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Gesine Drews-Sylla · Elisabeth Dütschke · Halyna Leontiy Elena Polledri (Hrsg.) Konstruierte Normalitäten – normale Abweichungen
VS RESEARCH
Gesine Drews-Sylla · Elisabeth Dütschke Halyna Leontiy · Elena Polledri (Hrsg.)
Konstruierte Normalitäten – normale Abweichungen
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Verena Metzger | Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17230-9
Vorwort
Der Sammelband stellt die Synthese aus den Beiträgen und Reflexionen dar, die für die von dem Konstanzer Netzwerk internationaler (Post-)Doktorandinnen der Universität Konstanz organisierten Tagung Konstruierte Norm[alität][en] – normale Abweichung[en] am 22. und 23. Februar 2008 entstanden. Für die Unterstützung bei der Realisierung der Tagung bedanken wir uns beim Deutschen Akademischen Austauschdienst, dem Gleichstellungsrat der Universität Konstanz, dem Konstanz Institut für WerteManagement, Reginbrot (Konstanz), dem Buchladen Zur Schwarzen Geiß GmbH (Konstanz) und der Augenweide Optik GmbH (Konstanz). Ganz besonders danken wir den Organisatorinnen aus dem Konstanzer Netzwerk internationaler (Post-) Doktorandinnen und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre interessanten Vorträge und die anregenden Diskussionen. Der Tagungsband wäre ohne die Mitarbeit und Unterstützung vieler Personen und Institutionen nie zustande gekommen. Den Autorinnen und Autoren danken wir für die Bereitstellung und die Ausarbeitung ihrer Beiträge und die freundliche Kooperation, die auch bereits die Atmosphäre der Tagung erfreulich geprägt hat. Für die bemerkenswert unkomplizierte Finanzierung der Publikation bedanken wir uns ganz besonders bei Frau Marion Woelki und Frau Dr. Bettina Duval vom Gleichstellungsrat der Universität Konstanz. Nicht weniger sind wir Frau Sandra Tinner für ihr Engagement und der Gleichstellungskommission der Universität Zürich für finanzielle Unterstützung zu Dank verpflichtet. Für die angenehme Zusammenarbeit mit Sarah Ruppe, die die Beiträge sorgfältig Korrektur las, sowie mit Alina Timofte, die die Manuskripte zum Druck eingerichtet hat, bedanken wir uns ebenfalls herzlich. Ein ganz besonderer Dank geht an das Konstanzer Netzwerk internationaler (Post-)Doktorandinnen, ohne dessen jahrelange, ehrenamtliche Arbeit weder Tagung noch Publikation jemals hätten realisiert werden können. Gesine Drews-Sylla, Elena Polledri, Halyna Leontiy, Elisabeth Dütschke
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Gesine Drews-Sylla, Elena Polledri, Halyna Leontiy, Elisabeth Dütschke Einleitung: Konstruierte Norm[alität][en] – normale Abweichung[en]
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I
Normen der Narration im gesellschaftspolitischen Diskurs
Mareike Clauss (Konstanz) Von Bizarr zu Blockbuster: die Darstellung gewalttätiger Frauen im Film als normativer Prozess
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Andrea von Kameke (Konstanz) „Die Lie-be…, die Lie-be…“ – Dekonstruktionen der romantischen Zweierbeziehung in Monika Treuts Die Jungfrauenmaschine und Bent Hamers Kitchen Stories
37
Andrea Bettels (Greifswald) Die Norm, ihre unsichtbare Wirkungsweise, ein Anpassungsversuch und sein Preis – Heteronormativität in der slowakischen Gesellschaft am biographischen Beispiel
49
Konstantin Kaminskij (Konstanz) Störungssignale im sozrealistischen Normensystem. Der Fall Andrej Platonov
63
Zortnitza Kazalarska (Berlin) „Ich habe schon Schwielen an der Zunge von dieser Wiederholerei“: die Denkfigur der Wiederholung im osteuropäischen Tauwetter
79
II
Literarische Aneignung und Normalisierung des Fremden: Kulturelle Identitäten im Dialog
Ana-Maria Palimariu (Jassy) „Auch sie (...) sprachen mit den Augen“: Grenze(n) und Grenzgänger in Ctlin Dorian Florescus Rumänien-Romanen
97
8
Inhaltsverzeichnis
Agnieszka Vojta (Konstanz) Der Fremde als Abweichung vom Normalen – zur Konstruktion des Fremden am Beispiel von Reiseberichten von Ryszard Kapuciski
113
Géraldine Kortmann-Sene (Konstanz) Die Konstruktion des Fremden am Beispiel europäischer Afrika-Literatur
121
Elena Polledri (Udine) Petrarca spricht Deutsch? Aneignung, Transformation, Metamorphose des Fremden ins Eigene
137
Christa Baumberger (Bern) Literaturen der Transmigration: Zsuzsanna Gahse
153
Juliane Deppe (Konstanz) Sprachliche und gesellschaftliche Normen und ihre Abweichungen im Roman von Pier Paolo Pasolini
167
III Migration – Kultur – Norm Elena Botsi (Athen) Normabweichende Wege und normkonforme biographische Erzählungen: die erste Reise der Albaner in Griechenland
181
Gesine Drews-Sylla (Tübingen) „Gagarins Enkel“ – ein ganz normales russisches Kind
193
Stefanie Everke Buchanan (Konstanz) Einwanderung als Norm: die australische Gesellschaft im Wandel
209
Halyna Leontiy (Konstanz) „Das würde ein normaler Deutscher niemals verstehen und auch nicht akzeptieren“. Normierungsprozesse in der interkulturellen Geschäftspraxis am Beispiel einer deutschen Managerin in der Ukraine
217
Inhaltsverzeichnis
9
Sandra Tinner (Zürich) Normen und Abweichungen in der Zweisprachigkeit – eine neurolinguistische Analyse
231
Sonja Wrobel (Bremen) „Es ist notwendig und wir werden es machen. Basta!“ – Legitimationsstrategien in sozialpolitischen Reformdebatten
243
IV
Gesellschaft auf der Suche nach der Norm
Michael Bolte (München) Der Mythos der über Vierzigjährigen in der Werbebranche – eine Gespenstergeschichte?
259
Elisabeth Dütschke (Konstanz/Karlsruhe) Arbeiten außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses – Welchen Blick haben flexibel Beschäftigte auf ihre Beziehung zur Arbeitsorganisation?
273
Hannes Krämer (Konstanz) Abweichung und Norm in der Figur des unternehmerischen Selbst. Eine Spurensuche am Beispiel des Mitarbeitergesprächs
285
Maud Schmiedeknecht (Konstanz/Oldenburg) Was bedeutet gesellschaftliche Verantwortung in Zeiten der Globalisierung und des wirtschaftlichen Umbruchs? Die Konstruktion einer globalen Norm zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen (ISO 26000)
299
Anne Sonnenmoser (Essen) Arbeit am Image. Zur gesellschaftlichen Bedeutung zeitgenössischer Darstellungsnormen
313
Herausgeberinnen
325
Autorinnen und Autoren
327
Einleitung: Konstruierte Norm[alität][en] – normale Abweichung[en] Gesine Drews-Sylla, Elena Polledri, Halyna Leontiy, Elisabeth Dütschke
„Norm“ – „Normalität“ – „Abweichung“ sind aktuelle und umstrittene Begriffe, die sowohl in unserem Alltag als auch im wissenschaftlichen Diskurs häufig und in unterschiedlichen Bedeutungen vorkommen. Der vorliegende Tagungsband nähert sich diesem Begriffsfeld aus konstruktivistischer Perspektive und trägt der Notwendigkeit Rechnung, die immer neuen Ideen und Definitionen von Normalität und Abweichung, die sowohl den Alltag als auch den geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Diskurs prägen, kritisch zu hinterfragen. Normalität[en] und ihre Abweichung[en] erscheinen daher immer als Produkte von historischen, sozialen und politischen Prozessen; sie sind „konstruierte“, historisch bedingte Begriffe, die nie definitiv bestimmt werden können. Die dem Band zugrundeliegende interdisziplinäre und interkulturelle Tagung Konstruierte Norm[alität][en] – normale Abweichung[en], die am 22. und 23. Februar 2008 vom Netzwerk internationaler (Post-)Doktorandinnen der Universität Konstanz organisiert wurde, befasste sich intensiv mit der Dialektik zwischen den entgegengesetzten, aber unzertrennlichen Begriffen von Normalität und Abweichung. Das Feld der Beiträge umfasste Fragestellungen, die von den Gender Studies über die unterschiedlichen Philologien bis zu psychologischen und betriebswirtschaftlichen Ansätzen reichten. Reflektiert wurde über die dynamischen Prozesse der Normbildungen und der Grenzziehung zwischen Normalitäten und Abweichungen in Kunst, Film und Literatur ebenso wie in der Arbeitsorganisation, im Rahmen ethischer Fragestellungen oder bei der Zweisprachigkeit. Besonders auffällig war die vielen Beiträgen gemeinsame Thematisierung von Fragen, die statt einer konstatierenden Reflektion eines status quo die kritische Beobachtung von Grenzüberschreitungen zum Inhalt hatten. Gerade in der Grenzüberschreitung beispielsweise zwischen kulturellen Paradigmen von Nationalstaaten, der Geschlechtergrenzen oder ästhetischen Normen wurden Prozesse der Normbildungen so besonders beobachtbar. Die Figur der Grenzüberschreitung erwies sich auch in der Gestaltung des Tagungsprogramms als sehr fruchtbar, das danach strebte, die einzelnen Beiträge thematisch miteinander in einen Dialog zu setzen. Der vorliegende Band nimmt diesen Grundgedanken auf und fasst die Beiträge der Tagung in vier Sektionen
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Drews-Sylla, Polledri, Leontiy, Dütschke
zusammen, denen wie der Tagung ein interdisziplinärer und interkultureller Ansatz zugrunde liegt. Die erste Sektion, die von Gesine Drews-Sylla betreut wurde, bespricht das problematische Spannungsfeld ästhetischer und sprachlicher Normierung in der und durch die Narration sowie deren gesellschaftspolitische Einbettung in zwei sehr unterschiedlichen Feldern. Die Sektion nähert sich dem Problemfeld einerseits aus der Perspektive der Gender Studies, andererseits beleuchtet sie die historische Genese sowie eine erste Dekonstruktion des sozialistisch-realistischen narrativen Normensystems. In der zweiten Sektion, welche Elena Polledri zusammenstellte, erweist sich die Dialektik zwischen Normalität und Abweichung als ein über die nationalen und sprachlichen Grenzen hinausgehendes zentrales Thema der Literatur(en), die als sich ‚relational’ bildende kulturelle bzw. interkulturelle Erscheinung(en) ihre Normalität durch ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und Fremden bestimmen. Die dritte Sektion, die in der Verantwortung von Halyna Leontiy lag, befasst sich mit der Konstruktion und den Abweichungen von Normen in der interkulturellen Wirtschaftskommunikation, in der Politik und in der Gesellschaft und fokussiert auf Probleme großer Aktualität wie Migration und die problematische Integration von Individuen in einem neuen Normsystem. In der vierten Sektion, organisiert von Elisabeth Dütschke, wird aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft auf der Suche nach der ‚richtigen’, der ‚passenden’ Norm und in Auseinandersetzung mit dieser Norm geschildert.
I
Normen der Narration im gesellschaftspolitischen Diskurs
Die Sektion befasst sich mit dem gesellschaftspolitischen Spannungsfeld rund um die Frage, was in einer Gesellschaft wie erzählt werden kann. Es geht dabei ebenso um Fragen ästhetischer Normierung wie auch deren Einbettung in gesellschaftlich und/oder politisch gesetzte Möglichkeiten. Das Feld der Beiträge umfasst zwei Gruppierungen: drei Beiträge nehmen die Perspektive der Gender Studies ein (Mareike Clauss, Andrea von Kameke, Andrea Bettels), zwei weitere Beiträge befassen sich mit der Setzung sowie Dekonstruktion ästhetischer Normen unter den Bedingungen des Totalitarismus (Zornitza Kazalarska, Konstantin Kaminskij). Im Bereich der Gender Studies stellt Mareike Clauss Fragen nach der Durchbrechbarkeit und Entwicklung impliziter gesellschaftlicher Normen weiblichen Verhaltens im Film. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Darstellung von gewalttätigen Frauen von der Normüberschreitung zum gesellschaftlich Akzeptierten in der Mainstream-Kultur avancierte. Gewalttätige Frauen werden dabei
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13
jedoch erotisiert oder mit weiblichen Rollenklischees verknüpft, so dass aus der Normüberschreitung eine konsolidierende Normsetzung resultierte, die das ursprüngliche subversive Potential zu großen Teilen verloren hat. Andrea von Kameke befasst sich ebenso wie Andrea Bettels mit Fragen der Hetereonormativität. Sie untersucht diese am Beispiel zweier Filme von Monika Treut und Bent Hamer, die sich beide traditionellen (Hollywood-)Erzählmustern der Zweigeschlechtlichkeit ebenso verweigern wie der mittlerweile nicht minder etablierten Coming-Out-Erzählstruktur in Filmen über Homosexualität. Normverweigerung stellt sich in diesen Filmen jedoch nicht als bloßes Verneinen dar, sondern als Möglichkeit, spielerisch zu kommentieren und transformieren, wie von Kameke mit Hilfe von Niklas Luhmanns Konzeption(en) der Liebe darzustellen gelingt. Andrea Bettels Beitrag ist als einziger dieser Sektion aus einer soziologischen Perspektive verfasst. Sie befasst sich anhand eines biographischen Fallbeispiels mit der Frage, inwiefern in der Slowakei die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der Heteronormativität historischen Veränderungen unterworfen worden sind. Gezeigt wird, wie eine lesbische Frau narrativ ihre eigene Identität im Laufe ihres Lebens so konstruiert, dass sie trotz der Abweichung ihrer Sexualität von der gesellschaftlichen Norm ein mit dieser kongruentes Leben entwerfen kann. Ihre Strategie ist, so Bettels Ergebnis, eine Aufspaltung der Narration in zwei voneinander getrennte Felder, deren Zusammenführung als vorsichtig formulierte Möglichkeit unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen am Ende des Beitrags diskutiert wird. Die beiden letzten Beiträge dieser Sektion befassen sich mit der Frage ästhetischer Normsetzungsprozesse unter den Bedingungen des Totalitarismus, indem sie diesen Prozessen inhärente Paradoxien aufzeigen. Beide setzen an den normativen und zeitlichen Rändern des Stalinismus an, Konstantin Kaminskij in der Phase der Etablierung und Durchsetzung der literarischen Normen des Sozialistischen Realismus in der Sowjetunion, Zornitza Kazalarska in der Phase der Aufweichung dieser Norm im Poststalinismus in Bulgarien, der DDR und der Tschechoslowakei. Konstantin Kaminskij untersucht einen paradoxen Prozess der Normbildung rund um die Veröffentlichung von Andrej Platonovs Erzählung Vprok. Bednjackaja chronika [Zum Nutz und Frommen. Eine Armeleutechronik] in der Sowjetunion im Jahr 1931. Er zeigt auf, inwiefern der Text narrativ von den zum Veröffentlichungszeitpunkt im Prozess der Etablierung befindlichen Normen des Systems des Sozialistischen Realismus abwich und dadurch als das „Andere“ dieses Systems half, es schließlich zu konsolidieren. Akzentuiert wird dieser dialogische Prozess durch den provokativen Dialog, den der Schriftsteller Platonov mit Stalin selbst in seinen narrativen Texten führte. Kaminskij kontextuali-
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Drews-Sylla, Polledri, Leontiy, Dütschke
siert dieses Phänomen als eine konsolidierende Unterbrechung in einem Kommunikationsprozess im Sinne Michel Serres. Zornitza Kazalarska geht von der Erstarrung des Sozialistischen Realismus rund ein Vierteljahrhundert später aus und stellt die Frage, inwiefern differente Wiederholungen innerhalb dieses auf mechanischer Wiederholung basierenden narrativen Systems letztendlich das Phänomen des osteuropäischen „Tauwetters“, der Entstalinisierung und Entkanonisierung und damit eine erste Dekonstruktion des sozialistisch-realistischen Normensystems hervorbringen konnten. Sie analysiert die Figur der Wiederholung anhand von Beiträgen in literaturtheoretischen Zeitschriften jener sozialistischen Länder, in denen das poststalinistische „Tauwetter“ keine explizit politische Ausprägung hatte. Sie zeigt auf, dass aber auch in diesen Ländern die Narrativa des Stalinismus auf subversive Weise im kulturpolitischen Diskurs unterlaufen wurden. Obwohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Analysen der Beiträge dieser Sektion operieren, sehr unterschiedlich sind, wird doch deutlich, dass das Setzen und Dekonstruieren von Normen in einer Gesellschaft immer ein paradoxaler Prozess ist. Diese Paradoxien muss Gesellschaft wiederum narrativ verorten. Es geht dabei letztlich immer um Fragen der Darstellbarkeit, um die Frage, was in einer Gesellschaft wie erzählt werden darf und kann, um so das ihr inhärente Normbildungssystem performativ fortzuschreiben oder aber zu transzendieren. Die Setzung von Normen und die daraus resultierenden Normalitäten sind, so zeigt die Sektion auf, daher eingebettet in ein spannungsvolles narratives Wechselspiel.
II
Literarische Aneignung und Normalisierung des Fremden: Kulturelle Identitäten im Dialog
In den Beiträgen dieser Sektion erscheint die komplexe Dialektik zwischen Normalität und Abweichung als eine grundlegende Frage der Literaturen, die als sich „relational“ bildende kulturelle Erscheinungen ihre Normalität durch den Austausch mit dem Anderen immer wieder bestimmen müssen. In allen Beiträgen wird die Beziehung bzw. die Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung als ein komplexes Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden betrachtet, das zur Bestimmung einer neuen dialektischen und vielfältigen Identität der Kulturen und der Gesellschaft führt. Während in den ersten drei Beiträgen die Wahrnehmung des Anderen und die Annäherung an das Fremde als Ergebnisse eines Reiseerlebnisses bzw. der Auswanderung in ein fremdes Land und der Rückkehr in die verlorene Heimat erscheinen, wird die Abweichung in den letzten drei zum Bestandteil des Eigenen bzw. im Eigenen
Einleitung
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untersucht und integriert. In allen Fällen führt diese Dialektik zur Entstehung einer „abweichenden Normalität“ bzw. eines fremden, vielfältigen Eigenen, das die Alterität einbezieht. Ana-Maria Palimariu fokussiert in ihrem Beitrag auf die Grenzüberschreitungen und -überschneidungen zwischen dem Eigenen und dem Anderen, dem Vertrauten und dem Fremden in den auf Deutsch geschriebenen Romanen des rumänischstämmigen Autors Ctlin Dorian Florescu, der, 1967 geboren, 1982 in die Schweiz auswanderte und heute zu den bekanntesten Migrationsschriftstellern deutscher Sprache zählt. Florescus Werke Wunderzeit (2001), Der kurze Weg nach Hause (2002) und Der blinde Masseur (2006) erweisen sich als literarische Darstellung und Auseinandersetzung mit dem Erlebnis der Grenze jeweils zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, zwischen Realität und Fiktion, sicherem Leben und Todesgefahr, der deutschen und der rumänischen Sprache. Die Reisen nach Rumänien in seinen Romanen vermitteln eine Fremdheit, so lautet die These, als normale Abweichung, was sich in einer Verschiebung der Grenze zwischen ,Vertrautem’ und ,Fremdem’ realisiert. Agnieszka Vojta untersucht am Beispiel einiger Reisereportagen des polnischen Journalisten und Reiseschriftstellers Ryszard Kapuciski die rhetorischen Strategien der Darstellung des Fremden in ihrem Spannungsverhältnis zum Eigenen: Die Rhetorik im Sinne eines kulturellen Zeichensystems bzw. einer „Art kommunikative[r] Grammatik“ (R. Lachmann 1994: 14) wird hier zum Untersuchungsparadigma. Durch die rhetorische Analyse wird die sprachlich evozierte Konstruiertheit des Fremden von Kapuciskis Texten erarbeitet: Seine Reiseberichte spiegeln das Eigene wider, sind aber zugleich eine Auseinandersetzung mit dem Fremden, wodurch die sozialistische Volksrepublik bzw. das Transformationsland Polen mit der ‚anderen Welt’ in Berührung kommt. Sowohl bei Florescu als auch bei Kapuciski führen die Reiseerlebnisse zu einer Wahrnehmung des Fremden als einer normalen Abweichung und zur Entstehung eines konstruierten transkulturellen Raums, dessen Heimat die Literatur ist. Transkulturell ist auch der Raum der euro-afrikanischen Erzählungen und Filme, die Géraldine Kortman-Sene in ihrem Beitrag über biethnische, multinationale und multikulturelle Biographien bestimmt. Die Autorin reflektiert über die Frage der inter- bzw. transkulturellen Dimensionen bzw. Definitionen als Baustein der identitären Selbstbestimmung im 20. und 21. Jahrhundert. Anhand eines exemplarischen Überblicks über international erfolgreiche Romane und Verfilmungen wird dargelegt, dass die Figuren am Ende des 20. Jahrhunderts ihre Identitäten und Biographien immer im Spannungsfeld zwischen einer „Norm(alität)“ als lokalem gesellschaftlichen Normenkomplex und einer davon differenten individuellen „Normalität“ als idealtypischer Lebensgestaltung bilden und diese Spannung vor dem Hintergrund einer vermeintlich völlig anderen
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bzw. einer exotischen Kultur aufzulösen versuchen. Europa erweist sich als eine kulturelle und sozio-psychologische Konstruktion, als eine imaginäre Projektion, die jeweils von den ausgewanderten Afrikanern und den ausgewanderten Europäern anders wahrgenommen wird. Während in den ersten drei Beiträgen die Wahrnehmung und Annäherung an das Fremde als Ergebnis eines Reiseerlebnisses bzw. der Auswanderung in ein fremdes Land erscheint, wird das Andere in den folgenden Aufsätzen zum Bestandteil des Eigenen bzw. im Eigenen untersucht und integriert. Hauptthema der Beiträge von Elena Polledri, Christa Baumberger und Juliane Deppe ist die Vermittlung von und die Möglichkeit der Integration des Fremden im Eigenen. In Elena Polledris Beitrag werden einige der Wege rekonstruiert, die in der deutschsprachigen Literatur zur Entstehung eines interkulturellen Dialogs zwischen dem Eigenen und dem Fremden und zu einer graduellen und progressiven Integration des Fremden im Eigenen führten. Insbesondere wird durch die Bestimmung von einigen Etappen in der Begegnung der italienischen mit der deutschen Kultur diskutiert, wie sich die deutsche Literatur in Fortführung und Transformation fremder Kulturen bildete: Sie stiftete ihre Normalität zuerst durch Aneignung (Übersetzungen), später durch Verwandlung und progressive Verinnerlichung (Nachdichtungen von fremden Mustern) und in jüngerer Zeit durch die radikale Transformation und Manipulation des Fremden im Eigenen. Daraus entsteht ein internationales, kosmopolitisches Bild der deutschen Dichtung, die als ein Treffpunkt von fremden Kulturen ihre Identität aus der Dialektik zwischen dem Eigenen und dem Fremden entwickelte und durch den Austausch mit dem Fremden ihre Originalität bzw. „Normalität“ entdeckte. Leitfaden des Beitrags ist die Figur und die vielfältige Rezeption von Petrarcas Dichtung auf deutschsprachigem Boden. Christa Baumberger führt uns in ein literarisches Phänomen ein, das die Dialektik und die Integration zwischen Eigenem und Fremdem in der europäischen Kultur und Gesellschaft exemplarisch darstellt: die „Literaturen der Transmigration“. Die Autorin beschäftigt sich mit dem Werk der auf Deutsch schreibenden ungarischen Dichterin Zsuzsanna Gahse (*1946), die aus ihrem Heimatland nach Österreich, Deutschland und in die Schweiz auswanderte; Gahse wird als typische Vertreterin der neueren „Literaturen der Transmigration“ betrachtet. Anders als die traditionelle Migrationsliteratur der siebziger und achtziger Jahre entstammen diese aus einem plurikulturellen Kontext und zeigen eine Affinität für poetische und kulturelle Alteritäten, welche über die mimetische Darstellung und Verbildlichung von Situationen der Fremdheit und Migration hinausgeht und zur Entstehung einer Poetik der Fremde führt. Im Beitrag fokussiert Baumberger auf die Konstituenten der Migrationsliteratur, darunter vor allem auf das Motiv der Reise und des Unterwegsseins sowie die Raummetapho-
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rik; am Ende stellt sich die Frage, inwiefern gerade die Schweiz als mehrsprachiger und plurikultureller Interferenzraum, der ja auch den Lebensraum der Dichterin darstellt, zu einer weiteren Auffächerung und kulturellen Diversifizierung beiträgt. Während in allen bisherigen Beiträgen der Unterschied zwischen Normalität und Abweichung immer aus der Dialektik zwischen der eigenen und der fremden Kultur entstand, erscheint in Juliane Deppes Aufsatz das Fremde als das Andere, das in der eigenen Kultur bzw. in der eigenen Gesellschaft versteckt liegt und das durch die Literatur endlich zum Ausdruck kommen kann. Die Autorin untersucht die sprachlichen und gesellschaftlichen Abweichungen von der Norm der italienischen Sprache und Kultur in Pasolinis Romanen Ragazzi di vita (1955) und Una vita violenta (1959): Die Abweichungen von der italienischen Standardsprache und Standardkultur, die in seiner um die städtischen Unterschichten des Roms der 1950er Jahre kreisenden Narrativik hervortreten, wenden sich gegen eine Absorption der proletarischen Unterschichten durch den Neokapitalismus und ein neues Bürgertum. Sie erscheinen als Ausdruck der Abnormität im Eigenen und tragen zur Entstehung und Durchsetzung einer normalen Differenz sowohl in der Literatur als auch in der Gesellschaft bei. Aus der Lektüre der Beiträge erweist sich der Zusammenhang zwischen Normalität und Abweichung als ein über die nationalen und sprachlichen Grenzen hinausgehendes zentrales Thema der Literatur(en); daraus können auch in Zukunft zahlreiche Anregungen für eine Annäherung an die Texte verschiedener Epochen und Kulturen kommen, die die enge Perspektive eines intrakulturellen Ansatzes überwindet und einen interkulturellen und interdisziplinären Dialog fördert.
III
Migration – Kultur – Norm
In dieser Sektion werden insgesamt sechs Beiträge zusammengefasst: Leontiy und Wrobel behandeln die kommunikative/ argumentative Konstruktion von Normen bzw. Normierungen im deutsch-ukrainischen Wirtschaftskontext sowie kulturvergleichend in den politischen Debatten. Tinner diskutiert aus linguistischer Perspektive die Normierungen in und um die Zweisprachigkeit. Botsi und Everke-Buchanan widmen sich dem Thema Migration in Australien und Griechenland. Drews-Sylla diskutiert stereotype Identitätskonstruktionen in Bezug auf die Identität eines schwarzen, in Russland geborenen, Jungen in einem aktuellen russischen Kinofilm. Die Beiträge von Halyna Leontiy und Sonja Wrobel behandeln verschiedene Themenfelder aus der Perspektive der kommunikativen Konstruktion der jewei-
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ligen ‚Norm’ – bzw. der ‚Normierungs’-Phänomene. Leontiy analysiert die kommunikativen Normalitäts- und Kulturkonstruktionen (Selbst- und Fremdwahrnehmung) anhand eines Interviews mit einer deutschen Managerin in der Ukraine, wobei die Handlungsperspektive (und weniger die sprachlichen Mittel der Kommunikation) im Vordergrund steht. Es geht um die stereotypisierten Normierungen, die die deutsche Managerin in Bezug auf die ukrainischen Akteure und generell auf das ukrainische Management vornimmt. In Anlehnung an die wissenssoziologische Betrachtung der (Stereo-)Typisierungen im Sinne von Thomas Luckmann wird gezeigt, wie die wechselseitigen Stereotypisierungen, welche zunächst gruppenrelevante und allgemeine Problemlösungen darstellen, „unschuldige Vorurteile“ und feste Bestandteile des gesellschaftlichen Wissensvorrats sind und wie sie darüber hinaus von Akteuren im Geschäftsalltag eingesetzt, also instrumentalisiert werden, um sich selbst und die eigenen Denk- und Handlungsmuster aufzuwerten und zu legitimieren, und die des Gegenübers herabzusetzen. Da diese Normalisierungsentwürfe als ein ungeeignetes Instrument bei der Konflikterklärung bzw. -bewältigung eingesetzt werden, ist diese Strategie zum Scheitern verurteilt. In ihrer kulturvergleichenden Studie widmet sich Sonja Wrobel der Analyse der kommunikativen Strategien politischer Akteure bei der Legitimation ihrer Reformvorhaben gegenüber der Öffentlichkeit bei den französischen und deutschen Sozialstaatsdebatten. Dabei generiert sie fünf verschiedene Argumentationstypen, die sie am Beispiel der öffentlichen Begründungen von Sozialreformen illustriert. Die Analyse zeigt, dass die Akteure beider Länder mit dem Einsatz hochgradig normativer Argumente sehr vorsichtig umgehen und dass die Maßstäbe zur Bewertung der Qualität eines Arguments im Alltagsverständnis und im Kontext einer Legitimationsstrategie voneinander abweichen können: „Die Qualität eines Arguments bemisst sich aus Sicht politischer Akteure also nicht durch einen möglichst engen Bezug auf Inhalte, sondern anhand der Frage, wie gut es geeignet ist, öffentliche Zustimmung zu erzeugen.“ Aus einer anderen, nämlich linguistischen Perspektive geht der Beitrag von Sandra Tinner auf Normierungen und Interkulturalität ein. Der Fokus der von der Autorin vorgestellten neurologischen Studie liegt auf in der Schweiz lebenden Personen mit unterschiedlichem Grad an Zweisprachigkeit (deutschfranzösisch). Ausgehend von früheren Studien, die bewiesen haben, dass die Zweisprachigkeit nicht allein vom sogenannten kritischen Alter abhängt, sondern auch von Faktoren wie der Dauer und Intensität des Kontakts mit einer zweiten Sprache und vom Fähigkeitsniveau, zeigt die Autorin anhand von Experimenten, inwieweit die Erstsprache die Zweitsprache strukturell beeinflusst. Damit soll zur Diskussion der Frage nach den Normen für Zweisprachigkeit beigetragen werden.
Einleitung
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Die drei weiteren Beiträge widmen sich aus unterschiedlichen Perspektiven dem Themenkomplex „Einwanderung, Identität, Norm/ Normalität“. Stefanie Everke-Buchanan befasst sich in ihrem Beitrag mit der Einwanderungspolitik in Australien, wo die Migration politisch gesteuert wurde. Mit dem Einwanderungsprogramm, dem größten und ambitioniertesten Projekt, das es im ganzen Commonwealth je gegeben hatte, sollte das Wachstum der australischen Bevölkerung angetrieben werden. Bei der Anwerbung der Neuankömmlinge wurde eine Vielzahl von Normen gebildet, eine davon die „White Australia Policy“, – eine Diskriminierung, die sich auch auf die Integrationsmaßnahmen, die im Land betrieben wurden, erstreckte. Begleitet wurde die Einwanderungspolitik über Jahrzehnte von einer Werbekampagne, in der ein ideales Bild der Einwanderer propagiert wurde, die sich schnell und problemlos in die Gesellschaft integrieren, sich assimilieren und Nutzen bringen. Die Autorin zeigt in ihrem Aufsatz, dass gerade diese ambitionierte Einwanderungspolitik zum Ende des Assimilationsgedankens und zu einer Wende hin zu einer neuen Politik gegenüber Migranten und Migrantinnen beitrug. Dagegen widmet sich Elena Botsi der illegalen Einwanderung in Griechenland, wo es an Migrationserfahrung fehlte und daher Selbstregulierungsprozesse seitens der Migranten einsetzten. Gestützt auf interpretative Biographieforschung und die Methoden der Tradition der ‚Oral History’ richtet die Studie von Botsi ihre Aufmerksamkeit auf die narrative Normalisierung anormaler Einwandererbiographien der illegalen albanischen Immigranten in Griechenland. Dabei geht es um die biographische Bearbeitung ihrer illegalen Ersteinreise in das Land sowie um ihre Selbstpositionierung und die Normalisierung ihres neuen Lebens in der griechischen Gesellschaft. Zum Schluss stellt die Autorin fest, dass „Normen retrospektiv und selbstreferenziell bestätigt und diskursiv (re-)produziert werden“. So schildern die Albaner „eine aufwärtsführende Migrantenkarriere, die nach einem dauernden ‚Kurvenverlauf’ in einer geraden und absturzfreien Biographie stabilisiert worden ist“, wobei die Deutungen ihres Lebenslaufs „von den jeweiligen historisch-kulturell bedingten Normen der Mehrheitsgesellschaft gesteuert und von symbolischen Kurven signalisiert“ werden. Gesine Drews-Sylla analysiert in ihrem Beitrag den 2007 erschienenen russischen Kinofilm Vnuk Gagarina [Gagarins Enkel], der sich der Rassismusproblematik in der Lebenswelt eines afro-russischen Kindes widmet. Der Film stellt eine Vielzahl sozio-kultureller und intertextueller Bezüge her, denen die Autorin mit analytischer Akribie nachgeht, mit dem Ziel „einer Hinterfragung der kulturellen Paradigmen afro-russischer Identitätskonstruktionen“. Gezeigt wird, wie der Film einerseits auf die diskriminierenden Stereotypenbildungen und den offenen Rassismus Afro-Russen gegenüber aufmerksam macht, andererseits aber selbst manche Paradigmen subkutan mit fortschreibt. Der Beitrag von Drews-
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Drews-Sylla, Polledri, Leontiy, Dütschke
Sylla legt so die ästhetischen und kulturellen Schwierigkeiten offen, die Alterität ethnischer Differenz narrativ als Normalität zu etablieren. In allen drei (letzteren) Beiträgen geht es um den Zwang zur nationalen Assimilation (Australien, Griechenland) bzw. um die Verweigerung der Assimilation aufgrund ethnischer Differenz (Russland); es geht in allen Fällen um Einwanderungsprozesse, in denen Assimilierung anstatt Hybridisierung als Norm gesetzt wird. Die Einwanderung erscheint als Normalitätsstörung, der die Gesellschaft mit Normwiederherstellungsmechanismen (via Assimilierung bzw. deren Verweigerung) entgegensteuert. In allen drei Beiträgen geht es auch um die Suche nach der (kulturellen) Identität der Migranten und ihrer Kinder, um die utopischen Identitätskonzepte der Mehrheitsgesellschaft, um die Inklusion in die bzw. die Exklusion der ‚Andersseienden’ aus der Mehrheitsgesellschaft, um nationale bzw. Fremden-Stereotypkonstruktionen (wie die der „russischen Seele“ im Beitrag von Drews-Sylla).
IV
Gesellschaft auf der Suche nach der Norm
Die Beiträge dieser Sektion, die in der Mehrheit aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verfasst sind, schildern Individuum und Gesellschaft auf der Suche nach der ‚richtigen’, der ‚passenden’ Norm und in Auseinandersetzung mit dieser Norm. Norm bezeichnet in diesem Kontext das angemessene Verhalten, wobei die Angemessenheit entweder bestimmt wird durch die Mehrheit (vgl. Beiträge von Michael Bolte, Elisabeth Dütschke und Hannes Krämer) oder eine ideale Vorstellung (vgl. Beitrag Maud Schmiedeknecht) oder beides (vgl. Beitrag Anne Sonnenmoser). Der Wandel der westlichen Industrienationen im Zuge der Globalisierung, der technologischen Entwicklung und der veränderten demographischen Bedingungen wirkt sich aus auf das Arbeitsleben und verändert die dort üblichen Normen. Implikationen für das informalisierte Zeithandeln untersucht Michael Bolte anhand von Mitarbeitern in Werbeagenturen – einer Branche, die geprägt ist von einer starken Ergebnisorientierung, verbunden mit einer zeitlichen Entgrenzung der Arbeit hin zu einer ständigen Verfügbarkeit des Beschäftigten. Diese Vorgaben haben sich in der Branche zu einem Mythos verselbständigt, der dem Handeln der Einzelnen Grenzen setzt, die kaum zu überwinden sind. Trotz dieser äußeren Grenzen sieht sich der einzelne Beschäftigte mit der Erwartung konfrontiert, in immer stärkerem Ausmaße die Verantwortung für sich selbst und seine Karriere zu übernehmen (im Falle der Werbetreibenden Boltes beispielsweise für die Karriere jenseits der 40). Dieses Phänomen des ‚unternehmerischen Selbst’ analysiert Hannes Krämer und konzentriert sich
Einleitung
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dabei auf die Widersprüche, die dieser Vorstellung in der Unternehmenspraxis inhärent sind. Dies macht er am Beispiel von Leitfäden für Mitarbeitergespräche deutlich: Während einerseits individuelle Kreativität und individualisiertes proaktives Handeln als Teil des unternehmerischen Selbst propagiert werden, stoßen diese Vorstellungen unweigerlich an enge Grenzen, wenn sie einer normierten Messung unterworfen werden, wie dies in den Leitfäden der Fall ist. Im Mittelpunkt der Arbeiten Michael Boltes und Hannes Krämers steht der normalbeschäftigte Mitarbeiter, der sich mit gewandelten Anforderungen und veränderten Normen konfrontiert sieht. Der Beitrag Elisabeth Dütschkes beschäftigt sich ebenfalls mit der sich verändernden Normalität im Arbeitsmarkt, jedoch mit denjenigen, die die Norm des Normalarbeitsverhältnisses bereits verlassen haben: Der Beitrag stellt die Frage, wie es sich auf die Beziehung zur Arbeitsorganisation auswirkt, wenn an die Stelle der traditionellen Grundlage dieser Beziehung statt eines regulären auf Dauer ausgelegten Arbeitsvertrages ein flexibles, ein temporäres Arbeitsverhältnis tritt. Die Antworten auf diese Frage, die auf der Basis einer Interviewstudie hergeleitet werden, fallen divers aus: Während manche der Befragten die Loslösung von einem normierten, einem normalen Arbeitsverhältnis als Befreiung, als Möglichkeit zur Autonomie begreifen, kreisen andere um den Bestand der Norm und fühlen sich ausgeschlossen von einer Normalität, der sie angehören möchten. Gleichzeitig ergeben sich aus gesellschaftlichen Veränderungen, die allen Beiträgen der Sektion zu Grunde liegen, nicht nur neue Herausforderungen für die Individuen, sondern auch für die Institutionen und Organisationen als weitere Akteure in der Gesellschaft. Der Versuch, diesen Herausforderungen durch die Normierung ‚richtigen’ Handelns nachzukommen, steht im Zentrum des Beitrags von Maud Schmiedeknecht. In diesem wird die Debatte um Corporate Social Responsibility als das ‚richtige’ unternehmerische Handeln aufgegriffen, das neben (kurzzeitiger) Profitmaximierung auch das Wohl aller sowie langfristige und nachhaltige Perspektiven umfassen soll. Das Ringen um eine solche Norm beschreibt Maud Schmiedeknecht anhand der Konstruktion der ISO 26000, einer internationalen Norm, die aktuell unter Beteiligung zahlreicher Stakeholder geschrieben wird. Den Versuch der Anpassung an eine gesellschaftliche Idealnorm, jedoch auf ganz anderer Ebene, beschreibt Anne Sonnenmosers Beitrag: Die Autorin untersucht den Trend der expertenvermittelten Stilberatung, welche verspricht, dass in der äußeren Erscheinung der Schlüssel zum Erfolg liegt. Die Einhaltung des Versprechens gilt jedoch nur, wenn die normierten Vorgaben zum Aussehen streng eingehalten werden und damit dem einheitlichen Ideal einer genormten Individualisierung folgen.
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Drews-Sylla, Polledri, Leontiy, Dütschke
Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie den Menschen als beständigen Konstrukteur von Normen beschreiben, um mit der (wahrgenommenen) Komplexität und Unsicherheit der heutigen Welt zurecht zu kommen. Dieser Wunsch, eine definierte Normalität zu erschaffen, an der der Einzelne bewusst teilhaben kann, wird jedoch konterkariert durch die Wünsche nach Individualität und Diversität, welche die Normengrenzen beständig aufweichen und erneut Unsicherheit hervorbringen.
I Normen der Narration im gesellschaftspolitischen Diskurs
Von Bizarr zu Blockbuster: die Darstellung gewalttätiger Frauen im Spielfilm als normativer Prozess Mareike Clauss
Ladies and gentlemen, welcome to violence, the word and the act. While violence cloaks itself in a plethora of disguises, its favourite mantle still remains... sex. Violence devours all it touches, its voracious appetite rarely fulfilled. Yet violence doesn’t only destroy, it creates and molds as well. Let's examine closely then this dangerously evil creation, this new breed encased and contained within the supple skin of woman. The softness is there; the unmistakable smell of female, the surface shiny and silken, the body yielding yet wanton. But a word of caution: handle with care and don't drop your guard. This rapacious new breed prowls both alone and in packs, operating at any level, any time, anywhere, and with anybody. Who are they? One might be your secretary, your doctor's receptionist... or a dancer in a go-go club!1
Zu den Transformationen der im Spielfilm darstellbaren ‚Unziemlichkeiten’, die die massenunterhaltende Kultur des Kinos in Distanz setzte zu einem bürgerlichen Verständnis der Kultur als Hochkultur, gehört die Sichtbarmachung von Gewalt und deren Auswirkung auf den menschlichen Körper. Als dem ‚body genre’ (vgl. hierzu L. Williams 1989: 252-254) zugehörig, wird in den expliziten Horror- (‚splatter’- und ‚gore’-) Filmen das exponiert, was nach unserem Verständnis vom Alltäglichen und Normalen inakzeptabel, beängstigend oder verabscheuungswürdig ist. Die Inszenierung der Abweichung von dem, was als ‚normal’ gilt, entwickelte sich filmhistorisch – zumeist unter IndependentLabeln – zu bestimmten eigenständigen Genres. Die Subjektpositionen innerhalb des filmhistorischen Diskurses wiederum sind durch die identitätsstiftenden Variablen Gender, Klasse und Ethnizität hierarchisiert (R. Stam 2000: 230). Darüber hinaus kann die Filmfigur, aber eben auch der sie spielende Schauspieler, als Typus verstanden werden, der als Zitat seiner selbst intertextuelle Bezüge herstellt und somit die Stereotypien der Geschlechterdarstellung reflektieren oder parodieren kann.2 1 2
Das ist die Männerstimme aus dem Off zu Beginn des Films Faster Pussycat…Kill! Kill! von Russ Meyers (1965). Im Folgenden werden Filme nach ihrer Original-DVD-Fassung zitiert. Robert Stam weist auf die besondere Selbstreferentialität des postmodernen Kinos hin, welches vom Wiedererkennbaren lebe: „The point is to combine references to the most diverse sources possible in a ludic game with the spectator, whose narcissism is flattered not through old-
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Mareike Clauss
Das Hollywood-Kino, dessen internationale Dominanz ihm eine kulturhegemoniale Normenbildung erlaubt, vermag es gleichzeitig, sich die unterschiedlichsten subkulturellen Phänomene einzuverleiben und im Mainstream-Kino als Norm zu präsentieren (F. Pfeil 1998: 175). Wie lassen sich also Actionheldinnen in einer Gendermatrix verorten, die tendenziell dem männlichen Akteur die aktive Rolle, dem weiblichen hingegen die passive zuweist? Über seinen Film Kill Bill3 sagt Regisseur Quentin Tarantino, er sei mit seiner Betonung weiblicher Wehrhaftigkeit, an deren Ende die Befreiung des fremdbestimmten weiblichen Subjekts vom männlichen ErzSchurken steht, eigentlich ein „feministisches Statement“4 und der 2007 erschienene Film Death Proof scheint mit ähnlichem Handlungsprinzip strategisch die Fortsetzung dieses Programms zu sein. Im Folgenden wird die historische Entwicklung des amerikanischen Spielfilms mit Hinblick auf die begünstigenden Faktoren, die die Actionheldin hervorgebracht haben, dargestellt. Anhand der Protagonistin Beatrix Kiddo in Tarantinos Kill Bill wird dann die problematische Darstellung einiger geschlechterspezifischer Dispositionen in der Figur der kämpfenden Frau untersucht.
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Die Entwicklung der Actionheldin im Hollywood-Kino
Die changierenden Stadien, die die Actionheldin filmgeschichtlich durchläuft und die auf der Ebene von Verhalten und Erscheinungsbild stets von Neuverhandlungen um eine Genderidentität gezeichnet sind, stellen Dichotomien in Fähigkeiten und Mentalitäten, die sich aus der Unterscheidung männlich/weiblich in diesem Genre zwangsläufig ergeben, in Frage. Dennoch finden sich im Actionfilm wenige Heldinnen, denen feministisches Potential zugesprochen wird. Stattdessen steht die Actionheldin, trotz ihrer Wehrhaftigkeit und ihres oft unabhängigen Lebensstils, aufgrund ihrer physischen Erscheinung, die sie als sexuell begehrenswertes Objekt codiert, unter dem Verdacht „antifeministisch“ zu sein (vgl. dazu M. Edwards 2004: 39-41). Der Tatbestand des begehrenswerten Körpers, womöglich noch gepaart mit der weiblich konnotierten sexuellen Verletzlichkeit schwächt nach Ansicht feministischer Filmkritik
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fashioned secondary identification with characters but rather through display of cultural capital made possible by the recognition of the references. Thus the titles of post-modern films themselves pay homage to this strategy of recycling (e.g. Pulp Fiction, True Romance)“, (R. Stam 2000: 305). Der Film ist in zwei Teilen 2003 und 2004 erschienen, wird im Folgenden aber als ein Film behandelt. Zitiert nach einem Interview erschienen in dem Fanzine Image Files 4/2004: 12-13.
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die ‚toughness’, also auch die Glaubwürdigkeit der weiblichen Figuren und somit ebenfalls jegliches feministische Potenzial (M. McCaughey/ N. King 2001: 16-18). Dies wiederum sei geradezu symptomatisch für den postmodernen Spielfilm, sagt Jacinda Read, die von einem ‚backlash’ gegen den Feminismus seit den 80er Jahren ausgeht. Diesen ‚backlash’ kennzeichne eine gewisse restaurative Nostalgie, die in ihrer Emphase des Geschlechterunterschieds auf visueller und narrativer Ebene antifeministische Rollenverteilungen idealisiert.5 Stuart Halls Notes on Deconstructing the Popular verweist auf die signifikante Paradoxie der Populärkultur und ihre Tendenz, dominanten Werten zu widerstehen und sie aber gleichzeitig zu verstärken (vgl. S. Hall 1981). In dieser Paradoxie liegt auch die moralische Spannung der Actionheldin, die auf der einen Seite als aktiv und damit wehrhaft codiert ist, auf der anderen als erotisch und somit passiv: „Yet to what extent does a totalizing view of a sexualized female body as regressive deny, or at least overlook, the potential for alternative, forward looking female subjectivities?“ (M. Edwards 2004: 41) Die Sexualisierung des weiblichen Körpers als ästhetisch spektakularisiertes Objekt des Blickes und die marginalisierte Position des weiblichen Charakters auf narrativer Ebene bilden formale Konstanten des Hollywood-Kinos, die sich außer vielleicht im Melodrama beharrlich als Erfolgsrezept großer ‚Blockbuster’ und Mainstream-Produktionen zu halten vermögen. ‚Mörderische’ Frauen erscheinen dagegen in einer Reihe von Genres, vom klassischen Horrorfilm und Actionfilm über den ‚film noir’ bis hin zu den ‚blaxploitation’ und ‚road movies’ der 70er bis 90er Jahre.6 Seit den 90er Jahren ist ein Trend zu beobachten, der vermuten lässt, dass gewaltbereite Frauen in den Hauptrollen zu einer Normalität geworden sind, wovon unter den populärsten Filmen der letzten Jahre besonders die des Regisseurs Quentin Tarantino, sowie Comicverfilmungen und Agentenfilme (Kill Bill, Death Proof, Sin City, Charlie’s Angels, Mr. & Mrs. Smith etc.) zeugen. Die Frage nach den historischen Spuren weiblicher Actionhelden, die in diesen Filmen vertreten sind, ist dabei von entscheidendem Interesse: Where do these women come from? Which genres welcomed them and why? What expectations shape them and in what ways? Which traditional images of femininity accompany their violence and which disappear when women prepare to fight? (Mc Caughey/ King 2001: 4) 5 6
Jacinda Read sieht diesen Rückschritt ebenfalls in den neueren revenge-Genres versinnbildlicht (vgl. J. Read 2001). Im ‚film noir’ jedoch führt die Gewalt- und Mordbereitschaft weiblicher Figuren zur Erfüllung der Aufstiegsträume nicht zu weiblicher körperlicher Aktivität, sondern macht den Männerkörper zum sexuell hörigen Instrument weiblicher Kriminalität.
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Das Erscheinen der gewalttätigen Frauen wird in Verbindung mit dem soziokulturellen Wandel und der schwindenden Bedeutung der patriarchalen Werteordnung gesehen.7 Unbesiegbare Heldinnen wie Ellen Ripley in Alien werden aber gleichzeitig abgelehnt als „jämmerliche Imitation dummer, männlicher Fantasien“ (M. McCaughey/ N. King 2001: 12-14) und das Dilemma zwischen einer universal-feministischen Forderung nach Parität um jeden Preis bzw. der individuellen Entscheidungsfreiheit des Subjekts und der gleichzeitigen Hinterfragung hegemonialer Erfolgsrezepte verknüpft sich mit der Frage nach den Rezepientendispositionen: „(…) why on earth would women want to join that phallic crowd?“ (M. McCaughey/ N. King 2001: 13). Diese Frage ist (wenn sie auch rhetorisch gemeint sein mag und zunächst eher die persönlichen Dispositionen der Zuschauerinnen als Gruppe verrät als über die Verfasstheit einer Generation von Filmheldinnen) es wert überdacht zu werden, da ihre Suggestivität zum einen Richtung und Ziel feministischer Interessen hinterfragt und gleichzeitig ihre Beantwortung rezeptionstheoretisch immer noch erwartet. Es darf nicht vergessen werden, dass die Actionheldin ursprünglich dem männlich geprägten Produktionssystem entstammt, dessen Zielpublikum ebenfalls vornehmlich männlich ist. Und so stellt sich die Frage, ob das Auftauchen gewaltbereiter Frauen im Spielfilm das Repräsentationssystem bzw. scheinbar genderimmanente Rezeptionsstrategien zu ändern vermag und ob es eine signifikante Veränderung dessen gibt, was der weiblichen Heldin als angemessen gilt.8 Des Weiteren stellt sich die Frage, ob sich in der Populärkultur des postmodernen Kinos die geschlechterspezifischen Repräsentationsmöglichkeiten geändert haben. Der Prozess, der zur Etablierung der Actionheldin im Typenrepertoire des Hollywood-Mainstream-Kinos führte, spiegelt die typische Doppelstruktur in der Konstruktion des Darstellbaren wider, die sich aus antizipierten Normen einerseits und nicht antizipierbaren Effekten gängiger medienspezifischer Diskurse andererseits ergibt. Während die implizite und explizite Gewalt gegen Frauen schon seit den Anfängen des Kinos in vielen Genres Platz fand (namentlich im Krimi, Horrorfilm oder Thriller), verbot der ‚Hollywood Motion Picture Production Code’ (auch Hays Code nach seinem Initiator benannt) seit den 30er Jahren bis in die 50er Jahre hinein die ausdrückliche Darstellung von Gewalt (und Sex) im Kinofilm. Die zunächst zaghaften Versuche Filmschaffender, diese Regeln und Tabus zu unterwandern, wurden mit dem Ende des klassischen Hollywood-Kinos nach 7 8
„In this new world women move away from the moral purity of the Victorian ‘Cult of the true womanhood’.“ (M. McCaughey/ N. King 2001: 44) Die genderbedingten Umwertungssprozesse der Zuschauer spielen dabei eine wichtige Rolle: „Die gemeinhin als männlich konnotierte Phantasie der phallischen Frau scheint hier vielmehr mit feministischen Ermächtigungsstrategien zusammenzufallen.“ (A. Seier 2004: 55)
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dem Zerfall der großen Studios zu einem der führenden Erfolgskonzepte.9 Mit Konzentration auf ein jugendliches Publikum als Hauptzielgruppe und somit häufig auch als Hauptpersonen der Filme ließen sich Ängste und Begehrlichkeiten darstellen wie nie zuvor. Nach dem Erfolg der ‚juvenile-delinquincey’-Filme der 50er Jahre (wie etwa Rebel Without a Cause mit James Dean oder The Wild One mit Marlon Brando) war der Weg frei für Filme, die sich besonders mit der Jugendthematik und den darin enthaltenen Interessen, Leidenschaften und Ängsten auseinandersetzten. Durch den Niedergang des produktkonformistischen Monopols der großen Hollywood-Studios einerseits und der technischen Entwicklung andererseits, die special effects ermöglichte, erreichte die Darstellbarkeit von Gewalt einen Höhepunkt. Hershall Gordon Lewis, selbsternannter „guru of gore“ (A. Wells/ E. A. Hakanen 1997: 472) war ein Pionier des Horror- und Thriller-Genres und ‚erfand’ mit Blood Feast (1963) den ‚gore’Film (also jenes Subgenre, dessen Spektakel in der detaillierten Inszenierung von abgetrennten Gliedmaßen und blutigen Körpern liegt). In nur vier Tagen und mit einem Mini-Budget von 24.000 $ gedreht, unterschied sich dieser Film insofern von herkömmlichen ‚teenpics’, als er vornehmlich die Verfolgung und Verstümmelung schöner Frauen beinhaltet.10 Dieser Art von Filmen wurde, besonders mit einem Erstarken der feministischen Kritik, vorgeworfen, eine sadistische Gewalt an Frauen zu fetischisieren. Die Darstellung bedrohter, ängstlicher und leidender Frauenfiguren nimmt einen Großteil der Filmzeit ein und ist von einer besonderen Ästhetisierung des Expliziten geprägt. Gewalt, die von Frauen ausgeht, kommt hingegen so gut wie nie vor und wenn wir uns an das Vorwort zu Faster Pussycat erinnern, wird die als pervers empfundene Abweichung von der Norm, die Monstrosität, die in der Darstellung gewaltbereiter Frauen gesehen wurde, deutlich. Durch die 70er Jahre hindurch wurden die Subgenres des ‚teenpic’ im Horrorfilm mit den so genannten ‚slasher’- oder ‚gore’-Filmen immer drastischer in ihren Darstellungen von brutaler und blutrünstiger Gewalt, was offensichtlich zu der großen Popularität bei dem (hauptsächlich) jugendlichen Publikum beitrug. Man denke beispielsweise an Texas Chainsaw Massacre (Tobe Hooper 1974), der mit einem Produktionsbudget von nur rund 80.000 $ allein an den Kinokassen 31 Mio. $ einspielte. Dieser Film trägt nun aber bereits eine Besonderheit in seiner Handlung, die unter einigen Filmwissenschaftlern als Reaktion auf die 9 10
Zu den Veränderungen der US-amerikanischen Filmindustrie und den Zensurbestimmungen vgl. S. Neale 2000: 215-217, H. Benshoff/ S. Griffin 2005: 36-44 und J. Lewis 1998. Mit dieser erfolgreichen Formel produzierte Lewis weitere Filme wie 2000 Maniacs, Color Me Blood Red und The Gruesome Twosome. In allen diesen Filmen liegt die Hauptattraktion in jenen Szenen, in denen junge, hübsche Frauen gefoltert und getötet werden. (Vgl. B. S. Sapolsky/ F. Moliter 1993)
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Kritik an der vornehmlich gegen Frauen gerichteten Gewalt gesehen wird: das Final Girl. Diese Figur, deren moralische Integrität sie von den anderen weiblichen Akteuren unterscheidet, ist gekennzeichnet durch die Aura des Jungfräulichen und eine verlässliche pragmatische Vernunft. Carol Clover beschreibt das Final Girl als Figur, die im Grunde Hauptleidtragende im Film ist und somit auch dem Zuschauer einen subjektiveren Eindruck des Horrors, den alle Filmfiguren erleben, gewährt. Indem sie nämlich von Anfang bis Ende bei vollem Bewusstsein dem Grauen und der äußersten Gewalt ausgesetzt ist und mit ansehen muss, wie ihre Freunde hingeschlachtet werden, personifiziert sie für den Zuschauer über Minuten und Stunden die Todesangst: The image of the distressed female most likely to linger in memory is the image of the one who did not die: the survivor, or Final Girl. She is the one who encounters the mutilated bodies of her friends and perceives the full extent of the proceeding horror and of her own peril; who is chased, cornered, wounded; whom we see scream, stagger, fall, rise, and scream again. She is abject terror personified. If her friends knew they were about to die only seconds before the event, the Final Girl lives with the knowledge for long minutes and hours. (C. Clover 2000: 132)
Die Transformation dieser hauptsächlich passiven Ikone des fortgesetzten Leidens zu einer aktiven Kämpferin, die sich zunächst einmal nur zur Wehr setzt, wird seit den späten 70er Jahren im Subgenre des ‚rape-revenge’-Films vollzogen. Exploitationfilme wie I spit on your grave von 1977 und Ms. 45 von 1981 zeigen schockierend drastisch, wie eine junge, gut aussehende Frau zumeist mehrmals brutal vergewaltigt wird, um sich daraufhin im zweiten Teil des Filmes schrecklich an ihren Peinigern zu rächen. In der Mitte der 80er Jahre verschiebt sich der inhaltliche Fokus der ‚rape-revenge’-Filme von der Vergewaltigung mehr und mehr auf die Rache. Filme wie Sudden Impact (1983), Extremities (1986), und Positive I.D. (1987) thematisieren den Rachefeldzug der Frau und deuten die Vergewaltigung, wenn überhaupt, nur an, was dazu führte, dass das ‚rape-revenge’-Motiv von nun an im Mainstream-Kino und zwar im Genre des Melodrama Fuß fassen konnte.11 Das Rachemotiv spielt auch in jener Tradition eine entscheidende Rolle, welche – neben den US-amerikanischen Exploitationfilmen – der gewalttätigen Frau im Hollywood-Mainstream-Kino der Gegenwart den Weg bereitet hat: Der Eastern und die Martial-Arts-Filme aus Asien, insbesondere Hong Kong und Japan. Das Hong-Kong-Kino produzierte seit den 70er Jahren eine Fülle von Martial-Arts-Filmen nach stets ähnlichen Mustern, in denen weibliche Kämpfe11
The Accused von 1988 mit Jodie Foster ist das vielleicht populärste Beispiel, da der Film ganz ohne Gewalt durch Selbstjustiz den Rachefeldzug durch die Gerichtsverhandlung ersetzt.
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rinnen ihren festen Platz haben. Wendy Arons beschreibt die Heldinnen dieser Filme als immer junge, hübsche Mädchen, die zumeist an der Seite des männlichen Helden für die gerechte Sache kämpfen (W. Arons 2001: 34). Im Antagonismus zu der guten Kriegerin, die mädchenhaft-unbedrohlich für den männlichen Helden erscheint und in der Regel am Ende des Films durch eine Heirat domestiziert wird, versinnbildlicht die Dragon Lady die Kastrationsangst, steht für sexuelle Ausschweifungen und wird im Laufe des Films unschädlich gemacht. Zwei Aspekte dieser Kämpferinnen überschneiden sich jedoch. Der erste ist die Motivation für die Gewalt, nämlich Rache für den Mord an (zumeist) Familienangehörigen. Der zweite ist die überaus geschulte Kampftechnik, die Unbesiegbarkeit aufgrund perfektionierter – und ästhetisch enorm effektvoll präsentierbarer – körperlicher Fähigkeiten. An diesen Vorbildern orientierten sich in der westlichen Kultur zunächst Comics und Computerspiele, die es weiblichen Helden noch vor deren Erscheinen auf der Kinoleinwand erlaubten, mittels körperlicher Wehrhaftigkeit ihr Ziel zu erreichen.12 Neben der speziellen Ästhetik, die von den Comicbüchern und den Computerspielen für die Filme übernommen wurde (wie die Hypersexualisierung der weiblichen Körper durch Kostüme oder die choreografische Inszenierung der Bewegungen), haben sich auch bestimmte Konstanten auf der Ebene der Filmhandlung und der Figurenmotivation erhalten. Zu nennen ist hierbei besonders eine als essentialistisch zu bezeichnende Motivation für den Kampf, die die Heldinnen von ihren männlichen Pendants unterscheidet.13 Motiv und Gestalt der gewalttätigen Frau wurden also durch die asiatische Kino- und Comic-Kultur inspiriert und entwickelten sich in den USA in den Exploitationfilmen weiter, in denen weibliche Aktivität und Gewalt fetischisierend inszeniert wird, um den (männlichen) Rezipienten oszillierend zwischen Voyeurismus und Kastrationsangst spielerisch „gefangen zu nehmen“.14 Die Kastrationsandrohung, die nach der psychoanalytischen Filmanalyse wechsel12
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Beispiele für solche Figuren, die seit den 90er Jahren auch als Filmfiguren großen Erfolg hatten, finden sich in den Comics Elektra oder X-Men (beide von Marvel) sowie bei den Computerspielen Tomb Raider (Core Design, USA) und Resident Evil (Capcom, Japan). Wenn Actionhelden à la Sylvester Stallone in Rambo oder Bruce Willis in Die Hard agieren, so liegt dies an ihrer Profession: Soldat oder Polizist. Den Anstoß für das entscheidende Actionspektakel im Film kann durchaus ein privater Grund geben, so dass die folgende Gewalt nochmals eine moralische, „familientaugliche“ Legitimierung erhält. Diese Motivation ist dem männlichen Actionhelden im Gegensatz zu weiblichen aber nicht immanent. „…at the heart of the exploitation movie is the issue of the destructive nature of female sexuality. And how such films almost deliberately reveal what the more respectable Hollywood genres seek to conceal, the castration anxiety which underpins voyeurism and male spectatorship, (…) we also suggest that in the exploitation product the female characters are fetishized to such an outrageous degree that the representations become (almost) a parody of the cinematic process whereby the castration threat is traditionally played.“ (B. Zelcock 1998: 59)
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wirkend mit dem Fetischismus der Inszenierung von Weiblichkeit im Film zugrunde liegt (vgl. L. Mulvey 1996), war also in ihrer drastischeren Ausprägung zunächst nur auf den Nebenpfaden des populären Mainstream-Kinos zu finden. Ähnlich wie in der historischen Entwicklung der Darstellbarkeit ‚nicht weißer’ Charaktere als Handlungsträger, hat die gewaltbereite Frau als marginalisiertes Phänomen in den Genres debütiert, die als wenig massentauglich und zum Teil eher als moralvernichtend und somit jugendverheerend angesehen waren (B. Moldenhauer 2008: 64-66). Während die Gewalt, die vom männlichen Helden ausgeht, in den meisten Fällen als gesellschaftserhaltend verstanden wird und nicht sexualisiert codiert, also unmarkiert, neutral ist, zeugt die Kontextualisierung der weiblichen Figuren von einer kollektiven Furcht vor dem Anderen, was über die Inszenierung des Weiblichen als das Abjekte eine Strategie zur Intelligibilisierung sucht (B. Creed 1993: 165/166). Die affirmative Spektakularisierung männlicher Gewaltbereitschaft und die gleichzeitige moralische Zweifelhaftigkeit körperlich gewalttätiger Frauen scheint von patriarchaler Selbstreflexivität zu zeugen: die Marginalisierung der Frau wird aufgrund ihres rächerischen Potenzials durch die patriarchale Gesellschaft gleichermaßen gefürchtet und gefördert, indem jedwede mögliche Ermächtigung mit einer Sexualisierung bzw. mit dem Abjekten in Verbindung gebracht wird. Ein weiterer Hinweis auf diese Art der Marginalisierung findet sich im Übernehmen narrativer Rahmenkonzepte, die im klassischen Hollywoodkino mit einem männlichen Protagonisten erfolgreich verkauft werden konnten und nun bloß einer weiblichen Figur ‚übergestülpt’ werden mussten. Ein Umstand, der in der, teils intendiert, teils unfreiwillig parodistischen Analogie zum männlichen Actionhelden, die Inkongruenzen und Unvereinbarkeiten von Gewalt im filmischen Diskurs mit einem dem Weiblichen ‚angemessenen’ Handlungsspielraum aufdeckt.15
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Bev Zelcock betrachtet als diesem Muster folgend unter anderem Red Sonja (1985), in dem Brigitte Nielson den Part Arnold Schwarzeneggers in Conan, the Destroyer (1984, beide von Richard Fleischer) aufnimmt. „As protagonists they must assume masculine attributes in order to drive the narrative forward but as women they are supposed to be feminine, recessive and passive objects of the male gaze. In order to mediate this contradiction, central female characters become honorary men, or to use the psychoanalytical jargon ‘phallicised females’“. (B. Zelcock 1998: 7)
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Ein postmodernes Pastiche – Quentin Tarantino Quentin Tarantino makes guy movies, and great ones at that. He’s a lad’s lad, a cinephile’s cinephile, a geek’s geek, the thinking man’s auctioneer…who usually, it must be said, has very little on offer for any woman who happens to find herself in his cinematic sphere. (R. B. Rich 2004: 32)
Angesichts einer solchen Einschätzung des Regisseurs als den männlich konnotierten Genres verpflichtet, können die Frauenfiguren in Tarantino’s Kill Bill zu einer ersten Einschätzung der sich transformierenden Genderdispositionen im postmodernen Spielfilm unter dem Gesichtpunkt der Spannung zwischen Gender und Genre dienen. Bev Zelcock unterscheidet drei elementare Gestaltungsmuster, die den gewaltbereiten Frauenfiguren im Actionfilm zugrunde liegen: „i) the central character who is solo, ii) the female duo in a buddy format; and iii) the girl gang“ (B. Zelcock 1998: 5). Beatrix Kiddo, die Protagonistin in Kill Bill ist nur scheinbar Teil einer solchen „girl gang“, bevor sie sich entschließt, ihr Leben als Auftragskillerin aufzugeben. Die Mitglieder des ‚Viper Squad’ sind mit einer Ausnahme weiblich, doch unterstehen sie zweifellos auf Gedeih und Verderb ihrem Mentor und Arbeitgeber Bill. So gesehen, beginnt Kiddos Emanzipation zur aktiven Frau mit ihrer (fehlgeschlagenen) Exekution durch Bill. Formal erfüllt sie damit die Kriterien einer Figur, die Zelcock dem ersten Typus zuordnet: den der einzelgängerischen Protagonistin. Dieser Typ weist auch die potenziell größte Ähnlichkeit zum ‚universellen’ männlichen Actionhelden auf, trägt aber im Gegensatz zu jenem gleichzeitig das Potenzial der Hypersexualisierung in sich und tendiert somit zu den Inszenierungsmustern einer postmodernen femme fatale. Zelcock beschreibt die rituell-inszenatorische Bestrafung der fatalen Frauen des Hollywoodspielfilms seit den 80ern in Anlehnung an die Hitchcock’sche Inszenierung von Weiblichkeit: Hitchcock’s perfection of cinematic misogyny continues to resonate in commercial film making as films like Fatal Attraction (1987), Single White Female (1992) and Basic Instinct (1992) reveal, forming as they do part of a subgenre that can be described as the ‚ambitious blonde punishment movie’. There are films, where the central female character has endured so much punishment that she turns on her tormentors and blows them away. (B. Zelcock 1998: 6)
In Kill Bill erleidet die weibliche Hauptfigur eine rituelle Bestrafung für ihren Ehrgeiz, das Assassinen-Milieu zu verlassen und ein Leben zu leben, das nach westlich, neo-liberalem Verständnis als höchst unehrgeizig gelten muss: nämlich
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das einer Mutter und Ehefrau eines Plattenladenbesitzers in einem verschlafenen Nest in Texas. Ein narrativ unverkennbarer Beleg für die Entkräftung feministischer Ideen und Errungenschaften im Actiongenre seit den 90ern scheint sich in der programmatischen Domestizierung der Actionheldin durch die romantische Liebe bemerkbar zu machen: „They are tamed because they are soft inside – emotional. They fall in love“ (B. Zelcock 1998: 61). Kill Bill hingegen platziert die romantische Liebesgeschichte vor der erzählten Zeit der Haupthandlung,16 doch was von dieser Liebesgeschichte übrig bleibt, ist das genaue Gegenteil des gezähmten Lebens, das Kiddo aus eigenem Entschluss heraus gewählt hat. Mit Bills Bestrafung für diesen Fluchtversuch verwandelt sich Kiddo in eine mitleidlose Rächerin, die sie wiederum mit Hinblick auf Motivation und narrativen Verlauf durch die Heldinnen des raperevenge-Dramas inspiriert scheinen lässt. Somit umgeht Tarantino mit dieser Figur zwar ein typisches Handlungsmuster der meisten Frauenfilme, deren Drehund Angelpunkt in der Problematisierung der Paarbeziehung liegt, doch am Ende des Films steht die Zusammenführung von Mutter und Kind als einzig rechtmäßige Lösung und nachträgliche Legitimierung der gewalttätigen Frau. Nicht die romantische Liebe, nur die Mutterliebe vermag am Ende des Films die Aktivität der Heldin zu befrieden, womit das Dilemma deutlich wird, in welchem sich die Repräsentation des Weiblichen als das Andere stets befindet: In action films, the heroine is presented as either motivated by her maternal instincts or as taking over/inheriting her father’s position. This suggests very little space for the heroine as articulating an identity for herself, one that is beyond the terms of the masculine, mother or Other. (Y. Tasker 1998: 102)
Mit Fokus auf den generischen Hintergrund der Figuren stellt sich die Frage, ob und inwiefern Tarantinos Filme mehr sind als Genrekonventionen und ob die angenommene und begrüßte Diversifizierung im postmodernen Kino sich nicht doch tatsächlich als sich wiederholende Erscheinungsformen der vorherigen, dem Genre festgeschriebenen Typenmodelle entpuppt.
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Schluss
Judith Butlers Entwurf von Gender als Parodie und Subversion kann hier dazu dienen, der Frage nach dem kontrahegemonialen Potential in der Repräsentation von Weiblichkeit nachzugehen. Unterschieden werden dabei solche Akte der 16
Kiddos und Bills Beziehung wird in Rückblicken mehr angedeutet als dargestellt, motiviert aber eben die Vehemenz der gewaltbereiten Figuren.
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Parodie, die als subversiv zu verstehen sind, von jenen, die in den Dienst der Kulturhegemonie gestellt werden: Parody itself is not subversive, and there must be a way to understand what makes certain kinds of parodic repetitions effectively disruptive, truly troubling, and which repetitions become domesticated and recirculated as instruments of cultural hegemony. (J. Butler 1990: 139)
Die „Domestizierung“, die Butler hier erwähnt, verweist auf den Vorgang der Transformation originär vereinzelter nicht kanonisierter Codierungen von Geschlechtlichkeit in Gendertypen oder -images durch die Herauslösung und Stilisierung einzelner Aspekte. Auch wenn die konventionelle Actionheldin den Bösewichten Widerstand zu leisten im Stande ist und somit ihre Aktivität auch als ein Widerstehen gegenüber der als weiblich codierten unterwürfigen Passivität zu verzeichnen ist, zeugt ihr erotisch inszeniertes Äußeres von ihrem Status als Objekt des männlichen Blicks. Das feministisch-subversive Potenzial in Filmen wie Kill Bill wird durch die Rückkopplung an die Mutterfigur in seinem Essentialismus als emanzipiertes Statement hinterfragbar. Die innerfilmische Ermächtigung der Filmheldin mag zwar auf der Handlungsebene möglich erscheinen, sieht sich jedoch oft korrumpiert durch ihre Sexualisierung bzw. durch das imperative Prinzip der Mutterschaft. Die bewusste wechselseitige Bezugnahme in der Performanz der Frau als ‚display’ reiner Weiblichkeit produziert jedoch nicht unausweichlich die Fetischisierung und Abjektisierung der Frau, sondern reformuliert die Genderkonventionen und eröffnet Perspektiven auf die von der Norm abweichenden Genderperformanzen im Spielfilm. Tarantino unterstellt generische Aspekte des asiatischen und amerikanischen Kinos jedoch seinen eigenen Genreentwürfen und reproduziert somit zumindest nicht die gängigen ‚normalen’ Typenmodelle des Hollywood-Kinos, wie es die Mainstream-Actionfilme der 80er und 90er Jahre taten. Die Konstruktion der scheinbar souveränen Actionheldin bei Tarantino in ihrer spezifischen Ikonizität lässt jedoch erkennen, zu und unter welchen Bedingungen Normalität im Mainstream-Film konstruiert wird.
Literatur Arons, Wendy (2001): Violent women in the Hong Kong Kung Fu film. In: McCaughey et. al. (2001): 27-51. Benshoff, Harry/ Griffin, Sean (2005): America on film. Representing race, class, gender and sexuality at the movies. Oxford: Blackwell.
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Mareike Clauss
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„Die Lie-be..., die Lie-be...“ – Dekonstruktionen der romantischen Zweierbeziehung in Monika Treuts Die Jungfrauenmaschine und Bent Hamers Kitchen Stories Andrea von Kameke
Über die Kriterien des Romantischen ist man sich nicht einig: Ist es die Intention auf (nicht mehr zu realisierende) Synthese, ist es die Behauptung der Einheit von Subjekt und Welt, ist es das Abweichen von der Normalität, die all dies ermöglicht? (N. Luhmann 1994: 172)
Nach Niklas Luhmann ist die Liebe ein symbolischer Code, der ungewöhnliches Verhalten und unwahrscheinliche Kommunikation1 möglich macht: „Offensichtlich gilt es, einen Gegensatz zur Normalität, eine ungewöhnliche Lage zu charakterisieren, die ungewöhnliches Verhalten verständlich und akzeptabel erscheinen lässt.“ (N. Luhmann 1994: 79) Der „tiefere Sinn“ (N. Luhmann 1994: 189) der Liebe besteht in ihrer gesellschaftlichen Funktion, auf die Reproduktion hinzusteuern. Luhmann bezeichnet die Liebe als „Endform evolutionärer Differenzierung des Reproduktionsprozesses“ (N. Luhmann 1994: 189, Fußnote 24) Die Semantik steuert die „individuelle Gefühlsbildung“. „Institution und Freiheit“ fallen zusammen: Die Vorstellungen, die die Liebenden sich romangemäß bilden, haben ihren Zweck nicht in sich selbst (…): sie individualisieren die Partnerwahl für eine kombinatorische Züchtung der Menschengattung, und erst diese Funktion lässt den tieferen Sinn all der Entzückungen und Schmerzen, all der Ängste und Nöte, all der Überschwenglichkeiten erkennen. (N. Luhmann 1994: 189)
Die Semantik der romantischen Liebe dient darüber hinaus als „Glücksversprechen“ und „magisches Substitut für Voraussicht“. (N. Luhmann 1994: 186) Im Roman und im Film endet die Geschichte zumeist mit der Hochzeit oder kurz zuvor, wenn das Paar sich nach der Überwindung einiger Hindernisse gefunden hat: „[D]as Ende des Romans ist nicht das Ende des Lebens.“ (N. Luhmann
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In seinem Vorwort zu Liebe als Passion schreibt Luhmann, die Theorie zeige, „(...) daß Liebe nicht nur eine Anomalie ist, sondern eine ganz normale Unwahrscheinlichkeit“. (N. Luhmann 1994: 10)
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1994: 190) Im wirklichen Leben ist das Paar jedoch schlecht vorbereitet auf die Ehe: [D]ie Romantik als große Theorie der Liebe (…) feiert mit einer rauschhaften Orgie das Ungewöhnliche (…) Sie trifft aber kaum Vorsorge für den Liebesalltag derjenigen, die sich auf eine Ehe einlassen und sich nachher in einer Situation finden, an der sie selbst schuld sind. (N. Luhmann 1994: 187)
Als Leidenschaft ist die Liebe ein „Gefängnis, aus dem man nicht entweichen möchte“, „eine Krankheit, die man der Gesundheit vorzieht“ (N. Luhmann 1994: 79). Das Problem ist jedoch, dass dieser Zustand, die „Liebe als Passion“, nicht andauert – sei es, weil sich die Liebe im Feuer der Leidenschaft selbst verbrennt oder weil sie sich in eine Institution verwandelt, welche hierarchische Strukturen aufweist und die Freiheit einschränkt, häufig im Namen der Normalität oder sogar im Namen der Liebe. Hierbei spielen sowohl die Geschlechterverhältnisse als auch die Heteronormativität eine entscheidende Rolle. Konsequent weiter gedacht wirft Luhmanns Theorie die Frage danach auf, was passieren würde, wenn das der Liebe zugrunde liegende Ziel der Reproduktion von ihr abgekoppelt würde. Würde sich der Liebescode dann neu – anders – ausdifferenzieren? Oder würde die Liebe ganz verschwinden? Wie könnte eine Emanzipation von der Liebe als symbolischem Code aussehen – wenn eine solche überhaupt möglich ist? Der Film als das Medium der Illusion und Projektion ist zugleich das Medium der Liebe. Zumeist erzählt er romantische Geschichten heterosexueller Zweierbeziehungen. Seit dem späten 20. Jahrhundert sind es zuweilen auch Coming Out-Geschichten, in denen es um lesbische oder schwule romantische Zweierbeziehungen geht. Zwei Filme, die sich dem Liebescode jedoch auf abweichende – ‚queere’ – Weise nähern, sind Monika Treuts Film Die Jungfrauenmaschine (Deutschland 1988) und Bent Hamers Film Kitchen Stories (Norwegen/ Schweden 2003). Beide verbindet eine kritische Sicht auf die heteronormative Ordnung und ein Versuch, sowohl die Macht- und Geschlechterverhältnisse, als auch die Sexualitäten anders als ‚normal’ zu entwerfen. Unterschiedlich ist sowohl die Art und Weise, wie sie dies tun, als auch ihr Umgang mit dem symbolischen Code der Liebe.
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Die Jungfrauenmaschine
Am Anfang von Monika Treuts Film Die Jungfrauenmaschine (Deutschland 1988) bezeichnet die Protagonistin, Dorothee Müller, die Liebe ebenfalls als eine Krankheit: „Ich habe ja auch so viel geträumt – von einer romantischen Liebe.
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Diese Krankheit – meine Mutter hat sie auch schon gehabt.“ Dorothee ist eine Heldin wie aus dem Bildungsroman, die sich auf eine Reise begibt, um nach der Erfüllung ihres Traums von einer großen, romantischen Liebe zu suchen und sie zugleich wissenschaftlich zu erforschen. Ihre Reise führt sie von Hamburg nach Amerika – von einer gescheiterten heterosexuellen Beziehung und einer unerfüllten Liebe zu ihrem schwulen Stiefbruder mitten in die lesbische Community San Franciscos, wo sie eine ganz andere Version der Liebe kennen lernt: „Vielleicht ist die Liebe hier ganz anders...“. Die Jungfrauenmaschine verbindet eine feministische Perspektive mit einer Erzählung von der Liebe, welche in eine Politisierung der Protagonistin und ihre Emanzipation von der romantischen Liebe mündet. Dabei dekonstruiert der Film die Diskurse um die romantische Liebe. In Die Jungfrauenmaschine ist die Liebe einerseits ein Traum, eine „fantastische Illusion“, andererseits hat sie mit realen Machtverhältnissen zu tun. Während Dorothee von der großen romantischen Liebe träumt, ist ihr Hamburger Leben von männlichen Übergriffen geprägt: den sexualisierenden Blicken der Männer auf der Straße, den Aufdringlichkeiten ihres Ex-Freundes Heinz, der sich ungebeten Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft und sie durch Annäherungsversuche belästigt, und den obszönen Fantasien eines anonymen Anrufers, der auf „Akademikerinnen“ steht. Bei ihrer Recherche der Liebe trifft sie auf biologistische Diskurse, welche das menschliche Sexualverhalten mit jenem der Schimpansen gleichsetzen sowie die Ausführungen eines „Hormonfachmannes“, der ihr die Funktionen von Amphetaminen und Endorphinen erklärt, um sogleich in eigene Fantasien über die Rückkehr in den Mutterleib abzuschweifen. Als er sie schließlich fragt, ob sie denn „bar bezahle“, bricht Dorothee in Lachen aus. In San Francisco angekommen sieht Dorothee im Fernsehen den Werbespot einer Frau, die damit wirbt, sie könne die Krankheit der romantischen Liebe heilen: „ Hi, my name is Ramona. I’m a therapist. You may not know this, but you could be addicted to romantic love. My therapy could help you find the way out.“ In einem Strip-Club „for women only“ trifft sie sie wieder. „The beautiful Ramona“ tritt in einer Drag-Performance auf, in der sie in Männerkleidung auf der Bühne strippt, mit den Frauen im Publikum interagiert und – als Höhepunkt – mithilfe einer Bierflasche einen männlichen Orgasmus simuliert. Von ihrer Darstellung bezaubert, spricht Dorothee sie an, und die beiden verabreden sich für den nächsten Tag im Billboard Café. Auf der Taxifahrt dahin hören wir – als Voice-Over – Dorothees Gedanken: „Ich darf ihr nicht gleich zeigen, dass ich sie ... gorgeous... finde.“ Die darauf folgende Szene zeigt ein ‚perfektes Date’, mit all den Symbolen, die in den späten 1980er Jahren zum Traum von der romantischen Liebe gehören und der entsprechenden Dramaturgie: Das Paar fährt mit einer großen Stretch-Limousine durch die Stadt, lässt ein Foto von sich machen
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und auf ein T-Shirt drucken, kommt sich auf dem Rücksitz des Autos bei eisgekühlten Drinks näher, tauscht auf dem Konzert einer (Frauen-)Band die ersten Küsse aus und verbringt schließlich eine leidenschaftliche Liebesnacht miteinander. Allein, Ramona entpuppt sich am Morgen danach als eine ‚Sex-Workerin’, das Date als die perfekte Inszenierung der romantischen Liebe. Zugleich führt es vor, wie die Liebe als „symbolischer Code“ (N. Luhmann 1994: 9) funktioniert. Dorothee kann annehmen, dass das, was sich zwischen ihr und Ramona abspielt, Liebe ist, weil diese sich durch wieder erkennbare Muster auszeichnet. Niklas Luhmann schreibt: „Die Liebe entsteht wie aus dem Nichts, entsteht mit Hilfe von copierten Mustern, copierten Gefühlen, copierten Existenzen und mag dann in ihrem Scheitern genau dies bewusst machen.“ (N. Luhmann 1994: 54) Zu diesen Mustern gehört, dass beide sich schön gemacht haben für den Abend, die Nervosität am Anfang, die Annäherung, die Küsse, als Höhepunkt die Liebesnacht und selbstverständlich die Form des ‚Date’ selbst. (vgl. E. Illouz 2003: 61) Die Produktion des Fotos, das die beiden machen lassen, welches einen herzförmigen Rahmen hat und mit dem Schriftzug „I love you“ versehen ist, kann dabei als ein Symbol für die Herstellung der Liebe über Bilder und Formeln gelesen werden. Bei Dorothee setzt der Gedankengang, es müsse sich um Liebe handeln, in dem Moment ein, als sie ihr eigenes und Ramonas Bild, wie in einem Spiegel, vor sich auf dem Monitor sieht. Mit dem Blick auf das Bild – und nicht etwa auf Ramona selbst – sagt sie: „Sie gefällt mir. Und ich gefalle ihr. Ich glaube, sie braucht meine Liebe.“ Bezeichnend ist, dass sie nicht „Ich brauche ihre Liebe“ sagt. Luhmann schreibt, dass „der Liebende sich in der Orientierung am anderen immer auch auf sich selbst bezieht: Er will im Glück des anderen sein eigenes Glück finden.“ (N. Luhmann 1994: 174) Darüber hinaus steht das Foto für die serielle Produktion der Liebe – nicht nur, weil dies vermutlich nicht das erste Mal war, dass Ramona als ‚SexWorkerin’ das Ritual des Foto-Machens mit einer Kundin vollzogen hat, sondern auch, weil das Setting insgesamt das einer Serienproduktion ist: am Foto-Stand werden die Pärchen im Schnelldurchlauf abgefertigt. Auch dies verdeutlicht den Status der Liebe als Kopie. Darin ähnelt sie der Heterosexualität, die Judith Butler als „Kopie ohne Original“ bezeichnet (vgl. J. Butler 1991: 22). Während Ramona im Strip-Club mit den Symbolen der Heterosexualität spielt – etwa, wenn sie einen Blow-Job inszeniert, indem sie sich eine Banane zwischen die Beine hält und eine feminine Frau aus dem Publikum davon abbeißen lässt – spielt sie hier mit den Symbolen der Liebe. Der Unterschied jedoch ist, dass Dorothee sich zunächst nicht bewusst ist, dass sie es auch hier mit einer theatralen Inszenierung zu tun hat. Die Liebe selbst entpuppt sich als Inszenierung – sei sie bezahlt oder unbezahlt.
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Die Szene am nächsten Morgen ist mit einem Song unterlegt, der das Monroe’sche „I wanna be loved by you“ zitiert. Durch Ramonas professionellen Umgang und die Rechnung über 500 Dollar wird die romantische Liebe als Service entlarvt, als eine Dienstleistung, die sie Dorothee gegenüber erbracht hat. Ramona benutzt während des ganzen Dialogs Koseworte für Dorothee, z.B. „my sweet“ und „my dove“ – wenngleich auch der Schluss nahe legt, dass Ramonas Begehren nicht nur gespielt war, da sie schwärmerisch zu Dorothee sagt: „Oh, eyes...“. Zugleich ist sie jedoch eine knallharte Geschäftsfrau, wenn sie ihren Aktenkoffer öffnet und mit Hilfe eines Taschenrechners ausrechnet, wie viel Dorothee ihr schuldet. Dorothees sehnsüchtige Frage: „But when will I see you again?“ beantwortet sie durch ein selbstverständliches: „Whenever you like, angel.“ Als Dorothees erster Schock überwunden ist, bricht sie in ein lang anhaltendes Gelächter aus. Wie Ramona es in ihrem Werbespot angekündigt hatte, ist es ihr gelungen, Dorothee von der Illusion der romantischen Liebe zu heilen. Am Ende des Films tanzt Dorothee selbst auf der Bühne des Strip-Clubs. Die lesbische Community fungiert als ein Schutzraum, in dem erotische Fantasien ausgelebt werden können. Als eine Frau Dorothee fragt: „What about that dream?“, antwortet sie: „My dream is gone.“ In der letzten Szene des Films fährt sie mit dem Fahrrad zum Hafen, wo sie die Fotos ihrer Vergangenheit, in kleine Stückchen zerrissen, in den Pazifik flattern lässt. Mit ihrem Traum von der romantischen Liebe hat Dorothee zugleich ihre Hamburger Vergangenheit hinter sich gelassen. Die Liebe ist in Dorothees Leben durch die öffentliche Erotik und die Freundschaft innerhalb einer lesbischen Gemeinschaft ersetzt worden, nicht jedoch durch eine weitere sexuelle Beziehung. Es sieht nicht danach aus, als würde Dorothee das romantische Date mit Ramona wiederholen – möglicherweise ist es zu teuer für sie. Auch hat sie, nachdem ihr Traum verschwunden ist, wohl nicht mehr das Bedürfnis danach. Indem sie auf der Stripbühne tanzt, tritt sie nicht nur in die Fußstapfen ihrer Mutter, welche ebenfalls als Stripperin gearbeitet hatte, sondern auch in jene Ramonas: Jetzt lässt sich Dorothee Geldscheine in den Ausschnitt stecken. Der Film feiert Sexualität als unabhängig von Liebe – etwa wenn die in der lesbischen Community bekannte ‚Sex-Expertin’ mit dem sprechenden Namen Susie Sexpert Dorothee ihre Kollektion Dildos vorführt und darauf hinweist, dass sie sie mit Kondomen hygienisch für mehrere Partnerinnen nacheinander verwenden könne. Eine freiere – promiske – lesbische Sexualität ersetzt den Traum von der romantischen Liebe und die Zweierbeziehung.2
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Der Film vertritt somit innerhalb der feministischen Sex Wars der späten 1980er Jahre eine pro sex-Position (vgl. C. S. Vance 1984).
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Nach Niklas Luhmann führt die Sexualität jedoch notwendigerweise zur Liebe zurück und damit ins Unglück: Das Sich-einlassen auf sexuelle Beziehungen erzeugt (...) Prägungen und Bindungen, die ins Unglück führen. Die Tragik (…) liegt darin, dass sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und daß man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann. (N. Luhmann 1994: 203)
Auch Dorothee sagt am Ende des Films einen Satz, der ihre Geschichte für eine weitere Wiederholung der Liebe öffnet: „Dorothee Müller, das bin ich. Ein deutsches Mädchen in Amerika. Wenn ich mich das nächste Mal verliebe, was wird dann wohl passieren?“ Welche Form eine zukünftige Liebe haben kann, nachdem Dorothee sich von ihrer „fantastischen Illusion“ emanzipiert hat, bleibt offen. Dorothees post-emanzipatorische Frage verweist jedoch auf das Projekt einer neuen – feministisch und ‚queer’ abweichenden – Ausdifferenzierung des symbolischen Codes der Liebe.
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Kitchen Stories
Bent Hamers Film Kitchen Stories (Norwegen/ Schweden 2003) spielt in den 1950er Jahren in Norwegen. Ein schwedisches Haushaltsforschungsinstitut führt eine Studie durch, in der das Kochverhalten alleinstehender norwegischer Männer untersucht wird. Zu diesem Zweck werden eigens dafür angestellte Beobachter nach Norwegen geschickt, die jede Bewegung, die ein alleinstehender Norweger in seiner Küche macht, aufzeichnen sollen. Sie wohnen in Wohnwagen, die sie vor den Häusern der Männer parken, und arbeiten auf Hochstühlen, welche sie in der Küche der Versuchspersonen aufstellen. Als wichtigste Voraussetzung jedoch gilt, dass Gastgeber und Gast unter keinen Umständen miteinander sprechen dürfen, um die Studie nicht zu ‚verfälschen’. Der Film erzählt die Geschichte des Norwegers Isak und seines schwedischen Beobachters Folke. Zunächst möchte Isak Folke gar nicht in sein Haus lassen. Als Belohnung für die Teilnahme an der Studie ist ihm ein Pferd versprochen worden, das sich jedoch als schwedisches Holzpferd entpuppt. Isak, der schließlich doch die Tür öffnet, lässt sich verschiedene Strategien einfallen, um Folkes Arbeit zu behindern – etwa, indem er in der Küche das Licht ausmacht oder direkt vor Folkes Nase Wäsche aufhängt. Mit der Zeit jedoch finden die beiden Männer zueinander und beginnen die Regeln der Studie zu überschreiten, indem sie anfangen, miteinander zu sprechen. Es entwickelt sich eine Beziehung, die für beide sehr wichtig wird.
