicht gefunden. Darf ich auf die Suche gehen?" Auch ich konnte nicht länger untätig dasitzen, solange Dmitris Schicksal ungewiß blieb. Die Krankenschwester wollte mich nicht gehen lassen. Ich sollte mich ein wenig erholen. Jozef und der Schnurrbärtige führten mich durch Keller und Kanalisationskanäle. Es läßt sich schwer über diesen Weg berichten. Ich träume auch heute zuweilen noch von schmalen steinernen Gängen, kalten Wänden, ekligem Modder und glitschigen Rohren, an die man sich klammern mußte, um nicht zu stürzen. In einem solchen Gang, tief unter der Erde, versperrte uns eine Frauenleiche den Weg, in einem anderen Keller sahen wir einige Menschen, unter ihnen zwei gleichgekleidete Mädchen, offensichtlich Zwillinge. Sie rappelten sich hoch und humpelten uns entgegen. „Retten sie Mama!... Retten Sie unsere Mama! . . ." Wir schauten in die Ecke, wo ihre Mutter lag. Ich beugte mich über sie und begriff, daß jede Hilfe zu spät kam. Die Mädchen aber jammerten weiter: „Retten Sie Mama l" Der Schnurrbärtige legte einem Mädchen seine breite Hand auf den Kopf, wollte etwas sagen, brachte aber nichts hervor, winkte verzweifelt ab und ging schnell weiter, den Kopf zwischen die Schultern eingezogen. Ich
gab den Mädchen den Zucker, den ich noch in der Tasche hatte. Sie nahmen ihn, rührten ihn aber nicht an und blieben stehen, den Zucker in den zitternden Händchen. Leichengeruch verfolgte uns unablässig. Endlich erreichten wir einen Laufgraben. Wir schritten etwa zwanzig Meter den Graben entlang, ohne Hast, um möglichst lange in frischer Luft zu sein, dann stiegen wir in den letzten Keller auf unserem Wege hinab. Er war leer. Nur auf der dunklen Treppe saß ein weißbärtiger Pole. Er trug eine alte Soldatenuniform mit Medaillen und Kreuzen. Quer über seine Knie lag ein Zwillingsgewehr. Sein gerissener Schaft war mit Draht geflickt. „Bin wieder Soldat...", antwortete der Alte auf unsere stumme Frage. Dann blickte er auf meine Schulterstücke und fragte in gebrochenem Russisch: „Tatsächlich ein Russe? ..." „Ein Russe, ein sowjetischer Hauptmann", antwortete Jozef. Wir gingen die Stufen hinauf, erreichten die Toreinfahrt und blickten auf die Straße hinaus. Sie war mit Trümmern übersät. Auf dem höchsten Trümmerhaufen stand ein Tisch, durch eine Explosion hinaufbefördert. Aus nahegelegenen Ruinen schoß ein Granatwerfer. Eine schlanke Frau im Männermantel, einen etwa siebenjährigen Jungen am Arm, rannte mit einem Koffer über die Straße. Hinter ihr hastete, ein schweres Bündel auf dem Rücken, eine alte Frau. Ich betrachtete die zerstörten Häuser und überlegte: Wie soll ich hier Dmitri finden? Ich hätte von Deckung zu Deckung springen müssen,
doch dazu war ich nicht imstande. Das lange Herumirren durch die Keller und Gräben hatte mich vollends erschöpft. „Nieder!" rief ich, als ich das rasch anschwellende Heulen einer Granate hörte. Wir warfen uns zu Boden. Steinsplitter bohrten sich in meine Hände, Knie und ins Gesicht. Dicht am Ohr kreischten Splitter, eine warme Welle schlug uns entgegen, Schutt prasselte gegen den Rücken. Vorüber! Als wir die Straße überquert hatten und durch einen Laufgraben wieder in einen Keller gehuscht waren, begegneten wir Aufständischen, Sie erzählten, das Haus über uns sei am Vorabend von Faschisten besetzt worden. Sie konnten bisher nicht hinausgeschlagen werden, denn die Aufständischen hatten weder Handgranaten noch Sprengstoff. „Und wenn Dmitri gerade auf dieses Haus gefallen ist," sagte ich laut. „Wohl kaum", meinte Jozef. „Der obere Teil dieses Hauses ist durch eine Explosion abgetragen worden ..." Wieder führte der Weg durch