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Während Luhmann die Liebe als „Kommunikationsmedium“ (N. Luhmann 1994: 15) bezeichnet, ist es hier die Kommunikation selbst, welche der Liebe als Medium dient. In Kitchen Stories entwickelt sich zwischen den beiden Männern eine „verstehende Liebe“, welche sich auf subtil abweichende Weise auf den Liebescode bezieht. Nach Luhmann ist „verstehende Liebe“, da sie „kognitiv so strapaziös“ sei (N. Luhmann 1994: 29), ebenso „unwahrscheinlich“ wie der „Dauerexzeß“ (vgl. N. Luhmann 1994: 213) in der leidenschaftlichen Liebe. Neben der Geschichte einer „unwahrscheinlichen“ Liebe ist Kitchen Stories auch eine Parodie empirischer Studien und „positivistischer Methoden“. In einer Szene unterhalten sich Folke und sein Kollege Gren, darüber, dass Gren begonnen hat, mit seinem Gastgeber zu sprechen und zusammen zu trinken. Gren sagt zwei für den Film zentrale Sätze, die sowohl die Wissenschaftskritik als auch die Kommunikation und die „verstehende Liebe“ betreffen: „Wie kann man ernsthaft meinen, auch nur das Geringste von den Handlungen der Menschen zu verstehen, wenn man sie immer bloß stur beobachtet? (...) Man muss viel mehr miteinander reden, meine ich. Man muss miteinander reden.“ „Ich spreche doch! Ich spreche doch auch ... mit meinem Gastgeber!“, ruft Folke ihm hinterher. Wie Die Jungfrauenmaschine handelt auch Kitchen Stories nicht von einer heterosexuellen, sondern von einer gleichgeschlechtlichen Liebe. Bedeutsam ist im Vergleich zu Die Jungfrauenmaschine jedoch die andere Zeitlichkeit der sich zwischen den beiden Männern entwickelnden Liebe. Dorothee verliebt sich „auf den ersten Blick“ in Ramona – zwischen Isak und Folke findet eine langsame Annäherung statt. Jedoch ist auch diese Liebe mit abweichenden Geschlechterrollen, anderen Formen der Männlichkeit, verbunden – das Verhältnis, das sich zwischen den beiden Männern entwickelt, ist von gegenseitiger Sorge, Zuwendung und Unterstützung geprägt. An Isaks Geburtstag kauft Folke eine Torte, beide ziehen sich einen guten Anzug an und feiern zusammen. Als Folke krank wird, wickelt Isak ihm ein Katzenfell um den Hals und legt ihn zum Schlafen auf sein Pferd, da dies am besten helfen soll. Der Film löst darüber hinaus auf verschiedene Weisen die Grenzen zwischen Freundesliebe und Eros auf. Im Gegensatz zur romantischen Liebe, deren Codes sich Ramona in Die Jungfrauenmaschine bedient, scheinen wir es hier zunächst mit einer platonischen Freundesliebe – philia – bzw. Kameradschaft – companionship (vgl. N. Luhmann 1994: 192) – zu tun zu haben. Bei näherem Hinsehen finden sich jedoch weitere Elemente in der Beziehung zwischen Isak und Folke, welche auf die Liebe als „Passion“ (N. Luhmann 1994: 73) verweisen. In einer Szene des Films kommen sich die beiden Männer auch körperlich näher – wenngleich auf ungewöhnliche Art und Weise. Sie spielt mit einem romantischen Setting, bedient es jedoch gleichzeitig nicht – jedenfalls nicht auf die Art, die wir gewohnt sind. Isak liegt in einer femininen Pose ‚hingegossen’ in
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der Badewanne. Von seinem Hochstuhl aus kann Folke seinen Kopf und seine Beine und Füße sehen – der Rest seines Körpers ist durch ein davor gestelltes Bild verdeckt, das eine Mondlandschaft darstellt. Wie im ganzen Film spielt also auch hier der Blick, das Blicken und Angeblickt-Werden eine wichtige Rolle. Das Thema des nun folgenden Gesprächs passt zur Intimität der Situation: Folke spricht über das Heiraten. Folke: Isak: Folke: Isak: Folke: Isak: Folke: Isak:
Wenn ich mal heirate, trägt meine Frau ein weißes Brautkleid. Um Himmels willen! Wenn ich’s mir recht überlege, habe ich auch Schwäne nie besonders leiden können. Schwäne? Ja, weiße Schwäne. Aha. Hast du vielleicht ein enges Verhältnis zu einem Schwan gehabt? Nein, das hatte ich wohl nicht. Eben. Siehst du. Nein, ich mag viel lieber Wölfe – oder Braunbären.
Unter dem Dialog liegt ein Subtext. Dies ist der erste Moment, in dem der Code der Liebe – als vergeschlechtlichter Code – direkt aufgerufen wird. Interessanterweise geht es nicht um die Leidenschaft, sondern um die Institution der Ehe. Luhmann schreibt: „Liebe ist dann jene eigentümliche Erregung, die man erfährt, wenn man merkt, dass man sich entschlossen hat zu heiraten.“ (N. Luhmann 1994: 159) Wenn Isak Folke fragt: „Hast du vielleicht ein enges Verhältnis zu einem Schwan gehabt?“ und Folke antwortet: „Nein, das hatte ich wohl nicht“, dann ist dies durchaus doppeldeutig. Bezeichnenderweise fragt Isak nicht weiter, ob Folke ein enges Verhältnis zu einem Wolf oder Braunbären gehabt habe – er hat eines – noch dazu zu einem, der nackt vor ihm in der Badewanne liegt, zur Hälfte hinter dem Bild einer Mondlandschaft verborgen. Die Komik der Situation ist offenbar, sie wird jedoch durch das Understatement, das den ganzen Film prägt, überspielt. Dass Isak den Geschlechterdiskurs aufruft, offenbart einerseits die Absurdität der Geschlechterordnung, welche Frauen zu Schwänen und Männer zu Wölfen und Braunbären macht. Andererseits haben weder Isak noch Folke selbst große Ähnlichkeit mit Wölfen oder Braunbären. Beim ersten Sehen ist es schwierig, den Subtext dieses Dialogs zu verstehen. Was wir zu sehen bekommen, ist ein intimes ‚enges’ Verhältnis zwischen zwei Männern, ohne dass etwas zwischen ihnen ‚passiert’. Oder doch? Luhmann schreibt: Die Romantik selbst beruht darauf, dass Autor und Leser einander zumuten (und voneinander wissen, dass sie einander zumuten), dass die Inszenierung, obwohl sie Welt bedeuten soll, nicht ernst zu nehmen sei. Gerade dies wird zur Verständi-
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gungsbasis, zum Reiz des Kunstwerks gemacht und als Verweisung verstanden auf etwas, was direkter Kommunikation nicht zugänglich ist. Man macht Inkommunikables per Distanz zugänglich. (N. Luhmann 1994: 161)
Auch in Die Jungfrauenmaschine geht Dorothee davon aus, dass die Symbole für eine sich dahinter befindende Wahrheit stehen, die nicht ausgesprochen wird – vielleicht weil die Wahrheit der Liebe „inkommunikabel“ ist (vgl. N. Luhmann 1994: 153 ff.). Dorothee verlässt sich auf den Code. Daraus entsteht jedoch ein Missverständnis: Als Ramona ihr die Rechnung präsentiert, bleibt ihr nur zu sagen: „Aber ich dachte – but I thought that…“. In Kitchen Stories ermöglicht gerade die Distanz des Codes, die Tatsache, dass die beiden Männer ihn nutzen und zugleich in Frage stellen, das Verständnis. Sowohl wenn Folke Isaks Frage, ob er denn jemals ein „enges Verhältnis zu einem Schwan“ gehabt habe, verneint, als auch, wenn Isak ihm sagt, dass er selbst „viel lieber Wölfe und Braunbären“ möge, wissen beide Männer genau, wovon sie sprechen. Die Liebe ist „inkommunikabel“ und zugleich durchaus ‚kommunikabel’. Man kann die Szene ebenso als eine Verführung3 und eine Liebeserklärung lesen wie als eine Kritik der heteronormativen Normalität. Als Isak aus der Wanne steigen möchte, bittet er Folke, das Licht zu löschen und ihm das Handtuch zu reichen. Obwohl sein Körper für Folke weiter verborgen bleibt, entsteht gerade darüber Nähe. Diese wird noch dadurch gesteigert, dass Isak Folke an einem Geheimnis seines Körpers teilhaben lässt: Er lässt ihn an seinem Mund horchen, aus dem abends und besonders, wenn er sich am Wasserrohr festhält, Radiomusik zu hören ist. Folke horcht. Es erklingt Opernmusik, die Kamera fährt auf das Bild der Mondlandschaft und verweilt dort ein wenig. Nach dem Schnitt folgt der nächste Morgen. Wir wissen nicht, was in dieser Nacht noch alles passiert. Nach Luhmann besteht die Entwicklung der Liebe als „Passion“ zur romantischen Liebe auch darin, dass das „Bedrohliche“ an der „Passion“, der leidenschaftlichen Liebe, ausgefiltert werden soll. Die Passion birgt nach Luhmann „Leben und Tod auf die Waage bringende Momente“ (N. Luhmann 1994: 186). Obwohl die Liebe zwischen Isak und Folke zunächst der Kameradschaft näher zu sein scheint, ist sie jedoch auch mit der Passion verbunden – nicht nur durch die körperliche Nähe, die zwischen den beiden entsteht, sondern auch dadurch, dass auch sie ein bedrohliches Element enthält. Wie Luhmann schreibt, ist Liebe ein „Exklusivverhältnis: man erkennt einen Vorstoß in Richtung Liebe nur, wenn Momente der Ausschließung anderer mitkommuniziert werden.“ (N. Luhmann 1994: 206) Die Kitchen Stories beinhalten ein Eifersuchtsdrama, welches einer-
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Folke fragt Isak auch, ob er denn schon einmal „Bärenfleisch gegessen“ habe.
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seits durch Passion geprägt ist, andererseits jedoch ebenso über Understatement kommuniziert wird, wie die Liebe zwischen Isak und Folke. In der Zweisamkeit, die sich zwischen Folke und Isak entwickelt, gibt es einen ausgeschlossenen Dritten: Isaks Nachbarn Grant, der, bevor Folke da war, öfters zum Haareschneiden und zum Kaffee trinken vorbei kam. Als Isak Geburtstag hat, steht Grant, ein Geschenk in der Hand, in der Dunkelheit vor dem Fenster, schaut Isak und Folke eine Weile beim Feiern zu, dreht sich dann um und geht, ohne von ihnen bemerkt worden zu sein. Bedrohlich wird die Situation, als Grant aus Eifersucht eines Nachts Folkes Wohnwagen, in dem dieser friedlich schlummert, an seinen Traktor hängt und ihn auf den Bahngleisen abstellt. Dies geschieht ohne Worte auf eine beiläufige Art und Weise, wie vieles in diesem Film. Auf ebenso beiläufige Weise spannt Isak sein Pferd vor den Wohnwagen und zieht ihn wieder zurück vor das Haus – ohne dass Folke von alledem etwas mitbekäme. Dass es sich um ein Dreiecksverhältnis handelt, ist für eine Liebesgeschichte nichts Außergewöhnliches: „Es gilt als ausgemacht (...), dass man nur eine Person zur gleichen Zeit wirklich lieben könne.“ (N. Luhmann 1994: 123) Außergewöhnlich ist jedoch, dass es keine (direkten) Liebeserklärungen, keine Eifersuchtsausbrüche, keine ‚Szenen’ gibt. Und auch der Schluss – ein trauriges Happyend – ist ungewöhnlich. Als Folkes Chef erfährt, dass Folke und Isak gegen die Regeln verstoßen haben und miteinander sprechen, verliert Folke seinen Job. Obwohl er sich wünscht mit Isak gemeinsam Weihnachten zu feiern, zwingt sein Chef ihn, den Wohnwagen gemeinsam mit den anderen Beobachtern zurück nach Schweden zu fahren. Folke tut dies, stellt ihn jedoch direkt hinter der Grenze ab, um zu Isak zurück zu fahren. Als er ankommt, ist Isak – kurz nach seinem kranken Pferd – gestorben. In der Ecke, in der zuvor Folkes Hochstuhl gestanden hatte, steht nun das schwedische Holzpferd. Die letzte Szene des Films zeigt Isaks Haus im Frühling. Folke ist in der Küche, das Telefon klingelt. Folke stellt zwei Kaffeetassen auf den Tisch. Das Telefonklingeln war für Isak, wie er Folke erklärt hatte, das Zeichen gewesen, dass Grant auf dem Weg zu ihm war. Am Ende des Films steht also eine weitere Zweierbeziehung – jene zwischen Folke und Grant. Im letzten Bild sehen wir die beiden Kaffeetassen auf dem Tisch. Wenn der Film mit dem Code der romantischen Liebe spielt, dann tut er dies auf eine subtile, leicht ironische Weise. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, gelingt es ihm, die ZuschauerInnen für die Figuren und das, was zwischen ihnen entsteht, zu interessieren und für sie einzunehmen. Kitchen Stories spielt mit subtilen Codes, die ironisch gewendet werden und zu einer Nähe zwischen zwei Männern führen, die auf ihre Art leidenschaftlich ist, jedoch
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mit dem, was die romantische Liebe in der Werbung, in Hollywood und auf dem Standesamt bedeutet, wenig zu tun hat. Die Melancholie, welche dem Film dennoch innewohnt, liegt nicht nur in Isaks Tod begründet, sondern auch in dem Schmerz, der trotz aller Komik aus dem Dreiecksverhältnis entsteht. Obgleich es tröstlich ist, dass Grant und Folke am Ende zusammen Kaffee trinken – noch tröstlicher und noch ‚queerer’ wäre es, sich vorzustellen, ein enges Verhältnis mit Einem müsste nicht das Verwerfen eines Anderen bedeuten.
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‚Queere’ Liebe
Sowohl Monika Treuts Die Jungfrauenmaschine als auch Bent Hamers Kitchen Stories beinhalten Dekonstruktionen der romantischen Zweierbeziehung. Auf unterschiedliche Weise setzen beide Filme den symbolischen Code der romantischen Liebe in Szene. Die Geschichten, die sie erzählen, stellen die Liebe nicht nur als Abweichung von der Normalität dar, sondern inszenieren sie als Abweichung von der Abweichung. Es sind Geschichten ‚queerer’ Liebe, Emanzipation und Sexualität, welche auf je eigene Weise die „copierten Muster“ der Liebe zitieren und zugleich verfremden. Während Die Jungfrauenmaschine von einer Befreiung von der romantischen Liebe als „fantastischer Illusion“ und einer Entwicklung hin zu einer freieren lesbischen Sexualität erzählt, tastet sich Kitchen Stories von einer anderen Seite an das Thema heran. Hier ist es nicht wie bei Luhmann die Liebe, die Kommunikation ermöglicht, sondern die Kommunikation ermöglicht eine Liebe, welche die Codes subtil zitiert, ohne sich allzu leicht kategorisieren zu lassen. „Normal“ ist dies nicht.
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Die Norm, ihre unsichtbare Wirkungsweise, ein Anpassungsversuch und sein Preis – Heteronormativität in der slowakischen Gesellschaft am biografischen Beispiel Andrea Bettels
Im Beitrag wird ein Normierungsprozess thematisiert, der fast unbemerkt abläuft, dafür aber umso nachhaltiger das gesamte gesellschaftliche Leben prägt: normative Heterosexualität. Ein Merkmal von Heteronormativität ist ihr Unmarkiert-Sein, denn durch Prozesse wie Naturalisierung und Verdrängung ins Unbewusste bei gleichzeitiger Institutionalisierung in wissenschaftlichen wie kulturellen Strukturen (vgl. N. Degele 2004) wird sie einerseits unsichtbar, ist andererseits jedoch sehr produktiv. Die so postulierte „Unentrinnbarkeit von Heterosexualität“ (T. de Lauretis 1996: 140) führt dazu, dass homosexuelle Identitäten auf diese symbolische Ordnung zwangsläufig Bezug nehmen, sowohl in der Abgrenzung als auch bei einer Anpassung. Damit beeinflusst die heterosexuelle Norm die Widerstandspotenziale ebenso wie die Gestaltungsmöglichkeiten des individuellen Lebens entscheidend (U. Hänsch 2003: 116). Indem der Blick gezielt auf die Produktivität der Norm innerhalb der von ihr „verworfenen“ (J. Butler 2004) Individuen gerichtet wird, kann der Frage nachgegangen werden, ob es überhaupt und, falls ja, welche Widerstandspotenziale und Gestaltungsmöglichkeiten es für Lebensentwürfe jenseits dieser Norm geben kann. Wie kann ein Leben gestaltet und gedeutet werden, das in der umgebenden Gesellschaft so nicht vorgesehen ist? Mit welchen Strategien kann und wird um Glück und Anerkennung gerungen und welches sind schließlich die Gewinne und die Verluste der entwickelten Strategien? Die empirische Grundlage der vorliegenden Analyse bildet ein narratives biografisches Interview, welches ich im Frühjahr 2004 in der Slowakei1 mit einer lesbischen Frau aus der Slowakei geführt habe. Die Mitarbeit am internationalen Biografieforschungsprojekt Women’s Memory (www.womensmemory.net) und ein bereits etabliertes Forschungsinteresse an lesbischen Identitätsentwicklungen2 1
2
Dieses Interview ist eines von insgesamt sechs Interviews, die ich mit slowakischen lesbischen Frauen im Frühjahr 2004 geführt habe. Die in slowakischer Sprache geführten Interviews wurden auf Tonband aufgenommen, transkribiert und anschließend von mir ins Deutsche übersetzt. Magistraarbeit zu politischen Identitäten von Lesbengruppen der DDR der 80er Jahre am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin 2003.
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führten dazu, dass ich mich während eines DAAD-geförderten Forschungsaufenthalts in der Slowakei (Herbst 2003 bis Frühjahr 2004) wieder lesbischen Frauen in einem ehemals sozialistischen Land zuwandte. Charakteristisch für die biografische Erhebungsmethode3 sind die offene Eingangsfrage sowie die Zweiteilung des Interviews. Dabei wird den Biografinnen im ersten Teil des Interviews Raum gegeben, ihre Lebensgeschichte unbeeinflusst von Fragen oder Kommentaren zu erzählen. Von Ulrike Hänsch (U. Hänsch 2003: 128), die in ihrer biografischen Studie zu lesbischen Frauen in der BRD ebenfalls mit dem biografischen Interview gearbeitet hat, übernahm ich die Anforderung, eine „Haltung bedingungsfreien Akzeptierens der Befragten auf Seiten der Interviewerin“ einzunehmen, sodass sich die Biografinnen ermutigt fühlen konnten, auch über schwierige oder problematische Lebensphasen zu sprechen. Die Interpretation der Daten richtete sich einerseits im Sinne einer ‚Grounded Theory’ (B. Glaser/ A. Strauss 2005) auf die in den Lebenserzählungen zutage tretenden Themen und versucht andererseits eine biografische Fallrekonstruktion nach Rosenthal/ Fischer (G. Rosenthal 2000), bei der in mehreren Schritten mit dem Material gearbeitet wird.
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Agátas Erzählung
Im Folgenden geht es also um die Lebensgeschichte von Agáta4, die mir in der Kontaktphase eröffnete, dass sie ihre Geschichte zum ersten Mal jemandem erzählte. Die biografischen Eckdaten ihrer Geschichte sind folgende: Agáta wird 1947 geboren, der Vater ist berufstätig, die Mutter Hausfrau. Sie hat eine Schwester, ein Bruder wird elf Jahre nach ihr geboren. Nach der Grundschule besucht sie Ende der 50er Jahre die technische Gewerbeschule, ein Studium tritt sie aus nicht ganz geklärten Gründen nicht an. Nach der Schule beginnt sie 1964 in einem großen Medienbetrieb zu arbeiten und bleibt dort, bis sie 1999 ihre Arbeit verliert. Sie wird Schichtleiterin, lehnt jedoch den Aufstieg als Abteilungsleiterin ab, da sie nicht in die kommunistische Partei eintreten will. In der Jugend hat sie zwei Verehrer, die sich jedoch nach einiger Zeit anderen Frauen zuwenden. Bereits mit 14-15 Jahren ist ihr bewusst, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Mit 35 lernt sie eine Frau kennen, mit der sie eine langjährige, teils sehr komplizierte Liebesbeziehung eingeht. Einige Jahre gibt es, gegen Agátas Willen, eine dritte Frau in der Beziehung, die am Ende auch mit Agátas Geliebter zusammen 3 4
Methode angelehnt an G. Rosenthal 1995 und F. Schütze 1983. Der Name sowie alle anderen Namen und Ortsnamen sind anonymisiert.
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bleibt, während Agáta sich zurückzieht. Zum Zeitpunkt des Interviews ist diese Beziehung mehr oder weniger abgeschlossen, eine kurze Affäre mit einer Arbeitskollegin folgte. Agáta sucht und findet den Weg in die Lesbenorganisation der Slowakei, und erscheint kurz vor dem Zeitpunkt des Interviews zwei- oder dreimal auf Veranstaltungen dieser Organisation. Was sich bereits im ersten Kontaktgespräch mit der Biografin als Thema andeutete, wurde bei der Auswertung des Interviews noch deutlicher: Ein Teil ihres Lebens wurde von Agáta bisher geheim gehalten und dieser Teil betrifft ihre lesbische Identität. So erscheint die bisher verheimlichte lesbische Lebensgeschichte als abgespaltener Teil in Agátas Leben.
1.1 Geteiltes Leben Auf der einen Seite erzählte Agáta von einem geglückten Leben in der Gemeinschaft, in dem sie sich viel beruflich und im Freundeskreis engagiert. Das Glück speist sich aus dem Verwoben-Sein im FreundInnenkreis, dem Zusammenhalt in der Familie und Unterstützung und Verbundenheit im sozialen Umfeld. Dieser Teil des schönen verbundenen Lebens bildet den Anfang der Erzählung. Dem folgte gewissermaßen eine zweite Geschichte, in der Agáta von einem anderen Leben erzählt, von einem zutiefst traurigen Leben, einem Leben voll Einsamkeit und komplizierter, letztlich unerwiderter Liebe. Dabei fällt bereits durch die Abfolge in der Erzählung deutlich der Schnitt auf, der das gelungene, schöne Leben vom traurigen, unerfüllten Leben trennt. Diese Aufspaltung wird bei Gabriele Rosenthal (G. Rosenthal 1995: 149ff.) als Abspaltung thematischer Felder bezeichnet. In Agátas Geschichte kann die Abspaltung des thematischen Feldes ‚mein unglückliches Leben als lesbische Frau’ vom thematischen Feld ‚mein gelungenes Leben in der Gemeinschaft’ identifiziert werden. Interessant an diesen beiden Feldern scheinen die Fragen danach, warum es diese Abspaltung gibt und wieviel sie mit der Selbstdeutung und dem Gestaltungspotenzial in Agátas Leben und in der slowakischen Gesellschaft zu tun hat. Anhand von einigen Beispielen aus den beiden thematischen Feldern soll diesen Fragen nachgegangen werden.
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1.2 Leben in der Gemeinschaft Das erste Feld, das Agáta thematisiert, ist das des gelungenen, schönen Lebens in Familie und Gemeinschaft. Gleich in den ersten Sätzen erzählt sie von ihrer Familie, der schönen Kindheit und dem sehr guten Kollektiv in der Schule.5 Volám sa Agáta, narodila som sa (…) 1947. Moji rodiia boli … mama nepracovala, otec pracoval (…) takže sme vychované v takej dobrej rodine, kde si celá rodina rozumieme. … Po základnej škole som išla na elektrotechnickú priemyslovku, kde som chodila do triedy, kde bolo 37 chlapcov a 3 dievatá. Mali sme tam vemi dobrý kolektív, vemi dobre sme si rozumeli a ešte teraz ... prvých 5 rokov sme sa v škole stretávali každý rok a po tých piatich rokoch sa pravidelne stretávame každých pä rokov (…) Okrem toho sa ešte stretávame aj tak, že ked’ príde spolužiak z Ameriky, ideme na pivo … (so smiechom) (…) takže my sme taká vemi dobrá partia boli. V škole nás mali strašne radi. My sme boli takí vekí … hmm, takí zbojníci. Ale zasa ked’ sa bolo treba ui, alebo nieo pomáha, tak to sme spravili. (Ich heiße Agáta, bin am (…) 1947 geboren. (…) ... meine Mutter arbeitete nicht, der Vater arbeitete…, sind wir aufgewachsen in so einer guten Familie, wo sich die ganze Familie wir uns verstehen. (…)… Nach der Grundschule ging ich zur technischen Gewerbeschule, wo ich in eine Klasse ging, in der waren 37 Jungs und 3 Mädchen. Wir hatten dort ein sehr gutes Kollektiv, wir haben uns sehr gut verstanden und noch jetzt… die ersten 5 Jahre trafen wir uns in der Schule jährlich und nach diesen 5 Jahren treffen wir uns regelmäßig alle 5 Jahre. (…) Außerdem treffen wir uns auch so, dass wenn ein Mitschüler aus Amerika kommt, gehen wir auf ein Bier... (lacht) (…) Also wir waren so eine tolle Truppe. In der Schule mochten wir uns furchtbar gern. Wir waren die großen ... hmm. Eine Räuberbande. Und wenn dann aber gelernt werden musste, oder geholfen werden musste, das haben wir dann getan.)
An dieser Sequenz lässt sich erkennen, dass Agáta sich dem Kollektiv in der Schule fest verbunden und darin geborgen fühlt. Die Verwobenheit in einer als stärkend empfundenen Gemeinschaft setzt sich fort, als sie ihr Arbeitsleben im Medienbetrieb beginnt. Diese Kollektive oder Gemeinschaften werden von ihr nicht als bloße Zweckgemeinschaften be5
Die hier zitierten Ausschnitte aus dem Interview werden in der transkribierten Form wiedergegeben, die auch nach der Übersetzung des Materials aufrechterhalten wurde. Das bedeutet, dass die mündliche Sprechweise in der schriftlichen Form erhalten blieb, dass alle zustimmenden Äußerungen (meistens „hmm“), wo vorhanden, mit zitiert werden, und dass alle nonverbalen Äußerungen dokumentiert sind (in Klammern). Auslassungen aus dem Textteil, den ich zitiere, habe ich, wie bei Literaturzitaten auch üblich, durch Klammern und drei Punkte gekennzeichnet. Ansonsten bedeuten drei Punkte (ohne Klammern) zwischen Wörtern, dass beim Sprechen eine kurze Pause gemacht wurde.
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schrieben, sondern als Gemeinschaften für die Freizeit, die bis in die Gegenwart des Interviews hinein bestehen: Tak som išla pracova do T., … kde som mala to šastie tiež, tam sme z triedy išli, 17 sme z triedy išli vtedy do tej T. robi, no a mala som tam to to šastie, že teda som tam tiež natrafila na vemi dobrý kolektív. (…) No a vytvorila sa tam taká dobrá ako aj pracovná partia, ako aj partia pre zábavu. (Also ging ich zu T arbeiten ... wo ich auch wieder so ein Glück hatte, dort gingen wir aus der Klasse 17 Leute gingen wir dorthin arbeiten6 zu diesem T, na und ich hatte so ein Glück, dass ich da wieder auf ein sehr gutes Kollektiv stieß. (…) Ja also, es bildete sich da so eine tolle sowohl Arbeits- als auch Freizeittruppe.)
Agáta beschreibt das Kollektiv als Truppe, der man sich sowohl während als auch nach der Arbeit verbunden fühlte. Diese Verbundenheit besteht in ihrer Erzählung sogar bis zum Zeitpunkt des Interviews, zu dem ein Großteil der Gruppe bereits die Arbeit verloren hat. Jedoch erzählt Agáta begeistert davon, dass man sich immer noch zu gemeinsamen Ausflügen oder Kneipenabenden trifft. Der ganze Abschnitt ihrer Eingangserzählung, der sich mit dem Thema‚Verwobenheit im Kollektiv’ beschäftigt, erhält als Abschluss die Aussage: „Also das ist hier schön und gut.“ Nach dieser engagierten Erzählung kommt Agáta auf ihre Kindheit zurück. Es ist ihr sehr wichtig zu betonen, dass ihre Kindheit schön war. Der ganze, ungekürzte Abschnitt dazu aus ihrer Eingangserzählung kann dies verdeutlichen: A: … ako ja som rástla, ked’ som bola v detstve …, v detstve som mala také krásne detstvo. Môj starý otec bol horár, v lese robil. My sme bývali, babka bývala v lese, v horárni. Takže celé to detstvo ja som trávila tam a možno odvtedy tú prírodu mám strašne rada. Ja rada idem do tej prírody aj mám rada prírodu vemi. B: Hmm … A: To bolo strašne krásne detstvo. Potom tu v C., tu sme bývali … rodiia bývajú pod S., tam je tiež strašne krásna oblas. Sú tam tiež krásne záhrady, takže moje detstvo bolo vemi pekné. (A: … wie ich aufgewachsen bin, als ich Kind war ..., in der Kindheit hatte ich so eine schöne Kindheit. Mein Großvater war Förster, er arbeitete im Wald. Wir wohnten, die Großmutter wohnte im Wald, im Forst. Also die ganze Kindheit verbrachte ich da und von da an habe ich diese Natur furchtbar gern. Ich gehe gern in die Natur und liebe die Natur sehr. 6
Die Biografin hat – auch im Original – nicht immer grammatisch korrekt gesprochen, was in der Übersetzung möglichst erhalten bleiben sollte.
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Andrea Bettels B: Hmm … A: Das war eine furchtbar schöne Kindheit. Danach dann hier in C, hier wohnten wir ... die Eltern wohnen unterm S., dort ist auch so eine schöne Umgebung. Es gibt da diese wunderschönen Gärten, also meine Kindheit war sehr schön.)
Nachdem sie also ein letztes Mal ihre „furchtbar schöne Kindheit“ beschwört, kommt der Schnitt und damit der Übergang zum anderen Thema ihrer Geschichte: ihr Erkennen, dass sie anders ist.
1.3 Lesbisches Begehren A: ... takže moje detstvo bolo vemi pekné. Tým, ako som rástla, tak prišla puberta a lovek dospieval. No a vlastne tým dospievaním som vedela, že nieo sa už so mnou deje. Už v staršom veku, v staršom veku … ‘pubertálne’ staršom veku B: hmm A: som vlastne zisovala … že … so mnou … nieo … nie je nieo v poriadku B: hmm A: … no, lebo … to ja som nevedela, o je a bála som sa niekoho opýta na to, lebo som o tom nikdy nepoula, ani v rodine, ani medzi známymi. Teda medzi kamarátami sa o tom vtedy ešte ni nerozprávalo, ani vlastne o tej orientácii loveka. (A: … also meine Kindheit war sehr schön. Wie ich also heranwuchs, kam die Pubertät und man wird erwachsen. Na und genau mit diesem Erwachsen-Werden wusste ich, dass sich irgendwas mit mir tut. Schon im älteren Alter, im pubertär älteren Alter B: hmm A: merkte ich irgendwie…. dass .... mit mir ... irgendwas ... nicht in Ordnung war B: hmm A: ... na, weil… das wusste ich nicht, was, und ich fürchtete mich, jemanden danach zu fragen, weil ich hatte darüber nirgends etwas gehört, nicht in der Familie, nicht unter Bekannten. Auch zwischen Freunden wurde noch nicht darüber gesprochen, überhaupt nicht über die Orientierung von jemandem.)
Jetzt beginnt Agáta den Teil ihres Lebens zu erzählen, den sie noch nie jemandem anvertraut hat. Ganz deutlich wird die Zweiteilung ihres Lebens hier auch in ihrer Erzählchronologie: Mit dem schönen Leben im Kollektiv, der tollen Herkunftsfamilie und der furchtbar schönen Kindheit ist jetzt Schluss, jetzt beginnt das traurige, schwierige und wie sich hier bereits andeutet, das „sprachlose Leben“ als lesbische Frau. Denn diese Sprachlosigkeit dauert an bis zum Tag des Interviews. Mit ca. 15 Jahren verliebt sie sich in eine Mitschülerin und ihr wird klar, dass sie sich hierin irgendwie von ihren Mitschülerinnen unterscheidet:
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A: Poznala som tam z domu … také jedno dieva a to sa mi tak nejak ... že zaalo pái, tak som zaala pozera, že kedy tí idú do školy … sme išli spolu. B: hmm A: ... som ju ... akávala zo školy… A to už sa mi vtedy zdalo také nejaké iné, lebo zase, o som mala spolužiaky, tie zase išli za chlapcami kukali, že kedy tí idú zo školy a tak … (rozpráva so smiechom). (A: Ich lernte dann dort von zu Hause... dieses eine Mädel kennen und das fing irgendwie an ... fing an mir zu gefallen, also begann ich zu beobachten, dass wenn sie zur Schule geht ... dass wir zusammen gehen B: hmm A: …und ich wartete auf sie vor der Schule… Und das kam mir damals schon irgendwie anders vor, weil wiederum, hatte ich ja auch Mitschülerinnen, die wieder gingen nach den Jungs gucken, wann die aus der Schule kommen und so ... (lacht beim Erzählen).)
Für dieses Anders-Sein hatte Agáta sehr lange überhaupt keine Strategie, sie sah keine Möglichkeit, darüber zu sprechen oder mit diesem Begehren aktiv nach außen zu gehen. Ihre erste Liebe, die Frau mit der sie eine lange und leidvolle komplizierte Beziehung beginnt, lernt sie erst mit 35 Jahren kennen. In der Zeit zwischen der Pubertät und ihrem 35. Lebensjahr konzentrierte sie sich auf das Leben in der Gemeinschaft. So verbrachte sie ihre Zeit mit bzw. in ihren Kollektiven. Da waren zum einen das Arbeitskollektiv, zum anderen auch der Tourismusverein und ihre Herkunftsfamilie. Sie hatte darüber hinaus eine sehr enge beste Freundin, mit der sie regelmäßig in den Urlaub fuhr und mit deren Familie sie auch Feiertage verbrachte, zum Beispiel das Weihnachtsfest. Da sie jedoch in der Eingangserzählung das gelungene Leben im Kollektiv vom lesbischen Leben abtrennt,7 kann sie diese Geschichten nur nacheinander und deutlich voneinander abgegrenzt erzählen. In diesem Teil ihrer Erzählung wird ihr Bedauern darüber deutlich, nicht wie die anderen zu sein, und gleichzeitig wird aber auch die ungeheuere Anstrengung ersichtlich, die sie unternahm, um in der Gemeinschaft der ‚Normalen’ nicht aufzufallen und mit ihrem Kummer allein klarzukommen. Selbst zum Zeitpunkt des Interviews kann sie sich nicht ernsthaft eingestehen, wie schmerzlich das alles für sie war:
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Die Eingangserzählung ist der erste Teil des Interviews, in dem die Biografin solange und soviel erzählen kann, wie ihr einfällt, ohne dass von Seiten der Interviewerin Zwischenfragen gestellt werden. Im zweiten Teil des Interviews können Nachfragen gestellt werden, deren Beantwortungen auch in die Analyse einfließen (können).
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Andrea Bettels … ani v robote som nikoho nepoznala takého, kto by bol takto orientovaný ako ja. Takže vlastne aj ked’ sa mi tam niekto páil, alebo som sa zamilovala, tak vždy to bola len taká … hm platonická láska. Vždy … išla som domov, musela som zavriet’ dvere a to bol … koniec! Že som vlastne musela sa vyplaka do perín (smiech). (… auch auf der Arbeit kannte ich niemanden so jemanden, der so eine Orientierung hätte, wie ich. Also, eigentlich auch wenn mir dort jemand gefiel, oder ich mich verliebte, dann war es immer diese... hm platonische Liebe. Immer ... ging ich nach Hause, musste die Tür hinter mir schließen und das war’s ... Ende! Ich musste eigentlich in die Kissen heulen (lacht).)
Die doch sehr traurige Sequenz ihrer Erzählung wird von ihr mit einem Lachen abgeschlossen, welches so gar nicht angemessen gegenüber der Tragik des Erzählten scheint. An dieser Stelle ihrer Lebenserzählung zieht die Biografin ein vorläufiges Resümee, das zugleich die folgende Abspaltung des einen von dem anderen thematischen Feld markiert. Sie sagt: No a ako, ten život pomaly plynul alej, tie roky išli, tak ja som zistila vlastne tú moju orientáciu …, no a zaala som … Tým, že som mala taký vemi dobrý kolektív v tej robote, tak to bol vlastne môj život … (Na und was, dieses Leben lief langsam weiter, die Jahre gingen, und so kam ich eigentlich zu meiner Orientierung ... und ich begann … Damit, dass ich dieses sehr gute Kollektiv auf der Arbeit hatte, das war dann eigentlich mein Leben…)
Bis zu ihrem 35. Lebensjahr gibt es in ihrer Selbstdeutung nur dieses eine Leben, für den anderen Teil, das Erkennen des Anders-Seins, das Hingezogensein zu Frauen, gibt es keine Sprache und, wie sich hier zeigt, auch keinen Platz in ihrem Leben. Das Eingebundensein im Kollektiv war ihr Leben, wie selbst sagt.
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Norm, Wirkungsweise, Anpassung und Preis
2.1 Die Norm zur Heterosexualität – Agáta folgt mit ihrer Selbstdeutung und ihrer Abspaltung eines Teils ihrer Lebensgeschichte einer wirkkräftigen, jedoch nicht sehr offensichtlichen Norm, der Norm zur Heterosexualität. Sie funktioniert als Wahrnehmungs-, Handlungsund Denkschema und wirkt sowohl auf institutioneller Ebene als auch bis ins individuelle Leben hinein.
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In Agátas Lebenserzählung ist die Norm bereits an der Stelle produktiv, wo sich Agáta klar darüber wird, dass sie „irgendwie anders“ ist bzw. dass irgendwas mit ihr „nicht in Ordnung“ ist. Die Einteilung – die anderen sind in Ordnung, ich selbst bin es wohl nicht – ist grundlegender Bestandteil dieser Norm. Dabei wird heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit als ‚natürliche’ Existenzweise menschlichen Lebens konstruiert und abweichende Existenzformen verwerflich gemacht. Die heterosexuelle Norm erfordert eine Erkennbarkeit8 von Subjekten, bei der die geschlechtliche Identität mit dem sexuellen Begehren kohärent ist; eine (richtige) Frau zu sein, erfordert ein gegengeschlechtliches Begehren. Die daraus folgende „Unentrinnbarkeit von Heterosexualität“ (T. de Lauretis 1996: 140) führt dazu, dass homosexuelle Identitäten auf diese symbolische Ordnung Bezug nehmen müssen. Ulrike Hänsch hat im Zusammenhang von Biografie und heterosexueller Ordnung festgestellt: [G]enerell [ist] von einem biografischen Fluchtpunkt Heterosexualität auszugehen (…), und dass auch homosexuelle Handlungen oder Identitäten auf diese symbolische Ordnung der Heterosexualität zwangsläufig Bezug nehmen. (U. Hänsch 2003: 116)
Agátas individuelle Strategie ist es, zu versuchen, möglichst nicht mit der Norm in Konfrontation zu geraten. Das heißt konkret, sie versucht eine Selbstverortung und Sinngebung ihres Lebens im von der Norm erlaubten Bereich. Erlaubt im Sinne der heterosexuellen Ordnung und vor dem konkreten historisch-politischen Hintergrund in der Slowakei der 70er bis 80er Jahre ist für Agáta Folgendes: Ein Leben und Sich-Verorten innerhalb bzw. in der (Herkunfts-)Familie; in Agátas Lebenserzählung stehen dafür ihr gutes Verhältnis zu den Eltern und ihre Erfüllung der Rolle als gute ältere Schwester für den jüngeren Bruder. Ein Leben und Sich-Verorten im Kollektiv auch ohne Partner ist erlaubt; genauso ist es erlaubt, Verehrer zu haben. Bis zu einem gewissen Punkt ist es ihr auch erlaubt, keine Zeit für Verabredungen mit dem anderen Geschlecht zu haben, weil sie ein so ausgiebiges gesellschaftliches Leben führt. Allein zu leben ist allerdings erklärungsbedürftig, z.B. damit, viel Zeit für andere herzugeben, Agáta kümmert sich beispielsweise oft um die Kinder ihres Bruders. Mit dieser Strategie befindet sich Agáta in Übereinstimmung mit dem in der damals sozialistischen Tschechoslowakei propagierten Frauenbild. Die Handlungsoptionen für lesbische Frauen in der sozialistischen slowakischen Gesell8
J. Butler (1991: 38) entwirft dazu die Kategorie „Intelligiblität“: „,Intelligible’ Geschlechtsidentitäten sind solche, die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrechterhalten.“
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schaft sind durch das Frauenbild der berufstätigen Frau und Mutter geprägt. Im Sozialismus war es Frauen auf breiter Ebene möglich, ökonomisch unabhängig von Männern zu leben und die Ehe war kein ökonomisches Muss für Frauen (E. Farkašová/ M. Szapuová/ Z. Kiczková 2003: 115-116). Agáta hält sich also an das, was von der Norm erlaubt ist und versucht das, was von der Norm nicht erlaubt ist, zunächst einmal zu verbergen.
2.2 – ihre unsichtbare Wirkungsweise … Die Verbote im Rahmen der heterosexuellen Norm sind weniger offensichtlich,9 allerdings sind Verstöße dagegen von erheblichen Sanktionen begleitet.10 Nicht erlaubt ist es, das andere Geschlecht nicht zu begehren; nicht erlaubt ist es, das eigene Geschlecht zu begehren. Und noch viel weniger erlaubt ist es, über das Begehren zum eigenen Geschlecht zu sprechen. Kommt diese Liebe von Anfang an nicht in Frage, dann kann sie sich gar nicht ereignen, und wenn sie sich doch ereignet, dann hat sie sich doch gewiss nicht ereignet. Ereignet sich diese Liebe, so nur unter dem offiziellen Zeichen ihres Verbots und ihrer Verleugnung. (J. Butler 2004: 131)
Agáta beugt sich den Implikationen der Unmöglichkeit dieses Begehrens. Da sie es aber nicht verhindern kann („und wenn sie sich doch ereignet“), schweigt sie darüber („dann hat sie sich doch gewiss nicht ereignet“). So lässt sie ihre Eltern in dem Glauben, sie habe einen festen Freund, und als der sich mit einer anderen zusammentut, lässt sie sie im Glauben, sie trauere ihm nach, und später vermittelt sie, dass sie keine Zeit habe, sich zu verabreden. Dass sie sich gar nicht zu Männern hingezogen fühlt, verbirgt sie. Noch wichtiger ist es, zu verbergen, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Nicht nur dass sie mit niemanden darüber redet, auch die Trauer um das nicht erfüllte Begehren teilt sie mit niemandem, sondern ‚heult es in die Kissen’. So trägt ihre Strategie zur Unmöglichkeit/Unsichtbarkeit und Sprachlosigkeit dieser Liebe bei.
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Durch Naturalisierung von Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit ist die Norm Bestandteil des Alltagswissens geworden und muss den Beteiligten keinesfalls bewusst sein. So wird Heteronormativität „bis zur Unsichtbarkeit verselbstständlicht.“ (N. Degele 2004: 36f.) In der Slowakei gibt es bereits erste Studien zur Diskriminierung sexueller Minderheiten, z.B. M. Šípošová/ P. Jójárt/ A. Dauíková et al. 2002.
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2.3 … ein Anpassungsversuch und sein Preis Agátas Strategie der Anpassung an die Norm erfordert dieses Schweigen, das bis zum Zeitpunkt des Interviews reicht. Auf diese Weise hofft sie, Sinn, Anerkennung, Halt und Unterstützung in der ‚normalen’ Gemeinschaft zu bekommen. Es ist ihr Weg, ein wenig Glück abzubekommen in einer Gesellschaft, die für abweichende Lebensentwürfe den Rand, die unlebbaren Zonen vorgesehen hat. Das Gelingen ihres Lebens in der Gemeinschaft kann in ihrer Deutungsstrategie nur um den Preis, dieses andere Leben abzuspalten, zu verheimlichen, funktionieren. Denn sie muss befürchten, von der Gemeinschaft, oder zumindest von Teilen dieser Gemeinschaft, ausgestoßen zu werden. Und viele Beispiele von homosexuellen Menschen in osteuropäischen, aber auch in westeuropäischen Ländern belegen das. Judith Butler beschreibt in ihrem Aufsatz Melancholisches Geschlecht/ Verweigerte Identifizierung (J. Butler 1995) das Paradox homosexueller Lebensentwürfe, die in der heterosexuellen Kultur zwar faktisch möglich sind, jedoch als das Unmögliche und Unlebbare markiert sind. Diese Unmöglichkeit homosexueller Liebe beschreibt sie als Verbot der Homosexualität. Dabei reicht das Verbot weit über die juristische Ebene hinaus, es betrifft jede nur denkbare Ebene: die Möglichkeit, daran zu denken, darüber zu sprechen oder zu trauern, die pure Möglichkeit, dass diese Liebe geschehen kann. Agáta folgt dieser Logik, indem sie diese verbotene Liebe sogar innerhalb der eigenen Lebenserzählung von ihrem der Norm entsprechenden Leben abspaltet. Sie hat die Norm verinnerlicht, und damit ihr lesbisches Begehren vor sich selbst ausgesperrt. Eine gelungene, mithin erwiderte glückliche lesbische Liebe ist für sie vielleicht gar nicht möglich. Denn wo sie sich auf der einen, der ‚normalen’ Seite ihrer Geschichte als aktives Mitglied einer harmonischen Gemeinschaft entwirft, da sieht sie sich auf der anderen, verschwiegenen lesbischen Seite als seltsam handlungsunfähig und beinahe ausgeliefert: Sie kann dem gewaltsamen Eindringen der dritten Frau in ihre Beziehung nichts entgegensetzen, sie kann scheinbar nicht um die Liebe und den Erhalt der Beziehung zu ihrer Geliebten kämpfen, sie kann sich aber auch nicht trennen, und sie kann bis zum Zeitpunkt des Interviews nicht einmal aufhören, an sie zu denken. Sie scheint für diese Liebe keine Handlungsmöglichkeiten zu haben. Währenddessen hat sie darüber hinaus keinerlei Zugang zu einer Community, zu anderen lesbischen Frauen, mit denen sie sich austauschen könnte. So hat sie keine Verbündeten und durch die Abspaltung keine Möglichkeit, sich der Ressourcen aus dem (scheinbar) gelingenden Teil ihres Lebens zu bedienen; sich beispielsweise ihrer Familie, ihren KollegInnen oder Freundinnen mitzuteilen. So wird diese Liebe zum ‚schmutzigen’ Geheimnis, ohne Aussicht auf Erfüllung. Agáta, die diesen Teil
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ihres Lebens vom anderen Teil abgespalten hat, erfüllt damit das Verbot und erhält es selbst aufrecht. Damit wird diese Liebe für sie tatsächlich unmöglich und unlebbar. Werfen wir nun noch einen näheren Blick auf die harmonische Gemeinschaft, für deren Zugehörigkeit sie einen so hohen Preis zahlen muss. Diese ‚heile Welt’, in der sie eine geachtete Kollegin, Kameradin, Schwester, Tochter und Freundin ist, muss beschützt werden. All diese KollegInnen, Freundinnen, ihre ‚tolle’ Familie wissen nichts von ihrem anderen Leben. Sie wissen nichts von ihrem Schmerz, ihren Sorgen, ihrem kleinen Glück – und bis zum Zeitpunkt des Interviews dürfen sie nichts davon wissen: Es besteht die Gefahr, dass Agatha ihren Platz in dieser Gemeinschaft verliert, wenn sie sich offenbart. Ihre Verbundenheit mit dieser Gemeinschaft besteht auf Grund eines unausgesprochenen Abkommens: Sie darf Teil der Gemeinschaft sein, aber das Andere, das Abweichende muss draußen bleiben.
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Die Verbindung der beiden Leben – eine Chance für Agáta?
Wenn die Kluft zwischen den beiden Leben der Agáta auch in ihrer Selbstdeutungsstrategie bisher unüberwindbar scheint, so gibt es doch winzige Momente in ihrer Lebenserzählung, in denen ihr Versuch deutlich wird, ihren Handlungsrahmen zu erweitern. Ein Moment ist ihre Erzählung davon, wie sie Kontakt zu einer Lesbenaktivistin der Slowakei aufnimmt. Hier erfährt sie von den Treffen der Lesbenorganisation und geht von da an gelegentlich zu den Treffen. Dies ist eine Strategie, die ihr bisher in ihrem Leben nicht zur Verfügung stand: das Suchen des Kontakts zu Gleichgesinnten und dessen Pflege. Gewinnen kann sie in dieser Richtung: ein soziales Umfeld von Gleichgesinnten; Anerkennung, Zuneigung, Loyalität; die Möglichkeit, eine positive Identität in der Gruppe zu finden, Unterstützung und Austausch. Denn [e]in spezifisches soziales Netzwerk lesbischer Frauen ist für die Einzelnen deshalb so wichtig, weil Modelle für lesbisches Leben innerhalb heterosexueller Lebensbezüge kaum entwickelt werden können. Spiegelung, Anregung, Vorbilder, ja überhaupt eine soziale Rahmung für lesbische Identität und Sexualität fehlen. (U. Hänsch 2003: 76-77)
So könnte Agáta mit dem Bezug zur lesbischen Gemeinschaft Kraft für den abgespaltenen Teil ihres Lebens finden und ihr Schweigen in Sprache und Handlung verwandeln. Genauso wichtig scheint mir jedoch auch der Versuch Agátas, ihr Schweigen gegenüber ihrem heterosexuellen Umfeld zu brechen. So erzählt sie mir am Ende ihrer Eingangserzählung davon, wie sie, nicht zuletzt angeregt
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durch die Begegnung und die Gespräche mit mir, überlegt, sich ihrer besten Freundin zu offenbaren. Obwohl die Vorstellung für sie sehr angstbesetzt ist, lässt sie der Gedanke scheinbar nicht mehr los. Was kann Agáta durch diese Offenbarung gewinnen? Im Fall, dass ihre Freundin ihr weiterhin verbunden bliebe, wäre diese Offenbarung für Agáta eine Möglichkeit, die beiden Leben miteinander zu verbinden. Sie könnte herausfinden, ob diese, von ihr als so wertvoll empfundene Freundinnenschaft ohne Vorbehalt gilt. Die Bestätigung in und durch die lesbische Gemeinschaft sowie die Stärkung ihrer bisherigen sozialen Netzwerke durch mehr Offenheit11 können für sie dazu führen, diesen Teil ihres Lebens/ ihrer Identität für sich selbst mehr zu akzeptieren und Handlungsoptionen für ein glückliches Leben zu gewinnen.
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Fazit
Die heterosexuelle Norm in der slowakischen Gesellschaft ist bis zur Jahrtausendwende wirkmächtig. Der Umbruch zur Demokratie brachte bezogen auf schwullesbische Öffentlichkeiten immerhin eine Öffnung – und damit neue Möglichkeiten zur kollektiven Identitätsbildung.12 In der hier vorgestellten Lebensgeschichte der Agáta wird deutlich, dass die Strategie der Anpassung eine Abspaltung des lesbischen Lebensentwurfs fordert. Dies hat Auswirkungen bis in die Selbstdeutung der Biografin – indem ihre Lebensgeschichte nur in Form abgespaltener thematischer Felder erzählbar wird. Im Ausblick auf die vorsichtig formulierte Chance, die beiden Teile ihres Lebens zu verbinden, wird jedoch auch deutlich: Nur in der Aufgabe der Verleugnung und Verheimlichung besteht die Aussicht auf Glück und Anerkennung für die Biografin.
Literatur Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2001): Melancholisches Geschlecht/ Verweigerte Identifizierung. In: Butler (2001): 125-141. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
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Dabei setzt sich die Biografin allerdings tatsächlich der Gefahr aus, aus dieser Gemeinschaft verstoßen zu werden. Die Entscheidung darüber, wem sie es wann erzählen kann, ist individuell vermutlich sehr schwierig zu treffen. Mehr dazu bei A. Dauíková/ E. Adámková 2004: 35-37.
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Andrea Bettels
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Störungssignale im sozrealistischen Normensystem. Der Fall Andrej Platonov Konstantin Kaminskij
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Auf der Anklagebank
Am 1. Februar 1932 fand in Moskau bei einer Versammlung des Organisationskomitees der VSSP - Vserossijskij Sojuz sovetskich Pisatelej [Allrussische Union der sowjetischen Schriftsteller] eine merkwürdige Gerichtssitzung statt. Unter den Richtern waren namhafte sowjetische Schriftsteller, Literaturfunktionäre und Kritiker versammelt. Auf der Anklagebank befand sich der Schriftsteller Andrej Platonov, der vor etwa einem Jahr im Mai 1931 mit der Veröffentlichung seiner Erzählung Vprok. Bednjackaja chronika [Zum Nutz und Frommen. Eine Armeleutechronik] einen handfesten Skandal im Literaturbetrieb provoziert hatte. Es gehörte nun nicht zu den Aufgaben dieses literarischen Gerichts die Schuld Platonovs festzustellen, denn diese war auf einer weitaus höheren Ebene – von Stalin persönlich – bereits festgestellt und beschlossen worden. Ein Jahr später, nachdem sich die heftigsten Wogen der Kritik und ideologischer Vorwürfe geglättet hatten, ging es diesem Gericht darum, ein vernünftiges Strafmaß festzusetzen und den frevlerischen Autor im Sinne der Partei und ihrer ideologischen Forderungen umzuerziehen, um somit den talentierten Schriftsteller für die sowjetische Literatur zu erhalten. Deshalb kamen im Laufe der Verhandlung brisante ideologische und methodologische Fragen zur Sprache. Einerseits ging es darum festzustellen, wie Platonovs Abweichung zu bewerten sei, als bewusste klassenfeindliche Diversion, was ihm seitens der offiziellen Kritik angelastet wurde, oder als unbewusste Subversion seines literarischen Stils. Andererseits stand damit die grundsätzliche Frage im Vordergrund, ob die ästhetische Schreibweise und literarische Methode eines Schriftstellers von seiner Weltanschauung getrennt betrachtet werden können. Als nicht minder merkwürdig erweist sich auch der Zeitpunkt der Verhandlung selbst. Die zwanziger Jahre waren in der Sowjetunion durch eine große Vielzahl verschiedener künstlerischer und literarischer Strömungen und kritischer Schulen gekennzeichnet, deren Dialog zu durchaus interessanten Diskussionsansätzen über die marxistische Weltanschauung und künstlerische Methoden führte. Innerhalb dieser Pluralität gewinnt die RAPP – Rossijskaja Associacija Proletarskich Pisatelej [Russische Assoziation der proletarischen Schriftsteller]
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bis zum Anfang der 30er Jahre zusehends an Macht und Einfluss, sowohl institutionell, als auch ideologisch. Die RAPP hat nicht nur einen starken Rückhalt in der Partei, sondern kontrolliert faktisch die bedeutendsten literarischen Zeitschriften sowie die redaktionellen Stellen der wichtigsten Zeitungen. RAPP schaltet nach und nach alle rivalisierenden literarischen Gruppierungen aus und erlangt damit ein Deutungsmonopol der marxistischen Methode in der Literatur. Gleichzeitig erhebt die RAPP Anspruch auf Unabhängigkeit von Partei und Regierung. Eine dermaßen starke Position rief bei Stalin immer mehr Unmut hervor, so dass die Veröffentlichung der Erzählung Platonovs in der von der RAPP kontrollierten Zeitschrift Krasnaja Nov‘ [Die rote Neuheit] 1931 zum ersten Stein des Anstoßes wurde. Im Folgenden instrumentalisiert Stalin diese Verfehlung zur Kritik an den RAPP-Funktionären. Im Beschluss des Zentralkomitees vom 23. April 1932 O perestrojke literaturno-chudožestvennych organizacij [Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen] werden RAPP und weitere noch bestehende Schriftstellerorganisationen aufgelöst. Gleichzeitig wird unter Einflussnahme Stalins im Mai 1932 der Terminus ‚Sozialistischer Realismus’ ins Leben gerufen, der nun als einheitliches ästhetisches Programm die Position der Partei in allen Fragen der Literatur und Kunst kennzeichnen sollte und mit der Gründung des Schriftstellerverbandes der UdSSR seine institutionelle Festigung erhielt. Es dauerte weitere zwei Jahre, bis das Normensystem des Sozialistischen Realismus auf dem Ersten Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller 1934 allmählich Gestalt annahm. Wie man sieht, fand die Verhandlung Platonovs im Vorfeld dieser Ereignisse statt und ist vor allen Dingen dadurch gekennzeichnet, dass sie in einem gewissen Normenvakuum stattfand. Denn im Februar 1932 hatte die RAPP ihr Monopol in den literaturpolitischen Normsetzungsprozessen bereits weitgehend eingebüßt, und die Linie der Partei war zu diesem Zeitpunkt noch nicht deutlich formuliert worden. Es wird nun im Rahmen dieses Beitrags die Frage zu klären sein, ob und inwieweit das Schaffen und der literarische Stil Platonovs an der Entwicklung des sozrealistischen Normenkanons beteiligt sind. Zu diesem Zweck soll der komplexe Fall rund um die Veröffentlichung der Erzählung Zum Nutz und Frommen, dessen Verlauf bis heute in der Forschung viele Fragen aufwirft, rekonstruiert werden. In einem größeren theoretischen und literaturgeschichtlichen Kontext betrachtet, soll dieser Modellfall demonstrieren, wie Abweichungen in einem ästhetisch-ideologischen Normensystem entstehen und welche Funktion sie innerhalb dieses restriktiven Normensystems einnehmen können.
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Der Schriftsteller Andrej Platonov
Die Zeitgenossen Andrej Platonovs taten sich immer schwer damit, ihn in dem breitgefächerten Literaturbetrieb der 20er Jahre einzuordnen. Diese Widerständigkeit gegen Kategorisierung ist ein besonderer Wesenszug dieses Autors, der ihm auch in der heutigen Forschung anhaftet. Obwohl Platonov nicht zu einer bestimmten literarischen Gruppe gehörte, lassen sich doch stets zahlreiche Parallelen sowohl zu modernistischen Strömungen wie Formalisten, Konstruktivisten und Proletkul’t nachweisen, als auch zu den traditionalistisch ausgerichteten Gruppierungen, wie z. B. Pereval [Gebirgspass] und der in den 20er Jahren von Leo Trockij geförderten Literatur der Poputiki [Die Weggefährten]. Die völlig eigenartige literarische Sprache Platonovs rief bei seinen Lesern Verwunderung, aber auch Verunsicherung hervor. Signifikant ist Maksim Gorkijs Rezension des Manuskripts von Platonovs erstem Roman evengur (1929), das im Vorfeld bereits von mehreren Verlagen abgelehnt wurde. Sie sind ein talentierter Mensch, das steht außer Zweifel. Unbestritten ist auch, dass Sie eine sehr originelle Sprache haben. […] Doch trotz der unbestreitbaren Vorzüge Ihrer Arbeit glaube ich nicht, dass sie gedruckt wird. Das verhindert ihre anarchische Denkhaltung, die offenbar der Natur Ihres „Geistes“ eigen ist. Ob nun gewollt, oder nicht, jedenfalls haben Sie der Darstellung der Wirklichkeit einen lyrisch-satirischen Charakter gegeben, und das ist natürlich unannehmbar für unsere Zensur. Trotz Ihres liebevollen Verhältnisses zu den Menschen sind sie bei Ihnen ironisch gefärbt, für den Leser nicht so sehr Revolutionäre als vielmehr „Sonderlinge“ und „Verrückte“. Ich will nicht behaupten, dass das bewusst gemacht ist, doch es wurde gemacht, das ist jedenfalls der Eindruck des Lesers, d.h. meiner. Möglich, dass ich mich irre. (M. Gorkij 1984: 348)
Obwohl Gorkij die Subjektivität seiner Äußerung unterstreicht, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei eigentlich um eine normative Einschätzung handelt, denn 1929 genießt Gorkij in der Regierung und bei Stalin persönlich nicht nur einen außerordentlichen Einfluss in allen Fragen des Literaturbetriebs, sondern es ist auch Gorkijs literarischer Stil, der 1934 zum Vorbild des Sozialistischen Realismus erhoben wird (vgl. E. Dobrenko 1999: 442). Doch ist Gorkijs latente Unsicherheit über die Absichtshaltung Platonovs kennzeichnend. Auch in der heutigen Platonovforschung bleibt stets die Frage offen, ob die sprachlichen Normabweichungen in Platonovs Prosa auf ein virtuoses stilistisches Sprachspiel und damit auf eine zielgerichtete Dekonstruktion der gewohnten narrativen und syntaktischen Kohärenz (A. Epelboin 2000: 361) zurückzuführen sind, oder ob es sich doch um eine ‚ungewollte’, diffuse Sprachnot (R. Hodel 2001: 1) handelt. Als äußerst fruchtbar stellt sich diesbezüglich der
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Ansatz von Thomas Seifrid dar, Platonovs Prosastil als einen dem Sozrealismus immanenten Metatext zu betrachten, wobei die ästhetischen Verfahren der Propagandasprache verarbeitet und hypertrophiert werden (T. Seifrid 1994: 154). Als nicht weniger problematisch erweist sich auch die Einschätzung der Weltanschauung Platonovs. Auch hierbei lassen sich zahlreiche Parallelen zu philosophischen, wissenschaftlichen und ideologischen Konzepten ziehen: Der Einfluss von Nietzsche, Steiner, Einstein, Bergson, Marx, Dostoevskij, Bogdanov, Fedorov, Ciolkovskij etc. auf das Schaffen Platonovs lässt sich problemlos und stichhaltig nachweisen (E. Tolstaja-Segal 1981: 241f.). Entsprechend wechselvoll verlief auch das schriftstellerische Schicksal Platonovs. Es waren Šklovskij und Gorkij, die in ihm 1927 einen Modellfall des jungen proletarischen Schriftstellers sahen, und es waren Averbach, Fadeev und Stalin, die ihn zwischen 1929 und 1931 zu einem Modellfall des konterrevolutionären Klassenfeindes stempelten. Schließlich war es Georg Lukács, der 1936 den Versuch unternahm, Platonov als sozrealistischen Schriftsteller zu rehabilitieren und die Normenkonformität seiner Erzählung Bessmertie [Unsterblichkeit] gegen die offizielle Kritik zu behaupten (H. Günther 1984: 119). Als besonders bemerkenswert sollte man festhalten, dass Platonov immer dann am heftigsten diskutiert wurde, wenn es darum ging literaturpolitische Kämpfe auszutragen und ein neues Normenparadigma zu initiieren. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll zu klären, wann Platonovs Probleme mit der sowjetischen Zensur begannen und wie dieser Prozess vonstatten ging. Seinen ersten großen Erfolg als Schriftsteller feierte Platonov 1927, als seine Erzählsammlung Epifanskie šljuzy [Die Epiphaner Schleusen] in Moskau herauskam und prompt von Gorkij auf die Liste der besten Neuerscheinungen 1927 gesetzt wurde, obwohl der Erzählband von der Kritik weitgehend unbemerkt blieb. Gleichzeitig versucht Platonov im selben Jahr seine erste größere Prosaerzählung firnyj trakt [Der Ätherstrom] zu veröffentlichen, die bei mehreren Verlagen abgewiesen wird, wobei die Umstände und die Gründe dafür bis heute nicht eindeutig geklärt sind. Zum Eklat kommt es im Herbst 1929. Zu dieser Zeit versucht Platonov noch immer vergebens seinen ersten Roman evengur zu veröffentlichen. Er erntet nur unsichere Absagen der Redakteure sowie Angebote den Roman umzuarbeiten, doch wie man am Beispiel der Rezension Gorkijs gesehen hat, kann auch niemand deutlich sagen, worin das eigentliche Problem besteht. Begründungen gehen nicht über vage Andeutungen wie ‚anarchische Denkhaltung’ und ‚lyrisch-satirischer Charakter’ hinaus.
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Der Herausgeber Aleksandr Fadeev
Unter diesen Umständen veröffentlicht Platonov in der von der RAPP kontrollierten Zeitschrift Oktjabr‘ [Oktober] die Erzählung Usomnivšisja Makar [Der zweifelnde Makar]. Gleich darauf erscheint in dem wichtigsten ideologischtheoretischen Druckorgan der RAPP Na literaturnom postu [Auf dem literarischen Posten] eine vernichtende Rezension des führenden RAPP-Kritikers Averbach.1 Averbachs Artikel, der beinahe so lang wie Platonovs Erzählung selbst ist, beginnt mit der aktuellen Frage: „Brauchen wir die Satire?“, die seit der Mitte der 20er Jahre die literaturtheoretischen Auseinandersetzungen in der Sowjetunion prägt. Damit wird Platonovs Erzählung und der Autor selbst in einen literaturpolitischen Kontext eingebunden, der seinen literarischen Stil als systemimmanente Abweichung kennzeichnet. Für unseren Kontext ist besonders interessant, wie die Abweichung konstruiert wird; was wird Platonov eigentlich vorgeworfen? Platonovs Erzählung ist die ideologische Widerspiegelung des sich zur Wehr setzenden kleinbürgerlichen Elements. Diese Erzählung ist von Doppeldeutigkeit geprägt, sie enthält Stellen, die so manche ‚edelmütige’ subjektive Wünsche und Hoffnungen des Autors vermuten lassen. Doch unsere Zeit duldet keine Zweideutigkeiten; darüberhinaus ist die Erzählung als ganzes uns gegenüber unzweideutig feindselig! (…) Schriftsteller, die ‚sowjetisch’ sein wollen, müssen klar verstehen, dass nihilistische Liederlichkeit und anarchisch-individualistische Fronde der proletarischen Revolution nicht weniger fremd sind als offene Konterrevolution mit faschistischen Losungen. Auch A. Platonov muss dies verstehen.2
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Kurz zuvor, im September 1929, ist Averbachs Schülerin Strel’nikova mit rückwirkender Kritik zum Erzählband Die Epiphaner Schleusen in der zentralen Presse aufgetreten. Die Angriffe auf Platonov fanden in diesem Fall als eine Randglosse der RAPP-Kampagne gegen Pil’njak und Zamjatin statt. Bemerkenswert jedoch ist, dass es zur ersten Antwort Platonovs auf die Vorwürfe in der Literaturnaja gazeta [Literaturzeitung] kommt, was deutlich macht, dass Platonov den Versuch unternahm, eine Verhaltens- und Kommunikationsstrategie gegenüber der RAPP-Kritik zu entwickeln.
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Diese unzweideutigen Zeilen, die zu den Stilblüten der RAPP-Kritik gehören, geben zunächst Aufschluss darüber, wie stilistische Abweichungen in der Literatur mittels argumentativer Überhöhung zur zielgerichteten konterrevolutionären Tätigkeit stilisiert werden. Solch ein Vorwurf ist nach dem ersten großen Schauprozess 1928 recht gravierend und drängt die Beschuldigten zur Stellungnahme. Dementsprechend ist Averbachs Artikel in Oktjabr‘ [Oktober] von einem selbstkritischen, reuevollen Schuldbekenntnis der Redaktionsmitglieder (A. Fadeev, A. Serafimovi, M. Šolochov) begleitet.3 Aus einem Brief Fadeevs erfährt man, dass Stalin selbst auf die ‚schädliche’ Erzählung aufmerksam geworden ist. („Vor kurzem habe ich Platonovs ideologisch zweideutige Erzählung Der zweifelnde Makar versäumt und kassierte dafür eine Rüge von Stalin – zu Recht, denn die Erzählung ist durch und durch anarchisch.“4) Auch wenn man zu diesem Zeitpunkt von einem aufrichtigen Versäumnis Fadeevs ausgehen kann, so beginnen die Ereignisse ab diesem Zeitpunkt spektakulärer zu werden. Platonov lässt sich nicht erneut auf die Polemik mit der RAPP ein und beginnt sogar ein halbes Jahr später, im Frühjahr 1930, die Arbeit an der Erzählung Zum Nutz und Frommen. Eine Armeleutechronik. Den narrativen Rahmen der Erzählung bildet eine spirituelle Wanderung des Ich-Erzählers durch die neu gegründeten Kolchosen. Die Figur des Erzählers, der sich am Anfang als Beobachter [sozercatel‘] ankündigt, verbindet die einzelnen Episoden, bei denen die Kolchosen, die auf dem Weg des wandernden Beobachters liegen, als satirische Modellfälle der Kollektivierungskampagne dargestellt werden. Platonov versucht die Erzählung bei verschiedenen Verlagen unterzubringen. Im Sammelband von Kornienko/Šubina sind vier interne Verlagsrezensionen abgedruckt (N. Kornienko/E. Šubina 1994: 282-285), die es erlauben, den Weg der frevelhaften Erzählung bis zu ihrer Veröffentlichung zu verfolgen und dabei Einblick in die Verfahrensweise des Verlagssystems im Umgang mit literarischen Abweichungen bieten. Diese internen Verlagsrezensionen machen deutlich, dass trotz verheerender Kritiken im Jahre 1929 Platonov in der sowjetischen Literatur noch zu einer diskutablen Größe gehört und dass die Selbstzensur der 3
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Die Praxis der Selbstkritik und Schuldbekenntnisse in der sowjetischen Kultur beschreibt Lorenz Erren in seiner kürzlich erschienenen Monographie als einen ‚normativen Metatext’, der das Verhältnis zur politischen Situation und herrschenden Normen modelliert (L. Erren 2008: 137). Darüberhinaus zeigt die Institution der Selbstkritik, dass innerhalb des ideologischen Kommunikationsmonopols ein gewisser Spielraum möglich ist, von dem Platonov auch Gebrauch macht. Doch während er nach dem Skandal um Zum Nutz und Frommen Anfang der 30er Jahre reuevolle Schuldbekenntnisse fabriziert, arbeitet er gleichzeitig an höchst subversiven Prosatexten (wie z.B. Juvenil’noe more [Meer der Jugend]) und Theaterstücken (z.B. 14 krasnych izbušek [14 rote Hütten]). } %"@@
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< . (zit. nach: N. Kornienko/ E. Šubina 1994: 266)
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Verlagsrepräsentanten über keine verbindliche Normvorstellung verfügt, die ihre Entscheidungen strukturieren könnte. Befürwortung, latente Unsicherheit, Überarbeitungsvorschläge, bis hin zur völligen Ablehnung – die Einschätzungen decken die komplette Bandbreite des normativen Urteilens und der Selbstzensur in den Verlagen ab. Aus den Rezensionen geht überdies hervor, dass Platonov im Verlauf der zehn Monate immer wieder versucht hat, die Erzählung entsprechend der Forderungen der Redaktionen zu überarbeiten, so dass man wohl am Ende von einem Kollektivwerk sprechen kann. Währenddessen steigt Aleksandr Fadeev in der RAPP-Hierarchie weiter auf. Auf Geheiß Stalins wird er im Mai 1931 zum Chefredakteur der angesehenen Literaturzeitschrift Krasnaja Nov‘ [Rote Neuheit] und entschließt sich, die umstrittene Erzählung Platonovs zu veröffentlichen. Dieser Schritt Fadeevs wirft sehr viele Fragen auf, vor allem im Hinblick auf die Umstände, die diese Publikation begleiteten. Kurz nach dem Erscheinen der Zeitschriftnummer wurde Fadeev am Abend zu Stalin in den Kreml berufen, wo bereits die wichtigsten Mitglieder des Politbüros (Kalinin, Vorošilov, Molotov usw.) anwesend waren. Stalin hielt die Zeitschrift in der Hand und fragte Fadeev direkt: „Sind Sie der Herausgeber dieser Zeitschrift? Also haben Sie die antisowjetische Kulakenerzählung Platonovs publiziert?“5 Die Antwort Fadeevs ist bezeichnend. Er bekennt sich zwar als Verantwortlicher und gibt zu, dass er die Nummer der Zeitschrift zum Druck bewilligt habe, allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass diese Nummer von seinem Vorgänger zusammengestellt und für den Druck vorbereitet wurde. Darauf ließ Stalin Fadeevs Vorgänger (I. Besplayj) holen, der vor Angst kein Wort herausbringen konnte. Schließlich übergab Stalin den beiden Redakteuren die mit seinen Anmerkungen versehene Zeitschrift und wies sie an, gleich am nächsten Tag in einem Zeitungsartikel den antisowjetischen Charakter der Erzählung und ihres Autors bloßzustellen. Fadeev zögerte nicht, genau das zu tun, wenngleich er nicht der erste war. Seit Anfang Juni 1931 wurde Platonovs Erzählung und der Autor selbst in der Zentralpresse aufs Heftigste kritisiert. Doch Fadeevs Artikel, der in der nächsten Nummer der Krasnaja Nov‘ [Rote Neuheit] erschien, überbot das alles in der Schärfe der ideologischen Beschuldigungen und hinsichtlich persönlicher Angriffe auf Platonov, die weitgehend von Stalins Anmerkungen inspiriert waren, wie Sutyrin in seinen Erinnerungen betont:
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Konstantin Kaminskij „Die Anmerkungen Stalins bestimmten weitgehend nicht nur den Inhalt, sondern auch den Charakter des Artikels. Diese Anmerkungen bestanden hauptsächlich aus Schimpfwörtern.“6
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Der Leser Josef Stalin
Stalins Lektüre der Erzählung Platonovs ist in der russischen Literaturgeschichte aus mehreren Gründen äußerst interessant. Der Mythos, der sich um diesen Leseakt rankt, schreibt Stalin ungewöhnliche emotionale Ausbrüche zu: „durak! balaganšik! balbes! pošljak! podlec! bolvan! kontrrevoljucionnyj pošljak! merzavec!“ [Dummkopf! Possenreißer! Trottel! Kanaille! Schuft! Idiot! konterrevolutionäres Pack! Widerling!] (I. Kurljandskij 2007) sind die Bezeichnungen, mit denen Stalin die Erzählung und ihren Autor kommentiert habe. Stalins Leseverhalten und sein persönlicher ‚literarischer’ Stil haben bereits in einer Reihe von Publikationen der letzten Jahre Beachtung gefunden. Insbesondere sind hierbei die Monographien von E. Gromov (1998) und M. Vajskopf (2001) hervorzuheben. In der Forschung besteht weitgehend Konsens darüber, dass Stalin bis in die letzten Lebensjahre stets die Geschicke seiner Kulturpolitik persönlich überwachte und leitete. In den zwanziger Jahren stand er im permanenten Briefkontakt mit den namhaftesten Schriftstellern der Sowjetunion. Seine Konsolidierung des Literaturbetriebs 1932-1934 und die Proklamierung des Sozialistischen Realismus stellen in der Literaturgeschichte einen bis dahin ungesehenen Fall eines Normsetzungsprozesses dar, wobei die ästhetischen Normen der Sprache und Literatur den pragmatischen Zielsetzungen der Politik untergeordnet wurden. Dieses ästhetisch-ideologische Normensystem betrachtet Hans Günther als die „Etablierung eines Kommunikationsmonopols der Partei“ (H. Günther 1984: 5), wobei es sich im weitesten Sinne um Stalins Kommunikationsmonopol handelt, so dass man in Anlehnung an Bachtins Romantheorie oft vom „krassen Monologismus des sozialistischen Realismus“ (H. Günther 1984: 139) sprechen kann. Wenngleich der persönliche Kunst- und Literaturgeschmack Stalins durch vielerlei politische und psychische Einflüsse determiniert war, so muss man festhalten, dass Stalins schriftlich-literarische Kommunikation formal nicht als ‚autoritäres Wort’ auftritt, sondern stets auf Interpretationsleistung und einer wirksamen Argumentationsstrategie beruht. Es erstaunt sogar, wie nachhaltig Stalin den persönlichen Dialog und ästhetischen Austausch mit sowjetischen Schriftstellern gesucht (und gefunden) hat.
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Im Fall von Platonov handelt es sich ebenfalls um einen Dialogversuch, der auch nicht unbedingt als gescheitert betrachtet werden muss, wenn man berücksichtigt, dass der Schriftsteller hier als Initiator des Dialogs fungiert und den Text der Erzählung mit vielen subtilen Andeutungen versieht, die in den unteren Zensurstellen Unsicherheit hervorgebracht haben, Stalin persönlich aber offenbar sehr emotional und peinlich berühren mussten. Stalins Name fällt in der Erzählung zum ersten Mal bei der Beschreibung eines exaltierten Kolchosevorsitzenden, der selber beschließt, welche Anordnungen von oben er erfüllt und welche nicht. Anderen Direktiven wiederum kam Kondrow äußerst gewissenhaft nach. „Das hier ist angemessen und revolutionär!“ äußerte er sich zu mir über eine sachkundige Anordnung. „Da knistert jedes Wort: man liest, und dabei ist einem, als ob man frisches Wasser trinkt – nur Genosse Stalin vermag so zu sprechen! Sicher haben die Teufel vom Kreiskomitee diese Direktive bloß von der zentralen abgeschrieben, und die, die ich weggeschmissen hab, haben sie sich selber ausgedacht, diese Klugscheißer!“ (A. Platonow 1987: 408)7
Spätestens hier, bei der Benennung seines Namens, wird Stalins Aufmerksamkeit von einer kritisch-pragmatischen Leseweise auf eine private Aufmerksamkeit umgelenkt. Formal demonstriert der Text dies durch die Gestalt des Kolchosevorsitzenden, der über eine heuristische Differenzierungsgabe verfügt, die es ihm erlaubt, die Weisungen vom Bezirkskomitee zu ignorieren und nur die von Stalin selbst anzuerkennen, was eine intime, intuitive Kenntnis der Kommunikationsformen Stalins voraussetzt. Im weiteren Verlauf wird konkretisiert, auf welche textuelle Vorlage Stalins hin sich hier eine Polemik zwischen dem Autor und dem Leser anbahnt. Und doch beging Kondrow eine seiner unwürdige Tat: An dem Tag, da er Stalins Artikel über das Vom-Schwindel-Befallensein erhalten hatte, suchte ihn zur Klärung einer Frage der Vorsitzende des Kreisexekutivkomitees auf. Kondrow saß gerade auf dem Brunnengebälk, freute sich unbändig und wusste nicht, was er zuerst tun sollte – sich in den Schnee werfen oder gleich an den Bau der Sonne gehen, jedenfalls musste er unbedingt und unverzüglich Dampf ablassen. „Was brummst du denn da?“ fragte ihn der ahnungslose Vorsitzende. „Erstatte mir lieber Bericht.“
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Konstantin Kaminskij Da wickelte Kondrow die Prawda um die Faust und hieb damit dem Vorsitzenden des Kreisexekutivkomitees eins aufs Ohr. (A. Platonow 1987: 408f.)8
Stalins programmatischer Artikel Golovokruženie ot uspechov [Vor Erfolgen von Schwindel befallen], der hier eine so heftige Gemütsreaktion hervorruft, erschien in der Zeitung Pravda [Wahrheit] am 2. März 1930. Stalin schreibt: Es ist zum Beispiel bekannt, dass man in einer Reihe von Bezirken nicht selten versucht, die Vorbereitungsarbeit zur Organisierung von Kollektivwirtschaften zu ersetzen durch bürokratische Dekretierung der kollektivwirtschaftlichen Bewegung, durch papierne Resolutionen über das Wachstum der Kollektivwirtschaften, durch Organisierung von Kollektivwirtschaften auf dem Papier, die in Wirklichkeit noch nicht vorhanden sind, über deren ‚Existenz’ es aber einen ganzen Haufen ruhmrediger Resolutionen gibt. (J. Stalin 1954: 171)
In der starken, emotionalen Reaktion des Kolchosvorsitzenden personifiziert Platonov Stalins eigene Rhetorik aus dem Artikel. Die in die Faust gewickelte Pravda demonstriert die gewaltige pragmatische Funktion des Artikels, nämlich die repressive Kritik Stalins am Verwaltungsapparat. De facto signalisiert Stalins Artikel in der Pravda die Manifestierung seiner Generallinie in der Kollektivierungs- und Industrialisierungspolitik und die damit verbundenen Losungen des Kampfes gegen Bürokratismus und der Reinigung des Sowjetapparats, Verschärfung des Klassenkampfes, Offensive gegen die Kulaken, Verstärkung der Kollektiv- und Sowjetwirtschaftbewegung, die Stalin bereits im April 1929 in seiner Grundlagenrede vor dem Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei formuliert hatte (vgl. J. Stalin 1954: 10). Damit verbunden ist die Legitimierung der Repressionen im staatlichen Apparat, die damit ihren Lauf nehmen. Mit einer derart grotesk verzerrten Erwähnung des Artikels in seiner Erzählung entsendet Platonov ein weiteres provokatives Adressierungssignal an Stalin, das durch eine Kenntnis der Machtmechanismen gekennzeichnet ist und damit die intimen Grenzen des Systems verletzt, indem es dessen versteckte, konspirative Wesenszüge offenlegt. Stalin sieht sich hier mit seinem eigenen Artikel konfrontiert, der ihm sozusagen mit der in die Pravda gewickelten Faust entgegenkommt. 8
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Nachdem Stalins programmatischer Artikel bereits in seiner ‚durchschlagenden’ Wirkung in die Handlung der Novelle eingebracht ist, inszeniert Platonov im Text weitere Metakommentare bezüglich der konspirativen Programmatik desselben Artikels. Am Ende des Erzählabschnitts, neben der Phrase „(…) überallher erschallte wie vertrautes Glockengeläut das wachsame Gebell von Hunden, die dem Kommunismus mit gleichem Eifer dienen wie dem Kulaken-Kapitalismus.“ (A. Platonow 1987: 409)9, hinterlässt Stalin zwei zusammenfassende Kommentare: balaganšik! [Possenreißer] und to ne russkij, a kakoj-to tarabarskij jazyk! [Das ist kein Russisch, sondern irgendeine tarabarische Sprache!] (I. Kurljandskij 2007).10 Im weiteren Verlauf der Erzählung wird der Name Stalins nochmals erwähnt. Diesmal rührt Platonov an den grundlegenden Baustein von Stalins rhetorischer Machtlegimitation – sein Auserwähltsein von Lenin als ‚treuster Schüler der Partei’, wie Stalin sich selbst gern nannte. Das Gründungsnarrativ des Stalinismus – der Tod Lenins, wird in der Erzählung in eine ‚niedere’ Umgebung übertragen, und zwar in ein Gefängnis. Dort beschließt Upoev, ein verhafteter Kolchosvorsitzender, der Lenin einst selbst gesehen hatte, aus bitterer Verzweiflung über die Nachricht von Lenins Tod, sich an seinem Gürtel zu erhängen: „Wenn Lenin tot ist, dann sollte eine Missgeburt wie ich auch nicht leben!“ (A. Platonow 1987: 440)11. Doch Upoev wird von einem Landstreicher vor dem Tode bewahrt. „Du bist doch tatsächlich ein Mistkerl! Schließlich hat Lenin sein ganzes Leben für Leute wie du und ich gelebt. Wenn du nun stirbst, für wen hat er sich dann abgemüht?“ „Du hast gut reden“, sagte Upoev. „Ich aber hab Lenin persönlich gesehen und kann nun nicht begreifen, warum ich weiterleben sollte!“ Der Landstreicher maß Upoev mit belehrendem Blick. „Idiot! Wieso begreifst du nicht, dass Lenin klüger ist als alle, und als er starb, hat er uns bestimmt nicht ohne Aufsicht verlassen!“ (A. Platonow 1987: 440)12 9
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Für diese Gefängnisszene bedenkt Stalin den Autoren der Erzählung mit wütenden Ausrufen: balbes! [Trottel] und pošljak! [Kanaille] (I. Kurljandskij 2007). Im weiteren Verlauf der Erzählung kommt Upoev noch einmal auf Stalin zu sprechen. In einem aufgeregten Disput mit dem Ich-Erzähler kündigt Upoev an, dass er Lenins Werke lese und bald zu einem Gespräch mit Stalin aufbrechen wolle. „Du denkst wohl auch, Lenin ist gestorben, und nur sein Geist lebt weiter?“ fragte er plötzlich. Ich vermochte seinen rätselhaften Gedanken und seinem Stimmungswandel nicht zu folgen. „Sein Geist und sein Werk“, sagte ich. „Na und?“ „Das stimmt eben nicht. Geist und Werk fürs Leben der Massen – einverstanden, aber für ein freundschaftliches Gefühl brauchen wir eine konkrete Persönlichkeit mitten auf der Erde.“ Ich schritt schweigend aus, ohne etwas zu begreifen. Upoev seufzte auf und ergänzte: „Wir brauchen einen lebendigen, einen wie Lenin… Nach der Aussaat gehe ich mir Stalin anschauen. In ihm spüre ich meinen Kraftquell. Wenn ich zurückkehre, werde ich mein Lebtag Ruhe haben.“ (A. Platonow 1987: 445)13
Auch hier sieht sich der Leser Stalin mit einem ungebetenen, aufdringlichen Dialog konfrontiert und bedenkt den Autor mit podlec! [Schuft] (Kurljandskij 2007). Stalin zögerte auch nicht zu antworten. Er streicht im Titel der Erzählung die Worte Bednjackaja chronika [Armeleutechronik], ersetzt sie mit Kulackaja chronika [Kulakenchronik] und verfasst ein kurzes Begleitschreiben: Die Erzählung des Agenten unserer Feinde wurde mit dem Ziel geschrieben, die Kolchosbewegung zu verleumden und wurde von den Tölpel-Kommunisten veröffentlicht mit dem Ziel, ihre unübertroffene Blindheit zu demonstrieren. P.S. Den Autor und die Tölpel in der Redaktion müsste man so bestrafen, dass die Bestrafung ihnen „Zu Nutz und Frommen“ gereicht.14
13
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Das alles übergibt Stalin an Fadeev. Dementsprechend heißt Fadeevs Kritikartikel Ob odnoj kulackoj chronike [Über eine Kulakenchronik] und endet mit folgenden Worten: Platonov legt eine für einen proletarischen Revolutionär unverzeihliche Klassenblindheit an den Tag. Und deswegen sollte man an uns, Kommunisten, die in Krasnaja Nov‘ arbeiten und diesen direkten Angriff des Klassenfeindes verpassten, ein Exempel statuieren und uns so bestrafen, dass uns diese Lehre „Zu Nutz und Frommen“ gereicht.15
Dieser masochistischen Beichte schließt sich im Redaktionsvermerk auch die Redaktion der Zeitschrift an. Dieses deutlich formulierte Schuldbekenntnis enthebt sie gleichsam auch von der drohenden Strafe, alle behielten ihre Posten. Der frühere Herausgeber der Zeitschrift Novyj Mir [Die Neue Welt], Vjaeslav Polonskij, vermutete gleich nach dem Erscheinen des Verleumdungsartikels Fadeevs, er habe Platonovs Erzählung veröffentlicht, weil er als neuer Chefredakteur der Krasnaja Nov‘ [Rote Neuheit] mit einem Skandal Aufmerksamkeit für die Zeitschrift erregen wollte (vgl. V. Polonskij 2008). Das wirkt auch im Hinblick auf die Tatsache, dass die Zeitschriftennummer von Fadeevs Vorgänger zusammengestellt wurde und dass er sein Risiko kalkulieren konnte, plausibel. Die Rechnung ging auf, der Skandal nützte allen Beteiligten. Fadeev hatte sein Ziel erreicht – es gab einen Presserummel um die Einstellung der Zeitschrift und er selbst blieb dabei ungeschoren. Stalin wiederum konnte Fadeev noch ein Stück mehr verängstigen und eine Kampagne gegen ‚unaufmerksame Tölpel’ einleiten, die ein Jahr später zur Auflösung der RAPP führte. Platonov schließlich zog ebenfalls Aufmerksamkeit auf sich: als ein stilistisch origineller, politisch brisanter und unangepasster Schriftsteller, der dank Stalins harscher Kritik in den Augen der Zeitgenossen und der Nachwelt vom Dissidentennimbus umgeben erscheint.
14
15
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Fazit
Dieser Skandal, der sich unmittelbar im Vorfeld der RAPP-Auflösung und der Verkündung des Sozrealismus ereignete, demonstriert in seiner Grundsubstanz jenes erforderliche Maß der stilistisch-ideologischen Abweichung, welche die Grenzen der Norm weitgehend konstituiert und eine schärfere Formulierung des Normenkanons erzwingt. Die Prosa Platonovs wie auch seine Wirkung im literaturpolitischen Betrieb stellen eine Art Störungssignal im System der ästhetischen Kommunikation der Stalinkultur dar, die ihre Legitimität gerade daraus bezieht, dass sie unentwegt aus ideologischen Abweichungen ihre negativen Grenzen – ihre Feindbilder – konstruiert. Ganz im Sinne von Michel Serres’ Kommunikationstheorie lässt sich folgern: Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor (…) Der Lärm bringt ein neues System hervor, eine Ordnung von höherer Komplexität, als die einfache Kette sie hat. Auf den ersten Blick führt dieser Parasit eine Unterbrechung herbei, doch auf den zweiten bringt er eine Konsolidierung. (M. Serres 1984: 28f.)
Ein solch undeutliches, störendes Rauschen verkörpert Platonov zusammen mit einigen anderen ‚non-konformen’ Schriftstellern für den Sozrealismus, dessen Normensystem unter anderem über genügend Deutungsraum verfügte, Platonov immer wieder zeitweilig in den offiziellen Kanon einzugliedern, wenn es etwa darum ging, literaturtheoretische und politisch-ideologische Zwistigkeiten im Kulturbetrieb auszutragen. Zu den merkwürdigsten Auswirkungen der verheerenden Kritik Stalins gehört sicherlich der Umstand, dass der seit 1927 faktisch obdachlose Platonov Ende 1932 von der Allrussischen Union der sowjetischen Schriftsteller nun doch endlich eine Wohnung im Zentrum von Moskau bekam16 – eine merkwürdige Strafe für den vermeintlichen konterrevolutionären Klassenfeind, die, wenn sie auch nicht auf direkte Anordnung Stalins erfolgt ist, so doch auch keinesfalls gegen seinen Willen war. War das ein Zeichen der Versöhnung? Oder eine Art Belohnung für getane Arbeit? Stalin suchte stets den Dialog zu den sowjetischen Schriftstellern, auch zu solch offensichtlichen ‚Abweichlern’
16
Die Wohnungskrise in der Hauptstadt war zu Beginn der 30er Jahre gravierend. Zumal gehörte, wie zum Beispiel im Fall Gorkij, die Wohnungsvergabe zu Stalins Zuckerbrot-Politik im Umgang mit Kultureliten. Zur Politik der Peitsche gehörte die Erschießung, wie im Fall Babel, oder Verbannung, wie im Fall Mandelštam. Im Fall Platonov verfuhr das repressive System raffinierter: 1938 wurde Platonovs 16-jähriger Sohn verhaftet und in ein Arbeitslager deportiert. Er wurde erst zwei Jahre später wieder freigelassen – tödlich an Tuberkulose erkrankt, mit der er auch seinen Vater ansteckte. Platonov starb 1951.
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wie Bulgakov. Doch dieser Dialog musste einseitig bleiben und von Stalin initiiert sein. In Platonovs KGB-Akte aus dem Jahr 1933 wird ein Spitzelbericht zitiert. Platonov soll über seine Erzählung Zum Nutz und Frommen gesagt haben: Es ist mir egal, was die anderen sagen. Ich schrieb diese Erzählung für einen Menschen (für den Genossen Stalin), und dieser Mensch hat die Erzählung gelesen, und hat mir auch im Wesentlichen darauf geantwortet. Alles andere interessiert mich nicht.17
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„Ich habe schon Schwielen an der Zunge von dieser Wiederholerei“: Die Denkfigur der Wiederholung im osteuropäischen Tauwetter Zornitza Kazalarska
1
Einleitung
In seiner Monographie Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst bringt Harald Fricke die typische Ausprägung künstlerischen Schaffens auf die Kurzformel „Kunst ist Abweichung plus Variierte Wiederholung“ (H. Fricke 2000: 85). Sowohl Gesetz und Freiheit als auch Wiederholung und Abweichung bilden demnach dichotomisch konstruierte Begriffspaare, die nichtsdestotrotz in der Kunst als miteinander korrespondierende Prinzipien auftreten können. Entspräche das Prinzip der Wiederholung dem Gesetz und der gebräuchlichen Norm, so stünden Abweichungen für den innovativen Versuch der Künstler, gegen geltende literaturhistorische Normen zu verstoßen, die gesetzten Grenzen zu überschreiten und sich künstlerische Freiheit zu erschaffen. Frickes Ästhetik der Abweichung gibt den Anstoß für zwei diesem Beitrag zugrunde liegende Überlegungen. Zum einen mag diese Kurzformel zwar für die Kunst unrestriktiver Kultursysteme zutreffend sein, ihre Anwendung auf den osteuropäischen Raum des 20. Jahrhunderts ist allerdings nicht unproblematisch. Für die Kunst des Sozialistischen Realismus stimmt eher die umgekehrte Gleichung „Kunst ist Wiederholung plus Variierte Abweichung“. Zum anderen geht Fricke von einem Wiederholungsbegriff aus, der affirmative, normierende und automatisierende Tendenzen umfasst, die erst durch die Gegentendenzen der Variation und der Abweichung dynamisiert werden können. Die Wiederholung kann allerdings einen subversiven, verfremdenden und parodierenden Effekt auslösen. Laut Gilles Deleuze ist die Wiederholung ihrer Natur nach Überschreitung und entspricht eher dem Wunder als dem Gesetz: „Sie steht gegen das Gesetz: gegen die ähnliche Form und den äquivalenten Gehalt des Gesetzes“ (G. Deleuze 1992: 17). Eine Ästhetik der Wiederholung als Ästhetik der Abweichung steht folglich auf dem Prüfstand. Während sowohl die intensive Überzeugungs- und Suggestivkraft von ritualisierten Wiederholungen als auch die daraus resultierende Reproduzierbarkeit, Schematisierung und Banalität des sozialistisch-realistischen Kunstschaffens immerhin periphere Erwähnung in der Forschungsliteratur finden, bleiben die
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subversiven Potentiale intra- und intertextueller Wiederholungsfiguren häufig außer Acht. Die Frage „Was wiederholt sich?“ wird vorwiegend in Bezug auf die Konstituierung des Personenkults um Stalin und die Kanonisierungsphase des Sozialistischen Realismus gestellt. Seit der ersten Abweichungsperiode in der Geschichte des osteuropäischen Kommunismus – der Tauwetterperiode – wird stattdessen der Vorzug der Frage gegeben, was sich nicht (mehr) wiederholt. In meinem Beitrag gehe ich von der Hypothese aus, dass die einmaligen Überraschungen des literarischen Tauwetters durch umstürzlerische Wiederholungsverfahren erst ermöglicht wurden. Im ersten Teil der Untersuchung wird der Auslegungsbedarf des literaturhistorischen Begriffs Tauwetter erkannt und seine Definition als ‚Landschaft der neuen Wiederholungen’1 versucht. Im zweiten Teil soll am Beispiel der literaturkritischen Auseinandersetzung mit zwei Wiederholungsfiguren (Zitat und Epigonalität) gezeigt werden, wie sich die Semantik des Wiederholungsbegriffs im Tauwetter allmählich veränderte und sich ein neues literaturkritisches Bewusstsein für spielerische und angstfreie Intertextualität entwickelte. Das untersuchte Material umfasst Zeitschriftenartikel, die in tonangebenden bulgarischen, tschechischen, slowakischen und ostdeutschen literarischen Zeitschriften im Zeitraum 1954-1965 erschienen sind.2
2
Tauwetter als „Landschaft der neuen Wiederholungen“
Mit dem Begriff Tauwetter wird allgemein die Phase nach dem Tod Stalins beziehungsweise nach dem Krisenjahr 1956 beschrieben, in der sich die politische und kulturelle Atmosphäre in allen Ländern des Ostblocks in jeweils unterschiedlichem Ausmaß und für unterschiedliche Dauer entspannte. Bei diversen Veranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestags der ungarischen Revolution (2006) wurde oft der Aufforderung Nachdruck verliehen, neben den ‚großen’ und ‚irreversiblen’ Ereignissen wie dem XX. Parteitag der KPdSU oder den politischen Aufständen in Budapest und Pozna auch die ‚Nicht-Events’ des Jahres 1956 stärker in Betracht zu ziehen. Ich widme mich daher denjenigen Ländern im ehemaligen Ostblock, deren sowohl politische als auch kulturelle Tauwetterperiode wiederholt als absent oder defizient definiert wurde: Bulgarien, der Tschechoslowakei und der Deutschen Demokratischen Republik. So behauptet 1
2
Der paradoxe Ausdruck ‚Landschaft der neuen Wiederholungen’ ist dem gleichnamigen Buchtitel der deutschen Ausgabe des lyrischen Werkes Ivan Blatnýs entnommen. Vgl. dazu I. Blatný 1992. Das untersuchte Material stammt aus folgenden Literaturzeitschriften: Plamak, Literaturnamisal, Slovenské pohady, Kvten, Literární noviny, Host do domu, Neue deutsche Literatur, Sonntag.
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beispielsweise Edward Moejko, dass Bulgarien auf kulturellem Gebiet niemals ein richtiges Tauwetter erlebt habe (E. Moejko 1977: 214). Die französische Wissenschaftlerin Muriel Blaive, die sich mit dem Jahr 1956 in der Tschechoslowakei befasst, begibt sich auf die anatomische Suche nach einer Absenz, wobei ihr Interesse dem, „was nicht geschah“, gilt (M. Blaive 2001: 27). Hans Mayer erfand für die Literaturlandschaft der DDR die Formel „ein Tauwetter, das keines war“ (H. Mayer 1976). Die Verschärfung des Gegensatzes zwischen ‚richtigem’ und ereignisvollem Tauwetter auf der einen Seite und ‚falschem’ und ereignislosem Tauwetter auf der anderen Seite kann gemildert werden, wenn dem Begriff Tauwetter eine unbegriffliche Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Reversibilität und Irreversibilität, Wiederholbarkeit und Einmaligkeit zugeschrieben wird. Diese Spannung ist in der Metapher des Tauwetters bereits impliziert: Sie bezeichnet eine Zwischenzeit, eine „historische Zwischensaison“ (S. uprinin 1989: 8), einen „vorübergehende[n] Zustand mit zunächst ungewissem Ausgang“ (P. Thiergen 1978: 133). Es ist naheliegend, das Tauwetter als eine hochgradig ambivalente Liminalitätsphase der Unbestimmtheit, Instabilität und Potentialität zu definieren, die nicht unbedingt konsequent auf ein Ziel (in Victor Turners Terminologie auf die postliminale Phase der Wiedereingliederung in eine neue Struktur) hinausläuft, und außerdem nicht unbedingt irreversibel ist. Auch wenn mit Nikita Chruševs Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU eine rigide Grenzziehung als eine eindeutige Abgrenzung gegenüber der vorherigen Struktur des Stalinismus formuliert wird, bleibt die Umkehrmöglichkeit im Zuge des Tauwetters immer vorhanden. Sowohl Politiker als auch Schriftsteller befinden sich auf einer Schwelle, die sowohl nach vorn wie nach hinten offen ist. Fraglich bleibt allerdings, inwiefern die Politiker und die Schriftsteller in Bulgarien, der Tschechoslowakei und der DDR, deren Tauwetterperiode gerade in ihrer Abwesenheit anwesend ist, über die Schwelle gingen und an einer neuen Struktur tatsächlich teilhatten. Vielmehr lässt sich hierzu von einem unvollendeten oder gebremsten Tauwetter sprechen, dessen präzise Definition gar nicht umhin kommt, die ‚Kippfiguren der Wiederholung’3 zu gebrauchen. Eine Reihe von politischen und kulturellen Wiederholungsprozessen spielen im Tauwetter eine prägende Rolle: Rückkehr der Häftlinge, Revisionismus der Marxschen Lehre, Wiederbelebung der Leninschen Ideale und Wiederentde3
Die Begrifflichkeit ‚Kippfiguren der Wiederholung’ ist von Tobias Rausch entliehen. Im Vorwort zum gleichnamigen Sammelband macht sich Rausch die oszillierende Eigenschaft der Kippfigur zunutze, um das der Wiederholung innewohnende Dilemma des Widerspruchs zu überwinden. Die Wiederholung bringt demnach vier Kippfiguren hervor: Kippfigur von Auflösung und Wiederkehr des Subjekts, Kippfigur von Affirmation und Subversion, Kippfigur von Werkzeugcharakter und Eigensinn und Kippfigur von Ursprung und Vollendung. (Vgl. dazu detaillierter T. Rausch 2007)
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ckung Amerikas und des Westens im Bereich der Politik; Rehabilitierung der verbannten Autoren, Revidieren des Kanons des Sozialistischen Realismus und Wiederanknüpfung an die verdrängte Avantgarde im Bereich der Literatur. Während die Entstalinisierung durch Rückbesinnung auf Lenin zustande kommen sollte, erfolgte die Entkanonisierung des Sozialistischen Realismus durch die Wiederrezeption der Avantgarde. Wie aus der politischen und literarischen Rückkehr in die 1920er Jahre ersichtlich wird, erweisen sich die Entstalinisierung und die Entkanonisierung als Prozesse des Zerstörens um die Wiederholung ermöglichen zu können. Auch wenn der Begriff der Wiederholung für die literaturhistorische Verortung des Tauwetters selten gebraucht wird, verbirgt er sich in häufig auftretenden Begriffen wie Regeneration, Revision, Rehabilitierung, Rückkehr, Rückwendung und Wiederherstellung, ohne welche fast keine Literaturgeschichte Ostmitteleuropas nach 1956 auskommt. Die literarische Landschaft im Tauwetter ist daher als ‚Landschaft der neuen Wiederholungen’ definierbar, wobei die Wiederholungen paradoxerweise immer ein innovatives Anderswerden des Wiederholten einschließen.
3
Die Denkfigur der Wiederholung: literaturkritische Kontroversen
Auch wenn die Denkfigur der Wiederholung im Tauwetter ihre volle Kraft entfaltet, lässt ihre literaturtheoretische Legitimierung und Positivierung auf sich warten. Unmittelbar nach 1956 nimmt die Wiederholung äußerst negative Konnotationen an, die mit der postulierten Überwindung des Personenkults um Stalin eng verzahnt sind. Die Praxis des Personenkults, wie Chrušev in seiner Geheimrede erläutert, sei von Wiederholungen geprägt: „Er [Stalin] äußerte seine Ansicht, und danach mussten alle sie wiederholen und von seiner Weisheit begeistert sein“ (N. Chruschtschow 1990: 76). Die Wiederholung als „rhetorisches Instrument der totalen Herrschaft“ (H. Zitko 1998: 179) verfügt über das Potential, idealisierende Identitätskonstruktionen wie den Personenkult zu unterstützen. Die verhärtete ‚enkratische’ Sprache, die unter dem Schutz der Stalinschen Macht entsteht, sich verbreitet und zur Festigung der Macht beiträgt, ist Wiederholungssprache schlechthin. Im Anschluss an die Stalinzeit entwickeln die osteuropäischen Literaturkritiker ein starkes Misstrauen gegen dauernde Wiederholungen. Ab 1956 wird der Presse immer häufiger vorgeworfen, sie bediene sich rhetorischer Wiederholungen, um trügerische Bilder von Glück und Wohlstand zu suggerieren: „Unsere Presse ist wohl der Meinung, wenn wir nur ununterbrochen wiederholen, wir seien glücklich, moralisch und reich (...) dann würden alle unsere Probleme ver-
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schwinden.“4 Laut dem Verfasser Jan Kott in der slowakischen Literaturzeitschrift Slovenské pohady ähnelt die Stalinzeit dem glücklichen Zeitalter der Bourgeoisie, in dem alle nach dem Pfarrer bereitwillig wiederholt haben: Alles, was geschieht sei gut, alles, was geschieht sei richtig. Auch künstlerische Wiederholungen, denen abwertende Attribute wie ‚bloß’, ‚träge’, ‚fruchtlos’, ‚halsstarrig’ und ‚dogmatisch’ häufig beigefügt werden, stellen ein pejorativ besetztes Thema dar. Sie gefährden literarische Tugenden wie Originalität, Kreativität und Authentizität und werden als Zeichen mangelnder Eigenständigkeit und fehlender Spontaneität interpretiert. Die Literaturkritiker im Tauwetter verfügen über ein umfangreiches Begriffsinstrumentarium zur Beschreibung von Inhaltsleere erzeugenden tautologischen Wiederholungen, die in der Literatur zu vermeiden seien: ,abgenutzte’ Schemata, ,vorgefertigte’ Schablonen, ,lebensferne’ Klischees, ,hohle’ Phrasendrescherei, ,bloße’ Papageierei. Auf der Begründung, die Wiederholung sei „von Nutzen in jedem anderen Bereich, nur nicht in der Kunst“5, beharren sie bis Mitte der 1960er Jahre: „Kunst erträgt keine Wiederholungen, Eintönigkeit widerspricht ihrer Natur.“6 Die tauwetterische Kritik an der Wiederholung steht in einem zweifachen Zusammenhang: zum reformbedürftigen Kanon und zur wiederrezipierten Avantgarde. Diesem Zusammenhang wird des Weiteren nachgegangen, indem die literaturkritische Auseinandersetzung mit zwei Wiederholungsfiguren – Zitat und Epigonalität – verfolgt wird.
3.1 Negiertes Zitieren und Entkanonisierung Der Sozialistische Realismus wird durch unzählige Wiederholungen als Kanon befestigt und für Wiederholungslektüre bestimmt. Die ritualisierte Wiederholung von sozialistisch-realistischen Texten und ihren Invarianten erfüllt laut Ren Bílik keine primär ästhetische Funktion, sondern trägt lediglich zur Produktion einer neuen politischen Imagination neuer Menschen einer neuen Welt (R. Bílik 2006: 35) bei. Bereits im Jahr 1957 stellt Andrej Sinjavskij fest, dass künstlerische Werke, die nach den zuvor festgelegten Prinzipien des Sozialistischen Realismus aufgebaut sind, zu einem Klischee geworden sind, das „von Autor zu Autor ohne 4
5 6
„Naša tla prišla k názoru, že ak budeme mnoho razy a bez prestania opakova, že sme šastní, že sme morálni a bohatí, (…) tak naše ažkosti zmiznú.“ (J. Kott 1956: 541) Falls nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen der angeführten Zitate aus bulgarischen, tschechischen und slowakischen Zeitschriftenartikeln von der Verfasserin. „ X % , %“. (A. Todorov 1957: 52) „ % X , #
" "% “.(A. Obretenov 1965: 27).
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wesentliche Veränderungen weitergereicht wird“ (A. Sinjavskij 2002: 518). Auch Boris Groys erkennt im Kanon des Sozialistischen Realismus eine sekundäre künstlerische Strategie, die in der Bereitschaft zur Übernahme von bereits existierenden Zeichen begründet liegt (B. Groys 1994: 276). Die in der Forschungsliteratur häufig gezogenen Parallelen zum Klassizismus, zum Kanon der altorientalischen Kunst, zum Bilderkanon der mittelalterlichen Ikonographie und zur Folklore deuten schließlich darauf hin, dass der Ästhetik des Sozialistischen Realismus eine Ästhetik der Identität7, eine klassizistische Ästhetik8, sprich eine Ästhetik der Wiederholung innewohnt. Im Zuge des Revidierens des Kanons im Tauwetter wird die Wiederholbarkeit von sozialistisch-realistischen Werken von den osteuropäischen Literaturkritikern registriert und als unmittelbare Auswirkung des Personenkults auf die Literatur negativ beurteilt. In der bulgarischen Literaturzeitschrift Plamak wird beispielsweise die Meinung geäußert, dass die Methode des Sozialistischen Realismus unter Stalin verfälscht und auf einen Standpunkt zum Auswendiglernen reduziert worden sei, „der in jedem Werk jedes Autors wiederholt werden muss“9. Dem bulgarischen Literaturkritiker Minko Nikolov zufolge verwandelte sich die kanonisierte Methode in „einen literarischen Gerichtsaal, in dem vorgeschriebene Zitate ausgesprochen werden“10. Aus seiner ursprünglichen Natur hingegen, schreibt der Verfasser in der bulgarischen Zeitschrift Literaturna misal, wiederhole sich der Sozialistische Realismus niemals. Es ist gerade die Wiederholungsfigur dieses Zitierens, an der die heftigste Kritik im Tauwetter geübt wird. Kennzeichnend für die Kanonisierungsphase des Sozialistischen Realismus ist insbesondere die aufwendige Berufung auf unbestreitbare Autoritäten. Rainer Grübel leitet das affirmative Zitierverhalten im Stalinismus aus religiösen Traditionen ab. Während kanonisierte Marx-, Engels-, Lenin- und Stalintexte in literaturkritischen Aufsätzen ‚heilige’ Wahrheiten verkörpern und das Bekenntnis des Verfassers zum Marxismus-Leninismus versichern, markieren Beglaubigungszitate im Bereich der Kunst die bescheidene Selbstunterwerfung unter das herrschende Modell des Kanons (R. Grübel 2000: 253). Sich auf die Bachtin’sche Unterscheidung zwischen autoritärem und innerlich überzeugendem Wort im Roman beziehend, erklärt Hans Günther das Zitieren im Stalinismus zur unverfälschten Wiedergabe des autoritären Wortes (H.Günther 1984: 175). Laut Bachtin zeichnet sich die Wiedergabe des autoritä7 8 9 10
Zu der Unterscheidung zwischen künstlerischen Systemen der Identität und der Gegenüberstellung vgl. ausführlicher J. Lotman 1972: 402-419. Zu der Unterscheidung zwischen klassizistischer Ästhetik und moderner Ästhetik, die auf dem dichotomischen Begriffspaar „Wiederholung – Innovation“ aufbaut, vgl. U. Eco 2005. „
%# , # “. (o.A. 1957: 57) „ % X _ “. (M. Nikolov 1957: 85)
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ren Wortes durch beträchtliche Distanz und Hierarchisierung gegenüber dem eigenen Wort aus. Es verlange von dem eigenen Wort keineswegs Assimilation und freie Aneignung durch allmähliche und fließende Übergänge, sondern monumentale Abgehobenheit und bedingungslose Anerkennung durch strenge Grenzziehung: „Ein Spiel der Distanzen – des Verschmelzens und Divergierens, der Annäherung und Entfernung – ist hier unmöglich“ (M. Bachtin 1979: 230231). Der Abschied vom Personenkult im Jahr 1956 geht mit dem Abschied vom machtbeglaubigenden Zitathabitus einher. So verwirft Hans Mayer in Sonntag die dunkle Stalinzeit als „Reich der Zitate und der Zitierer“ (H. Mayer 1956: 4). In einer Glosse mit dem Titel „Gefahren und Nutzen des Zitats“ wird weiterhin die Ansicht geäußert, dass Zitate so autoritativ wirken können, dass der Gesprächspartner zurückschrecke, statt sich angeregt zu fühlen und eigene Gedanken zu formulieren. Fahre man Goethe oder Lenin als schweres Geschütz auf, schweige der Gesprächspartner überwältigt (M. Bruns 1956: 159). Das Zitieren wird schließlich für nicht überzeugend und unfähig erklärt, ideologische Ziele zu erfüllen: „Der Ideeninhalt beruht auf Einsichten, nicht auf dem Hinzufügen von Zitaten.“11 Die Zitierverweigerung geht in den folgenden Jahren so weit, dass sogar gegen die Zitierregeln verstoßen werden soll. Dem slowakischen Verfasser des Artikels „Wie ist es eigentlich mit dem Zitieren“ („Ako je to vlastne s citovaním“) zufolge sei nach der Zeit der Zitatmanie die Zeit der Zitatphobie gekommen: „Anscheinend wird das Verfahren jemanden zu zitieren, jemandem die Autorschaft seiner Gedanken anzuerkennen für abstoßend, unanständig und sogar kompromittierend gehalten (…).“12 Im Jahr 1961 wird ein emblematischer Versuch unternommen, die Rolle des Zitats in literarischen Texten zu rehabilitieren. Der tschechische Kritiker Miroslav ervenka befasst sich in einem Aufsatz mit der Übernahme von Textstellen aus einem literarischen Werk in ein anderes Werk. Laut ervenka trägt das Zitat dem Gedicht reichhaltige Reminiszenzen ein: „(…) die mentalen und emotionalen ‚Welten’ des alten und des neuen Werkes durchdringen sich dabei; die bereits vorhandenen ideologischen und ästhetischen Werte konfrontieren die Werte, die sich erst bilden, um sie zu akzeptieren, zu negieren oder abzuwandeln.“13 Hört sich diese isolierte Beobachtung als Vorbote des Intertextualitätsbegriffs an, so wird sie sogleich durch die Annahme abgegrenzt, dem Leser müsse die Quelle 11 12 13
„Ideovos je vo videní, a nie v dodávke citátov.“ (J. Bžoch 1956: 439) „Ve tak sa zdá, že citova, prizna niekomu autorstvo jeho myšlienok je odiózne, neslušne, ba kompromitujúce.“ (o.A. 1960: 127) „(…) myšlenkové a citové ‚svty‘ starého a nového díla se pitom rzným zpsobem prolínají, ,hotové‘ ideov estetické hodnoty se pirovnávají k hodnotám, jež se teprve tvoí, aby tu byly pijímány, popírány nebo obmovány.“( M. ervenka 1961: 178)
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des Zitats vertraut sein. Wenn der Dichter Zitate aus Volksliedern und Schlagern statt aus der Klassik anführe, steigere sich die volkstümliche Verständlichkeit des Textes und breiteren Schichten werde der Zugang zum Text ermöglicht. Das Anknüpfen an dem Leser unbekannte Texte dagegen betone die literarische Kultiviertheit und Exklusivität des Werkes, wodurch die freundliche Kommunikation zwischen Dichter und Leser gefährdet werde. Die Verleugnung von autoritären Zitaten im Tauwetter markiert einen Übergang von illustrativer zu illuminativer Zitathaftigkeit14 und kann als erster Schritt zur Legitimierung der literarischen Intertextualität15 gedeutet werden. Einerseits wird durch das negierte Zitieren die Subordination des Zitierenden unter das Zitierte in Frage gestellt und stattdessen die Koordination zwischen gleichberechtigten Partnern gefördert. Die Konfrontation zwischen zitierendem und zitiertem Text gestattet folglich nicht nur Anerkennung, sondern auch Aneignung und Ablehnung. Zudem bezieht sich der selbstständige Umgang mit den kanonischen Werken weniger auf die Autorität des zitierten Autors, sondern vielmehr auf den Text an sich. Neben dem autoritären Wort kann im Tauwetter schließlich das fremde Wort erklingen. Im Unterschied zur Wiedergabe des autoritären Wortes dialogisiert die Wiedergabe des fremden Wortes den künstlerischen Kontext und erschließt völlig andere Sinnmöglichkeiten (M. Bachtin 1979: 233): Sie [die Verfahren der Formung und Einrahmung des fremden Worts] geben der maximalen Wechselwirkung des fremden Wortes mit dem Kontext sowie ihrem dialogisierenden wechselseitigen Einfluss, der frei schöpferischen Entwicklung des fremden Wortes, der Allmählichkeit der Übergänge, dem Spiel der Grenzen, der Vorbereitung auf die Einführung des fremden Wortes durch den Kontext aus der Entfernung (…) Raum.
Andererseits beharrte die Literaturkritik darauf, sich an der bekannten Erfahrung des Lesers zu orientieren und die kanonisierte Schicht der eigenen kulturellen Tradition als Zitatquelle zu privilegieren. Auf diese letzte Säule des sozialistischrealistischen Kanons stützten sich die Kanonverteidiger zwar bis in die 1960er Jahre hinein. Zum Einsturz gebracht wurde sie aber letztendlich durch die Wie-
14 15
Zu der Unterscheidung zwischen illustrativer und illuminativer Zitathaftigkeit vgl. D. Orai Toli 1995. Ich gehe von dem Intertextualitätsbegriff aus, der im Metzler Lexikon Literatur (2007) folgendermaßen formuliert wird: „Das Konzept der Intertextualität betont hingegen den selbstständigen Umgang des Folgetextes mit der Tradition, gesteht kanonischen Texten keine privilegierte Rolle zu und bezieht sich eher auf den Text als auf die Person und die Absichten des Autors“. Vgl. dazu D. Burdorf et al. 2007: 357-358.
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deranknüpfung an die unbekannte Avantgarde, deren Voraussetzungen im Tauwetter geschaffen werden.
3.2 Epigonalität und Wiederrezeption der Avantgarde Das Revidieren des Kanons im Tauwetter ereignet sich durch die Zunahme kanonferner und -freier Zonen, die durch Textpflege und Sinnpflege in den Korpus von kanonischen Werken aufgenommen werden. Die Herausbildung des Sozialistischen Realismus wird zwar weiterhin als ein kontinuierlicher, geschichtlich notwendiger Prozess betrachtet, der aber nicht ausschließlich mit dem Realismus des 19. Jahrhunderts organisch verbunden ist, sondern auch mit der ‚progressiven’ Linie der zu rehabilitierenden Avantgarde der 1920er Jahre. Auf die Literaturkritik als Instrument der Kontrolle über das Funktionieren des Kanons kommt im Tauwetter die neue Aufgabe zu, Kontrolle ohne Kanon auszuüben, d.h. Kanonabweichungen als normal zu legitimieren. Das rekonstruktive Wiederanknüpfen an die vom Stalinismus unterbrochenen Traditionslinien der Avantgarde bezeichnet Inke Arns als „große Utopie“, die sich durch die buchstäbliche Wiederholung der unschuldigen, den totalitären Tendenzen zum Opfer gefallenen Avantgarde auszeichnet (I. Arns 2004: 13). Diese naive Wiederholung bringt im Westen wie im Osten scharfe Kritik mit sich. Die Debatte im Westen eröffnet Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1960 mit der Behauptung, jede heutige Avantgarde sei Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug (H. M. Enzensberger 1976: 79). Erste Anzeichen der Debatte im Osten finden sich bereits im Jahr 1958 in der tschechischen Literaturzeitschrift Host do domu: „Manchen Leuten scheint es möglich zu sein, den Weg der alten Avantgarde wiederholt zu begehen (…). Die Wiederholung bringt allerdings keinen Gewinn ein.“16 An der Wiederholung der Avantgarde bemängelt weiterhin Alexander Abusch fehlende Spontaneität, wie ein späteres Zitat aus der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur beweist: „Heute hat die Wiederholung der Formenzertrümmerung des Expressionismus nicht mehr den Sinn einer spontanen Revolte“ (A. Abusch 1962: 51). Die Vorwürfe der Unauthentizität und Unoriginalität verschärfen sich insbesondere in Bezug auf die Rezeption der westlichen Neo-Avantgarde: „Der Neodadaismus wiederholte auf unoriginelle Weise den Dadaismus. (…) Der Stillstand und die Fruchtlosigkeit der traditionellen heutigen Avantgarde sind also offensichtlich.“17 Ähnliche Ansichten halten sich bis 16 17
„Nkterým se zdá, že by snad bylo možno zopakovat ješt jednou cestu starých avantgard (…). [Opakováním] se totiž ni nezíská“. (O. Sus 1958: 27) „(…) # ||. (…) #
_ _ “. (O. Vartolomeev 1965: 122)
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Ende des Tauwetters standhaft. Sowohl die Wiederholung der Avantgarde als auch die Wiederholung an sich werden als fruchtlos, gekünstelt und sklavisch abgelehnt. Dies lässt sich gut am Beispiel der literaturkritischen Auseinandersetzung mit literarischen Phänomenen der Epigonalität veranschaulichen. Als Helen von Ssachno im Jahr 1963 das politische Tauwetter als Epigonenzeit abstempelte, stand ihre Interpretation in vollem Einklang mit der größten Sorge der osteuropäischen Literaturkritiker, die Wiederrezeption der Avantgarde führe die Literatur ins fruchtlose Epigonentum. Die Epigonalität im Tauwetter bringt eine zweifache Abweichung mit sich: Sowohl das Wiederholen an sich als auch das Wiederholte brechen mit den Konventionen und gefährden den authentischen Kunstcharakter des Sozialistischen Realismus. Epigonale Wiederholungen, die Defizite wie fehlende Ausdruckskraft, künstlerisches Unvermögen und sklavische Abhängigkeit aufweisen, werden als keine Kunst abgewertet. Auf dem schwarz-weißen Kontrast zwischen falscher Epigonalität und wahrer Kunst bauen zeitschriftliche Schlagzeilen wie „Wiederholung oder Weg nach vorne“, „[e]chtes Neuerertum oder ästhetische Restauration“, „Nachahmung oder Schöpfung“ auf. Die ganze Palette der Literaturkritik erstreckte sich von Vorwürfen des Plagiats und der Kopieanfertigung bis hin zu Vorwürfen der Nachahmung und des fremden Einflusses. Epigonalität sei hilflos und verderblich; Nachahmung sei blind und sklavisch; Einflüsse seien mechanisch abgeleitet; Kopien seien missraten. Wie heftig die Literaturkritik auf epigonale Anknüpfungen reagiert haben soll, kann dem folgenden Zitat entnommen werden, das aus einem manifestartigen Aufsatz der tschechischen Dichtergruppe Kvten stammt: Es handelt sich weder um Epigonentum des Neorealismus, noch um Epigonentum der jungen sowjetischen Kunst. (…) Es handelt sich weder um Epigonentum, das die Errungenschaften der Neumann-Generation wiederholt, noch um Epigonentum der proletarischen Lyrik, und viel weniger um eine Wiederholung des Programms der Gruppe 42.18
Und hierzu eine von mehreren Gegenstimmen der Literaturkritik: Das bloße Experimentieren und die Suche nach ‚neuen Formen’ erweisen sich als Wiederholung gebrauchter Formen und bezeugen das hilflose Epigonentum. Das Problem liegt darin, dass (…) solche Werke nichts anderes sind, als eine ärmliche ‚zweite Ausgabe’ und eine schlechte Kopie der Experimente der Zwanziger Jahre.19 18
19
„Nejde o epigonství neorealismu, ani o epigonství souasných snah mladého sovtského umní (…). Nejde ani o epigonství opakující výboje generace neumannovské, o epigonství proletáské poesie, a tím mén pak o opakování programu kupiny 42.“ (J. Boek 1957: 292) „(…)
[] " X , `"’, #
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Kompliziertere Wiederholungsformen können allerdings unmöglich allein mit Begriffen wie Einfluss, Nachahmung und Authentizität analysiert werden. Unter Epigonalität werden dadurch grundverschiedene literarische Wiederholungsfiguren zusammengeführt, ihre Differenzen vertuscht. Was damit gemeint ist, kann an einem Beispiel aus dem slowakischen Kontext deutlich werden. Am 13. November 1962 notiert der slowakische Dichter Ivan Kupec in seinem Tagebuch Folgendes: „Die heutigen Jungen orientieren sich an der Revolution der Poesie (...), wobei in ihren dichterischen Revolten viel Unoriginelles, Papierartiges innewohnt (…), hin und wieder sogar ein offensichtliches Plagiat, verfasst mit ungeheuerlicher Provokation.“20 Als Beispiel plagiatorischer Provokation führt Kupec ein Gedicht des slowakischen Dichters Lubomír Feldek an, dessen Titel Gedicht vorgetragen zur Hochzeit Miroslav Cipárs in Anspielung auf den Titel Gedicht vorgetragen zur Hochzeit André Salmons von Guillaume Apollinaire entstanden ist. Aus heutiger Sicht würde die variierte Wiederholung des Titels problemlos als spielerisches Abschreiten des Raumes zwischen zwei Texten interpretiert. Den Literaturkritikern im Tauwetter hingegen, in deren Begriffsinstrumentarium die positive Wiederholung noch keinen Eingang gefunden hatte, blieb nichts anderes übrig, als neue Dinge mit alten Namen zu benennen und jeden selbstständigen Dialog mit dem ‚globalen Megatext’ der europäischen Literatur als Epigonalität zu leugnen.
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Fazit: Wiederholung als Erinnerung „nach vorwärts“
Die allmähliche Veränderung der Semantik des Wiederholungsbegriffs im Tauwetter geht mit einem neuen literaturkritischen Bewusstsein für Intertextualität als Gedächtnisarbeit einher. Das Bedürfnis nach einem differenzierten Wiederholungsbegriff ist eng mit der Rolle des Tauwetters als Erinnerungsschwelle verzahnt. Ähnelt die stalinistische Zeit einem Zwischendepot, wo „Erinnerungen vorübergehend unzugänglich, aber nicht grundsätzlich unwiederherstellbar“ (A. Assmann 2006: 168) sind, wird die Wiederherstellung des unterbrochenen Gedächtnisses zur vordringlichsten Aufgabe des Tauwetters. Für die nachstalinistische Zeit ist ein Rückschreiten nach vorwärts kennzeichnend, das aus zeitgenössischen paradoxen Losungen wie „Vorwärts zur Vergangenheit“,
20
# " (…). < , (…) X %, # , ’ ^ " 20- .“ (M. Nikolov 1957: 84) „Dnešní mladí orientujú sa väšmi na revolúciu poézie (...), priom aj v ich básnických revoltách je vea neoriginálneho, papierového (...) a kde-tu oividný plagiát, vyfabrikovaný s nehoráznou provokatívnosou.“ (I. Kupec 1999: 69)
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„Blick zurück und nach vorn“, „Rückkehr gerichtet auf die Zukunft“ ersichtlich wird. Die Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit schafft die Voraussetzung dafür, erinnerndes Wiederholen positiv zu bewerten: „Damit es sich nicht wiederholt, muss man ständig wiederholen, wie es gewesen ist“ (o.A. 1964: 7). Auch die offiziell gesteuerte Wiederrezeption der Avantgarde hängt mit der Gedächtnisarbeit zusammen. Die kontrollierte Verbreitung neuer Editionen, Übersetzungen und Anthologien soll die Wiederkehr der verdrängten Avantgarde verhindern und die avantgardistischen Strömungen als abgeschlossenes Kapitel der Literaturgeschichte historisieren. Wenn die Erhaltung der alten avantgardistischen Werke gesichert zu sein scheint, dann erscheint es überflüssig, „tautologische und epigonale Werke zu produzieren, welche nur das wiederholen, was in Archiven schon längst enthalten ist“ (B. Groys 1992: 23). Auch die literaturkritischen Versuche, Epigonalität auf Unwissenheit, Vergessen oder verdrängtes Erinnern zurückzuführen, sind daran gebunden. Nach dem Motto ‚Verboten Obst ist süß’ argumentiert der tschechische Literaturkritiker Ivo Fleischmann in Literární noviny gegen das Verbot der Avantgarde: „Diejenigen, die sich vor der Wiederkehr der Künstler in die 1930er Jahre erschrecken, vergessen etwa, dass (…) Wiederkehr manchmal für die Sünden selbst ernannter Vormünder des Lebens und der Kunst bestraft: Verboten Obst ist süß.“21 Die literarische Rückkehr zur Poetik der Avantgarde sei als Rückkehr zu gewissen unrechtmäßig vergessenen oder sogar politisch ungerecht verurteilten Traditionen zu verstehen, als „Prozess der Neuverwendung schon längst entdeckter (…) Ausdrucksmittel, die wegen Vorwürfen des Formalismus an den Pranger gestellt, bespuckt und vergessen wurden.“22 Die Rückwendung zu der Avantgarde sei deswegen keine bloße Wiederholung, sondern Anfang eines Weges; keine bloße Reminiszenz, sondern Weg nach vorne. Diese Zusammenhänge mögen beweisen, dass die literaturkritische Auseinandersetzung mit der Denkfigur der Wiederholung im Tauwetter einem Funktionswandel unterliegt, der eng mit dem Übergang vom affirmativen zum negierten Zitieren, vom zwanghaften zum erinnernden Wiederholen „nach vorwärts“ verbunden ist. Der Versuch der Literaturkritiker Formen wiederholenden Schreibens auf Unterdrückung und traumatische Verdrängung zurückzuführen, d.h. auch das Freud’sche Wiederholungsmodell zu implizieren, ist nicht weit davon entfernt, das Wechselspiel zwischen Wiederholen, Erinnern und Durchar21
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„Jenže ti, kdo se dsí nad „návraty“ umlc do 30. let, zapomínají, že (…) jsou návraty, které jsou trestem za híchy samozvaných poruník života a umní: zakazované ovoce má sladkou chut“ (I. Fleischmann 1958: 3) „(…) proces[u] nového využití kdysi už objevených (…) výrazových prostedk, které byly pibity na praný jako formalistické, poplivány a zapomenuty.“ (J. Vostrý 1956: 135).
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beiten unter einem differenzierten Wiederholungsbegriff zu vereinen. Die Wiederholung im Tauwetter steht somit im Zeichen einer Erinnerung, die auf die Restauration eines zugleich vergessenen und unvergesslichen Zeitalters der Kunst abzielt und zu einer Form des Widerstands wird. „Ich wiederhole – ich habe schon Schwielen an der Zunge von dieser Wiederholerei“, regte sich einmal Nikita Chrušev im Rahmen einer in Amerika gehaltenen Rede im Jahr 1959 auf und brachte damit das Epochen(Un)Bewusstsein der innovativen Tauwetterperiode zum Ausdruck (D. Weiss 2000: 249). Und doch führte diese Wiederholerei zu mehreren ‚normalen’ Abweichungen von der konstruierten ‚Anormalität’ der Stalinzeit, bis es tatsächlich zur Entkanonisierung und Entstalinisierung kam.
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II Literarische Aneignung und Normalisierung des Fremden: Kulturelle Identitäten im Dialog
„Auch sie (...) sprachen mit den Augen“: Grenze(n) und Grenzgänger in Ctlin Dorian Florescus Rumänien-Romanen Ana-Maria Palimariu
1
Grenzüberschreitungen und -überschneidungen: Eigenes und Anderes, Vertrautes und Fremdes, West- und Osteuropa
Alle Romananfänge von Ctlin Dorian Florescu sind an einer Grenze angesiedelt.1 Am Ende aller Romane kommt man ebenfalls an einer Grenze an.2 Auch unterwegs – die Hauptfiguren sind immer Reisende – gibt es überall Grenzen zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, zwischen Realität und Fiktion, sicherem Leben und Todesgefahr. Am Anfang des Romans Der blinde Masseur überschneidet sich die westliche geographische Grenze Rumäniens mit der Grenze zwischen (neuem) Leben und Tod: Ein Brautpaar ist tödlich verunglückt. Florescu versucht durch seine Romane den Ort der Grenze literarisch aufzuarbeiten, indem er seine Figuren auch unsichtbare Grenzen überschreiten lässt, die verschiedenartige Schwellen sichtbar machen.3 Auch die Sprache der Romane überschreitet die Grenzen des Deutschen. Der Erzähler entlarvt sich in allen Romanen als ein Rumänienstämmiger, so dass die Gastsprache, in diesem Falle die deutsche Sprache, durch die Sprachmischung mit der Muttersprache Rumänisch verfremdet wird. Ihre Fremdheit liegt darin, dass sie „durch ihre Hybridität dem ausländischen Autor ein Mittel zur Aneignung einer Kultur werden und gleichzeitig den deutschsprachigen Leser verwirren kann“ (G. Gebhard et al. 2009). Im Folgenden wird gefragt: Wie werden Grenzen in seinen Romanen etabliert, thematisiert, semantisiert und ironisiert? Inwiefern wirkt sich der Gegensatz ,Vertrautes’-,Fremdes’, Westen-Osten als Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung aus? 1
2 3
Entweder an der östlichen Grenze Rumäniens, an der Schwarzmeerküste, die zugleich auch eine östliche Grenze Europas ist (C. Florescu 2002), oder an der westlichen Grenze von Rumänien, in Temeswar, einmal landauswärts (C. Florescu 2005), einmal landeinwärts (C. Florescu 2006), oder schließlich an der Grenze zum Leben, nämlich bei der Geburt (C. Florescu 2008). Eine Reise, eine Freundschaft oder eine Liebe beginnen (neu) oder werden abgeschlossen. Rein geografisch gesehen, verlaufen die Reisen in Florescus Romanen als Auswanderungen aus Rumänien in ein europäisches Land oder in die USA, und dann als Reisen nach Rumänien zurück.
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Als theoretische Grundlage dazu wird mit Andrea Polaschegg davon ausgegangen, dass eine deutliche Unterscheidung zwischen dem Gegensatz ,Eigenes’,Anderes’ und dem Gegensatz ,Vertrautes’-,Fremdes’ getroffen werden muss. Erstgenannter bildet eine Dichotomie der „DIFFERENZierung“, deren Bedeutung für die Identitätskonstitution relevant ist, letztgenannter hingegen stellt ,Vertrautes’ und ,Fremdes’ einander gegenüber, bezieht sich dabei auf Prozesse des Verstehens und der „DISTANZierung“ (A. Polaschegg 2005: 45, Hervorhebung im Original). Das Verhältnis des ,Vertrauten’ zum ,Fremden’ ist auch ein Machtverhältnis, eine Beziehung, in der das Subjekt zum als fremd gesehenen Objekt Distanz setzt, während die Andersartigkeit sich weder durch Distanznahme konstituieren noch durch Distanzverminderung verschwinden kann. Denn das ,Eigene’ konstituiert seine Identität, wie es im Falle der Männlichkeit gegenüber der Weiblichkeit ist, aus den Differenzen zum ,Anderen’ (der Weiblichkeit). Der Gegensatz ,Vertrautes’-,Fremdes’ bildet sich hingegen nicht über Identitätskonstitution und Differenz, sondern über die Distanz, die das ,Vertraute’ zum Verstehen des ,Fremden’ setzt. Auch für den Gegensatz ,Vertrautes’-,Fremdes’ eignet sich das Beispiel Männlichkeit gegenüber der Weiblichkeit. Aber ihr Verhälnis bestimmt sich über die Distanz. Darum kann auch das, was ehemals vertraut war, fremd werden. „Das Fremde ist im gleichen Maße Effekt des Verstehens wie sein Ausgangspunkt“ (A. Polaschegg 2005: 44). Was fremd wirkt, kann daher auch vertraut gewesen sein. Polaschegg schreibt, „dass ein distanzierender Blick auf vertraute Dinge sie zu fremden macht und erst diese Fremdheit Erkenntnis im emphatischen Sinne ermöglicht“ (A. Polaschegg 2005: 44). Den Unterschied zwischen den zwei Gegensätzen kann man am besten auffassen, wenn man ihr Verhältnis zur Beweglichkeit zusammenfasst: „Während Verstehensprozesse aufhören, sobald die Distanz zum Fremden stabil bleibt, geraten Identitäten ins Wanken, wenn Differenzen in Bewegung geraten“ (A. Polaschegg 2005: 45). Anders als die Differenz wird die Distanz auch von einer Macht bestimmt, die vom Subjekt oder vom Erzähler ausgehen kann: Die machtvollere Position versteht sich von selbst, die machtschwächere Position, die als erklärungsbedürftig erscheint, muss sich erst verständlich machen. Die Macht, die über Distanz bestimmt, entscheidet, was ,fremd’ und was ,vertraut’ ist: „Eine der Bedingungen für die Möglichkeit, das ,Andere’ trotz deutlicher Differenzen als ,vertraut’ wahrzunehmen, scheint in den Machverhältnissen zu liegen“ (A. Polaschegg 2005: 54). Auch bei Florescu sagt eine Hauptfigur: „Erzählungen sind gefährlich. Wer erzählt, hat Macht“ (C. Florescu 2006: 104).4 Nur wird dies leider nicht weiter 4
Den Gegensatz dazu bildet die Philosophie, die sich keine Geschichten gefallen lassen soll.
Grenze(n) und Grenzgänger in Florescus Rumänien-Romanen
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reflektiert. Und in der Tat wird in seinen Romanen sehr viel über den Glauben der Rumänen an den Teufel und an die Untoten (C. Florescu 2006: 67, 123-127) erzählt. Dieser irgendwie „kolonisierende Blick“ (D. Dondorici 2006) vermittelt ein exotisierendes Bild von Rumänien. Das Verhältnis zwischen ,Vertrautem’ und ,Fremdem’, West- und Osteuropa ist insofern kompliziert, als seine Figuren, die aus Rumänien stammen, seit langem im Westen leben und Rumänienreisen unternehmen, sich zunächst einmal vom Standpunkt der westlichen Kultur aus definieren, und erst im Laufe der Erzählungen, zum einen über die erwachenden Erinnerungen, zum anderen über die Reiseerlebnisse, das ,Fremde’ in den Bereich des ,Vertrauten’ zu rücken versuchen.
2
Zwischen ,Vertrautem’ und ,Fremdem’ – normale Abweichung
Das Verhältnis zwischen ,Vertrautem’ und ,Fremdem’ bei Florescu wird in diesem Beitrag als in einem Grenzbereich von Normalität und Abweichung angesiedelt, aufgefasst. Die Reisen nach Rumänien in Florescus Romanen vermitteln eine Fremdheit, so lautet die These, als normale Abweichung, was sich durch eine Verschiebung der Grenze zwischen ,Vertrautem’ und ,Fremdem’ realisiert. Florescu scheint sich somit als Schriftsteller für „westeuropäische Abwertungsund Exotisierungsdiskurse“ (I.-K. Patrut 2006: 9) des ,Osteuropäisch-Fremden’ entschieden zu haben. Die Quintessenz der Normalität besteht für Jürgen Link darin, „(d)aß du nicht merkst, daß du nichts merkst“ (J. Link 2006: 28). Links Untersuchung, die einem „theoretischen Klärungsbedarf“ des Normalitätsbegriffs (J. Link 2006: 24) entsprungen ist, läuft auf etwas hinaus, dass mit der Beobachtung Ctlin Dorian Florescus über die westliche Welt, so wie er jetzt seine Heimat, die Schweiz, sieht, vergleichbar erscheint. Florescu sagt: Das System ist so geschickt darin, uns zu verführen, uns von uns selbst fernzuhalten, viel raffinierter als der Kommunismus. Der Kommunismus traute dem Menschen nicht, er überwachte ihn. Der eine Teil der Bevölkerung führte Akte über den anderen. Der Kapitalismus moderner Prägung braucht das alles nicht (...). Man folgt von selbst. Er schmiegt sich an einen an und deutet ihm an, er sei sein bester Freund. (L. Trapo 2005)
Gegen diese Leere, die sich auch durch Normalität übersetzen lässt, bekennt sich der Schriftsteller zum Beruf des Erzählers, der „glaubhaft lügen“ (L. Trapo 2005) könne und solle. Im Roman Der blinde Masseur sucht Teodor in Rumänien nach Geschichten und lässt sich von diesen auch gerne verführen. Der
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blinde Masseur, der Besitzer einer Buchhandlung, die „Excelsior“ heißt und dreißigtausend Bücher enthält, die er sich gegen Massagendienste vorlesen lässt, mahnt davor: „Verwechseln Sie Bücher und Realität nicht“ (C. Florescu 2006: 78). Denn er „benutze nur das eine, um das andere zu ändern“ (C. Florescu 2006: 173). Dass die Welt durch Literatur, wenn nicht besser so doch begreiflicher wird, kann man auch als poetologisches Bekenntnis von Florescu selbst verteidigen, zumal er in einem Interview zugibt, er habe für den Blick auf die östliche Welt die Sicht eines Jungen angewendet, da dieser von der Schwere des Gegenstandes Beträchtliches abnehme (Mondini 2009).5 Als der Schriftsteller Martin Walser 1998 einklagte, „die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft“ (M. Walser 1998), wurde eine lange und ihrem Wesen nach beinahe unauflösliche Debatte ausgelöst, denn die Normalität, die er in einer öffentlichen Rede, aber als Schriftsteller, also als Erzähler, der mit ganz anderen Möglichkeiten als Journalisten oder Politiker und andere öffentliche Personen arbeiten, einklagte, war sehr schwer nachvollziehbar. Was er wahrscheinlich versuchte, war eine Grenze zwischen Normalität und Abweichung, zwischen Nicht-Deutschem und Deutschem zu etablieren und aufzuheben. Im Roman Wunderzeit ereignet sich in einem Kapitel, das zum Teil im kommunistisch regierten Rumänien spielt, ein großes Erdbeben, und für eine Weile wird im ganzen Land ein erheblicher Teil der Technik lahmgelegt und stattdessen bricht das Chaos aus. Nachdem die alte Ordnung wiederhergestellt ist und vorwiegend russische Filme ins Fernsehen kommen, die keiner anschaut, sagt der Vater des jungen Erzählers „Willkommen in der Normalität“ (C. Florescu 2005: 196). Die ironisch Normalität genannte Wirklichkeit besteht eigentlich aus einem würdelosen Leben, in dem sich der Staat ins Privatleben der Menschen rücksichtlos einmischt, so dass es sich dann auch unter dieselben Menschen perpetuiert und man niemandem mehr vertrauen kann (C. Florescu 2005: 274). Es könnte sich hier also vielmehr um eine Abweichung handeln. Was der Vater wahrscheinlich sagen möchte, ist willkommen in der gewohnten rumänischen Abweichung. Florescus Romane Wunderzeit (2001), Der kurze Weg nach Hause (2002) und Der blinde Masseur (2006) verbindet das Interesse, Rumänienreisen aus Sicht eines Erzählers, der als junger Schweizer rumänischer Abstammung kenntlich wird, zu beschreiben. Ihr Autor Florescu, geboren im Jahre 1967, kommt ebenfalls aus Rumänien und ist aufgrund einer Muskelkrankheit schon 1976 nach Italien ausgewandert, konnte dann mit dem Vater weiter in die USA reisen, 5
Das Verdienst, auch der rumänischen Literatur einen Dienst erwiesen zu haben, wird ihm deshalb zuerkannt, weil er durch diese Technik dem westlichen kulturell interessierten Publikum den Osten leichter zugänglich mache (T. Radu 2005).
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musste 1977 nach Rumänien zurückkehren, und ist dann 1982 samt Familie endgültig in die Schweiz ausgewandert. Heute zählt seine Schriftstellerbiografie, nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Auszeichnungen6, zu den Erfolgsgeschichten der heutigen freiberuflichen Migrationsschriftsteller deutscher Sprache.
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Die Verweiblichung des Ostens
Was die Romane verbindet, ist die Ambivalenz der Wahrnehmung von Rumänien, das stellvertretend für den Osten steht – eine Ambivalenz, die sich auch der Darstellung der Frauen entnehmen lässt. Einerseits sehen die Erzähler die Demütigung der Menschen im Osten, ihre Würdelosigkeit, die Gewalttätigkeit, die Brutalität gegenüber Behinderung, den Diebstahl, den Betrug und den Antisemitismus.7 Andererseits zeigen seine Erzähler ihre Sehnsucht nach Liebe, nach dem inneren Leben. Die Grenze, die den Osten vom Westen trennt und zugleich verbindet, verschränkt auch Innen und Außen, Erinnerung und Gegenwart, Fiktion und Realität, Weiblichkeit und Männlichkeit. Beim Gegensatz Osten-Westen ist jeder der zwei Begriffe ein „Verhältniswort“ (G. Gebhard et al. 2009). Darum ist auch die Grenze nicht nur eine geographisch-feste Grenze. Der Erzähler des Romans Der blinde Masseur sagt: „Es gab immer etwas, was noch östlicher war und brach lag für einen neuen Samen“ (C. Florescu 2006: 53). Aus dem wäre zu schließen, dass aus dem Westen unter anderem der Samen komme. Dies könnte der Grund sein, warum die weiblichen Figuren der Romane von Florescu eine magische Anziehungskraft auf ihn haben, die nicht selten die Abneigung ihnen gegenüber überlagert. Eine rumänische Frau hat in den Augen des Erzählers vom Roman Der kurze Weg nach Hause „kräftige, breite Ostfüße“, sie ist in ihren Beinen, wenn sie steht, „wie ein Baum in seinen Wurzeln“ (C. Florescu 2002: 184). Über die erste Frau aus dem Osten, eine Ungarin, die, wenn sie sehr wütend auf ihren Geliebten ist, anstatt zu sprechen oder zu streiten, ganz schnell, selbstsicher und mechanisch kocht, beschließt der Ich-Erzähler, sie habe
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Pro Helvetia Stipendium 2001, Hermann Lenz Stipendium 2001, Deutschsprachiges Buch des Jahres der Schweizerischen Schiller Stiftung, Werkjahr der Stadt Zürich 2001, Chamisso Förderpreis der Bayrischen Akademie 2002, Anna Seghers-Preis 2003 für deutschsprachige Literatur, Dienemann Werkbeitrag 2003, Auszeichnung Dresdener Stadtschreiber 2008. Vgl. http://www.florescu.ch/4667.html (21.04.2009) Von der ersten rumänischen Vermieterin aus dem Osten hört der Erzähler: „Die Juden hätten vor dem Krieg gewuchert. Ja, sogar nach dem Krieg ging es denen besser“ (C. Florescu 2002: 93)
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„besser gekocht als geredet“ (C. Florescu 2002: 129).8 Auf den Straßen fällt dem Erzähler auf: Die Frauen hatten dick Schminke aufgetragen, es sollte gegen die Farblosigkeit helfen. Alle hier verhielten sich, wie wenn sie den Verfall nicht sähen. Denn wenn sie ihn wirklich gesehen hätten, wären sie vielleicht tot umgefallen. (C. Florescu 2002: 168)
Über eine Verkäuferin in einer Stadt an der westlichen Grenze Rumäniens, mit der er das Gespräch sucht, denkt der Ich-Erzähler: „Sie hatte ihre Augen in einer amerikanischen Fernsehserie vergessen, und an deren Stelle klafften jetzt Löcher“ (C. Florescu 2002: 169). Im Roman Der blinde Masseur beschreibt Teodor, gleich nach dem Überschreiten der Grenze nach Rumänien, die Aufdringlichkeit einer älteren Frau vom Lande, für ihre Tocher so schnell wie möglich um einen ausländischen Ehemann zu werben (C. Florescu 2006: 22f.). Ferner hört er: „Männervermitteln galt hier als gegensätzliche Hilfe“ (C. Florescu 2006: 27).9 So verbirgt Teodor sein Erstaunen darüber nicht, dass manche Frauen, um nach Westen zu heiraten, „die Schläue eines wilden Tieres, das die Falle umgegangen hat“ (C. Florescu 2006: 148), aufweisen. Ebenso merkt Teodor an der Stimme der schönen rumänischen Bäuerin Elena, die vorlese, sich dabei aber nicht über den literarischen Text hinwegsetze und diesen auch nicht bedränge, „dass sie durch viele Bücher gewandert war“ (C. Florescu 2006: 108). Diese Achse, deren Endpunkte das wilde Tier und die belesene Bäuerin sind, die zugleich als Koordinate, auf der sich die Formen des Ostens entfalten, lesbar wird, setzt eine Distanz zwischen der ,Vertrautheit’ des westlichen Mannes und der östlich-weiblichen ,Fremdheit’. Zum ehemals Vertrauten sucht der Mann jedoch jetzt Nähe.
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Unterwegs: „Der Weg durch die Haut“
Nicht nur die Reise in Richtung Osten wird als eine sinnliche Erfahrung eines Mannes und als Annäherung an eine Frau geschildert. Auch die Frage der Mobilität vom Osten in Richtung Westen scheint in der Erinnerung des Erzählers die Männlichkeit von der Weiblichkeit ebenfalls zu unterscheiden. Im Roman Der 8 9
Der Erzähler vermisst an der östlichen Frau das diplomatische Geschick und kritisiert sie, indem er über sie auch sagt, ihr „Ton hätte vernichten können“ (C. Florescu 2002: 132). Teodor lernt die Erotik einer prostituierten Frau kennen, die bei sich zu Hause für ihre Kunden Zwiebel röstet und diese ihnen mit Speck und Brot zum Essen serviert. Diese Erotik wird vom Erzähler als ambivalent empfunden, wenn die Fliegen sich nicht entscheiden können, wo sie besser verweilen, auf dem Speck oder auf dem nackten Frauenkörper (C. Florescu 2006: 193).
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blinde Masseur kauft sich die dreiköpfige Familie vor der Flucht aus Rumänien „drei gute Paar Schuhe“ (C. Florescu 2006: 32). Auf der Flucht hat die Mutter Schmerzen nach dem langen Marsch, „ihre Fluchtschuhe quälten sie“ (C. Florescu 2006: 47), und sie muss vom Vater getragen werden. Im Falle der Fortbewegung des Vaters10 hingegen wird nicht nur ein Schuhpflegeritual, sondern auch ein zauberhaftes Ritual des Schuhanziehens beschrieben, das ins „Mannsein“ (C. Florescu 2006: 95) einführen könne. Alin, der die Hauptfigur und der Erzähler des Romans Wunderzeit ist, erzählt über seinen Vater, mit dem er die erste Reise in den Westen gemacht hat: Mit dem Schuhlöffel in der Hand bezwang Vater jeden Schuh. Er setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete die Schuhe, die er parallel zueinander vor seine Füße hingestellt hatte. Er schien ihnen zu sagen: „Und jetzt zu euch“, so wie immer der Hexer zu den verängstigten Besuchern spricht, nachdem er im Topf die Zauberbrühe umgerührt hat. Dann packte Vater den Schuhlöffel, der in seiner Hand glänzte wie ein Zauberstab, und ich dachte, die Schuhe würden gleich davonspringen. (...) Danach ein kurzes Hinundherschaukeln, Aufstehen und schnelles Stampfen. Bei Bedarf auch einige Schritte gehen. Ich schaute zu und dachte, so zu schaukeln, zu stampfen und zu gehen gehöre zum Mannsein. (C. Florescu 2005: 95)11
An der Thematisierung der Schuhpflege kann aufgezeigt werden, wie der Erzähler versucht, nach einer Lektürestrecke von 250 Seiten die Distanz zwischen dem ,Fremden’ und dem (ehemals) ,Vertrauten’ geringer zu machen: Am Anfang des Romans wird vom Erzähler Teodor ein rumänischer Pope vom Land per Anhalter mitgenommen. Der Erzähler wirft einen abwertenden ironisierenden Blick darauf, wie der Pope auf seinem Weg zu einer Beerdigung – um besser auftreten zu können – die Schuhe mit seiner eigenen Spucke und mit seinem Ärmel poliert (C. Florescu 2006: 6). Gegen Ende des Romans, wenn sich der Ausgang der Geschichte abzeichnet, nämlich dass Teodor in Rumänien bleiben muss, wird das Polieren mit der Spucke keine fremde Lösung für schmutzige Schuhe mehr sein. Wenn Teodors Jugendliebe ihn in dem abgeschiedenen Dorf besuchen kommt, trägt sie ihre besten Schuhe, und weil diese schmutzig werden, spuckt Teodor in ein Stück Stoff und poliert ihre Schuhe (C. Florescu 2006: 257). Damit
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Dem „wundervollen“ (C. Florescu 2005: 5) Vater ist auch der erste Roman Wunderzeit gewidmet. Der Vater scheint dem jungen Sohn die Ehrfurcht vor der Schuhpflege einzuflößen, denn er erzählt dem jungen Sohn, ebenfalls an einer Zeitgrenze, wenn sie ihre Reise in die USA beginnen, über seinen Ausbruch vom bäuerlichen Elternhaus, als die Behandlung seiner Füße ein einmaliges Ritual – das Ritual der Vorbereitung auf das Erwachsenenleben – war (vgl. C. Florescu 2005: 103).
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versucht der Erzähler die Distanz gegenüber dem ,Fremden’, die Gewohnheit, das Schuhputzmittel durch Spucke zu ersetzen, zu vermindern. Auch wenn es Stellen gibt, die eine Verminderung der Distanz bewirken, so bleiben diese doch nur Randerscheinungen. Der Blick auf den Stellenwert, den die Schuhe als Wahrzeichen eines besseren Lebens für Rumänen einzunehmen scheinen, kommt häufiger vor. Sorin, einer der vier Philosophie- und LiteraturLehrlinge des blinden Masseurs, möchte ein Schuhgeschäft übernehmen, aber der blinde Masseur spottet über ihn, er stehe „in den Schuhen des Italieners“ (C. Florescu 2006: 244). In diesem italienischen Schuhgeschäft in Rumänien beobachtet der Erzähler Theodor Moldovan bei den rumänischen Frauen Folgendes: Bei manchen hatte man das Gefühl, dass ihre Schuhe mehr als nur das Gewicht ihres Körpers tragen mussten, nämlich das Gewicht eines ganzen bankrotten Lebens. Solche Schuhe klebten am Boden, als ob man in den Schuhsohlen Magnete eingebaut hätte. Andere wiederum schienen mit ihren Schuhen über den Boden zu schweben, als ob sich auf ihre Schultern noch keine Last gelegt hätte. (C. Florescu 2006: 246)
Für Frauen aus Rumänien, seien sie schwerfällige oder leichtfüßige, erscheinen die Schuhe als sehr wichtig. Entscheidend ist aber, dass diese Frauen von den Schuhen beherrscht werden, während die Männer, soweit sie sich überhaupt für Schuhe interessieren, diese zauberhaft beherrschen können (C. Florescu 2005: 95; 2006: 247). Über das Unterwegs-Sein auf dem Lebensweg sagt sowohl der Erzähler des Romans Der blinde Masseur (C. Florescu 2006: 215f.) als auch der Autor Florescu selbst, die Lektüre von Emil Cioran, der den Menschen übermitteln wollte, dass zu leben, sich zu vermindern bedeute, würde bei ihnen ins Gegenteil gekehrt: Sie möchten gerade eben stets dagegen kämpfen, dass man sich vermindere (vgl. C. Marinescu 2007).12 Dieser Kampf gegen die Selbstverminderung geht aber leider – durch den erzählerischen Blick und die damit geschaffene Distanz – auf Kosten einer Verkürzung des ,Fremden’.
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Zwischen Realität und Fiktion
Die Schuhe sind in den Augen des Erzählers für Rumänen Wahrzeichen eines besseren Lebens. Auch sich selbst ironisiert der Erzähler durch die Schuhe, die zur Chiffre für die Evolution avancieren: Die filmische Kultszene aus dem Film 12
Anders als Florescu argumentiert beispielsweise Herta Müller in ihrem Bilderpoem wo fährt das Auto aus dem Collagenband Die blassen Herren mit den Mokkatassen, dass man sich unterwegs verliere und vermindere: „einmal ging ich unterwegs verloren/ einmal kam ich an wo ich nicht war“ (2005). Auch Ruth Klüger handelt in ihrem Erinnerungsbuch unterwegs verloren (2008), dem sie als Motto Müllers Collagenausschnitt voranstellt, dieselbe Problematik ab.
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2001: A Space Odyssey, in der ein Uraffe einen Knochen nach oben wirft und dieser nach einigen Wendungen als Raumschiff zurückkehrt, wird im Roman Der kurze Weg nach Hause intermedial eingesetzt. Die Filmszene, die den Uraffen den Knochen in die Hand nehmen, ihn werfen und als Raumschiff zurückkehren lässt, möchte der Reisende selbstironisch auf sich beziehen. Anhand der Schuhe einige Evolutionsstufen weiterkommen zu wollen, soll ihn lächerlich machen: Ich nahm einen Schuh in die Hand und warf ihn in die Luft. Auf der Höhe des Mondes überdeckte er diesen. Ich dachte, jetzt verwandle er sich in ein Raumschiff. So wie beim schönsten Szenenübergang im Film, den Luca und ich kannten. Als einem Uraffen ein Knochen aus der Hand gleitet, steigt dieser hoch, dreht sich und kurz bevor er hinunterfällt, wird er zu einem im Weltraum schwebenden Raumschiff. Aus dem Uraffen wurde ein zivilisierter Mensch. Und damit hatte die Handlung Millionen von Jahren übersprungen. Mein Schuh kehrte als Schuh zur Erde zurück. (...) Der Affe hätte mich ausgelacht. (C. Florescu 2002: 89)
Die entscheidende Differenz zu dem, was Schuhe ihm, und dem, was sie den rumänischen Frauen zu bedeuten scheinen, besteht darin, dass letztgenannte durch ihren Ernst um die Schuhe viel naiver erscheinen. Indem der Erzähler selbst zwischen Realität und Fiktion pendelt, setzt er die Schuhe zum Spielzeug herab. Florescu sagt auch selbst von sich, dass er Literatur möge und das Kino liebe: „Meine Bücher sind sehr filmisch“ (L. Trapo 2009). Auch der Erzähler des Romans Der blinde Masseur ist in der Schweiz ein leidenschaftlicher Kinobesucher, der sich Filmszenen sehr gut merken kann. Er ist also stets mit einer Art parallel laufenden Wirklichkeit unterwegs und kann das, was ihm zustößt, immer wieder mit Filmszenen unmittelbar vergleichen. Die Anführung von Szenen aus zahlreichen Filmen während seiner Rumänienreisen führt zu einer Verfremdung. In der Schlussszene des Romans Wunderzeit, wenn die Familie mit dem Auto die westliche Grenze Rumäniens überquert, also in den Westen fliehen möchte, will der Grenzoffizier einen genauen Blick auf den muskelkranken Jungen werfen, der ja auch der Hauptgrund der Ausreise seiner Familie ist. Der Offizier: „Na, was hat denn euer Junge“, fragt er nach kurzer Zeit. „Alin, komm doch heraus und begrüße den Herrn.“ Das ist der Augenblick, wo ich in Aktion trete. Wie im Film. Ich mache die Tür auf und schiebe die Beine nach draußen. In den Werbefilmen, in Italien, tun das Frauen mit tollen Beinen, und dann wird die Marke der Seidenstrümpfe eingeblendet. Ich
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Ana-Maria Palimariu weiß, daß bei mir die Schuhe auffallen müssen, also lasse ich mir viel Zeit mit dem Aussteigen. (C. Florescu 2005: 281f., Hervorhebung A. P.)13
Auch nach vielen Jahren vom Leben im Westen bleibt Teodor Moldovan, der Erzähler des Romans Der blinde Masseur, gleich unersättlich gegenüber Geschichten, die nun oft auch von Erinnerungen an die Vergangenheit abgelöst werden. Er geht, so oft er nur kann, ins Kino, und sieht die bereits bekannten Filme auf seinen Reisen in Paris, London und Tokio auf Französisch, Englisch und Japanisch. Mediale Referenzen kommen so häufiger vor, so wie auch durch den Schutzumschlag des Romans Wunderzeit, auf dem der obenstehende Osten vom untenstehenden Westen durch persönlich aussehende Fotografien getrennt und zugleich miteinander verschränkt werden. Das Spiel mit dem Fotografischen ist auch im Roman Der kurze Weg nach Hause selbst eine Rettung. Das Fotografieren hilft gegen die Angst vor der Brutalität, dem Unvermittelten, vor dem Verfall und vor dem Tod. Der italienische Freund und Mitreisende Luca fotografiert dauernd, wenn er mit Unerträglichem konfrontiert wird, man könnte auch sagen, er stellt zwischen sich und das Unerträgliche die Fotokamera. Auch die Hauptfigur aus dem Roman Der kurze Weg nach Hause denkt, selbst bei den intensivsten Erlebnissen in Ungarn und Rumänien, an Szenen aus klassischen Filmen. An der östlichen Grenze Rumäniens angelangt, an der Schwarzmeerküste, also auch an der Grenze zwischen Wasser und Festland, am Ende der Rumänienreise, schließlich am Ende des Romans und, durch die Reiseereignisse bedingt, auch an einer wichtigen Station seiner Freundschaft mit dem Italiener Luca, erzählt die Hauptfigur: Durch das offene Fenster im Treppenhaus höre ich Luca: „Und was soll ich jetzt tun?“ Ich lehne mich hinaus und rufe ihm zu: „Offen gesagt, ist mir das gleichgültig! Vom Winde verweht. 1939. Welterfolg.“ (C. Florescu 2002: 243; vgl. auch 224, Hervorhebungen C. F.)
Die schauspielerische Selbststilisierung setzt auch eine ironisierende Distanz zwischen den Protagonisten und alle anderen Figuren. Durch die Vergleiche der Selbstmordversuche, die in der Schweiz und in Rumänien begangen werden, mag vielleicht der Erzähler im Blick haben, einen Ausgleich zu erreichen. Dennoch sind alle dargestellten Gründe, die sein „sicher(es)“ Leben, sobald er in Rumänien ist, in Gefahr bringen, nur Diebe und Betrüger. Dies könnte den Leser darauf schließen lassen, dass man in Rumänien 13
Die Szene zeigt zugleich den bewussten Verrat an einer unmenschlichen Diktatur durch sogenannte Staatsmenschen oder Stasis. Dass hier der Erzähler eine Sympathie für den Grenzoffizier hat, wird auch daran deutlich gemacht, dass die Hauptfigur des fünf Jahre später erschienenen Romans Der blinde Massseur, denselben Namen, Moldovan, haben wird.
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gar nicht darüber hinweg sei, sich um etwas anderes als um die nackte Existenz zu kümmern.
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Zwischen dem „sicheren“ Leben und der Todesgefahr
Teodor Moldovan, der junge Schweizer Vertreter eines großen Versicherungsunternehmens, sagt am Anfang des Romans Der blinde Masseur überzeugt von sich selbst: „Ich verkaufe Sicherheit“ (C. Florescu 2006: 7). Am Schluss des Romans wird er durch den Betrug seiner neuen rumänischen Freunde „restlos auf die nackte Existenz reduziert“ (C. Linsmayer 2006: 19). Für seinen Beruf, Drehtüren und Sicherheitsschleusen zu verkaufen, die einen auch wirklich „sicher“ machen, so seine Einschätzung, habe er „Grenzen (...) überschreiten“ (C. Florescu 2006: 173) müssen. Also markiert die Tür für ihn nicht nur physisch eine Grenze. Sobald er in Rumänien ankommt, wird er mit der Misere und mit der Allgegenwart des Todes konfrontiert. Jedoch bleibt diese befremdende Beobachtung nicht als Gegensatz zur westlichen Welt stehen. Denn Teodor erinnert sich zugleich auch daran, dass es in Bern einen Fluss gibt, die Aare, wo aufgrund der zahlreichen Selbstmörder Netze aufgespannt werden mussten. Der Tod lauert also in der Schweiz nicht weniger als in Rumänien, nur kümmert man sich dort um die Menschen mehr als im Osten (C. Florescu 2006: 163). Aus der Sicht einer rumänischen Bekannten wirkt das, was etwas Normales ist, als Abweichung. Der Schweizer Teodor hingegen sieht die Kontraste zwischen Leben und Verfall in beiden Ländern, in Rumänien die Säufer, in der Schweiz die Drogensüchtigen. Und auch wenn Teodor Sicherheit verkauft, so hat er doch, laut seiner Erzählung, mehrere Selbstmordversuche begangen. Er gesteht auch dem blinden Masseur: „Manchmal schließe ich die Augen beim Fahren und will schauen, wie weit ich komme” (C. Florescu 2006: 6, 215). Auch der rumänische blinde Masseur will versucht haben, sich zu erhängen, aber der Ast sei, so wie Becketts Wartende auf Godot es bei ihrem Selbstmordgedanken befürchten, abgebrochen (vgl. C. Florescu 2006: 216).
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Zwischen Innen und Außen
Der blinde Masseur, der schon sehr lange nichts mehr sieht und mit Teodor an einer gewalttätigen Szene vorbeiläuft, die Teodor gar nicht ansehen will, sagt zu ihm: „Hinschauen ist wichtig. Man soll niemals wegschauen. Der beste Schriftsteller ist nichts anderes als ein guter Zuschauer“ (C. Florescu 2006: 120). Mit der Persönlichkeit des Masseurs konfrontiert, könnte man Teodors Dilemma
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folgenderweise formulieren: Was ist im Leben und überhaupt fürs eigene Glück wichtiger, Geist oder Materie/Körper, anders gesagt: Innen oder Außen? (vgl. C. Florescu 2006: 173) Für das Äußere, genauer gesagt für seinen Beruf, Drehtüren und Schleusen zu verkaufen, hat Teodor bereits Erfolg erzielt. Jedoch ist er nach Rumänien gegangen und sucht nach etwas, was er selbst nicht definieren kann. Seine Überzeugung, dass hinter seinen Türen ein sicheres Leben sei, verwandelt sich im Laufe des Romans: Gibt es für ihn anfangs eine feste Grenze zwischen dem unsicheren und dem sicheren Leben, betrachtet er anfangs die Bücher, die im Leben des blinden Masseurs das Wichtigste zu sein scheinen, als eine sehr unsichere Grenze, die keine Misere abzuschirmen vermögen, und sind für ihn insgesamt die exotischen, um den blinden Masseur kreisenden rumänischen Philosophen „(a)lles Blinde“ (C. Florescu 2006: 173f.), so nimmt er am Ende den Platz des blinden Masseurs ein.14 Mit der Blindheit scheint auch eine andere Figur bei Florescu konfrontiert worden zu sein: Alin aus dem Roman Wunderzeit erfährt über seinen Großvater: „Als Blinder sah er vielleicht besser als wir. (...) als Großvater erblindete, da fuhr er in die Schweiz (...) und lernte in Dornach die Anthroposophie kennen“ (C. Florescu 2005: 44).
Er wollte in der Schweiz nach Hilfe suchen, und fand sehr bald heraus: „Aber auch in der Schweiz erblindete man wie überall, und er kehrte heim“ (C. Florescu 2005: 255). Die ausschließlich über das Sehvermögen laufende Kommunikation scheint Florescu sehr zu interessieren, denn auch ein Sprechen erfolgte im kommunistischen Rumänien unmittelbar vor der Flucht, als die Angst davor, abgehört zu werden, am größten war, dank des Sehvermögens: „Mutter und ich sprachen die meiste Zeit nur mit Blicken, und das war schon genug“ (C. Florescu 2006: 33). Sprechen „mit den Augen“ (Florescu 2002: 158), sehen mit dem Herzen – die Sinne werden synästhetisch verwendet. Für den Roman Der kurze Weg nach Hause hat sich Florescu, wie er selbst sagt, auch von Herta Müllers Technik inspirieren lassen (B. Romaniuc 2007). Auch bei Herta Müller ist zwar das Hören eine Angelegenheit der Augen: „Wir horchten mehr mit den Augen als mit den Ohren“ (H. Müller 2003: 74) – erinnert sich Herta Müller an ihre erste Erfahrung über die Nowendigkeit des Schweigens, nämlich in der Kindheit ihres banatschwäbischen Minderheitendorfes. 14
Der Name des blinden Masseurs, Ion Palatinus (C. Florescu 2006: 67), bedeutet im Rumänischen mindestens zweierlei: Auf der einen Seite war palatin ein Titel, mit dem ein großer Landesherr im Mittelalter in Europa angeredet wurde oder ein Mann, der bestimmte Ämter am Hof oder im Palast eines Königs inne hatte; auf der anderen Seite bedeutet palatin Gaumen. Ferner ist auch der Vorname Ion die rumänische Übersetzung von Johannes. Vielleicht darum entschließt sich Teodor dazu, seinen Anzug abzulegen und Ions abgetragene Kleider anzuziehen.
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Jedoch erinnert sich die Autorin Herta Müller nach dem Schweigen der banatschwäbischen Kindheit, in der die Familienmitglieder ihr Leid mit sich stumm umhertragen, an das Schweigen im Stadtleben der rumänischen kommunistischen Diktatur: „In jeder Sprache, das heißt in jeder Art des Sprechens sitzen andere Augen“ (H. Müller 2003: 39). Damit verzichtet sie sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen auf die Heimat. Auf die Frage, was für ihn Heimat sei, antwortet Florescu, der sich von Herta Müller inspirieren lassen will, leider doch sehr unreflektiert15, dass für einen Schriftsteller das Zuhause die Sprache, die er spreche, also Rumänisch sei (A. Mondini 2009). Anders als die aus dem Westen, vermögen die aus dem Osten Kommenden nicht zu sprechen, so wie der Erzähler glaubhaft zu machen versucht. Sein Blick auf die Menschen aus Ungarn registriert „Menschen, die einen von oben bis unten musterten und fragend anschauten oder so anschauten, daß man sich fürchten mußte” (C. Florescu 2002: 78). Über die Menschen aus Rumänien schreibt er: „Auch sie (...) sprachen mit den Augen“ (C. Florescu 2002: 158), wodurch er nicht nur ihre Stummheit exotisiert; die Veranschaulichung der ,tierähnlichen’ Menschen aus dem Osten dient ihm auch dazu, zu sich selbst als Grenz(en)gänger, der für alles eine ästhetische Sprache zu finden vermag, exotische Kontrastfiguren zu etablieren.
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Die Würde
Die am Anfang gestellte Frage war, was wohl den Osten vom Westen in Florescus Darstellung unterscheide, findet er doch sowohl hier als auch dort kontrastreiche Beispiele, um einer Polarität entgegenzuarbeiten. Was die Romane Florescus ferner verbindet (z. B. C. Florescu 2002: 9), ist, wie er auch in einem Interview zugibt (A. Mondini 2009), der Wunsch nach Würde. Der Blick auf die Menschen aus dem Osten ist sehr analytisch und kritisch bis hin zum Ironischen:
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Herta Müller kritisiert die unreflektierte Redeweise vieler Autorinnen und Autoren, die von sich behaupten, dass die Sprache ihre Heimat sei. Ihre Präzisierung hingegen zielt darauf ab, dass so etwas wie eine Sprache an sich keine Heimat sein kann, sondern nur die vom Autor in der Tat verwendete und verwendbare Sprache. Vor allem das Gegenbeispiel der Emigranten, die ihre Heimat verlassen müssen und nur noch die Sprache mitnehmen können, dient Herta Müller als Argument: die mitgenommene Muttersprache als tragbare Heimat kann leider nicht alles wettmachen. Denn kann – fragt sich Herta Müller – die Muttersprache, die alle Gründe für die Auswanderung der Emigranten eines Landes nennt, noch Heimat sein? Oder ist nicht vielmehr das, was der Emigrant (vielleicht erst nach seiner Auswanderung) sprechen kann und darf, eine Heimat? Herta Müller schlussfolgert, Jorge Semprún zitierend, „Im Grunde ist meine Heimat nicht die Sprache, wie für die meisten Schriftsteller, sondern das, was gesprochen wird.“ (H. Müller 2003: 30).
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Ana-Maria Palimariu So waren sie alle gewesen, die Erwachsenen meiner Kindheit. So wie Gábor. Immer zu zweit: Sie selbst und die Verhältnisse. Sie waren immer atemlos gewesen, wach und gespannt. Immer auf der Suche nach den noch besseren Beziehungen, die ihnen helfen konnten. Oder nach den fremden Ohren in der eigenen Wohnung. Aufbegehren geschah hinter vorgehaltener Hand. Flüsternd. Die einzige Herausforderung war, Angst und Brot unter einen Hut zu bringen. (C. Florescu 2002: 87)
Er suggeriert auch eine Unsensibilität der Rumänen in der Kommunikation mit seinen ehemaligen Landsleuten. Die Gespräche mit den Rumänen gleiten schnell in eine Art Betteln von Seiten der Letzteren. Die Menschen erscheinen als auf sich selbst zentriert, als verfügten sie über kein Einfühlungsvermögen und wollten ihn nur aufbinden. Die Ambivalenz zwischen verfolgtem Beutetier und Raubtier scheint auch hier wieder vorzukommen. Andererseits zeigt der Erzähler an anderen Stellen im Roman Wunderzeit auch die Gründe für dieses Benehmen mit Belegen aus der eigenen Geschichte. In Amerika musste der Vater hin und wieder stehlen. Wenn er mit der gemeinsamen Familie zu Hause davon erzählt, vergleicht man das gerne damit, wie die arbeitenden Rumänen aus sozialistischen Fabriken, wo ihre Arbeitsstelle war, Güter entwenden: (A)lle vom Arbeiter bis zum Direktor. Man trägt die Ware einfach hinaus. Nur nicht so auffällig. Und ganz ohne Schuldgefühle. Es gehört zur Kultur. Zur Lebensanschauung. Ohne Angst. Wie ein persönliches Recht. Stehlen von Volksvermögen als persönliches Recht. (C. Florescu 2005: 182)
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Normale Abweichung und ,Fremdheit’
Auch wenn der Autor Florescu sich sehr stark von seiner Figur des blinden Masseurs abgrenzt (B. Romaniuc 2007), durch die er ohnehin ein sehr verkürztes Rumänienbild vermittelt, möchte sich Florescu der Würdelosigkeit der Menschen in Rumänien annehmen, indem er diejenige öffentliche Meinung kritisiert, die der rumänischen Gesellschaft Gesundheit zuweist. Er ist hingegen der Meinung, dass die rumänische Gesellschaft nicht gesund sei. Rumänien wird als Land geschildert, in dem noch an den „Teufel“ geglaubt wird und in dem selbst die Zivilisation mit dem „Teufel“ gleichzusetzen sei (C. Florescu 2006: 103, 109, 252). Was Florescu wahrscheinlich möchte, ist, durch seine Geschichten, die ihren Quell im Osten haben und die Abweichungen glaubhaft zu machen versuchen, für den Osten eine Würde als Normalität (zurück)erobern. Dies gelingt ihm aber nur deshalb nicht so gut, weil er ein verkürztes Bild über Rumänien konstruiert: Was als (vielleicht auch ehemals) vertraut hätte dargestellt werden kön-
Grenze(n) und Grenzgänger in Florescus Rumänien-Romanen
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nen, wird nur am Rande dargestellt. Was dabei vermittelt wird, ist jedoch weniger als Normalität, nämlich nur eine normale Abweichung, die aus der Verschiebung der Grenze zwischen ,Vertrautem’ und ,Fremdem’ entsteht. Literatur Dondorici, Iulia (2006): Un roman pe jumtate reu¡it. In: Observatorul cultural 334. August 2006. http://www.observatorcultural.ro/Un-roman-pe-jumatate-reusit*articleID_15968, articles_details.html. (21.04.2009) Florescu, Ctlin Dorian (2005): Wunderzeit. München/ Zürich: Pendo. Florescu, Ctlin Dorian (2002): Der kurze Weg nach Hause. München/ Zürich: Pendo. Florescu, Ctlin Dorian (2006): Der blinde Masseur. München/ Zürich: Pendo. Florescu, Ctlin Dorian (2008): Zaira. München: Beck. Gebhard, Gunther/ Geisler, Oliver/ Schröter, Steffen: „Das Prinzip ‚Osten’“. http://www.forumjungewissenschaft.de/cfp.htm, (21.04.2009) Klüger, Ruth (2008): unterwegs verloren. Wien: Paul Zsolnay. Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Linsmayer, Charles: „Wer erzählt, hat Macht!” In seinem neuen Roman zeichnet Catalin Dorian Florescu das Bild eines verführerischen literarischen Scharlatans. In: Bund 10.04.2006. S. 19. Marinescu, Ciprian: Interview mit Ctlin Dorian Florescu „Razvratirea imi da energie sa fac literatura”/ „Die Auflehung gibt mir die Energie, Literatur zu schreiben”. In: Ziarul financiar, (15.06.2007). http://www.zf.ro/ziarul-de-duminica/razvratirea-imi-da-energie-sa-fac-literatura3081432/, (21.04.2009) Mondini, Alina: Interview mit Catalin Dorian Florescu. http://www.casa-romanilor.ch/alina_mondini_interviu_cdflorescu_9.htm, (23.06.2009) Müller, Herta (2003): Der König verneigt sich und tötet, München: Carl Hanser. Müller, Herta (2003a): In jeder Sprache sitzen andere Augen. In: Müller (2003): 7-39. Müller, Herta (2003b): Wenn wir schweigen, werden wir unangenehm – wenn wir reden, werden wir lächerlich. In: Müller (2003): 74-105. Müller, Herta (2005): Die weißen Herren mit den Mokkatassen. München: Carl Hanser. Patrut, Iulia-Karin (2006): Schwarze Schwester - Teufelsjunge. Ethnizität und Geschlecht bei Paul Celan und Herta Müller (Reihe Literatur-Kultur-Geschlecht, hg. von Inge Stephan und Sigrid Weigel). Köln/ Weimar/ Wien: Böhlau. Polaschegg, Andrea (2005): Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert (Reihe: Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte). Berlin: Walter de Gruyter. Radu, Tania (2005): Gaurile Cortinei de Fier/ Die Löcher des Eisernen Vorhangs. In: Revista 22, Editia Scrisa, (20.05.2005) http://www.revista22.ro/gaurile-cortinei-de-fier-1743.html, 21.04.2009. Romaniuc, Bogdan: Valea orbilor, cu un interviu acordat de Ctlin Dorian Florescu intitulat: „Sint un calator intre lumi, un drumet cu putine certitudini“ / Das Blindental, mit anschließendem Interview mit Ctlin Dorian Florescu betitelt: „Ich bin ein Reisender zwischen den Welten mit wenigen Gewissheiten“. In: Suplimentul 150.2007.20-26 . http://www.supliment.polirom.ro/article.aspx?article=2443, (21.04.2009) Trapo, Lengua de: Interview mit Ctlin Dorian Florescu: (2005): Viel raffinierter als der Kommunismus. Interview mit Ctlin Dorian Florescu, in: Aurora. Magazin für Kultur, Wissen und Gesellschaft.http://www.aurora-magazin.at/gesellschaft/rum_florescu_masseur_frm.htm. (21.04.2009)
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Ana-Maria Palimariu
Walser, Martin: Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11. Oktober 1998. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, In: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/WegeInDieGegenwart_rede WalserZumFriedenspreis/m(06.04.2009)
Der Fremde als Abweichung vom Normalen – Zur Konstruktion des Fremden am Beispiel von Reiseberichten von Ryszard Kapuciski Agnieszka Vojta Aber das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde. Friedrich Hölderlin
„Ich betrachte mich als Erforscher des Anderen – anderer Kulturen, anderer Denkweisen, anderer Verhaltensweisen“ (R. Kapuciski 2000: 36)1 – sagte Ryszard Kapuciski2 von sich selber, und fokussiert damit die Themen seiner Reportagen und Reiseberichte. Als langjähriger Korrespondent der polnischen Nachrichtenagentur PAP in Afrika und Südamerika, berichtete er aus Ländern, die in dem damals sozialistischen Polen als fern, exotisch, auf jeden Fall „anders“ wahrgenommen wurden. Ryszard Kapuciski verstand sich als „Übersetzer der Kulturen“ (R. Kapuciski 1997: 2). Sein journalistisches und literarisches Werk ist ein Plädoyer für Offenheit und Neugier gegenüber dem Anderen.
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Reisen
Reisen und die damit verbundenen Reisebeschreibungen beinhalten immer auch die Selbstdarstellung der jeweiligen Ausgangskultur bzw. Gesellschaft. Das Eigene wird im Spiegel des Fremden wahrgenommen und reflektiert. Das Eigene wird in Abgrenzung zum Fremden konstruiert: „Der Fremde entsteht, wenn in mir das Bewußtsein meiner Differenz auftaucht“ (J. Kristeva 1990: 11). Reisen bedeutet somit Differenz herstellen: Die Fremde dient dabei der Abgrenzung vom Eigenen und wird zum Ort, an dem das reisende Subjekt über sich selbst und seine Welt nachdenken kann. So besteht Reisen gleichermaßen aus Selbstund Fremdwahrnehmung. Die Kriterien für die verschiedenen Wahrnehmungen können sich überlappen und widersprechen. Die Konstruktionen der Fremde und 1 2
Alle Zitate von Ryszard Kapuciski in der deutschen Übersetzung von Martin Pollack. Geboren 1932 in Ostpolen (heute Weißrussland), Journalist, danach Korrespondent, später freier Schriftsteller. Reisen um die Welt, Schwerpunkte Afrika, Lateinamerika, Sowjetunion; er schrieb Reportagen, dann längere literarische Reportagen, Gedichte, Essays; er wurde „Reporter des Jahrhunderts“ genannt. Er starb am 23. Januar 2006.
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des Selbst bedingen sich in diesem Prozess gegenseitig. Das Fremde ist in der reisenden Wahrnehmung das Nicht-Eigene, die Abweichung vom Normalen; es kann nur zusammen mit dem Selbst gedacht und durch Abgrenzung (Ein- und Ausgrenzung) definiert werden. Reisen ist eine Form des Kulturkontaktes, bei dem die individuelle Persönlichkeit der Reisenden eine gewichtige Rolle übernimmt. Das Selbst ist im Kontext der Reise vor allem durch soziale und kulturelle Faktoren (Geschlecht, kulturelle Identität, Herkunft) und Einstellungen bestimmt, und muss in der Fremde einen Umgang mit kultureller Differenz finden. Wie dieser gestaltet wird, hängt von der Interaktion zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung ab. Homi Bhabha betont das Prozessuale der Differenz: (D)ifferences are not simply given to experience through an already authenticated cultural tradition; they are the signs of the emergence of community envisaged as a project – at once a vision and a construction – that takes you beyond yourself in order to return, in a spirit of revision and reconstruction, to the political conditions of the present. (H. K. Bhabha 1994: 3).
Die kulturelle Differenz ist ein Grenz- bzw. Schwellenphänomen, weil sie an der Grenze, im Moment der Begegnung stattfindet. Die Differenz ist ‚das Dritte’ und löst die Binarität von Fremdem und Eigenem auf. Ortfried Schäffter unterscheidet in seiner Studie verschiedene Modi des Fremderlebens (O. Schäffter 1991): Fremdheit als Beziehungsverhältnis, als Unterscheidung, als Resonanzboden des Eigenen, als Gegenbild und als Ergänzung. Im Hinblick auf das Werk von Ryszard Kapuciski sollte man ergänzen: Fremdheit als Begegnung. Als Begegnung mit einer anderen Kultur, einem anderen Menschen und dadurch mit dem eigenen Ich. Kapuciski, der stark von Lévinas beeinflusst wurde, suchte den Anderen, um sich selber zu begegnen. Sein Lob des Anderen resultierte aus der Überzeugung, dass die Begegnung mit dem Anderen eine neue, tiefe Dimension des Ichs eröffnet.
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Reportagen
In der Reportage ist der Mensch als berichtendes, teilnehmendes Subjekt und zugleich als Thema/ Objekt im Mittelpunkt. Die Subjektivität wird hier zum zentralen Kriterium. So behauptete Kapuciski: Die Identifikation ist eine unverzichtbare Bedingung für meine Arbeit. Ich muß unter den Menschen leben, mit ihnen essen und hungern. Ich möchte zu einem Teil der Welt werden, die ich beschreibe, muß eintauchen in sie und jede andere Wirklichkeit vergessen. (R. Kapuciski 2000: 53)
Der Fremde als Abweichung vom Normalen bei Ryszard Kapuciski
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Kapuciski hat seine Texte nicht nur recherchiert und erzählt, er hat sie erlebt. Im Zentrum seiner Reportagen stand der Mensch; seine journalistische Tätigkeit war von folgendem Prinzip geleitet: Das Prinzip aller erfolgreicher Medien lautet: Wenn du eine Geschichte erzählst, dann überlege dir, welche Menschen in ihr eine Rolle spielen! Reportagen sind ohne Menschen nicht denkbar (W. Schneider/ P.-J. Raue 1996: 120).