Keller und Gänge. Wir näherten uns der am weitesten vorgeschobenen Stellung eines der Abschnitte von Major Senk. Immer häufiger begegneten wir kleinen Gruppen von Aufständischen. Manche erkannten in mir einen sowjetischen Offizier. Ich sah im Lichtschein der Taschenlampe freudige Neugierde auf ihren Gesichtern, aber wen wir auch fragten - von Stenko wußte keiner etwas. Es war bereits gegen sechs Uhr. Wir irrten jetzt um die Sennaja herum. Jede Minute ließ die Hoffnung schwinden. Ich glaubte schon nicht mehr daran, daß ich Dmitri lebend oder tot wiedersehen würde, als wir
plötzlich von zwei Soldaten aus Jozefs Zug eingeholt wurden. „Wir haben ihn gefunden!" Während des Krieges hatte ich mich an manches gewöhnt, aber das, was ich sah, als ich das fünfte Stockwerk erklettert hatte, ließ mich erschauern: Dmitri hing über der Straße, seine Beine hatten sich in den verzogenen Stangen eines Balkongeländers verfangen. Sein Körper war verkrümmt und in die Leinen des Fallschirms gewickelt. Ich schnitt die Leinen mit dem Messer durch, Jozef und der Schnurrbärtige zogen Dmitri ins Haus. Der Pulsschlag war nicht zu spüren. Als wir ihm aber die Jacke aufknöpften und ich die Hand auf die Brust legte, schrie ich vor Freude auf: Sein Herz schlug, wenn auch sehr schwach. Mein Freund war noch am Leben! Wir trugen Dmitri in den Keller, in dem sich Major Senks provisorischer Gefechtsstand befand, und bereiteten ihm ein möglichst bequemes Lager. Dabei halfen alle, die im Keller waren. Nur Senk, der auf dem Tisch eine Karte Polens ausgebreitet hatte, saß nachdenklich in der Ecke. Allerdings blickte er hin und wieder zu uns herüber. Die junge Krankenschwester verband Dmitri und ging dann zum Major. Als sie ihm den Mantel und die Jacke ausgezogen und den Ärmel des blutgetränkten Hemdes hochgerollt hatte, sah ich bestürzt, daß Senk ebenfalls verwundet war. Er reagierte auf meinen Blick mit einem Lächeln. „Halb so schlimm", sagte er und fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Schlimm ist aber, daß wir keine Karte der Stadt haben."
Ich zog meine Karte aus der Tasche. „Nehmen Sie diese." „Vielen Dank. Jetzt wird alles genau eingetragen und nicht über den Daumen gepeilt..." Die von den Abteilungen der Armia Ludowa gehaltenen Stellungen markierend, berichtete Senk: „Diese Punkte haben wir gleich am ersten Tage des Aufstandes besetzt. Wir konnten das besetzte Territorium sogar erweitern, mußten aber dann in die Ausgangsstellungen zurück, ja, haben nicht einmal diese überall gehalten ... Die Faschisten haben uns das Ultimatum gestellt: Die gesamte Warschauer Bevölkerung soll die Stadt mit weißen Flaggen in westlicher Richtung verlassen. Gute Behandlung wurde zugesichert. So mancher hat ihnen geglaubt. . ." Senk zog die Augenbrauen zusammen, seine Augen wurden zu einem Spalt. „Ihr Russen wißt, was Haß ist. Wir wissen es auch. Alle Warschauer, die aus der Stadt gezogen sind, wurden in Konzentrationslager geworfen. Du bist doch durch die Keller gegangen? Hier kann man sterben. Schlimmeres gibt es nicht... In den Lagern aber? ... Gut, lassen wir das!" unterbrach er sich selbst. „Das ist nun die Lage ... Nach Angaben der Aufklärung befinden sich im Raum von Warschau fünf deutsche Divisionen - drei davon unmittelbar in der Stadt, von irgendeinem SS-Obergruppenführer befehligt. Gestern brachte mir Jozef die Dokumente eines gefallenen Panzersoldaten von der ,Hermann-Göring-Division'. Ob die ganze Division hier ist, wissen wir noch nicht. Es gibt einzelne Pionierbataillone, es gibt MG-Kompanien. Und es gibt natürlich allerlei Abteilungen der SS und der Gestapo ..."