Die Autoren und Autorinnen einer Reisereportage handeln nicht nur durch ihre Reise, sondern auch durch ihr (öffentliches) Schreiben. Da Texte Exponenten von ganz bestimmten Kommunikationshandlungen sind, die in dem Fall von medialen Rahmenbedingungen bestimmt werden, lässt sich folgendes Modell aufstellen: Die Redaktion fungiert als Redner-Instanz, der Autor ist der Kommunikator, der implizite Leser kann anhand von der Leserschaft der jeweiligen Zeitschrift bestimmt werden. In dieser Perspektive scheint die Konstellation einer veröffentlichten Reisereportage für eine rhetorische Analyse besonders geeignet. Ein Kommunikator bildet mit den Texten nicht nur etwas ab, sondern er handelt zugleich immer auch mit ihnen; der Kommunikator instrumentalisiert strategisch einen Text in der Kommunikation und formuliert ihn daher auch entsprechend (J. Knape 2006). Der Kommunikator der Reisereportage bzw. der Journalist bildet eine Schnittstelle zwischen der Auseinandersetzung mit dem Eigenen und mit dem Fremden. Seine Selbstverortung erweist sich deshalb als besonders wichtig; er ist nicht einfach ein Schreiber, sondern er selbst erlebt die Reise; er ist nicht nur ein Beobachter, sondern überträgt in seine Schriften seine eigenen individuellen Eindrücke. Als Journalist beschreibt und reflektiert er sie; als sozialisiertes Teil der Gemeinschaft greift er auf kollektive Bilder zurück; er handelt und schreibt als ein Mensch, der sich in einer bestimmten kommunikativen Situation befindet. Besonders interessant erweist sich daher die Frage nach der Selbstverortung von Kapuciski, der unter Stalin studierte, seine journalistische Karriere während des Tauwetters begonnen hatte und die Welt hinter dem Eisernen Vorhang nur aus Büchern kannte, bevor er seine erste Auslandsreise nach China und Indien machte. Für ihn war Afrika die Chiffre seiner Seelenlandschaft: „Afrika bedeutete meine private Befreiung“ (R. Kapuciski 1990: 237). Seine Reportagen über die iranische Revolution (Schah-in-Schah, 1982) oder über den äthiopischen Kaiser Haile Selassie, waren eindeutige Parabeln auf die Mechanismen der Macht und ihre Träger. Somit wurde das sozialistische Regime in eine afrikanische Revolution und die Parteifunktionäre zu kaiserlichen Hofdienern verfremdet, um eine
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Sichtbarkeit des Eigenen zu ermöglichen. Die Reportagen aus fernen Regionen fungieren als allgemeingültige Allegorien über Regime und Macht. Was Erdmut Jost über Landschaft ausführt, kann man auf die Beschreibung der Städte und Dörfer bei Kapuciski ausweiten. In seinen Reportagen ist die Landschaft kein ästhetischer Gegenstand, der in der Welt vorgefunden würde, sondern eine Relation zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Diese Relation wird bestimmt durch die historisch je unterschiedliche Bewusstseinshaltung des Individuums, seine Neigungen und Abneigungen, seine Ideen und Interessen, seine kulturelle Prägung, seine Sehnsüchte und Wertvorstellungen. (E. Jost 2005: 13) Was die kommunikative Situation bzw. die Intention des Textes betrifft, verwendet Kapuciski oft die rhetorische Figur der Hypotypose. Diese entfaltet als Effekt einer Mimesis sinnlicher Detaillierung und Vergegenwärtigung eine so deutliche und sogar gerahmte Bildlichkeit vor Augen, dass man die in Worte gefassten Situationen oder Gegenstände zu sehen meint. Durch das Mittel des „vor Augen Stellens“ werden die Reiseeindrücke, die Menschen, die Situationen, versinnbildlicht: Farbliche Reize und optische Eindrücke werden mit bekannten Bildern kombiniert, um die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zu erreichen. Durch die Vermischung von bekannten und unbekannten Elementen wird so auch das Fremde völlig greifbar. Der deskriptive Code wird um mediale bzw. photographische Regulative der Wahrnehmung erweitert. Kapuciski war ein hervorragender Fotograf. Seine Bilder erzählen aber eigene Geschichten, sind keine Illustrationen oder Ergänzungen zu den Texten. Seine Landschaften werden immer nicht nur empirisch, sondern auch ästhetisch bzw. sinnlich wahrgenommen. Es gelten für sie folgende Überlegungen von Sabine Boomers: Jeder Text, jede Erzählung ist eine Art Mosaik der Welt, das nach Komponenten wie Plausibilität, Spannung, Verrätselung, Kausalität oder Darstellungskonventionen zusammengebaut wird. Der Autor handelt nicht willkürlich, sondern nimmt eine bestimmte Position ein, greift auf unterschiedliche Strategien zur Konstruktion der erzählenden Mosaiken zurück, er schafft Weltversionen. (S. Boomers 2004: 22)
Wie die beschriebene Fremde eine Konstruktion ist, ist auch die Identität des Autors Kapuciski im Text eine Selbstinszenierung, denn Schreiben über das (eigene) Reisen ist zugleich auch ein Schreiben über sich selbst. In Bezug auf Frauenreiseliteratur hat Annegret Pelz den Begriff des „autogeografischen Reisens“ (A. Pelz 1993) erfunden. Durch ihre zwingende Subjektivität vermittelt die Reportage die persönliche Sichtweise des Autors, was bei der Fragestellung nach Wahrnehmungsmustern besonders interessiert. Margrit Sprecher schreibt dazu:
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Im Gedächtnishaften bleiben wird die Reportage. Nur sie, und nicht der Verlautbarungsjournalismus, weckt das Interesse am Sujet. Gerade weil sie subjektiv ist. Subjektiv sein muss. Das führt dazu, dass jede Reportage, die zu ihrer Subjektivität steht, ungleich glaubwürdiger ist als eine, die vorgibt, die objektive Wahrheit widerzuspiegeln. (M. Sprecher 2001: 92)
Was Almut Todorow in ihrer Untersuchung über das Feuilleton und die Feuilletonforschung schreibt, lässt sich auch auf die Reportagen von Kapuciski übertragen: Das Medium selbst ist dabei nicht nur technisch das Gelenk vieler dieser Interdependenzen, als Speicher- und Distributionsmedium ihr Träger, sondern setzt auch die intellektuellen, sprachlichen, sozialpsychologischen sowie die institutionellen ökonomischen Rahmenbedingungen für die publizistikimmanenten Interpretationen und Vermittlungen von Wirklichkeit. (A. Todorow 1996: 39)
Die Texte von Kapuciski überschreiten alle Gattungsgrenzen, er vermischt Interviews, Essays, Beschreibungen, Reportagen, Reiseberichte, es sind Texte zwischen Literatur und Journalismus, zwischen Bericht und Reflexion. Er konstruierte seine Reportagen als Collagen: Gespräche, Alltagsszenen, Anekdoten verdichteten sich zu einem Bild der afrikanischen oder der russischen Gesellschaft. Erst das Verwischen der einzelnen Fakten, der realen Vorlage bewirkt eine emphatische Annäherung und einen existentiellen Erkenntniswert. Wie Peter Brenner in seiner historischen Analyse des Reiseberichts darstellt, ist der Reisebericht im 20. Jahrhundert eine „abgestorbene Kunstform“ und sein Ziel müsse jetzt der „subjektive Blick auf die partikulare Wirklichkeit“ (P. Brenner 1990: 666f.) sein. Kapuciski betonte mehrfach, dass er selber das Thema seiner Reportagen sei und nur über das berichte, was er erlebt habe. An zwei Beispielen möchte ich kurz zeigen, wie Kapuciski das Fremde als Abweichung von der Norm konstruierte und wie die Peripherie, der ‚kleine Mann’ ins Zentrum seiner Beobachtung und seines Schreibens gesetzt wurde. Sowohl der ‚homo sovieticus’ als auch der der afrikanische ‚poor man’3 erscheinen in seinen Reportagen als Abweichungen. In seinem Buch Imperium beschreibt er seine Streifzüge durch das sowjetische Russland und die Begegnungen mit einfachen Menschen in der russischen Provinz. Er schreibt dazu: Als ich einmal mit dem Zug von Odessa nach Chisinau fuhr, wollte ich mit einem Mitreisenden ein Gespräch anknüpfen. Es war ein Kolchosbauer vom Dnjestr. Ich fragte ihn nach seiner Arbeit, seinem Zuhause, seinem Einkommen. Je mehr ich 3
Kapuciski unterscheidet den westlichen, reflektierten homo informaticus und den afrikanischen poor man, der aus existentieller Not handelt.
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Agnieszka Vojta fragte, um so misstrauischer wurde er. Schließlich schaute er mich argwöhnisch an und knurrte: Was wollen sie, sind sie etwa ein Untersuchungsbeamter? Und er weigerte sich, weiter mit mir zu sprechen. Genau das ist es! Wäre ich ein Untersuchungsbeamter, würde er es verstehen, der Untersuchungsbeamte darf Fragen stellen, dazu ist er ja da. Doch ein gewöhnlicher Mensch? Einer der im Abteil des Zugs aus Odessa sitzt?(…) Ich mustere meine Nachbarn. Sie stehen da und starren stur vor sich hin. Genau das: Sie stehen da und starren vor sich hin. Ihnen ist keine Ungeduld anzumerken. Keine Beunruhigung, Verärgerung, Wut. Vor allem aber stellen sie keine Fragen. Ich erkundige mich bei jemandem, ob er weiß, wann wir abfliegen. Wenn man hier unvermutet eine Frage stellt, muss man sich mit Geduld wappnen. Dann beginnt sich auf seinem Gesicht leise, sogar amüsierte Verwunderung abzuzeichnen – was hat dieser Dummkopf zu fragen? (R. Kapuciski 2001: 188f)
Mehrere solcher Szenen fügt er wie Mosaiksteinchen zum Bild der Gesellschaft zusammen: Doch eine Zivilisation, die keine Fragen stellt, die alle Unruhe, alle Kritik, alles Suchen – die ja in Fragen ihren Ausdruck finden – aus ihrem Gesichtskreis verbannt, ist eine Zivilisation, die stillsteht, gelähmt ist, sich nicht bewegt. Und genau das wollten die Menschen im Kreml, denn eine unbewegte, stumme Welt ist am leichtesten zu regieren (R. Kapuciski 2001: 190)
Das fragende, neugierige Individuum wird als Norm konstruiert, der schweigende, misstrauische ‚homo sovieticus’ ist hingegen die Abweichung. Die Differenz, welche die Abweichung hervorruft, wird durch das politische Regime evoziert. Das abweichende Verhalten des ‚homo sovieticus’ wird somit verständlich und als Resultat der politischen Situation dekonstruiert. Auch der afrikanische ‚poor man’ erscheint in den Texten über Afrika als Abweichung. Kapuciski beschreibt ihn als eine Normabweichung, die aus der existentiellen Not resultiert: Zado antwortete, ich hätte die Beamten am Flughafen enttäuscht, weil ich alle nötigen Papiere besessen hätte. Am besten wäre es gewesen, ich hätte gar keine gehabt. Dubiose Luftlinien bringen die verschiedensten zweifelhaften Elemente hierher. Das ist schließlich ein Land von Gold, Diamanten und Drogen. Viele dieser Typen besitzen weder Visum noch Impfpass. Und an denen lässt sich dann etwas verdienen: Sie bezahlen dafür, dass man sie einreisen lässt. Von solchen Menschen leben die Beamten am Flughafen, denn die Regierung hat kein Geld, und sie bekommen kein Gehalt. Man kann nicht einmal sagen, dass diese Menschen korrumpiert sind. Sie sind ganz einfach hungrig. Auch ich werde meine Dokumente zurückkaufen müssen. (R. Kapuciski 1999: 234f.)
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Und die Diebstähle? Anfangs packte mich schon die Wut, wenn ich die ausgeplünderte Wohnung betrat. Wenn man bestohlen wird, bedeutet das vor allem, dass man erniedrigt, betrogen wird. Doch hier überzeugte ich mich bald davon, dass es einen psychischen Luxus darstellt, einen Diebstahl bloß als Erniedrigung und Betrug anzusehen. Nachdem ich einige Zeit unter den Armen meines Viertels gewohnt hatte, begriff ich, dass ein Diebstahl, sogar ein geringfügiger Diebstahl ein Todesurteil bedeuten kann. In der kleinen Gasse lebte eine alleinstehende Frau, deren einziger Besitz ein Topf war. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt damit, dass sie von den Gemüsehändlerinnen Bohnen auf Kredit kaufte, diese kochte, mit Soße zubereitete und an die Leute verkaufte (…). Man hatte ihr den Topf gestohlen und damit hatte sie das einzige Hilfsmittel verloren, von dem sie lebte. (R. Kapuciski 1999: 113f.)
Beide Szenen beschreiben eine Abweichung von ‚der Norm’: Korruption und Diebstahl. Was dem europäischen Leser fremd erscheint, wird aber in dem jeweiligen Kontext als ‚normal’, als überlebensnotwendig empfunden. Die Normalität und ihre Abberationen werden als Konstrukte entlarvt und somit das Fremde als eine mögliche Abweichung des Eigenen bestimmt. Aus solchen Beispielen erweist sich, dass die Grenze bzw. der Grenzraum als Ort der Begegnung zwischen dem Normalen und der Abweichung bzw. zwischen dem Eigenen und dem Fremden ein kreativer Ort der Kommunikation und der Transfiguration werden kann; deshalb wählte Ryszard Kapuciski ihn zum Schauplatz seiner Erzählkunst.
Literatur Primärliteratur Kapuciski, Ryszard (1986): Schah-in-Schah. Eine Reportage über die Mechanismen der Macht und des Fundamentalismus. Aus d. Poln. von Martin Pollack. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Kapuciski, Ryszard (1990): Der Fußballkrieg. Berichte aus der Dritten Welt. Frankfurt/Main: Eichborn. Kapuciski, Ryszard (1999): Afrikanisches Fieber. Erfahrungen aus vierzig Jahren. Frankfurt/M.: Eichborn. Kapuciski, Ryszard (1997): Warum ich schreibe: Interviews in: Gazeta Uniwersytecka, 2.1997.5. Kapuscinski, Ryszard (2000): Die Welt im Notizbuch. Aus dem Poln. übers. von Martin Pollack Frankfurt/M.: Eichborn. Kapuciski, Ryszard (2001): Imperium. Sowjetische Streifzüge. Frankfurt/M.: Eichborn. Sekundärliteratur Bhabha, Homi K. (1994): The location of culture. London: Routledge. Boomers, Sabine (2004): Reisen als Lebensform. Isabelle Eberhardt, Reinhold Messner und Bruce Chatwin. Frankfurt/M.: Campus Verlag.
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Brenner, Peter (1990): Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Niemeyer. Jost, Erdmut (2005): Landschaftsblick und Landschaftsbild. Wahrnehmung und Ästhetik im Reisebericht 1780-1820. Freiburg: Rombach. Knape, Joachim (Hrsg.) (2005): Medienrhetorik. Tübingen: Attempto. Knape, Joachim (2006): Poetik und Rhetorik. Wiesbaden: Harrassowitz. Kristeva, Julia (1990): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Pelz, Annegret (1993): Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften. Köln: Böhlau. Schäffter, Ortfried (1991): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Sprecher, Margit (2001): Sich aus den Fluten des Gewöhnlichen herausheben. Die Kunst der Reportage. Wien: Picus Verlag. Schneider, Wolf/ Raue, Paul Josef (1996): Handbuch des Journalismus. Reinbek: Rowohlt. Todorow, Almut (1996): Das Feuilleton der Frankfurter Zeitung in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. Tübingen: Niemeyer.
Die Konstruktion des Fremden am Beispiel europäischer Afrika-Literatur Géraldine Kortmann-Sene
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Einleitung
Der folgende Beitrag ist eine Überlegung zur Frage der inter- bzw. transkulturellen Dimensionen bzw. Definitionen als Baustein der identitären Selbstbestimmung im 20. und 21. Jahrhundert. Modernität definiert sich u.a. auch dadurch, dass Identität – zumindest für die Menschen der postindustrialisierten Teile dieser Welt, die an dem Globalisierung genannten Phänomen teilhaben – in einem früher nie da gewesenen Ausmaß eine in der Verantwortung des Individuums liegende und dabei eine multioptionale und selbstverständlich vielschichtige und dynamische Angelegenheit geworden ist (H. Lopes 2003: 11-20).1 In aller Kürze soll es – mit eingeschränkter analytischer Differenzierung – um folgendes Phänomen gehen, das anhand eines exemplarischen Überblicks über einige Autoren und international erfolgreiche Filme am Ende des 20. Jahrhundert überraschend konstant geblieben ist: Wir können in diesen Werken beoachten, wie die Figuren ihre Identitäten und Biographien im Spannungsfeld zwischen einer ‚Norm(alität)’ als lokalem, gesellschaftlichem Normenkomplex und einer davon differenten, individuellen ‚Normalität’ als idealtypischer Lebensgestaltung reflektieren, und diese Spannung vor dem Hintergrund einer vermeintlich völlig anderen, einer exotischen Kultur versuchen aufzulösen. Zum womöglich universalen Schicksal des Menschen, sein Selbstbild zwischen den (vor)gegebenen Realitäten bzw. sozialisationsbedingten Zwängen und den eigenen Wünschen finden bzw. akzeptieren zu müssen oder zu dürfen, kommt in den hier gewählten Beispielen der Umstand hinzu, dass dieses Spannungsfeld an einer inter- oder transkulturellen Thematik abgearbeitet wird, in der sich die Begrifflichkeiten von sozialen, ideologischen oder transzendenten Normativen, Normalität(en) und Grenzen auffalten und ihre Semantiken neu besetzt werden.
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Es handelt sich um seinen Essay „Mes trois identités“. Lopes benennt die nationale bzw. die Identität der Herkunft, eine internationale und eine durch gezielte kulturelle und literarische Aneignung selbst geschaffene Identität, die jeweils unterschiedliche Bereiche des Selbst ausmachen und durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen.
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2 Kultur(en) und Identität(en) – Zuschreibungsbegriffe oder Wahlmöglichkeiten? Bis in die jüngsten Debatten um die definitorischen Vektoren von Kultur(en) hinein lässt sich eine Demarkationslinie zwischen essentialistischen Tendenzen und nicht essentialistischen Beschreibungen von Kulturen beobachten. Dabei zeigt sich, dass der Essentialismus ein Konstruktivismus mit realen Konsequenzen ist. Der Terminus von ‚Kultur’ lässt sich in ersterer Perspektive als ein diskret beschreibbarer und im Plural abbildbarer definieren; in dieser Definition ist er ein essentialistischer und ontologisierender Begriff2 und führt zu der dazugehörigen Konstruktion von diskret definierbaren, binomischen Differenzen. Daraus kann dann – nun ideologisch – der Schluss ihrer Unüberwindbarkeit auf den Ebenen des Verständnisses und der Politik gezogen werden (vgl. hierzu J. Renn 2007: 66). Die diesen Essentialismus ablehnende Ansicht liegt im Feld der Cultural Studies, innerhalb deren poststrukturalistische Analysemethoden übernommen und weiterentwickelt wurden. In dieser Ausrichtung werden essentialistische Definitionen von Kultur(en) als ideologisch motivierte Konstruktionen entlarvt, die vor allem der Realisierung hegemonialer Absichten dienen. Die analytische Ebene fasst ‚Kultur’ als pluralen Terminus, der all die von Menschen geschaffenen Formationen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in ihrer Vielfalt beschreibt und hybride Formationen sowie verschiedene gleichzeitig bestehende Ebenen anerkennt, ohne jemals ontologische und binomische Differenzierungskriterien und Strukturen vorauszusetzen. Differenzen sind im poststrukturalistischen Sinne als relationale und vor allem als subjektive und auf Subjektebene angesiedelte Differenzen beschrieben. Kulturen werden dabei nicht als in sich homogene Formationen und der Grad der Differenzen zwischen Kulturen nicht als a priori graduell höher eingestuft als der Grad an interindividuellen Differenzen. Folglich sind identitätstheoretische Aspekte auf derselben Ordnungsebene anzusiedeln wie die Ortung kultureller Charakteristika und Differenzen. Letzteres soll im Folgenden vorausgesetzt werden, so dass eine identitätstheoretische Analyse auf der Individualebene nur analytisch und idealtypisch von der Analyse kultureller Zugehörigkeit differenziert werden kann, da sich dies im individuellen Erleben letztendlich auf derselben Perzeptions- und Handlungsebene realisiert: Fremdheit und Vertrautheit werden zwischen Individuen erlebt, kulturelle Identität als idealtypische ist eine auf überindividueller Ebene verortete und
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Der prominenteste Vertreter eines essentialistischen Konstruktivismus ist Samuel Huntington.
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verallgemeinernde Zuschreibung und somit vielmehr ein relationaler Rahmen3 als eine a priori reale Entität. Ein weiterer und damit grundlegend verbundener Aspekt, der in vielen literarischen Werken zur Afrikaliteratur durchgespielt und verarbeitet wird, ist die Kritik am europäischen Aufklärungsgedanken, speziell die Infragestellung der Realisierungsmöglichkeit von Rationalität/Vernunft und Freiheit, die, wenn unbedingt durchgesetzt, letztendlich das ursprüngliche Ziel der Aufklärung ad absurdum führen, in die Normierung und gewaltsame Verbreitung und Aufdrängung der eigenen Ideologie: Jegliches Konzept von Universalismus kann niemals auf eine induktiv festgelegte Norm zurückgeführt und durch diese oktroyiert werden (vgl. M. Horkheimer/ T. W. Adorno 2003; M. Albrow 2007: 131 ff.). Als identitäts- und kulturtheoretische Matrix soll hier der Aufsatz Grenzziehung. Das Fremde und das Andere des Soziologen Michael Makropoulos (M. Makropoulos 1993) erwähnt sein, eine Fortführung von Georg Simmels Exkurs über den Fremden4 (G. Simmel 1908), und ein hier wunderbares und präzises Beispiel innerhalb der Bandbreite an soziologischer, identitäts- und kulturtheoretischer Literatur und auch der Cultural Studies seit Edward Saids Orientalism (E. Said 2003). Die Betitelung der Tagung ruft nach einer Betrachtungsweise in dieser Simmel’schen Tradition, die in den Kulturwissenschaften weiter getragen wurde und in der das wechselseitig sich bedingende und nur in der und durch die Relationalität bestehende Verhältnis von Eigenem und Fremdem selbstverständlich längst nicht mehr essentialistisch oder ontologisch und erst recht nicht mehr (nur) national oder regional konzipiert ist.5 Makropoulos richtet, bezogen auf die vertraute Situation des Erlebens von Fremdheit, seine Fragestellung auf das ungewisse Selbst als normalem Seinszustand und als notwendige Erlebensoption zur intentionalen Gestaltung des Selbst. In der ungewissen Seinslage kann eine essentialistische Konstruktion von Kultur(en) erfolgen, deren Vorteil die (Wieder-) Herstellung von Vertrautheit und Eigenem als Einheit in Gegenüberstellung zum Anderen und Fremden (in jeweils selbst gewählter Kombination) ist. Neben dieser Variante, einen Ausweg aus diesem instabilen Zustand zu finden, gibt es auch das Hingezogensein zur Fremde und zum Anderen, um die problematischen Anteile des Selbst in diesen zu vergessen oder sie aber neu zu gestalten. Relevant für die Betrachtungen hier ist die letztere Variante.
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Sowie eine soziale Konstruktion mit realen Konsequenzen. In dieser Tradition können bereits Michel de Montaignes’ Essay Les choches (1995) und Charles de Montesquieus’ Lettres Persanes (1975) erwähnt werden, in denen der Blick auf die eigene, vertraute Kultur wie aus der Perspektive des Fremden beschrieben wird. Vertreter der Cultural Studies: u.a. S. Hall 1996, 1997; H. Bhaba 2007; R. Winter 2009.
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In den Texten und Filmen, die hier kurz vorgestellt werden sollen, stellt sich andersherum die Frage, wie und warum die Reise in die Fremde – hier spezifisch nach Afrika – (was ja nicht nur eine mittlerweile für die meisten Menschen realisierbare und damit gewissermaßen vertraute Möglichkeit ist) völlig selbstverständlich als in einem weiteren Sinn vertrautes und zur Selbst-Gestaltung geeignetes (und damit als normal zu apostrophierendes) Setting konzipiert wird. Denn erstaunlich konstant über die Jahrzehnte hinweg bis in das beginnende 21. Jahrhundert ist im Kino und in bekannten Romanen der Typ des kosmopolitischen, weltgewandten und (vermeintlich) weltoffenen Europäers, der zur (Wieder-)Eroberung seiner Selbst gegen die normativen Direktiven einer rationalen und modernen, aber nichts desto weniger restriktiven Gesellschaft in den dunklen Kontinent aufbricht. Makropolous stellt fest: „Das Eigene geht nicht im Vertrauten auf“ (M. Makropoulos 1993: 41), und schreibt dann: „Fremdheit erleben heißt, die Fragwürdigkeit dessen zu spüren, was als das Eigene gilt.“ Und da „das Vertraute“ nicht vollständig im Eigenen untergebracht ist, sondern ihm auch gegenüberstehen kann, kommt Makropoulos zu folgendermaßen formulierter These: „Das Fremde, so ist jedenfalls anzunehmen, ist nicht so sehr das problematische Andere, sondern eher noch ein Extrakt aus dem problematischen Eigenen.“ (M. Makropulous 1993: 43)6 Das ist einleuchtend und trifft auf den genannten Figurentyp zu; was nun verwundert, ist, dass in Romanliteratur und in Filmen das Andere als Projektion eigener Anteile ein so beständig durchgespieltes Motiv bleibt und letztlich vorwiegend als Supplement für die vertraut-fremden Anteile im nicht essentialistischen Eigenen dient. In zahlreichen Romanen und Kinofilmen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, in denen es um das Reisen zwischen Europa und Afrika geht, können kulturtheoretische und psychosoziale Thematiken bzw. narrative Grundstrukturen in eben diesem Rahmen identifiziert werden. Dabei wird eine Auseinandersetzung mit dem Begegneten lediglich in seiner Funktionalität für die Benennung der innerlichen Befindlichkeit betrachtet, weniger als unabhängig von der Funktion für das Selbst der Figur(en) Bestehendes, so dass sich Fragen nach den interpersonalen Wechselwirkungen inter- bzw. transkultureller Begegnungen in der Thematik der intrapersonalen Selbstwahrnehmung als soziales Wesen mehr oder weniger erschöpfen; die Fragen nach den Modalitäten und Konzepten von Identität und ihrer Konstruktion im Zusammenspiel mit einer neuen, relationalen und dynamischen Definition sowie mit multimedialen (Re-)Präsentationen von Kultur(en) im ausgehenden 20. Jahrhundert werden nicht wirklich aufgefaltet oder aber fließen ineinander.
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Sicherlich in Erinnerung an Arthur Rimbauds„ Car Je est un autre“. (Brief an Paul Demeny, Charleville, 15.5.1871).
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Die Sehnsucht nach Afrika und Selbstverwirklichung in Literatur und Film
Erwähnt seien exemplarisch Tanja Blixens 1937 veröffentlichtes autobiographisch inspiriertes Werk Out of Africa / Afrika – dunkel lockende Welt (verfilmt von Sidney Pollack, USA, 1985)7, des Weiteren Paul Bowles’8 erster Roman aus dem Jahre 1949, The Sheltering Sky / Himmel über der Wüste; diese Texte scheinen als narrative und ideologische Matrix für sehr viele Werke der „Afrikaliteratur“ zu dienen. Als jüngere Beispiele denke ich an Michael Ondaatjes berühmt gewordenen Roman Der englische Patient (1992).9 Alle drei Romane wurden bildgewaltig, emotionsgeladen und sehr erfolgreich verfilmt. Des Weiteren sind Henning Mankells Afrika-Romane zu nennen, wobei hier speziell Das Auge des Leoparden (H. Mankell 2004) und Die flüsternden Seelen (H. Mankell 2007) erwähnt sein sollen.10 Ein weiteres Beispiel handelt nicht vom afrikanischen Kontinent, sondern vom nordamerikanischen: der sich mit dieser Thematik beschäftigende Film The New World von Terrence Malick (2004), der die Pocahontas-Legende, die Begegnung der Tochter des Häuptlings Powhatan mit den englischen Kolonisten an der Küste des späteren Virginias im Jahre 1607, erzählt. In diesen hier aufgezählten Werken wird schwerpunktmäßig aus dem Blickwinkel des emigrierenden Europäers erzählt, aber z.T. auch der Blick der AfrikanerInnen bzw. amerikanischen Natives auf Europa gegenübergestellt, welcher letztlich als eine europäische Eigenkritik und Idealisierung des Fremden und neu Entdeckten (des sich selbst nicht Entfremdeten, des „Ursprünglicheren“) daherkommt.11 Eigen- und Fremdkultur werden durch Analogisierungen konstruiert. Tanja Blixens und Joseph Conrads (J. Conrad 1996) Werk schimmern oft als Referenz-Intertext durch. Als gemeinsames narratives Grundmuster finden wir jeweils einen psychosozial unbefriedigenden Hintergrund im europäischen Heimatland vor, Armut oder aber Dekadenz, die Folgen des Zweiten Weltkriegs, Monotonie und Perspektivlosigkeit, psychisch kranke oder zerrüttete Familien. Die westlichindustrialisierte Gesellschaft wird bei allen drei Autoren durchweg in ihren am7 8 9 10
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Robert Redford, Klaus Maria Brandauer und Meryl Streep in den Hauptrollen. 1990 von Bernardo Bertolucci (USA) verfilmt, in den Hauptrollen Debra Winger und John Malkovitch. Verfilmung 1996 von Anthony Minghella (USA); mit Ralph Fiennes, Kristin Scott Thomas, Juliette Binoche, Willem Dafoe. Henning Mankell wurde im April 2009 mit dem Erich Maria Remarque-Preis für seine Afrikaromane ausgezeichnet und hat kürzlich eine zweiteilige Sendung über Afrika im ZDF ausgestrahlt, in der er aus seinen Reisebüchern und den Flüsternden Seelen zitiert. Und damit die Tradition von Montesquieus Les Lettres Persanes weiterführt.
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bivalenten, aber sehr diskret isolierten Eigenschaften, der rationalistischen und dem ökonomischen Wachstum verfallenen Ideologie und der damit einhergehenden schwindenden humanistisch-ethischen Werte und sozialen Kohäsion, skizziert. Diese Symptome werden als Folgen der europäischen Geschichte diagnostiziert: Im Zuge ihrer Kolonisationsbestrebungen und der damit verbundenen Bereicherungen verfestigte sich die Eigenschaft der europäischen Kolonialmächte als hegemoniale, kapitalistische, homogenisierende und darin destruktive und freiheits- bzw. differenzfeindliche Kultur (was ja ein Widerspruch zur Moderne und der mit ihr einhergehenden Individualisierung sein sollte), wobei die seit dem Altertum weiter entwickelten humanistischen universalen Werte im selben Maße propagiert werden, wie sie in der Realpolitik und letztlich am Individuum scheitern. So erhält das ideologische Konstrukt ‚Okzident’ im wechselseitigen Bezug zur Definition der übrigen Welt eine zwar ambivalente, aber doch übersichtliche Konfiguration, in der das Fremde dem Eigenen einverleibt und das Eigene zunehmend fremd wird (vgl. auch Z. Bauman 1995 sowie M. Horkheimer/ T. W. Adorno 2003). Das Gegenstück, ‚Afrika’, wird als Anderes schlichtweg zum Komplement – oder noch eher: zum Supplement – der selbst geschaffenen Defizite dieses Europas/Okzidents und erscheint dabei, über die Beschreibungen aller Differenzen und Gemeinsamkeiten hinaus, mehr als eine idealtypische Projektionsfläche denn als eine historisch reale Entität mit ihren lokalen und diachronen Differenzierungen sowie ihren eigenen Lebensrealitäten. Was auffällt, ist die Beständigkeit des als Gegenbild entstehenden verwendeten Motivs des dunklen, fremden und trotz (oder gerade aufgrund?) der Kolonisierung ungezähmten Kontinents gleichsam als Erholungs- und Erfüllungsort für in Europa unterdrückte, nicht ausgelebte innere Befindlichkeiten. Henning Mankell reißt die Projektionsfläche Afrika in zahlreichen Versuchen nieder, indem er die Lebensrealitäten und Ansichten der AfrikanerInnen und deren Perspektiven in seine Erzählungen integriert, wobei das Scheitern dem Versuch immanent ist, da sich eine nächste Projektionsfläche sogleich dahinter aufbaut, die der universalen und transzendentalen Sehnsüchte, deren Erfüllung er in Afrika lokalisiert. Texte und Filme, in denen der andere, ein fremder Kontinent nicht als Funktion für Introspektion und Entfaltung des Selbst dient, sondern Objekt der Erfahrung und Ausgangspunkt für interkontinentale Identitätsbildung ist, sind oft Werke von Autoren nicht europäischer oder nicht singulärer Herkunft. Hier ist dann ein zentrales Thema das der ethnischen, nationalen oder auch biographischen ‚Métissage’ bzw. der doppelten Zugehörigkeit sowie das einer multipolaren und vielschichtigen Identitätskonstitution; dabei steht eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit Wahrnehmungs- und Kommunikationsgewohnheiten im Mittelpunkt; u.a. bei Henri Lopes (Kongo/Frankreich), Chinua Achebe (Nigeria)
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und vielen anderen, wie z.B. Ousmane Sembène und Mariama Bâ (Senegal), Fatou Diome (Senegal/Frankreich), Salman Rushdie (Indien/England), Tahar Ben Jelloun (Algerien/Frankreich) u.a. Hier hat das Andere eine andere Dimension sowie Definition und hat eine intensive Entwicklung durchlaufen, so die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, mit der Négritude-Bewegung im Falle der Afrikaner und Afrikastämmigen als identitäre Selbstrehabilitation, als Gegenbewegung zur ethnischen Herabwürdigung und intellektuellen Kolonisation (zur „Négritude“ siehe z.B. H. Bourges 2006: 67ff., H. Lopes 2003: 73-79). Die Narration vollzieht in den Werken der hier zu betrachtenden Gruppe eine Verschiebung des Normalitätsbegriffs von der Ausgangsnorm zu einer in Individualisierung und Selbstbestimmung angelegten Normalität, also der Bestrebung des Einzelnen, sich von sozialen bzw. kulturellen Normen abzugrenzen und eine eigene zu entwerfen – als einer Spezifizität besonders der Moderne, in der die Ideale des Humanismus sich auf dem Treibsand ihrer eigenen Voraussetzungen gegen die auch destruktiven Kräfte des Rationalismus bewegen. Dies sieht in den Erzählungsbögen folgendermaßen aus: Die erlebte ‚Normalität’ ist zunächst die beschriebene Herkunftskultur. Hinzu kommt dann, dass diese gesellschaftliche Formation alles Andere als durchweg normal im Sinne der Normen, im Sinne von ‚psychisch stabil’ und ‚sozial gerecht’ ist, da Leistungsdruck, Arbeitslosigkeit, auseinander gebrochene Familienkonstellationen, Diskriminierung von Behinderten, Depressionen, Alkoholsucht, gescheiterte Existenzen, vernachlässigte oder misshandelte Kinder und seelische Vereinsamung, so bei Mankell, im modernen und häufig idealisierten Schweden auf der Tagesordnung stehen. Bei Paul Bowles und Michael Ondaatje sind es der Zweite Weltkrieg, aber gleichermaßen der ‚Ennui’ der bürgerlichen Klasse. Die Motivation, nach Afrika zu reisen, beruht also nicht nur auf Entdeckungslust, sondern primär auf einem Fluchtgedanken, auf der Enttäuschung über den Zustand der Gesellschaft, die die Menschen sich selbst und einander fremd werden lässt.12 Gesucht wird nach erlebbarer Eigen- und Bodenständigkeit innerhalb einer humaneren Gemeinschaft, aber auch, innerhalb dessen, nach nicht rationalen, transzendenten Weltauslegungs- und Lebensgestaltungsmodellen, also: spiritueller Erfüllung einerseits und nach emotionaler, zwischenmenschlicher Erfüllung andererseits, diesseitiger Selbstverwirklichung. Und nach der Herausforderung, vorgegebene Grenzen in Eigenlegitimation zu überschreiten.13 12
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So weigert sich Laszlo Almásy, sich einer Nationalität, die er als politisches Artefakt bezeichnet, zugehörig zu empfinden: „Wir sind durch die Nationalstaaten verformt. (…) Wir (…) wünschten die Hüllen unserer Länder abstreifen zu können.“ (M. Ondaatje 2004: 147) In Mankells Das Auge des Leoparden liegt der erzählerische Fokus auf dem Bestreben der Hauptfigur, sich gegen alle Widerstände ein eigenständiges Leben zu erkämpfen und dadurch die eigene traumatische Vergangenheit zu überwinden.
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Diese Aspekte des modernen Selbstverwirklichungsstrebens werden somit exportiert, nachdem sie sich am Ort ihrer Konzipierung als implodiert erwiesen haben: Afrika (und im Falle von Malicks Film prototypisch The New World der von Europäern noch unberührte amerikanische Ostküstenlandstrich im Jahre 1607) ist in den Augen der europäischen Figuren die Projektionsfläche für all dies, für die Veräußerlichung – und schließlich dann Veräußerung – aller in einer zunehmend rationalisierten und beengten Umwelt unerfüllten Sehnsüchte. Anstelle staatlicher Gesetzlichkeiten und vorgegebener biographischer Zwänge wird in Afrika eine generelle Offenheit der Lebenswege und eine nicht formal reglementierbare, sondern humanistische oder aber impulsive Grundlage für menschliches Handeln vermutet und lokalisiert. In den erwähnten Texten und ggf. in ihren Verfilmungen werden hinsichtlich der Narration, der Metaphorik, der Figuren, der Ästhetik und auf der Textbzw. Bildebene selbst analog angeordnete Gegensätzlichkeiten geschaffen: die Differenzen von Sprache, Klima, Landschaften, Kommunikationsgewohnheiten usw. werden als Analogien mit der äußeren Anmutung von Kontrasthaftigkeit weitgehend aufrecht (aber leicht decodierbar) erhalten. Auf diese Weise entsteht der Spannungs- und Entwicklungsbogen vom normativen aber befremdlichen Vertrauten zum frei gewählten und erkämpften Selbst, im Angesicht des Fremden, in dem sich der Neuankömmling aber geborgen fühlt:14 Afrika wird gleichbedeutend mit den positiv konnotierten Idealen des europäischen Humanismus.
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Der englische Patient und Die flüsternden Seelen
Besonders deutlich ist dieses Deutungsmuster bei Michael Ondaatje in Der englische Patient als Voraussetzung für eine in einem humanistischen, nicht imperialen oder kolonisatorischen Sinne intentionierte Aneignung des afrikanischen Raumes und ‚Geistes’ eben über diese Bedeutungszuschreibungen: Diese Aneignung vollzieht sich anhand einer auffälligen Parallelisierung mit der antiken europäischen Kultur. Hiermit wird Afrika in den Augen der Hauptfigur, des auf Herodots Spuren wandelnden Laszlo Almásy, einem adeligen englischen Kartographen ungarischen Ursprungs, als Gegenstück, als Supplement, als die verkörperte Vergangenheit der europäischen Kultur konstruiert, als solches präsentiert und visualisiert und die Dialektik der Moderne zunächst vermeintlich aufgelöst. 14
Dies zeigt sich metaphorisch in Henning Mankells Landschaftsbeschreibungen, so in den Flüsternden Seelen, worin sich explizit die exotische und farbenprächtige äußere Landschaft und die farblose, erstarrte innere Landschaft übereinander legen, und das durch Attribute für die sinnliche Wahrnehmung dargestellt werden, so Farben, Gerüche, Temperaturen, Geschmäcker. (H. Mankell 2007: 186 ff.)
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Der kanadisch-sri-lankesisch-niederländische Autor hat mit seinem Roman ein Sinnbild über die selbstzerstörerische Kraft des unbedingten Durchsetzungswillens15 geschaffen, in dem er eine tragische Liebesgeschichte vor den tragischen Hintergrund des sich anbahnenden Zweiten Weltkriegs setzt, die seine Figuren in der nordafrikanischen Wüste durchleben. An einem Ort vorgeschichtlicher Hochkultur in der Sahara, in einer mit Malereien menschlicher Figuren übersäten Höhle, wartet Almásys Geliebte Katherine vergeblich auf ihre Rettung durch diesen und stirbt; und in der Nähe desselben Ortes stürzt er kurz darauf mit seinem Flugzeug ab, das er, um zu Katherine zurückkehren und sie aus der Höhle retten zu können, gegen seine angefertigten Landkarten vom Gebiet bei den deutschen Besatzern eingetauscht hat. Nach diesem Flugzeugabsturz, bei dem er bis zur Unkenntlichkeit verbrannt wurde, wird der nun „englische Patient“ Genannte von einer zu den Alliierten gehörenden Krankenschwester in einem in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs stark zerstörten Kloster in der Toskana untergebracht, damit er dort in Ruhe sterben kann. Die Wände seines notdürftig hergerichteten Krankenzimmers sind mit floralen Fresken und Engelsmotiven ausgeschmückt. Alle Attribute humanistischer Bildungsideale, aber auch der sich selbst zerstörenden europäischen Kultur des Zweiten Weltkriegs, sind in der Beschreibung dieses Ortes und seiner darin situierten Handlungsstränge vereint. Und Ondaatje lässt Analogien zwischen den beiden – doch sehr auf das platonische Höhlengleichnis referierenden – zentralen Zufluchts- und Ereignisorten entstehen, die auch Orte des individuellen und historischen Erinnerns sind: die Malereien schwimmender Menschengestalten mitten in der nordafrikanischen Wüste zum einen, zum anderen die Wandmalereien des Raumes, in dem der moribunde Almásy seine Erlebnisse rekonstruiert. Die sowohl im Roman als auch in der Verfilmung auffällig häufig in Szene gesetzten vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde sind die allen Kulturen gemeinsamen und sie verbindenden, universalen metaphorischen Elemente. Auch werden im Verlauf des Romans die historischen Verbindungen zwischen Nordafrika und Italien benannt, die von Reisen mitgebrachten Fundstücke, der Erkenntnisdrang während des Rinascimento, der Epoche der Aufklärung avant la lettre.16 15
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Es geht um das unbedingte Sich-Aneignen-Wollen, auch um das Überschreiten von Tabus, als charakteristische Eigenschaft des Okzidents – Almásys verbotene Liebe zu einer verheirateten Frau, sein enzyklopädisches Wissen, die Besetzung und Vereinnahmung der Wüste durch die Engländer und die Deutschen –, und grundsätzlich um den Zwang, den Dingen durch Benennung, Kartographierung, Analogisierung zu Bekanntem, also durch epistemologische Auslegung ihre Unbekanntheit zu nehmen. Z.B. Ondaatje 2004: 75 ff. Die Figuren, Epochen und Kulturen in Ondaatjes Roman sind in analogen Konstellationen zueinander beschrieben und entsprechen der Foucault’schen Beschreibung der epistemologischen Epoche der Renaissance aus Die Ordnung der Dinge (1988).
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In demselben Zug der semantischen bzw. visuellen Ineinanderverschränkung wird ‚die Fremde’, der fremde Ort, werden vergangene Zeiten und auch die einander fremden Menschen in die auch in diesen Elementen metaphorisierte Matrix der vermeintlich anthropologischen Grundthemen bzw. -bedürfnisse – Liebe, Vergänglichkeit/Tod, Gesellschaft, Kunst und Repräsentation als menschliches Urbedürfnis – gesetzt; kulturelle Spezifizitäten werden so aus einem Muster binomischer Differenzen enthoben, da sie in der höheren Synthese aufzugehen scheinen. Afrika als (Erlebnis-)Ort wird hiermit zum Topos der Universalisierung. Sowohl die afrikanische Felsenhöhle als auch die toskanische künstlich geschaffene ‚Höhle’ sind Orte, an denen sich einander fremde Menschen verschiedenster Herkunft begegnen und an denen die anhand von Kulturgrenzen definierten Differenzen durch Erzählungen akzeptiert und dadurch als Grenze überwunden werden. Durch das parallele, ineinander verschränkte Erzählen beider einander zeitlich nachgelagerter Erzählstränge – Almásy ruft seine Erlebnisse Stück für Stück in Erinnerung zurück17 – wird diese Analogisierung noch stärker hervorgehoben. Frappierend ähnlich erscheint bei Henning Mankell die Funktion des afrikanischen Kontinents als humanistisch aufzufüllende Leerfläche und Metapher universaler Befindlichkeit im Angesicht der Figuren: In einem Märchen ganz ohne Worte erzählte dieser Mann, der so alt war, dass er vielleicht schon tot war, die Geschichte, von der ich erst im Nachhinein begriff, dass es meine eigene war, das Märchen von mir selbst. Vielleicht ist Afrika das Ich aller, ein Ursprung und ein Traum? (…) In Afrika lernte ich, dass man eine Heimkehr an einen Ort erleben kann, an dem man nie zuvor gewesen ist. (H. Mankell 2007: 25)
Das Buch Die flüsternden Seelen ist eine Ansammlung von kurzen, ausschnittartig und nicht chronologisch gestalteten Erzählungen über Figuren, die mehr oder minder nah miteinander verwandt sind oder sich auf andere Weise einmal begegnet sind. Der erzählte Zeitraum umfasst in etwa die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts bis in die früheren Jahre der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten, die Figuren sind Kolonialisten und deren Kinder, deren schwarze Bedienstete und deren Familien, die zum Teil nach Europa auswandern. Es geht um die Themen Tod, Krankheit, Liebe – und ihr Scheitern, und dies vor dem dies alles beeinflussenden und nach wie vor dominanten Hintergrund der Folgen der europäischen Kolonialherrschaften in Afrika. Der Text ist somit ein loses, nicht lineares Netzwerk verschiedener Einblendungen, womit man hier eine beinahe filmische Schreibweise vorfindet, in der die kaleidoskopartige
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Wobei der Text zwischen auktorialer und subjektiver Perspektive wechselt.
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Komposition, das Bildliche und die sichtbaren Oberflächen im Vordergrund stehen. Realismus und Mystizismus verschränken sich ebenso wie afrikanische und schwedische Biographien ineinander: Ein junger Emigrant trifft in Paris auf einen Pfandleiher, der ihm in dessen Geldnot seine Seele abkauft. Ein junger Schwede, Sohn eines alleinstehenden, armen und alkoholabhängigen Holzfällers, entflieht seiner Heimat, die er als ewige Schneelandschaft empfindet, und reist nach Afrika. Während dem jungen Einwanderer in Paris die Seele abhanden kommt, findet der junge Schwede in der weiten und farbenprächtigen Steppe Afrikas die seinige wieder, nachdem er in dieser zunächst seine eigene noch verschneite Seele zu sehen meint. (H. Mankell 2007: 186-187).18 Der Typ des Europäers, den es nach Afrika zieht – und diesem Typus entsprechen sowohl Mankells schwedische Figuren als auch die von Ondaatje in Der englische Patient fiktionalisierte historische Figur Laszlo Almásy – ist derjenige, der die enge Begrenzung seiner Rolle, seiner Lebensgestaltungsmöglichkeiten und die beschränkten geistigen Haltungen nicht erträgt und zugleich keine Möglichkeit sieht, im gewohnten Lebenskontext die engen Fesseln der gesellschaftlichen, familiären, biographisch festgezurrten Strukturen zu sprengen. Das ‚Normale’ ist gleichbedeutend mit den Normativen der Gesellschaft, wird aber von den Figuren als nicht normal beurteilt und insofern abgelehnt; das Normale entspricht der dialektischen Kehrseite der Moderne. Almásy ist ein dem Normierungszwang der Moderne entfliehender Individualist, der grundsätzlich keine von Anderen vorgegebenen Grenzen und Normen anerkennen will.19 Die Wüste erscheint ihm als ein Ort der Vielfalt von Kulturen und Sprachen; viel mehr noch, als grenzenloser und nicht zu vereinnahmender Ort, jenseits von Autoritäten und Normierungen. Almásys charakteristisches Bestreben, jeglicher vorgegebener Zuschreibung zu entkommen, holt ihn schließlich durch den Zuschreibungsbegriff „der englische Patient“ wieder ein – nachdem die Unmöglichkeit, ihn eindeutig seiner britischen Nationalität zuzuordnen, seiner Geliebten Katherine das Leben gekostet hat.20 18
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Mankells Roman Das Auge des Leoparden nimmt diesen Erzählstrang auf und weitet ihn aus. Hier wird die dichotome Metaphorik zwischen Schweden und dem afrikanischen Land weiter durchexerziert, welche sich in der melancholisch desolaten Conditio Humana zu synthetisieren scheint.(vgl. auch G. Kortmann-Sene 2008) Vgl. auch Makropoulos’ Typus des marginal man als Typus der Moderne, 1997 und die Möglichkeit zur Identitätsfindung in einer heterogenen Gesellschaft (M. Makropoulos 1988). Almásy versucht ein Flugzeug beim englischen Militär zu bekommen, um die verletzte Katherine aus der besagten Höhle abzuholen. Die Briten halten ihn jedoch für einen Spion und nehmen ihn fest. Uneindeutigkeit wird unter diesen Bedingungen zum lebensbedrohlichen Verhängnis.
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Afrika wird für den einzelnen Abenteurer, wie in der früheren Kolonialzeit, als Raum der fehlenden Strukturen, als Neuland wahrgenommen, als das zu Entdeckende, in dem das Normale die tägliche Herausforderung ist, keine verlässlichen aber auch erdrückenden Strukturen bestehen, die Tage und die Zeiten nicht vorgegeben sind. Gleichermaßen ist Afrika aber auch ein a priori vertrauter Ort. Manche Engländer lieben Afrika. Ein Teil ihres Hirns spiegelt die Wüste präzise wider. Und darum fühlen sie sich dort nicht fremd. (M. Ondaatje 2004: 24)
In dieser so erlebten Kulisse beginnen die – häufig in den Kitsch abdriftenden – Geschichten der Wiederbelebung der eigenen vermissten Anteile: Liebesgeschichten, ambitionierte Projekte, erstaunliche Energien, die sich in den Figuren freisetzen, auch die Suche nach verlorenen Familienbanden. Die damit einhergehende Unterschätzung eines eigenständigen sozialen und kulturellen, für den Europäer unbekannten Gefüges am Zielort der Flucht wird – besonders in The New World und hier als zentrales Thema – dann ein Hauptgrund für das eigene Scheitern.
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Geschichte(n) als Geschichte(n) ihrer Repräsentation
Der sich auf Nordafrika ausdehnende Zweite Weltkrieg zeigt Almásy, dass die Wüste, seine seelische Projektionsfläche, erobert wird, womit ihre (vermeintliche) signifikative Offenheit beendet ist und sie nicht der Ort der Erfüllung von Liebes-, Freiheits- und Repräsentationsidealen bleiben kann. In den filmischen Bildern wird dieses Motiv schon im Vorspann durch Überblendungen angekündigt: Der metaphorische Ort der Wüste enthüllt sich in den filmischen Bildern, in denen der Schatten von mit triefender, dann schnell trocknender Tusche gemalten Höhlenfiguren über die endlosen Dünen hinwegschwebt, zunächst als Erfüllungsort für Almásys humanistische Ideale der Auflösung von kulturellen und geistigen Grenzen, sodann aber als umfochtener Kriegsschauplatz, auf dem die territorialen Herrschaftsansprüche der deutschen und englischen Kriegsherren Grenzen in den Wüstensand furchen. Ebenso wie die Wüste verbleibt Afrika in den erwähnten Werken Austragungsort für die okzidentale ideologische Ambivalenz aus ethischen Werten mit universalistischem Anspruch und imperialer Deutungshoheit sowie Ausweichort für die aus dieser Ambivalenz entstehende Widersprüchlichkeit aus moderner, differenzierter Identitätsgestaltung und normativer Entindividualisierung. Als nächster Ausweg, als nächste Projektion
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bleibt die (tautologische) Vorstellung einer universalistischen und den Wandel der Geschichten überdauernden Universalgeschichte des Menschen, dessen Universalität sich in und durch ihre Erzählung, ihre Repräsentation zeigt. Der Umstand, dass Afrika als Quelle und gewissermaßen als Zielpunkt der Menschheit ‚gezeichnet’ und damit zum Ort wird, an dem von der europäischen Aufklärung definierte universalistische Werte wieder entdeckt werden, zeigt sich im Roman Der englische Patient (und in dessen von medial-selbstreflexiven Referenzen durchzogener Verfilmung, die u.a. Analogien wie Bild/ Text, afrikanische/ europäische Malerei visualisiert) und in Mankells Afrikaliteratur. Almásy, Geograph, Kartograph und Kulturforscher, durchquert, stets Herodots historisches Werk bei sich, das als erstes Geschichtsbuch des Okzidents gilt, die lybische und ägyptische Wüste und entdeckt die Höhlenmalereien. Diese rufen das bereits erwähnte platonische Höhlengleichnis wach: Wir leben in einer Welt, die wir uns selbst durch ihre Repräsentation auf ein verstehbares Maß reduziert haben, wobei wir aber den Signifikanten mit dem Referenten verwechseln.21 So erweist sich letztendlich das Licht der Aufklärung als der Schein des Bilder projizierenden Lichts.22 In Erkenntnis dessen suchen wir einen Ausgang ‚aus der Höhle’, müssen jedoch erkennen, dass wir auf unserer Suche immer wieder Bilder produzieren oder auf Bilder stoßen, die angesichts der sich wandelnden Geschichte(n) und Bedeutungszuschreibungen vor allem ihre eigene Bildhaftigkeit repräsentieren: Die schwimmenden Figuren in der Wüste, die harmonischen Renaissance-Figuren inmitten eines zerstörten Europas. Almásys Geliebte sowie er selbst sterben umrahmt von diesen Bildern der Geschichte, deren Bedeutung unter Einbeziehung der sie umgebenden Geschichten, der sie betrachtenden Augen, entsteht und sich auch wandelt. Im Wadi Sura sah ich Höhlen, deren Wände mit Zeichnungen von Schwimmern bedeckt waren. Hier war einst ein See gewesen. (…) Es war ein Wasservolk. Und dennoch, heute ist Wasser das Fremde hier (…) Hier in der Wüste, in der nichts von Dauer war, wo alles dahintrieb (…). (M. Ondaatje 2004: 26)
Die epistemologische Entlastung, die die Figuren in den genannten Romanen erfahren, liegt letztendlich doch nicht in ihrer Freiheit zur individuellen Identitätsgestaltung, sondern in der Entlastung von bzw. Entlassung aus einer hypertrophen Verantwortung für ihre eigene Individualität und deren -gestaltung in dem Moment, in dem sie sich als nur kleinen Teil einer größeren und auch ihre 21
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Die Höhlenmetapher gewinnt, obgleich die Hauptfiguren in Höhlen sterben, doch auch eine uterale Konnotation, als Suche nach Geborgenheit in den künstlerischen Ausdrucksformen einer Kultur. Die Metaphorik der Schatten werfenden Kerze bei Ondaatje, in dessen Schein erzählt wird, u.a. M. Ondaatje 2004: 62, 69, 118, 125.
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individuelle Geschichte mit bedingenden Geschichte begreifen, die auf sie zurückreflektiert. Sinnbild hierfür ist z.B. Almásys Herodot-Ausgabe, in die er zahlreiche Seiten mit eigenen Notizen zu seinen Forschungen, Textfragmenten, aber auch Notizen zu seinem intimen Leben und Katherines Zeichnungen der Höhlenfiguren eingefügt hat, so dass der historische Text und das subjektive Erleben ohne hierarchische oder generische Ordnung nebeneinander bestehen und ein mnemotisches Kaleidoskop bilden (M. Ondaatje 2004: u.a. 103, 148, 150, 180). Sie fügen sich zu einem vielseitig miteinander verknüpften, losen Netz in Zeit und Raum, dessen Bewegungen und Rezeptionen ‚Kultur’ und das Selbstverständnis mit definieren. Die Kritik der Autoren an historischen Ereignissen – dem Kolonialismus und dessen Folgen – und gesellschaftlichen Zuständen in Europa und auch an einer zu einseitig kontrastierenden Betrachtung von kulturellen Grenzen zeigt sich als Kritik an einer binomischen Gegenüberstellung von Eigenem und Anderem, von Europa und Afrika, bei der die Attribute „vertraut“ und „fremd“ nicht unbedingt den eigenen Sozialisationshintergrund von unbekannten Gefilden unterscheiden. Zur Überwindung dieser essentialistische Gegensätze postulierenden Sichtweise wird eine Synthese der Differenzen auf einer höheren Ebene vorgestellt, welche die Gemeinsamkeiten der Menschheit in den Vordergrund stellt. Eine Auseinandersetzung mit dem, was ‚Kultur’ und ‚kulturelle Differenzen’ sind und sein können, wird hierdurch ausgespart, und, anstatt dass die diversen Differenzen und Widersprüchlichkeiten, die das Individuum in anthropologischer, sozialer, psychischer und kultureller Hinsicht erlebt, als solche die Persönlichkeiten der Figuren prägen, kippen die Erzählungen in eine fast holistische Betrachtungsweise eines erträumten, aber nicht realisierbaren (da in sich wiederum dialektischen) Universalismus.
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Petrarca spricht Deutsch? Aneignung, Transformation, Metamorphose des Fremden ins Eigene Elena Polledri Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen – doch es wachsen keine Blumen auf ihr. Vincent van Gogh
Die Frage der Beziehung zwischen Normalität und Abweichungen, zwischen dem Normalen und dem Originellen wurde in der Literaturwissenschaft meistens in der Kanonforschung diskutiert; in den letzten Jahren wurde sie der Anlass sowohl zu einer Reihe von theoretischen Beiträgen und Monographien über die Revision des literarischen Kanons und die Geschichte der Kanonbildung als auch zu Umfragen in Magazinen und Zeitungen, die als Ergebnis eine Reihe von Literaturlisten und Lektüreempfehlungen jeder Art produzierten (S. Neuhaus 2002; I. Zimmer 2002; W. Adam 2003). Diese intensive Debatte lässt oft die Literatur als eine Monade, als ein in sich geschlossenes und vollkommenes System erscheinen, das sich allein und ohne externe Einflüsse entwickelt. Vergessen wurde, dass die Dichtung ein Phänomen ist, das sich immer relational bildete, und dass sie ihr Wesen und ihre Physiognomie meistens durch einen ständigen Dialog mit dem Unterschiedenen und dem Fremden entwickelt. Das scheint vor allem für die deutsche Literatur zu gelten, die sich in Fortführung und Transformation fremder Kulturen bildete und die sich schon im 18. Jahrhundert zum Ziel setzte, das Fremde zu integrieren und dadurch ihren Kanon zu bilden. August Wilhelm Schlegel stellte Anfang des 19. Jahrhunderts fest: Es ist auf nichts Geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften. Universalität, Kosmopolitismus ist die wahre deutsche Eigentümlichkeit. (A. Schlegel 1965: 36)
Deutschland erscheint schon in Schlegels Worten als ein Treffpunkt von fremden Kulturen, als ein kosmopolitisches Land, das seine Identität aus der Dialektik zwischen dem Eigenen und dem Fremden entwickelt und das eben durch den Austausch mit dem Fremden seine Normalität bzw. seine Originalität bildet. Unter dieser Voraussetzung werden im Folgenden einige der zahlreichen Wege rekonstruiert, die in der deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte zur Entstehung eines interkulturellen Dialogs zwischen Eigenem und Fremdem
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führten. Insbesondere wird durch die Bestimmung von einigen Etappen in der Begegnung der italienischen mit der deutschen Kultur zu beweisen versucht, dass sich der Weg zur Integration des Fremden im Eigenen progressiv und graduell verwirklichte: Die deutsche Kultur scheint nämlich ihre Normalität zu stiften, zuerst durch die Aneignung (die Übersetzung), später durch seine Verwandlung und progressive Verinnerlichung (Nachdichtung von fremden Mustern) und in jüngerer Zeit durch die radikale Transformation und Manipulation des Fremden im Eigenen. Leitfaden dieses Beitrags wird die Figur und die vielfältige Rezeption von Petrarcas Dichtung auf deutschsprachigem Boden sein.
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Die Aneignung des Fremden im Eigenen: Die Übersetzungen
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden die Übersetzungen im deutschen Sprachraum einer der Hauptwege zur Begegnung mit fremden Kulturen. Die deutsche Kultur entfernt sich dadurch vom Eigenen und versucht, ihre eigene Identität zu bestimmen, die das Andere einbezieht. Aus diesem Dialog entsteht ein neuer literarischer Kanon, der durch die Vervielfältigung der Abweichungen, durch Wandlungen der sprachlichen und kulturellen Normen der Zeit gekennzeichnet ist. Die Übersetzungen änderten nicht nur den Kanon der fremden Literaturen im deutschsprachigen Raum, sie führten auch neue Formen und Vorbilder in die deutsche Literatur ein, sie normalisierten das Fremde und transformierten dadurch das Eigene, wie die Aneignung Petrarcas im deutschsprachigen Raum zeigt. 1 Petrarca ist bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht unter den kanonischen Dichtern zu finden. Die erste vollständige Übersetzung des Canzoniere ist mit 1818 zu datieren. 2 Der Petrarkismus des 18. Jahrhunderts besteht vor allem in der Lektüre von Petrarcas Werk aus zweiter Hand; es werden die Person und das Leben des Dichters erforscht, aber seine Gedichte werden kaum gelesen. Es gibt im 18. Jahrhundert nur eine umfangreiche Übersetzungssammlung von Petrarcas Lyrik, in der 125 Sonette aus dem Canzoniere in Prosa übersetzt wurden (W. Heinse at al. 1774-1779; vgl. B. Geiger 1958; P. Zingraf 1993)3. 1764 wird ein 1
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Zu Übersetzungen Petrarcas im 18. Jahrhundert vgl. E. Polledri 2008a und E. Polledri 2009. Der Aufsatz ist Teil eines Projekts über Übersetzungstheorie und -praxis in der Goethezeit, das von der Humboldt-Stiftung durch ein zweijähriges Forschungsstipendium an der Uni Konstanz finanziert wurde. Der Humboldt-Stiftung möchte ich an dieser Stelle dafür herzlich danken. Zum Bild der italienischen Literatur in Deutschland im 18. Jahrhundert vgl. A. W. Schlegel 1971: 346-371, 16. Vorlesung. Zu Petrarcas Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland vgl. B. Becker Cantarino 2006; A. Aurnhammer 2004. Bis zum 17. Jahrhundert sind die Übersetzungen von Sonetten auf formaler Ebene noch sehr ungenau; erst durch Opitz (Übersetzung des Sonetts 132) entsteht ein formales Vorbild. Die er-
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neues Bild der italienischen Literatur in Deutschland durch die Publikation der Versuche über den Charackter und die Werke der besten italienischen Dichter von J. N. Meinhard verbreitet, die eine interlineare Prosa-Fassung von einigen Canti enthält; zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum wird Petrarca neben Dante als der Vater der italienischen Dichtung und als Originalgenie (N. Meinhard 1774: 5) bestimmt. Die Stürmer und Dränger, darunter Lenz, Bürger und Herder, wählen die freien Rhythmen für ihre Petrarca-Übertragungen.4 A. W. Schlegel ist der erste, der fordert, dass die deutsche Sprache fremde Metren nachbilden solle.5 Er ist einer der ersten deutschen Autoren, der den Canzoniere als Zyklus bzw. als „einen wahren und vollständigen lyrischen Roman“ (A. W. Schlegel 1965: 83) konzipiert. In seinen Vorlesungen reflektiert er über die Struktur des Sonetts und die Bedeutung des Reims (A. W. Schlegel 1989: 479): Das Versmaß solle nicht mehr ein Hindernis zum Ausdruck der Genialität des Dichters, sondern selbst als Werkzeug, Organ für den Dichter betrachtet werden, denn Gehalt und Form sind wie Seele und Leib unzertrennlich. In seinen Blumensträussen der italienischen, spanischen und portugiesischen Poesie (1804) schafft er ein Vorbild für das deutsche Sonett.6 Er entfernt sich von den freirhythmischen Übersetzungen des Sturm und Drangs. Mit Schlegels Blumenlese erreicht der deutsche Petrarca eine vollkommene Harmonie zwischen Form und Inhalt, die völlig dem italienischen Text entspricht; in seiner Übertragung entspricht die Treue zum Wort der eleganten Wiedergabe der Sonettform (A. W. Schlegel 1846b: Bd. 4,1). Schlegels Übersetzungen aus dem Canzoniere gehören zu den Meisterwerken romantischer Übersetzungskunst und übten einen großen Einfluss auf die deutsche Literatur aus; sie wurden der wichtigste Bezugspunkt für die Verbreitung dieser Versform in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Durch das Fremde, nämlich Petrarca, dringt so die Sonettform in die deutsche Dichtung ein; durch Schlegels Übersetzungen wird der italienische Dichter das Vorbild für viele deutsche Sonettendichter des 19. Jahrhunderts. Kraft seiner Autorität bringt Schlegel die Sonettform wieder in Mode und zahlreiche Romantiker ahmten sie nach, wie zum Beispiel Zacharias Werner, dessen Sonette als Anregung für Goethes siebzehn Sonette (Winter 1807/1808) dienten (H. J. Schlütter 1969; H. Rüdiger 1976: 9-31), Heine (H. Heine 1993: Bd. X, 194), Immermann (K. Immermann 1971: Bd. I, 62). Schlegels Übertragungen dienen
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ste vollendete Sonett-Übertragung stammt von Ernst Schwabe von der Heyde (um 1600), einem Vorläufer von Martin Opitz. Vgl. L. Jönäcsik 1998: 204f.; T. Höck 1975: 175f. Vgl. A. Aurnhammer 2006: 189-210; G. W. von Rheinbaben 1711: 369. Zur Übertragung des ersten Sonetts aus dem Canzoniere vgl. A. Aurnhammer 2004. Lange Zeit trug er sich außerdem mit dem Plan, eine Biographie Petrarcas mit Einflechtung der Gedichte zu schreiben: vgl. R. Haym 1961: 787. Vgl. Friedrichs Briefe an den Bruder, 7. Dez. 1794 und 4. Juli 1795, (M-59 und 65). Vgl. Schlegels Gedicht Das Sonett (A. W. Schlegel 1846a: Bd. I, 304).
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auch als Hauptmuster für den deutschen Canzoniere von Karl Förster, der 1819 zum ersten Mal eine vollständige Übersetzung des Zyklus publiziert. Förster versucht, sowohl das Metrum als auch den Wortschatz des Originals getreu wiederzugeben; er stellt ausdrücklich fest, dass er dem deutschen Publikum „einen deutschen Petrarca“ (K. Förster 1818: I Teil, VII) anbieten möchte. Försters Übersetzung wird bis ins 20. Jahrhundert mehrmals veröffentlicht; die neunte und letzte Auflage erscheint 1926 (P. Goßens 2006: 483; F. Petrarca 1833: XV). Im 20. Jahrhundert wird Petrarcas Werk, und vor allem sein Canzoniere, wieder bedeutsam. Aber die Übertragungen scheinen jetzt einen neuen Weg zu gehen. Die Philologie hat mit Förster ihren Höhepunkt erreicht; Petrarca ist dank Förster dem deutschen Publikum umfassend bekannt geworden. Anfang des 20. Jahrhunderts scheint so die Hauptaufgabe, nicht mehr den deutschen Dichtern eine inhaltlich und formell treue Übersetzung anzubieten, sondern vielmehr durch das italienische Muster die neuen Ideale der avantgardistischen Bewegung zu unterstützen. So wird zum Beispiel die erste Strophe von Benno Geiger (1937) und Hugo Friedrich (1964) übersetzt: Ihr die ihr lauscht in schütterm Reim dem Klange all jener Seufzer, die dem Herzen teuer zur Zeit der ersten jugendlichen Feuer, als ich noch irre ging in meinem Hange. (F. Petrarca 1937)7 Ihr, die Ihr in verstreuten Versen hört Den Klang der Klagen, die mein Herz genährt Zu jener Zeit des Jugendwahns, als ich So oft ein andrer war, als ich jetzt bin. (H. Friedrich 1964: 234)
Einerseits zeigen die Übersetzungen des 20. Jahrhunderts eine größere Freiheit gegenüber dem Original; sie scheinen vom Wunsch geprägt, den italienischen Text zu transformieren und ihn der deutschen Sprache und Kultur zu nähern. Es reicht als Beispiel die Übersetzung folgender Verse: „il suono di quei sospiri“ („der Schall jener Seufzer“) wird bei Friedrich „den Klang der Klagen“; „in rime sparse“ („in zerstreuten Reimen“) wird bei Geiger „in schütterm Reim“ und „ond’io nudriva ‘l core / In su’l mio primo giovenile errore“ („mit denen ich 7
So lautete Schlegels Übersetzung: „Die ihr in meinen Reimen jene Seufzer / Vernehmt, mit denen ich mein Herz einst nährte, / Als ich im ersten jugendlichen Irrthum / Zum Teil ein andrer war, als der ich jetzt bin“ (A. W. Schlegel 1846b: Bd. 4,1). „Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono / di quei sospiri ond’io nudriva ‘l core / in sul mio primo giovenile errore, / quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono.“
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mein Herz in meinem ersten jugendlichen Irrthum nährte“) wird „die dem Herzen teuer / zur Zeit der ersten jugendlichen Feuer“. Andererseits beginnen in dieser Epoche neben den Übersetzungen auch andere, neue Formen der Aneignung und Assimilation vom Werk der italienischen Klassiker in die deutsche Literatur zu entstehen.
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Die Transformation des Eigenen durch das Fremde: Rilkes und Celans Petrarca
Reminiszenzen aus Petrarca sind Anfang des 20. Jahrhunderts im Werk vieler Autoren zu finden: Stefan George, Hugo von Hoffmannsthal, Rainer Maria Rilke, Rudolf Borchart. Die italienische Renaissance steht Anfang des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der französischen Moderne, die durch den Rückgriff auf Italien auf eine Revision des literarischen Kanons zielt. Durch Petrarcas Vorbild werden die Ideale der antinaturalistischen Avantgarde unterstützt und eine Erneuerung der poetischen Sprache eingeübt. Neben den Übersetzungen gibt es aber nun andere Wege zur Aneignung der Fremde ins Eigene. Ein bedeutendes Beispiel der neuen Orientierung stellt Rilkes Umgang mit Petrarca dar. Rilke übersetzt drei Sonette Petrarcas ins Deutsche. Er setzt sich im Winter 1911 (22. Oktober 1911; 9. Mai 1912) in Duino mit Petrarca auseinander: Er liest Sonette aus dem Canzoniere zusammen mit der Freundin Marie von Taxis und besucht mit ihr Petrarcas Grab in Arquà; an diesen berührenden Besuch und an das lange Verweilen Rilkes an Petrarcas „einsamem Grab“ erinnert die Freundin in ihren Briefen;8 noch im Jahr 1920 wird sie vom gescheiterten 8
Vgl. R. M. Rilke/ M. von Thurn und Taxis 1912: Bd. 1, Brief 131, 222: „Ich lese jetzt fort Petrarca und mit immer wachsendem Entzücken – wir müssen ihn auch einmal zusammen lesen, Serafico wie damals die Vita Nova – / (...)“. „Was ist mit Ihnen? Schreiben Sie mir ein paar Worte – Serafico – denn ‚Passa la nave mia colma d’oblio / Per aspro mare’“, hier zitiert Marie von Thurn und Taxis das Sonett 137 (156) des Canzoniere (Ebd. Bd. 1, Brief 217, Juni 1915, 422). Brief 222, Sommer 1915 (Ebd. 434, Bd. 1): „Und denken Sie noch an die ‚Unbekannte’ die als geheimnisvoller Schatten durch unser Leben huschte? Und unsere Fahrt nach Saonara – die Gärten von Val San Zibbio – und in der Dämmerung das steinerne, einsame Grab von Petrarca“. Brief 229, Wien 10.11.15 (Ebd. 450, Bd. 1): „Und Petrarca’s einsames Grab (…)“. Brief 231, 28.11.15 (Ebd. 457, Bd. 1): „Und auf einmal war alles da unter der niedrigen Wölbung, die Nacht und das Meer und der Sturm (…) daß kaum mehr athmen konnte – ‚Passa la nave mia colma d’oblìo / Per aspro mare, a mezzanotte, il verno ...’ Ces lignes de Petrarque sont les seules dont la puissance évocatrice puisse être comparée à ‚uraltes Wehn...’ et ancore ‚la nave mia’ donne une note humaine qui rapetisse un peu – chez vous, c’èst l’immensité – la mer, le vent, la nuit, les forces de la nature éternelle – Serafico, Sie Gott Begnadeter! War das nicht eine Eingebung des Himmels daß ich Sie D. S. genannt habe? Ganz bestimmt“. Brief 274, 29.9.17 (Ebd. Bd. 2, 522): „Der Tag war prachtvoll – ich dachte an manche herrliche Automobil-Fahrt im Herbst – auch mit Ihnen D. S. damals in Nord Italien und bei
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Projekt einer gemeinsamen Übersetzung einiger Sonette sprechen. In der Duineser Zeit denkt Rilke auch daran, den berühmten Brief Petrarcas über die Besteigung des Mont Ventoux an Francesco Dionigi di Borgo San Sepolcro (26.4.1336) zu übersetzen; in Briefen an Lili Schalk vom 14. Mai 1911 und an Pia Valmarana vom 30. Dezember 1913 bezieht er sich auf die Stelle, wo Petrarca von seiner Lektüre der Confessiones auf dem Mont Ventoux erzählt (R. M. Rilke 1933: 127-128 u. 322). Von diesem Plan ist heute jedoch nur ein Fragment mit der Übersetzung der ersten drei Sätze erhalten (R. M. Rilke 1997: 782, 1288f.); statt den Brief zu übersetzen, scheint Rilke eher die Ideen des Briefes in eine eigene Schrift umzuwandeln; er benutzt das Konzept des Briefes, um seine eigene Auffassung der Poesie und der Aufgabe des Dichters zu bestimmen. 1913 schreibt er den Essay Über den jungen Dichter (R. M. Rilke 1996: 676): Die Besteigung des Mont Ventoux bei Avignon stellt Petrarca unter das Motto einer Bekehrung zur Selbsterkenntnis; ins Zentrum des konkreten Erlebnisses setzt der Dichter das Wort des Augustinus: Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst. (F. Petrarca 1980: 95-96)
Dies wird ihm zum Anstoß, nicht mehr „außerhalb (zu) suchen, Was innen zu finden gewesen wäre“ (R. M. Rilke 1996: 676; vgl. E. Polledri 2008b: 30-31; R. M. Rilke 2008: 1232-1233). Die Worte Augustinus’ und Petrarcas symbolische Besteigung des Berges werden für Rilke im Essay zur Hauptvorstellung der schöpferischen Inspiration; Augustinus conversio wird für Rilke zum Augenblick, in dem der Dichter sein Gedicht auf die Waage legt:
Petrarcas einsamem Grab – Tempi passati.....“. Brief 286, 14.4.18 (Bd. 2, 546): „Und der weiße Speisesaal in Saonara – und der Mondschein in der Arena – und Petrarca’s einsames Grab“. Brief 304, Ende Januar 1920 (Bd. 2, 589-90): „Wenn mir das Band, von amor selbst geschlungen / Wenn Ort und Zeit sich mir im Traum gezeigt (...) er [Walther Kerschbaumer] ist ein Verehrer von Liszt und hat mir sehr viel von diesem herrlichen noch zu wenig anerkannten Meister vorgespielt, darunter drei entzückende Paraphrasen zu drei Sonetten von Petrarca, zu welchen nur die Nummern angegeben sind“. Marie von Thurn und Taxis zitiert Liszt: Années de Pélegrinage. Année 2, Italie, Nr. 6: Petrarca: Sonetto 123. Bei Liszt handelt es sich, wie der vollständige Abdruck des Textes in der Erstausgabe zeigt, vielmehr um das Sonett: Io vidi in terra angelici costumi... (Nr. 123 der neueren Zählung). Marie von Thurn und Taxis folgt der älteren Zählung der Petrarca-Sonette und geriet irrtümlich auf das Sonett Quando mi viene innanzi il tempo e ´loco... (Nr. 142/123). Rilke schreibt als Antwort auf diesen letzten Brief: „Ihre angegebene Zahl stimmte nicht mit der Nummerierung in meiner édition der ‚Rime’ überein und wie ich nun auch blätterte, ich fand nicht das Original Ihrer Version!“ (Brief 305, 3. Mai 1920, ebd. Bd. 2, 593)
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Läge es aber einmal vor ihm, offenkundig, in seiner sichern, auf uns nicht Rücksicht nehmenden Herrlichkeit, – müßte er dann nicht wie Petrarca vor den zahllosen Aussichten des erstiegenen Berges zurück in die Schluchten seiner Seele flüchten, die, ob er sie gleich nie erforschen wird, ihm doch unaussprechlich näher gehn als jene zur Not erfahrbare Fremde. (…) Dies ist der Augenblick, der in die Waage, auf deren einer Schale sein meteorisches Herz ruht, zu erhaben beruhigter Gleiche, das große Gedicht legt. (Ebd.)
Erst einige Jahre später (1918) übersetzt Rilke drei Sonette aus dem Canzoniere (Canz. 278, 289 und 294; R. M. Rilke 1927: 348-350). Aus einem Vergleich dieser Übersetzungen mit dem Original merkt man einerseits Rilkes Bemühungen um eine Annäherung an Petrarcas Sonett; er behält zum Beispiel das Reimschema aller Originale bei und versucht die Assonanzen zu reproduzieren. Auf Italienisch enden zum Beispiel in der ersten Strophe alle Verse mit AAssonanzen und bei Rilke mit I-Assonanzen. Dieser formellen Treue entspricht aber keine philologisch strenge Übersetzung von Petrarcas Gedicht. Die ersten zwei Verse lauten auf Italienisch: „Ne l’età sua più bella et più fiorita, quando aver suol Amor in noi più forza“ („In seiner schönsten Blüte, da uns eben / Amor durchwaltet übermächtig quälend“, F. Petrarca 1990: 736-737); Rilke übersetzt sie so ins Deutsche: „In ihres Alters blühendstem Beginn / da Liebe Kraft gibt, daß man ganz empfinde“ (R. M. Rilke1927: 348). Petrarca schreibt: „È Laura mia vital da me partita“ („hat sich (…) mein Lebensatem ferne mir begeben“ (F. Petrarca 1990: 737); er spielt mit der Doppelbedeutung von „L’aura“ (Laura = Vorname; l’aura = die Luft, der Atem). Rilke übersetzt so: „schwand Laura, die belebende, mir hin“ (R. M. Rilke 1927: 348). Laura erscheint als ein himmlisches Wesen, das nur kurz auf Erden war und schnell wie ein Geist verschwunden ist. In Petrarcas Sonett gibt Laura dem Dichter Kraft; in Rilkes Übertragung quält sie ihn, indem sie ihn daran erinnert, dass er die Erde nicht verlassen kann. Rilke möchte, dass ihn Laura zum Himmel hebt, zu sich bringt und ihm dabei hilft; diese Bewegung von unten nach oben, von der Erde zum Himmel und die Hervorhebung des Unterschieds zwischen Laura und dem Dichter, zwischen einem himmlischen, geistigen und einem irdischen Wesen ist nur bei Rilke, nicht jedoch bei Petrarca zu finden. Auch die vorletzte Strophe übersetzt Rilke in diese Richtung. Rilkes Seele möchte zum Himmel steigen und bei seiner Geliebten weilen; der Dichter unterstreicht seine Sehnsucht nach dem Himmel und beschreibt die erwünschte Himmelfahrt: „Wie die Gedanken stets Gefolg ihr waren, so müsste nun die Seele hinterher / leicht, heiter, steigend, um mich zu bewahren vor solcher Not“9. Auch die letzten Verse interpretiert er neu: Für ihn
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Bei Petrarca: „Ché come i miei pensier dietro a lei vanno, / così leve, expedita et lieta l’alma /
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war Lauras Sterben drei Jahre vorher in sich schön, obwohl er nicht mit ihr zusammen starb; der Tod in sich war schön, denn er bedeutete für seine Geliebte die Befreiung vom irdischen Körper und den Aufstieg zum Himmel; endlich konnte sie ihrer geistigen Natur folgen; Petrarca sagt dagegen, er möchte heute sterben, eben wie seine Geliebte vor drei Jahren starb. Rilkes Übertragung scheint Petrarcas Text einen neuen Akzent zu verleihen. Er verallgemeinert die Klage des Dichters: statt ich sagt er oft man und ersetzt die Possessivpronomina durch bestimmte Artikel. Er unterstreicht stärker den Unterschied zwischen dem schweren Leben auf Erden und dem leichten Tod / Leben im Himmel. Er hebt die Sehnsucht des Dichters hervor, seiner Geliebten zu folgen. Der starken Trennung zwischen Geist und Körper, Erde und Himmel, Diesseits und Jenseits entspricht eine Analogie zwischen Lauras Geist im Himmel und der Seele des Dichters auf Erden: Obwohl der Körper des Dichter leidet, kann sich seine Seele „leicht, heiter, steigend“ (v. 11) zum Himmel erheben. Aufgrund dieser Ähnlichkeit kann sich der Dichter Laura annähern; er selbst kann sich in ein geistiges Wesen verwandeln. Diese Idee der Verwandlung gibt es bei Petrarca nicht, ist aber typisch für die Sonette an Orpheus. Auch in der Übersetzung des zweiten Sonetts scheint Rilke dieselben Elemente hervorzuheben. Im Sonett 289 bedankt sich Petrarca bei Laura, denn sie hat in ihm die Tugend erweckt; sie hat ihn durch „(ihren) Rat und Augenmerk“ (R. M. Rilke 1927: 349) verwandelt und ihn zu einem tugendhaften Menschen gemacht. Rilke betont in seiner Übersetzung die doppelte Bewegung vom Himmel zur Erde und von der Erde zum Himmel; er beschreibt, wie der Himmel sich freundlich zu Laura neigte und wie er sie zu ihrem Sterne erhöhte. Er streicht wie im vorigen Sonett die Trennung zwischen Hier (der Erde) und Dort (dem Himmel) heraus, was bei Petrarca nicht vorkommt und betont, dass der Dichter von der Erde durch seine Dichtung die Geliebte im Himmel lobt, während sie vom Himmel durch ihren liebevollen Blick sein Wesen verwandelt und ihn zu einem tugendhaften und des Himmels würdigen Menschen werden lässt. Die Geliebte ruft so im Liebenden eine Wandlung, eine Verwandlung hervor und nähert ihn dem Himmel, dem Geist.10 Es gilt für Petrarca, was Adorno über Rilkes Valery-Übersetzungen gesagt hatte:
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la segua, et io sia fuor di tanto affanno“ („Leicht, wie sich die Gedanken um ihn scharen / folgte ihm ja, mit freudigen Gebärden, / die Seele, und der Not wär ich entfahren“) (F. Petrarca 1990: 736f.) „Erhabne Flamme, mehr als schöne, schön, / zu der der Himmel neigte so unstreitig, / daß er beschloß, sie auch für mich zu zeitig, zu dem ihr gleichen Sterne zu erhöhn. // Jetzt erst erwach ich und gewahr, wie sie / zu meinem Besten jenen Wünschen wehrte / da sie der Glut, die Jugend noch vermehrte, / ihr Antlitz süß zugleich und trügend lieh. // Ihr dank ich, ihrem Rat und Augenmerk; / wie machte sie mit sanftestem Verachten / in meinem Brand das eigne Heil mir dringend. // Durch Künste, welche würdge Früchte brachten, / war Zunge hier und Braue dort am Werk, / ich Ruhm auf sie, sie in mich Tugend bringend“ (ebd.). Bei Petrarca: „Die Lebens-
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Rilke hat das Grundgesetz jeglicher legitimen Übertragung, die Treue zum Wort, verletzt und ist gerade Valery gegenüber in eine Übung des ungefähren Nachdichtens zurückgefallen, die weder dem Modell Gerechtigkeit widerfahren läßt, noch kraft dessen strenger Abbildung sich in sich selbst zur vollen Freiheit erhebt. (Th. Adorno 1981: 114)
Rilkes Übersetzungen Petrarcas erscheinen in dieser Hinsicht als eine Vorbereitung der Themenkreise seiner Sonette an Orpheus. Rilke zeigt seine Meisterschaft weniger in den Übersetzungen von Petrarcas Gedichten als vielmehr in der Abfassung von eigenen Sonetten; die Übersetzungen sind für ihn nur eine Übung und eine Vorwegnahme der Konstellation und der Themen, die er später in den Orpheus-Sonetten entwickeln wird. In den Sonetten an Orpheus, die im Januar 1922 in Muzot der früh gestorbenen Tochter der Freundin Gertrud Ouckama Knoop gewidmet werden, werden die Verwandlung, die Metamorphose der Erde zu den Hauptthemen seiner Dichtkunst: Die Engel sind Wesen, die zwischen zwei Welten wohnen und die die Grenze zwischen dem sichtbaren Reich der Lebenden und dem unsichtbaren Reich der Toten überschreiten können; dadurch zeigen sie den Menschen, dass die ständige Verwandlung aller Wesen die Chiffre der menschlichen Existenz ist (R. M. Rilke 1955: Son. I, 12, 738). Orpheus ist der Gott, der durch seinen Gesang die Welt in Musik verwandelt (Son. I,I) und der vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Erde zum Himmel führt. Orpheus erscheint hier als ein Baum, der sich zum Himmel erhebt: Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! Oh hoher Baum im Ohr! (Ebd. 731)
Rilkes Rezeption des petrarkischen Sonetts zeigt, dass die italienische Literatur zur Entstehung einer neuen originellen Form in der deutschen Dichtung beitrug; der Kanon der deutschen Lyrik des 20. Jahrhunderts hat sich unter anderem auch durch die Rezeption des Fremden bzw. die Bearbeitung und Verwandlung der italienischen Literatur gebildet. Rilke ist nur ein Beispiel dafür, viele andere Dichter des 20. Jahrhunderts scheinen die Übersetzung meist als eine Möglichkeit zu betrachten, um sich das Fremde anzueignen und es dann in den eigenen flamme, schön ob allen Schönen, / der hier der Himmel hold war und gewogen, / ist (allzu früh für mich) der Welt entflogen, / mit dem ihr gleichen Stern sich zu versöhnen. // Nun wach ich auf und sehe: meinem Wähnen / hat sie zu meinem Besten sich entzogen / und meiner Jugendbrände wildes Wogen / gestillt mit Blicken, die sie süß verspönen. // Dem hohen Rat verdank ich es der Fraue, die schön von Antlitz, lieblich von Entrüstung / mich brennend meines Heils gedenken machte. // O zarte Kunst, o stolze Überlistung: / dass mit der Zunge ich, sie mit der Braue, / ich sie zu Ruhm, sie mich zur Einsicht brachte.“ (F. Petrarca 1990: 759)
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Werken zu transformieren. Für Petrarcas Rezeption sind neben Rilke auch George11 und Celan exemplarisch. Als Beispiele werden hier Celans Gedichte Hinausgekrönt und Lößpuppen zitiert: Und wir sangen die Warschowjanka. Mit verschilften Lippen, Petrarca. In Thundra-Ohren, Petrarca. (P. Celan 2001: 111) Lößpuppen: also Hier steints nicht, nur Landschneckenhäuser, unausgeblasen. Sagen zur Wüste: du bist bevölkert – die Wildpferde stoßen in Mammuthörner; Petrarca Ist wieder in Sicht. (P. Celan 1994: 115)
Celan hatte Mandelstams Hufeisenfinder übersetzt und hatte die Memoiren von Ilja Ehrenburg (Menschen, Jahre, Leben) über Mandelstams Leben gelesen, in denen erzählt wurde, dass Mandelstam in einem sibirischen Durchgangslager in einem Akt eines geistigen Überlebensversuchs Petrarca rezitiert. Die Übersetzung von Mandelstams Werk bringt Celan zu Petrarca, den er dann in seinen Gedichten zum Symbol der Dichtkunst und zum Mittel erhebt, eine Hommage an den Dichter Mandelstam und an die Kraft der Poesie zu führen, die zum Überleben in schwierigen Verhältnissen ermuntert.
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Vor Rilke hatte sich der junge Stefan George mit Petrarca beschäftigt und ein Sonett übersetzt. S. George 2003: Bd. 1, 63 (Sonnet nach Petrarka): es handelt sich um die Übersetzung aus dem zweiten Teil des Sonetts „Levommi il mio penser in parte ov’era“ (Canz. 302).Vgl. T. Fitzon 2006: 539-561; E. Rosenfeld 1961: 296-297.
Petrarca: Aneignung, Transformation, Metamorphose des Fremden
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Die Metamorphose des Fremden ins Eigene in der Gegenwartsliteratur
Die Gegenwartsliteratur versucht nicht mehr nur durch Übersetzungen oder durch die Assimilation von fremden Mustern ihre Norm zu finden; Übersetzungen und Nachdichtungen sind heute nur einer der Wege, um die fremde Kultur in der eigenen zu integrieren. Im Fall Petrarcas regte das Dichter-Jubiläum im Jahr 2004 die Produktion vieler essayistischer und poetischer Beiträge bekannter Autoren und Autorinnen an, unter anderem von Friederike Mayröcker, Oskar Pastior, Yoko Tawada, Robert Gernhardt und Durs Grünbein. Neben einigen Beispielen einer sehr konservativen und archaischen Petrarca-Pflege erscheinen die Petrarkisten heute vor allem als fortschrittliche Lyriker der Moderne. Wir stehen in den meisten Fällen jenseits jeder Nachahmung Petrarcas; was die deutschen Dichter unternehmen, ist keine Imitation, aber auch keine Bearbeitung und Aneignung des fremden Musters, wie im Fall Rilkes, sondern eher, wie Oskar Pastior selber sagt, eine „Annäherung“ (O. Pastior/ F. Petrarca 1983: 80). Es handelt sich um Werke, in denen das Fremde Anlass für Reduktionen und Entrhetorisierung des Originals, für die Entstehung von neuen Assoziationsfeldern wird, die im Original nicht vorkommen. In einigen Fällen wird die fremde Dichtung intertextuell mit der eigenen, die alte mit der modernen verflochten und das Neue, das Eigene, enthält das Fremde als Zitat oder nur als Erinnerung. Fragmente von verschiedenen Autoren und Epochen werden ineinander integriert, das ist der Fall bei Paul Celan und in Werner Hamachers Hommage an Petrarca Responsionis fragmenta, wo Petrarca neben Celan und Mandelstam zitiert wird und durch Zitate aus verschiedenen Dichtern ein intertextuelles Gewebe entsteht: SONN’ Hätte, WEISS, du weißt, sie mählte Das grüngeschrieene Blatt mit Schnee, mit Eis hier zu, und du, sola, allein, sprächst ihr sprächst – das Grüne il verno entgegen; Sonn’ hätte hier alles vereist, schriebst du nicht – schriebst – einen Schatten in sie hinein, einen Strauch, Lorbeerenwind, lau und rar, der wächst wie ich rede, crescendo mentr’io parlo, und scharrt – scharrt – mit Wildpferdehufen aus Eisgeschichten, Weißgeschichten verdeggia hervor, diesen Grünspan an Schatten und Stein, aus der Tundra Arkaden Petrarca Ist wieder In Sicht – Celansi, fern und verhohlen.
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Elena Polledri HINWEISE: Petrarca – Canzoniere No. 188-189. Ossip Mandelstam – Der Hufeisenfinder. Ilja Ehrenburg – Menschen, Jahre, Leben; Paul Celan – Hinausgekrönt. Paul Celan – Lößpuppen. (W. Hamacher 2004: 26)
In anderen Fällen entfernt sich das Eigene immer mehr vom Fremden und statt es in sich einzubeziehen und zu integrieren, scheinen viele Dichter der Gegenwart eine Art Gewalt gegenüber dem Original auszuüben; sie unterdrücken das Fremde, montieren es ab und konstruieren ein neues Wesen, das außer einigen intertextuellen Bezügen wenig Gemeinsames mit dem Original hat. Als Beispiel gelten hier die Worte von Oskar Pastior in seinem Buch Francesco Petrarca, so wie eins seiner 33 Gedichte: „Es“ hieß zunächst, Sprache von Petrarca in der Hand halten, das Papier fühlen, die Schrift schnuppern. Auch später war es, wenn ich mich nicht täusche, keine echte Ambition, diese Gebilde „so wie sie sind“ übersetzen zu wollen; als wäre das überhaupt möglich (...). Daß ich nicht italienisch spreche, war ja nicht ausschlaggebend. Als ich dann aber, es geschah plötzlich, eine (vermutlich mir gemäße) poetologische Aufgabenstellung zu entdecken glaubte, hatte mich bereits die Neugierde gepackt. (...) Plump gesagt, die Metaphern (und auch der Umgang mit ihnen in manchen vorhandenen deutschen Übersetzungen) schienen mir unzuverlässig, aus zweiter Hand; es reizte mich, sie abzuklopfen, anzurubbeln, wie Abziehbilder; bloß mit dem Unterschied, daß ich hier ja die glänzend-bunte Oberflächenschicht der Bilder probeweise „beseitigen“ wollte, um herauszufinden, was sich, eher matt, monochrom, an Anschauung, Erkenntnisvorgängen, ja vielleicht Erkenntnistheorie, „darunter“ verbirgt; bei Petrarca verborgen haben mag (…) Denn wenn ich es für unsachdienlich halte, diese als Übersetzung (Übertragung, Nachdichtung) zu bezeichnen, so deshalb, weil, wie ich meine, nicht im Vergleich mit dem Original der Angelpunkt liegt, sondern in der künstlichen Gleichzeitigkeit beider – zumindest hier im Buch, durch das die Zeitfalte geht, trotzdem, und wo die herkömmliche Polarisierung (hier „Original“ – hier „Verdolmetschung“) die Sachen ungenügend erklären würde. (O. Pastior/ F. Petrarca 1983: 78-83)
Durch freie und extreme Assoziationsfelder, durch Manipulationen und Reduktionen des Originals kommt man zu Werken, in denen das Fremde kaum erkennbar ist, wie folgende Nachdichtung Pastiors von Petrarcas Canzone LXI zeigt: Guten Tag, von dem ich spreche; der eine gute Tag; die Woche, der Monat, das Jahr; die Jahreszeit, die Witterung, die Stunde, der Augenblick; das weite Land, der Ort; der Ort mit den zwei Augen; von ihnen spreche ich, von ihnen komme ich nicht los; von unserem ersten Mal, dem Umstand und dem Ziel; ich spreche in konzentrischen Kreisen von der einen Sache; immer ins Herz; der Name, mit dem ich sie umgab, die Wellen, die er schlägt, indem ich davon spreche; von der Entbehrung; ich weiß wo-
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von ich spreche; ich heiße dich gut; selbst in Belegen, die dich künstlich niederschlagen; und noch in jenen Gedanken, von denen ich absehe; davon, und von nichts anderem, ist die Rede.12 (O. Pastior/ F. Petrarca 1983: 8)
Petrarcas Canzone wird im zweiten Teil des Buches, unabhängig von Pastiors Bearbeitung, wiedergegeben, denn die Sonette im Original werden von Pastiors Annährungen „nicht berührt“ (ebd. 83). Trotz allem scheint Petrarca hinter den Worten der Gegenwartsautoren nicht völlig verschwunden zu sein, er hat sich aber völlig umgewandelt; er spielt jetzt in dem künstlerischen Schaffensprozess eine völlig neue Rolle; er ist zum unentbehrlichen Anlass einer neuen Dichtkunst geworden, die aus dem Dialog mit dem Fremden die Schönheit des Eigenen entdecken kann. Folgende Manipulationen des Fremden im Eigenen seien deshalb nicht als zu kritisch zu beurteilen und vor allem nicht aus einer streng philologischen Perspektive. Wichtig ist in diesem Fall nicht der Anfang, sondern das Ende, nicht die italienische Quelle, deren Schönheit und dichterische Würde nie in Frage gestellt werden könnten, sondern der Wert und die Bedeutung des literarischen Werkes, das aus dem Dialog, der Integration und der radikalen Metamorphose des Fremden entstanden sei; das in das Eigene eingedrungene Fremde kann heute zu neuen Formen der Dichtung und zur Entdeckung des Originellen und Neuen in der eigenen Dichtung führen. So sind Mayröckers Worte über Petrarcas Laura nur ein Beispiel, dafür, dass das Eigene manchmal auch das Fremde braucht, um erhabene Dichtung stiften zu können: Wälder und Quellen und Aura und Lüftchen und Laub und sie, Laura, blinzelt in meiner Richtung, die Stube voll Bücher das Hutfach die Entfaltung von Liebe und Litanei, ihr Auge ist Geistes Auge und Blätterwald, wo jeder Dorn uns ritzte oder bei Mondschein suchte (ich) ihre Hand die sie mir bald wieder entzog, zum Fenster schauend (ich) starrend, der Boden heute wie Bein gefroren, und (ich) war entflammt, sie sasz auf getürmten Kissen auf dem Fuszboden und (ich) zu ihren Füszen 12
„Benedetto sia ‘l giorno, et ‘l mese, et l’anno, / Et la stagione, e ‘l tempo, et l’ora, e ‘l punto, / E ‘l bel paese, e ‘l loco ov’io fui giunto / Da duo begli occhi che legato m’hanno. / E benedetto il primo dolce affanno / Ch’i’ ebbi ad esser con Amor congiunto, / E l’arco, e le saette ond’ i’ fui punto, / E le piaghe che ‘nfin al cor mi vanno. / Benedette le voci tante ch’io / Chiamando il nome de mia donna ho sparte; / E i sospiri, e le lagrime, e ‘l desio. / E benedette sian tutte le carte / Ov’io fama l’acquisto, e ‘l pensier mio, / Ch’è sol di lei, sicch’altra non v’à parte. Le Rime, LXI“ (O. Pastior/ F. Petrarca 1983: 44) „Gebenedeit der Tag, der Monat; Jahres / und Tages Zeit und Stunde, die Sekunden, das schöne Land, der Ort, da mich gebunden / der Zauber eines schönen Augenpaares! // Gebenedeit der süße Kummer (war es / der erste doch, seit Amor mich gefunden), / der Bogen und die Pfeile und die Wunden / tief bis in meines Herzens Unsichtbares! // Gebenedeit die Worte, anzuhören / als Rufe, die der Herrin Namen nennen, / die Seufzer und die Tränen , das Begehren! // Gebenedeit – daß sie ihr Ruhm gewönnen! – / mein Werk und Sinnen, die nur ihr gehören, / so daß sie keiner andern Anteil gönnen!“ (F. Petrarca 1990: 177)
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Elena Polledri und wir sprachen von der Sequenz in meinem jüngsten Buch, die diese unsere Szene im vorhinein also aus der Phantasie abgepaust hatte, oder machten wir jetzt nur alles nach? War es nur 1 Kopie der Szene aus meinem Buch?, und (ich) war der eigenen Blüte entkommen. Nämlich als ob man träumen könnte dasz sich die Meerespforten öffneten (Max Ernst), dies Stillsticken, so geht die Liebe ein und aus und ohnegleichen, und Spielart des Veilchens ihre Augen. Fast sitze (ich) stundenlang am Fenster und blicke hinaus und hinauf in den Himmel mit Farbe und Feuerlilie und überlege, hatte (ich) diese Briefe an sie wirklich geschrieben oder war man nur in der Andacht geblieben, (ich) war 1 Eiland und Land und glitzernd den ganzen Flusz hinunter, sage (ich) zu Laura, also habe (ich) mich verfangen im Feuer deiner Augensterne. (F. Mayröcker 2004: 9).
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Literaturen der Transmigration: Zsuzsanna Gahse Christa Baumberger
Um allen Missverständnissen vorzubeugen: das Wort Migration hängt nicht mit Migros zusammen, Migration heisst Wanderung. Aber Migros ist ebenfalls eine Art Fremdwort, und ohnehin fallen einem durch Fremdwörter gleich weitere Fremdwörter ein, wobei in diesem Fall die Verwechslung aufschlussreich ist, da es immer die Fremden sind, die migrieren. Migräne. (Zs. Gahse 2005: 34)
Wer so das Stichwort Migration umspielt, schreibt keine typische Migrationsliteratur. Es ist der Auftakt zu einer Kleinen instabilen Ortskunde, und in ersten Umrissen zeichnet sich bereits in diesen wenigen Sätzen eine regionale Sprachlandschaft ab, aus der das ‚Fremdwort’ Migros herausragt. Migration und Migros – die Verneinung deutet listig darauf hin – haben doch einiges miteinander zu tun. Nicht nur stehen sie im Duden direkt untereinander (Duden 2006: 687), auch semantisch decken sie beide, zumindest ihrem Ursprung nach, ein ähnliches Feld ab, ein Feld der Wanderung, der Zirkulation, des Austauschs, Verteilens, Verhandelns. Der Neologismus Migros, dies als Erklärung für Ortsunkundige, ist der Firmenname des größten schweizerischen Detailhändlers. 1925 von Gottlieb Duttweiler gegründet, sollte im Unternehmen Migros das Prinzip des Großverteilers mit dem Detailhandel verbunden werden. Dies kommt im Firmennamen Migros zum Ausdruck, der sich aus den französischen Elementen ‚demi’ und ‚en gros’ zusammensetzt. In der Frühphase der Migros – und das ist in diesem Zusammenhang von Interesse – wurden die Lebensmittel ausschließlich über Verkaufswagen, die in den verschiedenen Quartieren, Ortschaften und Dörfern zirkulierten, an die Kunden gebracht.1 Zsuzsanna Gahse entwirft in wenigen Sätzen ein komplexes Feld globaler Zirkulationen: Erstens die Migros als schweizerisches Symbol der Güterzirkulation schlechthin, zweitens Migration als aktuelle Wanderbewegungen von Personen in einer globalisierten Welt und drittens Fremdwörter als auffälligste Kennzeichen sprachlicher Zirkulation und des Sprachkontakts. Zirkulation in dieser dreifachen Verflechtung impliziert eine Verlangsamung, sie äußert sich als Unterbrechung des ‚courant normal’ und enthält ein retardierendes Moment – 1
Vgl. die Firmenwebsite: http://www.migros.ch/DE/Services/fragen/Seiten/Oft_gestellte_Fragen., aspx (20.4.2009)
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Christa Baumberger
damit lädt sie ein zur Reflexion. Gütertransfer, Menschenströme, Sprachaustausch: Das auf assoziative und sprachspielerische Weise abgesteckte Feld ist weit. Das mag Kopfzerbrechen bereiten. Den Fluchtpunkt dieser Sätze bildet denn auch die Migräne, ein weiteres Fremdwort und damit eine zusätzliche Referenz an die Sprache. Wenn Gahse, wie oben, über „die Fremden“ schreibt, so sind damit nicht nur Personen gemeint, sondern immer auch die Sprache, mithin die Fremdwörter. Reflexionen über Sprache, wie hier zum Verhältnis von Fremdsprache und Sprachfremde, stehen im Zentrum all ihrer Texte, denn Gahses eigentliches Thema ist die Inszenierung von Sprache, oder wie Andrea Köhler formuliert: „die allmähliche Verfertigung der Bedeutung beim Schreiben“ (zit. in S. Sabin 1999/2008: 7). Hat die Fremde in diesem doppelten Sinn tatsächlich nichts mit Migrationsliteratur zu tun?
1
Literaturen der Migration: kulturelle und poetische Alterität
‚Migrantenliteratur’, ‚Migrationsliteratur’ bzw. ‚Literaturen der Migration’: Die Begriffsvielfalt bezeugt bereits, dass die interkulturelle Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten verschiedene Etappen durchlaufen hat und es sich um ein ebenso aktuelles wie kontroverses Forschungsfeld handelt.2 Am Ursprung einer entsprechenden Kategorisierung stehen meist biographische Kriterien: die Nationalität, die Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit, oder die Thematisierung von Migrationssituationen in den Texten, wobei die autobiografische Ausrichtung häufig mit realistischen Erzählweisen konvergiert. Als typische Symbole der Migrationsliteraturen gelten: das Motiv der Reise, Raummetaphern und topologische Vorstellungen (z. B. der Zwischenraum und das Dazwischen als Symbol des ständigen Unterwegs-Seins). Ein weiterer Topos ist die Heimat, deren eigentlich positive Konnotation sich im Sinne einer Verlusterfahrung auch ins Negative wenden kann (Gefühl der Heimatlosigkeit bzw. eines instabilen Ortes im „Dazwischen“). Des Weiteren die Fremde und damit verknüpft Konzepte von Identität, welche sich häufig im Begriff der Entwurzelung ausdifferenzieren. Typisch ist überdies die Gegenüberstellung von Herkunftsland und Migrations2
An dieser Stelle sei einzig auf einige einschlägige Übersichtsdarstellungen verwiesen: Einen Überblick über die erste Etappe der sogenannten Migrantenliteratur und das Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem bietet S. Weigel 1992: 182-229, vgl. insbesondere das Kapitel „Migrantenliteratur“, 207-229. Als Synthese der jahrzehntelangen Bemühungen um die Institutionalisierung und wissenschaftliche Konturierung der interkulturellen Germanistik kann das von Alois Wierlacher und Andrea Bogner herausgegebene Handbuch interkulturelle Germanistik (2003) verstanden werden. Zur interkulturellen Literaturwissenschaft: M. Hofmann 2006; N. Mecklenburg 2008. Zur Begriffsbildung: A. Blioumi 2000: 595-601; S. Keiner 1999: 3-14.
Literaturen der Transmigration: Zsuzsanna Gahse
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land samt den damit verbundenen Problematiken von Akkulturation und Assimilation. Weigel hält als Synthese für die erste Etappe der deutschsprachigen Migrantenliteratur fest, dass es sich bei einem großen Teil um Erfahrungstexte schreibender Migranten handle. Diese Gedichte, Berichte oder Erzählungen gehen über die Darstellung und Verbildlichung der Migrantensituation und eine „symbolisierende Wahrnehmung der deutschen Welt“ (S. Weigel 1992: 218) nicht hinaus. Im Rahmen kulturwissenschaftlicher Theoriedebatten gab es in den letzten fünfzehn Jahren Bemühungen, das fortgesetzte Denken in Polaritäten zu überwinden. Das Ziel ist die Abkehr vom festen Standpunkt und die Hinwendung zum dynamischen – positiv konnotierten – Zwischenraum, zur Dislozierung und kulturellen Überschreitung. Die aktuelle interkulturelle Literaturwissenschaft fokussiert das Ineinandergreifen von Differenzen der Sprache und Kultur und damit das Verhältnis von kultureller und poetischer Alterität. Es stellt sich dabei die Frage, wie beide auf nicht reduktive Weise miteinander in Bezug gesetzt werden können.3 Poetische Alterität wird dabei als von der Norm abweichender Sprachgebrauch, als Differenzqualität der poetischen Sprache gegenüber der Alltagssprache verstanden. Diese Verfremdung, die einen intendierten Reflex auf den Fremdheitscharakter der literarischen Sprache darstellt, kann durch verschiedene Verfahren bewirkt werden, z.B. durch Herstellung von Mehrdeutigkeiten, sprachliche Polyphonie, aber auch durch literarische Formen wie Satire, Parodie oder Pastiche.4 Durch die Dominanz der poetischen über andere Sprachfunktionen wird die Beziehung zwischen Wörtern und Sachen in der Schwebe gehalten. Im poetischen Sprachspiel werden die referentielle und die kommunikative Funktion von Sprache paradox suspendiert. Der Begriff der kulturellen Alterität basiert auf der Prämisse, dass die Auseinandersetzung mit fremden Kulturen nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass das jeweils Differente vor dem Hintergrund des Gemeinsamen erkennbar wird. Kultur wird dabei nicht ausschliesslich als Lebensweise einer Gesellschaft verstanden, sondern in einem engeren Sinn als Teil des Reproduktionssystems einer Gesellschaft, der spezifische Leistungen erbringt wie beispielsweise die Wissenschaft, Kunst oder die verschiedenen Berufsfelder. Literatur, als verfremdender Umgang mit Zeichen, vermag für Differenzwahrnehmung zu sensibilisieren. Sie enthält und vermittelt kulturelle Muster, wobei sie je nachdem nicht 3
4
Zu den Begriffen poetische und kulturelle Alterität vgl. den grundlegenden Artikel von N. Mecklenburg 2008a: 215-225 (erste Fassung 1987); Mecklenburgs Lexikonartikel „Interkulturelle Literaturwissenschaft“ in: A. Wierlacher/ A. Bogner (Hrsg.) 2003: 433-438; M. Hofmann 2006: 52-56; zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte: E. Bronfen et al. (Hrsg.) 1997. Vgl. zum Begriff der ‚Polyphonie’ M. Bachtin 1979: 154-300; Ch. Baumberger 2006: 19-26.
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Christa Baumberger
nur kulturelle Fremdheit ab-, sondern auch aufbaut. Sie kann nicht nur das Fremde als Fremdes darstellen, sondern auch das Eigene und Vertraute fremd erscheinen lassen, Fremdheit erweist sich so als ein diskursives Erzeugnis, ein Effekt des Textes. Entsprechende literarische Verfahren und Phänomene sind mit dichotomischen Begriffspaaren wie Norm und Abweichung nicht zu fassen. Rückt man die Schnittstellen zwischen poetischer und kultureller Alterität ins Zentrum, so geraten Autorinnen und Autoren ins Blickfeld, die gar nicht vordergründig einer Literatur der Migration zugerechnet werden. Auffälligerweise sind es häufig Autorinnen aus dem mittel- und osteuropäischen Raum, deren Literatursprache Deutsch ist, die einem plurikulturellen Kontext entstammen und diesen genauso wie ihren Sprachgebrauch facettenreich reflektieren. Den Texten eignet häufig eine poetologische Dimension, welche über die mimetische Darstellung und Verbildlichung von Situationen der Fremdheit und Migration hinausführt. Die Ungarin Zsuzsanna Gahse (*1946) ist eine typische Vertreterin einer solchen Literatur. Gahses Familie wanderte 1956, nach dem ungarischen Volksaufstand gegen das stalinistische Regime, nach Wien aus, wo sie die Schulen besuchte. Nach längeren Aufenthalten in Stuttgart und Überlingen am Bodensee lebt Gahse heute in Müllheim in der Schweiz. Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit ist sie als Übersetzerin aus dem Ungarischen tätig (u.a. Péter Nádas und Péter Esterházy). Eine weitere Autorin, deren Biographie auffällige Analogien zu Gahse aufweist, ist die ebenfalls 1946 geborene Ilma Rakusa. Sie stammt aus der Slowakei und verbrachte ihre Kindheit in Budapest, Ljubljana und Triest, bevor sie mit sieben Jahren nach Zürich in die Schweiz kam, wo sie seither lebt. Rakusa übersetzt aus dem Französischen (Marguerite Duras u.a.), Russischen (Marina Zwetajewa u.a.), Serbokroatischen (Danilo Kiš) und dem Ungarischen (Imre Kertész u.a.). Dass diese Autorinnen, gerade weil sie auch Übersetzerinnen sind, eine besondere Affinität für poetische und kulturelle Alteritäten haben, ist eine naheliegende These, die andernorts überprüft werden müsste. Eine weitere Analogie ist, dass beide mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt wurden (Rakusa im Jahr 2003, Gahse 2006), was nicht nur ihrer Mehrsprachigkeit und dem plurikulturellen Hintergrund sowie der Vielfalt an kulturvermittelnden Tätigkeiten zuzurechnen ist, sondern auch bestimmten motivischen Konstanten und literarischen Topoi, welche die je eigene Poetik der Fremdheit konstituieren. In ihren Chamisso-Poetikvorlesungen sowie in Gahses programmatischem Essay Übersetzt. Eine Entzweiung (1993) wird erforscht, wie
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Bedeutung bei der Übertragung von einer Sprache in eine andere entsteht – in den eigenen literarischen Arbeiten wie auch beim Übersetzen fremder Texte.5 Im Folgenden sollen die poetologischen Grundzüge von Zsuzsanna Gahses Literatur herausgearbeitet werden, die in der eingangs zitierten Passage bereits aufscheinen und sich in ihrem jüngeren Werk kontinuierlich verfolgen lassen. Ich folge den Konstituenten der Migrationsliteratur und fokussiere dabei das Motiv der Reise und des Unterwegsseins sowie die Raummetaphorik. Am Schluss stellt sich die Frage, inwiefern gerade die Schweiz als mehrsprachiger und plurikultureller Interferenzraum, der ja auch den Lebensraum dieser Autorinnen darstellt, zu einer weiteren Auffächerung und kulturellen Diversifizierung beiträgt.
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Das Motiv der Reise: mäandrierende Narration
Das Motiv der Reise als Konstante der Migrationsliteraturen – Gahse findet dafür folgende lapidare Formel: „Migration heisst Wanderung“ (Zs. Gahse 2005: 34). Doch damit ist nicht alles gesagt. Literarisch gestaltete Migration impliziert eine ständige Bewegung, nicht nur ein konkretes Durchwandern realer Länder und Räume, sondern auch eine textuelle Bewegung, die sich in einem bestimmten Sprachfluss äußert. Den Ausgangspunkt bei Gahse bildet dabei meist ein namentlich erwähnter, realer Ort. Anders als in typischen Migrationserzählungen befindet sich das erzählende Ich dabei häufig gerade nicht auf der Reise, sondern die (fiktionalisierte) Ortschaft bildet den Ausgangspunkt eines mäandrierenden, verselbstständigten Erzählflusses. In durch und durch6 verharrt es statisch in seinem Haus, das an einem zentralen Platz im Ort Müllheim im Thurgau situiert 5
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Vgl. I. Rakusa 2006, Zs. Gahse 1993; Zs. Gahse 2009. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis wurde von Harald Weinrich (Institut für Deutsch als Fremdsprache, Universität München) und der Robert-Bosch-Stiftung 1985 initiiert und wird seither jährlich verliehen. Berücksichtigt werden Autoren, deren Muttersprache und kulturelle Herkunft nicht die deutsche ist, die mit ihrem Werk aber einen wichtigen Beitrag zur deutschsprachigen Literatur leisten. Zur Auswahl der prämierten Autorinnen und Autoren heißt es: „Die ausgezeichneten Autoren haben ganz unterschiedliche kulturelle Hintergründe und sind durch Arbeitsmigration, Asyl, Exil oder Studium nach Deutschland gekommen. Eines aber verbindet sie: Die deutsche Sprache, in die sie eingewandert sind und die sie zu ihrer eigenen und wichtigsten Ausdrucksform gemacht haben. Dieser Wechsel in die deutsche Sprache geht dabei weit über deren Alltagsgebrauch hinaus. Er vollzieht sich in künstlerischer und literarischer Aneignung und macht das Werk der Adelbert-von-Chamisso-Preisträger zu einem selbstverständlichen Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.“ Informationen abrufbar auf: http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14169.asp (29.4. 2009). Der Ort gibt dem Werk auch seinen Untertitel: Müllheim/Thur in drei Kapiteln, 2004.
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ist – einem Knotenpunkt für den Durchgangsverkehr und zugleich Wohnort der Autorin – und beobachtet vom Schreibtisch aus die Durchreise der „halben Welt“: Täglich sitze ich am Fenster und die halbe Welt zieht an mir vorbei, Vagabunden, Transmigranten, empfindsam Reisende, Ausgewanderte, auf der Suche nach dem Schwabenweg, dem Weg nach Santiago de Compostela, nach der Hohlen Gasse, der Straße der Ölsardinen, und wenn es stimmt, dass alle anderen einigermaßen ich sein könnten, ziehe ich bis zu einem gewissen Grad selbst an mir vorbei (...) (Zs. Gahse 2005: 12)
Unterschiedliche Reisemotive und Traditionen der Reiseliteratur werden hier miteinander verwoben: einerseits religiös motivierte Pilgerreisen (der Schwabenweg als ein Teil des Jakobsweg, der quer durch Europa nach Santiago de Compostela führt), andererseits der Schweizer Nationalmythos um Wilhelm Tell, der laut Legende 1307 in der Hohlen Gasse mit seiner Armbrust den habsburgischen Landvogt Gessler erschossen haben soll. Mit den „empfindsam Reisenden“ und der „Straße der Ölsardinen“ werden aber auch literarische Muster aktiviert: Die „empfindsam Reisenden“ sind als Reminiszenz einer literarischen Tradition des 18. Jahrhunderts zu verstehen, welche die subjektiven Reiseerlebnisse in den Vordergrund rückte.7 Die Straße der Ölsardinen, so der deutsche Titel des 1945 publizierten Romans Cannery Row von John Steinbeck, steht hingegen für eine assoziative, disseminierende Erzählweise, wie sie Gahse in ihrem Werk selber pflegt. In 32 Kapiteln werden die Ereignisse der Bewohner und Arbeiter an der Cannery Row geschildert, einer Straße voller heruntergekommener Ölsardinenfabriken. Der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren angesiedelte Text besitzt zwar als narratives Zentrum die Figur des Meeresbiologen Doc, es wird aber in vielerlei Episoden das Zusammenleben und Aufeinandertreffen der Kuppler, Vagabunden, Prostituierten und Spieler geschildert, wobei diese Ausschnitte und Minutenaufnahmen wenig oder keinen Bezug zur Haupthandlung haben. Eine solche disseminierende Erzählweise ist auch bei Gahse Programm. Durch und durch steht unter dem Zeichen des Sammelns und der gleichzeitigen Zerstreuung: Flüchtige Wahrnehmungen und Beobachtungen des Geschehens auf der Straße ergeben Geschichten, die nur ansatzweise erzählt werden. Daneben sammelt die Erzählerin gemeinsam mit Freunden Erinnerungsbilder, die im zweiten Teil der Erzählung zu einer Ausstellung im Dachboden versammelt werden sollen. Diese immer wieder neuen narrativen Anfänge, die auch am 7 Besonders einflussreich war Laurence Sternes Romanfragment A sentimental journey through France and Italy (1768).
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Schluss kein kohärentes Ganzes bilden, sind als Angebot an den Leser zu verstehen, die verschiedenen Fäden selber weiterzuspinnen. Einer solchen zugleich assoziativen wie dissoziierenden Schreibweise mag die Insistenz widersprüchlich anmuten, mit der die Erzählerin Buch über gewisse Vorgänge führt, wenn sie beispielsweise minutiös die vorbeifahrenden Fahrzeuge auflistet und nach Fahrzeugtypen ordnet (Zs. Gahse 2004: 108-110). In dieser Geste äußert sich der Versuch, das Konkrete festzuhalten, um daraus Stoff für fiktionale Erzählungen zu erhalten. Hat der sammelnde Blick genügend Eindrücke gewonnen, so kann er sich abwenden und mit der Auswertung und literarischen Verarbeitung beginnen. Folgerichtig schließt der erste Teil mit der symbolischen Abwendung von der Außenwelt, das Fenster wird geschlossen und verhängt, alle Objekte, die ablenken könnten, werden weggeräumt. Es folgt die Hinwendung zum Innenraum und der Fiktionalisierungsprozess wird in Gang gesetzt. Gahses mäandrierendes Erzählen wird noch offensichtlicher in den Texten, in denen die Bewegung im Raum parallel geführt wird mit der Bewegung fließenden Wassers. Im kurzen Text Für (Zs. Gahse 2005: 41-52) ist es eine Autofahrt durch den Kanton Aargau, die kontrapunktisch verläuft zu den Flüssen, welche dem Kanton Struktur verleihen. Von Widen aus führt die Autofahrt auf einem Weg voller Abzweigungen durch den ganzen Kanton und in endlosen Satz-Mäandern durch den Text: „unentwegt geht es weiter, das ist aargauisch“ (Zs. Gahse 2005: 41) bzw. „Beinwil, Uezwil, Abtwil, ich will nach Baden und Aarau und an die Mündung der Flüsse“ (Zs. Gahse 2005: 42). Über den ganzen Text hinweg wird ein Spiel mit Homophonien entwickelt (z.B. wil – will), Alliterationen, Assonanzen („Aargau, Aare, ah, au, Auen, diese Art Schauen, Wasser, Habsburg“) und weitere Klangfiguren fügen sich zu semantischen Feldern: „Wir fahren fort – wir fahren vor – Vorfahren – Selbstführung – fürstlich – Fahren – für – fort“. Die Fahrt ist dabei nicht nur im geografischen Sinn zu verstehen, sondern sie führt auch der Zeitachse entlang. Das Stichwort ‚Migration’ impliziert die Frage nach der Herkunft und der Vergangenheit, nicht nur von Personen, sondern auch von Sprache: „(...) mit den Wörtern fallen einem die Vergangenheiten ein“ (Zs. Gahse 2005: 45). Gahses Texte bilden Landschaft nicht ab, sie evozieren sie mittels Sprache und zwar dermaßen plastisch, dass sie greifbar scheint. Die Fahrt durch den Kanton, während – analog zum Pegelstand – immer wieder der Wortbestand gemessen wird, führt den Flüssen entlang zu den Mündungen. Und im übertragenen Sinn auch zu den Sprachmündern, wo der Speichel geschluckt wird und die Wörter geformt werden und als unabgesetzter Wortstrom entfließen: Am liebsten wäre es mir, den ganzen Aargau in einem einzigen Wort unterzubringen, einen Kanton in einem Wort zu verschlingen, ah, dort, wo die Reuss in die Aare
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Christa Baumberger fließt und immer fort fließt, fort, jedenfalls, wo die Aare die Reuss schluckt, ein großes, feuchtes Schlucken, wieder war es nämlich heiß, aber das Schlucken zu sehen, wird einem schwer gemacht, wurde mir schwer gemacht, umso mehr denke ich, man meine, es sei unkeusch, dort hinzuschauen, wenn das etwas besagt, das heißt, die anderen meinen, es sei lüstern, den Flüssen zuzuschauen, und stellen Wälder vor die Mündung, während ich aber die Flüsse in der Mündung betrachten wollte, in ihren Mund wollte ich schauen, das wäre ähnlich gewesen, wie den ganzen Aargau in einem Wort zu verschlingen, ach dort, die Wörter im Mund, lang anhaltende, gut haltbare Namen, die immer wieder im Mund liegen, Aare, Reuss, und wie die Limmat in die Aare fließt und fort fließt (...). (Zs. Gahse 2005: 43f.)
Das unaufhörliche Fließen des Wassers, seine Wandelbarkeit und Entgrenzung übersetzt Gahse in Sprache. Die Bewegung durch die Landschaft löst einen Sprachstrom aus, der keine syntaktischen Einschränkungen kennt, er verläuft rein assoziativ anhand klanglicher und semantischer Verknüpfungen. Die Passage steht unter dem Zeichen des Visuellen, dem eine voyeuristische Note anhaftet: Das Auge muss nicht nur sehen, sondern verschlingen, um sich das Gesehene aneignen und in der Sprache transzendieren zu können. Mecklenburgs Begriff der poetischen Alterität gewinnt hier seine Konturen. Man kann mitverfolgen, wie das Wasser, dieses formlose, bewegte Element, zu Sprache geformt und in diesem Prozess körperlich wird, ja eine erotische Aufladung erhält. Gahses evokatives Schreiben lässt im wörtlichen wie übertragenen Sinn das Wasser im Munde zusammenlaufen. Ausgehend von der Paronomasie Mund – Mündung wird das Wasser selbst zum Symbol der Grenzüberschreitung.8 Ein Verfahren, das Gahse in ihren Bamberger Poetikvorlesungen reflektiert, wobei auch dort die Reflexion in paradoxen Gesten performativ während des Sprechens erst entsteht: Einen Ort zu betrachten oder ihn zu durchqueren, sind zwei verschiedene Dinge, (...). Weil niemand aus dem Raum hinausspringen kann, hilft nur, wirklich loszugehen und sich mit den Wörtern umzuschauen, und dann muss jeder weitergehen und weitergehen, dabei ist jeder Schritt ein und (...). (Zs. Gahse 1997: 108f.)
Die Konjunktion „und“ deutet an, dass die so ausgelöste Bewegung nicht von vornherein zielgerichtet verläuft, sondern sich aus den einzelnen Schritten ergibt. Die Motivation zum Aufbruch ergibt sich weniger aus äußeren Zwängen und Nöten, denn aus der Sprache selbst. So entspricht der äußeren Reise – ob diese nun im Auto durch den Kanton Aargau, in einer Gondel den Berg hinauf von 8
Das Element des Wassers als Symbol für weibliche Schreibweisen ist ein hinlänglich untersuchter Topos, vgl. u. a. H. Cixous 1980. Interessant ist, wenn er in Bezug gesetzt wird zu der Literarisierung von Migrationsbewegungen. In diese Richtung diskutiert Andrea Krauss die Sprachtheorie von Yoko Tawada. In: A. Blioumi 2002: 55-77.
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Celerina nach Marguns, oder mit dem Flugzeug über den Bodenseeraum führt – immer auch eine sprachimmanente Bewegung. Den Wörtern selber ist eine Bewegung eigen, eine etymologische Spur, die nicht nur auf der Ebene der Semantik, sondern auch der Morphologie Veränderungen sichtbar macht. Wie in einem umgekehrten Flussverlauf fließen dabei einzelne Wörter ineinander: Nachdem ich einmal auf die Wege, Fährten und Pfade aufmerksam wurde, führten sie mich weiter, und allmählich fand ich, dass beinahe in jedem Wort etwas von Bewegung zu hören sei. In beinahe jedem Wort steckt ursprünglich Bewegung. Und da ich mich unentwegt – un-ent-wegt – nach einem solchen Sinn umsehe, habe ich noch eine andere fixe Idee entwickelt, dass nämlich Wörter in ihre ursprünglichen Bedeutungen zurückfallen können, vielleicht sogar wollen, und wenn sie ihre alte Bedeutung zeigen, fallen verschiedene Wörter sozusagen ineinander, sie fallen sichtbar in die gemeinsame Vergangenheit zurück und dann versagen sie ihre schwierige Aufgabe, Unterschiedliches auszudrücken. Sie haben dann nur noch die alte Bedeutung. Wenn es einmal so weit kommt, bleiben insgesamt viel weniger Wörter übrig. (Zs. Gahse 1997: 98f.)
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Raummetaphern: regionale (Sprach-)Landschaften
In Gahses Texten zeichnet sich eine Poetisierung regionaler Landschaften ab, die man einer literarischen Tendenz eines aktuellen „welthaltigen Regionalismus“9 zurechnen kann. In der Literatur des 20. Jahrhunderts ist Regionalismus nicht einfach mit Provinzialismus gleichzusetzen. Genauso wenig kann er als Gegenbegriff zum inflationär und entsprechend wenig konturierten Begriff der Globalisierung, aber auch nicht in Opposition zu nationalen oder internationalen Ausdrucksformen gesetzt werden. Bei Dichtern mit einem stark ausgeprägten regionalen Bewusstsein ist immer auch deren Weltbezogenheit einzubeziehen. Und die heutige Mobilität des (post-)modernen Transmigranten schafft ein wesentliches Gegengewicht zu regionaler Gebundenheit: Die Begrenzung betrifft den Raum, nicht das Bewusstsein. Indem Gahse beispielsweise in durch und durch Elemente des Dorfromans, der Alltags- und Heimatliteratur aufgreift und verwandelt, öffnet sie das Lokale für das Globale und beweist, dass Weltliteratur immer Lokalliteratur ist (vgl. S. Sabin 1999/2008: 8). Sie verwendet dafür keine mündlichen Schreibweisen, sondern ein sprachlich-assoziatives Verfahren, 9
Vgl. B. Greiner 1992: 96, 99, 100, zitiert in M. Schmeling 1995a: 156. Der anerkannteste Schweizer Vertreter eines solchen welthaltigen Regionalismus in den Zwanzigerjahren ist Robert Walser, und einer der fulminantesten Vertreter der aktuellen Schweizer Gegenwartsliteratur ist Peter Weber mit dem Roman Der Wettermacher (1993), dem Erzählband Bahnhofsprosa (2000) und weiteren Essays, vgl. dazu Ch. Baumberger 2006: 251.
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Wortketten, die sich beim distanzierten Blick aus einem abgeschlossenen Raum auf eine Landschaft lösen und sich zu einem Text verflechten. So gleitet die Erzählerin im Text Höhenmeter (Zs. Gahse 2005: 53-73) in einer Gondel den Berg von Celerina nach Marguns hinauf. Die räumliche Trennung, Distanz und Stille der Kabine sind notwendig, damit die Landschaft ihren Klang entfalten und sich in Literatur verwandeln kann. Die unwirtliche, felsige Landschaft findet ihre Entsprechung in einer radikal reduzierten Sprache. Die Annäherung an die Landschaft geschieht nicht mittels Vergleichen oder Metaphern, sondern über das einfache Benennen des Gesehenen, denn „die Sprache hängt von der Landschaft ab“ (Zs. Gahse 2005: 55). Dem Gestus der Evokation im Text Für, welcher neue Assoziationsräume öffnet und die Landschaft in der Sprache – im Sprachmund – erst entstehen und zugleich immer in der Schwebe lässt, entspricht hier der Gestus der Wörtlichkeit und des einfachen Benennens. Der Text bleibt gegenständlich und konkret, er scheint unablässig versichern zu wollen, dass Bezeichnendes und Bezeichnetes keinesfalls so zufällig sind, wie es die moderne Zeichentheorie postuliert. Die Sprache hat denn auch keinerlei symbolische Wirkung. Emblematisch kommt dies in der kurzen Episode zum Wort ‚CRAP’ zum Ausdruck: Dieses „vorrömische Wort“, das „in etwa Stein“ (Zs. Gahse 2005: 61) bedeute, sei eingemeißelt in den Fels gefunden worden. Nun werde es in einem luftdichten Raum in Chur gelagert und könne von jedem besichtigt werden. Der Stein ist hier bereits Träger seiner Bezeichnung, und beide können konserviert werden. Die fremdsprachige Bezeichnung impliziert jedoch auch eine Verfremdung des konkreten Gegenstandes. Der Einbezug der Fremdsprache bewirkt ein intendiertes Störmoment, denn durch alle Instabilen Texte zieht sich ein weiteres Sprachspiel: So heißt der fiktive Begleiter und angedeutete Liebhaber der Erzählerin keinesfalls zufällig Pierre (= frz. Stein). Dieser Name ist keine inhaltsfreie Bezeichnung seines Trägers, sondern er eröffnet eine zusätzliche semantische Ebene. Eine weitere Facette von Gahses welthaltigem Regionalismus äußert sich im spielerischen Umkreisen nationaler Identitäten. So wird die Schweiz im Text Eine Sammlung (Zs. Gahse 2005: 5-16) aufgrund ihrer Vielsprachigkeit, der topographischen Gegebenheiten und der regionalen Diversität, als eine Art MiniEuropa stilisiert: Die Alpen sind ihrer Form nach ein Kipferl, innerhalb der Kipferlform zeichnet sich eine klare Semmelform ab, das ist die Schweiz, und die Schweiz ist Europa. Die Schweiz zerfällt in etliche Täler, welche Einsamkeiten auf den Gipfeln! (Kipferl ist ein Wort, das nicht überall bekannt ist, Gipfeli auch nicht, nichts ist in Europa überall bekannt.) (Zs. Gahse 2005: 5)
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Die Schweiz als Modell für das plurilinguale und plurikulturelle Europa, diese Anklänge an den Topos der ‚Helvetia mediatrix’, der vor allem zu Zeiten der geistigen Landesverteidigung Hochkonjunktur hatte10, wird sofort ironisch gebrochen, indem einmal mehr über den phonetischen Gleichklang eine Wortkette etabliert wird: „Kipferl – (Berg-)Gipfel – Gipfeli“. Die Idee einer homogenen Union wird so ad absurdum geführt, sie zerfällt aufgrund der sprachlichen Diversität in zahlreiche Regionalismen. Die abstrakte Entität ‚Europa’ nimmt im Folgenden denn auch vielerlei Gestalt an: Sie wird als eine „äußerst undurchsichtige Dame“ (Zs. Gahse 2005: 8) konkretisiert, aber auch als das junge Mädchen Europa der antiken Mythologie, das von Zeus entführt wurde. Entsprechend wandelbar erscheint auch die nationale Zugehörigkeit. Namenlose Figuren nehmen Nationalitäten an und streifen sie wieder ab. In einer endlosen diskursiven Schlaufe wird Nationalität als ein Attribut präsentiert, das vom jeweiligen Aufenthaltsort und nicht von Geburt her bestimmt wird: Er (wer auch immer) wurde in Hamburg geboren und lebte dann in München, er wurde in Hamburg geboren, lebte dann zwei Jahre in Paris, später in Rom; ein Hamburger. Er war in Hamburg auf die Welt gekommen, lebte jedoch in Kiew, später in Melnik, so dass er ein Tscheche war, er lebte eine Weile dort, der Hamburger war ein Tscheche, einige Jahre später war er in Rom angelangt. (...) (Zs. Gahse 2005: 8)
Die dreizehn Instabilen Texte lassen sich keiner eindeutigen Gattung zuordnen, sie sind sowohl Essay, Erzählung, Aphorismus wie auch Anekdote und Alltagsgeschichte. Die Instabilität dieser Texte ergibt sich nicht nur aus der referierten Erzählweise mit ihrer Verweigerung einer linearen Geschichte, sondern auch durch die changierende Erzählerfigur, welche flottierende Identitäten präsentiert, Figuren skizzenhaft andeutet, um sie gleich im nächsten Satz wieder zu verwischen. Alle Verweise werden in der Schwebe gehalten, angedeutete Festlegungen sofort zurückgenommen. Es gibt weder eine textimmanente noch eine kontextuell bedingte Referenzialisierbarkeit.
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Poetik der Transmigration
Nach diesen Textlektüren soll zum Schluss ein Bogen zu den eingangs dargelegten theoretischen Ansätzen geschlagen werden. Zsuzsanna Gahses Texte – mit ihrem Zusammenspiel von Inhalt und formaler Gestaltung, ihrer Narrativität und der reflektierenden Suspension des Erzählens – lösen genau das ein, was Michael 10
Vgl. u.a. F. Ernst 1939.
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Hofmann als allgemeines Vermögen der Literatur diskutiert: „Indem sie das Andere der ‚Wirklichkeit’ darstellt, indem sie fiktive Welten imaginiert, die gegenüber der empirischen Realität als fremd erscheinen, bietet sie Möglichkeiten der Reflexion über einen adäquaten Umgang mit Fremdem und mit interkulturellen Konstellationen.“ (M. Hofmann 2006: 14). Gahses Literatur ist in hohem Masse (selbst-)reflexiv. Die Fremde – sei damit das schöne Mädchen oder die politische Entität Europa gemeint, die Sprache oder tatsächlich eine fremde Person – erscheint in ihren Texten, gerade weil sie so konkret behandelt wird, in hohem Maße verschlüsselt und sublimiert. Mit ihren Texten partizipiert sie aber auch an der Diskussion aktueller Konzepte und Begriffsbildungen, der Begriff ‚Transmigration’ ist dafür charakteristisch. Nicht nur in den Instabilen Texten auch andernorts taucht er in unterschiedlichen Zusammenhängen auf: Meinerseits bin ich immer wieder für einige Jahre an neue Orte gegangen, immer zwischendurch, nach Wien, Hamburg, München, wieder nach Wien, jetzt bin ich für eine Weile in der Schweiz, aber ich werde vielleicht weiterziehen, somit bin ich nur zwischendurch hier, und das ist etwas anderes als aufzubrechen, um das Leben einmalig für immer zu verändern und nie mehr weiterwandern zu müssen. Ich bin eine Transmigrantin. (Zs. Gahse 2005: 34)
Gahse verwendet den in den neunziger Jahren geprägten Begriff für eine neue Form von Migration. Als Transmigranten werden Personengruppen bezeichnet, die dauerhaft zwischen verschiedenen Orten, Ländern und Kulturen pendeln, also mobil an verschiedenen Orten beheimatet sind und so neue Räume eröffnen. Diese Begriffsprägung spiegelt einen Perspektivenwechsel wider: Migration wird aus dieser Sicht nicht länger als eine Geschichte der Entwurzelung definiert, die typischerweise die Konflikte zwischen den Migranten und der Ankunftsgesellschaft fokussiert. Die hier skizzierte Lebensform zeichnet sich aus durch Wanderbewegungen, die nicht durch äußere Zwänge oder Not bedingt sind und gerade deshalb Reflexionsräume bieten (vgl. S. Breidenbach/ I. Zukrigl 2002). Gahse überschreitet die herkömmliche Migrationsliteratur, sie gehört zu den Begründern einer literarischen Form der Transmigration, deren ästhetische und poetologische Parameter auszudifferenzieren bleiben. Zwei strukturelle Elemente einer solchen Literatur zeichnen sich jedoch deutlich ab: Erstens kennt die aus einem solchen Paradigma des Transkulturellen resultierende Literatur klare geographische wie kulturelle Referenzpunkte. Der Bezugspunkt bei Gahse ist eindeutig die Schweiz: Lausanne, Widen, Müllheim an der Thur, das Mittelland, die Landschaft am Bodensee, das Engadin etc. Wobei in allen diesen Ortschaften und Gegenden Realität und Fiktion konvergieren. So ist das Dorf Müllheim an der Thur zugleich geografisch real und metapho-
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risch ideal: ein Schweizer Ort mitten in Europa und ein fiktionaler Ort mitten in der deutschsprachigen Literatur (vgl. S. Sabin 1999/2008: 8). Zweitens scheint der plurikulturelle Hintergrund die Sensibilität für die Verflechtungen nicht nur von inter- sondern auch von intrakulturellen Differenzen zu schärfen. So vergleicht Gahse längst nicht nur, oder sogar kaum biografische Herkunfts- und Ankunftsgesellschaft. Ihr Blick richtet sich vielmehr auf die Heterogenität und die Brüche innerhalb der Schweiz und der angrenzenden Länder und Sprachkulturen. Die Schweiz als ein mehrsprachiger und plurikultureller Interferenzraum bietet in diesem Zusammenhang viel Anschauungsmaterial, wobei gerade Gahses Außenperspektive die oftmals übersehenen Widersprüche, aber auch die inhärenten Machtstrukturen beim Umgang mit dem Fremden enthüllen kann.
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Sprachliche und gesellschaftliche Normen und ihre Abweichungen im Roman von Pier Paolo Pasolini Juliane Deppe
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Einleitung
In seinen Neuen Fragen der Sprache (Nuove questioni linguistiche) beobachtet Pier Paolo Pasolini 1964, dass dort, wo vom Italienischen die Rede ist, in erster Linie eine Literatursprache gemeint ist, die jahrhundertelang von Adel und Bürgertum gepflegt und bereichert wurde, ohne dass deren Vertreter sich jedoch je mit einer italienischen Nation identifizieren konnten, welche im Übrigen ja auch erst 1861 erstmals unter dem Regno D’Italia und 1870 mit Rom als Hauptstadt als solche postuliert wird. Das Italienische trage seiner Funktion als Nationalsprache somit erst seit jüngster Zeit Geltung. Es ist offensichtlich, dass aus einer solchen Situation ein mehr oder weniger beziehungsweise gar nicht ausgeprägtes Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu einer nationalen sprachlichen und sozialen Norm resultiert. In den sozialkritischen und dialektal geprägten Romanen Ragazzi di vita (1955) und Una vita violenta (1959) wachsen die jeweiligen Protagonisten, Riccetto und Tommaso, in verwahrlosten und kriminellen Kontexten im Rom der Nachkriegsjahre mehr im Kreise ihrer Gangs als im Schoße ihrer zumeist stark zerrütteten Familien heran. Der Begriff der „ragazzi di vita“ könnte mit Lebejungen übersetzt werden und meint die römischen Vorstadtjungen, die sich auf den Straßen herumtreiben und ihr Überleben zumeist durch kriminelle Handlungen und Prostitution sichern. Der Roman Ragazzi di vita verfolgt die Entwicklung zahlreicher Jungen von den Kindesjahren bis ins Erwachsenenalter beinahe mit der gleichen Aufmerksamkeit, die er auch Riccetto zuwendet. Dahingegen liegt in Una vita violenta der Fokus entschieden auf Tommaso, obwohl auch hier sämtliche Lebenswege der vielen Gefährten des Protagonisten mitverfolgt werden. Im Folgenden wird zu klären sein, inwiefern Pasolinis Figuren ihre benachteiligten Lebens- und dadurch beeinflussten Kommunikationsformen hinterfragen und als Norm oder (normale) Abweichung von anderen – zum Beispiel bürgerlichen – Lebens- und Kommunikationsformen empfinden. Die Vermutung liegt nahe, dass Pasolini durch die Sichtweise seiner Figuren die Existenz gesellschaftlicher und besonders sprachlicher Normen grund-
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Juliane Deppe
sätzlich in Frage stellen möchte. Gezielt wendet er sich bereits Mitte der 50er Jahre mit seiner Literatur gegen jegliche Art der Normierung von Ausdruck und von Lebensformen. Seine Absichten werden durchsichtig im Einsatz von Dialekten beziehungsweise stilistischen Abweichungen von (literatur-)sprachlichen Normen, wobei dieses Vorgehen durch aufwendige philologische Recherche, das Merkmal der Kontamination und die Methode der Regression charakterisiert werden kann. Diese rufen gleichzeitig einen impliziten literarischen Metadiskurs hervor und verweisen auf politische Stellungnahmen.
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Pasolinis Beitrag zur questione della lingua
Bevor ich auf diese Aspekte gründlicher eingehe, möchte ich Pasolinis Beitrag zur italienischen so genannten questione della lingua, zur Sprachenfrage, unterstreichen. Pasolinis römische Romane entstehen, als er bereits auf eine umfangreiche friaulische Dichtung zurückblicken kann und in Rom die Milieus der Barackensiedlungen in den Vorstädten kennen lernt. Es fesseln ihn besonders die sozialen Umbrüche, die inmitten der erbärmlichen Armut der Nachkriegszeit entstehen, wenn Kilometer um Kilometer neue Betonstädte auf den verseuchten Böden der Schlammsiedlungen in den Himmel gebaut werden. Das expressive Potential der Idiome des römischen Vorstadtproletariats ist für Pasolini besonders suggestiv, da es keine diastratischen, sondern lediglich diatopische Einflüsse von regionalen meridionalen Dialekten aufweist. Es ist durchaus signifikant, dass Pasolini sich vom romanesco und seinem Projekt, weitere Romane in diesen Ambienten anzusiedeln, erst abwendet1, als er feststellt, dass das Römische der Peripherien im doppelten Sinne von „oben“ – vom industrialisierten Norden und somit von höheren, neukapitalistischen bürgerlichen Idiomen verdrängt wird. 1964 erklärt Pasolini, wie in den vorherigen Jahrzehnten der Eindruck entstanden war von einem „Rom als dem endlich nach allen Seiten ausstrahlenden Sprachzentrum, als der Hauptstadt eines endlich geeinten Staates und dem Sitz der Bürokratie“, einem Rom, das zur „Nationalisierung des Italienischen“ (P. P. Pasolini 1979: 31f.) beitragen werde. In den sechziger Jahren stellt er jedoch fest, wie sich dieses „nach allen Seiten ausstrahlende Sprachzentrum“ in den industrialisierten Norden verlagert. Für die Sprache bedeutet dies laut Pasolini, dass sie immer mehr von Technik, Kapitalismus und einem einflussreichen, neuen Bürgertum beherrscht wird. Erstmals handle es sich hierbei um ein Bürgertum, dass sich „mit der gesamten Nation gleichsetze und einen nationalen Typ von Kultur und Sprache“ (P. P. Pasolini 1979: 30) entwickle. Die „aufsteigende Technokra1
Weitere Romane mit den Titeln Il Rio della grana, La Mortaccia und Storia burina waren bereits geplant. (http://www.italialibri.net/dossier/pasolini/dialetti.html. Stand 16.06.2009)
Sprachliche und gesellschaftliche Normen und Abweichungen bei Pasolini
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tie des Nordens“ (ebd.), aus dem dieses neue Bürgertum erwachse, bringe eine „technisch-wissenschaftliche Sprache [hervor, die] sich nicht entsprechend der Tradition mit allen vorangegangenen Stratifikationen in eine Reihe [stelle. Stattdessen trete sie] auf als Norm, die die übrigen Sprachstratifikationen zur Übereinstimmung bringt, und sogar als Instanz, die das Innere der Sprachen modifiziert.“ (P. P. Pasolini 1979: 29)2
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Gegen Homogenisierung: Pro Expressivität, contra Kommunikativität
Wo Pasolini auf soziologischer Ebene die Abweichung von der sprachlichen Norm schätzt, da schätzt er auf literarischer Ebene die Literatursprache Italiens, die, wie kaum eine andere einen diachron angesammelten Reichtum vorweisen kann. Sehnsüchtig blickt er auf die noch nicht lang zurückliegende Zeit, in der der Schriftsteller sich mit dieser Sprache auseinandersetzen musste und in der die Vorherrschaft der Industrie noch keinen varietätentilgenden und vereinheitlichenden Einfluss auf die Literatursprache hatte. In diesem Zusammenhang wird ein Widerspruch deutlich. Auf der einen Seite betrachtet Pasolini zwar kritisch die Literatursprache als Ausdruck eines von einem jahrhundertealten Bürgertum isolierten, gepflegten und gehüteten Machtinstruments (vgl. P. P. Pasolini 1999: 1246), dem er provokativ Romane wie Ragazzi di vita und Una vita violenta entgegenstellt. Auf der anderen Seite trauert er in Zeiten, in denen der Zweck der Sprache „in den Kreislauf von Produktion und Konsum fällt“ (P. P. Pasolini 1979: 32), dieser einstigen rein „rhetorischen“ Sprache nostalgisch nach. Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man die ideologische Perspektive auf Sprache um den Aspekt des ästhetischen Ausdruckspotentials von Sprachregistern erweitert: Laut Pasolini ist der Machtapparat einer zivilisierten Nation stets daran interessiert, möglichst homogenisierend zu wirken, das heißt verhältnismäßig wenig verschiedene kulturelle und sprachliche Niveaus zuzulassen, um eine möglichst normierte Kommunikativität zu schaffen. (vgl. P. P. Pasolini 1999: 1268). Aufgabe nicht nur des Schriftstellers, sondern jedes freien Menschen sei es somit, dieser „Mechanisierung“ (P. P. Pasolini 1979: 34) entgegenzuwirken, und zwar zugunsten einer sprachlichen Expressivität, wie sie die Literatursprache Italiens aufzuweisen vermag (vgl. P. P. Pasolini 1999: 1264). Pasolini wendet sich also sowohl gegen die vom Machtdiskurs angestrebte Verbreitung der Utopie, es gäbe eine homogene Gesellschaft mit normierter Kommunikationsbasis, als auch gegen tatsächliche Entwicklungen hin zu linguistischer, literarischer und sozialer Vereinheitlichung. Dass sprachliche Normen 2
Der Übersetzer verwendet den Ausdruck „Schichten“ statt „Sprachstratifikationen“. Pasolini spricht von „stratificazioni linguistiche“ (P. P. Pasolini 1999: 1264).
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für ihn nichts als Konstrukte sind, wird hier deutlich. Er räumt ein, dass die so genannte Hochsprache zwar Kultursprache sei, diese Funktion jedoch nur „in ihrem ideologischen, wissenschaftlichen und philosophischen Moment erfülle: nicht aber in ihrem repräsentativen oder stilistischen Moment.“ (P. P. Pasolini 1999: 2745; Übersetzung J. D.)
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Abweichungen von sprachlichen Normen
Diese Position gegen die Vereinheitlichung einer Literatursprache und gegen allgemein sprachliche Normen formuliert Pasolini 1964 in seinen Nuove questioni linguistiche. Dennoch lässt sich bereits in den zwei Romanen aus den fünfziger Jahren eine ästhetische Reflexion dieses sprachkritischen Anspruchs erkennen. Um Pasolinis römische Romane im Hinblick auf ihre sprachliche Beschaffenheit zu charakterisieren, möchte ich die eingangs vorgestellten Begriffe der Kontamination und der Regression vertiefen. In Ragazzi di vita und Una vita violenta lassen sich drei sprachliche Niveaus unterscheiden: Das Volk benutzt in der wörtlichen Rede den Dialekt, die Erzählerstimme in rein schildernden Passagen eine elegante Hochsprache. (vgl. W. E. Leparulo 1982: 291 und L. J. Anderson 1997: 42). Dominierend ist jedoch vor allem das Merkmal der „contaminazione“ (P. P. Pasolini 1999: 2744), der Sprache der Erzählerrede und der Dialekte der Figurenrede. Ihr Ziel ist es, eine möglichst gelungene linguistische mimetische Anpassung der Erzählerstimme an die Ausdrucksweisen des römischen Subproletariats zu bewirken.3 Pasolini widmet sich dafür einer intensiven philologischen Recherche und Feldforschung in den Vierteln der Peripherie und legt ein gut geordnetes Korpus an (vgl. P. P. Pasolini 1999: 2730). Das Spiel des Erzählers mit den genannten drei voneinander abweichenden Sprachniveaus kann im Deutschen lediglich mit diastratischen, nicht jedoch mitsamt seinen dialektalen Nuancen wiedergegeben werden. Hier dennoch dafür ein Beispiel aus Ragazzi di vita, welches auch das Selbstverständnis für die Norm der eigenen Lebensumstände der Figuren betont. Der erste Satz dieses Textabschnitts bildet eine Schilderung in gehobener Erzählerrede ab:
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Anderson verweist auf die Schwierigkeit, die Textpassagen, in denen gesprochene dialektale und oft vulgäre Sprache in die Erzählerrede einfließt, genau zu definieren: „It is often difficult to determine whether this should be considered an example of indirect discourse (the characters speaking through the narrator) or a relaxation of the narrator’s ostensible objectivity.“ (Anderson 1997: 44)
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Die beiden anderen überließen das Dreirad sich selbst, machten es Lenzetta nach und wälzten sich auf dem Kopfsteinpflaster der Via Appia, unter den jungen Bäumen, die sich in endlosen Doppelreihen fern in der Mitte der Straße verloren. (P. P. Pasolini 1990: 112)4
Im Folgenden wird die wörtliche Rede auf unterstem Sprachniveau und im Original auch im Dialekt wiedergegeben und von einer kontaminierten Erzählerrede unterbrochen, in der die Regression auf die Expressivität des so genannten Subproletariats deutlich wird: „Haste dir etwa in die Hose geschissen, Lenè?“ rief Riccetto, seine Rübe zwischen den Rädern des Dreirads. Um diese Zeit war niemand mehr auf der Straße, außer ein paar Mackern auf Lambrettas, die ihre Abenteuerbraut nach Acqua Santa gekarrt hatten. „Wenn sie die Paare vorbeikommen sahen, schrien sie von der Straße her, wo sie ausgestreckt lagen: Verduftet!“ oder: „Laß dich ja nicht einwickeln, du!“ Ein Soldat, hinter dem so ’n kleines Saustück von Nutte herlief und ihn an der Hose zog, wollte den ganz besonders Erfahrenen rauskehren und brüllte sie in halb neapolitanischem Tonfall an: „Hört endlich auf damit!“ Sofort schossen die drei hoch, als wären sie mit einer Nadel in den Hintern gestochen worden. Sie richteten sich halb auf und stützten sich mit den Ellenbogen in den Dreck: „Mann, du Landlöhner, haste dich etwa in Rom zivilisiert?“ schrie Alduccio. „He, siehste die da?“ ergänzte Riccetto lauthals und mit lehrerhaftem Gehabe, die Hände wie einen Trichter um den Mund. „Das da is de Basilika von San Giovanni!“ „Oder is bei dir zuhaus zufällig noch Buschtamtam üblich?“ schob Lenzetta noch eins nach und kniete sich hin. (P. P. Pasolini 1990: 112f.)5 4
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“Gli altri due lasciarono ridendo il triciclo e fecero come lui, rotolandosi sui sanpietrini dell’Appia, sotto gli alberelli che si perdevano in due file interminabili nel centro della strada.” (P. P. Pasolini 2002: 119) „Che, te sei cagato sotto, a Lenzè?“ gridava il Riccetto con la capoccia tra le ruote del triciclo. Per la strada a quell’ora non passava più quasi nessuno, tranne i giovanotti in lambretta che s’erano portati all’Acqua Santa la mecca. Vedendo passare le coppie, sbragati lì per terra in mezzo alla strada, quello strillavano: „Via!“ oppure: „Nun je dà retta, sa’!“ Un militare che filava con dietro una mozzetta d’una puttanella che gli si attaccava ai calzoni, volle fare il dritto e gridò con una calata mezza napoletana: „E fatela finita!“ Quelli scattarono come se gli avessero punto il sedere con una spilla; s’alzarono a metà puntando a terra il gomito sulla polvere: „A burino, che a Roma te sei civilizzato? “ strillò Alduccio. „’A vedi quella? “ aggiunse il Riccetto urlando con aria didascalica, con le mani a imbuto intorno alla bocca. „Quella, è la basilica di San Giovanni!“
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Die unaufhörliche Abweichung von der Standardsprache führt zu einer demonstrativen Infragestellung sprachlicher Normen.6 Durch die – im nationalen Kontext – nicht (mehr) kommunikative, dialektale Ausdrucksweise und die Regression auf verdrängte gesellschaftliche Realitäten, in denen Literatur ebenso wenig eine Rolle spielt, wie diese Realitäten gemeinhin bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Literatur einen Platz haben, wird im Text ein impliziter literarischer Metadiskurs sichtbar. Die Kontamination steht also nicht nur im Zeichen sprachlicher, sondern auch sozialer, psychologischer und historischer Regression „hin zur reinen Körperlichkeit jener Welt“ (P. P. Pasolini 1999: 2742; Übersetzung J. D.). Diese Regression ist wiederum von einer – marxistischen – politischen Stellungnahme nicht zu trennen, wenn Pasolini behauptet, der Schriftsteller habe sich im Zuge des mimetischen Prozesses nicht nur von einem kulturellen Niveau auf ein anderes, sondern auch von einer Klasse zu einer anderen zurückzuwenden (vgl. P. P. Pasolini 1999: 2731). Niemals ist sie lediglich ein stilistisches Verfahren, in der der uneinlösbare neorealistische Anspruch, die Dinge sozusagen selbst sprechen zu lassen, eben gerade durch die Kontamination die Hand des Schriftstellers hervorhebt (vgl. P. P. Pasolini 1999: 2744). Sie ist immer auch eine Anklage in zwei Richtungen: Einerseits bezeugt sie die desolaten Lebensumstände der der Realität entnommenen Figuren7, andererseits stellt sie sich mit einer antiästhetizistischen und antiindustriellen Sprache provozierend gegen die Ignoranz des Bildungsbürgertums und der Führungsschichten gegenüber der bewundernswerten Vitalität und Expressivität der ragazzi di vita.
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Die Alterität des römischen Vorstadtmilieus
Durch den Blickwinkel seiner Figuren möchte Pasolini aber auch die in einer prähistorisch anmutenden Welt vorherrschende Absenz jeglicher moralischer Tiefendimension in den Text hereinholen (vgl. P. P. Pasolini 1999: 2728). Auf herausfordernde Art und Weise macht er damit nicht nur die sprachliche, sondern auch die soziale Alterität des römischen Vorstadtmilieus sichtbar.
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„Che, ar paese tuo è ancora de moda er tam-tam-me?“ urlò per rincarare la dose il Lenzetta, mettendosi in ginocchio. (P. P. Pasolini 2002: 119f.) Enzo Siciliano spricht davon, dass Pasolini den römischen Jargon, der „vom Standpunkt der sprachwissenschaftlichen und ausdrucksbetonten Werte aus gesehen an sich ein Un-Wert“ war, zu einem ästhetischen Wert erheben wollte. (E. Siciliano 1980: 222) Siehe Pasolinis Nachbemerkung in Una vita violenta.
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Pasolinis mimetische Regression setzt eine ‚linguistische Überdrehtheit‘ in Szene, die er als typisch erachtet, „in einer Stadt, deren Männer in ihrer psychologischen Entwicklung an der Schwelle zur Reife stehen bleiben: ewig jugendlich, narzisstisch, exhibitionistisch: allein in der Sphäre des Sexuellen versuchen sie die Ziele zu erreichen, die den nicht aus dem Pöbel stammenden Eigentümern, den verehrten Besitzern des Geldes verwehrt sind.“ (P. P. Pasolini 1999: 2337; Übersetzung J. D.) Was die Protagonisten, jene „Kinder und jungen Burschen, die kaum wissen, wer die Madonna ist“ (P. P. Pasolini 1999: 2337; Übersetzung J. D.), dabei jedoch stets auszeichnet, ist die volle Akzeptanz ihres IstZustandes. Wendet man den Blick den Abbildungen der sozialen Normalitäten der Lebejungen zu, so wird deutlich, dass es für sie auch in einer Stadt wie Rom, weder eine kulturelle Vergangenheit noch eine Zukunft gibt und auch keine andere Religion oder Moral als die des unmittelbaren Kampfes um das – trotz allem möglichst lasterhafte – Überleben im Jetzt. So landet beispielsweise die Jugendgang, die mit einem gestohlenen Auto eine Nacht lang mehrere Tankstellen überfallen hat, zu später Stunde in einem Nachtclub, der allerdings im Begriff ist, zu schließen. Kurzer Hand bestechen sie mit ihrem gerade erworbenen Geld den Türsteher. Als sie dann zusehen müssen, wie die letzten Tänzerinnen das Lokal verlassen, beschließen die längst nicht mehr nüchternen Jungen, die Musikkapelle zu engagieren, die in den nächtlichen Straßen für sie spielen soll: „Wartet Mama denn gar nicht auf euch“, versuchte der schnurrbärtige Chef zu witzeln, „müsst ihr nicht in die Heia?“ „Weißt du was, Schnauzbart“, erklärte Ugo, „ich kauf die ganze Kapelle.“ Gesagt, getan: er holte Geld heraus, einen schönen Haufen von Scheinen, Münzen und Kleingeld. Der Kapellmeister warf einen prüfenden Blick darauf. „Da!“ rief Ugo ihm zu, „nimm’s! Wenn du für mich spielst, hast du einen Monat keine Sorgen.“ (P. P. Pasolini 1988: 94f.)8
Kaum einen Gegensatz zu dieser unreflektierten Verantwortungslosigkeit bilden in den Romanen die Institutionen, die gemeinhin das Entfaltungspotential des Individuums und auf der Grundlage moralischer Erwägungen definierte Normen garantieren sollen. In den zwei Texten treten die soziale Normen eigentlich verbreitenden und repräsentierenden Institutionen wie Schule, Kirche und politische
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„Ma nun ve chiama mamma? “ fece il baffone capo sala, „ma nun dovete annà a dormì?“ „A Baffò,” fece Ugo, „io me la compro tutta, st’orchestra! “ Detto fatto, cacciò la grana, un bel malloppo di piotte, sacchi, con in mezzo qualche rosso. Il capoccia diede una scannagliata. „Tiè, “ gli gridò Ugo, „si soni pe’ me, te faccio ride pe’ un mesetto!“ (P. P. Pasolini 2002: 74f.)
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Parteien jeglicher Ausrichtung9 lediglich als normenbrechende und korrupte Institutionen auf. Folglich erscheint dadurch, dass die sonst institutionalisierte Norm kaum in Erscheinung tritt, die Abweichung als normal. Eine Ausnahme zu dieser Art zeitvergessener und leichtsinniger Lebensweise bildet Tommaso aus Una vita violenta von 1959. Dieser wünscht sich nach einem längeren Gefängnisaufenthalt und einer Tuberkuloseinfektion einen höheren Lebensstandard und möchte ein Minimum an sozialem Prestige erringen. Aber auch Tommaso entwickelt erst dann die Ambition, sich eine Arbeit zu suchen und sein durch Prostitution und Überfälle zusätzlich verdientes Geld nicht sofort zu verprassen, als von außen eine Veränderung an sein Leben herangetragen wird. Seinem Vater wird nämlich eine Wohnung in einer neu entstandenen Siedlung zugewiesen. Dank dieser Entscheidung kann die Familie ihre Baracke am Aniene verlassen. Der Ortswechsel geht mit einer vermeintlichen Veränderung des Bewusstseins von seinem sozialen Selbstbild einher. Tommaso machte alles langsam, ruhig, zog sich sorgfältig an und band einen Schlips um den Hemdkragen; er war zu der Meinung gelangt, dass Pullover und quergestreifte Trikothemden, all diese Sachen für kleine Kinder und Landstreicher, nicht mehr in Frage kamen für einen anständigen jungen Mann mit ordentlichen Papieren. Zwar war das Oberhemd alt, am Rand des Kragens abgewetzt, und die Krawatte, ein ehrwürdiges Erinnerungsstück, ließ nicht mehr erkennen, ob sie blau oder violett sein sollte; doch immerhin betrachtete Tommaso sich ganz zufrieden in dem kleinen Spiegel an der Wand der Toilette. (P. P. Pasolini 1988: 264)10
Doch schon nach kurzer Zeit, als er vom Zaun des Tuberkulose-Sanatoriums einer Gruppe von Jungen nachschaut, die ihn an seine eigene Jugendclique erinnert, sehnt er sich nach seiner Vergangenheit zurück:
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Die Democrazia Cristiana wird mit einer korrupten Beziehungspolitik in Verbindung gebracht, bei der Parteimitglieder gemeinhin mit Vergünstigungen und Verbesserungen ihres Lebensstandards rechnen dürfen. Der Kommunistischen Partei wird in Una vita violenta besondere Bedeutung beigemessen: Tommaso beginnt im Sanatorium mit Parteimitgliedern zu sympathisieren und sich aktiv zu engagieren. Schließlich stirbt er an den Folgen eines Einsatzes, bei dem er eine Frau aus den Schlammmassen einer Anieneüberschwemmung rettet, was ihm den Status eines Helden verleiht. Den Wert des Engagements rechtfertigt er mit den Idealen der Partei. Seine Parteigenossen reagieren darauf jedoch lediglich mit Unverständnis. Zahlreiche Szenen schildern die korrupten Parteimitglieder im Sitz von Pietralata. „Tommasino fece tutte le cose calmo calmo, si vestì e si mise la camicia con la cravatta: aveva concluso ormai che maglioni, magliette e tutta quella roba così da ragazzini, da malandri, non stava più, ormai, a un bravo ragazzo con tutte le carte in regola. La camicia era vecchia, tutta morsicata sull’orlo del colletto, e la cravattina era un ricordo, non vedeva più di che colore era, se blu o viola: però, davanti allo specchietto appeso alla parete del gabinetto, guardandosi, Tommaso era abbastanza soddisfatto uguale.“ (P. P. Pasolini 2002: 208)
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(…) diese Jungengesichter über den schmutzigen Kragen der farbigen Hemden, die unordentlich offen standen, waren das Sinnbild der Glückseligkeit: Sie verschwendeten keine Blicke, sie gingen geradewegs auf ihr Ziel zu, wie eine Herde von Böckchen, instinktiv, ohne zu denken. Tommaso seufzte, „Ich bin reich gewesen“, dachte er, „und hab’s nicht mal gewusst.“ (P. P. Pasolini 1988: 351)11
Es ist also lediglich der späte, kranke, ans Heiraten denkende und kurz vor seinem Tod stehende inzwischen zwanzigjährige Tommaso, der das ansonsten in den zwei Romanen offenbar programmatische Fehlen von Reflexion bezüglich gesellschaftlicher Normen aufhebt und einige wenige zweifelhafte Versuche zur Verbesserung der eigenen Lebensumstände unternimmt. Auffällig ist hierbei jedoch, dass der Protagonist das Streben nach sozialem Aufstieg in keinem Moment mit einer Optimierung seiner sprachlichen Kompetenzen in Verbindung bringt. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wirkt Tommasos Bestreben auf den Leser als von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wie gezeigt, konfrontiert Pasolini in diesen Romanen die sprachliche Norm in einem fort mit Abweichungen, und stellt jegliche Norm dadurch gleichsam in Frage. Somit konstituiert er zum einen einen Gegensatz zu seinen auf ihrem Expressivitätsniveau stagnierenden Figuren. Zum anderen reagiert er mit der demonstrativen Koexistenz verschiedener Sprachstratifikationen auch auf die zuvor erwähnte und offensichtlich bereits in den Fünfzigern befürchtete vereinheitlichende Macht einer von Konsum und Industrie gelenkten Sprachpolitik. Anhand der sprachlichen Disposition seiner Texte verweist Pasolini auf den Freiraum, den Sprache für die Entfaltung individueller Alterität schaffen kann.
6
Schluss
Es bleibt dem Leser also weitgehend selbst überlassen, hinter der demonstrativen Absenz von Normen nach einer indirekten Präsenz der Norm zu fragen und diese hinter Oppositionen wie Hochsprache versus diastratisch tief verordnetem Dialekt, aber auch beispielsweise Wohnung versus Baracke, Arbeiten versus Stehlen, vorsorgliches Sparen versus kurzsichtiges Geldverprassen, moralisches Vorbild versus verherrlichte Ausbeutung zu suchen.
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„E quelle faccette, sopra i collettini zozzi a colori, alla malandrina, erano l’immagine stessa della felicità: non guardavano niente, e andavano dritti verso dove dovevano andare, come un branco di caprette, furbi e senza pensieri.“ „Aaaah,“ sospirò Tommaso, „so’ stato ricco, e no l’ho saputo!“ (P. P. Pasolini 2002: 275)
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Obwohl Pasolini vier Jahre nach seinem ersten, einen Skandal auslösenden Roman Ragazzi di vita in den in Una vita violenta geschilderten Ereignissen erstmals durch – wenn auch nur implizite – politisch-marxistische Reflexionen eine gewisse historische und soziale Tiefendimension andeutet, ist das Bewusstsein für Moral und politische Ideale auch dort in den Figuren nur äußerst rudimentär ausgeprägt. Somit bestätigt sich die eingangs aufgestellte These, dass Pasolini den Blickwinkel von Figuren darstellt, die ihre Umgangsweise und Expressivität als normale Differenz zu anderen Lebens- und Kommunikationsformen sehen und mehrheitlich akzeptieren. Das vitale und expressive Potential der römischen Straßenkinder präsentiert sich bis in die Nachkriegsjahre mehr noch als eine normale „Abweichung“, als eine der vielen normalen, aber wenig nach außen dringenden Varianten, über die das so varietätenreiche Italien verfügte. Gleichzeitig verweist Pasolini auf zwei kontrastive Facetten, die diesem Potential innewohnen: einerseits verherrlicht er die Ausdrucks- und Lebensformen der ragazzi di vita, da sie von keinerlei Gewissen, Moral und Geschichte geprägt und für ihn somit pur, rein, unschuldig sind. Andererseits hebt er ihre sprachliche Stagnation und soziale Beschränktheit hervor. Insofern verurteilt Pasolini die Lebejungen auch implizit, wenngleich mit der Milde, mit der man Opfer behandelt, da sie passiv den sprachlichen und gesellschaftlichen Normen ihres Milieus unterliegen. Und an dieser Stelle sei angemerkt, dass laut Pasolini dieses Subproletariat ab den Sechzigern tatsächlich in der eingangs erwähnten Technokratie und Konsumgesellschaft aufgeht. Mit der dialektischen Verhandlung dieser zwei Facetten sowie durch die sprachliche Kontamination und durch die sprachliche, soziale, psychologische und historische Regression, behauptet Pasolini jedoch in erster Linie seine eigene Freiheit, Individualität und Alterität als Schriftsteller. Er macht die Expressivität der Lebejungen für die ästhetische Disposition seiner Romane fruchtbar und stellt sich damit gegen jegliche Mechanisierung und Normierung von Sprache, Stil und Sujet.
Literatur Anderson, Laurie Jane (1997): Challenging the norm: the dialect question in the work of Gadda and Pasolini. Standford: Stanford University. Leparulo, William E.: Lingua e dialetto nella prosa e nel cinema di Pier Paolo Pasolini. In: Canadian Journal of Italian Studies. 20-21. 5-6. 1982. 291-297. Pasolini, Pier Paolo (2002): Ragazzi di vita. Milano: Garzanti Gli Elefanti. Pasolini, Pier Paolo (1990): Ragazzi di vita. Übersetzt von Mosche Kahn. Berlin: Wagenbach. Pasolini, Pier Paolo (2002): Una vita violenta. Milano: Garzanti Gli Elefanti.
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Pasolini, Pier Paolo (1988): Vita violenta. Übersetzt von Gur Bland. München/ Zürich: Piper. Pasolini, Pier Paolo (1999): Nuove questioni linguistiche. In: Siti, Walter/ De Laude, Silvia (Hrsg.) (1999): Pier Paolo Pasolini. Saggi sulla letteratura e sull’arte, Bd. I: 1245-1270. Pasolini, Pier Paolo (1979): Neue Fragen der Sprache oder Die Geburt einer Nationalsprache. In: ders.: Ketzererfahrungen. ‘Empirismo eretico’. Schriften zu Sprache, Literatur und Film. Übersetzt von Reimar Klein. München/ Wien: Hanser. 11-34. Pasolini, Pier Paolo (1999): Profili delle regioni nell’antologia ‘Scrittori della realtà’. In: Siti, Walter/ De Laude, Silvia (Hrsg.) (1999): Pier Paolo Pasolini. Saggi sulla letteratura e sull’arte, Bd. II 2324-2343. Pasolini, Pier Paolo (1999): La mia periferia. In: Siti, Walter/ De Laude, Silvia (Hrsg.) (1999): Pier Paolo Pasolini. Saggi sulla letteratura e sull’arte, Bd. II 2727-2739. Pasolini, Pier Paolo (1999): 9 domande sul romanzo. In: Siti, Walter/ De Laude, Silvia (Hrsg.) (1999): Pier Paolo Pasolini. Saggi sulla letteratura e sull’arte, Bd. II 2740-2745. Siciliano, Enzo (1980): Pasolini. Leben und Werk, Übersetzt von Christel Galliani; Weinheim: Beltz und Gelberg. http://www.italialibri.net/dossier/pasolini/dialetti.html. (16.06.2009).
III
Migration – Kultur – Norm
Normabweichende Wege und normkonforme biographische Erzählungen: Die erste Reise der Albaner in Griechenland Elena Botsi
1
Einführung
In diesem Beitrag werde ich empirisches Material bearbeiten, das im Rahmen des Forschungsprojekts Multikulturalität und Einwanderung in Griechenland erhoben worden ist.1 Mein Beispiel entstammt dem Textkorpus biographischnarrativer Interviews mit albanischen Einwanderern in Griechenland. Die vorliegende Studie richtet dabei ihre Aufmerksamkeit ganz auf die narrative Normalisierung anormaler Einwandererbiographien in Griechenland. Das heißt, auf die biographische Bearbeitung der illegalen Ersteinreise in das Land sowie die Selbstpositionierung der albanischen Immigranten in einer sich allmählich normalisierenden Integration innerhalb der griechischen Gesellschaft. Gestützt auf die interpretative Biographieforschung und die Methoden der Tradition der Oral History besteht das Interesse darin, herauszufinden, „welche konventionellen, sozial-kulturell verankerten Strukturmuster biographischer Artikulation (hier) zugrunde liegen“ (G. Rosenthal 2009). Man geht davon aus, dass „die Strukturen, die biographische Kommunikation ermöglichen, mit sozialkulturellen Wissensbeständen korrespondieren“.2 In Anlehnung an theoretische Ansätze über Gestaltaspekte lebensgeschichtlichen Erzählens ist hier die Frage von Interesse, welche „kulturelle Traditionen und soziale Regeln“ den biographischen Erzählungen albanischer Immigranten einen Sinnzusammenhang und eine Kohärenz verleihen.3 Unter diesem Aspekt konzentriert sich das Interesse weniger auf die Identitätsaspekte biographischer Arbeit als vielmehr in umgekehrter Richtung, nämlich auf die Reproduktion herrschender sozialer Normen durch die biographische Artikulation migratorischer Erfahrung. Diese Erfahrung wird von den Individuen mit sprachlichen und rhetorischen Mitteln rekonstruiert, wobei metaphorische Redeformen die individuelle Deutung vergangener Ereignisse wiedergeben. Metaphorische Äußerungen erfüllen insbesondere in Bezug auf
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Das Projekt ‚Pythagoras II’ wurde von der Panteion Universität Athen, Sektion Sozialanthropologie, im Zeitraum von 2005-2007 durchgeführt. Fuchs-Heinritz 2005 in der Rezension von B. Griese, S. 2-3. G. Rosenthal 1995, J. Straub 1995:4.
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Elena Botsi
biographisch relevante Erfahrungsbereiche – die so genannten ‚Daseinsmetaphern’ – eine kritisch-normative Funktion in der biographischen Strukturierung.4 Wie bei der aristotelischen Gattung der Fabel, ist auch für die biographische Erzählung die mimetische Kompetenz des Erzählers für ihre performative Realisierung grundlegend (P. Ricoeur 1988: 9, 87). Aus der Migrationsforschung sind Analysen von identitätsstiftenden Migrationsmythen bekannt. Gizelis (G. Gizelis 1974: 97) beschreibt in seiner Studie, mit welchen rhetorischen Mitteln die Amerika-Griechen ihren Mythos des „greek – the clever man“ durch die Erzählungen von Geschichten und Anekdoten aufbauen und den jüngeren Generationen mündlich tradieren. Dazu werden Erfahrungen aus den eigenen oder fremden Biographien exemplarisch selektiert, um das Profil des erfolgreichen Griechen zu stilisieren, der „es geschafft hat, sich im Neuland zu integrieren und Teil der amerikanischen Kultur zu werden“. Die Konfigurationstätigkeit einer Konsonanzherstellenden biographischen Erzählung funktioniert auf die Weise, dass man bei der Erzählung eines Ereignisses bestimmte Teile, Sequenzen oder Szenen der damals erlebten Situation auswählt, verknüpft und damit zu „einer intelligiblen Totalität“, einem „Thema“, einer „Pointe“ gestaltet.5 Man rekonstruiert das vergangene Ereignis, indem man das frühere Vorverständnis des Ereignisses mobilisiert und in der aktuellen Situation der Erzählung neu konfiguriert. Darin bestehen Einmaligkeit und Innovation jeder Erzählung, der biographischen eingeschlossen.6 Indem wir unsere lebensgeschichtliche Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart artikulieren, „konstituieren neue Gegenwarten immer neue Vergangenheiten“.7 In der Narrativitätstheorie geht man davon aus, dass eine wechselseitige Beziehung zwischen Zeit und Erzählung besteht und dass die Kategorie der Zeit erst durch die Handlung der Erzählung „nach einem Modus des Narrativen“ zu einer menschlichen wird. Von Interesse ist hierbei, dass die aktuelle Erzählung eines Ereignisses alle drei zeitlichen Momente – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – in sich trägt. Mit anderen Worten, über die Vergangenheit sprechen zu können, bedeutet, ein Gesamtbild der Zukunft aus dem gegenwärtigen Standpunkt zu entwerfen vermögen (P. Ricoeur 1988: 216). In dieser Hinsicht spricht man von der dreifachen Gegenwart, wobei die Erinnerung der Vergangenheit 4
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J. Straub 1989: 223ff. Hierbei wird die Analyse von Daseinsmetaphern beziehungsweise vom Wandel solcher Metaphern zu einem nützlichen methodischen Mittel verwandelt, um biographische Umlenkungs- und Umorientierungsprozesse zu erklären. Diesen Vorgang bezeichnett Ricoeur als Übergang von der paradigmatischen zur syntagmatischen Ordnung. ( P. Ricoeur 1988: 106ff.) Wenn man die Erzählung einer Geschichte als eine Art Mimesis im Sinne einer Nachahmung begreift, ist letztere als „das Gegenteil der Kopie einer vorherbestehenden Wirklichkeit zu verstehen und von einer schöpferischen Nachahmung zu sprechen“. (P. Ricoeur 1988: 77) J. Straub (1989: 222-223) in Anlehnung an die zeittheoretischen Überlegungen von Mead.
Normabweichende Wege und normkonforme Erzählungen
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und die Erwartung der Zukunft Modalitäten der Gegenwart sind.8 Übertragen auf das in diesem Beitrag analysierte Beispiel, interpretiert der Biographieträger albanischer Herkunft seine vergangene Situation aus dem aktuellen Standpunkt des etablierten Einwanderers, der seine Lebensgeschichte ‚lesen’ kann, das heißt: mithilfe von Normen,9 die er in seiner sekundären Sozialisation internalisiert und in seine Zukunftsvisionen bereits integriert hat.
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Die erste Reise und deren kulturelle Repräsentation
Die albanische Einwanderung nach Griechenland Anfang der 1990er Jahren ist der Kulturrevolution in Osteuropa gefolgt (K. Kassimati 2003). Die offene nördliche Grenze hat den Verkehr von Menschen und Waren nach dem Zweiten Weltkrieg neu etabliert und die vergessene historische Einheit der Grenzgegend von Epirus zwischen Albanien und Griechenland durch einen transnationalen Raum wiederhergestellt (V. Nitsiakos/ K. Mantzos 2003). Die Studie hat unter anderem gezeigt, dass der ‚eiserne’ Vorhang und insbesondere das strengautoritäre albanische Regime die Folge hatte, dass trotz der historischen Beziehungen viel Wissen über die Nachbarländer, insbesondere unter den jüngeren Generationen, in Vergessenheit geraten ist. Damit war aber auch Raum für neue Sinnstiftungen gegenüber den ‚neuen alten’ Nachbarn gegeben. Die unvorhersehbaren politischen Entwicklungen in den Nachbarländern auf dem Balkan sowie das Unvorbereitetsein seitens des griechischen Staates, wandelte die albanische Einwanderung nach Griechenland zu einer unkontrollierten und schwer zu bewältigenden ‚migratorischen Invasion’.10 Der Begriff ‚lathrometanastis’ (‚illegaler Einwanderer’) ist weiterhin zum Synonym des albanischen Immigranten geworden. Dieses Fremdbild des Albaners wurde Anfang der 1990er Jahre von den Massenmedien in dramatischen Bildern illustriert und daraus folgend in zahlreiche Stereotype übertragen. Insbesondere das Pressebild des mit verzweifelten Albanern überfüllten Schiffes, das auf dem Weg nach Italien mitten in der Adria im Sinken begriffen war, wurde zum Symbol einer nationalen Tragödie, die nicht so schnell enden sollte. 8
9 10
Es ist hervorzuheben, „wie die Alltagspraxis die Gegenwart der Zukunft, die Gegenwart der Vergangenheit und die Gegenwart der Gegenwart zueinander ins Verhältnis bringt. Denn die praktische Verflechtung ist die elementarste Vorform der Erzählung.“ (P. Ricoeur 1988: 99) H. Ritter (1984: 920) hält die Parsonsche Konzeption von Norm als „generalisiertem Erwartungsmuster“ für die erfolgreichste. Nach den statistischen Angaben des Jahres 2001 zählten die Albaner 55,67% der in Griechenland lebenden Ausländer. Diese deckten 7% der Gesamtbevölkerung ab. Ebenfalls kannte Griechenland den höchsten Zuwachs an ausländischen Bürgern Ende des 20. Jahrhunderts. innerhalb der Europäischen Union. (Siehe M. Pavlou 2004: 371)
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Andererseits bedeutete für die bis dahin ethnisch-kulturell homogene und diasporische griechische Gesellschaft die Abwesenheit von Fremden (bis auf Landesbesucher und Touristen) die Normalität. Unter außergewöhnlichen Umständen wie massiver Einwanderung oder Krieg werden über kurz oder lang etablierte Normen plötzlich relativiert und der Zwang zur Wiederherstellung der Ordnung vordringlich. Die ‚aktive’ Zone solcher so genannten ‚Kehraktionen’ („epichirisi skupa“) der griechischen Polizei wurde auf den ganzen Norden des Landes ausgedehnt. Die damals stark angewachsene Mobilität hieß für die sonst verödete und dünn bevölkerte Grenzgegend, plötzlich im Mittelpunkt der Aktualität zu stehen. Die bis dahin gesperrte griechisch-albanische Grenze wurde von nun an von der einheimischen Gesellschaft als undicht und porös wahrgenommen. Für die meisten albanischen Auswanderer11 signalisierte die erste Reise nach Griechenland zwischen 1990 und 1993 eine abenteuerliche Flucht, die fast nur durch einen langen und risikanten Fußmarsch ins Unbekannte zu bewältigen war.12 Das unbezahlbare touristische Visum hatte zur Folge, dass zahlreiche Albaner, organisiert in kleinen Gruppen, mithilfe Ortskundiger illegal ins Land gekommen sind. In der Landschaft verstreute zurückgebliebene Kleider, Matratzen und alte Schuhe waren die Spuren einer ungeordneten Flucht im Raum und die Belege einer ‚elenden’ Immigration. Die vom Pyramidenskandal und den sozialen Unruhen verursachte zweite Landflucht im Jahr 1997 sowie die erhöhte Grenzüberwachung durch die griechische Polizei, die den Landbeitritt erschwerte, führte zu einer Selbstregulierung der Auswanderung der Albaner. Effektive auf einer regionalen und familialen Solidarität basierende inoffizielle Netzwerke von älteren wie jüngeren Immigranten, sorgten für eine erfolgreiche Niederlassung der Albaner im Neuland (L. Labrianidis 2001). Durch diese Bekanntschaftsnetzwerke wurden sowohl die Einreise, die Dokumentenherausgabe und Niederlassung, als auch die Arbeitsfindung und das Lernen neuer Berufe gemeistert (E. Botsi 2009). Eine weitere Sicherung bedeutete für die Einwanderer aber auch ihre geographische Verschiebung von der Grenze in das Landesinnere beziehungsweise die Niederlassung in der Hauptstadt. Erst in Athen bekamen die albanischen Immigranten ein ‚Gesicht’, indem sie keine „verdateten und statistischen Atome einer Masse“ mehr waren, die nach einer tagelangen Quarantäne zurückgewiesen werden mussten, sondern Teil der „Population der Normalen“ (S. Hark 1999: 74). 11
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Das verfügbare empirische Material erlaubt mir nicht, über die Repräsentationen der Auswanderung dieser Zeit in den albanischen Medien zu berichten, und den griechischen gegenüber zu stellen. G. Kaplani 2006: Der Protagonist des Buches berichtet über die ersten sieben Tage einer Gruppe albanischer Grenzgänger in Griechenland Anfang der 1990er Jahre.