Senk teilte mich dem Zug Jozefs zu. Als ich an seiner Barrikade erschien, versuchten die Faschisten gerade sie zu erstürmen. Sie traten zu einem neuen Angriff an, dem sechsten in den letzten vier Stunden. Die Aufständischen kamen sofort aus der Deckung, in der sie sich während des Geschütz- und Granatwerferfeuers geschützt hatten, nahmen ihre Plätze ein und eröffneten das Feuer. Geschossen wurde von der Barrikade, aus Mauerdurchbrüchen, aus Fenstern, von überall. Die Faschisten zogen sich zurück. Die Aufständischen besaßen nur wenige Maschinenpistolen, dafür hatten sie etwas anderes: sowjetische Panzerbüchsen... Durch den Mißerfolg erbost, setzten die Faschisten Panzer gegen uns ein. Vier „Tiger" rollten in der schmalen Straße hintereinander an. Der Spitzenpanzer schoß direkt auf die Barrikade und überschüttete sie mit Maschinengewehrfeuer. Die übrigen Panzer beschossen die Häuser. Die Aufständischen wankten nicht, sondern richteten die Panzerbüchsen gegen die „Tiger". Eine Granate traf den Spitzenpanzer, seine Kette riß, er drehte sich auf der Stelle und erstarrte. Die drei anderen machten kehrt... Am selben Abend zeigte mir Major Senk die neueste Ausgabe eines von Bör-Komorowski herausgegebenen Blättchens. Auf der ersten Seite wurde ausführlich berichtet, in Warschau sei ein sowjetischer Verbindungsoffizier eingetroffen, um Kontakt mit dem Kommando der Armia Krajowa aufzunehmen. Der in besonders optimistischem Ton gehaltene Artikel mahnte die Warschauer zur Geduld. Von den antisowjetischen Stimmungen der Initiatoren des Aufstandes - kein Wort.
Nachts aber traf ich einen Offizier, der sich der Armia Ludowa anschloß. Als er dieses Blättchen gelesen hatte, sagte er zu mir: „Worauf Bor spekuliert? Wie es heißt, hat er aus London die Weisung erhalten, sich der sowjetischen Verbindungsleute zu bemächtigen ... Er schreckt vor nichts zurück. Also nehmen Sie sich in acht!" „Aber wozu braucht er uns denn?" „Hat er Sie in den Händen, so können die Führer der Armia Krajowa weiterhin lügen, sie ständen in Verbindung zur sowjetischen Armee." Nach diesem Gespräch eilte ich zu Dmitri. Er lag immer noch regungslos im Nebenraum. „Wir sollten beisammen sein", flüsterte er schwach. „Gut, Dmitri!" „Ich bin jetzt nur eine Belastung ... Und doch, im Notfall..." Er versuchte, sich aufzurichten. „Bleib liegen ... Du fühlst dich doch schon besser, nicht wahr?" Dmitri lächelte schmerzlich. „Schau mich nicht so an, ich bin noch ..." Ich erinnere mich deutlich dieser Worte. Ich erinnere mich auch, wie plötzlich der Zementfußboden unter meinen Füßen schwankte und davonglitt... Einschlag einer Granate. Ich sah schlecht und konnte kaum noch einen Gedanken fassen, als ich wieder zu mir kam. Eine Mauer des Kellers war einfach fort. Neben mir lag Dmitri auf dem trümmerübersäten Boden. Blut floß ihm aus dem Kopf. Blutig waren auch seine blaugewordenen Lippen. Ich packte ihn. „Dimka! Dimka!"