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Die normalisierte Biographie
Die erste Reise ist der Anhaltspunkt für die reflexive Bewertung künftiger Erfahrungen und bestimmt insofern die neu zu stiftende Identität des Einwanderers auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Auf einer symbolischen Ebene signalisiert der Fußmarsch durch Berge und Wälder für viele Albaner den Ausgangspunkt eines langen Weges in die Normalität, wobei der Grenzübergang als ein Übergangsritual (‚rite de passage’) in das neue Leben wahrgenommen wird. Der anfänglich als graduell abweichende, potentiell kriminelle und gefährliche, weil marginalisierte Fremde, wird allmählich als zuverlässiger Arbeitnehmer und vertrauensvoller Nachbar eingeordnet. In diesem Zusammenhang „übt das normalistische Narrativ vom ‚kontingenten Parcours’ eines Massenatoms eine im Einzellfall verschieden starke Wirkung auf sämtliche curricularen Genres“ aus (U. Gerhard 2003: 10). Dabei besteht eine symbolische Korrespondenz zwischen dem (kontingenten) Weg (Bahn, Schiff, Auto oder Fußmarsch) und dem biographischen Normalisierungsprozess. Im sozialen wie im individuellen Leben ist die Bändigung der Kontingenz durch Normalismus im Sinne der Wiederherstellung der Ordnung ein Desiderat. Beides, Kontingenz und Normalismus, bilden ein modernokzidentales Spezifikum eines Kontinuums13, welches durch die Wiederersetzung seiner Brüche dank biographischer Arbeit gewährleistet wird. In den biographischen Erzählungen unseres Beispiels repräsentiert die dargestellte nicht normale Reise den Übergang zu etwas anderem, wobei die illegale Einwanderung als eine vorübergehende Phase und nicht als eine negative Normalität beziehungsweise eine endemische Situation im ‚trajectory’ des Einwanderers betrachtet wird (J. Link 1996). Die Einordnung des Erlebnisses in einem gesamten Lebensprojekt wird, wie bereits erwähnt, durch die aktuelle Situation und die Abschätzung der Zukunft verifiziert und legitimiert. Hristos beschreibt aus seiner Wohnung in Petralona-Athen seine erste Reise in Griechenland wie folgt: £¤¥ ¦§¨©ª ¬¥ ®¤¯° ±²©³´ µ¶·¸´ ¸¹ª ¸·³º ¤³ ¨¥ ±²¼º¥, ¥ ¦§¨©³º´ ¬¥ ½·§¾³º´ ¿º¿ÀÁ¶ ¦¥º ¬¥ ¸¹³º ¼®¶ ¹ºÀº§¼³´ µÂÀÀ¥ ¦¥º ¬¥ 󦺬§´ ¬¥ ¨¶ ¼º¥¿§©³º´ ¦¥º ¬¥ 󹬧´ ¦¥º ¬¥ À³´ ¿·³ ±²¨³ ¥ ¨³À³º°©³º ±²¶¶¨³ ¥ ¨³À³º°©³º ¬¥ ¯·³¤Å©¶®¤³.(...) Mº¥ ¼²©¯ Ƴ¿·¶®§·º¶, ǧ·¨¯ Ũ¥¬³, ±³·¬§¤³ ©¨¥ ©Â¬¶·¥ ¸¬¨³¦¥ §¨¶¤¥ ¦¥º
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In der Moderne ist Sicherheit das höchste Gut und Normalismus die Antwort auf moderne exponentielle Trends (J. Link 1996: 26). Über die Verbindung zwischen Normalismus und Moderne durch unterschiedliche Erscheinungsformen wie Disziplin und einheitliches Wissen, industrielle Produktion und Einheitlichkeit von Regeln, siehe W. Sohn 1999, J. Link 2003a: 269 und 2003b: 22.
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Die distanzierte Weise, mit der der Sprecher seine erste Schicksalsreise (J. Link 2003a: 279) aus der heutigen Perspektive betrachtet, wird durch die Metapher des endlosen Buches über seine abenteuerliche Flucht deutlich. Die dank der Selbstaufopferung gerettete Person verfügt noch über einen Namen und zwar einen albanischen (Pyrros)14, ein Gesicht, eine Identität und damit muss sie nicht zur anonymen Zahl der zurückgewiesenen Flüchtlinge gerechnet werden. Ortschaften werden zu geographischen und gleichsam symbolischen Wegmarken einer Reise ins Unbekannte. Das Kreuz von Florina, bekannt nur bei Insidern, ist ein Orientierungspunkt für Grenzgänger und ein metaphysisch-christliches Symbol des Märtyrers und Opfers, das den hohen Golgatha besteigen muss. Die Szene wird vom Sprecher mit dramatischen Dialogen und emotionsgeladenen Bildern geschildert, die auf gemeinsame, in beiden Ländern bekannte Kriegsbilder von der Albanienfront während des Zweiten Weltkriegs verweisen. In Parallelität zu den griechischen Helden der griechisch-albanischen Auseinandersetzung während des Zweiten Weltkrieges auf den albanischen Ber-
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Viele Albaner werden orthodox getauft und übernehmen griechische Namen.
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gen, schreiben die heutigen ausgewanderten Albaner an ihrem eigenen ‚Epos’, wobei ihre Widerstandskraft in gefährlichen Situationen heldenhaft zu einem nationalen Prototyp stilisiert wird, wie das zweite Beispiel verdeutlicht: Ñ·¥ ¤³ ¨¥ ±²¼º¥. ʹ¨° °·³´ ³Á¬¥º ¥¬ ø·³º´ ¨¶ ¼·²¤¶. ÒÁ¹¥¤³ µÁÀ¶®´ ¥±² ¨¥ ¹ª·º§ ¼Á±À¥ ©¨¥ ©Â¬¶·¥ ¦¥º ³Á¹¥¬ Ã¥¬¥±³·§©³º, Å󷥬 ¨¶ ¼·²¤¶ ¦¥º ¤¥´ ¨¶¬ ¸¼³ºÃ¥¬, ±¸¬¨³-¸Ãº §¨¶¤¥ ±¥·¸¥. dz¨§ ±¥·¥¦¶À¶®¶Â©¥¤³ ¸¬¥ ½·Å½¶·¶ ¼·²¤¶ ¦¥º ¥¦¶À¶®¶Â©¥¤³. ж®´ ±¥Á·¬¥¤³ ¥±² ±Á©ª. (…) в¨³ Ũ¥¬ ¶ ¬²¤¶´ ¬¥ ±º§¬¶®¬ ¶º µ¥¬¨§·¶º ©¨¥ ©Â¬¶·¥ ¦¥º ¨¶®´ ±¯½¥Á¬¥¬³ ©¨¶ ©¨·¥¨²±³¼¶, ¤³¨§ ¨¶®´ ¤¥É³Â¥¬³ ±³¬Å¬¨¥-³ÃŬ¨¥ §¨¶¤¥ ¤³ À³ªµ¶·³Á¶ ¦¥º ¨¶®´ ½®·¬§½¥¬³ ±Á©ª ©¨¶ ¨³Àª¬³Á¶. (...) Ò½° ³Á¹¥ ¸¬¥ ½¬ª©¨² ©¨¶ ¨·Á¨¶ ±²¼º ¨¯´ Ó¥À¦º¼º¦Å´ ±¶® ±§³º ½º¥ £½º¶ Ô·¶´ ¦¥º ¤¶® À¸³º ¸À¥ ³¦³Á, ³Á¬¥º ¦¥À§, ¸¹³º ³Àº¸´, ¦¥º ½º¥ ¬¥ ¤¯ ¤±À¸Ã³º´ ¤³ ¦¥¤º§ ±¥·¸¥. Ѩ¥¬ ±º¶ ¤³½§À¶´. Ich bin zu Fuß gekommen. Es dauert acht Stunden, wenn man den Weg kennt. Wir hatten Freunde in den Dörfern an der Grenze, die den Weg kannten und ihn uns gezeigt haben. Wir waren eine Gruppe von fünf bis sechs Leuten und wir sind einem schnellen Weg gefolgt. Wir sind einer hinter dem anderen gelaufen. (…) Damals war das Gesetz, dass die Soldaten sie (die Flüchtlinge) an der Grenze festnehmen und zu den Lagern bringen, wo sie alle versammelt haben, bis fünfzig, sechzig Leute zusammen waren, und dann ging’s mit dem Bus zurück zum Zoll. (…) Ich hatte einen Bekannten auf dem dritten Fuß von Chalkidiki auf dem Weg zum Athos, der mir sagte, ‚du sollst kommen da, wo ich bin. Dort ist gut, hat Olivenjobs und du bleibst weg von schlechten Banden. Er war älter (als ich).
Der unbekannte und nicht-normale Weg wurde von der gut organisierten Gruppe illegaler Einwanderer bestritten, angeeignet und normalisiert, wobei erfahrene Grenzgänger mit Insiderwissen (Reisedauer, sichere Wege, aktuelle Migrationsgesetze und Regelungen) im Zielgebiet unentbehrlich waren. Der Ablauf der biographischen Normalisierung ist hier abgeleitet von der erfolgreichen beruflichen Integration des Einwanderers in ‚saubere’ Arbeiten wie der Olivenernte. Die Normalisierung des Lebens im Gegensatz zur anonymen Masse der Flüchtlinge, die in Bussen zurückgekarrt wurden, wird durch die rhetorischen Mittel deutlich: Wechsel von der ersten in die dritte Person. Der Biographieträger bewahrt weiterhin seine Persönlichkeit, indem er sich diesseits der Linie positioniert. Die Abweichung von einer normalen Reise wird durch die heutige erfolgreiche Position ausgeglichen und ex-postum legitimiert. Unser Informant beginnt seine Migrantenkarriere als illegaler Grenzgänger, um den höchsten Legalitätsgrad zu erwerben. Nachdem er die verschiedenen Etappen der Normabweichung durchläuft (Einreise, Beruf, Wohnung, Lebensumstände), wandelt er sich zum Wächter der Norm in der Endphase seiner ‚entelechischteleologischen’ Fahrt. Wie Gerhard (U. Gerhard 2003a: 7) betont, werden „Nar-
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rationen über das Leben individueller Helden mittels der Metaphorik und Symbolik des Weges strukturiert“. Unser albanischer „Faszinationstyp der (nicht) normalen Fahrt“ repräsentiert eine narrative Form, „die nur im Rahmen einer normalistischen Kultur funktional ist, nur in ihrem Rahmen entstehen konnte“ (J. Link 2003a: 268). Durch die biographischen Narrationen des Einzelnen und insbesondere des Abweichlers werden Normalitäten einer Kultur reproduziert. Wie Theoretiker des Normalismus darauf hinweisen (J. Link 1998), ist Normalität nichts Äußerliches, sondern „wir sind es selbst“. Die Normalität braucht die Subjektivität, worauf sie sich verwirklicht und woraus sie entspringt. Erstere garantiert letztere und reproduziert sie mit Verschiebungen, indem wir „unsere Identität im Vergleich mit anderen auf hierarchisch strukturierten Skalen verorten und die historisch homogenisierten Vergleichsfelder von Intelligenz, Arbeitsleistung oder Gesundheit als ‚naturgegeben’ begreifen“ (W. Sohn 1999: 27). Die biographische Arbeit stellt eine immanente Handlung des Subjekts dar und ist daher synonym zum menschlichen Dasein. Sie besteht darin, den persönlichen Erfahrungen der Vergangenheit einen aus dem aktuellen Standpunkt bewerteten Sinn zu verleihen, bedeutet, sie in eine Ordnung zu bringen und den verschiedenen häufig kontingenten Ereignissen in ätiologischen Beziehungen aufgrund eines gewünschten Zieles. Dafür sind gewisse Ordnungsprinzipien und sozialisatorisch – primär oder sekundär – erworbene Wertvorstellungen strukturell grundlegend (F. Schütze 1999).
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Stereotypen biographisch reproduzieren
In ihrer Selbstbeobachtung betrachten sich die albanischen Einwanderer rückblickend aus einer befremdeten Perspektive, welche der griechischen Mehrheitsgesellschaft entspricht. Der normkonforme Blick auf sich selbst wird durch persönliche Migrationsgeschichten belegt in Bezug auf ihre illegale Einreise und Abschiebung durch die Polizei, die sie nun aus einer distanzierten und humorvollen Perspektive erzählen (G. Kaplani 2006). Durch die biographische Erzählung werden die in der griechischen Öffentlichkeit verbreiteten Stereotypen über die Albaner in den Argumentationen der Einwanderer selbst übernommen und reproduziert. Sie führen beispielsweise die erhöhte albanische Kriminalität, neben der Armut, auf die Vendetta zurück. Dieser schreiben sie einen in Griechenland zumutenden allgemeinnationalen Charakter zu, obwohl Blutrache eine begrenzte regionale Verbreitung in ihrem Heimatland kennt, wie der gleiche Informant berichtet:
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Manche alte Gefangene, die aus dem Knast in die Freiheit gekommen sind, haben Übel mitgespielt. Sie vergessen alten Ärger nicht, im Stil von „wer bist du, wer bin ich“, und sobald sie frei kommen, gehen sie einander suchen und sagen‚ „egal, wohin du gehst, ich werde dich kriegen und dich umbringen’“.
Das gleiche gilt für ein anderes Nationalstereotyp, das ‚arme Arbeitstier’, das sie in einer ironischen Selbstdarstellung reproduzieren, indem sie eben nicht in das Touristenland als Touristen gekommen sind: Wir hatten nur das Nötigste dabei: etwas Brot, paar Kleider auf dem Rücken, so wie die (Touristen) den Rucksack tragen (lachend).
Das Selbstbild, worauf Normalitäten reflektiert werden, besteht aus einem Ensemble von Selbstthematisierungen, und zwar aus der „Art und Weise, in der man sich selbst zum Gegenstand eines Diskurses macht“.15 Dieser ist „teilweise aus stereotypen Floskeln der Mediensprache montiert, die sich über größere Zeiträume identisch reproduzieren und dadurch so etwas wie diskursive prognostische Kapazität ermöglichen“ (J. Link 1998: 34).
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Institutionelle und kulturelle Grenzen
Die fließende Situation auf einer staatspolitischen Ebene (Aufenthaltsrecht, Bedingungen des Erwerbs einer Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis) hat dazu geführt, dass die Grenzen zwischen Legalität und Illegalität unüberschaubar wurden. Wird die Undurchdringlichkeit der geographischen Außengrenze in Frage gestellt, versucht die einheimische Gesellschaft die innere kulturelle Grenze zu erhöhen. Und trotzdem wird auch diese durch Annäherungsversuche und Bezweiflung ihrer kulturellen Authentizität ebenfalls prekär: ein unterbrochenes ethnisches Kontinuum, das auf Minderheiten, historische Bevölkerungsverschiebungen und kulturelle Gemeinsamkeiten zurückgeht, lässt Freiräume für Ansprüche auf Zugehörigkeit zum Griechentum beziehungsweise dessen Ambiguität. Sprache, Religion, Kultur, Geschichte, aber auch territoriale Rechte, bilden ein recht komplexes Feld von Ethnizitäten und Identitätsbehauptungen zwischen Griechen und Albanern, das Verhandlungsmöglichkeiten und Revisionen der stabilen kulturellen Normen ermöglicht. Die Verhandlung der Zugehörigkeit zur Norm und Abweichung ist ein dynamischer und reziproker Prozess, der den Bereich der Religion, der Namensgabe, der Sprachkompetenz und der Alltagssitten durchläuft. Die Albaner zeigen 15
M. Makropoulos 1998, zitiert von S. Hark 1999: 78.
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ihre Normkonformität und Akkulturationsbereitschaft durch Ausgleichstrategien in Form von Inaugurationsritualen wie Taufen, Umbenennungen beziehungsweise Übernahmen von griechischen Vornamen, erfolgreiches Erlernen der Sprache sowie durch die Aneignung der griechischen Alltagskultur. Die griechische kulturelle Hegemonie, deren Einfluss auf eine langandauernde kulturelle und finanzielle Expansion auf dem Balkan zurückgeht, bleibt jedoch nicht unanfechtbar. Die Öffnung der Landesgrenzen hat die bis dahin angenommenen soliden kulturellen Normen erschüttert und eine heftige öffentliche Diskussion zur Identität der modernen Griechen entfacht. Das zeigt sich in den politischen Debatten, beispielsweise über die Trennung von Kirche und Staat bzw. die Abschaffung des Eintrags der Konfessionszugehörigkeit im griechischen Personalausweis, aber auch über Minderheitenfragen und Migrationsrechte. Die ‚Denormalisierungsangst’ (J. Link 2003: 267), die „jederzeit und allerorts droht“ und eine „conditio sine qua non“ des Normalismus repräsentiert, wird von der normalistischen (Aufnahme)Gesellschaft „im Freud’schen Sinne verdrängt“. Es bleibt zu prüfen, inwieweit die zunehmende Normalisierung der Abweichenden mit einer zunehmenden Denormalisierung der etablierten Ordnung einhergeht.
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Schlussbemerkungen
Es ist offensichtlich, dass die Einwanderung zum Umsturz von Normalitäten im Alltagsleben und in den Überzeugungen sowohl der Einheimischen als auch der Einwanderer führen kann. Zum einen besteht der Renormalisierungsbedarf unseres Beispiels für die griechische Aufnahmegesellschaft in der Absicherung der nördlichen Grenze, in der Kontrolle der Anwesenheit von Fremden im Land und in der Abkapselung der gewünschten homogenen und einzigartigen griechischen Kultur. Zum anderen besteht der Normalisierungsbedarf für die albanischen Einwanderer in deren institutionellen Legalisierung, in der erfolgreichen sozialen Integration durch ihre geographische Verschiebung von der Grenze in das Landesinnere und durch ‚sauberes’ Arbeiten, sowie in der Bewahrung ihrer Persönlichkeit und Identität im Gegensatz zur zurückgewiesenen Masse (S. Hark 1999). Die hier zu behandelnde Frage lautet, wie die albanischen Einwanderer die Normalisierung ihres neuen Lebens in Griechenland nach der ersten illegalen Reise thematisieren und diskursiv produzieren. Es geht darum, aufzuzeichnen, mit welchen narrativen Strategien sie negative und demütigende Erlebnisse umdeuten und ihr beschädigtes Prestige wiedergewinnen. Aus den biographischen Erzählungen albanischer Einwanderer wurde deutlich, dass dramatische Ereignisse in lustige Anekdoten und Heldengeschichten umgewandelt werden. Durch
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die bildhafte Darstellung ihrer ersten Reise versuchen die Biographieträger mit rhetorischen Mitteln und insbesondere Wegmetaphern die Strecke von der Grenze bis zum Endziel, die Hauptstadt, als den Weg von der Illegalität zur Legalität und zum Erlangen eines regulären Lebens zu skizzieren. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass Normen retrospektiv und selbstreferenziell bestätigt und diskursiv (re)produziert werden. In unserem Fall schildern die Albaner eine aufwärtsführende Migrantenkarriere, die nach einem dauernden ‚Kurvenverlauf’ in einer geraden und absturzfreien Biographie stabilisiert worden ist (U. Gerhard 2003a: 13). Die Deutungen ihres Lebenslaufs werden von den jeweiligen historisch-kulturell bedingten Normen der Mehrheitsgesellschaft gesteuert und von symbolischen Kurven signalisiert, wobei das Kurven-Dispositiv einen ‚inneren Bildschirm’ konstituiert (J. Link 1996: 25). Dieser Blick ist eben nicht von den herrschenden Eigen- und Fremdbildern unabhängig. Der Immigrant dient als Projektion der herrschenden Norm, die er in seiner biographischen Artikulation reproduziert, wenn auch durch ihre Anzweiflung.
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„Gagarins Enkel“ – ein ganz normales russisches Kind1 Gesine Drews-Sylla
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem damit einhergehenden Ende des staatlich regulierten Vielvölkerkonzepts hat Russland einen traurigen Anstieg an Rassismus erlebt, dem in Russland lebende Afrikaner besonders ausgesetzt sind (vgl. exemplarisch Ch. Quist-Adade 2008; J. und E. Allina-Pisano 2008; M. Matusevich 2009). 2006 wurde die Situation Anlass für einen Bericht an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen (D. Diène 2006). Die Lebenssituation afro-russischer Kinder ist dabei besonders schwierig: Laut der Hilfsorganisation „Fond Metis“ (www.fundmetis.ru) sind sie überdurchschnittlich oft nicht nur von Rassismus, sondern auch von Armut, gesellschaftlicher Isolation oder Verwaisung betroffen. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund erschien 2007 in Russland der Film Vnuk Gagarina (Gagarins Enkel2, Regie: Andrej Panin, Tamara Vladimirceva), der in einer hochemotionalen, sehr plakativen Filmsprache die Geschichte des ca. 13jährigen Gena Gagarin erzählt, Kind eines Afrikaners und einer Russin, dessen Leben ein tragisches Ende nimmt. Der Film beschäftigt sich intensiv mit der russischen Rassismusproblematik in der Lebensrealität eines afrorussischen Kindes vor dem Hintergrund eines institutionalisierten Rechtsradikalismus sowie der dokumentierten schwierigen Lage vieler afro-russischer Kinder. Dazu stellt er eine Vielzahl sozio-kultureller und intertextueller Bezüge her. Die Analyse dieser vielfältigen Bezugnahmen mit dem Ziel einer Hinterfragung der kulturellen Paradigmen der Normen afro-russischer Identitätskonstruktionen ist das Thema dieses Artikels. Die Darstellung des Schicksals eines dunkelhäutigen Kindes ist weder eine thematische Innovation noch ein kontemporäres Unikum in der russischsprachigen Filmlandschaft.3 Ebenfalls 2007 erschien der gleichfalls sehr melodramati1 2
Dieses Projekt wird gefördert durch den Europäischen Sozialfonds sowie durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg. Die Fälle, in denen die Übersetzung von (Film-)Titeln von mir stammt, werden durch NichtKursivierung gekennzeichnet. Kursiviert sind nur die Titel, die so auch auf Deutsch erschienen sind. Titel, die auf Deutsch gleich bleiben, sind unübersetzt. Neben den Filmen Vnuk Gagarina und Infant wurde 2003-2004 zudem die Sitcom Afromoskvi (Afro-Moskauer) produziert, die in zwei Staffeln 2003/2004 mit insgesamt 64 Folgen die Geschichte einer russischen Familie erzählt, in die ein ‚afrikanischer Prinz’ einheiratet. Für diesen Hinweis und den auf Infant danke ich Svetlana Boltovskaja. – Auch literarisch wird das
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sche, ukrainische Film Infant (Infant, Regie: Oksana Bajrak), der eine ganz ähnliche Geschichte ganz anders erzählt. In beiden Filmen wird ein afro-russisches Kind nach dem Tod seiner Mutter von einem von seiner Existenz zuvor nichts ahnenden Verwandten aufgenommen. Das Zusammenleben gestaltet sich in beiden Filmen zunächst als schwierig und wird gekennzeichnet von Problemen zwischen den frühadoleszenten Kindern und ihren jeweiligen Ziehvätern. Doch während Infant mit einer Versöhnung und einem Happyend schließt, endet Vnuk Gagarina mit Genas Tod in der Katastrophe. Infant spielt im traumhaft feudalen Milieu eines erfolgreichen, extrem wohlhabenden Kardiologen und spart das Thema Rassismus fast gänzlich aus. Der in Vnuk Gagarina Gena aufnehmende Halbbruder Fedja hingegen ist mittelloser Künstler und abhängig von seinen rechtsradikalen Auftraggebern. Gena selbst und in Folge auch Fedja werden Opfer von existenzvernichtenden rassistischen Angriffen. Beide Filme thematisieren die Frage nach der „Normalität“ einer afro-russischen Identität, nutzen jedoch vollkommen unterschiedliche narrative Strategien. Die Strategie von Infant ließe sich mit der Demonstration einer Egalisierung eines in seiner Hautfarbe differenten Kindes beschreiben, die von Vnuk Gagarina hingegen mit einer Problematisierung der Folgen dieser Differenz. Beide Filme schreiben sich ein in eine ganze Reihe von Prätexten und -filmen, die jedoch nur Vnuk Gagarina aktiv diskutiert und narrativ zu nutzen sucht. Er ist daher der analytisch interessantere der beiden Filme. Chronologisch rückwärts gehend, findet man zunächst während der Perestrojka eine Anhäufung an filmischen Darstellungen von Afro-Russen, deren Exotismus als Symbol für gegenkulturelle, subversive Strömungen genutzt wird (M. Matusevich 2008a: 74-77). Der Kultfilm Assa (UdSSR 1987, Regie: Sergej Solov’ev), in dem prominente Künstler des kulturellen Untergrunds erstmals in einem sowjetischen Film positiv dargestellt werden, ist eine filmische Hymne auf den russischen Rock. In ihm wird dem männlichen Protagonisten, einem jungen Künstler und Bandleader mit dem Namen „Boy Bananan“, gespielt von Sergej Bugaev, der seinerseits unter dem Künstlernamen „Afrika“ bekannt und auch in den Credits des Films so genannt wird, die afro-russische Figur (wenn auch kein Kind) Vit’ja, an die Seite gestellt. Dieser Afro-Russe wird von dem dunkel geschminkMotiv des Afro-Russen in jüngerer Zeit aufgegriffen, jedoch in anderen sozio-kulturellen und literarischen Entstehungskontexten. Elena Changa (Ye. Khanga/ S. Jacoby 1992) und ihre Mutter Lily Golden berichten autobiographisch von ihren Erfahrungen als Afro-Russinnen (L. Golden 2002). 2007 erschien der englischsprachige, satirische Roman Petropolis, der in die USA emigrierten Anya Ulinich, in dem eine junge Afro-Russin ihr Glück in den Vereinigten Staaten sucht (A. Ulinich 2007). Mike Phillips lässt in seinem 2000 erstmals erschienenen Krimi A Shadow of Myself zwei Halbbrüder, einen Afro-Russen und einen Afro-Briten, aufeinander treffen, die aufgrund der Biographie ihres ghanaischen Vaters auf zwei Seiten des Eisernen Vorhangs aufwachsen (M. Phillips 2001).
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ten Dmitrij Šumilov gespielt, seinerseits Sänger der Perestrojka-Gruppe „Vežlivyj otkaz“. Die Figur Vit’ja dient in dem Film nicht nur der Verstärkung des subversiven Elements des Afrikabezugs. Mit ihrer Hilfe wird nach dem Tod Bananans zudem der Kultsänger Viktor Coj in den Film eingeführt, der, wie die gesamte Rockmusikszene hochgradig besetzte Symbolfigur für die gegenkulturelle Bewegung in der Sowjetunion war. Deren Verbindung mit Afrika ist zur Entstehungszeit des Films Assa zudem bereits ein Topos. Die am Soundtrack ebenfalls beteiligte und nicht minder bekannte Gruppe „Akvarium“ (Boris Grebenšikov) hatte bereits 1983 ein Album mit dem Titel Radio Afrika herausgebracht. Auch die Besetzung der Rolle eines Afrikaners mit einem dunkel geschminkten Rockstar aus der gegenkulturellen Szene hatte ihren Vorläufer. 1976 spielte kein Geringerer als der KultLiedermacher und -Schauspieler Vladimir Vysockij, der aufgrund der kritischen Themen vieler seiner Lieder seine größten Erfolge als Musiker im Samizdat feierte, Puškins Urgroßvater in der Figur des Ibragim Gannibal in dem durch Motive aus Puškins Fragment gebliebenen, autobiographischen Text Arap Petra Velikogo (Der Mohr Peters des Großen, 1827) (A. Puškin 1978: 7-41) hervorgegangenen Film Skaz pro to, kak car’ Petr arapa ženil (Wie Zar Peter seinen Mohren verheiratete, UdSSR 1976, Regie: Aleksandr Mitta). Und bereits während des poststalinistischen Tauwetters hatte der Schriftsteller Evgenij Evtušenko im Kontext des Freiheitskampfes der afrikanischen Kolonien die russische Taiga mit der zu befreienden afrikanischen Savanne verglichen (M. Matusevich 2008a: 72, 2008b: 74). Ein weiterer Perestrojka-Film, der sich der Freiheitsmetapher des afrorussischen Kindes bedient, ist der ebenfalls zum Kultfilm avancierte Malen’kaja Vera (Kleine Vera, UdSSR 1988, Regie: Vasilij Piul) (M. Matusevich 2008a: 74). Die Symbolik ist in jenen Szenen, in denen die nach individueller und sexueller Freiheit strebende Protagonistin Vera gemeinsam mit ihrem Freund in einer Gruppe zum Teil dunkelhäutiger Studenten in einem Wohnheim feiert, eindeutig. In einer weiteren Sequenz tritt ein afro-russisches Kind auf, das mit seiner Mutter, einer nicht minder nach Freiheit suchenden Freundin Veras, zusammenlebt. In einer Szene wird das Kind vor dem Fernseher gezeigt, in dem gerade Ausschnitte aus den Verfilmungen von Kornej ukovskijs Text Barmalej (K. ukovskij 1964: 212-221) um die Figur des Doktor Ajbolit gezeigt werden. Die Verse, die jedes Kind kennt und die auch Assa zitiert, warnen vor den Gefahren Afrikas. Auf einer sekundären Ebene warnen sie somit auch vor den Gefahren der Freiheit, um die es in Malen’kaja Vera primär geht. Der intertextuelle Bezug von Vnuk Gagarina zu dieser Tradition der Freiheitsmetapher, für die die Figur des afro-russischen Kindes steht und die während der Perestrojka ihren Höhepunkt fand, wird durch die Verortung des Films
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im Künstlermilieu markiert. Genas Halbbruder Fedja ist mittelloser Künstler, ein Außenseiter der Gesellschaft, dem wie „Boy Bananan“ in Assa ein Afro-Russe, Gena, an die Seite gestellt wird. Fedja hat ebenso wie „Boy Bananan“ mit kriminell-mafiösen Gegenspielern zu kämpfen. In beiden Fällen entspinnt sich der Konflikt um eine Frau. In Assa verlieben sich „Boy Bananan“ und die Geliebte des Mafiosi ineinander, in Vnuk Gagarina sind es Gena und die Tochter des rechtsradikalen reichen Kunden, von dem Fedja existentiell abhängig ist. In beiden Filmen endet der Konflikt mit dem Tod der als Freiheitssymbol fungierenden Figur: sowohl „Boy Bananan“ als auch Gena sterben. Doch während der Künstler „Boy Bananan“ von seinem Gegenspieler ermordet wird, stirbt Gena an der Tatsache, dass sich Fedja aus Existenznot seinem und Genas Gegenspieler unterwirft und Gena wieder ins Kinderheim zurückbringen will, woraufhin Gena wegläuft. Die Freiheitsmetapher des Afro-Russen hat in Vnuk Gagarina ausgedient. Gena sucht Freiheit und findet dabei, so suggeriert es der Film, als Straßenkind den Tod. Fedja opfert seine künstlerische Freiheit der rechtsradikalen Gesinnung seines Auftraggebers. In den offiziellen sowjetischen Filmen ist die Figur des ethnisch oder kulturell als solches markierten afro-russischen Kindes ebenfalls präsent, jedoch erwartbar in einem anderen symbolischen Kontext. Im spätstalinistischen Maksimka (Der Junge vom Sklavenschiff, UdSSR 1952, Regie: Vladimir Braun) wird die im 19. Jahrhundert angesiedelte Geschichte eines kleinen afrikanischen Jungen4 erzählt, den russische Matrosen vor der Sklaverei retten. Der Film bedient somit den paternalistischen Topos des „guten“, anti-rassistischen, russischsowjetischen Arbeiters, als dessen Klassenrepräsentanten die Matrosen inszeniert werden, die dem afrikanischen Kind eine Zuflucht vor den „bösen“ USamerikanischen Kapitalisten bieten, die dieses dankbar annimmt. All diese Motive, und letztlich auch die Motivik in Vnuk Gagarina, gehen jedoch auf einen einzigen sowjetischen Film zurück, der als eine Art filmischer Prototext gelesen werden kann. 1936, in der Zeit des Hochstalinismus, erschien Cirk (Zirkus, Regie: Grigorij Aleksandrov)5, der die Geschichte der amerikanischen Zirkusartistin Marion Dixon erzählt, die ein dunkelhäutiges Kind hat, deswegen von ihrem faschistisch-kapitalistischen deutschen „Retter“ vor den sie mit Lynchmord bedrohenden amerikanischen Massen erpresst und ausgebeutet wird und schließlich in der Sowjetunion eine vor rassistischen Verfolgungen sichere Heimat, die wahre Liebe und die Vergebung ihrer „Schuld“, die sie durch ihre sexuelle Verbindung mit einem dunkelhäutigen Mann auf sich geladen hat, 4 5
Gespielt wird die Figur Maksimka vom jungen Afro-Russen Tolja Bovykin. Holmgren (B. Holmgren 2007: 18) weist darauf hin, dass Cirk die Thematik des schwarzen Kindes aus dem Stück Pod kupolom cirka (Unter der Zirkuskuppel) von Il'f und Petrov (1935) übernimmt.
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findet. Der Film zelebriert eine sowjetische Identität, in der Hautfarbe keine Rolle spielt, in der alle Menschen in einer großen Vielvölkerfamilie freundschaftlich vereint sind. Der Darsteller des Kindes, Jimmy Patterson, Kind eines in die Sowjetunion emigrierten Afroamerikaners und einer Russin, wurde durch den Film zum Kinderstar und zur Verkörperung des gelungenen Experiments auch jenseits der Leinwand (B. Holmgren 2007: 18). Die Parallelen von Cirk und Vnuk Gagarina sind zahlreich und offensichtlich. Der rechtsradikale Geschäftsmann und Vater Eljas, in die sich Gena verliebt, ähnelt physisch dem Faschisten und Kapitalisten „fon Knejšic“. Beide Kinder, der Sohn Marions und Gena, werden durch einen bühnenartigen Auftritt, der ihre Hautfarbe durch einen Überraschungseffekt in Szene setzt, in den Film eingeführt (wie auch das Kind in Infant). Schließlich, und durch den Titel „Gagarins Enkel“ am deutlichsten markiert, findet sich das kulturelle Konstrukt des Kosmonauten als identifikatorisches Referenzobjekt für die jeweiligen Filmnarrationen. Die Erfolgsnummer, die Marion mit ihrem neuen sowjetischen Partner in Cirk als Höhepunkt des Films darbietet, trägt den Titel „Polet v stratosferu“ („Flug in die Stratosphäre“). Die beiden Artisten treten in phantasmatischen Raumanzügen auf. Marion wird dabei zudem am Ende des Auftritts in einem Jungfräulichkeit und Unschuld symbolisierenden weißen Kleid als sowjetische Frau neu geboren. Die Sowjetunion, so der offensichtliche Symbolgehalt, vergibt ihr ihre „Schuld“ einer sexuellen Beziehung zu einem schwarzen Mann (B. Holmgren 2007: 17). Die Eroberung des Weltalls und futuristische Weltraumprojekte gehören zum festen mythologischen Inventar der Sowjetunion. Die Inszenierung der sowjetischen Errungenschaften auf dem Gebiet der Raumfahrt, bis heute verkörpert durch den ersten Mann im Weltall, Jurij Gagarin, ist das Feld, auf dem sich die Sowjetunion neben der Demonstration einer vermeintlich antirassistischen Gesellschaftsordnung am intensivsten den USA gegenüber als moralisch und technologisch überlegen konstruierte.6 Das Motiv der Eroberung des Weltraums war auch schon vor Gagarin im kulturellen Narrativ des sowjetischen Selbstentwurfs wirksam, ebenso wie die vom Anbeginn der Sowjetunion an intensiv verfolgte Inszenierung des vermeintlich antirassistischen Gesellschaftsentwurfs. Es 6
Maxim Matusevich weist auf eine Karikatur aus der Spezialausgabe der sowjetischen Satirezeitschrift Krokodil zum Flug Gagarins hin, in der eine Gruppe von Nomaden in der Sahara in religiöser Andacht eine sowjetische Rakete betrachtet (M. Matusevich 2008a: 58). Auf den Seiten von Krokodil wurde die moralische Überlegenheit gegenüber den USA immer wieder durch den „kapitalistischen Rassismus“ angreifende Karikaturen inszeniert (M. Matusevich 2009: 63, 70). Die Zeichnung zum Weltraumflug Gagarins spiegelt eindringlich die Rolle, die der Kontinent Afrika im Kampf um die ideologische Vorherrschaft für beide Parteien spielte: diejenige des paternalistisch zu behandelnden Adepten der eigenen machtpolitischen Dominanz.
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ist daher kein Zufall, dass in Cirk, einem der Höhepunkte der stalinistischen Kulturproduktion, diese beiden Motive miteinander verknüpft werden. Ebenso bewusst setzt Vnuk Gagarina ausgerechnet den Volkshelden Jurij Gagarin als Identifikationsobjekt für den jungen Afro-Russen Gena ein. Gena selbst, dem durch das Kinderheim der Nachname Gagarin gegeben wurde, erklärt sich in der Filmnarration seine Existenz damit, dass der historische Gagarin bei einer seiner Afrikareisen in Kamerun einen unehelichen Sohn gezeugt habe, von dem er abstamme. Der Film markiert diese Phantasie deutlich als imaginative Suche eines Kindes, das durch seine Hautfarbe aus der „Normalität“ seines gesellschaftlichen Umfelds herausfällt und dies durch die ‚Verwandtschaft’ mit einem Nationalhelden zu kompensieren sucht. Bei der Beantwortung der Frage, was die ideelle Norm eines „russischen Menschen“ sei, scheut die Filmnarration nicht vor Klischierungen zurück. Nicht die Hautfarbe, sondern die Seele eines Menschen mache ihn zum Russen, formuliert Gena selbst in einer stereotypen Wiederholung eines klassischen Topos. Der Vergleich zwischen Cirk und Vnuk Gagarina demonstriert, dass aus dem Konstrukt des sowjetischen Menschen, dessen humanistische Konzeption ideologisch auf dem Topos der Völkerfreundschaft basierte, nach dem Ende der Sowjetunion und ihrer propagandistischen Utopien eine nationale russische Identität wurde, in der Hautfarbe im Gegensatz zum utopischen sowjetischen Konzept eine nunmehr entscheidende Rolle spielt.7 Diese Umkehrung wird in einer weiteren parallelisierten Szene symbolisch verdeutlicht: in einer komischen Einlage wird in Cirk die Echtheit der Hautfarbe von Marions Sohn demonstriert, als versucht wird, dessen Gesicht sauber, d.h. weiß zu wischen. Gena hingegen malt sich, frustriert über seine schwarze Hautfarbe, sein Gesicht weiß an. Während in Cirk die Irrelevanz der Unausweichlichkeit der authentischen Hautfarbe demonstriert wird, wird in Vnuk Gagarina die Unausweichlichkeit der authentischen Hautfarbe als problematisch markiert. In Cirk deutet die Szene auf eine Ablehnung rassistischer Segregationspraktiken hin, in Vnuk Gagarina hingegen ist sie Symbol für die Präsenz solcher Praktiken in der russischen Gesellschaft – trotz Cirk.8 7
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Quist-Adade belegt, dass Diskriminierungen aufgrund ihrer Hautfarbe in der Sowjetunion jenseits der ideologischen Utopie für Afro-Russen schon immer zum Alltag zählten (Ch. QuistAdade 2007). Vgl. auch, dass in Cirk diese Szene die filmrhetorische Ablehnung der amerikanischen Theatertradition des blackface markiert (B. Holmgren (2007: 17), der gemäß in Minstrel-Shows mit einem Höhepunkt am Ende des 19. Jahrhunderts dunkel geschminkte, weiße Schauspieler, den pejorativen Gesetzmäßigkeiten des ikonographischen Stereotyps des „Negers“ folgend, infantilisierte, „naive“ oder „schwachsinnige“ Afro-Amerikaner darstellten. Insbesondere vor dem Hintergrund dieser Tradition und ihrer Kommentierung in Cirk ist es umso interessanter, dass mit den dunkel geschminkten Sängern Vysockij und Šumilov in der Sowjetunion später eine
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In einem gewissen Sinne zeigt Vnuk Gagarina die kulturelle Negativfolie zu Cirk, die nach dem Wegfall des utopistischen, regulierten Sowjetdiskurses offen zutage tritt, sowohl im Alltag als auch in der kulturellen Repräsentation. QuistAdade betont, dass diese Negativfolie allerdings auch schon während der Sowjetunion Bestandteil der russisch-sowjetischen Kultur war (Ch. Quist-Adade 2007: 166). Im utopistischen Cirk vergibt die russisch-sowjetische Gesellschaft Marion also eine „Schuld“, die sie in ihrem kulturellen Subtext ebenfalls als solche kategorisiert. Afro-russische Kinder sind, so die Kernaussage, das Ergebnis einer illegitimen, schuldbesetzten Verbindung. Dieser Subtext ist literarisch gut dokumentiert. Puškins Romanfragment Arap Petra Velikogo beginnt mit der Erzählung einer unehelichen Liebschaft des Protagonisten, seines Urgroßvaters Ibragim Gannibal, mit einer Pariser Gräfin, aus der ein illegitimes Kind hervorgeht. Das dunkelhäutige Kind wird durch ein hellhäutiges ausgetauscht, um die Ehre der Gräfin zu retten. Gannibal wird in der Geburtsszene als seinem Kind hochemotional zugewandt geschildert, verlässt aber aus Pflichtgefühl danach Paris. Mit der Geburt des Kindes setzt auch die Verfilmung des Fragments Skaz pro to, kak car’ Petr arapa ženil ein, wobei der Film aus der Perspektive Gannibals dessen Leiden am Verlust seines Kindes zu einer der emotionalen Triebfedern der Filmnarration macht. Im Gegensatz zu Puškins Textvorlage endet der sowjetische Film mit einer glücklichen Ehe Gannibals, was die – auch hier ins Ausland verlegte – Narration des als Folie dienenden Subtextes der Illegitimität einer solchen Verbindung jedoch wie in Cirk nötig macht. Auch in der Erzählung „Negr iz letnego sada“ (Der Neger aus dem Sommergarten, 1909) von Jurij Slezkin (Ju. Slezkin 1914) entsteht aus einer unehelichen Affäre einer Baronin ein illegitimes, afro-russisches Kind, das zum Anlass des Untergangs des Ehegatten der Baronin wird. Der Baron tötet aus Rache im Duell einen Afrikaner, wird verhaftet und durch das Geschick der Baronin von den Behörden für wahnsinnig erklärt, was ihre Eheschließung mit einem Dritten ermöglicht. Der „kleine Kreole“ („malen’kij kreol“) wird wiederum weggegeben. Insbesondere in diesem Text wird die „Schuldhaftigkeit“, die „Verworfenheit“ der die Affäre mit einem Afrikaner eingehenden Baronin gegenüber ihrem sie über alles liebenden und als „gut“ gekennzeichneten Ehemann herausgestellt. Untersuchungen wie die Charles Quist-Adades zum Schicksal afrorussischer Kinder stellen heraus, dass Frauen, die eine Beziehung zu einem Afrikaner eingehen, auch fast hundert Jahre später noch immer mit dem Vorurteil der sexuellen Verworfenheit zu kämpfen haben und sich gelegentlich als Prostituierte beschimpfen lassen müssen (Ch. Quist-Adade 2007: 160-61). Vnuk Gagarina neue Variante des blackface zu finden ist, die zwar deren pejorative Aspekte nicht wiederholt, aber gerade deswegen diskussionswürdig ist.
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setzt sich auch mit diesem Aspekt auseinander, ohne ihm jedoch ein Korrektiv entgegen zu setzen (im Gegensatz zu Infant9). Genas und Fedjas Mutter wird als verantwortungslose Alkoholikerin und Prostituierte dargestellt. Einerseits zeigt er somit die häufig desolate soziale Lebenssituation afro-russischer Kinder auf, auf die „Fond Metis“ und wissenschaftliche Untersuchungen aufmerksam machen und für die Genas Situation – das Leben im Heim, die Angriffe durch Skinheads, Schulprobleme, Armut – paradigmatisch ist. Andererseits schreibt er an dieser Stelle ein gesellschaftliches Stereotyp fort, nutzt es nach wie vor als Subtext, um die schwierige Situation afro-russischer Kinder darstellbar zu machen. Vnuk Gagarina ist an dieser Stelle zweideutig, wie insbesondere auch der Text Puškins, der sich einerseits klassischer Stereotypenbildung bedient, andererseits aber beispielsweise auch die Liebesfähigkeit oder das Pflichtgefühl Gannibals betont. Erklärbar ist dies sicher durch die autobiographische Komponente, ist Puškin schließlich nicht nur ‚russischer Nationaldichter’, sondern auch prominentester Afro-Russe aller Zeiten, wenn auch in der vierten Generation. Puškins eigene Auseinandersetzung mit seinem afrikanischen Urgroßvater und die sich durch die Jahrhunderte wandelnden kulturellen Implikationen seiner Herkunft sind vielfach untersucht worden (C. Nepomnyashchy/ N. Svobodny/ L. Trigos 2006). Ein jüngeres Beispiel sind Thesen, wonach die Herkunft Gannibals aus Äthiopien einem kulturellen Mythos zu verdanken sei, der das äthiopische orthodoxe Christentum mit dem russischen in Verbindung bringe (C. Nepomnyashchy/ L. Trigos 2006: 6). Er stamme sehr viel eher aus dem Gebiet des heutigen Kamerun (C. Nepomnyashchy/ L. Trigos 2006: 31). Auch Gena in Vnuk Gagarina vermutet seine Herkunft in Kamerun. Neben diesem indirekten Verweis auf Puškin finden sich in dem Film aber natürlich auch sehr direkte und offene. Am deutlichsten ist dies in der Szene, in der Gena in seine neue Schule kommt. Seine Klassenlehrerin wird demonstrativ ‚unabsichtlich’ mit einer Puškin-Büste spielend gezeigt. Weitere Verweise auf Puškin sind über den gesamten Film verstreut, bleiben jedoch seltsam uneindeutig. Puškin selbst genügt in diesem Kontext als Symbolfigur, seine Präsenz in einem explizit intertextuellen Kinofilm zum Schicksal eines afro-russischen Kindes ist eine filmische Selbstverständlichkeit (der Infant ebenfalls weitestgehend widersteht). Interessanter ist fast ein weiterer Verweiskomplex, der interpretatorisch eine neue Facette eröffnet. Der Name „Gena“ selbst markiert die Intertextualität mit einer Reihe von Texten für Kinder, allen voran ×duard Uspenskijs Krokodil Gena i ego druz’ja (Krokodil Gena und seine Freunde, 1966) (×. Uspenskij 9
Die Mutter des Kindes in Infant wird als sympathische, erfolgreiche, junge Verlobte des Kardiologen dargestellt. Aber auch sie versteckt ihr Kind zunächst, was den Begriff der „Schande“ zumindest mit impliziert.
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2001). In dieser Erzählung sucht sich das Krokodil Gena Freunde und findet sie in einem unbekannten Tier namens eburaška und dem Mädchen Galja. Gemeinsam kämpfen sie gegen die böse Šapokljak und errichten ein Haus der Freundschaft. Die Geschichten um Gena wurden ab 1969 in mehreren Puppentrickfilmen animiert, die zu den populärsten russisch-sowjetischen Kinderfilmen zählen. Die Konstruktion der Figurenkonstellation des Kinderfilms wird in Vnuk Gagarina fast identisch übernommen. Ebenso wie das Krokodil Gena sucht sich Gena in Vnuk Gagarina seine Freunde. Auch er findet sie in einer Dreierkonstellation, zu der neben seinem Halbbruder Fedja noch der Skinhead Kitov zählt, der durch den Kontakt mit Gena eine – recht unglaubwürdige – Wandlung vom überzeugten Rassisten zum Freund des Jungen durchmacht. Aus Šapokljak wird Eljas Vater. „Gut“ und „böse“ werden so eindeutig markiert. Nicht nur der Name verbindet die beiden Genas. Auch das Krokodil Gena hat afrikanische Wurzeln, ‚lebt’ und ‚arbeitet’ (als Krokodil im Zoo) jedoch in Russland. Beide sind, ebenso wie eburaška, ein personifizierter und kulturell angeeigneter Exote, deren Reiz gerade von ihrer Hybridität, einer Existenz zwischen den Polen „eigen“ und „fremd“ ausgeht. Die eindeutige Zuordnung von „gut“ und „böse“ erhält zudem zusätzliche Konnotationen: der „gute Exot“ wird durch die Identifikation mit Figuren aus Kinderfilmen zugleich infantilisiert. Eine Infantilisierung ist jedoch eine gängige Strategie der Diskriminierung. Die Intertextualität zu Krokodil Gena i ego druz’ja eröffnet damit eine paternalistische Dimension in Vnuk Gagarina, die so sicher nicht intendiert ist. Diese Zweideutigkeit lässt sich über einen weiteren Text der russischen Kinderliteratur vertiefen. Bereits 1917 schuf Kornej ukovskij in seinen Versen Krokodil die paradigmatische Figur des Krokodil Krokodilovi (K. ukovskij 1964: 272-299), eines in Petrograd lebenden Krokodils, das nach gegen ihn gerichteten Beleidigungen Passanten auffrisst. Dem kleinen Jungen Vanja Vasil’ikov gelingt es, diese wieder aus dem Magen des Krokodils zu befreien, woraufhin dieses zu seiner Familie nach Afrika an den Nil zurückkehrt. Es bringt einerseits russisches Spielzeug mit, was dem heimischen haushoch überlegen ist. Andererseits berichtet er von den Leiden der Zootiere in Petrograd. Die aufgebrachten Tiere Afrikas formieren daraufhin eine Armee und brechen nach Russland auf, um diese dort zu befreien. Wiederum gelingt es Vanja heldenhaft, die Katastrophe zu verhindern. Der Text endet mit der utopischen Zelebrierung der Freundschaft zwischen Mensch und Tier, in der selbst die Unterschiede zwischen Räuber und Gejagtem zwischen den Tieren aufgehoben sind. Krokodil Krokodilovi ist noch sehr viel stärker als das Krokodil Gena in einem Raum zwischen Russland und Afrika situiert, zudem geht von ihm zunächst tatsächlich Gefahr aus, ebenso wie von der Armee der Tiere, die, wenn auch aus einem gerechten Grund, Petrograd und seine Bewohner bedrohen. Es ist der russische Junge Van-
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ja, der sich (wie auch sein Spielzeug) als der eigentlich kulturell überlegene erweist, die Utopie der Freundschaft wird auf russisch(-sowjetischem) Boden realisiert. Erst eine domestizierende Aneignung des Fremden vermag eine ungefährliche, hybride Figur hervorzubringen, die sich konfliktlos in die realisierte Utopie der überlegenen Kultur einbringt. ukovskij’s Krokodil wurde auch als humoristische Parodie (K. Bogdanov 2006: 220) auf einen weiteren expliziten Prätext des Films Vnuk Gagarina rezipiert. Es handelt sich um Michail Lermontovs Poem Mcyri (Der Mcyri, 1840) (M. Lermontov 1976: 78-98), das zitierend Gena in den Film eingeführt wird. Der Text steht in der mit Puškin beginnenden Tradition jenes orientalistischen Diskurses, innerhalb dessen sich die russische Kultur den Kaukasus als ‚fremdes Eigenes’ aneignet, wobei sie den Kaukasus „nie als klares Gegenbild [ihrer] selbst, nie wirklich als [ihr] Anderes entwirft, sondern vielmehr schwankt zwischen totaler Aneignung, d.h. Vernichtung, und vermischender Überlagerung als Strategie einer kontinuierlichen Ausdehnung über kulturelle Grenzräume.“ (S. Frank 1998: 83) Lermontovs Texte schwanken dabei zwischen hochkolonialistischen Stereotypenbildungen (wie z.B. Infantilisierungen, Dämonisierungen, Primitivismen etc. bezüglich des Kaukasus, vgl. E. Thompson 2000: 69-74) und, in einer etwas differenzierteren Lesart, komplizierten Hybridisierungen (S. Frank 1998: 75-83). Mcyri entstand 1840, auf dem Höhepunkt dieses Kaukasusdiskurses. Es ist die ‚Lebenserzählung’ eines georgischen10 Novizen, der als Waisenkind in einem russischen Kloster aufwuchs. Das Kind wird zunächst als ‚roher’ und ‚wilder’ Kaukasier gekennzeichnet, der durch die Berührung mit der russischen Kultur ‚domestiziert’ wird. Kurz bevor der junge Novize endgültig ins Kloster eintreten soll, spürt er den ‚Ruf der Freiheit’ und flieht. Durch die Berührung mit der Natur wird die Erinnerung an seine kaukasische Familie geweckt, die aber ebenso unerreichbar bleibt wie ein georgisches Mädchen, das er in der Ferne erblickt. Er begegnet dem ‚wilden Kaukasus’ schließlich in Gestalt eines Schneeleoparden oder Panthers11 und wird von diesem in einem Kampf, in dessen sprachlicher Darstellung sich Mensch und Tier nicht mehr unterscheiden, tödlich verletzt.
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Georgien wird, obwohl bereits früher als der russische Raum christianisiert, in der russischen Kultur orientalisiert (vgl. S. Layton 1994: 192-212). Dies ermöglicht eine Konzeptualisierung des Kaukasus als zurück zu gewinnendes ‚Eigenes’, womit die kolonialistische Eroberung rhetorisch legitimiert werden kann (vgl. zu ähnlichen Prozessen im Blick auf die Halbinsel Krym S. Frank 2003: 47). Diskursiv wird die Eroberung dabei als ‚freiwilliger Anschluss’ Georgiens an das Russische Reich auf der Suche nach Schutz vor einer islamischen Bedrohung durch Türken und Perser maskiert. Das russische „bars“ kann neben „Schneeleopard“ und „Panther“ auch mit dem noch stärker orientalisierenden „Tiger“ übersetzt werden (vgl. S. Frank 1998: 80, Fußnote 36).
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Sterbend findet ihn der alte Abt des Klosters, das Poem ist die letzte Beichte Mcyris. Die Parallelisierung von Gena und Mcyri ist überdeutlich. Gena ist wie Mcyri das Waisenkind, das ins Leben aufbricht und den Tod findet. Die letzten Sequenzen des Films, die den historischen Gagarin scheinbar gemeinsam mit Gena, Fedja und Elja in Afrika zeigen, zitieren die Träume Mcyris; die Schlussszene, in der Fedja und Kitov zu dem ohnmächtig im Schneefeld liegenden Gena eilen, zitiert die Szene des Poems, in der der Abt Mcyri findet. Dieses Zitat referiert eindeutig auf den nicht explizit gezeigten Tod Genas. Der Film endet, wie Mcyri, so im Gegensatz zu den phantasmatisch-utopistischen Krokodil-Texten, mit einer Vernichtung als Folge des Scheiterns kultureller Hybriditäten. Mit dieser Referenz wird Gena mit dem Topos des jungen, unbezähmbaren ‚Wilden’ gleichgesetzt, der sich nicht in die (russische) Gesellschaft integrieren kann und daher tragisch sterben muss. Ein Verweis, der im Kontext des Films wahrscheinlich positiv gemeint ist, wird hier doppeldeutig. Gena ist und bleibt Außenseiter, nicht weil ihn seine Umwelt daran hindert, sich zu integrieren, sondern weil er sich aufgrund seiner ‚Natur’ nicht integrieren lässt. Ein Beispiel dafür ist Genas Schulausschluss, der als Reaktion auf Prügeleien, in die Gena verstrickt ist, erfolgt. Fedja möchte, dass Gena von Erniedrigungen durch Schulkameraden berichtet, auf die dieser letztlich nur reagierte, was Gena mit Verweis auf seine Würde von sich weist. Wie der Georgier Mcyri steht Gena zwischen zwei Kulturräumen, die beide gleichermaßen unerreichbar sind, und scheitert an diesem Gegensatz. Kulturell ist er ‚Eigenes’ und ‚Fremdes’ zugleich. Das ‚Eigene’ Genas markiert der Film durch die vielfältigen afro-russischen Symbolkomplexe, auf die verwiesen wird, was jedoch das ‚Fremde’ nicht auszulöschen vermag. Das ‚Fremde’ markiert der Film in der Darstellung Genas selbst, die sich einerseits aktiv mit klassischen rassistischen Stereotypenbildungen auseinandersetzt, andererseits diese aber subkutan mit fortschreibt.12 Gena wird eingeführt als ein Kind, das raucht, trinkt, flucht und stiehlt. Vordergründig wird dies durch seine Heimerziehung begründet, auf einer zweiten Ebene hat das Problem seine Ursache aber auch in der von der Heimleiterin prognostizierten Unmöglichkeit, einen ‚Kameruner’ zu einem ‚ordentlichen Russen’ zu machen. Und so gelingt es Fedja auch nicht gänzlich, der Impulsivität, der Unbeherrschtheit, der Emotionalität Genas Herr zu werden. An den entscheidenden Stellen des Films, an denen die Narration dem Kulminationspunkt entgegen strebt, sind es genau diese Eigenschaften Genas, die die eigentliche 12
Diese Strategie ist keine seltene. Sie findet sich unter anderem in prominenten antikolonialistischen und antirassistischen Texten von Autoren wie Jean Paul Sartres Orphée noir (L. Senghor 1948/20024: IX-XLIV) oder Doris Lessings The Grass is Singing (D. Lessing 1950).
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Eskalation verursachen. All diese Charaktereigenschaften sind aber Eigenschaften, die im paneuropäischen Bewusstsein seit Jahrhunderten fest als bedrohliches Szenario mit Afrikanern verbunden sind. Den Gegenpol bildet die Stilisierung des Kindlich-Naiven, des Primitiven und des ‚edlen Wilden’ zum unerreichbaren Gegensatz zur Zivilisation. Auch diesen Topos bedient der Film. Gena wird als unverdorbener Gegenpol Eljas reichem Vater gegenübergestellt, der versucht, ihn mit Geld von seiner Tochter fernzuhalten. Gena jedoch weist das Geld von sich und sagt, er verkaufe keine Frauen. Ein entscheidender Themenkomplex ist derjenige der Sexualität, den auch der Film als eine im Leben Genas wichtige Rolle spielend darstellt. Gena wird an einer Stelle des Films ‚pubertierend’ genannt, was eine nur vordergründige Erklärung für sein Verhalten darstellt. Der Topos des erotischen, sexuell freien und gefährlichen Afrikaners ist aber einer der tiefgreifendsten der paneuropäischen Geistesgeschichte. Und so wird auch Gena als sexuell impulsiv dargestellt. Während seines ihn in den Film einführenden Auftritts erklärt die Heimleiterin, Gena habe eine Schaufensterpuppe mit Dessous gestohlen. Als Fedja Gena aus dem Kinderheim abholt, stiehlt dieser im Zug ein Handy, nachdem er auf dem Display das erotische Bild einer Frau im Bikini erspäht hat. Die Beziehung zu Elja hat von Anfang an eine leicht erotische Komponente, die zwar nicht der Film, wohl aber der Vater als bedrohlich verurteilt. Der Film selbst führt die Erotik der Beziehung in nicht zu missdeutenden Bildern aus, die ihrerseits eine ganz bestimmte Darstellungstradition fortschreiben: Elja arrangiert Gena im Stil exotistischer Gemälde auf einem Sofa. Der Film greift hier die ikonographische Darstellungstradition eines Bildtypus auf, der im Zusammenhang mit der Mode exotischer kleiner Diener an Fürstenhöfen ab Beginn des 16. Jahrhunderts aufkam (K. Wolf 2004).13 In diesem Bildtypus wird zumeist eine weiße adlige Frau zusammen mit einem so genannten „Mohrenpagen“ dargestellt, wobei zwischen Page und adliger Frau eine mal mehr, mal weniger explizite erotische Beziehung angedeutet wird. In jedem Fall ist der „Mohr“ der inferiore Begehrende, der bewundernd zur weißen Frau aufblickt, während diese den Blick des Betrachters sucht. Der Film weicht von dieser Darstellungstradition nur minimal ab. Der erotische Unterton zwischen den Teenagern ist in der Szene unverhohlen. Gena wird somit sowohl auf der narrati-
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Auch Ibragim Gannibal kam als ein solches Kind an den Hof Peters des Großen. Sein Urenkel Puškin partizipiert literarisch an der Darstellungstradition der „Mohrenpagen“. In Arap Petra Velikogo wird Ibragim Gannibal mit einem durch eine Verwundung motivierten Verband um den Kopf in die erotischen Abenteuer mit der Gräfin geführt. Die Nähe zu einem Turban, fester Bestandteil des ikonographischen ‚Mohrenpagen’, ist eindeutig.
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ven als auch auf der ikonographischen Ebene eindeutig mit dem Topos der gefährlichen Sexualität des Schwarzen in Verbindung gebracht. Und auch wenn der Film das Gegenteil beabsichtigt, einen eindeutig aufklärerischen Impetus verfolgt, so zeigt ein Vorfall doch mehr als deutlich, welch kulturelle Wirkmacht diese subkutane Fortschreibung entfalten kann. Ein gutes halbes Jahr nach der Filmpremiere fand in Moskau eine Gerichtsverhandlung statt, bei der die Töchter Jurij Gagarins die Regisseure von Vnuk Gagarina wegen Verunglimpfung und Verleumdung des Namens ihres Vaters verklagten (V. Nesterov 2007a). Der Fall wurde zugunsten der Töchter Gagarins entschieden (V. Nesterov 2007b). Die Klage und der Gerichtsentscheid gründen sich auf einer Phrase, die Gena mehrfach im Film wiederholt. Sein vermeintlicher Großvater Jurij Gagarin sei um die Welt gereist und habe bei einem Besuch in Kamerun ‚seiner Großmuter’ nicht widerstehen können. Genas Herkunftsphantasie beinhaltet also ebenfalls das Konzept der unwiderstehlichen Sexualität von Afrikanern. Kulturell wirksam bis in die Exekutive Russlands wurde in diesem Fall die subkutane Fortschreibung rassistischer Stereotypenbildung in Vnuk Gagarina. Die Reaktion der Regisseurin Tamara Vladimirceva auf das Gerichtsurteil war: „Ich sage nur, ich bin erstaunt. Ich bin nicht verletzt, ich bin nicht beleidigt, ich bin erstaunt. Eines möchte ich nur sagen – der Film wurde im Namen des Guten gemacht, und das alles sind nur die Phantasien eines kleinen Jungen.“14 Vor dem Hintergrund der komplexen Konstruktion einer afro-russischen „Normalität“ ist das, was geschehen ist, vielleicht nicht mehr ganz so erstaunlich.
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Einwanderung als Norm: die australische Gesellschaft im Wandel Stefanie Everke Buchanan
1945 war Australien noch ein sehr junger Staat. Es gab noch keine von der britischen unabhängige Staatsbürgerschaft, und erst seit etwas über vierzig Jahren verstand man sich als eigenes Land. Man unterstellte sich nach wie vor dem britischen Monarchen, und im gerade zu Ende gegangenen Weltkrieg hatte man wie selbstverständlich die australischen Truppen zur Verstärkung der britischen eingesetzt. In vielen Lebensbereichen war Australien nach wie vor eine Art weit entfernter Vorposten des britischen Königreiches am anderen Ende der Welt. Doch brachte das Jahr 1945 eine Strategie mit sich, die die australische Gesellschaft verändern sollte wie keine andere: das Einwanderungsprogramm. Es war das größte und ambitionierteste Projekt seiner Art, das es im ganzen Commonwealth je gegeben hatte. Innerhalb nur eines Jahrzehnts kamen über eine Million Neuankömmlinge in ein Land, das zu Beginn dieser Wanderungswelle selbst nur etwa sieben Millionen Einwohner hatte. Der Wunsch nach einer größeren Bevölkerung war eine unmittelbare Folge der Kriegserfahrung. Das Gefühl, ein ‚leeres’ Land zu sein, das sich im Kriegsfall nicht verteidigen konnte, war durch die Bombardierung der Küstenstadt Darwin im Norden des Landes verstärkt worden. Der neue Minister eines gerade erst gegründeten Departments für Einwanderung, Arthur Augustus Calwell, rief in seinem ersten ‚ministerial statement’ vor dem australischen Parlament das neue Programm aus. Die australische Bevölkerung von 7,5 Millionen sollte um zwei Prozent pro Jahr wachsen, ein Prozent durch natürlichen Zuwachs und das andere Prozent durch Einwanderung. Dies bedeutete, mehr als 70.000 Einwanderer im Jahr ins Land zu holen, mehr als je in der Geschichte des Commonwealth zugelassen worden waren (siehe J. Lack/ J. Templeton 1995: 4). Calwell rief eine Werbekampagne in Großbritannien sowie in Kontinentaleuropa aus, die potentielle Migranten auf Europa aufmerksam machten sollte. Er betonte: „The door to Australia is always open within the limits of our existing legislation to people from the various dominions, the United States of America, and from European continental countries who are sound in health and who will not become a charge on the community, to come here and make their homes“. (A. A. Calwell 1945: 4913)
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Die erste Norm, die es bei der Anwerbung der Neuankömmlinge zu beachten galt, war also ihre Eignung für die australische Gesellschaft. Den beliebtesten Zugriffsort für Australien stellte das ‚Mutterland’ dar – Großbritannien. Mehrere Kampagnen setzten es sich zum Ziel, britische Migranten anzuwerben, so z.B. ‚Bring out a Briton’, und sie wurden tatsächlich auch zu der bei Weitem größten Gruppe der Nachkriegseinwanderer. Jedoch war die Nachfrage weit größer als das Angebot. Nach und nach weitete sich daher der geographische Bereich aus, in dem man passende Einwanderer suchte. Vereinbarungen über ‚Assisted Passages’, bei denen die Bewerber nur einen sehr kleinen Betrag, beispielsweise zehn Pfund, bezahlen mussten, wenn sie sich für zwei Jahre dazu verpflichteten, die ihnen gestellte Arbeit anzunehmen, wurden mit einer ganzen Reihe europäischer Länder geschlossen. Die australische Norm war nach wie vor die ‚White Australia Policy’ – weiße, am liebsten britische Einwanderer, und nur einige andere wenige Staaten schienen ‚assimilierbar’ (J. Jupp 1991: 109). Diese Diskriminierung erstreckte sich auch auf die Integrationsmaßnahmen, die im Land betrieben wurden: Those who were culturally and linguistically close to the British, such as the Dutch and the Germans, had less trouble in conforming than the Ukrainians or Croatians. Official policy was to assist Dutch, German and Scandinavian immigrants, who were assumed to be more assimilable than those from eastern or southern Europe. (J. Jupp 1991: 137)
Und diese Assimilation sollte schnell und vollständig sein. Der Premierminister Robert Menzies brachte es auf den Punkt: When they have lived here for a few years, they will all be Australians, they will all be British, and they will all be, as we are, the King's men and the King's women. (J. Lack/ J. Templeton 1995: 42-43)
Dies waren die von den Einwanderern erwarteten Normen. Doch bereits in der ersten Ansprache vor dem Parlament wandte sich Calwell auch ausdrücklich der australischen Bevölkerung zu und stellte ihnen die Aufgabe, den Neuankömmlingen das Leben leichter zu machen: The Australian people must help newcomers to become assimilated. We have been too prone in the past to ostracize those of alien birth and then blame them for segregating themselves and forming foreign communities. It is we, not they, who are generally responsible for this condition of affairs. (A. A. Calwell 1945: 4914)
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Daher wurden von Beginn an Überlegungen getroffen, wie ein Einwanderungsprogramm dieser Größe allgemein schmackhaft gemacht werden konnte. Auch schon im Haylen-Report, dem Bericht des von Calwell eingesetzten Komitees, das die Lage in Europa sondiert hatte, hieß es: A national publicity campaign should be launched conditioning the Australian citizen for the arrival of migrants, assuring him that the new citizen will MAKE jobs not TAKE them, and educating the public out of its ‚Isolationist’ attitude to the new arrival. (J. Lack/ J. Templeton 1995: 22)
Zu diesem Zwecke begann eine Werbekampagne, die über Jahrzehnte die Einwanderung begleitete. In ihr wurden die Neuankömmlinge als produktive, junge, freundliche und engagierte Mitglieder der Gesellschaft dargestellt, die für den Aufschwung im Lande sorgen sollten. Mehr noch, in manchen Darstellungen retteten sie den Kontinent nicht nur im übertragenen, sondern gar im buchstäblichen Sinne, wie John Lack und Jacqueline Templeton nicht ganz ohne Augenzwinkern bemerken: Some New Australians required more subtle marketing, and few readers of the Immigration Department’s „The New Australian” could have remained unimpressed by the bravery – true British grit, almost – of ordinary Italian and Greek men, regularly portrayed defying raging bushfires or treacherous seas to snatch small Australian children from imminent burning, drowning or the shark’s jaws. (J. Lack/ J. Templeton 1995: 78)
Gleichzeitig wurde mit dem Sammelbegriff ‚New Australians’ als Bezeichnung für die Zuwanderer eine klare Richtline für beide Seiten entworfen. Den Neuen wurde gesagt, wohin sie sich entwickeln sollten, vom Neuzustand weg und hin zum einfach nur noch ‚Australian’. Den bereits Ansässigen wurde vermittelt, dass die Migranten auf dem Weg dazu waren, ‚Ihresgleichen’ zu werden und daher alle Akzeptanz ihnen gegenüber walten zu lassen. Der Begriff ‚New Australian’ war in den 1920er Jahren entstanden und bezeichnete damals Einwanderer aus Großbritannien, die man quasi als Verwandte betrachtete. Wie beschwörend kam er nun auch für die kontinentaleuropäischen Neuankömmlinge zur Anwendung. Ziel war immer, dass die Einwanderer eines Tages die australische Staatsbürgerschaft annehmen und damit auch die letzten Verbindungen zur alten Heimat durchtrennen würden. James Jupp, Politologe an der Australian National University in Canberra, schreibt über die Verknüpfung der Assimilationspolitik mit der Bezeichnung ‚New Australians’: The implication was that they were on the way to becoming Australians and would be fully assimilated within their lifetime and preferably as quickly as
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Stefanie Everke Buchanan possible. (...) Assimilationism meant the abandoning of all characteristics that made individuals visible in a crowd. This included the public usage of languages other than English, the wearing of unusual clothing, gestures not normally used, physical appearance and anything which prevented the individual from becoming invisible to the majority. These expectations were clearly spelled out in official welcoming material. (J. Jupp 1991: 97)
Ein Beispiel für das Idealbild des australischen Einwanderers war die Ankunft der einmillionsten Nachkriegsmigrantin. Am 8. November 1955 kam die damals 21-jährige Barbara Porritt aus Yorkshire in Melbourne an. Bereits Monate zuvor, als sie noch Miss Wood war, hatten Einwanderungsbeauftragte der australischen Regierung sie in ihrem Haus in Yorkshire besucht und erste Interviews mit ihr geführt. Ganz Australien konnte in Zeitungsberichten ihre Vorbereitungen auf die Einwanderung verfolgen – eine Homestory nicht unähnlich der Sendungen, die derzeit im deutschen Privatfernsehen über Aus- und Rückwanderer gesendet werden. Mit ihr wurde ganz bewusst eine Person ausgewählt, die sich besonders gut zur Darstellung der Ziele und Erfolge des australischen Einwanderungsprogramms eignete. Die Einwanderer aus Großbritannien waren die sowohl größte als auch am heftigsten umworbene Gruppe, und es ist kein Zufall, dass ausgerechnet eine Frau ausgewählt wurde. Sara Wills weist darauf hin, dass Einwanderer aus Großbritannien oft als ‚British stock’ bezeichnet wurden – also britische Abstammung. Jedoch ist ‚stock’ auch eine Brühe als Suppengrundlage, ein ‚britischer Fond’ also. Man hoffte, dass Einwanderer aus Großbritannien in Australien viele Kinder zeugen würden, die dann Australien mit anderen ‚Ihresgleichens’ bevölkern würden (S. Wills 2004: 333). Barbara Porritt zeigte Australien und der ganzen Welt, wie die australische Einwanderung aussehen sollte. Sie war jung, gesund, verheiratet und zog mit ihrem Ehemann in das Latrobe Valley östlich von Melbourne. Diese Gegend durchlief in den fünfziger und sechziger Jahren eine Blütezeit, da dort die State Electricity Commission (SEC), das staatliche Elektrizitätswerk, baute, um den Elektrizitätsbedarf eines gewaltigen Wirtschaftsaufschwungs decken zu können. Der Good Neighbour Council of Victoria, eine Dachorganisation der wohltätigen Verbände, die sich auf lokaler Ebene um die Integration der Neuankömmlinge kümmerten, beschrieb das junge Paar enthusiastisch: „Barbara and Dennis Porritt are typical of the young healthy migrants who are adding their strength and skills to the making of this great nation.“ (The Good Neighbour Council of Victoria 1956: 14) Von einem solchen jungen Paar, ebenso angelsächsisch wie die überwiegende Mehrheit der australischen Bevölkerung, ging sicher keine Bedrohung aus. Noch einmal sollte man sich vor Augen halten, dass eine solche Werbung für Einwanderung nötig war. Wie Stephen Castles bemerkt, gab es paradoxerweise „a need for mass multi-ethnic migration to service expanding labour-intensive industry in
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a country where traditional norms and practices (...) ensured widespread popular opposition to such immigration.“ (S. Castles et al. 1988: 51) Mit Barbara Porritt wurde ein Bild des Einwanderers verbreitet, der oder die sich schnell und problemlos in die australische Gesellschaft integriert und ihr beinahe sofort zu großem Nutzen gereicht. Doch auch diese scheinbar völlig unproblematischen Einwanderer mussten sich assimilieren. Die schnelle Eingewöhnung war ein Grundbaustein des australischen Einwanderungs-programmes, und sie begann bereits, bevor die Einwanderer überhaupt in Australien ankamen. Auf den Schiffen, die sie nach Australien brachten, wurde ‚migrant education’ von Beamten der australischen Regierung durchgeführt, es gab Englischkurse und Orientierungskurse. Paradoxerweise trug gerade die so ambitionierte Einwanderungspolitik zum Ende des Assimilationsgedankens bei. Die Bedingungen, die die Einwanderer nach ihrer Ankunft vorfanden, waren nicht so günstig, wie sie die australische Regierung geplant und in ihren Kampagnen in Übersee angepriesen hatte. Angekommen im neuen, fremden Land sahen sie sich Arbeitsbedingungen gegenübergestellt, die eine Teilnahme an den wohlmeinenden Englischklassen unmöglich machten. Gerade Frauen, die ebenso wie die Männer in den Fabriken arbeiteten, um Geld dazuzuverdienen und ‚nebenbei’ noch den Haushalt zu führen hatten, konnten es sich weder finanziell noch zeitlich leisten, die Abendkurse zu belegen. Viele MigrantInnen empfanden Verlassenheit und Desorientierung. Statt sich sofort in die australische Gesellschaft zu integrieren, fühlten viele sich wesentlich sicherer in Einwanderer-Communities. Von australischer Seite wurde diese Entwicklung mit einiger Skepsis beäugt, war sie doch ein erstes Zeichen dafür, dass die Politik vielleicht nicht so würde umgesetzt werden können, wie es ursprünglich geplant gewesen war. Langsam wurde man sich der Anwesenheit der Einwanderer, der ‚Migrant Presence’, wie sie die Soziologin Jean Martin beschrieben hat (J. Martin 1978), gewahr. Wie sehr der Zufluss hunderttausender von Einwanderern auch die australische Gesellschaft verändern würde, war nicht richtig vorhergesehen worden. Nur langsam entstand ein neues Problembewusstsein in Australien, mit vielen Brüchen und Rückschritten, und der Wandel trat keinesfalls auf allen Ebenen gleichzeitig ein. Gegen Ende der 1960er Jahre begann der Abschied von der Assimilation und die Wende hin zu einer neuen Politik gegenüber MigrantInnen: der Integration der verschiedenen Gruppen in die australische Gesellschaft. So sollte es den MigrantInnen erlaubt bleiben, die wertvollsten Teile ihrer Kultur weiterzuleben und zu einem Teil des australischen Lebens zu machen. Gerade für die zweite Generation der Einwanderer bedeutete dies, dass ihre Sprache und Herkunft weniger tabuisiert wurden.
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Beide großen Parteien Australiens, Labor und Liberal, nahmen den Multikulturalismus in ihr Programm auf, und in den siebziger Jahren wurde er endgültig offizielle Regierungspolitik – nicht mehr nur deskriptiv sondern auch präskriptiv – und von der Regierung finanziert (vgl. S. Castles et al. 1988: 68). Damit war Multikulturalismus nicht mehr nur eine Strategie zum Umgang mit Einwanderern, sondern zu einer verbindenden Ideologie für alle AustralierInnen geworden. James Jupp schreibt: „Multiculturalism has developed from an immigrant settlement program, with pragmatic objectives, into an ideology which redefines Australians as drawn from many sources rather than simply from the British Isles.“ (J. Jupp 1991: 107) Jedoch gilt diese positive Haltung nicht uneingeschränkt. Wie sehr oft sind es die ‚Letzten’, die jüngste Einwanderergruppe, der die größte Skepsis entgegengebracht wird. So beschrieben Bommes, Castles und Wihtol de Wenden unter anderem die in den 1980er Jahren viel diskutierte Angst, der Innenstadtbezirk Richmond in Melbourne werde durch die höhere Konzentration an vietnamesischen Einwanderern ‚asianisiert’ (M. Bommes et al. 1999: 35). Und in neuerer Zeit waren es zunehmend Flüchtlinge aus dem Sudan, die mit negativer Publicity konfrontiert wurden. Gerade in der im November 2007 zu Ende gegangenen Regierung John Howards (1996-2007) fand eine starke Wende zurück zu konservativen Werten und eine schärfere Haltung gegenüber Einwanderergruppen statt. Doch mit dem Regierungswechsel und dem nachfolgenden Premierminister Kevin Rudd kamen wieder Impulse in eine andere Richung zum Tragen. Sein Konzept für den Fortbestand der multikulturellen Gesellschaft in Australien wird sich erst noch zeigen und dann auch beweisen müssen. Doch hat er mit der im Februar 2008 ausgesprochenen Entschuldigung an die Aborigine-Völker Australiens einen bedeutenden Schritt dazu getan, die Herkunft des Landes zu ehren und in ihrer Diversität zu unterstützen. Mehrere australische Regierungen hatten zwischen 1910 und 1970 Aborigine-Kinder aus ihren Familien entfernt und sie in kirchlichen Einrichtungen und manchmal in weißen Familien, oft unter schrecklichen Bedingungen, aufwachsen lassen. Diese Kinder werden als ‚Stolen Generations’ bezeichnet. Vielleicht erinnert man sich noch an den Film Rabbit Proof Fence, der die Flucht einer Gruppe von Aborigine-Kindern vor den Behörden beschreibt. Die Kinder, besonders die aus europäisch-Aborigine-Mischehen, sollten so rasch wie möglich an die weiße Kultur assimiliert werden. AborigineOrganisationen fordern seit Jahren, ja Jahrzehnten, eine Entschuldigung, die jedoch erst am 13. Februar 2008 ausgesprochen wurde. Was hat das mit Normen und Einwanderung zu tun? Sehr viel. Denn mit der Entschuldigung für die forcierte Assimilation und dem Eingeständnis des den Aborigines geschehenen Unrechts wurde der erste Schritt hin zu einer offiziellen Anerkennung der „First Australians“ getan. So wird auch die Selbstbeschreibung
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als Einwanderer für die ersten weißen Siedler, die immer noch größte Gruppe der australischen Bevölkerung, notwendig – und damit auch das Eingeständnis, dass man den ‚neueren’ gleich ist. Wer anerkennt, dass ein anderer zuerst da war, der sagt damit auch, dass Einwanderung für alle anderen die Norm ist. So ergibt sich die ungeheure Chance und Möglichkeit, eine australische Identität für alle, Aborigines und Einwanderer aller Generationen, zu festigen.
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„Das würde ein normaler Deutscher niemals verstehen und auch nicht akzeptieren“. Normierungsprozesse in der interkulturellen Geschäftspraxis am Beispiel einer deutschen Managerin in der Ukraine Halyna Leontiy
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Einleitung
Der Begriff der Norm ist aus dem gesellschaftlichen Diskurs nicht wegzudenken. Ob explizit oder implizit, normiert, normalisiert oder genormt wird alles, was das menschliche Zusammenleben ausmacht, einschließlich der Kommunikation. Der vorliegende Beitrag fokussiert, wie der Titel besagt, auf das Phänomen der diskursiven Konstruktion von stereotypisierten „Normierungen“ im deutschukrainischen Arbeitskontext. Ausgehend von der Tatsache, dass Normen sowohl zum Kollektivbewusstsein von Gesellschaften gehören, kulturgebunden und wandelbar sind sowie von den Subjekten selbst mitkonstruiert werden, möchte ich in meinem Aufsatz die kommunikative Konstruktion von kulturellen Normen im deutsch-ukrainischen Geschäftskontext aus der Perspektive einer deutschen Managerin sowie die objektive Situation der deutsch-ukrainischen Geschäftsarbeit schildern. Zunächst werden die grundlegenden Begrifflichkeiten in Bezug auf „Kommunikation, Kultur und Normen“ eingeführt. In meinem Beitrag fokussiere ich vor allem die Handlungsaspekte der interkulturellen Kommunikation (was allerdings auch mittels Sprache oder stilistischer Mittel geschieht). Ich verwende eine weite Fassung des Begriffs der „Interkulturellen Kommunikation“ und orientiere mich am dynamischen, interaktionistisch angelegten, kommunikativ vermittelten Kulturbegriff, der als ein Resultat gesellschaftlich gebundener Interaktionsprozesse definiert wird.1 Kultur wird demnach als kommunikatives Konstrukt und nicht als Gegenstand verstanden. Auch den Kommunikationsbegriff verwende 1
Siehe J. Bolten 1999: 29; F. Cašmir 1998. Mit diesem Kulturverständnis arbeiten außerdem Forscher aus dem Bereich der interpretativen Soziolinguistik, wie z.B. Autoren des Sammelbandes von H. Kotthoff 2002 sowie eine Reihe von wissenssoziologisch orientierten Wissenschaftlern wie J. Dreher 2005, N. Schröer 2002, G. Koch 2009, die Herausgeber des Bandes „Qualitative Forschung und interkulturelle Kommunikation“ M. Otten et al. 2009, und viele andere.
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ich in seiner ‚weiten’ Fassung, so dass hier nicht lediglich face-to-faceKommunikation, sondern generell die kommunikative Konstruktion von Kultur, Fremdheit, strukturellen Vorgängen etc. gemeint ist. Es geht somit nicht um die Vergegenständlichung der Kultur, sondern um die Wechselbeziehung von Kommunikation und Kultur in den Interaktionen oder – wie im gegebenen Fall – in einem Interview. Nicht zuletzt soll die definitorische Festlegung des Begriffes „Norm“ erfolgen. Das Verfolgen der Diskussion um die Definition und Abgrenzung der nahe liegenden Begriffe „Norm, Normalität, Normierung, Normalisierung“, wie dies z.B. im Sammelband von W. Sohn/ H. Mehrtens (1999) „Normalität und Abweichung“ erfolgte, hat jedoch mehr verwirrende als klärende Ergebnisse geliefert.2 Ich stimme Link zu, mit der Auffassung von Normalitäten als kommunikativ konstruiert und kulturabhängig.3 Diese Auffassung geht auf die wissenssoziologische Theorie nach Luckmann (bzw. Berger/ Luckmann), die ich als Basis meiner Analysen festlege. Normen gehören zu überlieferten gesellschaftlichen Wissensbeständen, die jeder Mensch als soziohistorisches Apriori bereits vorfindet, in die er hineinwächst, auf die er sich in seinem Handeln bezieht und die er auch weiter fortschreibt.4 Normen entstehen im Laufe der Institutionalisierung von Gewohnheiten und Habitualisierungen, die ein konsequentes Ergebnis des menschlichen Kulturaufbaus sind.5 Institutionalisierung entsteht aus der rezipro2
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Den Begriff der „Normalität“ charakterisiert J. Link (2003) als einen „changierenden, stark polysemischen und konnotationsabhängigen Ausdruck“ (J. Link 2003: 9), da man im Kontext dieses Begriffs von Normen, Normativität, Normalitäten, Normierung und ‚Normalismus’ spricht. Unter „Normalität(en)“ versteht Link die „Gesamtheit von Diskursen, Verfahren und Institutionen, durch die in modernen Gesellschaften allgemeine und systemspezifische ‚Normalitäten’ hergestellt werden“ (ebd.). Im Schlusskapitel des Sammelbandes von W. Sohn/ H. Mehrtens (1999), „Normalität und Abweichung“, versucht sich Wahrig-Schmidt in der begrifflichen Klärung und Differenzierung. So verwendet sie den Begriff „Normierung“ „im Sinne einer Unterwerfung bestimmter Gegenstände oder Tätigkeiten unter ein Set von Regeln, deren Geltung entweder allgemein anerkannt ist oder deren allgemeine Geltung vorausgesetzt wird“ (B. Wahrig-Schmidt 1999: 267). Hier wird Bezug genommen auf bereits bestehende Normensysteme. Unter dem Begriff der „Normalisierung“ wird ein komplexer gesellschaftlicher Prozess verstanden, „in dem Einschluss/ Ausschluss-Mechanismus durch praktische Einübung, durch Erzeugung von bestimmten Wissensformen und durch Subjektformierung und Subjektivierung erzeugt und (…) differenziert reproduziert werden.“ (Ebd.: 268) „Das Normale ist stets das Normale eines bestimmten und bestimmenden Kontextes, nämlich des Sinnzusammenhangs des jeweiligen sozialen Systems bzw.. wie es bei Dilthey heißt, des ‚Kultursystems’. Geht man von diesem Gedanken aus, dann ist klar, dass Normalität in der Moderne zum einen im Plural vorkommt und zum anderen eine komplexe Verstehens- und Kommunikationsleistung darstellt“ (H. Willems 2003: 52). In Anlehnung an P. Berger/ T. Luckmann 2000 (1966/1972) und H.-G. Soeffner 1984. Durch seine – im Sinne Plessners und Gehlens – exzentrische, weltoffene Positionalität und durch seine Unterausstattung mit Instinkten, ist der Mensch zum Kulturaufbau praktisch gezwungen. (Siehe dazu H. Plessner 1965, P. Berger/ T. Luckmann 2000: 49 ff.)
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ken Typisierung von habitualisierten Handlungen durch Typen von Handelnden. Jede Typisierung, die auf diese Weise vorgenommen wird, ist eine Institution. Dabei werden Historizität (Entstehung wechselseitiger Typisierungen von Handlungen im Laufe einer gemeinsamen Geschichte) und Kontrolle vorausgesetzt. Die entsprechenden Typisierungen werden zum Allgemeingut, also für alle Mitglieder der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe erreichbar (P. Berger/ T. Luckmann 2000: 58). Typisierung ist in diesem Sinne immer eine Generalisierung von Erwartungen, eine standardisierte Verhaltenserwartung und auch eine Norm, die zum Kontrollmechanismus der Institution gehört. Die gesellschaftliche Durchsetzung dieses Verhaltens bezeichne ich als Normierung. Der Prozess, in dem Normalitäten von Subjekten (in diesem Fall von einer deutschen Managerin in der Ukraine) im Laufe der Interaktion (in diesem Fall eines Interviews) aufgebracht werden, kann als Konstruktion von „Normierungen“ verstanden werden. Sowohl mit dem sozialphänomenologischen Ansatz von A. Schütz (1979: 277 ff.) als auch mit dem darauf aufbauenden wissenssoziologischen Ansatz von T. Luckmann6, wurde eine theoretisch distanzierte Einstellung zur Bildung von Typisierungen, Stereotypisierungen und Vorurteilen vorgenommen. Hier wird nach den allgemeinen gesellschaftlichen (sozial-strukturellen) Voraussetzungen für die Ausbildung bestimmter subjektiver Bewusstseinsstrukturen gefragt, auf denen Wissen und Vorurteil beruhen. Diesem Ansatz folgend, bilden sich Wissen und Vorurteil in einer Abfolge von Erfahrungen, welche biographisch von subjektiven Relevanzen bestimmt und zeitlich, räumlich und sozial gegliedert sind, wobei Grade der Unmittelbarkeit bzw. der Anonymität von Bedeutung sind. Für typische Probleme gibt es typische Lösungen. Interesse und Relevanz sind von Bedeutung. Je weniger relevant die Probleme sind, je vernachlässigter dessen Aspekte, desto schematisierter ist die Lösung. Die Vernachlässigung kann bewusst (kognitiv) kontrolliert geschehen. Beim Verlust der Kontrolle wird die Wirklichkeit stereotyp, schablonenhaft erfasst. Hier wird ein Typ mit dem konkreten Gegenstand oder einer lebendigen Person verwechselt. Gruppenrelevante und allgemeine Problemlösungen sind institutionell verankert. D.h., sozial relevante Problemlösungen werden zu Bestandteilen gesellschaftlicher Wissensvorräte. Subjektive Wissensvorräte enthalten nur Ausschnitte des gesellschaftlichen Wissensvorrats. Luckmann spricht zum Schluss von „unschuldigen Vorurteilen“, die Teil unseres Rezeptwissens sind und keine Auswirkungen auf die Außenwelt haben, solange sie subjektiv bleiben und sich nicht „gesellschaftlich organisiert haben“ (B. Luckmann/ T. Luckmann 1993 I: 61). Damit tritt er der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung entgegen und bleibt auf der Ebene der Theoriebildung. 6
Siehe z.B. die von Benita und Thomas Luckmann entwickelte Lektüre für die Fernuniversität Hagen „Wissen und Vorurteil“ 1 und 2 aus dem Jahr 1993.
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Diesen Prozess der Typisierung, der Vorurteilsbildung und (gegebenenfalls) deren Instrumentalisierung möchte ich in der nachfolgenden Analyse zeigen. Im Beitrag wird ein Ausschnitt aus dem Interview mit einer deutschen Generalmanagerin in der Ukraine, das (als eines von insgesamt 16 explorativen Interviews) im Rahmen meiner Dissertation im Fach Soziologie in den Jahren 2000 bis 2002 in einem von insgesamt acht deutschen Unternehmen in der Ukraine erhoben wurde.7 Dieses Textilunternehmen, in dem später eine mehrmonatige ethnographische Fallstudie durchgeführt wurde, nenne ich im Folgenden „GrößtTex“ International Einkaufsgesellschaft. Es handelt sich, wie in den meisten Fällen, um eine Vertretung eines deutschen Unternehmens oder eines Konzerns mit deutscher Leitung und ukrainischer Belegschaft. Die zunehmende Offenheit der postsozialistischen Länder für die Einführung der Marktwirtschaft nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und das wachsende Interesse des Westens an der Markterweiterung veranlassten viele deutsche Unternehmen, ihre Aktivität in diese Länder auszudehnen. Dieser Geschäftsprozess ist jedoch mit vielen ineinander verwobenen Problemen und Konflikten formeller wie informeller Art verbunden, deren Ursachen mit einfachen Methoden (wie Umfragen) nicht zu ermitteln sind. Die Auswirkungen dieser Probleme und Konflikte reichen bis zur Schließung einiger Unternehmen. Das Ziel der Studie war, herauszufinden, wie die Akteure ihre kulturellen Zugehörigkeiten kommunikativ erzeugen, wie sie sich selbst und die Anderen sehen, wie sie das Geschehen im interkulturellen Arbeitsfeld bzw. im Geschäftsprozess deuten (mittels sog. Deutungsmuster), und nicht zuletzt, mithilfe der Ethnographie, die tatsächlichen Geschehnisse und Probleme, die hinter diesen subjektiven Wahrnehmungen stehen, zu ergründen. Dabei ging ich nicht von vorne herein von den (national-)kulturellen Unterschieden aus; es ging mir darum, die gesamte Situation aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren, um herauszufinden, welche Geschäftsvorgänge störungsfrei funktionieren und welche nicht, sowie die Gründe dazu zu finden.8 7
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Die Dissertation ist im Oktober 2009 im Verlag VS Research unter dem Titel „Deutschukrainische Wirtschaftskommunikation. Ethnographisch-gesprächsanalytische Studien“ erschienen. Das Forschungsfeld der interkulturellen Wirtschaftskommunikation zwischen Deutschland und der Ukraine ist ein komplexes Themenfeld, zu dessen Analyse ein interdisziplinärer und methodisch vielfältiger Zugang notwendig ist. Als Basis aller Datenanalysen fungierte das Kodierverfahren im Rahmen der Grounded Theory. Ich kontrastierte zwischen verschiedenen Daten/ Aussagen zu einem bestimmten Code und fügte auch Fakteninformationen oder andere ‚objektive’ Daten hinzu (Gesetzesbeschlüsse, Statistiken, Material zur Geschichte und zur Wirtschaft etc.). Mit Hilfe der Methode der Sequenzanalyse wurden ‚feinere’ Analysen der Schlüsselstellen durchgeführt. Die Methode der interpretativen Konversationsanalyse erwies sich gerade für das umfangreiche Material der Gesprächsdaten als hilfreich. Meine Fallstudie stellt eine Strukturierung des ethnographischen Materials dar (Tagebuchmemos, Interviews, natürliche Gespräche, einige Dokumente), mit der ich versuchte, ein Bild der interaktiven Pro-
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Die Konstruktion der Normierungen in Bezug auf die ukrainischen Akteure bzw. auf das ukrainische Management wird im Folgenden anhand einer Schlüsselstelle aus dem Interview mit Evelyn, der General Managerin eines Einkaufsbüros eines deutschen Textilunternehmens in der Ukraine (Kiev), dargestellt. Dieses Interview wurde deswegen ausgesucht, weil darin der Prozess der Normierungen am deutlichsten zum Vorschein kommt. Das bedeutet allerdings nicht, dass es eine Ausnahme darstellt. Vor allem in den deutschen Interviews wird eine Reihe von ähnlichen Normierungen vollzogen, welche in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht behandelt werden können. Die Analyse der Interview-Schlüsselstelle erfolgt nach der Methode der Sequenzanalyse im Sinne der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik9.
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Analyse der Interview-Schlüsselstelle
Zum Zeitpunkt des Interviews leitet Evelyn das Kiever Einkaufsbüros des deutschen Konzerns GrößtTex International seit ca. zwei Jahren. Ihre Erfahrungen in der Ukraine schildert sie in diesem Interview wie folgt: Interview Evelyn, Z. 239-30510, E = Evelyn, I = Interviewerin 239 240 241
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[…] und ich hab die länder inzwischen auch irgendwo lieben gelernt. also, ich verfluche sie teilweise auch oft,
zesse im Forschungsfeld (Institution „Einkaufsbüro“ und die Kommunikationen nach außen) möglichst ausführlich und reichhaltig darzustellen. Genaueres zur Methode sowie Methodologie der Studie siehe in G. Leontij 2003, 2005 sowie H. Leontiy 2009. Die Methode der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik wurde in Anlehnung an die objektive Hermeneutik von U. Oevermann von H.-G. Soeffner entwickelt und stellt einen eigenen Ansatz dar. Siehe dazu z.B. H.-G. Soeffner 1984, 1989, 1994, R. Hitzler/ A. Honer 1997, U. Oevermann 1993. Die Sequenzanalyse basiert auf dem Regelwissen der alltäglich Handelnden, das sich keineswegs zufällig vollzieht, sondern das Produkt einer Wahl unter Bedingungen ist, die andere Handlungen, Sinngehalte und deren Deutungen ausgeschlossen haben. Daraus folgt, dass jede Handlung und jedes ihrer einzelnen Elemente seine notwendige Form und Stelle innerhalb eines konkreten Interaktionsprozesses hat. Aus der spezifischen Abfolge und Verknüpfung der Einzelelemente bilden sich Gestalten des Handelns und Deutens heraus, was die jeweiligen Interaktionspartner wissen und auch unterstellen. Die sozialwissenschaftliche Interpretation durchläuft den gleichen Vorgang der sinnkonstituierenden Abfolge. Sie rekonstruiert entlang des Handlungsproduktes – des Textes – den Handlungsprozess und die sequentielle Sinnkonstitution. Dabei ist ihre Aufgabe, die im ‚Text’ anfangs noch enthaltenen, später dann ausgeschlossenen Handlungs- und Deutungsalternativen zu erschließen. (Vgl. H.-G. Soeffner/ J. Raab 2003) Die Transkriptionskonventionen finden sich am Ende des Beitrags.
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I: E:
I: E:
I: E:
[(hehe) [weil ich (? ?) verdammt noch mal, das kann nicht wahr sein, äh:: weil die mentalitäten sind so krass, äh man stößt da teilweise auf probleme, die würde ein in anführungszeichen, ein normaler deutscher NIE::mals verstehen und auch nicht akzeptieren. und was sind das für äh, können sie ein paar beispiele/ nein, es ist einfach äh: (--) die art und weise wie man dinge sieht, wie man mit dingen umgeht, ähm, banale dinge, die man in deutschland für selbstverständlich hält, das als beispiel jetzt nur, eine antwort auf eine bestimmt anfrage, dass man zumindest ein bescheid gibt am nächsten tag, oder zumindest in zwei tagen, (/H) ein zwischenbescheid gibt, also/ (-) entschuldigung, wir sind noch nicht so weit, wir können noch keine antwort geben, (/H) nein, das [dauert wochen, wochen und dann fragt man die und [(? ?) dann (/H) ACH ja, wir sind noch nicht so weit, unsere was weiß ich, unsere kommerzdirektorin ist krank, oder sie ist im urlaub, wir können nicht antworten, und für solche, sag ich mal so ein verhalten hat ein westeuropäer kein verständnis. es ist eine selbstverständlichkeit, ähm: dass man reagiert, und ich meine, der markt und die ganze welt, der markt an sich, die wirtschaft ist so klein geworden, das ist so transparent, (/H) und grade so ein konzern wie größttex age:, ähm hat überall auf der welt seine standpunkte, einkaufsbüros, °die kennen die ganze welt°. und die haben es nicht nötig, in einer (-) sage ich mal, ukraine, lange zu warten bis da eine antwort kommt, das heisst die lassen es fallen und gehen von mir aus nach indien, nach pakistan, nach korea, und holen sich die ware dort. und das verstehen die leute hier nicht, ne? das verstehen die unternehmer hier nicht.
Um das Interview adäquat analysieren zu können, unterscheide ich bei der Analyse die Ebene der Kommunikation und die Ebene der objektiven Situation. Auf
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der Ebene der Kommunikation sind die Erwartungsstrukturen der Akteure (der Ukrainer und der Deutschen) sichtbar. Die Aufgabe ist zudem, die objektive Situation, die hinter diesen Erwartungsstrukturen steht, herauszuarbeiten. Dabei lässt sich die objektive Situation nur dann erfahren, wenn diese beiden Ebenen, die sich aufeinander beziehen, unterschieden werden.
2.1 Ebene der Kommunikation Die Schilderung ihrer Erfahrungen in den osteuropäischen Ländern beginnt Evelyn mit einer Art Liebeserklärung, die jedoch mit dem Adverb „irgendwo“ eingeschränkt ist. Ihre negativen Emotionen werden in Z. 241 und 243 deutlich, indem sie ihre Entrüstung explizit thematisiert („verfluche sie teilweise“ und „verdammt noch mal“). Danach folgt die Exemplifizierung der Entrüstung, die mit Bewertungen beginnt: „Mentalitäten sind so krass“ und „man“ stoße auf Probleme, für die ein „normaler Deutscher“ kein Verständnis hat. Meine Bitte um ein Beispiel in Z. 249f. verneint sie zunächst, womit sie zeigt, dass sie hier keine objektive Situation, sondern Denkmuster beschreiben will: „Art und Weise, wie man Dinge sieht, wie man mit Dingen umgeht“ (Z. 251f.). Damit will sie verdeutlichen, dass ein Sachverhalt aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich erscheint, wie z.B. „banale Dinge“, die in Deutschland „selbstverständlich“ seien. Erst in Z. 254ff. liefert sie ein Beispiel: es geht um die Antwort auf eine bestimmte Anfrage, die ausbleibt. In dieser Situation wird in Deutschland eine schnelle Reaktion erwartet: „zumindest ein Bescheid“ am nächsten Tag oder „zumindest in zwei Tagen“ (Z. 256f.). Die adverbiale Bestimmung „zumindest“ ist phonetisch markiert: es sagt aus, dass diese ein- oder zweitägige Reaktion das Minimum des erwartbaren Verhaltens darstellt, also eine Norm. Das Erwartbare besteht darin, einen „Zwischenbescheid“ zu geben und sich zu entschuldigen (Z. 258). Diese Reaktion bleibt in der Ukraine aus: Statt dessen „dauert (es) Wochen, Wochen“ (implizite Nicht-Normalität), was für ein typisch sozialistisches bürokratisches Verhaltensmuster spricht. Bis dahin schildert Evelyn aus deutscher Sicht das Deutungsmuster des ukrainischen Verhaltens, womit auch die deutsche Erwartungshaltung sichtbar wird (schnelles Agieren und Reagieren in der Markwirtschaft). Ab Z. 263 wechselt sie die Perspektive und übernimmt die Rolle des Lieferanten, bei dem angefragt wurde, womit sie „Nicht-Normalität“ aktiv konstruiert. Die Art der Formulierung deutet darauf hin, dass hier etwas Beispielhaftes geschildert wird, weil Funktionsbezeichnungen austauschbar sind: „unsere was weiß ich, unsere Kommerzdirektorin“ (Z. 264). Die Sprecherin simuliert ein Gespräch mit der Angestellten eines ukrainischen Betriebs, die irgendeine Ausrede verwendet. Dabei verbindet
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sie zwei Sprachstile bzw. zwei Perspektiven miteinander: zum einen zitiert sie den Kontext (hier: ein Telefonat), in dem es heißt, „wir sind noch nicht so weit“, oder: „unsere Kommerzdirektorin ist krank“. Zum anderen kommentiert sie das Telefonat, denn die andere Gesprächspartnerin würde sich nicht mit „was weiß ich“ äußern. Auch würde sie die beiden Gründe nicht zusammen nennen. Der telefonische Kontext wird somit durch eine ‚Mehr-Ebenen-Antwort’ kommentiert. Das ist eine Art Metakommentar zu dem Kontext, den Evelyn mit einem Gesamtkommentar beendet: „und für solche, sag ich mal so ein Verhalten hat ein Westeuropäer kein Verständnis“ (Z. 266-267). Hier arbeitet sie mit Stereotypenstrukturen, die sie als allgemein bekannt voraussetzt. Auf der einen Seite befinden sich die Westeuropäer mit den Konzepten der Marktwirtschaft als institutionalisierten Typisierungen (im Sinne von Berger/ Luckmann). Aus dem Standpunkt dieser Stereotypenhaltung wird auch über das adäquate Verhalten der Osteuropäer entschieden. Der Westen gibt eine Norm vor, an die sich der Osten anpassen soll. Auffallend ist, dass Evelyn an dieser Stelle den Ausdruck „Westeuropäer“ verwendet und nicht „Deutscher“ (wie in Z. 247), was zwei verschiedene Konnotationen beinhaltet. Damit hat sie ihr Generalisierungsniveau gesteigert: Hier setzt sie zwei Kulturen gegeneinander und nennt Beispiele, die sehr variieren. Dadurch, dass die ukrainische Seite in Beliebigkeitskategorien dargestellt wird, wird sie für diffus und unstrukturiert erklärt. Die beiden Parteien sind anonymisiert: die eine in einem diffusen Sinn – die Osteuropäer, die nicht reagieren (deutend auf die Hinterlassenschaft der sozialistischen Bürokratie), und die Westeuropäer als Vertreter der Marktwirtschaft. Bisher werden zwei Kollektivkulturen aufgebaut: die des Westens und der Marktwirtschaft mit der Zugehörigkeit Deutschlands (Z. 247, 253, 267) und – implizit – die des Ostens mit der Zugehörigkeit der Ukraine. Nun kommt der Markt als ein dynamisches Reaktions- und Aktionsgefüge ins Spiel, der eine Form des unentwegten Handelns ist (Z. 269ff.). Demgegenüber erscheint die „Ausrede-Reaktion“ der Ukrainer als absolut inadäquat. In ihren Generalisierungen springt die Sprecherin von einer Metapher-Ebene auf die andere: Zuerst spricht sie vom Markt (Z. 269), dann von der „ganze[n] Welt“ (Z. 270) und wiederum von der „Wirtschaft“ (Z. 271). Die Tatsache, dass die Wirtschaft so klein und transparent geworden ist (Z. 271f.), bewirkt, dass die Passivität des Einzelnen früher oder später zum Untergang aller führt. Dabei wird impliziert, dass es der ganzen Welt gelingt, zu handeln und zu kommunizieren, nur der Ukraine nicht. Hier herrscht Chaos: Die zuständige Person ist entweder krank oder im Urlaub – also abwesend. Auf der einen Seite sind die Welt und der Markt, und auf der anderen Seite steht eigentlich ein Nichts, ein ‚Nicht-Sein’, was aus dem ersten Teilsatz ersichtlich ist: „wir sind noch nicht so weit“ (Z. 259). Zum „Sein“
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gehören der Markt und die westeuropäischen Prinzipien. Es geht also um Inklusion und Exklusion. Hier sehen wir zwei kontrastive Deutungsmuster: „die Welt vs. die Ukraine“ und „der Markt vs. der Ostblock“. Diese Struktur wird in Z. 275f. eingehalten. GrößtTex AG tritt als Vertreter Westeuropas auf, der „überall auf der Welt“ zu Hause ist, dort seine „Standpunkte“ und „Einkaufsbüros“ hat und die ganze Welt kennt. Dieses Beispiel wird in die Gesamtstruktur des Funktionierens und Nicht-Funktionierens eingebettet. Obwohl Evelyn, Managerin und Vertreterin des Konzerns dieser Art Telefonate mit Lieferanten auch selber führt, spricht sie in diesem Interviewabschnitt stets in dritter Person: In Z. 267 spricht sie vom „Westeuropäer“, in Z. 273 vom Konzern GrößtTex AG, in Z. 274 von Einkaufsbüros und in Z. 275 von „die“. Anstatt zu sagen „wir haben es nicht nötig“, sagt sie „die haben es nicht nötig“ (eine Art kommentierte Distanzierung oder implizite Kommentierung durch Distanz). Oben zitiert sie „wir“, zu denen sie nicht gehört (Metakommentar), und hier zitiert sie „die“, zu denen sie allerdings gehört. Das bisher Interpretierte kommt im nächsten Satz deutlich zum Vorschein: „die haben es nicht nötig, in einer (-) sage ich mal, Ukraine, lange zu warten“. Bisher wurde die Struktur der „Zugehörigkeit/ Nichtzugehörigkeit“ konstruiert, die zwei Subjekte als Grundmuster hat („wir und die Anderen“). An dieser Stelle wird diese Struktur zugespitzt, es gibt „uns“ und etwas, was sich unter dem eigenen Niveau befindet: „sage ich mal [hier macht sie eine kleine Pause] Ukraine“ (Z. 276), wobei „Ukraine“ prosodisch hervorgehoben wird. Für die Ukraine könnte irgendein Land am Ende der Welt stehen, das den Anschluss an die Welt verloren hat. In der letzten Sequenz dieses Interviewabschnitts konstruiert Evelyn eine neue Stereotypenklassifikation: Bisher kontrastierte sie den Westen gegen den Osten. Nun kommen die Schwellenländer wie Indien, Pakistan, Korea (die außereuropäischen Länder, in denen der Konzern auch Ware einkauft) zu der Konstruktion hinzu. D.h., obwohl die Ukraine zu Deutschland geographisch nah dran ist (europäischer Kontinent), ist sie gleichzeitig strukturell weit weg. Den Ukrainern wird das ‚Nicht-Verstehen’ dessen, was die Koreaner, Pakistaner und Inder verstehen, zugeschrieben: sich entsprechend den markwirtschaftlichen Regeln zu verhalten. D.h., die deutschen Unternehmer richten sich nicht an die lokalen Gepflogenheiten der Ukrainer, sondern erwarten, dass sich die einheimischen Geschäftspartner an die Strukturen der Kommunikation, des Handelns etc. anzupassen haben, die von außen (vom deutschen Konzern) gesetzt werden. Die marktwirtschaftlichen Deutungs- und Handlungsmuster, mit denen Evelyn in diesem Interview agiert, werden als Normierungen hervorgebracht, von denen die ukrainischen Deutung- und Handlungsmuster abweichen. Dabei konstruiert Evelyn nicht bloße Typisierungen, sondern arbeitet mit höher bewertet (Deutschland) bzw. abwertend (Ukraine) markierten Zuschreibungen.
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Als nächstes werden die Ergebnisse der Analyse auf der Ebene der Kommunikation um die der Analyse der objektiven Situation ergänzt.
2.2 Kontextualisierung der Interviewanalyse in die Ethnographie: Objektive Situation des deutsch-ukrainischen Geschäftsprozesses Auch wenn es sich aus dem Interviewausschnitt nicht ergibt (aber die ethnographische Forschung zeigt), teilen diese Deutungs- und Handlungsmuster der Marktwirtschaft sowohl die deutschen als auch die ukrainischen Unternehmer. Woran die erfolgreiche Zusammenarbeit dennoch scheitert, sind die situativen Bedingungen in der Ukraine. Diese situativen Bedingungen werden als solche von den beiden Seiten wahrgenommen, werden als wirklich definiert und sie haben auch entsprechende Handlungskonsequenzen. (Im Sinne des „ThomasTheorems“: „Wenn die Menschen eine Situation als wirklich definieren, dann ist sie ihren Auswirkungen nach wirklich“ (E. Goffman 1980: 9). Die Situationsdefinition gehört zu jeder menschlichen Handlung. Erving Goffman beschreibt dies folgendermaßen: Ich gehe davon aus, dass Menschen, die sich gerade in einer Situation befinden, vor der Frage stehen: Was geht hier eigentlich vor? Ob sie nun ausdrücklich gestellt wird, wenn Verwirrung und Zweifel herrschen, oder stillschweigend, wenn normale Gewißheit besteht - die Frage wird gestellt, und die Antwort ergibt sich daraus, wie die Menschen weiter in der Sache vorgehen. (E. Goffman 1980: 16)
Diese situativen Bedingungen (die objektive Situation) werden jedoch von den ukrainischen und den deutschen Akteuren jeweils anders gedeutet. Repräsentativ für den westlichen Kapitalismus (Konkurrenz, Markt- und Kundenorientierung) erwarten die deutschen Geschäftspartner von den Ukrainern selbstständig ausgearbeitete, fristgerechte, qualitativ hochwertige und möglichst preisgünstige Produktion. Als Kunden erwarten sie von ukrainischen Produzenten eine Dienstleistung, für die sie bezahlen. Im Kontext der Marktkonkurrenz, der Verhandlungen um niedrige Preise und hohe Qualität, im Kontext der Erfüllung bzw. Nichterfüllung der gegenseitigen Erwartungen sehen die deutschen Akteure die Gründe für die gängigen Probleme auf der ukrainischen Seite: geringe Transformationsfortschritte bei Betrieben, unterentwickeltes Management und Verschlossenheit, Mangel an Kalkulationsfähigkeiten, d.h. an selbständigem Arbeiten. Andererseits spielt hier die Spezifik des Versandgeschäfts und die Unternehmenspolitik eine Rolle (die vertraglich festgelegte Preisstabilität, die die Ukrainer nicht immer einhalten können), und nicht zuletzt die harte Konkurrenzsituation auf dem deutschen Absatzmarkt, die die deutschen Firmen in Rich-
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tung Osteuropa treibt. Dabei attribuieren sie die Ukrainer als die, die in Folge der sowjetischen Planwirtschaft „noch nicht so weit“ sind, d.h. als zurückgeblieben und unterentwickelt. Die Normerwartungen und die mit den Normabweichungen verbundenen stereotypisierten Deutungsmuster auf verschiedenen Ebenen (Ebene der Nationen, der Wirtschaftsbereiche, der Kontinente und der ganzen Welt) fungieren als Legitimation für das eigene Handeln und für die eigenen Erwartungen. Aus der Perspektive der ukrainischen Lieferanten (deren Standpunkte ich in diesem Beitrag aus Platzgründen nicht darstellen kann) werden diese Anforderungen als an sie gerichtete Normen wahrgenommen. Dabei nehmen sie eine rechtfertigende Position ein, womit sie die Zuschreibung zur „Nicht-Normalität“ auch mit und weiter konstruieren. Die objektive Situation – Auswirkungen der Planwirtschaft wie Mängel im Management, die bürokratischen Hürden, Probleme mit der Finanzierung usw. – ist den ukrainischen Akteuren durchaus bewusst. Gerade die Ethnographie ermöglichte es, das Material zusammenzustellen (z.B. Protokoll einer Verhandlung, Besuche von Betrieben etc.), in dem die ukrainische Position (die sich aus den Interviews nicht ergibt, da die Ukrainer keine Interviews gaben) zum Vorschein kommt. So zeigte die Forschung, dass es sich bei den Lieferanten des Konzerns zumeist um den Typus der „noch nicht transformierten“ Betriebe handelt. Es sind Betriebe, die sich im Um- bzw. Aufbau befinden, die noch nie für den Export gearbeitet haben, die über keine entwickelten Netzwerke (Investoren, Rohstofflieferanten etc.) verfügen und denen es an der neuesten Technik und Design mangelt. Auch die unvorteilhaften Besonderheiten der Textilindustrie in der Ukraine spielten dabei eine große Rolle: so sei die Fertigung von Wirkwaren besonders „Arbeitsintensi:v, energIEverbrauchend, materiAlverbrauchend“11, so dass es in der Ukraine unrentabel wird und der Unterstützung des Staates bedarf. Weil die Leichtindustrie – im Unterschied zur Metallindustrie – (zum Zeitpunkt der Forschung) zu 98% in privater Hand ist, habe der Staat kein Interesse an der Förderung dieses wirtschaftlichen Zweigs. All das, sowie die ungünstigen Konditionen, würden die Arbeit der Lieferanten für den Export und insbesondere für das Versandgeschäft des Konzerns GrößtTex AG unprofitabel machen. Angesichts dieser objektiven Situation (in diesem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext) werden die Deutschen aus ukrainischer Sicht als Unterdrücker, Erpresser und Ausbeuter wahrgenommen und stilisiert.
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Aus dem Interview mit einer ukrainischen Qualitätsmanagerin, die in einem Interview die Schwierigkeiten des Textilgeschäfts sehr involviert schilderte.
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Abschließende Bemerkungen: zur Funktion der Normalitätskonstruktionen in der interkulturellen Wirtschaftkommunikation
Zurück zum Begriff der ‚Normalitäten’ und deren Funktionen im interkulturellen Geschäftskontext: Am Beispiel eines Interviewausschnitts habe ich zu zeigen versucht, wie Konflikte ökonomischer Natur bzw. Interessenskonflikte kulturalisiert werden. Die deutschen Erwartungen und die ukrainischen Leistungen funktionieren (zumindest zum Zeitpunkt der Forschung) nicht oder nur mangelhaft, weil es in der Ukraine – wie generell in den Ländern des postsozialistischen Blocks – (noch) keine Marktwirtschaft gibt. In Abgrenzung zu herkömmlichen empirischen Studien zur Erforschung der interkulturellen Kommunikation, wie z.B. die von G. Hofstede (1997), welche die Problematik der interkulturellen Kommunikation auf die Nennung von einzelnen, meist nationalkulturellen Faktoren zu bringen versuchen, sollte an diesem Beispiel gezeigt werden, dass hier nationalkulturelle Dispositionen (etwas spezifisch ukrainisches) für Probleme verantwortlich gemacht werden, die außerhalb der Nationalkultur liegen und eher organisationsstruktureller oder supranationaler Natur sind. Mithilfe der Konstruktion von ‚Normalitäten’ auf der Ebene der Nationalkultur in den Kommunikations- und Arbeitsabläufen des Unternehmens, versuchen deutsche Akteure Erklärungen für Konflikte und Missstände zu generieren. Dabei dienen Normierungen als Legitimation für die eigenen Deutungs- und Handlungsmuster, die aufgewertet und legitimiert werden, während die des Gegenübers herabgesetzt werden. Da diese Normalisierungsentwürfe eine ungeeignete Basis für die Geschäftsverhandlungen, ein ungeeignetes Instrument bei der Konflikterklärung (und erst recht bei der Konfliktbewältigung) darstellen, ist diese Strategie zum Scheitern verurteilt.
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Transkriptionskonventionen12
(-) (--) (1.0) (?blablabla?) (? ?) ..[.... ..[.... (/H) (\H) : ? 12
kurze Pause längere Pause (weniger als eine halbe Sekunde) Pausen in Sekunden unsicheres Textverständnis unverständliche Stelle der Text in den untereinander stehenden Klammern überlappt sich hörbares Einatmen hörbares Ausatmen Lautlängung, z.B. „leu:te“ steigende Intonation
Verwendet wurde ein Teil der GAT-Transkriptionskonventionen nach Selting et al. 1998: 96.
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kontinuierlich bis leicht steigende Intonation fallende Intonation leiser gesprochen als Umgebung Emphaseintonation (lauter und höher) lauter gesprochen als Umgebung, auch zur Kennzeichnung besonderer Akzente
Literatur Berger, Peter/ Luckmann, Thomas (2000 [1966/1972]): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer. Bolten, Jürgen (1999): Interkulturelles Verhandlungstraining. Sternenfels: Verlag Wissenschaft und Praxis. Cašmir, Fred L. (1998): Interkulturelle Kommunikation als Prozess. In: Jonach (1998): 15-26. Goffman, Erving (1980): Rahmenanalyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrung. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Herrmann, Theo/ Tack, Werner H. (Hrsg.) (1994): Enzyklopädie der Psychologie. Methodologische Grundlagen der Psychologie. Forschungsmethoden der Psychologie I. Göttingen/ Bern/ Toronto/ Seattle: Hogrefe. Hitzler, Ronald/ Honer, Anne (1997): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske & Budrich. Hofstede, Geert (1997): Lokales Denken, globales Handeln. Kulturen, Zusammenarbeit und Management. München: dtv. Jäger, Friedrich/ Straub, Jürgen (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Paradigmen und Disziplinen. Bd. 2. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Jonach, Ingrid (Hrsg.) (1998): Interkulturelle Kommunikation. München/ Basel: Ernst Reinhardt Verlag. Jung, Thomas/ Müller-Dohm, Stefan (Hrsg.) (1993): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Koch, Gertraud (2009): Intercultural communication and competence research through the lens of an anthropology of knowledge [45 paragraphs]. In: Forum Qualitative Sozialforschung/ Forum: Qualitative Social Research 10 (1). Art. 15. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114fqs0901153. Kotthoff, Helga (Hrsg.) (2002): Kultur(en) im Gespräch. Tübingen: Narr. Leontij, Galina (2003): Gender als Faktor in der interkulturellen Wirtschaftskommunikation am Beispiel deutsch-ukrainischen Joint-Ventures in Kiew. In: Pechriggl et al. (2003): 241-311. Leontij, Galina (2005): Gender im (inter)kulturellen beruflichen Handlungsraum. Wechselseitige Wahrnehmungen und kommunikative Konstruktion des sozialen Geschlechts im deutschukrainischen Arbeitskontext. Eine Interviewanalyse. In: Vurgun (2005): 93-137. Leontiy, Halyna (2009): Deutsch-ukrainische Wirtschaftskommunikation. Ethnographischgesprächsanalytische Fallstudien. Wiesbaden: VS. Link, Jürgen/ Loer, Thomas/ Neuendorff, Hartmut (2003): Zur Einleitung: ‚Normalität’ im Diskursnetz soziologischer Begriffe. In: Link et al. (2003): 7-20. Link, Jürgen/ Loer, Thomas/ Neuendorff, Hartmut (Hrsg.) (2003): ‚Normalität’ im Diskursnetz soziologischer Begriffe. Heidelberg: Synchron.
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Normen und Abweichungen in der Zweisprachigkeit – eine neurolinguistische Analyse Sandra Tinner
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Mehrsprachigkeit ist die Norm – Einsprachigkeit die Abweichung
Zurzeit geht man davon aus, dass 6,9 Milliarden Menschen auf der Welt etwa 7000 verschiedene Sprachen sprechen. Allerdings erheben nur wenige Länder Daten über ihre Bevölkerung und somit gibt es nur Schätzungen, wie viele Menschen weltweit tatsächlich mehrsprachig sind. Man geht von etwa 50% bis zu zwei Dritteln der Weltbevölkerung aus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass nur ein Viertel aller UNO-Staaten zwei oder mehr Sprachen als offizielle Landessprachen anerkennen. In diesem Artikel sollen Normen und Abweichungen in der Zweisprachigkeit hinterfragt und deren aktueller Stand dargestellt werden. Grundlage dazu bietet meine Studie, die ich mit früh- und spät-zweisprachigen (französischdeutsch) Probandinnen und Probanden in der Schweiz durchgeführt habe. Im ersten Teil dieses Beitrages erläutere ich die modernen Definitionen von Zwei- und Mehrsprachigkeit. Nach einem kurzen Überblick über die Mehrsprachigkeitssituation in der Schweiz1 werde ich mit meiner Studie einen kleinen Aspekt der Mehrsprachigkeit vertieft analysieren. Die Kernfrage wird sein: Gibt es eine Abweichung zur weit verbreiteten Norm, späte Zweisprachigkeit sei gar nicht möglich?
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Definition von Mehrsprachigkeit: aufgeweichte Normen
In der Mehrsprachigkeitsforschung gibt es engere und weitere Definitionsrahmen. Der engste reduziert die Fähigkeit, mehrere Sprachen zu beherrschen, auf Personen, die ausschließlich von Geburt an mit zwei Sprachen gleich intensiv in Kontakt waren. Der weiteste Definitionsrahmen hingegen spricht schon von Mehrsprachigkeit, wenn Personen fähig sind, in zwei oder mehreren Sprache zu kommunizieren, ohne das Niveau der Kommunikation allerdings näher zu defi1
In diesem Artikel werden die Begriffe Westschweiz, Romandie und französischsprachige Schweiz als Synonyme verwendet.
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nieren. Der heutzutage am häufigsten gebräuchliche Rahmen beschreibt Mehrsprachigkeit als regelmäßigen Gebrauch von zwei oder mehreren Sprachen im Alltag (F. Grosjean 2008: 9-21). Dies bedeutet also nicht, dass jemand diese Sprachen exakt gleich gut beherrschen muss, wie Laien meistens denken. Heutige Sprachtheoretiker sprechen denn meistens auch von einem Kontinuum oder Spektrum des Bilingualismus, das bei komplett monolingual anfängt und bis zu zweisprachig auf sehr hohem Niveau reicht (S. Garland 2007).
Fig. 1: The bilingual spectrum nach Garland (2007)
Dieses Modell hat den Vorteil, dass die scharfen Grenzen wegfallen, die bei genaueren Analysen der Biographien von zwei- und mehrsprachigen Menschen keinen Sinn machen. Oder um mit Grosjean die Situation von Zweisprachigen zu beschreiben: „Bilinguals usually acquire and use their languages for different purposes, in different domains of life, with different people. Different aspects of life normally require different languages.“ (F. Grosjean 2002) Das im Verlaufe dieses Artikels beschriebene Experiment mit Zweisprachigen wird zeigen, dass Früh- und Spät-Zweisprachige auf diesem Kontinuum sehr nahe beieinander zu liegen kommen.
Normen und Abweichungen in der Zweisprachigkeit
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Mehrsprachigkeit und ihr Ruf: die Wandlung der Normen
Heute sind sich fast alle Menschen ausnahmslos einig, dass es ein Gewinn ist, mehrere Sprachen zu beherrschen. Auch herrscht Einigkeit darüber, dass es schon bald keine Berufe mehr geben wird, die ohne Fremdsprachenkenntnisse auskommen. Doch diese Einigkeit ist nicht sehr alt. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde empfohlen, dass Kinder nur mit einer Sprache aufwachsen sollten, da sie sonst keine der beiden Sprachen richtig lernen würden. Ja, es wurde sogar behauptet, dass bilinguale Menschen eine gespaltene Persönlichkeit entwickeln würden. Es gibt da eine aus heutiger Sicht amüsante Aussage eines Pfarrers namens Blocher von 19102: (...) aber oft genug geht es dabei ohne Schädigung der sittlichen Persönlichkeit nicht ab, eine gewisse Schauspielerei, ein nicht ganz unbedenkliches Doppeldasein kann entstehen, ganz abgesehen davon, dass internationale Gesinnungslosigkeit und kosmopolitische Phrasenmacherei hier einen natürlichen Nährboden finden. (zitiert nach: C. Brohy 1992)
Es gibt auch Fälle aus viel jüngerer Zeit, die mir von etwa 30jährigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Studie rapportiert wurden: Wenn deren Eltern zwei verschiedene Muttersprachen hatten, empfahlen damalige Kinderärzte, nur eine Sprache in der Familie zu sprechen. So musste dann jeweils ein Elternteil sich in einer ihm mehr oder weniger geläufigen Fremdsprache bemühen. Jüngere Forschungsresultate haben aber längst gezeigt, dass Eltern immer in ihrer jeweiligen Muttersprache zum Kind sprechen sollen. Dass somit früher viele Kinder um die einmalige Chance einer frühen Zweisprachigkeit gebracht worden sind, liegt auf der Hand. Diese ablehnende Haltung gegenüber der Zweisprachigkeit hat bewirkt, dass viele zweisprachige Personen sich selber gar nicht als solche betrachten und eine ihrer beiden Sprachen sogar als minderwertig deklassieren. Heute weiß man auch hier, dass das Gegenteil richtig ist: Verschiedene Studien belegen nämlich, dass zweisprachige Kleinkinder oft sogar eine bessere Leistung in beiden Sprachen erreichen als monolinguale Kinder. Auch das Experiment, mit dem ich in meiner Studie die Versuchspersonen gestestet habe, bestätigt diese Erkenntnis.
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Recherchen ergaben, dass es sich hier um den Großvater des ehemaligen rechtskonservativen Schweizer Politikers handelt.
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Mehrsprachigkeitssituation in der Schweiz
Im Ausland wird die Schweiz oft als Paradebeispiel der Mehrsprachigkeit dargestellt. Tatsächlich sind offiziell vier Sprachen als Amtssprachen in der Verfassung festgehalten. Die Sprecher und Sprecherinnen dieser vier Landessprachen teilen sich folgendermaßen auf die Gesamtbevölkerung auf:
Fig. 2: Prozentualer Anteil der in der Schweiz gesprochenen Sprachen gemäß den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik (G. Lüdi/ I. Werlen 2000: 7)
Da die Zahlen auf den Erhebungen der alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung beruhen, sind sie leider nicht mehr ganz aktuell. Verschiebungen dürften sich dahingehend ergeben haben, dass Rätoromanisch sich weiter im Rückzug befindet, hingegen die Anzahl Sprecher und Sprecherinnen von Nichtlandessprachen zunehmen wird. Häufig wird die gesetzliche Verankerung von mehreren Amtssprachen verwechselt mit den Sprachkenntnissen der Bewohnerinnen und Bewohner des entsprechenden Landes. Darum muss hier festgehalten werden, dass nur der Bund als Institution viersprachig ist. Die meisten in der Schweiz wohnhaften Personen haben nur eine Muttersprache und lernen im Idealfall im Verlaufe ihres Lebens eine oder zwei andere Landessprachen mehr oder weniger gut dazu. Mit
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der Einwanderung nimmt aber der Anteil an Menschen mit mehr als einer Muttersprache laufend zu. Im Gegensatz zu der auf Bundesebene verankerten Viersprachigkeit haben die Kantone und Gemeinden der Schweiz freie Hand zu bestimmen, welche Sprachen als Amtssprachen gelten sollen. Wer also aus einem anderssprachigen Landesteil zuzieht, hat kein Recht darauf, in seiner angestammten Sprache mit den neuen Kantons- und Gemeindebehörden zu verkehren. So ist zum Beispiel Zürich die drittgrößte französischsprachige Stadt der Schweiz3, hingegen ist es nicht möglich, die Formulare der Steuererklärung auf Französisch zu bekommen, weil Zürich sich die Norm als deutschsprachige Stadt (und Kanton) gegeben hat. Allerdings hat die als Norm definierte Mehrsprachigkeit des Landes tatsächlich einen wertvollen Nebeneffekt: In der Schweiz verkaufte Produkte waren schon lange vor der Globalisierung in drei Sprachen beschriftet und so konnten auch monolingual aufwachsende Kinder am Frühstückstisch lernen, was zum Beispiel Orangensaft auf Französisch oder Butter auf Italienisch heißt. Es scheint aber auch, dass hier eine Norm aufgeweicht wird, bzw. eine Tradition zu bröckeln beginnt: Waschmittel mit unschädlichen Komponenten dürfen neuerdings auch nur einsprachig etikettiert werden, also auch in einer Sprache, die im betreffenden Landesteil nicht als offizielle Sprache gilt. Le Conseil fédéral autorise l'étiquetage de lessives en une langue. Dès le 1er mars, une seule langue officielle suffira pour l'étiquetage de lessives et produits de nettoyage considérés comme inoffensifs. Le Conseil fédéral a approuvé deux mesures visant à faciliter les importations de produits européens. (Agence Télégraphique Suisse (= Schweizerische Depeschenagentur SDA), 13.2.2008, 13.20 Uhr )
4.1 Andere Sprache = andere Mentalität – eine Norm? Dass mit verschiedenen Sprachen auch verschiedene Mentalitäten einhergehen, ist unbestritten und prägt den Alltag mehrsprachiger Familien oder Staaten ganz besonders. Bei nationalen Abstimmungen spricht man ja in der Schweiz häufig vom „Röschtigraben“. Es ist tatsächlich verblüffend zu sehen, wie sehr gewisse Themen, d.h. gewisse Weltanschauungen exakt mit der jeweiligen Muttersprache korrelieren. Ganz gut in Erinnerung ist dazu immer noch die Abstimmung für oder gegen einen Beitritt zum EWR vom 6.12.1992, als die französische Schweiz geschlossen „Ja“ stimmte und die Deutschschweiz „Nein“ (mit Ausnahme der großen städtischen Zentren wie Zürich und Basel). Überraschend 3
Angaben gemäß Schätzung der französischsprachigen Kulturplattform „AuxArtsEtc“ für Zürich und Umgebung.
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noch deutlicher war dieses Phänomen aber sieben Jahre später zu sehen, als die Schweiz am 13.6.1999 den dritten (vergeblichen) Versuch unternahm, eine Mutterschaftsversicherung einzuführen4. Im zweisprachigen Kanton Fribourg verlief die Ja-Nein-Grenze exakt entlang der Sprachgrenzen. Seit einiger Zeit spricht man in den politischen Analysen zwar eher von einem Stadt-Land-Graben, wie es ihn in vielen Ländern gibt, wobei die lateinische Schweiz (inklusive Landregionen) immer noch eher progressiv wie die großen Städte abstimmt, ganz im Gegensatz zu den ländlichen Regionen in der Deutschschweiz. Wie sprechen nun aber zum Beispiel deutschsprachige und französischsprachige Schweizer und Schweizerinnen miteinander? Meistens werden die Sprachkenntnisse der jeweilig anderen Landessprache als mittelmäßig oder sogar ungenügend eingestuft. Eine große Rolle spielen hierbei natürlich auch ‚Lust und Wille’, die andere Sprache zu lernen und zu sprechen. Grob kann man sagen, dass diese Lust in der deutschen Schweiz ein bisschen stärker vorhanden ist als bei den Romands. Doch auf beiden Seiten ist die Tendenz zurzeit eher abnehmend. Beschleunigt wird diese Tendenz außerdem einerseits vom Glauben vieler, man komme mit mehr oder weniger guten Englischkenntnissen überall auf der Welt durch, also auch im eigenen Land. Dies zeigt sich auch daran, dass die Tradition, nach der Schule ein „Welschlandjahr“ zu machen, völlig eingebrochen ist: Ein USA-Jahr ist heute beliebter bei jungen Leuten. Andererseits wird dieser Trend vielerorts von der Politik unterstützt: Einige deutschsprachige Kantone, allerdings ausschließlich diejenigen, die nicht Nachbarn von französischsprachigen Kantonen sind, haben unterdessen Englisch als erste Fremdsprache im Primarschul-Unterricht an Stelle einer zweiten Landessprache eingeführt. Die Diskussionen darüber wurden und werden immer noch intensiv geführt und bieten immer auch wieder politischen und emotionalen Zündstoff. Vom linguistischen und lernpsychologischen Standpunkt aus gesehen spielt es allerdings durchaus auch eine Rolle, welche Fremdsprache man zuerst lernt: Die Fremdsprachendidaktik-Forscherin Christine Le Pape Racine empfiehlt dringend, zuerst eine Sprache aus einer anderen Sprachfamilie zu lernen, für Deutschsprachige wäre das also eine romanische Sprache (C. Le Pape Racine: 2007). Unterdessen zeigt sich auch schon, dass ‚English only’ keinen Mehrwert mehr darstellt, sondern zu den Basics gehört wie Informatikkenntnisse. Gefragt sind Leute mit Englischkenntnissen plus Kenntnisse mindestens einer zweiten Landessprache.
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Der vierte Versuch glückte schließlich in der Abstimmung vom 26.9.2004.
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4.2 Sprachpolitik: Festlegung von Normen ist nicht einfach. Im Februar 2009 hat die Veröffentlichung des Schlussberichtes des Forschungsschwerpunkts Sprache, Recht und Politik (A. Achermann/ J. Künzli 2009) im Rahmen des nationalen Forschungsprogramms NFP 56 „Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz“5 für neuen Gesprächsstoff gesorgt. Die Autoren zeigen auf, dass die Schweiz wie viele andere europäische Länder mit der zunehmenden Sprachenvielfalt, die über die Landessprachen hinausgeht, vor besonderen Herausforderungen steht. Der Sprachenfrage wird in der Schweiz seit eh und je eine hohe Bedeutung zugemessen. Allerdings stellen die Autoren fest: Das schweizerische Sprachenrecht, wie es in der Bundesverfassung angelegt ist und auf dem Territorialitätsprinzip basiert, wird der neuen Realität kaum mehr gerecht; mühsam errungene Kompromisse im Umgang der verschiedenen Landessprachen scheinen eine Öffnung der Diskussion besonders zu erschweren. Gleichzeitig ist auf kommunaler, kantonaler und Bundesebene eine Entwicklung hin zu einer unkoordinierten Reglementierung zu beobachten, die teils zu widersprüchlichen Politiken führt. (A. Achermann/ J. Künzli 2009)
Damit gemeint ist das Aufzwingen von Sprachkursen, wie es einzelne Gemeinden oder Kantone im Zusammenhang mit Immigrantinnen und Immigranten zu praktizieren pflegen, was mit den Grundrechten im Widerspruch stehen kann. Andererseits können EU-Staatsangehörige nicht zur Integration verpflichtet werden, was wiederum zu Rechtsungleichheit mit Immigrantinnen und Immigranten führt. Ein Vorschlag der Studie ist, vermehrt auf positive Anreize zu setzen: Eine Niederlassungsbewilligung könnte jemand früher erhalten, wenn er oder sie eine Amtssprache beherrscht. Ein allgemeines Recht auf Übersetzung besteht allerdings nicht, wie die Autoren betonen, aber entsprechende staatliche Leistungen zur konkreten Verwirklichung von Grundrechten sind nötig, speziell in diesem Zusammenhang genannt werden das Gesundheitswesen oder der Umweltschutz. Die Rechtsnormen im Sprachenbereich werden also in nächster Zeit einige Änderungen erfahren. Die Emotionen hoch gehen lassen hat aber schließlich eine „Randbemerkung“ der Studie: sie schlägt vor, Englisch als so genannte „Teil-Amtssprache“ in Ergänzung zu den vier anderen Amtssprachen vermehrt zu fördern. Amtssprache darf in diesem Zusammenhang unter keinen Umständen mit Landessprache verwechselt werden. Die Autoren schlagen vor, dass die Behörden mehr noch auf Kommunikation auch auf Englisch setzen sollten. Gemeinden mit hohem
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Ausführliche Informationen zum ganzen Projekt unter: http://www.nfp56.ch/.
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englischsprachigem oder internationalem Bevölkerungsanteil praktizieren dies bereits (z.B. auf ihren Webseiten). Stimmen aus dem gesamten Spektrum der Politik und auch aus der Bevölkerung halten dem entgegen, dass dies die Einheit das Landes gefährden könnte, obwohl die Realität wie oben erwähnt bereits eine andere ist. Besonders vehement waren die Reaktionen aus der Romandie, was nachvollziehbar ist: Nur die großen Debatten im Parlamentssaal in Bern werden simultan übersetzt. In den Kommissionen, wo die politische Hauptarbeit stattfindet, spricht jede Parlamentarierin und jeder Parlamentarier in ihrer oder seiner Sprache. Diejenigen aus der Romandie und aus dem Tessin müssen also wegen ihrer Untervertretung immer besondere Anstrengungen unternehmen, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Wenn diejenigen aus der Deutschschweiz dagegen hie und da zusätzlich noch von der Hochsprache in den Dialekt zurückfallen, sind Welsche und Tessiner vollends von der Diskussion ausgeschlossen (S. Tinner 2007: 17). Um diese Diskussion zu beschließen, sei schließlich noch ein Beispiel angefügt, das zeigt, wie ungenügende Sprachkenntnisse tragische Folgen haben können: Als im Juni 2003 wegen des in Evian (F) stattfindenden G8-Gipfels auch in der Schweiz viele Demonstrationen stattfanden, holte die Polizei des betroffenen Kantons Waadt zur Verstärkung auch Kollegen aus dem Rest der Schweiz. Als es darum ging zu entscheiden, ob das Seil eines Demonstranten, an dem er sich über einer Autobahn hängend befestigt hatte, durchzuschneiden sei oder nicht, passierte zwischen dem französisch- und dem deutschsprachigen Polizisten ein sprachliches Missverständnis, das dazu führte, dass der Demonstrant auf die darunter liegende Autobahn prallte und seither querschnittsgelähmt ist. 5
Die neurolinguistische Studie mit Zweisprachigen6
5.1 Experiment Bei meinen Untersuchungen mit bilingualen7 Personen orientiere ich mich am Modell des „Kontinuums“ der Zweisprachigkeit. Dennoch muss man hier zwischen früher und später Zweisprachigkeit unterscheiden. Wer früh, d.h. von Geburt an zwei Sprachen gleichzeitig als Erstsprache lernt, hat den Vorteil, die Aussprache akzentfrei zu lernen. Nachteilig hingegen ist, dass es für beide Sprachen, wie beim Erlernen der Muttersprache (L1) üblich, lange dauert, bis sie auf 6 7
Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Neuropsychologie (Prof. L. Jäncke) an der Universität Zürich durchgeführt. Die Begriffe bilingual und zweisprachig werden als Synonyme verwendet, ebenso monolingual und einsprachig.
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hohem Niveau beherrscht wird. Lernen Personen jedoch erst im Jugend- oder Erwachsenenalter eine Zweitsprache (L2), haben sie den Vorteil, Grammatik und Vokabular in viel schnellerem Tempo lernen zu können als ein Kleinkind, hingegen ist das Erlernen einer akzentfreien Aussprache sehr schwierig, manchmal fast unmöglich. Die meisten wissenschaftlichen Studien setzen das so genannte ‚kritische Alter’ aufgrund ihrer Resultate bei etwa 8-9 Jahren fest (D. Perani 1998 und I. Kovelman 2008). Das heißt, dass vor diesem Alter ein natürliches Erlernen einer Zweitsprache meist möglich ist, danach aber eher selten wird. Unter gewissen Umständen ist es jedoch auch für Spätlernende möglich, in der Zweitsprache gleich gute Fähigkeiten zu entwickeln wie Frühlernende. Meine Studie hat zum Ziel, diese Hypothese zu verifizieren, indem Frühlernende mit Spätlernenden und deren Sprachlern-Umstände analysiert und verglichen werden. Zu diesem Zweck musste ein Experiment-Design gefunden werden, das es erlaubt, Französisch und Deutsch zu vergleichen. Der Fokus der Studie lag auf der Verarbeitung der Syntax, da im Bereich der Semantik-Verarbeitung bei Bilingualen schon viele Studien gemacht worden sind. Als einfach eingrenzbarer Bereich der Syntax in beiden Sprachen bot sich die Konstruktion von Nominalkomposita an, da lateinische und germanische Sprachen genau gegensätzliche Muster aufweisen: auf Deutsch wird das beschreibende Element eines Kompositums vor den Objektnamen gestellt (z.B. Zahnbürste), auf Französisch hingegen wird das beschreibende Element nach dem Objekt angefügt (z.B. brosse à dents). Man spricht daher auch von ‚left-branching-Sprachen’ (Deutsch, Englisch etc.) oder ‚right-branching-Sprachen’ (Französisch, Italienisch etc.). Der für die Untersuchung der früh- und spät-zweisprachigen Probandinnen und Probanden entwickelte Test besteht aus drei Teilen: Zuerst wurden während eines Interviews die sprachbiographisch relevanten Daten erhoben, wie Muttersprache, Alter beim Kontakt mit der Zweitsprache, Umstände dieses Kontakts, Sprachunterrichtsmethoden, Möglichkeiten der Immersion8, Aufenthaltsdauer im Gebiet der Zweitsprache (in der Vergangenheit und aktuell) und Intensität der Nutzung der Zweitsprache. Im zweiten Teil mussten die Probandinnen und Probanden einen Sprachtest in „paper-pencil“-Form lösen. Sie wurden nur zur Fortsetzung der Untersuchung zugelassen, wenn sie nach GERS ein C29 erreichten, und wurden danach in eine der drei folgenden Gruppen eingeteilt: x Personen deutscher Muttersprache, die Französisch erst spät als L2 erlernt und dennoch hohe Kompetenzen darin erworben haben. 8 9
Unter Immersion (lat.: eintauchen) versteht man Fachunterricht in einer zweiten Sprache, z.B. wenn an einer deutschsprachigen Schule Mathematik auf Französisch unterrichtet wird. Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen GERS; 6 Stufen: A1-C2.
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x Personen mit französischer Muttersprache, die Deutsch erst spät als L2 erlernt und dennoch hohe Kompetenzen darin erworben haben. x Personen, die symmetrisch mit Französisch und Deutsch aufgewachsen sind. Im dritten Teil schließlich lösten die Probandinnen und Probanden einen Reaktionstest am Bildschirm. Zeitlich dicht aufeinander folgend bekamen sie Bilder von unbekannten oder ungewohnten Objekten10 präsentiert. Dazu erhielten sie nach 2 Sekunden vier Vorschläge, wie man das Objekt benennen könnte. Per Klick auf eine Spezialtastatur entschieden sie sich während maximal 10 Sekunden für eine der vier vorgeschlagenen Lösungen. Es wurden 240 Bilder präsentiert, randomisiert auf Deutsch und auf Französisch. Die Lösungsvorschläge waren so konzipiert, dass sich darunter nebst der korrekten Lösung auch ein falsch zusammengesetztes Kompositum, ein phonetisch ähnlich klingendes Kompositum und ein Kompositum aus einem völlig anderen semantischen Feld befanden.
Fig. 3: Diese Graphik zeigt zwei unbekannte Gegenstände, die den Versuchspersonen zusammen mit den vier möglichen Lösungen präsentiert wurden.
Dieser mit Matlab programmierte Reaktionstest zeichnete sowohl die Fehlerquoten als auch die Reaktionszeiten von jeder Person bei jedem zu benennenden Objekt auf.
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Diese Bilder wurden freundlicherweise von den Autoren der Studie von K. Cornelissen et al. (2003) zur Verfügung gestellt.
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5.2 Resultate und Interpretationen Bisher wurden 78 Probandinnen und Probanden mit diesem Test untersucht. Sie waren zum Zeitpunkt der Studie zwischen 19 und 45 Jahre alt und verfügten alle über eine höhere Ausbildung. Die vorläufige Auswertung zeigt folgende interessante Resultate: Obwohl der Reaktionstest allgemein als schwierig empfunden wurde, waren 75% der Lösungen korrekt. Über alle drei Gruppen hinweg betrug der durchschnittliche Reaktionszeitunterschied zwischen den beiden Sprachen nur 0,5 Sekunden. Aufgeschlüsselt auf die drei Gruppen sieht man aber, dass sich Unterschiede ergeben: Französischsprachige machten häufiger den Fehler, falsch herum zusammengesetzte Komposita für richtig zu halten als Deutschsprachige in ihrer jeweils spät gelernten Zweitsprache. Der häufigste Fehler bei Deutschsprachigen hingegen war die Verwechslung mit einem ähnlich klingenden Kompositum. Es bleibt noch zu analysieren, ob dieser Unterschied auf die unterschiedliche Schreibweise der Komposita auf Französisch (einzelne Wörter) und auf Deutsch (ein mehrsilbiges, längeres Wort) zurückzuführen ist, was im Deutschen mehr Lesekompetenzen erfordern könnte.11 Außerdem hat sich gezeigt, dass der Reaktionszeitunterschied zwischen Früh- und Spät-Zweisprachigen mit 0,19 Sekunden sehr gering ist (Früh-Zweisprachige: ø 5,23s, Spät-Zweisprachige: ø 5,42s). Im Vergleich mit den Resultaten aus der Sprachbiographie haben sich auch interessante Erkenntnisse ergeben: Einzelne Personen mit einem späten Lernstart in ihrer zweiten Sprache konnten mit ihren Resultaten aus dem Reaktionstest Frühbilingualen durchaus das Wasser reichen, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihre Sprachlernkarriere mit viel Immersion angereichert haben. Ebenso eine wichtige Rolle spielt die Unterrichtsmethode: ein einseitig nur auf Vokabeln pauken und Sätze auswendig lernen ausgerichteter Unterricht führt später seltener zum Erfolg, als wenn er mit viel Sprachpraxis ergänzt wird. Sehr bemerkenswert ist auch, dass Früh-Zweisprachige häufig sogar in beiden Sprachen bessere Leistungen zeigten als Spät-Zweisprachige in deren jeweiligen Muttersprache. Das bestätigt die These, wonach das Aufwachsen mit zwei Sprachen keineswegs ein Hindernis für die Sprachfähigkeit ist und dass Aussagen wie „Zweisprachige können keine Sprache richtig“ definitiv der Vergangenheit angehören. Es kann also schlussgefolgert werden, dass auch Erwachsene eine Chance haben, ähnlich oder gleich gute Sprachkompetenzen in einer zweiten oder dritten Sprache zu erwerben wie Personen, die das Glück haben, zweisprachig aufwachsen zu dürfen. Nur ist der Weg zum Ziel härter und muss im Idealfall gut geplant 11
Dieser Effekt soll in einer weiteren Untersuchung mit ‚Eye Tracking’ (= Blickbewegungsregistrierung) analysiert werden.
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werden: Unterrichtsmethoden sorgfältig auswählen und eine längere Immersion einplanen (je später der Zweitspracherwerb umso länger), bestenfalls sogar für mehrere Jahre den Lebensstandort ins entsprechende Sprachgebiet verlegen.
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Schlussfolgerungen
Kinder sollten schon sehr früh für andere Sprachen sensibilisiert werden. Gerade in mehrsprachigen Ländern müsste dies die Regel sein. Speziell die Schweiz könnte hier eine Vorreiterrolle übernehmen: Die verschiedenen Sprachgebiete liegen nur wenige Dutzend Kilometer voneinander entfernt. Außerdem sind die Schweizer Bemühungen sicher ein interessantes Labor für die EU, die sich eine vielfältige Mehrsprachigkeit zum Ziel gesetzt hat.
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„Es ist notwendig und wir werden es machen. Basta!“ – Legitimationsstrategien in sozialpolitischen Reformdebatten Sonja Wrobel
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Einführung
Das im Titel genannte Zitat des damaligen deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder stammt aus einer Rede, die dieser im Herbst 2000 vor einem Kongress der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) gehalten hat.1 Diese Rede sollte die anwesenden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter von der Notwendigkeit des Altersvermögensgesetzes überzeugen, das später unter dem Namen „Riesterrente“ bekannt wurde. Die Gewerkschaften standen der Einführung der Riesterrente skeptisch gegenüber; diese Skepsis in Bezug auf das Gesetzesvorhaben der rot-grünen Regierung war bereits im Vorfeld der Rede Schröders deutlich geworden und fand auch während des Vortrags Ausdruck in Protestrufen der Zuhörerschaft. Um seiner Entschlossenheit, das geplante Vorhaben umzusetzen, Nachdruck zu verleihen, schloss Schröder seine Rede mit dem berühmt gewordenen „Basta!“. Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, welche kommunikativen Strategien politische Akteure verfolgen, um ihre Reformvorhaben gegenüber der Öffentlichkeit zu legitimieren. Der Fokus der Analyse liegt dabei auf sprachlichargumentativen Aspekten, bezieht sich also auf einen Teilbereich der denkbaren Varianz an Legitimationsstrategien.2 Motiviert ist diese Fragestellung durch die Überlegung, was einen „guten“ Legitimationsversuch aus der Sicht eines politischen Akteurs ausmacht. Gut bedeutet in diesem Kontext, dass der Versuch geeignet ist, das vorrangige Ziel – die Erzeugung öffentlicher Zustimmung zu einem politischen Vorhaben – zu erreichen. Es wird argumentiert, dass eine essentielle Strategie zur Legitimation von Sozialreformen darin besteht, diese Reform als normativ „richtig“ darzustellen. Die folgende Untersuchung bezieht sich auf die argumentative Technik, mit der die normative Richtigkeit von Politik vermittelt werden soll. Die inhaltliche Angemessenheit, so ein weiteres Ar-
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„Worte des Jahres“, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.12.2000. Legitimationsstrategien gegenüber der Öffentlichkeit können sowohl argumentative als auch handlungsbezogene Aspekte beinhalten (Wrobel 2009: 38ff.).
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gument dieses Artikels, spielt aus Sicht politischer Akteure im Vergleich zur normativen „Richtigkeit“ eine untergeordnete Rolle. Die hier ausgeführten Überlegungen basieren auf einer empirischen Untersuchung sozialpolitischer Reformdebatten in Deutschland und Frankreich (Wrobel 2009). Sozialpolitik ist ein interessanter Gegenstand für die Untersuchung von Legitimationsstrategien, weil Reformen des Sozialsystems von der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Dies resultiert auch aus dem Umstand, dass Sozialpolitik eng mit Umverteilungsfragen verknüpft ist und weite Teile der Bevölkerung Sozialleistungen empfangen. Politische Akteure sehen sich dementsprechend genötigt, die Notwendigkeit von Sozialreformen überzeugend zu begründen. Im Anschluss an diese Einführung wird zunächst beschrieben, welche Typen von Argumenten eingesetzt werden, um die Öffentlichkeit von der Richtigkeit einer politischen Maßnahme zu überzeugen. Diese Typen lassen sich auf einer Skala einordnen, die von Argumenten mit „niedrigem Normativitätsgrad“ bis zu solchen mit „hohem Normativitätsgrad“ reichen. In den Abschnitten 3 und 4 wird diese Typologie am Beispiel der Analyse von Parlamentsdebatten zum Thema Rentenreform einem Praxistest unterzogen. Der Aufsatz schließt mit einem Fazit, das die Argumentation knapp resümiert und die oben aufgeworfene Frage nach einer aus Sicht politischer Akteure „guten“ Legitimationsstrategie wieder aufgreift.
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Welche Argumentationstypen werden zu Legitimationszwecken eingesetzt?
2.1 Normativitätsgrade Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Frage, welche argumentativen Techniken eingesetzt werden, um eine Idee oder Maßnahme als normativ richtig darzustellen. Normverweise sind ein beliebtes Element politischer Rhetorik; kaum eine Rede, die ohne Verweis z.B. auf Freiheit, Eigenverantwortlichkeit, Gerechtigkeit oder Solidarität auskommt. Der Verweis auf Normen stellt eine klassische rhetorische Strategie dar, mit deren Hilfe ein Redner demonstriert, dass zwischen ihm und seinem Publikum eine grundlegende Übereinstimmung besteht: „Denn die Übertragung der Zustimmung wird erst möglich durch das Herstellen einer Übereinstimmung zwischen den Prämissen [des Publikums, S.W.] und den Thesen, für die man die Zustimmung des Publikums erst noch erreichen möchte.“ (Perelman 1980: 30)
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Im Hintergrund steht hier die Annahme, dass es leichter ist, Akzeptanz für spezifische politische Ideen herzustellen, wenn zwischen Redner und Publikum eine Übereinstimmung in Bezug auf die grundlegende Stoßrichtung dieser Ideen besteht. Normverweise bilden in diesem Zusammenhang insofern einen Kunstgriff, als Normen darauf basieren, dass sich viele Personen darüber einig sind, was sie für richtig halten, was also sein soll. Normen können in diesem Sinne als „überindividuelle Sollensvorstellungen mit handlungsleitendem Charakter“ definiert werden (vgl. Mühleisen 1995). Die Formulierung ‚überindividuelle Sollensvorstellung’ bezieht sich auf den Umstand, dass eine Norm, um als solche gelten zu können, stets von mehreren Personen geteilt wird. Der Nachsatz ‚mit handlungsleitendem Charakter’ beschreibt zudem den Umstand, dass Normen handlungsbezogen sind, also ein bestimmtes menschliches Verhalten als erwünscht voraussetzen. Eine Legitimationsstrategie, die auf Normbezügen basiert, setzt die infrage stehende politische Idee oder Maßnahme in Relation zu einer gesellschaftlich anerkannten Norm, wie beispielsweise Gerechtigkeit.3 Wenn argumentiert wird, dass eine Reform gerecht ist, soll diese Argumentation – durch ihre Verknüpfung mit der Norm Gerechtigkeit – ebenfalls handlungsleitende Wirkung entfalten: An die Feststellung, dass etwas gerecht ist, wird die Erwartung geknüpft, dass es in der Öffentlichkeit Akzeptanz finden wird; die handlungsleitende Wirkung würde sich hier auf das Ausbleiben von Protesten beziehen.4 Diese Legitimationsstrategie basiert also darauf, sich die handlungsleitende Wirkung von Normen für die eigene Argumentation zunutze zu machen. Der handlungsleitende Charakter normbezogener Argumentationen kann dabei unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Je kleiner die Zahl an Handlungsoptionen ist, die sich aus einem Argument sinnvollerweise ableiten lässt, desto größer ist dessen handlungsleitende Wirkung. Umgekehrt sinkt die handlungsleitende Wirkung eines Arguments, je größer die Zahl an Handlungsoptionen ausfällt, die sich aus einem Argument ergibt. Dieser Zusammenhang wird nachfolgend als Normativitätsgrad eines Arguments bezeichnet. Argumente mit geringem Normativitätsgrad eröffnen eine große Bandbreite potenzieller Handlungsoptionen, während hochgradig normative Argumente wenige oder sogar nur eine einzige Option zulassen. Die zu Legitimationszwecken eingesetzten Argumente können demnach auf einem Kontinuum eingeordnet werden, an dessen extremen Polen einerseits Argumente mit niedrigem und andererseits Argumente 3 4
Vgl. dazu Schmidt (Schmidt 2000; 2002; Schmidt/Radaelli 2004) und Cox (2001). Leisering (2004) zeigt verschiedene Möglichkeiten der Referenzialisierung auf. Die Erfüllung dieser Erwartung hängt allerdings davon ab, ob die Verknüpfung zwischen der Maßnahme und der Norm Gerechtigkeit als gerechtfertigt akzeptiert wird. Die Beantwortung dieser Frage steht jedoch nicht im Fokus unserer Analyse.
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mit hohem Normativitätsgrad stehen. Dieses Kontinuum umfasst insgesamt fünf Argumentationsformen, die im Folgenden als das argumentative Repertoire bezeichnet werden.
2.2 Das argumentative Repertoire Diese Argumentationsformen beinhalten die Kategorien faktische Argumente, Kausalargumente, Nutzenargumente, explizit normative Argumente und Notwendigkeitsargumente. Die Kategorie faktische Argumente bezieht sich auf „deskriptive“ Äußerungen, die von den Akteuren mit dem Anspruch hervorgebracht werden, objektiv beschreibend und somit wertfrei zu sein. Aufgrund ihres konstatierenden Charakters ergibt sich aus ihnen die geringste Verengung der Zahl potenzieller Handlungsoptionen. Ein Beispiel wäre die Feststellung, dass die letzte Reform der gesetzlichen Rentenversicherung bereits einige Jahre zurückliegt. Die zweite Kategorie, Kausalargumente, basiert auf dem Wissen über Ursachen und Wirkungen bestimmter Handlungen oder Sachkonstellationen (s. Nullmeier/ Rüb 1993: 46). Kausalargumente besitzen einen höheren Normativitätsgrad als faktische Argumente, weil das Wissen über funktionale Zusammenhänge stärker auf spezifische Handlungsoptionen hin orientiert ist. Ein Beispiel könnte hier der Verweis auf den Zusammenhang zwischen der Arbeitmarktsituation und den Beiträgen für die gesetzliche Rentenversicherung sein, aus der sich eine Einschränkung an Handlungsoptionen ergibt. (Die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge sollte nicht isoliert von der jeweiligen Arbeitsmarktlage betrachtet werden.) Die dritte Kategorie, Nutzenargumente, stellt die Verbesserung des Wohlergehens spezifischer Gruppen als das Ziel einer Maßnahme dar.5 Dieser Nutzen ist keine feste Größe, sondern bedarf einer Festlegung durch die politischen Akteure. Ein Beispiel für ein Nutzenargument wäre der Verweis darauf, dass eine spezifische rentenpolitische Maßnahme vor allem Familien zugute kommt, z.B. in Form von steuerlichen Entlastungen. Die Bewertung des Nutzens erfolgt dabei nicht durch eine Bemessung an Idealzuständen, sondern durch die pragmatische Verbesserung des gegenwärtigen Zustands. Dies unterscheidet die Nutzenargumente von der vierten Kategorie, den explizit normativen Argumenten.6 Der Einsatz von explizit normativen Argumenten zielt 5
6
Diese Kategorie ist an eine Klassifizierung von Bleses et al. (Bleses et al. 1997; Bleses/ Rose 1998: 164ff.) in Bezug auf den Wandel normativer Rechtfertigungen in bundesdeutschen Parlamentsdebatten zur Sozialpolitik angelehnt. Nutzenbezogene Argumente besitzen in der politikphilosophischen Tradition des Utilitarismus eine lange Tradition. Für diese Kategorie wurde die Bezeichnung explizit normativ gewählt, um Verwechslungen mit den anderen Kategorien zu vermeiden, die nach der hier verwendeten Definition ebenfalls, allerdings implizit, normativ geprägt sind.
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nicht auf die schrittweise Verbesserung gegebener Umstände, sondern auf das Erreichen eines jeweils spezifischen Ideals, wie beispielsweise dem der Gerechtigkeit. Diese Argumentationsform neigt sich dem hochgradig normativen Pol des Kontinuums an Argumentationsformen zu, weil sie eine enge Verbindung zwischen dem angestrebten Ideal und der infrage stehenden Maßnahme herstellt. Explizit normative Argumente entfalten ihre Wirkung nicht zuletzt aufgrund des polarisierenden Charakters klassischer Normbezüge: Es ist zwar denkbar, dass jemand eine rentenpolitische Maßnahme ablehnt, die als gerecht und verantwortungsvoll dargestellt wird. Dieses ablehnende Verhalten ist dann aber nicht nur ‚nicht gerecht’, sondern ‚ungerecht’, ‚unverantwortlich’ etc. Dennoch unterscheidet die Möglichkeit, eine abweichende Meinung zu vertreten, die explizit normativen Argumente von der fünften und letzen Kategorie, den ‚Notwendigkeitsargumenten’. Diese Kategorie besitzt den höchsten Normativitätsgrad aller Argumentationsformen, sie negiert die Möglichkeit alternativen Handelns. Basierend auf Schlüssen aus und Verknüpfungen mit dem zuvor beschriebenen Argumentationsrepertoire wird die Bandbreite möglicher Handlungsoptionen in dieser Kategorie auf nur eine einzige mögliche Handlung reduziert. Ein Beispiel wäre hier die Äußerung, dass die demographische Entwicklung die Einführung einer privaten Altersvorsorge notwendig mache. Durch den Einsatz von Notwendigkeitsargumenten wird also eine Kongruenz zwischen spezifischen politischen Präferenzen und allgemeinverbindlichen Sollensvorstellungen hergestellt. Daraus folgt umgekehrt, dass Notwendigkeitsargumente – ebenso wie die anderen vorgestellten Argumentationstypen – keine objektiven Tatbestände widerspiegeln, sondern eine Argumentationstechnik darstellen, mit deren Hilfe spezifische politische Optionen als alternativlos dargestellt werden. Neben diesen fünf Argumentationsformen kann zudem zwischen drei Arten von Argumentationsbezügen unterschieden werden: Argumente können sich auf materielle Aspekte (Sachbezug), auf performative Aspekte (Handlungsbezug) und auf formale Aspekte (Verfahrensbezug) beziehen. Die Anlage dieser Bezugsdimensionen entspricht der politikwissenschaftlichen Unterscheidung von policy, politics und polity (von Prittwitz 1994). Aus der Kombination der fünf Argumentationstypen mit den drei Bezugsdimensionen resultiert das argumentative Repertoire (siehe Tabelle 1).7 Es enthält alle potenziellen Kombinationen der Argumentationsformen und -bezüge, die in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben wurden. Die beschriebenen Kategorien können nun einem Praxistest unterzogen werden: Der nachfolgende Abschnitt fasst die Ergebnisse einer Ana7
Die Tabelle zeigt ausschließlich integrative Kombinationen der Argumentationsformen und Bezüge. Wenn eine Aussage z.B. sowohl performative Aspekte als auch notwendigkeitsbezogene Argumente enthält, ohne dass diese aufeinander bezogen sind, handelt es sich demgegenüber um eine additive Kombination.
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lyse von Parlamentsdebatten zusammen, die mit Blick auf die ihnen zugrunde liegenden Legitimationsmuster untersucht wurden. Unter einem Legitimationsmuster verstehen wir die Ausprägungen legitimationsbezogener Merkmale innerhalb eines zu analysierenden Textes, z.B. die Häufigkeit, mit der die verschiedenen Argumentationstypen und -bezüge eingesetzt werden. Sachbezug (policy)
Handlungsbezug (politics)
Verfahrensbezug (polity)
Faktische Argumente
z.B.: Wir haben folgende Situation X.
z.B.: Person X hat Handlung Y vollzogen.
z.B.: Anhörung X findet zu Zeitpunkt Y statt.
Kausalargumente
z.B.: Situation X hat zu Handlung Y geführt.
Nutzenargumente
z.B.: Situation X birgt Vorteile für Gruppe A.
Explizit normative Argumente
z.B.: Situation X ist (un)gerecht.
Notwendigkeitsargumente
z.B.: Situation X erfordert Handlung Y.
z.B.: Handlung X hat Situation Y nach sich gezogen. z.B.: Handlung X ist nachteilig für Gruppe B. z.B.: Person X hat (un-)verantwortlich gehandelt. z.B.: Person X ist zu Handlung Y gezwungen.
z.B.: Anhörung X hat zu Ergebnis Y geführt. z.B.: Gesetz X kommt Gruppe C zugute. z.B.: Die Anhörung X ist fairen Regeln gefolgt. z.B.: Gesetz X musste Situation Y berücksichtigen.
Tab. 1: Das argumentative Repertoire
3
Sozialpolitische Legitimationsstrategien
3.1 Der Einsatz der Argumentationstypen Die Analyse der Parlamentsdebatten bezog sich auf insgesamt vier rentenpolitische Vorhaben in Deutschland und Frankreich, die im Zeitraum zwischen 1995 und 2001 in die Parlamente beider Länder eingebracht wurden: Es handelte sich um die rentenpolitische Komponente des Plan Juppé (1995) und die Réforme Fillon (2003) in Frankreich sowie um das Rentenreformgesetz 1999 (1997) und das Altersvermögensgesetz (2001) in Deutschland.8 Die Debatten wurden zu8
In Kraft getreten sind jedoch nur die Réforme Fillon und das Altersvermögensgesetz. Der Plan Juppé beinhaltete ein umfassendes Gesetzespaket zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, dessen rentenpolitische Komponente nach massiven öffentlichen Protesten aufgegeben werden musste. Das Rentenreformgesetz 1999 wurde von der damaligen Koalition aus CDU/CSU und
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nächst mit Blick auf die Frage untersucht, wie häufig die oben beschriebenen Argumentationstypen von den Rednerinnen und Rednern in beiden Ländern eingesetzt wurden.9 Im Hintergrund stand dabei die Annahme, dass die normative Aufladung politischer Inhalte über die Zeit hinweg zugenommen hat. Wenn diese These stimmt, müsste der Anteil der Argumentationstypen mit hohem Normativitätsgrad in den beiden Ländern jeweils zwischen der ersten und der zweiten Reformdebatte größer geworden sein. Abbildung 1 zeigt, wie häufig die verschiedenen Argumentationstypen in den Parlamentsdebatten Deutschlands (Kasten oben) und Frankreichs (Kasten unten) eingesetzt wurden. Abgebildet ist die absolute Anzahl der verwendeten Argumentationstypen in jeweils beiden Reformdebatten, die farbig unterschiedlich hervorgehoben sind.10 Bei der Betrachtung der Häufigkeitsverteilungen wird bereits auf den ersten Blick ein gewisses Grundmuster augenfällig: In allen vier Reformdebatten ergibt sich – ungeachtet der unterschiedlich hohen Gesamtzahl an Äußerungen – eine Verteilung, nach der die Argumentationstypen mit niedrigem Normativitätsgrad am häufigsten, die mit hohem Normativitätsgrad hingegen deutlich seltener eingesetzt wurden. Dabei zeigt sich zwischen den beiden Typen mit dem niedrigsten Normativitätsgrad (faktische Argumente und Kausalargumente) und den drei „hochgradig“ normativen Typen (Nutzen-, explizit normative und Notwendigkeitsargumente) ein Verhältnis von jeweils etwa zwei Dritteln zu einem Drittel. Diese Reihung der Argumentationstypen lässt sich durch eine einfache „Gesetzmäßigkeit“ umschreiben: Je höher der Normativitätsgrad eines Arguments, desto seltener wird es eingesetzt. Eine Ausnahme bildet hier lediglich die Anordnung von Nutzenargumenten und explizit normativen Argumenten: In drei von vier Fällen lag die Anzahl der explizit normativen Argumente höher als diejenige der Nutzenargumente. Dies trifft auf die Debatte zum Altersvermögensgesetz in Deutschland sowie auf die beiden französischen Debatten zu.
9
10
FDP kurz vor den Bundestagswahlen 1998 verabschiedet, nach den Wahlen jedoch von der neuen Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen ausgesetzt, und trat nie in Kraft. Analysiert wurden jeweils die Redebeiträge aller an der Diskussion beteiligten Parteien im Rahmen der ersten und zweiten Lesung (Deutschland) bzw. der einführenden Vorstellung des Vorhabens und der discussion générale (Frankreich). Der Umstand, dass die absoluten Zahlen v.a. in den französischen Debatten unterschiedlich große Unterschiede aufweisen, ist darauf zurückzuführen, dass die Redebeiträge für die Réforme Fillon (dunkel hervorgehoben) durchschnittlich deutlich länger als im Rahmen der Debatte um den Plan Juppé (hell hervorgehoben) ausgefallen sind. Insgesamt wurden in allen vier Fällen 4.505 Argumente kodiert.
250
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450 400
Anzahl Codes
350 300 250 200
150 100 50 0
Fakten
Kausal
Nutzen
Norm
Notwendigkeit
Argumentationstypus
700
600
Anzahl Codes
500
400
300
200
100
0
Fakten
Kausal
Nutzen
Norm
Notwendigkeit
Argumentationstypus Abb. 1: Verteilung der Argumentationstypen in den Bundestagsdebatten (1997/ 2001, oben) und den Debatten der Nationalversammlung (1995/ 2003,unten )
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251
Wie lassen sich diese Befunde plausibilisieren? Höchst bemerkenswert ist zunächst, dass die Verteilungen in den beiden Ländern grundsätzlich sehr ähnlich ausgefallen sind. Dies legt nahe, dass die politischen Akteure beider Länder ähnliche Strategien verfolgen, wenn es um die öffentliche Legitimation umstrittener Reformmaßnahmen geht. Ebenfalls aufschlussreich ist der Umstand, dass die Reihung der Argumentationstypen in den vier untersuchten Fällen nahezu identisch ausfällt. In diesem Zusammenhang verdient allerdings die in drei von vier Fällen aufgetretene „Umkehrung“ der Reihung zwischen Nutzen- und explizit normativen Argumenten eine nähere Betrachtung. In den beiden französischen Debatten erklärt sich die umgekehrte Anordnung nicht in erster Linie daraus, dass die Zahl der explizit normativen Argumente ungewöhnlich hoch, sondern diejenige der Nutzenargumente vergleichsweise niedrig ausgefallen ist. Im Fall der Debatte zum Altersvermögensgesetz hingegen wurde eine – im Vergleich zu den übrigen Kategorien – sehr hohe Zahl explizit normativer Argumente eingesetzt. Aufgrund des Umstandes, dass insgesamt nur vier Fälle untersucht wurden, müssen potenzielle Rückschlüsse über Unterschiede in den Legitimationsstrategien deutscher und französischer politischer Akteure vorsichtig ausfallen: Denkbar wäre, dass französische Politiker generell seltener auf Nutzenargumente zurückgreifen, ihre Argumentation also weniger auf den Nutzen einzelner Gruppen ausrichten, als es deutsche Politiker tun. Der gestiegene Anteil explizit normativer Argumente in den Debatten zum Altersvermögensgesetz könnte demgegenüber auf die politische Konstellation im Jahr 2001 und eine damit verbundene normative Aufladung des Themas Rentenreform zurückzuführen sein: SPD und Grüne hatten das Rentenreformgesetz 1999 zu einem zentralen Thema ihres Wahlkampfes gemacht. Dies wurde von CDU/CSU und FDP als Bruch des seit 1957 bestehenden Rentenkonsenses in der BRD betrachtet und während der Debatten zum Altersvermögensgesetz entsprechend thematisiert. Betrachten wir abschließend die Gesamtverteilung der Argumentationstypen über alle vier Fälle hinweg, so tritt das oben beschriebene Muster deutlich hervor. Aufgrund der insgesamt sehr stabilen Verteilung kann die eingangs formulierte These, dass die normative Aufladung rentenpolitischer Debatten über die Zeit hinweg zugenommen hat, auf Basis der Analyse nicht bestätigt werden. Vielmehr lässt sich für alle vier Fälle die Regel formulieren, dass die Häufigkeit, mit der die verschiedenen Argumentationstypen auftreten, in einem antiproportionalen Verhältnis zu ihrem Normativitätsgrad steht: Je höher der Normativitätsgrad eines Arguments ausfällt, desto seltener wird es von politischen Akteuren eingesetzt. Wie lässt sich dies deuten?
252
Sonja Wrobel Abb. 2: Gesamtverteilung der Argumentationstypen 1800
1600
Anzahl Codes
1400
1200
1000
800
600
400
200
0
Fakten
Kausal
Nutzen
expl. Norm
Notwendigkeit
Argumentationstypus
Abb. 2: Gesamtverteilung der Argumentationstypen
Nahe liegend ist die Überlegung, dass politische Akteure hochgradig normative Argumente mit Bedacht einsetzen, um die Wirkung dieser Argumentationstypen nicht „zu überreizen“. Aus ihrer Sicht dienen hochgradig normative Argumente dazu, bestimmte Handlungsoptionen als wünschenswert und möglichst alternativlos darzustellen. Aus Sicht eines Publikums, das diese Darstellung akzeptieren soll, könnten diese Argumente jedoch an Glaubwürdigkeit – und somit an Verbindlichkeit – verlieren, wenn sie zu häufig eingesetzt würden. Um dies zu vermeiden, greifen politische Akteure nur sehr vorsichtig auf dieses Instrument zur Legitimation ihrer Vorhaben zurück.
3.2 Wie wichtig sind Reforminhalte? Zur Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Frage, was ein Argument aus Sicht der beteiligten Akteure zu einem guten Argument macht, ist zudem der Zusammenhang zwischen Reforminhalten und Reformbegründungen von Interesse; dieser Zusammenhang kann ebenfalls mithilfe des oben eingeführten argumentativen Repertoires untersucht werden. Tabelle 2 führt die zentralen
Legitimationsstrategien in sozialpolitischen Reformdebatten
253
Begründungen auf, die die jeweiligen Regierungsparteien zur Legitimation ihrer Vorhaben verwendet haben. Begründungen 1. Reform Reformziele
2. Reform
Deutschland Einführung des demographischen Faktors, Bezahlbarkeit der GRV
Einführung der Riesterrente, Bezahlbarkeit der GRV Demographischer Wandel führt zu steigenden GRVBeiträgen und längerem Rentenbezug Beitragszahler, Frauen, die junge Generation und Familien als Gewinner der Reform Generationengerechtigkeit, Eigenvorsorge/ Mut, Ehrlichkeit Stabilisierung der GRVBeiträge, Sicherheit durch private Vorsorge
Kausalargumente
Demographischer Wandel führt zu steigenden GRV-Beiträgen
Nutzenargumente
Beitragszahler, Frauen und die junge Generation als Gewinner der Reform
Explizit normative Argumente
Generationengerechtigkeit
Notwendigkeitsargumente
Stabilisierung der GRV-Beiträge, Entlastung der Beitragszahler
Reformziele
Gerechtigkeit, Gleichheit
Kausalargumente
Verschuldung, Krise führt zu Zusammenbruch des RVSystems
Nutzenargumente
Das Parlament bekommt neue Mitspracherechte
Explizit normative Argumente
Gerechtigkeit, Gleichheit/ Demokratie, Transparenz
Équité; Generationensolidarität
Notwendigkeitsargumente
Entschuldung der Sozialsysteme; Verlängerung der Beitragszeiten für eine volle Rente
Verlängerung der Beitragszeiten für eine volle Rente
Argumentationskategorien
Frankreich Aufrechterhaltung des RVSystems Demographischer Wandel gefährdet den Fortbestand des RV-Systems Gesamtbevölkerung, insbesondere stark belastete Berufsgruppen als Gewinner der Reform
Tab. 2: Reformbegründungen der Regierungsparteien im Vergleich
Die Tabelle unterscheidet zwischen den fünf bereits bekannten Argumentationstypen, wobei die breiteste Kategorie, Faktenargumente, auf die Wiedergabe zentraler Reformziele eingeschränkt wurde. Die Analyse geht von der Annahme aus, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Reforminhalten und -begründungen besteht, weil die Begründungen zur Erläuterung der Inhalte dienen.
254
Sonja Wrobel
Was die Inhalte oder Ziele der vier untersuchten Fälle betrifft, so sollte mit dem Rentenreformgesetz 1999 der so genannte demographische Faktor in die Rentenberechnung eingeführt werden. Dieser Faktor koppelt die Entwicklung der Renten an die demographische Entwicklung der Bevölkerung: Steigt die Zahl der Rentnerinnen und Rentner im Verhältnis zur Zahl der erwerbstätigen Bevölkerung, verlangsamt sich zugleich der Anstieg der Renten (und umgekehrt). Das Altersvermögensgesetz aus dem Jahr 2001 diente hingegen der Stärkung der so genannten „dritten Säule“ der Rentenversicherung. Durch die Einführung einer staatlich geförderten, privaten Rentenvorsorge sollte das zu erwartende Rentenniveau der gegenwärtigen Beitragszahler erhöht und die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) entlastet werden. Die wesentlichen Ziele der beiden französischen Reformen lassen sich sehr knapp umschreiben: Beide Reformvorschläge hatten eine Verlängerung der Zahl an Beitragsjahren zum Ziel, die notwendig ist, um eine abschlagsfreie Rente zu erhalten. Während die beiden deutschen Reformen also sehr unterschiedliche Ziele verfolgten, ging es in den beiden französischen Fällen um praktisch identische Inhalte. Vor diesem Hintergrund schauen wir nun auf die Begründungen der Regierungsparteien für die vier Reformvorhaben. Im Vergleich der beiden deutschen Fälle fällt sofort ins Auge, dass sich die in beiden Fällen eingesetzten zentralen Argumentationsmuster – trotz der unterschiedlichen Stoßrichtungen beider Reformen – sehr ähnlich sind. Unterschiede ergeben sich vor allem dort, wo konkret auf Reforminhalte Bezug genommen wird (Reformziele und Notwendigkeitsargumente). Betrachten wir demgegenüber die Argumente, die in den Debatten zu den französischen Reformvorhaben eingesetzt wurden, so zeigt sich, dass die Begründungen für beide Reformen sehr unterschiedlich ausgefallen sind. Übereinstimmungen zwischen den beiden Fällen zeigen sich lediglich in Bezug auf die Kategorie der Notwendigkeitsargumente, in der es beide Male auf die Alternativlosigkeit der angestrebten Reformmaßnahmen verwiesen wurde. In Rückbezug auf die Annahme, dass Reforminhalte und Reformbegründungen einen direkten Zusammenhang aufweisen, ergibt sich bei der Betrachtung unserer vier Fälle eine bemerkenswerte Konstellation: Obwohl die Reformen in den beiden deutschen Fällen sehr unterschiedliche Inhalte aufweisen, fallen die Reformbegründungen nahezu identisch aus. In den französischen Fällen zeigt sich hingegen die umgekehrte Situation: Obwohl beide Reformen größtenteils identische Maßnahmen zum Ziel hatten, begründeten die beiden Regierungen diese Maßnahmen vollkommen unterschiedlich. Bei einem direkten Zusammenhang zwischen Reforminhalten und -begründungen wäre zunächst davon auszugehen, dass ähnliche Reforminhalte auch ähnliche Begründungen erfordern, während abweichende Reforminhalte jeweils spezifische Begründungsleistungen notwendig machen. In den französischen Fällen ist der Einsatz
Legitimationsstrategien in sozialpolitischen Reformdebatten
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unterschiedlicher Argumentationsmuster für ähnliche Reforminhalte jedoch insofern plausibel, als der erste Reformversuch auf großen öffentlichen Widerstand getroffen war. Da die Argumente der Regierung Juppé die Öffentlichkeit offenbar nicht überzeugt hatte, führte die Regierung Raffarin im Kontext der Reform 2003 neue Argumente ins Feld. Weniger einfach nachzuvollziehen ist hingegen die nahezu identische Begründung zweier Reformen, die gänzlich unterschiedliche Maßnahmen zum Ziel haben, wie es bei den beiden deutschen Vorhaben der Fall war. Ungeachtet der Frage, warum sich die Akteure in den deutschen Fällen für die gewählten Argumente entschieden haben, lässt sich festhalten, dass sie bei der Begründung ihrer Vorhaben offenbar nicht unmittelbar an die Reforminhalte gebunden waren. Diese Konstellation zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Reforminhalten und -begründungen in den untersuchten Fällen insgesamt weniger eng als angenommen war.
4
Fazit
Zurück zu unserer eingangs aufgeworfenen Frage nach einer „guten“ Legitimationsstrategie können wir auf Basis der oben beschriebenen Analysen zwei Ergebnisse festhalten: Zum einen hat die Häufigkeitsverteilung der Argumentationstypen in den deutschen und französischen Debatten gezeigt, dass die Akteure beider Länder in ihren Reformbegründungen sehr vorsichtig mit dem Einsatz hochgradig normativer Argumente umgehen. Aus der Verteilung, die sich über alle vier Fälle hinweg als erstaunlich stabil erwiesen hat, geht hervor, dass eine gute Legitimationsstrategie aus Sicht der politischen Akteure den Einsatz von Argumenten mit hohem Normativitätsgrad nicht überreizt. Eine allgemein gestiegene Bedeutung normativ aufgeladener Argumentationen lässt sich auf Basis dieser Untersuchung nicht bestätigen. Was, zweitens, den Zusammenhang von Reforminhalten und Reformbegründungen betrifft, so hat die Analyse gezeigt, dass die Maßstäbe zur Bewertung der Qualität eines Arguments im Alltagsverständnis und im Kontext einer Legitimationsstrategie durchaus voneinander abweichen können. Während der common sense die Güte eines Arguments nicht zuletzt daran bemisst, dass es einen bestimmten Sachverhalt möglichst korrekt widerspiegelt, dienen die im Rahmen einer Legitimationsstrategie geäußerten Argumente vor allem dazu, Zustimmung zu erzeugen. Der Zusammenhang zwischen – häufig komplexen – Reforminhalten und deren Begründungen kann dabei unterschiedlich eng gefasst werden. Die Qualität eines Arguments bemisst sich aus Sicht politischer Akteure also nicht durch einen möglichst engen Bezug auf Inhalte, sondern anhand der Frage, wie gut es geeignet ist, öffentliche Zustimmung zu erzeugen.
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Im Lichte dieser Analyse zeigt sich, dass der eingangs zitierte Ausspruch Gerhard Schröders eine durchaus riskante Legitimationsstrategie darstellt. Die offen demonstrierte Ablehnung der Gewerkschaften gegenüber der geplanten Einführung der Riesterrente hat den damaligen Bundeskanzler zu einem hochgradig normativen Argument greifen lassen. Der Vorteil der Notwendigkeitskonstruktion bestand dabei nicht zuletzt darin, dass sie jeden weiteren Begründungsaufwand unnötig gemacht hat. Basta!
Literatur Bleses, Peter/ Offe, Claus et al. (1997): Öffentliche Rechtfertigungen auf dem parlamentarischen 'Wissensmarkt' – Argumentstypen und Rechtfertigungsstrategien in sozialpolitischen Bundestagsdebatten. In: Politische Vierteljahresschrift. 38. 3. 498-529. Bleses, Peter/ Rose, Edgar (1998): Deutungswandel der Sozialpolitik. Die Arbeitsmarkt- und Familienpolitik im parlamentarischen Diskurs, Frankfurt/M./ New York: Campus. Cox, Robert H. (2001): The social construction of an imperative. Why welfare reform happened in Denmark and the Netherlands but not in Germany. In: World Politics. 53. 463-498. Leisering, Lutz (2004): Paradigmen sozialer Gerechtigkeit. Normative Diskurse im Umbau des Sozialstaates. In: Liebig et al. (2004). 29-68. Liebig, Stefan et al. (Hrsg.) (2004): Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Campus. Mühleisen, Hans-Otto (1995): Normative Theorien der Politik. In: Lexikon der Politik. Hg. von Nohlen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf, München: Beck. 369-383. Nullmeier, Frank/ Rüb, Friedbert W. (1993): Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozialstaat zum Sicherungsstaat. Frankfurt/M./ New York: Campus. Perelman, Chaim (1980): Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation. München: Beck. von Prittwitz, Volker (1994): Politikanalyse. Opladen: Leske + Budrich. Scharpf, Fritz W./ Schmidt, Vivien A. (Hrsg.) (2000): Welfare and work in the open economy. Oxford: Oxford University Press. Schmidt, Vivien A. (2000): Values and discourse in the politics of adjustment. In: Scharpf et al. (2000): 229-309. Schmidt, Vivien A. (2002): Does discourse matter in the politics of welfare state adjustment? In: Comparative political studies, 35.2. 168-193. Schmidt, Vivien A./ Radaelli, Claudio M. (2004): Policy change and discourse in europe: conceptual and methodological issues. In: West European Politics. 27. 2. 183-210. Wrobel, Sonja (2009): Notwendig und gerecht? Die Legitimation von Sozialreformen in Deutschland und Frankreich, Frankfurt/M. / New York: Campus.