Er antwortete nicht. „Leb wohl, Freund!"
Durchbruch zur Weichsel Von Stunde zu Stunde zog sich der Ring des Gegners um die Aufständischen zusammen. Ich befand mich im Stadtzentrum, in der Chozej-Straße. Der Keller, in dem Major Senk mit mir die Lage in Warschau beriet, bebte unter den Einschlägen. Wir wurden ununterbrochen mit Granatwerfern beschossen ... Eine solche Situation komplizierte meine Aufgabe, doch ich mußte handeln. In der Nacht bat ich polnische Genossen zu mir und äußerte den Gedanken, einen deutschen Offizier gefangenzunehmen. Wir brauchten unbedingt eine „Zunge". Jozef wiegte den Kopf. „Das ist sehr schwierig." „Aber nicht unmöglich", antwortete ich. „Wollen wir es versuchen?" „Gut, versuchen wir es..." Wir erreichten durch die Kanalisationskanäle den Stab des Befehlshabers der Warschauer Garnison. Vor dem Stab standen zwei Wachposten. Niemand betrat oder verließ den Stab. Lange konnten wir nicht bleiben, weil die Faschisten von Zeit zu Zeit Handgranaten in die Gullys warfen oder Gas in die Kanalisationsgänge bliesen, weil sie einen Überfall der Aufständischen befürchteten. Also... Geduld. Am selben Tag wiederholten wir unseren
„Spaziergang" unter der Stadt - und wieder vergeblich. Wir mußten es noch einmal versuchen, und noch einmal und schließlich ... Es war gegen Abend. Als wir den Gullydeckel anhoben, sahen wir einen Lastkraftwagen. Soldaten luden Möbel ab. Dann fuhren noch zwei weitere mit Kisten beladene Lastkraftwagen vor. Plötzlich bremsten Personenkraftwagen, gleich drei auf einmal. Sie hielten vor dem Hauptportal. Offiziere stiegen aus den Wagen und gingen in den Stab. Waren es Vorgesetzte, aber wer? Wir brauchten einen höheren Offizier. Wir lauerten zehn Minuten,.. zwanzig... dreißig. Da sahen wir zwei Offiziere mit Mappen aus dem Stab kommen, die sich zum Wagen begaben, der dicht vor unserer Luke stand. Wir packten einen der Offiziere an den Beinen und rissen ihn in die Luke. Er kam nicht einmal dazu, aufzuschreien ... Als wir im Kanalisationskanal etwa dreißig Meter fort waren, detonierten hinter uns Handgranaten . . . Der Offizier, ein Hauptmann, war schwer. Wir schleppten ihn mit Mühe und Not in Senks vorläufigen Gefechtsstand und brachten ihn dort zu sich. Die Krankenschwester verband seine Kratzer. Er war ein Stabsoffizier der Division, die ihren Standort im Vorort Okecje hatte. Über die Division, ihre Bewaffnung und ihren Kampfauftrag erfuhren wir Näheres aus einem Bericht, den ich in der Mappe des Hauptmanns fand. Bei der Vernehmung erzählte der Hauptmann, sie würden an ihrem Abschnitt Verteidigungsstellungen bauen und nach Warschau seien aus Italien und Holland Panzerdivisionen verlegt worden ... Alle diese Informationen waren so wichtig, daß ich sie
unverzüglich an den Stab der Front funken ließ. Als bekannt wurde, daß Bor-Komorowski und sein Stab beschlossen hatten, die Aufständischen den faschistischen Truppen auszuliefern, entschloß ich mich, da ich auch alle benötigten Informationen über den Gegner gesammelt hatte, Warschau zu verlassen. Es gab nur einen Weg: Durch das Kanalisationssystem zur Weichsel, und dann schwimmend über den Strom. Jozef kam mit. Mit einer Taschenlampe leuchtend, stieg er als erster die eiserne Leiter des Kanalisationsschachtes hinunter. Sofort versank er bis an den Gürtel im Abwasser. Ich steckte die Pistole in die Brusttasche und folgte ihm. Das eisige Wasser drang in die Stiefel, die nassen Hosen klebten an den Beinen. „Mach auch Licht", sagte Jozef. Seine Stimme hallte weit über die schwarze Glätte der Abwässer. Wieso schreit er denn? dachte ich, obwohl sich Jozefs Lippen kaum bewegten. Wir gingen weiter, die Hände über dem schwankenden Modder erhoben. Unter den Füßen spürte ich Eisenteile und Glassplitter. Die Strahlen unserer Lampen hüpften durch den schmalen Gang, sie rissen glitschige Wände und Rohre längst untätiger Pumpen aus der kalten Finsternis. Ab und zu vernahmen wir aus der Ferne dumpfes Grollen. „Sie schießen!" unterbrach Jozef die Stille. „Jesus Maria! Und was tun wir, wenn der Gang weiter vorn verstopft sein sollte?" Der Gang wurde enger und schien anzusteigen. Wir erreichten die Stelle, an der sich der Haupttunnel gabelte. Jozef flüsterte mir zu: „Die Faschisten sind über uns, wir dürfen nicht auf sie stoßen..."
Wir hörten ferne Stimmen. Ich blieb stehen und schaltete die Taschenlampe aus. „Das ist noch sehr weit!" meinte Jozef beruhigend. „Vielleicht sind es Unsrige... von anderen Abteilungen. Oder Zivilisten." An einer Stelle war das Gewölbe des Ganges eingedrückt, offenbar durch den Einschlag einer schweren Granate oder Fliegerbombe. Wir mußten auf allen vieren vorwärtskriechen, die Arme glitten durch den Schmutz, nur gut, daß es hier aufwärts ging. An einer anderen Stelle hätten wir umkehren müssen. Plötzlich betäubte uns ein Donnern. Es war ein Gefühl, als sei über uns mit rasender Geschwindigkeit ein Zug hinweggerollt. Ein Augenblick herrschte Stille.. . Dann donnerte es wieder über unsere Köpfe hinweg. Vor uns sahen wir plötzlich das Mündungsfeuer eines Maschinengewehrs. Wir warfen uns in die eisige, übel riechende Jauche und machten die Lampen aus. „Faschisten ...", hörte ich aus der Dunkelheit ein vorsichtiges Flüstern. „Sie schießen in beiden Richtungen in den Gang hinein. Haben einen MG-Schützen in den Schacht steigen lassen... Wir müssen ihn unschädlich machen." Wir krochen lange durch undurchdringliche Finsternis. Wir krochen langsam, mit häufigen Pausen und lauschten angestrengt. Noch zweimal prasselten Kugeln über unseren Köpfen .. . Plötzlich flammte vor uns grelles Licht auf. Ich sah direkt vor mir eine Schwebebühne und einen faschistischen Soldaten mit einer Lampe in der Hand. Schon als ich auf ihn zielte, erkannte ich hinter ihm einen zweiten, einen MPi-Schützen. Sie sahen uns
ebenfalls. Der erste setzte krachend die Lampe ab und stürzte zum Maschinengewehr. Ich drückte ab und lieg die Pistole beinahe fallen, so sehr betäubte mich das Krachen meiner eigenen Schußfolge. Das Maschinengewehr hämmerte in den Gang. Die Soldaten schrien durcheinander. Als wir bereits hundert Meter von der Luke entfernt waren, erreichte uns eine Explosionswelle. Die Deutschen warfen uns Handgranaten hinterher. Endlich erreichten wir eine trockene Stelle. Jozef lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, konnte sich aber nicht halten, glitt an der Wand hinunter und setzte sich mit ausgestreckten Beinen hin. „Die Schulter tut mir weh", sagte er. „Gleich gehen wir weiter, ich will nur einen Augenblick verschnaufen." Ich hörte an seiner Stimme, daß er völlig erschöpft sein mußte. Also setzte ich mich neben ihn, entspannte die Muskeln und legte den Kopf auf die Knie. Wieder polterte irgend etwas weit hinter uns. Offenbar hatten die Faschisten eine neue Maschinengewehrbedienung hinuntergeschickt. Jozef schritt unsicher weiter, ging gebeugt und mit dem unverletzten Arm an der Wand entlangtastend. Plötzlich lockerte sich sein Griff, und die Taschenlampe entfiel ihm. Jozef schrie auf, wollte suchen ... „Laß das", sagte ich. „Eine Lampe genügt auch." Ich war ebenfalls sehr müde. Wir stolperten weiter voran und warfen alles Überflüssige fort. Ich nahm das Koppel ab und versenkte die Feldtasche. Wir erreichten eine Gabelung. Der breite Gang teilte sich hier in zwei schmale Kanäle. Jozef bat mich um die Lampe, leuchtete, betastete wortlos die Wand.
Woran dachte er? „Wir sind bald an der Weichsel", flüsterte er. Dann gingen wir wieder Seite an Seite einen breiten Tunnel entlang. Wir legten längere Verschnaufpausen ein, erholten uns und gingen wieder weiter... Ein sonderbarer und unbegreiflicher Geruch schlug mir ins Gesicht. Jozef hatte es auf einmal eilig. Ich konnte kaum Schritt halten ... Und erst als mich wieder ein Hauch berührte, begriff ich, daß es der frische Wind einer Herbstnacht war ... Über uns wölbte sich ein mit Wolken bezogener Himmel. Endlich Luft, viel Luft. Stille. Und dort. hinter dem breiten, matt schimmernden Fluß, erkannte man die dunklen Umrisse des Stadtteils Praga. Dort waren die Unsrigen. „Na, Jozef, Flammen, unterirdische Rohre und Teufelszähne haben wir passiert", sagte ich. „Jetzt ins Wasser!" Ich legte meine Kleidung ab, schaute mich, vor Kälte und Erregung zitternd, nach Jozef um. Er lag auf dem Bauch und starrte in Richtung Praga. Das Ufer war nicht zu erkennen, aber in der Ferne sandten unsere Scheinwerfer ihre bläulichen Strahlen aus. „Jozef!" Er setzte sich auf. Das Gesicht sah in der Dunkelheit grau aus, nur die Augen glänzten. „Ja", sagte er gedehnt. „Diese fünfhundert Meter werden nicht leichter sein als jene Kilometer, die wir hinter uns haben ..." „Auch das schaffen wir noch!" Wir stiegen vorsichtig ein abschüssiges Rohr hinunter zum Wasser.
Über Warschau sah man einen Feuerschein, aber man hörte keine Schüsse. Schlachtenlärm drang vom Norden her, vom anderen Ufer des Flusses. Die schnelle Strömung trug uns abwärts, aber wir vergeudeten nicht die Kraft, um dagegen zu kämpfen. Die Strömung half uns sogar. Wir versuchten, geräuschlos zu schwimmen und erstarrten oft, tauchten mit dem Kopf unter Wasser, wenn über der Weichsel eine Leuchtkugel hochstieg. An einer Stelle war die Weichsel auf einmal zu seicht, so daß wir Grund hatten und uns ein wenig verschnaufen konnten. Dann schwammen wir wieder weiter. Am nächsten Tag meldete ich Marschall Rokossowski die Erfüllung des Kampfauftrages.