IV
Gesellschaft auf der Suche nach der Norm
Der Mythos der über Vierzigjährigen in der Werbebranche – eine Gespenstergeschichte? Michael Bolte
Designerin: „Also in großen Agenturen gibt es diese Personen ja nicht, außer sie sind männlich. Also weibliche Kreative über 40? Bei Männern ist das ja gar kein Problem. Unsere Chefetage ist ja auch 40.“
Die Überschrift legt es nahe: Der vorliegende Beitrag1 erzählt von einem Mythos. In Werbeagenturen gebe es keine über 40-jährigen Beschäftigten, zumindest keine weiblichen.2 Wie ein Gespenst spukt dieser Mythos durch die Agenturszene, bestimmt dort Normen und (Zeit-)Handeln. Ähnlich wie kleinere Kinder durch Gespenstergeschichten zu einem bestimmten Verhalten gebracht werden, veranlasst dieser Mythos die ‚älteren’ weiblichen Beschäftigten dazu, in einer Art vorauseilendem Gehorsam die Branche scheinbar freiwillig zu verlassen. In den analysierten Interviews wird deutlich, dass die Lebensplanung der weiblichen Beschäftigten, die den Wunsch haben ‚irgendwann einmal‘ eine Familie zu gründen, oft nicht über die ‚magische Grenze’ von 40 Lebensjahren hinausreicht. Die, je nach Lebensalter, mittel- oder kurzfristige Zukunft liegt im Dunkeln, und es herrschen nur schwach konturierte individuelle Wünsche vor. Die ‚Entweder-Oder’-Entscheidung ‚Kind oder Beruf’ ist noch nicht gefallen. 1 2
Dieser Text basiert auf einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Dissertation im Fach Soziologie an der TU München (M. Bolte 2008). Der Dissertation und diesem Beitrag liegt eine qualitative Studie zugrunde. In einem ersten Schritt wurden ca. 90 anonymisierte Interviews einer bereits abgeschlossenen Arbeitszeitstudie (S. Böhm et al. 2004) einer Sekundärauswertung unterzogen. Der daraus resultierende Leitfaden war die Grundlage für 24 halboffene Beschäftigteninterviews in der Werbe- und der IT-Branche. Diese beiden Branchen wurden mit dem Ziel ausgesucht, die ‚Spitze des Eisbergs‘ der Subjektivierung bzw. Entgrenzung einzufangen. Nicht umsonst wurden sie beispielsweise von H. Groß/ M. Schwarz 2007 als Vorreiterbranchen in diesem Bereich bezeichnet. Die Interviews aus der Werbebranche erschienen vor allem aus dem Grund interessant, da es sich hier um eine besonders ‚schillernde‘ Berufssparte handelt. Hinzu kommt, dass exakt dieses Segment der kleineren und mittleren Agenturen als weitgehend betriebsratsfrei (A. Henninger/ N. MayerAhuja 2005) gilt. Die Beschäftigten sind also – ohne die Unterstützung durch kollektive Vertretungsorgane – weitgehend allein dafür verantwortlich, ihre betrieblichen und vertraglichen Arbeitsbedingungen auszuhandeln, insbesondere natürlich die Arbeitszeit und den Arbeitslohn bzw. das Gehalt. Für die vorliegende Untersuchung wurde das Segment aus forschungspragmatischen Gründen auf den Bereich der Print- und Verpackungsdesignagenturen verengt.
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Michael Bolte
Kompromisslösungen innerhalb der Agenturszene haben sich bisher nicht etabliert.3 Spätestens mit etwa 40 Jahren – so die Beschäftigten – sollte die Entscheidung getroffen bzw. ein Ausstieg aus der Branche gefunden sein. Diese Grenzziehung bezieht sich nicht nur auf das eigene Lebensalter bei der Geburt des (ersten) Kindes, sondern auch auf den andauernden Zeitdruck im Arbeitsalltag, dem sich die Beschäftigten ‚in diesem Alter‘ nicht mehr gewachsen sehen. Am Beispiel der individuellen Zeitorganisation Beschäftigter in Werbeagenturen wird im Folgenden ein zyklisches Modell der Normengenese vorgestellt, das auf betrieblich und teilweise auch branchenweit geltenden, individuell oft unhinterfragten Selbstverständlichkeiten des ‚richtigen‘ Zeithandelns (K. Jurczyk/ G. G. Voß 2000) beruht. Durch ihre praktische Routinisierung im Alltag verfestigen sich diese Selbstverständlichkeiten.
1
Kern des Mythos
Folgt man den Erzählungen von Agenturbeschäftigten, dann zeichnet sich ihre Branche durch spezifische Merkmale aus, die zumindest ambivalent zu betrachten sind. Das diesem Text vorangestellte Zitat einer etwa 35 Jahre alten Verpackungsdesignerin fand sich nahezu deckungsgleich in fast allen Interviews mit Werbetreibenden und stellt den Kern des hier behandelten Mythos plastisch dar. Aus der Vielzahl der Interviews lassen sich weitere zentrale Teile der Geschichte extrahieren: ‚Ältere‘ Beschäftigte in einer Agentur sind männlich, gehören den höheren Hierarchieebenen an und falls sie Kinder haben, können sie weiterhin ‚Vollgas‘ geben, da ihre Ehefrauen die Familienarbeit übernehmen. ‚Jüngere‘, insbesondere weibliche Beschäftigte werden in einer Agentur nicht ‚alt‘, weil sie spätestens mit 40 Jahren ‚verbraucht‘, also nicht mehr kreativ sind oder sich schon vorher für ihr Privat- oder Familienleben entscheiden oder in vorauseilendem Gehorsam freiwillig die Branche oder die feste Anstellung verlassen.
3
Obwohl erste Ansätze langsam sichtbar werden. Vgl. zum Beispiel die Internetpräsenz der Agentur Wangenrot in Hamburg (http://www.wangenrot-hamburg.de/jobs.htm; 12. 1. 2009), die bevorzugt Mütter und Väter in Teilzeit einstellt.
Der Mythos der über Vierzigjährigen in der Werbebranche
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Es folgt ein Einstieg in den theoretischen Hintergrund dieser Untersuchung (Kap. 2). Mit den branchenspezifischen Rahmenbedingungen (Kap. 3), dem Selbstbild des mündigen Mitarbeiters (Kap. 3.1) und der Routinisierung von scheinbar erfolgreichen Verhaltensweisen (Kap. 3.2) werden die Elemente einer Wechselwirkung beschrieben, die zu einer Normengenese bzw. zur Verfestigung von bereits bestehenden Normen beitragen (Kap. 3.3). Diese erschwert ihrerseits ein Ausbrechen aus dieser Praxis und begünstigt in Form einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung einen vorauseilenden Gehorsam, der wiederum als Vorbild dient und innerbetrieblich als unvermeidbar tradiert wird (Kap. 3.4). Das Fazit (Kap. 4) nimmt schließlich den Topos der Gespenstergeschichte wieder auf, indem gezeigt wird, dass eine Gruppe von Beschäftigten in diesem Kontext zu nahezu homogenem Handeln gezwungen wird, ohne dass eine schlüssige Ursache dafür vorliegt.
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Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit als theoretischer Kontext
Kontext der hier thematisierten Fragen ist die in der Arbeits- und Industriesoziologie anhaltende Debatte über eine Entgrenzung von Arbeit und Freizeit (vgl. K. Gottschall / G. G. Voß 2003) bzw. eine Subjektivierung von Arbeit (vgl. N. Kratzer et al. 2003 und M. Moldaschl 2003). Vielfach wird die Meinung vertreten, dass die rasanten Veränderungen, die sich in der Arbeitswelt beobachten lassen, eine Anpassung der Beschäftigten an scheinbar neue Arbeitsanforderungen notwendig machen. Als Motor des Wandels gelten anhaltende Restrukturierungsbemühungen der Unternehmen, die auf diese Weise den verschärften Bedingungen eines sich zunehmend globalisierenden Marktes entgegen treten und ihre Konkurrenzfähigkeit ausbauen oder zumindest behaupten wollen. Zentrale These dieser Untersuchung ist nun, dass die Vorstellung von einer lediglich reaktiven Anpassung der Beschäftigten an die sich verändernden (subjektivierten/entgrenzten) betrieblichen Rahmenbedingungen zu kurz greift. Stattdessen wird hier die Wechselwirkung von veränderten betrieblichen Rahmenbedingungen und individuellen Selbstverständlichkeiten bezüglich eines ‚richtigen‘ Handelns als Katalysator für die Genese und Verfestigung von betrieblichen Praktiken vorgeschlagen. Dieser Ansatz bezieht sich auf Konzepte, die eine analytische Trennung von Mikro-, Meso- und Makroebene vermeiden und wesentliche Elemente des Wandels hin zu einer Subjektivierung von Arbeit oder einer Entgrenzung von Arbeit und Freizeit in den Schnittstellen oder Wechselwirkungen dieser Ebenen sehen. Das individuelle Handeln ist aus dieser Perspektive nicht von strukturellen Zwängen determiniert, aber eben auch nicht frei von strukturellen Einflüssen. Die Strukturen ihrerseits werden durch Routinisie-
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rung oder Institutionalisierung von Handeln gebildet, verfestigt oder eben auch in Teilen verändert (vgl. A. Giddens 1997 oder P. L. Berger/ T. Luckmann 2007). Die hier im Vordergrund stehende Unternehmenskultur wird als Summe von betrieblich geteilten Überzeugungen des ‚richtigen‘ Handelns verstanden (vgl. grundlegend E. Schein 1985, S. Böhm et al. 2004). Als struktureller Kontext beeinflusst sie zwar mehr oder weniger stark das individuelle Handeln, wird aber wiederum auch von der Summe dieses Handelns bestätigt oder verändert. Die Unternehmenskultur wird als überindividuelles Normengeflecht verstanden. Dieses ist zwar prozesshaft generiert und damit veränderlich in dem Sinne, dass dieser Prozess nie ein definiertes Ende hat, kann aber von einem Individuum oder einer kleineren Teilgruppe der Gesamtheit – z.B. der Geschäftsleitung oder einer Unternehmensberatung – nicht gezielt in eine Richtung verändert oder optimiert werden (vgl. H. J. Pongratz/ R. Trinczek 2005). Dennoch sind es gerade diese Gruppen, die aufgrund ihrer besonderen Position innerhalb oder im Fall von Unternehmensberatungen außerhalb der betrieblichen Hierarchie über eine größere ‚Vetomacht‘ in Bezug auf Genese oder Verhinderung von Normen verfügen (M. Crozier/ E. Friedberg 1979). Die Normen verfestigen sich hauptsächlich durch die andauernde Wiederholung, also die Routinisierung jener Praktiken, die wiederum von diesen Normen beeinflusst werden. Diese Praktiken sind das Ergebnis von individuellen – oder von Gruppen getragenen – Norminterpretationen. Sie können sich insbesondere zwischen Geschäftsführung und Beschäftigten, aber auch zwischen den einzelnen Beschäftigten unterscheiden.
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Objektive Rahmenbedingungen im Arbeitsalltag Betriebsleiter: „(...) da muss man da sein, wenn man da sein muss und wenn der Kunde es verlangt, dass man da ist.“
Aus den Beschäftigteninterviews gehen einige spezifische Merkmale des agenturtypischen Arbeitsalltags und einer spezifischen Form der Unternehmenskultur hervor. Charakteristisch ist, dass die Beschäftigten bei ihrer individuellen Zeitplanung den betrieblichen Interessen – also insbesondere der Erfüllung der Kundenwünsche – so gut wie immer Vorrang vor ihren privaten Interessen und den formalen vertraglichen, tariflichen oder gesetzlichen Regelungen geben. Diese Priorisierung kommunizieren leitende Angestellte schon beim Berufseinstieg oder beim Beginn der aktuellen Anstellung offen. Die Kunden sind Könige und herrschen damit auch über die Zeit der Beschäftigten. Bezogen auf Lage und Abfolge von Handlungen im Alltag ist allein der Arbeitsbeginn relativ regelmäßig. Schon für das Ende ihres Arbeitstages konnte die Mehrheit der Interviewten keine ‚normale‘ Zeit mehr angeben. Eine Beschäftigte
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antwortete auf eine diesbezügliche Frage sehr treffend: „Wenn es fertig ist.“ Für die tägliche Praxis bedeutet das, dass die Beschäftigten beim morgendlichen Arbeitsbeginn oft noch nicht wissen, wann sie abends die Arbeit beenden werden. Diese zeitliche Unplanbarkeit gerade des Arbeitsendes gehört für die Beschäftigten in dieser Branche zum Bereich des ‚Normalen’. Ähnliches gilt für das Wochenende. Den Beschäftigten ist die Entscheidung grundsätzlich selbst überlassen, ob es an Sonnabenden und Sonntagen notwendig ist zu arbeiten. Wochenendarbeit ist insofern optional. In der Praxis ihres beruflichen Alltags bleibt den Beschäftigten jedoch oft keine Alternative. Im besten Fall stehen sie vor der Wahl, entweder während der Woche bis tief in die Nacht oder an mindestens einem Tag des Wochenendes zu arbeiten. Von den eigenen Präferenzen hängt lediglich ab, wann genau sie das tun. Die Wochenendarbeit wird von der jeweils anfallenden Arbeitsmenge abhängig gemacht, auf die die Beschäftigten wenig Einfluss nehmen können. Ob die anfallenden Aufgaben dringend sind und wie sie terminlich arrangiert werden können, entscheiden die Beschäftigten wiederum selbst. Die durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten im Sample weisen auf einen durchgängig hohen Zeitdruck in der Agenturszene hin. Die vertraglich vereinbarte Arbeitszeit liegt im Durchschnitt bei ca. 38 Wochenstunden. Geleistet werden jedoch im Durchschnitt über 50 Stunden. Verschärft wird die Situation durch weitere Spezifika der Agenturszene. Für das Sample sind sogenannte Agenturverträge typisch, die ein nicht unerhebliches Quantum an Mehrarbeit4 als mit dem vereinbarten Gehalt abgegolten definieren. Auch wenn der Ausgleich von Mehrarbeit formal vorgesehen ist, lässt der Arbeitsalltag dies aufgrund des dauerhaften Zeitdrucks oftmals nicht zu. Zudem verstößt es gegen die informellen Normen der Agenturen, in denen es üblich ist, ‚nicht auf die Uhr zu schauen‘. Innerhalb des Samples ist es lediglich in einer verhältnismäßig großen Agentur möglich, Mehrarbeit durch Freizeit auszugleichen. Dies gelingt allerdings nur in bestimmten, mittelbar vom größten Kunden festgelegten und relativ kurzen Phasen, die sich beispielsweise nicht mit den klassischen Urlaubsmonaten decken. Außerhalb dieser Phasen, d.h. innerhalb der Saison, wird zudem eine Urlaubssperre verhängt. Dennoch verstehen die Beschäftigten diese Möglichkeit als außergewöhnlich und bewerten sie in den Interviews sehr positiv. 4
In einigen Fällen waren den Interviewten die vertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeiten zum Zeitpunkt des Interviews nicht in Erinnerung, was auf ihre Unwichtigkeit in Bezug auf die individuelle Zeitorganisation der Beschäftigten hinweist. Die beschriebenen Vertragsregelungen sollten nicht mit denen von klassisch außertariflich Beschäftigten verwechselt werden. Mit wenigen Ausnahmen aus der Geschäftsführerebene, zeichnen sich die Beschäftigten im Sample gerade nicht durch eine überdurchschnittliche Bezahlung aus, sondern gehören zu den ‚normalen‘ bzw. ‚einfachen‘ Beschäftigten in dieser Branche.
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In diesem Branchensegment herrschen typischerweise kurze Projektzyklen und – noch unter dem Eindruck der Werbekrise der Jahre 2001 bis 2003/2004 – oft ungenügende Personalstrukturen vor. Eine der Folgen dieser Rahmenbedingungen ist oftmals die alleinige Verantwortlichkeit der Beschäftigten für ihre Projekte und Kunden und fehlende Vertretungsmöglichkeiten (vgl. die Beschreibungen zum Flexibilisierungsparadoxon in V. Hielscher/ E. Hildebrandt 1999). Der meist sehr direkte Kontakt zu den Kunden verstärkt das individuelle Gefühl, verantwortlich zu sein. Misserfolge – und seien sie auch unzureichender Personalausstattung bzw. zu kurzen Bearbeitungszeiten geschuldet – werden so schneller als persönliche Niederlage wahrgenommen, auch weil kein direkter Vorgesetzter mehr existiert, der die Arbeitsschritte legitimiert oder gar kontrolliert. Rückmeldungen der Beschäftigten erfolgen in der Regel nur bei unvorhergesehenen Problemen oder gegen Ende des Projektzyklus. Erfolgskriterium ist nicht mehr das schnelle oder gute Abarbeiten von Aufgaben in möglichst kurzer Zeit, sondern das Erreichen eines marktwirtschaftlich verwertbaren Ergebnisses zur richtigen Zeit – der Kunde muss zufrieden sein (M. Moldaschl/ D. Sauer 2000). 3.1. Selbstbild des mündigen Mitarbeiters Teamleiterin: „Es sind super flache Hierarchien, aber es ist schon so, dass ich verantwortlich bin, wenn irgendwas schief geht.“
Das Wechselspiel zwischen zeitlicher Unplanbarkeit und inhaltlicher Freiheit macht sich im kommunizierten Selbstbild der Werbetreibenden bemerkbar. Hier herrscht das Ideal des ‚mündigen Kreativen‘ vor. Formen der kollektiven Interessenvertretung, d.h. vor allem Betriebsräte und Gewerkschaften, werden deshalb teilweise vehement abgelehnt (A. Henninger/ N. Mayer-Ahuja 2005). In der Wahrnehmung der Beschäftigten sind ihre konkreten Arbeitsbedingungen ausschließlich das Ergebnis ihrer Verhandlungen bei der Einstellung bzw. ihrer Fähigkeit, den Arbeitsalltag auf angemessene Weise zu organisieren. Die Verantwortung für ihre Arbeitsergebnisse liegt daher ausschließlich bei den Beschäftigten selbst. Kollektiv für Beschäftigteninteressen einzutreten, wird als ein zu stark homogenisierendes ‚Über-einen-Kamm-scheren‘ wahrgenommen, weil die personellen und terminlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Abteilungen der Unternehmen als sehr unterschiedlich empfunden werden. Grundsätzlich und vor allem mit Blick auf andere Branchen halten die Befragten Betriebsräte und gewerkschaftliche Politik durchaus für zweckmäßig. Hingegen müssen angesichts der anspruchsvollen und stark individualisierten Tätigkeiten in einer Agentur die mündigen Beschäftigten selbst für adäquate Rahmenbedingungen sorgen. Dazu
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fühlen sich die Beschäftigten nicht nur in der Lage, sondern formulieren auch den entsprechenden Wunsch, dies zu tun.
3.2. Verfestigung durch Routinisierung – Hintanstellen der Freizeit Produktionerin: „(...) das hat so ein bisschen Musketiercharme. (...) Das ist auch einer der Gründe, weswegen das, glaube ich, funktioniert. Also in diesem Zeitdruck, in diesem Stress und in diesem Arbeitszeitrahmen, den du hast, trotzdem durchzuhalten, weil du einfach Spaß dabei hast zwischendurch.“
Großen Einfluss auf die überwiegende Arbeitszufriedenheit, von der in den Interviews berichtet wird, hat eine besondere Art der Unternehmenskultur oder des Betriebsklimas innerhalb der Agenturen. Kennzeichnend sind hier nicht vorwiegend fachlich-kollegiale, sondern eher freundschaftliche Beziehungen unter den Kolleginnen und Kollegen. Typisch für den Arbeitsalltag ist es, Dienstliches und Privates während der Arbeitszeit zu mischen. Die Unternehmensleitungen tolerieren dies nicht nur, sondern fördern es teilweise direkt. Das kann man als eine Verschiebung der Effektivitätsnorm interpretieren, die noch für fordistische Arbeitsverhältnisse zentral war. Auch hier lässt sich ein Wandel hin zu mehr Selbstverantwortung aufzeigen. Das private Telefonieren vom Büro aus, die ausgedehnte Kaffeepause mit Kolleginnen oder Kollegen, das Surfen im Internet etc., all das gehört zu den auch während der Arbeitszeit akzeptierten Verhaltensweisen – sofern das Arbeitsergebnis zum richtigen Zeitpunkt vorliegt und vom Kunden ‚gekauft‘ wird. Weiterhin scheint typisch, dass der Büroarbeitstag an den Rändern ‚ausfranst‘. Der Tag beginnt oft in einer Grauzone zwischen privatem und beruflichem Tun, also zum Beispiel mit dem obligatorisch ausgedehnten Morgenkaffee und einem anfangs privaten Gespräch, das sich dann am Ende oft beruflichen Themen zuwendet. Ähnliches ereignet sich am Ende des Arbeitstags, der oft in ‚geselliger Runde‘ in der Agentur oder im Lokal ausklingt. Diese Grauzonen und die Vermischung von privaten und dienstlichen Aktivitäten verlängern zwar den ohnehin schon langen Arbeitstag – ‚Minusstunden‘ kamen im Sample nicht vor – machen ihn in der Wahrnehmung der Beschäftigten aber erst ‚aushaltbar‘. Wenn ein Arbeitstag schon so lang ist – so die in den Interviews oft vertretene Meinung – dann sollte er zumindest teilweise mit angenehmem Tun aufgelockert werden. Für die hier im Zentrum stehende individuelle Form der Zeitorganisation ist insbesondere die Routinisierung einer Verhaltensweise durch Wiederholung wichtig. Viele Beschäftigte beschreiben in den Interviews, dass sie Terminprobleme möglichst von vornherein vermeiden, indem sie innerhalb der Woche sehr wenig feste Freizeittermine eingehen. Einige Interviewaussagen legen nahe, dass
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dieser ‚Lernprozess’ eine gewisse Zeit in Anspruch genommen hat. Am Anfang der Berufslaufbahn wurden noch konkrete Verabredungen getroffen und konnten oftmals nicht eingehalten werden. Die Folge war zumeist Kritik aus dem Freundeskreis; das Stigma der Unzuverlässigkeit war in dieser Situation schnell vergeben. Um diesem Problem aus dem Weg zu gehen, ‚lernen‘ die Beschäftigten eine Form der Terminplanung, die die betrieblichen Interessen klar priorisiert. Freizeittermine werden nur locker vereinbart und haben in der Regel einen gewissen ‚Sicherheitsabstand‘ zum voraussichtlichen Arbeitsende. Angesichts der in dieser Branche üblichen hohen Arbeitszeiten verwundert es daher nicht, wenn sich einerseits das nahe soziale Umfeld zusehends auf Branchenkolleginnen und -kollegen verengt und andererseits oftmals Termine abgesagt werden. Routinisierung funktioniert durch die Wiederholung von scheinbar erfolgreichen Verhaltensweisen, die die Anforderungen und Erwartungen der relevanten sozialen bzw. beruflichen Umfelder erfüllen bzw. den formalen und informellen Normen innerhalb dieser Kontexte entsprechen. Freizeittermine während der Arbeitswoche nicht einzugehen oder zu vermeiden, stellt so einen Kompromiss dar. Der möglichen Zuweisung aus dem individuellen Freundes- oder Familienkreis, ein unzuverlässiger Mensch zu sein, der seine Verabredungen nicht einhält, kann so aus dem Weg gegangen werden. Auch die beruflichen Erwartungen werden auf diese Weise erfüllt, da ihnen Priorität eingeräumt wird. Die meisten der interviewten Beschäftigten beschreiben, dass sie in der Agentur schon genug Zeitdruck und Terminprobleme haben und dies nicht auch noch in der Freizeit erleben möchten. Bei einigen ist die ‚reine‘ Freizeit zudem so knapp bemessen, dass phasenweise nicht einmal die körperlichen und geistigen Regenerationsbedürfnisse gedeckt werden. Mit dem treffenden Begriff „Zombienights“ beschreibt eine Kontakterin den mitunter nicht zu vermeidenden Tagesablauf ‚Aufstehen – Arbeiten – Essen – Schlafen’. Die „tödlichen Erdstrahlen des Sofas“ (Kontakterin) verhinderten an solchen Tagen eine aktivere Freizeitgestaltung sehr zuverlässig. Eine Folge dieser Strategie ist die Verengung des nahen sozialen Umfelds oftmals auf Menschen, die in der gleichen oder einer ähnlichen Branche, wenn nicht gar in der gleichen Firma arbeiten. Aus der hier eingenommenen Perspektive bedeutet das zudem, dass durch einen homogenisierten sozialen Umgang wiederum homogene oder zumindest ähnliche Überzeugungen über das vermeintlich richtige zeitliche Handeln ausgetauscht und aneinander angeglichen werden. Neben dem ‚richtigen‘ betrieblichen Zeithandeln zeigen sich damit auch im Freizeitbereich branchentypische Merkmale der individuellen Organisation von Zeit. Bei den Beschäftigten dieser Branche ergibt sich eine Form der Alltäglichen Lebensführung (Projektgruppe 1995), die nahezu den gesamten Tag zumindest
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optional der Arbeit widmet. Private oder familiäre Interessen werden den betrieblichen untergeordnet. In den Interviews wird gerade von den weiblichen Beschäftigten oftmals berichtet, dass die favorisierte Lebensplanung im beruflichen und privaten Bereich keinesfalls den gesamten Zeitraum der Berufstätigkeit abdeckt. Stattdessen herrschen berufliche Ziele für die nächsten ein bis zwei Jahre vor. Allen weiblichen Beschäftigten ist gemein, dass sie in einer Agentur ‚nicht alt werden’ wollen. Die fernere Zukunft ist für sie zwar offen, aber oftmals eher negativ besetzt. Grund ist die individuelle Wahrnehmung einer generellen Unvereinbarkeit von Agenturarbeit und privaten Interessen, die aus ihrer Sicht in der Zukunft eher wichtiger werden. Nahezu deckungsgleich wird in den Interviews die ‚magische Grenze’ von 40 Jahren erwähnt. Wenn diese überschritten ist, sehen sich die Beschäftigten einerseits der hohen Belastung in den Agenturen nicht mehr gewachsen und wollen andererseits nicht selten eine Familie gegründet haben. Beides zusammen – da sind sich alle Agenturbeschäftigten einig – geht nicht.
3.3 Trägheit der Norm – Objektivierung der Rahmenbedingungen Designerin: „Und ich höre das auch von meinem Freund, der aus einer ganz anderen Richtung kommt, der dann sagt: ‚Ihr müsst das doch planen. Was hast du denn da für einen Chef? Wieso plant der das nicht?‘ Dann ruft morgens einer an. Das kann man nicht planen. Es geht nicht.“
Die Priorisierung der betrieblichen Interessen und die Veränderungen in den Leistungsmerkmalen, die man mit einer Verschiebung von der Pünktlichkeit zur Termintreue fassen kann, werden nicht nur von Unternehmensseite vorgegeben, sondern sind auch für die Beschäftigten selbstverständlich. Gerade die zeitliche Unplanbarkeit des Arbeitsalltags ist für sie die ‚Kehrseite der Medaille‘ einer ansonsten herausfordernden und anspruchsvollen Tätigkeit, die die überwiegende Mehrheit der Befragten mit einem hohen Grad an Identifikation ausübt. Von den Beschäftigten werden die zeitlichen Rahmenbedingungen der Anstellung nur im Verbund mit den inhaltlichen Herausforderungen wahrgenommen, schließlich ist es in anderen Agenturen kaum anders.5 Die dauerhafte Personalknappheit und der daraus resultierende Zeitdruck gelten unter den Beschäftigten als ubiquitäres Merkmal der Branche. Die wenigen Agenturen, in denen die Zeitplanung eine andere ist, werden als Ausnahmen wahrgenommen und dienen somit kaum als 5
Die Agenturszene zeichnet sich insbesondere durch verhältnismäßig kurze Verbleibzeiten in den einzelnen Unternehmen aus. Die Befragten sprechen von durchschnittlich zwei bis drei Jahren Beschäftigung in einer Agentur, bis es dann wieder „Zeit ist zu wechseln“. Diese hohe Fluktuation trägt auch dazu bei, die einzelnen Agenturkulturen zu homogenisieren.
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Vorbild für andere. Diese spezifischen Rahmenbedingungen werden zusehends objektiviert, also als unabänderlich hingenommen. Das zeigt sich nicht zuletzt in mehrfachen Interviewäußerungen, die auf einen Zusammenhang von fester, regulärer Arbeitszeit und weniger herausfordernden Arbeiten hindeuten. Stichworte wie „Amt“, „Behörde“ und „Fließband“ verdeutlichen diesen Zusammenhang. Die typischen positiven Merkmale einer Agenturanstellung wiegen die zeitliche Unplanbarkeit aus Sicht der meisten Beschäftigten auf. Insbesondere das hohe Maß an individueller Verantwortung und inhaltlicher Freiheit in den einzelnen Arbeitsschritten finden bei den Beschäftigten große Zustimmung. Die Trägheit oder Objektivierung der betrieblichen und individuellen Normen wird insbesondere an Überlastungsszenarien deutlich. In Einzelfällen der Empirie kommen die Beschäftigten zu der Überzeugung, dass ihre aktuelle Arbeitssituation auf Dauer nicht mehr akzeptabel ist. Bei Beschäftigten in einer Branche mit traditionelleren Organisationsstrukturen wäre der Gang zum Vorgesetzten und eine anschließende Diskussion über eine Verminderung bzw. eine Neuverteilung der Arbeitsinhalte eine übliche Verhaltensweise. Die Beschäftigten in den Agenturen dagegen wählen durchgängig die Kündigung6, da ihnen eine Neuverhandlung der personellen und zeitlichen Rahmenbedingungen aussichtslos erscheint. Die Selbstwahrnehmung der Beschäftigten ist oftmals beherrscht vom Gefühl, austauschbar zu sein. Anstatt eine Durchsetzungsstrategie zu entwickeln, wird immer häufiger versucht, möglichst nicht negativ aufzufallen (vgl. auch A. Boes/ T. Kämpf 2008 zu ähnlichen Tendenzen bei Hochqualifizierten im ITBereich).
3.4 Vorauseilender Gehorsam als Reaktion auf die Trägheit der Norm Produktionerin: „[Vier-Tage-Woche] hat nicht funktioniert, jetzt in Eisen gegossene Regel.“
Weitreichende Folgen haben diese verfestigten Normen der individuellen Organisation von Zeit insbesondere dann, wenn sich die Interessenlagen der Beschäftigten verändern und sie in Frage stellen, dass die betrieblichen Interessen immer Priorität genießen müssen. Ein in der Empirie immer wieder genanntes Beispiel ist der Wunsch weiblicher Beschäftigter, spätestens bis zum 40sten Lebensjahr eine Familie zu gründen. Innerhalb des Samples herrscht Einigkeit darüber, dass 6
In einem Fall wurde die Kündigung allerdings von der Geschäftsleitung abgewiesen und erwies sich damit als Einstieg in Neuverhandlungen der Rahmenbedingungen für diese erfahrene Produktionerin. Ohne ein großes Primärmachtpotenzial, also fachliche Alleinstellungsmerkmale oder ein außergewöhnliches Ansehen innerhalb der Agentur, ist dieser Weg aber sicherlich mit einem sehr hohen Risiko verbunden.
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es in diesem Branchensegment keine Vereinbarkeit von Beruf und Familie gibt, mehr noch: dass sie hier aufgrund von scheinbar objektiven und unveränderlichen Gründen unmöglich ist. Infolgedessen unternehmen die Beschäftigten sehr selten Versuche, individuelle Verhandlungen über eine Verkürzung ihrer Arbeitszeiten zu führen. Die Familiengründung wird zur ‚Entweder-Oder‘-Entscheidung. Die Beschäftigten nehmen ein mögliches Kind und die damit einhergehenden zeitlichen Verpflichtungen – im Gegensatz zu den verschiebbaren Interessen – als Hindernis in Bezug auf ihr Leistungspotenzial wahr. Wie eine Grafikerin ausdrückte, verschöben sich die Prioritäten. Dadurch könnten Mütter die Erwartungen und Anforderungen, die mit der Arbeit in einer Agentur zwangsläufig verbunden seien, nicht mehr erfüllen. Die Folge solcher Überlegungen ist eine Art vorauseilender Gehorsam. Die Beschäftigten wechseln vor der Familiengründung die Branche, geben – zumindest temporär – den Beruf ganz auf oder wechseln in die oftmals prekäre Freiberuflichkeit, da sie sich hier, oftmals zu Recht, eine bessere Vereinbarkeit zwischen Beruf und Familie versprechen. Diese Entscheidungen und Verhaltensweisen haben wiederum eine Vorbildfunktion für die Beschäftigten, die weiterhin in der Branche oder der einzelnen Agentur tätig sind. Ihnen wird signalisiert: „Anders geht es also nicht“; „Das ist der einzige Weg.“ Die scheinbar erfolgreich praktizierten Strategien werden innerbetrieblich tradiert und den ‚ungeschriebenen Regeln‘ bzw. den informellen Normen der Agenturkultur hinzugefügt. Sie verfestigen die schon bestehende Norm, dass weibliche Beschäftigte lediglich bis zur magischen Grenze von 40 Jahren in der Lage sind, in Agenturen beschäftigt zu werden. Bei den männlichen Beschäftigten überwiegt hingegen die klassische Rollenvorstellung des Familienernährers, dessen Partnerin bzw. Ehefrau die Kindererziehung übernimmt und dafür die eigene Karriere zurückstellt. Zumindest für das vorliegende Sample kann festgehalten werden, dass dies die ‚offizielle‘ Lösung ist, die die Agenturen favorisieren. Die Geschäftsführungen sind entweder mit kinderlosen leitenden Angestellten besetzt oder mit männlichen Familienernährern, bei denen die Kindererziehung kein Hindernis für ihre berufliche Leistungsfähigkeit darstellt. Diese einseitige Besetzung der Posten von Entscheidungsträgern in Bezug auf die betrieblichen Normen und Rahmenbedingungen tragen wiederum dazu bei, diese Normen weiter zu festigen – schließlich sicherten sie bisher ein erfolgreiches Wirtschaften.
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Fazit Teamleiterin: „[Der nine-to-five-job] ist für mich kein Horror, überhaupt nicht. (…) Ich bin ja auch eine Frau, vielleicht will ich irgendwann mal Kinder haben. Ich bin 31, also ich würde jetzt keinen Job [mehr] in einer Agentur annehmen.“
Mit Bezug zur Strukturationstheorie von Anthony Giddens oder den Texten zur Institutionalisierung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann kann zusammenfassend festgehalten werden, dass der hier beschriebene Mythos und die daraus folgende Form der Organisation von Zeit sowohl von objektivierten Rahmenbedingungen als auch von informellen betrieblichen Normen einer spezifischen Agenturkultur beherrscht wird. Diese als Einzelperson ohne strukturelle Unterstützung – etwa durch eine individuelle Anpassung der Rahmenbedingungen – zu durchbrechen, fällt schwer und verlangt den Betreffenden einiges an insbesondere kommunikativen, aber natürlich auch fachlichen Kompetenzen ab. Die wenigen Beschäftigten, die erfolgreich gegen den Strom schwimmen, gelten in den Agenturen weniger als positives Vorbild, sondern eher als Ausnahme, die die Regel bestätigt. Hier überwiegt die Wahrnehmung der Schwierigkeiten, die das Handeln gegen die betrieblichen Normen mit sich bringt. Daher sind es nur einige wenige, insbesondere in der Hierarchie höher stehende Beschäftigte mit besonderen Fachkenntnissen, die eine solche Form der Zeitorganisation für sich etablieren können. Die Alternative, das ‚Schwimmen mit dem Strom‘, vertieft dagegen die bestehenden Gräben7 und verfestigt die homogenisierende Funktion der bestehenden Normen. Der Druck, den Weg des vorauseilenden Gehorsams zu nehmen, wird damit größer, die Menge der Mütter über 40, die weiterhin in Agenturen arbeiten, dagegen kleiner. Als Ergebnis dieser nicht erst seit kurzem anhaltenden Praxis hat sich eine typische Agenturkultur herausgebildet. Sie erschwert eine nachhaltige Form von individueller Zeitorganisation erheblich. Bemerkenswert ist dies vor allem deshalb, weil die Agenturszene gerade als Vorreiterin des innovativen Zeithandelns für diese Untersuchung ausgewählt wurde. Die vorgefundene typische Form des Zeithandelns genügt aber teilweise nicht einmal den grundlegenden Regenerationsbedürfnissen der Beschäftigten. Innerhalb der beruflichen Sphäre können so auch die zentralen Merkmale einer fortschreitenden Subjektivierung von Arbeit bzw. einer Flexibilisierung von Arbeitszeit vorgefunden werden. Diese postfordistischen Arbeitsanforderungen treffen hier allerdings auf ein fordistisches Rollenverständnis des männlichen Familienernährers. Für den Bereich der Freizeit 7
K. E. Weick 1985 vergleicht die Genese von Verhaltensnormen mit einem Pudding, über den warmes Wasser geschüttet wird. Je mehr Wasser fließt, desto tiefere Wasserrinnen bilden sich, wodurch wiederum weniger Wasser andere Wege nimmt.
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oder der Familie fehlen gerade jene innovativen Ansätze, die diese Branche in anderen Bereichen auszeichnen.8
Literatur Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas (2007): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch. Boes, Andreas/ Baukrowitz, Andrea (2002): Arbeitsbeziehungen in der IT-Industrie. Erosion oder Innovation der Mitbestimmung? Berlin: Edition Sigma. Boes, Andreas/ Kämpf, Tobias (2008): Hochqualifizierte in einer globalisierten Arbeitswelt. In: AISStudien 1.2.2008: 44-67. http://www.ais-studien.de/home/veroeffentlichungen-08/november. html (12.01.2009). Böhm, Sabine/ Herrmann, Christa/ Trinczek, Rainer (2004): Herausforderung Vertrauensarbeitszeit. Zur Kultur und Praxis eines neuen Arbeitszeitmodells. Berlin: Edition Sigma. Bolte, Michael (2008): Informalisiertes Zeithandeln. Wechselwirkungen zwischen betrieblichen Normen und individuellen Selbstverständlichkeiten. Dissertation. Technische Universität München. http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn:nbn:de:bvb:91-diss-20080110-644938-1-1 (13.06.2009). Crozier, Michel/ Friedberg, Erhard (1979): Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Königsstein/Ts.: Athenäum. Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt/ M. / New York: Campus Verlag. Gottschall, Karin/ Voß, G. Günter (Hrsg.) (2003): Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag. München: Hampp. Groß, Hermann/ Schwarz, Michael (2007): Betriebs- und Arbeitszeiten 2005. Ergebnisse einer repräsentativen Betriebsbefragung. Dortmund: Sozialforschungsstelle Dortmund. Henninger, Annette/ Mayer-Ahuja, Nicole (2005): Arbeit und Beschäftigung in den Hamburger Creative Industries. Presse/Verlagswesen, Film/Rundfunk, Design, Werbung/Multimedia und Software/IT-Dienstleistungen; Expertise. Wien: Forschungs- u. Beratungsstelle Arbeitswelt. Hielscher, Volker/ Hildebrandt, Eckart (1999): Zeit für Lebensqualität. Auswirkungen verkürzter und flexibilisierter Arbeitszeiten auf die Lebensführung. Berlin: Edition Sigma. Hildebrandt, Eckart/ Linne, Gudrun (Hrsg.) (2000): Reflexive Lebensführung. Zu den sozialökologischen Folgen flexibler Arbeit: Edition Sigma. Jurczyk, Karin/ Voß, G. Günter (2000): Entgrenzte Arbeitszeit – Reflexive Alltagszeit. Die Zeiten des Arbeitskraftunternehmers. In: Hildebrandt et al. (2000): 191-205. Kratzer, Nick/ Sauer, Dieter/ Hacket, Anne/ Trinks, Katrin (2003): Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit. Zwischenbericht zur ‚Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland: Arbeit und Lebensweisen’. Unter Mitarbeit von Alexandra Wagner; http://www.isf-muenchen.de/pdf/TFFlexSubj_ZwiB03.pdf (13.06.2009). Minssen, Heiner (Hrsg.) (2000): Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit. Berlin: Edition Sigma. 8
Erinnert sei hier allein an die klassische Halbtagsstelle, die der Siebte Familienbericht inzwischen als nicht mehr adäquat bzw. als zu unflexibel ansieht, die aber in Agenturen durchaus als innovativ gelten könnte.
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Moldaschl, Manfred (2003): Subjektivierung. Eine neue Stufe in der Entwicklung der Arbeitswissenschaften? In: Voß et al. (2003): 25-56. Moldaschl, Manfred/ Sauer, Dieter (2000): Internalisierung des Marktes. In: Minssen, Heiner (Hrsg.) (2000): 178-205. Pongratz, Hans J./ Trinczek, Rainer (2005): BOHICA! Change zwischen Akzeptanz und Widerstand. http://www.rosner-consult.de/downloads/pongratz_change_aufsatz2005.pdf, (13.06.2009). Projektgruppe Alltägliche Lebensführung (Hrsg.) (1995): Alltägliche Lebensführung. Arrangements zwischen Traditionalität u. Modernisierung, Opladen: Leske + Budrich. Schein, Edgar H. (1985): Organizational culture and leadership. San Francisco: Jossey-Bass Publishers. Voß, G. Günter/ Moldaschl, Manfred (Hrsg.) (2003): Subjektivierung von Arbeit. München: Hampp. Weick, Karl E. (1985): Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt/ M.: Suhrkamp.
Arbeiten außerhalb des Normalarbeitsverhältnisses – Welchen Blick haben flexibel Beschäftigte auf ihre Beziehung zur Arbeitsorganisation? Elisabeth Dütschke
Die Arbeitswelt in den Industriestaaten verändert sich – zu den Faktoren, die diese Veränderung bewirken, gehören die Globalisierung, der technologische Fortschritt sowie die zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter und die demographische Entwicklung. Was das Ergebnis der Veränderungsprozesse genau sein wird, ist schwer abzusehen: Wie wird die Karriere eines „typischen“, eines „normalen“ Beschäftigten nach Abschluss dieses Wandels aussehen? Wird es die „normale“ Berufslaufbahn, die als „herrschende Fiktion“ (U. Mückenberger 1985: 422) die Vorstellungen und Erwartungen prägt, noch geben? Es zeichnet sich bisher nur ab, dass sich das, was in der westlichen Welt seit den 1950erJahren als Normalarbeitsverhältnis galt, im Umbruch befindet. Normal hieß bisher, dass Beschäftigte einen Großteil ihres Arbeitslebens in einem festen unbefristeten Vollzeit-Arbeitsverhältnis bei einer einzigen Organisation verbrachten. Heute sind die Beschäftigungsformen jedoch vielfältiger geworden: Flexible Beschäftigungsformen wie Zeitarbeit, freie Mitarbeit und befristete Verträge verzeichnen hohe Zuwachsraten (vgl. CIETT 2006; M. Ertel/ U. Pröll 2004). Glaubt man Hoffmann und Walwei (2001), so ist der „Abschied vom Normalarbeitsverhältnis“ bereits zum geflügelten Wort geworden. Die meisten Forscher gehen aber noch immer von stabilen und langfristigen Beziehungen zwischen Organisationen und ihren Mitarbeitern aus (C. E. Connelly/ D. G. Gallagher 2004: 959). So wird nach wie vor impliziert, dass Mitarbeiter im Austausch für ein stabiles Anstellungsverhältnis und dadurch gesichertes Einkommen loyal gegenüber ihrer Organisation sind (L. M. Gossett 2002). Tatsächlich nimmt jedoch die Zahl an Beschäftigten, für die diese Grundkonzeption nicht mehr gegeben ist, beständig zu (vgl. M. Ertel/ U. Pröll 2004; M. Quinlan/ P. Bohle 2004). Welche Auswirkungen dies auf die Beschäftigten hat, ist aus organisationspsychologischer Sicht noch kaum analysiert worden. Wie beurteilen flexibel Beschäftigte ihr Beschäftigungsverhältnis? Wie verändert sich die Beziehung zwischen Organisation und Beschäftigtem, wenn die Beständigkeit des Beschäftigungsverhältnisses nicht mehr gegeben ist? Diesen beiden Fragen geht der
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vorliegende Beitrag auf der Grundlage von 27 Interviews mit flexibel Beschäftigten nach.1
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Stand der Forschung
Die Organisationsforschung beschäftigt sich erst in jüngerer Zeit mit dem Phänomen flexibler Beschäftigung (I. Winkler 2006). Viele Autoren beschreiben flexibel Beschäftigte als benachteiligt und marginalisiert (U. Beck 2000; A. Davis-Blake/ B. Uzzi 1993; C. Garsten 1999; L. M. Gossett 2002). Das Bild des benachteiligten flexibel Beschäftigten speist sich v.a. aus der höheren Jobunsicherheit sowie Befunden zu schlechteren Arbeitsbedingungen bzw. höherer Belastung am Arbeitsplatz im Vergleich zu Personen in Normalarbeitsverhältnissen (M. Quinlan/ P. Bohle 2004). Dies führt zu dem Schluss, dass der Trend zur flexiblen Beschäftigung in erster Linie auf den Druck der Arbeitgeber zurückgeht, da er für den Beschäftigten mit mehr Nach- als Vorteilen verbunden ist (S. D. Nollen 1996; A. R. Wheeler/ M. R. Buckley 2001). Flexible Beschäftigung stellt demzufolge Beschäftigung zweiter Klasse dar, die von den Beschäftigten nur ‚unfreiwillig‘ als Alternative zur Arbeitslosigkeit akzeptiert wird. Wie flexibel Beschäftigte ihre Situation tatsächlich beurteilen, ist noch weitestgehend unklar (N. De Cuyper/ H. De Witte 2008). Studien aus dem englischsprachigen Raum zeigen, dass zwischen 25 und 40 % der flexibel Beschäftigten diese Beschäftigungsform einem Normalarbeitsverhältnis vorziehen (M. DiNatale 2001; D. Guest 2004). Die Hintergründe hierzu sind jedoch bisher nicht näher untersucht. Insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum liegt bisher kaum Forschung vor. Gleichermaßen ist auch zu den Auswirkungen auf die Beziehung zwischen Beschäftigtem und Organisation noch wenig bekannt. Die Vermutung, 1
Die Interviews entstanden als Teil meines Dissertationsprojekts an der Universität Konstanz, Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaften. Es wurden insgesamt 27 leitfadengestützte Gespräche mit flexibel Beschäftigten (11 Frauen und 16 Männern) aus Deutschland und der Schweiz geführt. Flexible Beschäftigung wurde als Flexibilisierung in zeitlicher Hinsicht (vgl. J. Pfeffer/ J. N. Baron, 1988) definiert, d.h. die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses ist nicht auf unbegrenzte Zeit angelegt. Die Interviewpartner arbeiten in unterschiedlichen Berufen (z.B. Lehrer, Journalist, IT-Spezialist). Alle Befragten können als hochqualifiziert eingestuft werden, d.h. sie verfügen über einen Universitätsabschluss oder vergleichbare Qualifikationen. Die Interviews wurden zunächst transkribiert und anschließend thematisch codiert, wobei die Codes auf den Themen aus dem Interviewleitfaden aufbauen. In der folgenden Darstellung werden Originalzitate verwendet, um Folgerungen aus den Gesprächen plastischer und nachvollziehbarer zu machen. Die Befragten sind durchnummeriert, ein H kennzeichnet männliche, ein F weibliche Gesprächspartner; zusätzlich ist jeweils der Beruf angegeben.
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dass die schwächere vertragliche Bindung sich in einer schwächeren emotionalen Bindung niederschlägt, ist jedoch nahe liegend. Als Folge aus der „liminalen“ Position (C. Garsten, 1999) der flexibel Beschäftigten zeichnet Loril M. Gossett (2002: 386) sogar das düstere Zukunftsbild, dass die zunehmende Flexibilisierung eine Generation an Erwerbstätigen hervorbringen wird, die den arbeitgebenden Organisationen als Feinde gegenüberstehen. Quantitative Vergleichsstudien mit Beschäftigten im Normalarbeitsverhältnis zeigen zwar zum Teil tatsächlich, dass flexibel Beschäftigte eine schwächere emotionale Bindung an die Arbeitsorganisation haben als Beschäftigte im Normalarbeitsverhältnis (L. J. Millward/ P. M. Brewerton 1999; L. J. Millward/ L. J. Hopkins 1998; L. Van Dyne/ S. Ang 1998). Die Unterschiede fallen jedoch gering aus, und es liegen auch dem widersprechende Befunde vor (z.B. C. E. Connelly/ D. Gallagher 2004; L. J. Millward/ P. M. Brewerton 1999). Die Annahme, dass flexibel Beschäftigte keine oder nur eine geringe emotionale Bindung an den Arbeitsplatz aufweisen, ist somit nicht haltbar. Die Hintergründe, warum und wie diese Bindung bei flexibler Beschäftigung entsteht, liegen jedoch noch im Dunkeln.
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Bewertung der flexiblen Beschäftigung: Präferenz und Motive
Die Interviews zeichnen ein differenziertes Bild der Bewertung der Beschäftigungsform durch die Betroffenen. Insgesamt emergieren drei Gruppen: Personen mit hoher, mittlerer und niedriger Präferenz für flexible Beschäftigung. Personen mit hoher Präferenz bevorzugen die flexible Beschäftigung klar gegenüber einem Normalarbeitsverhältnis. Personen mit niedriger Präferenz würden ein Normalarbeitsverhältnis vorziehen und sehen die flexible Beschäftigung als zweite Wahl. Zusätzlich zu den Personen mit niedriger bzw. hoher Präferenz für die flexible Beschäftigung ergibt sich noch eine dritte Gruppe: Diese acht Personen äußerten sich nur wenig ausgeprägt über die Beschäftigungsform. Ihre Einschätzung war tendenziell positiv, sie berichteten jedoch nicht, flexible Beschäftigung eindeutig zu präferieren, wie die nachstehenden Zitate illustrieren. „Mir geht es hauptsächlich erst einmal darum, Regie zu führen, ob das nun [in einem] Festengagement [ist], was auch Vorteile hätte, (…) ich hätte nichts dagegen irgendwo fest zu sein, wenn die Bedingungen stimmen. (...) Wenn das [Festengagement] jetzt [aber] heißen würde, dass man nicht so arbeiten kann, wie man gerne möchte, dann würde ich sagen, ist mir das nicht lieber.“ (H26/Opernregisseur)
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Elisabeth Dütschke „Nee, ich bin eigentlich dankbar, dass ich das habe. Weil ich damals, als ich kündigte beim Staat, dachte, das war’s. Dass ich eigentlich nie mehr Zugang bekomme. Ich bin eigentlich sehr dankbar, dass ich das machen kann.“ (F21/Lehrerin) „Das war keine bewusste Entscheidung, irgendwie ging das dann weiter, es ist passiert.“ (F19/Personalberaterin)
Im Gegensatz zu den anderen beiden Gruppen haben diese Personen keine klare Einstellung zur flexiblen Beschäftigung – diese hat sich entweder ergeben oder andere Prioritäten haben Vorrang vor dem Wunsch nach einem bestimmten Vertrag. Aus kontrastiven Gründen beschränkt sich die Analyse der Präferenz in diesem Beitrag auf Personen mit niedriger oder hoher Präferenz für flexible Beschäftigung. Als erstes Ergebnis aus den Interviews gilt es jedoch festzuhalten, dass diese beiden Gruppen nicht das ganze Spektrum der Bewertung der flexiblen Beschäftigung abdecken. Zuerst werden nun die Hintergründe für eine hohe Präferenz der flexiblen Beschäftigung genauer analysiert, anschließend folgt eine Darstellung der Gründe, die Interviewte mit niedriger Präferenz für ihre Einstellung zur Beschäftigungsform angaben. Der Wunsch nach Autonomie, Entscheidungsfreiheit und Abwechslung sind die wichtigsten Themen, die von den neun Personen, die die flexible Beschäftigung bevorzugen, als Gründe für ihre hohe Präferenz genannt werden. Aus ihrer Sicht bestehen durch das flexible Beschäftigungsverhältnis mehr Möglichkeiten, Art und Umfang der Arbeitsaufgaben mitzubestimmen, wodurch sich auch der Wunsch nach Abwechslung und die Verwirklichung eigener Interessen umsetzen lassen. „(…) also dieser psychische Käfig der Firma, in der ich angestellt bin, der ist mir einfach zu starr. Da habe ich schon so einen Freiheitsdrang inzwischen, dass ich mir zum Jahresende wieder überlegen kann, gucken wir doch mal, was es noch so für Projekte gibt, die mich interessieren. In so einer Firma, da entwickelst du dich eigentlich nicht mehr groß weiter.“ (H2/IT-Spezialist) „[Man k]ann sich dann so als Angestellter nicht mehr so einfügen, ja, wenn man jahrelang sein eigener Chef war, fällt einem [das] dann doch schwer. (…) dass ich tun kann, was ich will, ja. Die Entscheidung[en] treffen kann, die ich für richtig halte (…) Und, dass man freier agieren kann, dass man die Zeit freier einteilen kann, dass ich Entscheidungen selbst treffen kann. Dass ich mir die Kunden aussuchen kann. (…) Auch der Ort, in dem ich tätig bin (…).“ (H4/IT-Spezialist) „Dann lernte ich meine Situation mehr und mehr schätzen, da ich meine Zeit frei einteilen und mich um Dinge und Themen kümmern kann, die ich aussuche.“ (F10/Journalistin)
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Die feste Mitgliedschaft in einer Organisation wird von den Beschäftigten mit hoher Präferenz als einengend beschrieben. Die Vorstellung, dass die Zukunft kalkulierbar oder absehbar ist, wird negativ bewertet. Gleichzeitig wird betont, dass man Entscheidungen – sowohl in Bezug auf den beruflichen Lebensweg als auch die Arbeitsausführung – selbst treffen möchte. Mehrere der Interviewten heben außerdem hervor, durch ihren externen Status als flexibel Beschäftigte frei zu sein von organisationsinternen Prozessen wie internen Querelen oder dem Verfolgen von internen Beförderungsmöglichkeiten, die als stressauslösend beurteilt werden. So erklärt H1/Journalist: „Also für mich ist es sehr entspanntes Arbeiten hier, (…) weil ich muss keine Karriere machen.“ Auch den Ausstieg aus den sozialen Sicherungssystemen beschreiben einige der bevorzugt flexibel Beschäftigten als Vorteil („Und die Rente ist ja auch kein Argument“, so F10/Journalistin). Grundsätzlich sehen diejenigen, die die flexible Beschäftigung präferieren, auch Nachteile in der Beschäftigungsform; so werden die Aspekte Arbeitsplatzsicherheit, Verdienstausfall bei Urlaub und Krankheit sowie bei Lücken zwischen Engagements mehrfach aufgezählt. Weiterhin geben zwei Befragte (F10/Journalistin, F6/Journalistin) an, dass sie gerne stärker in ein Team integriert wären. Auch die zeitweise hohe zeitliche Belastung wird als Nachteil angeführt (F6/Journalistin, H4/IT-Spezialist). Diese Punkte setzen den beschriebenen Vorteilen eine Grenze, was auch so wahrgenommen wird: „Letztendlich hört die Flexibilität bei jedem Selbständigen da auf, wo die reine Notwendigkeit anfängt.“ (H3/IT-Spezialist). Ganz allgemein gesehen, will keiner der Interviewten völlig ausschließen, dass er oder sie eine Festanstellung im Laufe des weiteren Berufsweges nicht doch in Erwägung ziehen würde. Es wird jedoch betont, dass die Bedingungen hinsichtlich Arbeitsaufgaben, Verdienst und Arbeitsklima sehr gut sein müssten – oder sich ihre Lebensumstände2 verändern müssten (z.B. „Das ist, ich denke doch mal, wenn sich die private, die soziale Situation ändert, dann hat man doch andere Sicherheitsbedürfnisse, ich kann [das] zwar nicht ganz verstehen, (…)“, so H2/IT-Spezialist). Die Vorstellung, tatsächlich in naher Zukunft in eine Festanstellung zu wechseln, erscheint eher befremdlich. Bei den zehn mit niedriger Präferenz für flexible Beschäftigung, stehen die Nachteile der Beschäftigungsform stärker im Vordergrund. Als Grund, warum sie eine Beschäftigungsform eingegangen sind, die nicht ihren Vorstellungen entspricht, geben die Befragten an, dass keine festen Arbeitsstellen im Wunschberuf (F12/Lehrerin, F13/Journalistin, H25/Journalist) oder beim gewünschten 2
Sowohl unter den Personen mit niedriger als auch mit hoher Präferenz sind Personen, die den Hauptteil zum Familieneinkommen beitragen. Für alle Befragten ist das Einkommen relevant für den persönlichen bzw. familiären Unterhalt.
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Unternehmen (H11/Aufnahmeleiter, H16/Projektleiter, F17/Projektassistentin, H18/Bankmitarbeiter, F15/Ärztin) verfügbar waren oder die gewünschten Bedingungen – z.B. Teilzeitarbeit (F14/Lehrerin), Möglichkeit für einen längeren Auslandsaufenthalt (H24/Elektriker) – nicht umsetzbar waren. Als Hauptnachteile der flexiblen Beschäftigung im Vergleich zu einer Festanstellung werden geringere Arbeitsplatzsicherheit sowie fehlende Fortzahlung des Lohnes bei Krankheit und Urlaub bzw. fehlendes Einkommen zwischen zwei Beschäftigungsverhältnissen genannt. Das Normalarbeitsverhältnis als Ziel hat für diese Gruppe eine hohe Bedeutung: „Alles drauf festklammern, dass es bitte, bitte irgendwie klappt.“ (F12/Lehrerin) „Ein echter Vorteil gibt’s eigentlich nicht. Es gibt keinen Vorteil, denn die Erwartungen sind genauso hoch, und irgendwo musst du die ja auch erfüllen.“ (F13/Journalistin) „Natürlich träumen wir alle heute davon, eine Festanstellung zu haben, ist ein Sechser im Lotto, das ist das Größte überhaupt, (…)“ (H11/Aufnahmeleiter)
Als weiteren negativen Aspekt flexibler Beschäftigung betonen die Befragten mit niedriger Präferenz die Ungewissheit der Zukunft: „Und Sicherheit heißt, dass ich weiß, was ich nächsten Monat machen werde, und wo ich im nächsten Monat sein werde, und das hast du als freier Mitarbeiter eben nicht.“ (H11/Aufnahmeleiter) „Aber eigentlich wäre es mir lieber, dass ich fest angestellt bin und nicht immer denken muss, was kommt denn nächstes Jahr.“ (H16/Projektleiter)
Der flexiblen Beschäftigung werden von denjenigen, die eine Festanstellung bevorzugen, zum Teil ebenfalls die bereits genannten Vorteile wie Aufgabenvielfalt oder größere Flexibilität sowie Unabhängigkeit vom einzelnen Unternehmen zugeschrieben. So erklärt H25/Journalist: „(…) dass ich auch so manche Dinge machen kann, die wahrscheinlich so ein normal angestellter Redakteur gar nicht machen könnte (…). Deine Freiheiten [als Festangestellter] sind tatsächlich eingeschränkt (…). Also diese Enge muss ich einfach akzeptieren, müsste ich dann akzeptieren. Und das wäre ein Nachteil. (…) ich hab die Vorzüge, die ich als Freier durchaus auch habe, und die ich durchaus auch genieße.“
Die wahrgenommenen Vorzüge werden jedoch anders bewertet, wie H11/Aufnahmeleiter erläutert: „Es ist für mich jetzt, ich weiß, für viele Leute ist das so ein ganz erstrebenswerter Zustand, die das ganz toll finden, diese Freiheit
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und diese Flexibilität und so, das mag ja auch sein, wenn man einen gewissen Lebensentwurf hat, oder auch gewisse Lebensumstände, aber mir wäre eine Festanstellung natürlich viel lieber, sicher.“ Bei der Interpretation der Aussagen der Interviewten ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die jeweils genannten Argumente nicht unbedingt oder nicht vollständig auf objektive Gegebenheiten zurückzuführen sind, sondern Wahrnehmungen und Interpretationen der Befragten darstellen. So klagt H11/Aufnahmeleiter mit niedriger Präferenz über die Ungewissheit der Zukunft in der flexiblen Beschäftigung – obwohl sein Arrangement jahresweise definierte Verträge vorsieht und die monatlichen im Voraus ungewissen Schichtpläne für die Festangestellten in seinem Beruf genauso gelten. Genauso betont H2/ITSpezialist mit hoher Präferenz, wie sehr er es genießt, die Möglichkeit zum Projekt- und Organisationswechsel zu haben – seine einzige Tätigkeit als flexibel Beschäftigter besteht jedoch seit mehreren Jahren in der Arbeit in ein- und demselben Projekt bei einer Firma. Diese Beispiele weisen genauso wie die Ähnlichkeit bei der Beschreibung der Beschäftigungsbedingungen unabhängig von der Präferenz darauf hin, dass die Ausprägung der Präferenz nicht etwa von objektiven Gegebenheiten determiniert wird, sondern durch die Bewertung dieser Gegebenheiten durch den Beschäftigten entsteht. Dies bestätigt und vergrößert die Bedeutung der Variablen Präferenz, da diese somit nicht durch die Veränderung der objektiven Gegebenheiten beliebig beeinflusst oder vorhergesagt werden kann.
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Beziehung zur Arbeitsorganisation: Identifikation
Flexible Beschäftigung geht mit einer anderen Beziehung zwischen Beschäftigtem und Organisation zunächst auf vertraglicher Ebene einher als ein Normalarbeitsverhältnis. Da die vertragliche Ebene die Rahmenbedingungen der Beziehung definiert, die jedoch loser und unverbindlicher sind als im Normalarbeitsverhältnis, ist es nahe liegend, bei einer Analyse flexibler Beschäftigung auch zu untersuchen, wie sich der Bezug des flexibel Beschäftigten zur Organisation darstellt: Hat die arbeitgebende Organisation emotionale Bedeutung angesichts der zeitlich beschränkten Perspektive? In der Literatur der Organisationsforschung wird die emotionale Beziehung zwischen Beschäftigtem und Organisation unter den Stichworten affektives Commitment (J. P. Meyer/ N. J. Allen 1991) und Identifikation (F. A. Mael/ L. E. Tetrick 1992) diskutiert. Innerhalb beider Forschungsstränge ist es üblich, nicht nur die Organisation als Ganzes als möglichen Bezugspunkt der affektiven
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Bindung zu definieren, sondern zusätzlich weitere Fokusse der Identifikation wie z.B. Arbeitskollegen zu betrachten (z.B. A. Cohen 2003). In der Auswertung der Interviews zeigt sich, dass sich die befragten flexibel Beschäftigten trotz der unsicheren vertraglichen Bindung affektiv binden. Welches die Fokusse der Identifikation sind, wird im nachfolgenden Abschnitt genauer dargestellt. Anschließend werden die Aussagen der Befragten unter dem Gesichtspunkt eines Zusammenhangs zwischen emotionaler Verbundenheit und Präferenz betrachtet. Als Bezugspunkte werden von den Befragten die Personen aus dem Arbeitsumfeld – Kollegen und unmittelbare Führungskräfte – genannt sowie die Arbeitsaufgaben und die Organisation als Ganzes. „Also, das nimmt man mit nach Hause, man wird ein Teil dieser Familie dort, dieser Leute, die dort arbeiten, man wird ein Teil dieses Unternehmens, man kennt die Leute (…) und alle durchweg sagen das Gleiche, sie sagen nirgendwo ist [es] so nett und so kollegial und so angenehm zu arbeiten wie bei X.“ (H11/Aufnahmeleiter) „Die Themen sind interessant, die Arbeit bringt mein Literaturstudium und mein Volontariat irgendwie zusammen und macht viel Spaß.“ (F10/Journalistin) „Und die Firma an sich, ja genau, weil das Produkt und das Umfeld, also das Produkt eben, Flugzeuge, das ist echt sehr komplex, aber eben auch spannend. Und auch X halt, weil es eben europäisch ist (…). Also es ist […], wo ich wirklich aufblühen kann, glaube ich. (…) dass man sich auch mit der Firma identifizieren kann. Und, dass die Firma dir auch diesen Freiraum gibt.“ (F17/Projektassistentin)
Zwischen den Bezugspunkten besteht für viele Befragte eine Rangfolge. So erklärt H1/Journalist: „(…) eigentlich nur zu der Redaktion, (…) ich fühl eine sehr geringe Identifikation mit dem Verlag, weil ich auch sehr kurz erst da bin, ich finde, oder ich mach Identifikation oder Verantwortungsgefühl sehr personell fest. (…) Wenn man die drei Ebenen hat, die Menschen, die hier arbeiten, die Verlagsstruktur und im Grund das Verlagsprodukt, das Objekt, was dabei rauskommt, würde ich es prozentual aufteilen an 80 % Menschen, an 15 % Produkt an sich und vielleicht 5 % der ganze Laden, wenn nicht sogar noch weniger.“
Die im Zitat von H1/Journalist genannte Reihenfolge deckt sich mit dem Gros der Aussagen der Interviewten: Die Personen, mit denen man vor Ort zusammenarbeitet, werden mit Abstand am häufigsten als Bezugspunkt oder Identifikationsobjekt geschildert (insgesamt von zwanzig der Interviewten – die Arbeitsaufgabe und die Organisation nur etwa halb so oft). Wenn die Interviewten von Arbeitskollegen bzw. den Personen, mit denen sie zusammenarbeiten,
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sprechen, handelt es sich hierbei sowohl um andere flexible Beschäftigte als auch um fest angestellte Organisationsmitglieder. Die hohe Bedeutung der Arbeitskollegen und der unmittelbaren Führungskräfte werden mit gegenseitiger Sympathie und dem beständigen, alltäglichen positiven Kontakt begründet. So beschreibt H2/IT-Spezialist: „(…) weil die Kollegen und so schon alles ziemlich sozial ist (…). Eigentlich, dass man die Kollegen nicht hängen lassen will.“ In Bezug auf die Arbeitsaufgaben und Tätigkeiten wird als Grund für eine Bindung angeführt, dass diese Spaß machen, die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bieten oder eine Herausforderung darstellen, deren Bewältigung mit Stolz verbunden ist. „Und das ist eben halt, Motivation, und halt auch Stolz, dass man sagen kann, hey, da haben wir was Sauberes abgeliefert.“ (H3/IT-Spezialist) „Manchmal schon, dass man sagt, kleiner Anflug von Stolz, oder dass man sagt, damit bist du jetzt wirklich zufrieden. Was jetzt so die Eigenarbeit angeht, und manchmal, wenn wir wirklich eine gute Zeitung machen, auch sagt, Mensch, haben wir wirklich eine gute Zeitung gemacht. (…) Das ist eine gewisse Bindung halt, die Arbeit eben, die man macht.“ (F13/Redakteurin)
Die Bindung an die Organisation begründen mehrere Befragte (F17/ Projektassistentin, H11/Aufnahmeleiter, H16/Projektleiter, H18/Bankmitarbeiter) mit dem Ansehen und dem Erfolg der Organisation. Im Zusammenhang mit der Organisation werden aber auch Argumente ins Feld geführt, die mit dem Bestehen und der Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisses an sich zusammenhängen. So erklärt H21/IT-Spezialist seine Identifikationsbereitschaft auch damit, dass er auf Folgeaufträge hoffe. Von einigen Befragten werden jedoch neben Bekenntnissen zur Identifikation auch Abgrenzungen vorgenommen, also einzelne Bezugspunkte ausgeschlossen oder zurückgestuft. Die Organisation selbst ist der Bezugspunkt, von dem sich die Interviewten am häufigsten abgrenzen. „Ist halt ein Projekt, aber ansonsten habe ich keinen Bezug zu X. (…) Ja, aber es [ist] halt auch das Schöne, dass man auch im Grunde genommen, dass man sich nicht derart mit dem Auftraggeber identifiziert oder identifizieren muss, wie jetzt ein Angestellter muss.“ (H3/IT-Spezialist) „Weil man fühlt sich schon als Teil, nicht dieses Verlags, aber Teil der Menschen, mit denen man zusammenarbeitet.“ (F13/Journalistin) „Ich bin außerhalb [des Verlags X]. Ja, ich bin außerhalb. Ich bin mein eigener Herr.“ (H25/Journalist)
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Wie die Beispielzitate zeigen, wird dieser Abstand zur Organisation positiv wahrgenommen. Abgrenzungen von den Arbeitsaufgaben oder den Kollegen nimmt dagegen keiner der Interviewten explizit vor. Nachdem oben erläutert wurde, dass sich die Befragten im Hinblick auf die Präferenz der flexiblen Beschäftigung unterscheiden, stellt sich die Frage, ob die unterschiedlichen Präferenzausprägungen mit der emotionalen Verbundenheit zusammenhängen. Auf den ersten Blick sind zunächst keine Unterschiede zu erkennen: Sowohl Personen mit niedriger als auch mit hoher Präferenz berichten von emotionaler Verbundenheit. Alle beschriebenen Fokusse – Organisation, Aufgabe/ Tätigkeit, Kollegen/ Führungskraft – werden von Befragten aus allen Präferenzkategorien genannt. Insbesondere die Bindung an Kollegen und Führungskräfte wird unabhängig von der Präferenzausprägung häufig angesprochen. In Bezug auf die Organisation deuten sich jedoch Unterschiede an. Dieser Bezug wird eher von Interviewten ins Spiel gebracht, die niedrige Präferenz für flexible Beschäftigung aufweisen. Zusätzlich zeigen sich qualitative Unterschiede in der Identifikation mit der Organisation entlang der Präferenz: Interviewte mit hoher Präferenz bekennen sich insgesamt nicht nur seltener zur Organisation als Ganzes, ihre Aussagen sind auch zurückhaltender. So beschreibt H28/Schauspieler beispielsweise erst auf genaue Nachfrage der Interviewerin Identifikation mit der Organisation; und auch dann fällt diese eher vage aus: „(…) vielleicht in dem Sinne, dass man natürlich hinter der Arbeit, die so ein Theater macht, steht, oder hinter der Leitung, oder überhaupt, wie sich das Theater präsentiert, dass man dahinter steht, insofern schon.“ Interviewte mit niedriger Präferenz äußern größere Begeisterung für die Organisation (vgl. F17/Projektassistentin weiter oben). Zusammenfassend zeigt die Analyse zu den emotionalen Bezugspunkten bei der Arbeit, dass sich auch flexibel Beschäftigte emotional an den Arbeitsplatz binden. Die Entstehung dieser Bindung ist auf den alltäglichen Kontakt mit anderen Menschen, Kollegen und Führungskräften, zurückzuführen sowie auf die ausgeführten Tätigkeiten. Das Verhältnis zur Organisation ist weniger eindeutig. Von dieser grenzen sich die Befragten zum Teil bewusst ab und betonen eine vorhandene Distanz. Am ehesten berichten flexibel Beschäftigte mit niedriger Präferenz von Identifikation mit der Organisation – doch auch für diese trifft dies nicht durchgehend zu.
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Schlussfolgerungen
Ziel dieses Beitrags war es, auf der Grundlage von Interviews Antworten auf die folgenden zwei Fragen zu explorieren: Wie beurteilen flexibel Beschäftigte ihr Beschäftigungsverhältnis? Wie verändert sich die Beziehung zwischen Organisation und Beschäftigtem bei flexibler Beschäftigung? Die Analyse ergab, dass flexible Beschäftigung von den Betroffenen differenziert beurteilt wird – und nicht als pauschal negativ oder zweitklassig. Während einige die Möglichkeiten einer abwechslungsreichen, selbstgesteuerten Karriere begrüßen, sind andere verunsichert und hoffen auf den (baldigen) Einstieg in die Normalbeschäftigung. Eine objektive Grundlage für die Bewertung ließ sich in den Gesprächen nicht eruieren – vielmehr zeigt sich, dass die Bewertung der Beschäftigungsform durch eine Vielzahl individueller Faktoren und unterschiedlich gewichtete Wahrnehmungen geprägt ist. Die emotionale Bindung an den Arbeitsplatz verschwindet allerdings nicht durch die losere vertragliche Verpflichtung – dies verhindern der Kontakt zu den Arbeitskollegen und der Spaß an der Arbeitstätigkeit. Schwieriger ist jedoch die Rolle der Organisation selbst – mit dieser identifizieren sich nur wenige der Befragten. Personen mit hoher Präferenz richten ihren Fokus wohl eher unabhängig von der einzelnen Organisation und über diese hinaus aus. Bei den Personen mit niedriger Präferenz ist das Ergebnis gemischt – manche begeistern sich für die Organisation, andere grenzen sich klar ab. Es deuten sich somit wichtige Implikationen an: Weder können flexibel Beschäftigte als homogene Gruppe betrachtet werden, noch sind ihre Einstellungen leicht von objektiven Gegebenheiten abzuleiten. Diesem komplexen Gefüge müssen sich Forschung und Praxis im Zuge des Wandels auf dem Arbeitsmarkt stellen.
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Abweichung und Norm in der Figur des unternehmerischen Selbst. Eine Spurensuche am Beispiel des Mitarbeitergesprächs Hannes Krämer
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Einleitung
Der vorliegende Beitrag1 fragt anhand des Verhältnisses von Norm und Abweichung nach wechselseitigen und widerstreitenden Anforderungen zeitgenössischer Erwerbsarbeit. Den Ausgangspunkt meiner Überlegungen bildet dabei der viel attestierte Wandel von Arbeit in der Spätmoderne. Aktuelle Arbeitsformen, so ist zu hören, haben das Normalarbeitsverhältnis verabschiedet, der Trennung von Arbeit und Privatsphäre ihre Trennschärfe geraubt, ja die Transformation der Arbeit selbst läute sogar das Ende der Erwerbsgesellschaft ein (vgl. exemplarisch J. Rifkin 2004). Der Weber’sche „Geist des Kapitalismus“ sei abgelöst von einem „Neuen Geist“ (vgl. L. Boltanski/ E. Chiapello 2006), der nunmehr der ‚alten’ Logik des Betriebes mit seiner hierarchisch strukturierten Organisation eine flach-hierarchische Logik des Netzes und Projekts entgegenstellt (ebd.). Diese Veränderungen beziehen sich nicht nur auf allgemeine Bestimmungen von Arbeit, sondern haben ebenso Auswirkungen auf das Arbeitssubjekt selbst; sowohl auf dessen Identitätsbildung und seine Karrierewege, als auch auf die ins Subjekt eingeschriebenen und das Subjekt formenden Verfahren und Technologien der Koordination und Kontrolle der Erwerbstätigkeit. Vor allem (neo-)kritische und poststrukturalistische Positionen in den Sozialwissenschaften untersuchen diese Arten und Weisen, mit denen ein Subjekt zu einem arbeitsund marktfähigen Teilnehmer (neoliberaler) Arbeitswelten wird. Dabei ist eine in dieser Debatte immer wieder auftauchende Figur die des ‚Unternehmers’. Es handelt sich, folgt man den governementality studies, geradezu um eine Renaissance des Unternehmerischen als zentrale Subjektivierungsform in spätmodernen Ökonomien, wie es einerseits in Managementratgebern, politischen Experten-
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Ich danke den Schweizer Hochschulen, die die Datengrundlage dieses Papiers – ihre internen Personalführungsdokumente zum Mitarbeitergespräch – so unkompliziert zur Verfügung gestellt haben. Außerdem habe ich Anna-Lisa Müller und Anja Vatter für ihre wertvollen Kommentare zu diesem Beitrag zu danken.
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gremien und ökonomischen Think-Tanks beschrieben und andererseits in den (zuerst angloamerikanischen) Sozialwissenschaften diskursiv behandelt wird.2 Diese für die Diskussion um ‚neue’ Formen und Identitäten der Arbeit prominente Figur des Unternehmers oder in einem an Foucault geschulten subjekttheoretischen Verständnis die des unternehmerischen Selbst, soll Bezugspunkt meiner weiteren Überlegungen sein. Denn gerade in dieser Figur verdichten sich zentrale Aspekte der Diskussion um aktuelle Anforderungen zeitgenössischer Erwerbsarbeit. In den Mittelpunkt rückt – die Bezeichnung deutet es an – das Unternehmerische, welches allerdings von einem weiteren Muster überlagert und mit diesem verbunden wird: dem Kreativen. Kreativität ist in diesem Zusammenhang ganz allgemein als Markierung einer möglichen und gewollten Abgrenzung oder Abweichung von hergebrachten resp. überholten Lösungen, Produkten, Praktiken etc. zu verstehen; als eine „schöpferische Alterität“ (U. Bröckling 2007: 179). Zusammen mit dem Unternehmerischen wird Kreativität zu einer ökonomischen Ressource: „Schöpferische Zerstörung ist die ökonomische Funktion des Unternehmers, sein Gewinn resultiert aus der ‚Durchsetzung neuer Kombinationen’“ (U. Bröckling 2004: 141). Vor dem Hintergrund der Orientierung am Unternehmertum soll die folgende Analyse Aufschluss darüber geben, welchen Anforderungen das moderne Arbeitssubjekt ausgesetzt ist. Was bedeutet es, wenn das unternehmerische Selbst in einen organisationell gerahmten und damit auch notwendig normierten und normierenden Arbeitskontext eingebunden ist und gleichzeitig der Forderung nach Kreativität und Abweichung unterworfen ist? Welche Spannungen oder Paradoxien ergeben sich daraus? Auf der Grundlage ausgewählter Daten zum Personalführungsinstrument ‚Mitarbeitergespräch’ sollen diese Anforderungen empirisch nachgezeichnet werden. Ich stütze mich bei der theoretischen Rekonstruktion des unternehmerischen Selbst vornehmlich auf die Arbeiten von Ulrich Bröckling. Obwohl dieser nicht als Vorreiter der Debatte um ein ‚enterprising self’ angesehen werden kann, sind diese Analysen von Interesse, da sie stark rezipiert werden sowie Bezug nehmen auf eine arbeitssoziologische Diskussion, welche für die vorliegenden Überlegungen den Hintergrund bildet.
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Das unternehmerische Selbst
In der Subjektivierungsform des Selbstunternehmers verdichtet sich für das spätmoderne (Arbeits-)Subjekt die Anforderung, ein in jeder Hinsicht marktförmiges Subjekt zu werden. Das heißt, das eigene Dasein nach den Regeln des 2
Für eine Analyse der Managementratgeber vgl. U. Bröckling 2007; zur früheren Debatte um das „Enterprising Self“ vgl. N. Rose 1992.
Abweichung und Norm in der Figur des unternehmerischen Selbst
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Marktes zu organisieren – das gilt für den Arbeitsmarkt genauso wie für den Markt der Partnerwahl oder den Freizeitmarkt: Man mag die Programme und erst recht die an sie gekoppelten Erwartungen als Zumutungen begreifen, doch es fällt in dem Maße schwer, in dem die zu unternehmerischem Handeln Aufgerufenen sich nicht nur einer generalisierten Semantik des Marktes gegenübersehen, sondern der Markt auch höchst praktisch als ‚eine Art permanentes ökonomisches Tribunal’ (Foucault) fungiert, vor dem sie ihr gesamtes und nicht nur ihr wirtschaftliches Handeln zu verantworten haben (U. Bröckling 2002: 7f.).
Dieser Marktförmigkeit begegnet das Subjekt, indem es sich als Unternehmer begreift. Das Leben wird zum eigenen Unternehmen, das Selbst zum Entrepreneur des biographischen Abenteuers unter den Regeln der (Selbst-)Vermarktung. Damit ist das unternehmerische Selbst, bezogen auf den Arbeitsmarkt, nah an dem, was in der Arbeitssoziologie als „Arbeitskraftunternehmer“ (G. Voß/ H. J. Pongratz 1998) diskutiert wird. Also jener idealtypischen Figur, bei der die Ware Arbeitskraft nicht nur auf einem Markt angeboten wird, sondern bei der der Arbeitende Unternehmer des eigenen Arbeitsvermögens wird, d.h. kontinuierlich und aktiv an der Optimierung seiner Arbeitskraft arbeitet. Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung sind danach die zentralen Stichworte aktueller Arbeitsidentität.3 Dabei ist der Anspruch des unternehmerischen Selbst (und auch des Arbeitskraftunternehmers) ein totaler: Nicht nur in der Bewerbungssituation, sondern innerhalb des gesamten Arbeitslebens, ja selbst über die Arbeitszeit hinaus, ist das Arbeitssubjekt auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen, die einem potenziellen (beruflichen) Fortkommen dienlich sind (vgl. G. Voß/ H. J. Pongratz 1998; U. Bröckling 2007: 55). Die Exploration von Neuem bzw. Abweichendem ist das Kernmoment des Unternehmers und zentrales Merkmal der Subjektivierungsform des unternehmerischen Selbst. Bröckling identifiziert in seiner Genealogie des Unternehmers vier Grundfunktionen: Der Unternehmer ist danach findiger Nutzer, innovativer Neuerer, ‚Unsicherheitsabsorbator’ und schließlich Koordinator von Produktion und Vermarktung (U. Bröckling 2007: 110). Trotz dieser Vierteilung nimmt aber gerade die Fähigkeit zur Innovation eine herausragende Stellung ein. Das ergibt sich aus der Frage nach wirtschaftlichem Fortschritt und aus der Betonung eines dynamischen Verständnisses des Marktes. Denn, so Bröckling, der Markt wächst nicht allein durch Wettbewerb, sondern maßgeblich durch die Fähigkeit des Unternehmers, Innovationen zu schaffen (vgl. ebd.: 115ff.).
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Zur Differenz von Arbeitskraftunternehmer und Selbstunternehmer vgl. U. Bröckling 2007:47f.
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Hannes Krämer
Der Unternehmer wird damit, in Anlehnung an Schumpeters „schöpferische Zerstörung“ (1946: 134ff.), zu einer Figur, die aus vertrauten Routinen ausbricht, Neues (er)findet und von den normierten Abläufen alltäglicher Produktionsroutinen abweicht. Innovation und Kreativität, so kann man zusammenfassen, sind zwar nicht das einzige, aber wohl das zentrale Strukturierungsmoment des unternehmerischen Selbst (vgl. U. Bröckling 2007: 124f.). Dabei können Innovation und Kreativität hier als funktionale Äquivalente verstanden werden und zwar in dem Sinne, dass beide den dynamischen Charakter aktiver Zuwendung zur Entdeckung bzw. Hervorbringung von Neuem betonen. Kreativität und Innovation werden in der Perspektive des Selbstunternehmers zur Grundbedingung ökonomischen Handelns.4 Zu fragen ist nun, wie sich eine solche Anforderung im Arbeitsprozess niederschlägt. Wie ist sie organisationell anschlussfähig, wo sich doch wirtschaftliche Unternehmungen an vorgegebenen und im ersten Zugriff ‚starren’ Programmen, Abläufen, Routinen usw. strukturieren? Bei Schumpeter war das noch über ‚Exklusivität’ möglich: Nur wenige seien in der Lage, den „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ durchzuführen, während das Gros der Arbeitssubjekte eher dem rationalisierten und entpersönlichten Prozess der bürokratischen (Fremd)Steuerung unterworfen ist (vgl. U. Bröckling 2007: 116). Die Forderung nach unternehmerischer Abweichung wird getragen von einigen wenigen. Bei der Figur des unternehmerischen Selbst hingegen handelt es sich, bezogen auf diese individualisierte und besondere Art der „Führerschaft“ (etwa J. A. Schumpeter 1928: 482) um ein allgegenwärtiges und auf jeden zutreffendes Merkmal. Die Trennung zwischen dem kreativen, aktiven Unternehmer und dem ausführenden, passiven Bürokraten löst sich auf und wird in das Arbeitssubjekt selbst verlagert. Das – so meine Vermutung – ruft widersprüchliche Anforderungen hervor, die innerhalb des Spannungsfeldes von Abweichung (Kreation, Innovation, Schöpferisches) und Normierungen (klassische ökonomische WertOrientierung, verankerte und routinierte Arbeitsprozesse innerhalb der Organisation) pendeln.5 4
5
Auch aus anderen Perspektiven wird eine radikale Aufwertung von Kreativität als zentrales Merkmal spätmoderner Ökonomien und Gesellschaften betont (vgl. exemplarisch A. Reckwitz 2006: 441ff.; S. Lindner 2005). Diese Gleichzeitigkeit beider Elemente, also sowohl der Forderung nach Abweichung als auch der Orientierung an den Normen des Betriebsalltags, sieht auch Bröckling, schenkt ihm aber eher periphere Bedeutung. Er verweist auf O’Malleys „enterprising-prudentialism“ (P. O’Malley 2000: 465), welcher eine Hybridform zwischen dem unternehmerischen und einem nüchtern rechnenden Arbeitssubjekt beschreibt (U. Bröckling 2007: 125; 2002: 24). Diese Gleichzeitigkeit tritt allerdings bei Bröckling zugunsten eines Vorrangs des Unternehmerischen zurück, so dass die ausführenden und kalkulierenden Tätigkeiten – wenn überhaupt – der gezielten Platzierung von Innovativen dienen.
Abweichung und Norm in der Figur des unternehmerischen Selbst
3
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Das Mitarbeitergespräch
Die Anforderungen an das Arbeitssubjekt lassen sich anschaulich anhand der Bemühungen um Aufgabenkooperation und Leistungsbewertung nachvollziehen. Intern produzierte Dokumente wie etwa Stellenanzeigen, Festreden, Leitfäden und Merkblätter, aber auch ganz allgemein jegliche Instrumente der Personalführung können als Datenkorpus dienen. So wird der Blick auf die Ordnung des Denk- und Sagbaren innerhalb der Arbeitspraxis von Unternehmen gelenkt. Als ein Beispiel hierfür dient im Folgenden das Instrument des Mitarbeitergespräches in der öffentlichen Verwaltung.6 Die öffentliche Verwaltung ist seit den frühen 1990er Jahren regen Reformbemühungen ausgesetzt, die sich in Deutschland wohl am prominentesten im Begriff des „Neuen Steuerungsmodells“ (KGSt 1993) niederschlagen und in der Schweiz als „Wirkungsorientierte Verwaltungsführung“ (vgl. A. Lienhard et al. 2005) wirkmächtig werden. Es handelt sich bei diesen Formen des New Public Managements um eine internationale Reformbewegung, welche die Verwirklichung einer dezentralen und ergebnisorientierten Verwaltungssteuerung anstrebt. In diesem Zuge wird mit einer Orientierung am ‚Bürger als Kunden’ der Verwaltungsbeamte selbst zum Dienstleister, der somit auch den Programmen unternehmerischer (Selbst-)Regierung unterworfen ist. So heißt es beispielsweise im Vorwort einer Broschüre des Innenministeriums Baden-Württemberg zur Rolle des Mitarbeitergesprächs in der Verwaltungsreform: „Die gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen […] können […] nur mit kreativen und engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewältigt werden, […] die in den Leistungsprozess der Landesverwaltungen als ‚Dienstleitungsunternehmen’ eingebunden sind“ (Innenministerium Baden-Württemberg 1997: 3; Hervorhebung H. K.). Das Mitarbeitergespräch kann im weiteren Sinne als eine „kommunikative Gattung“ (S. Günthner/H. Knoblauch 1997) beschrieben werden, die eine gezielt herbeigeführte, turnusmäßige und zweckgebundene Gesprächssituation von direktem Vorgesetzten und Mitarbeiter/in meint. In der Management- und Personalführungsliteratur wird das Mitarbeitergespräch als ein Führungsinstrument verstanden, welches in der Regel einmal pro Jahr und Mitarbeiter eingesetzt wird, um die Arbeitsleistung und die persönliche Arbeitsweise einer Beurteilung zu unterziehen sowie einen Ausblick auf die Zukunft der Anstellung zu geben. Eine praxisnahe Einführung stellt das so dar: Unter vier Augen werden – mit bewusstem Abstand zum Tagesgeschehen – zentrale Inhalte der Beziehung zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten systematisch 6
Dieses scheint mir geeignet, da hier explizit auf die Vorstellungen ‚guten’ Arbeitens (aus Sicht des Unternehmens) eingegangen wird.
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Hannes Krämer erörtert: Zum einen entsteht in einer Rückschau auf das vergangene Jahr eine Bilanz der bisherigen Leistungen und der Art der Zusammenarbeit; der zweite Teil ist eine Vorausschau, in der Ziele und Unterstützungsmaßnahmen für den Mitarbeiter sowie Spielregeln und Kooperationen vereinbart werden. (R. Nagel/ M. Oswald/ R. Wimmer 1999, S. 13)
Und ein Praxisleitfaden zum Mitarbeitergespräch beschreibt das wie folgt 7: Das MAG dient der Standortbestimmung sowie dem Ausblick auf die berufliche Zukunft der Mitarbeitenden und stellt zugleich eine Aufgaben- und Leistungsvereinbarung dar. Außerdem ist die Beurteilung von Leistung und Verhalten die Basis für die individuelle Gehaltsentwicklung (Leistungsaufstieg). Im Gespräch werden Fremd- und Selbsteinschätzung einander gegenübergestellt. (LF1)
Das Gespräch wird begleitet von einem Beurteilungsformular, auf dem einzelne Kriterien (und deren Entwicklung) abgefragt und vermerkt werden (für ein Beispiel vgl. Abb. 1). Beurteilt wird die Erreichung oder Einhaltung der Kriterien anhand eines Notensystems.
4
Das Mitarbeitergespräch: Anforderung zwischen Abweichung und Norm
Mit dieser Kombination von Klassifikations- und Standardisierungsbestrebungen (z.B. durch Noten, Formulare) mit einem offenen Gespräch ist eine erste Besonderheit des Mitarbeitergespräches benannt. Analog zu den neuen Steuerungsbestrebungen wird versucht, Normierung und Beurteilung mit dialogischen Mitteln zu verbinden. Es soll – so die Leitfäden zum Mitarbeitergespräch – eine „dialogische Verständigung“ (LF2) angeregt und „Zeit und Gelegenheit für einen Austausch, der in der Hektik des Alltagsgeschäfts oft zu kurz kommt“ (LF3), gegeben werden, so dass „Selbst- und Fremdbild[er] Ausgangspunkt einer ge7
Die folgenden Beispiele zu den Mitarbeitergesprächen sind – wenn nicht anders belegt – allesamt dem Verwaltungskontext Deutschschweizer Hochschulen und Universitäten entnommen. In der Regel handelt es sich pro Hochschule um einen Leitfaden, der in den Zweck und in die Verwendung des Mitarbeitergesprächs einführt, sowie um einen Beurteilungsbogen, der in den jeweiligen Gesprächen verwendet wird. Insgesamt wurden Unterlagen zu Mitarbeitergesprächen von 19 Institutionen in meine Analyse einbezogen. Zum besseren Verständnis des Instrumentes wurden zwei Experteninterviews (mit einer Mitarbeiterin und einer Personalverantwortlichen) geführt. Da es sich um interne Dokumente handelt, werden die Zitate – erst Recht aufgrund der Bitte der beteiligten Institutionen – anonymisiert verwendet. Dabei steht ‚MG’ für den Gesprächsbogen zum Mitarbeitergespräch und ‚LF’ für den Leitfaden. Die Institutionen sind nach dem Erscheinen im Text durchnummeriert. MG1 und LF1 gehören damit zur erstgenannten Hochschule/Universität.
Abweichung und Norm in der Figur des unternehmerischen Selbst
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meinsamen Reflexion“ (LF4) werden und die Mitarbeitenden bewusst einbezogen und ermuntert werden, „die MAB [Mitarbeiter/innen-Beurteilung] in allen Phasen“ (LF5) mitzugestalten und „Erwartungen und Befindlichkeiten sowie Wertschätzung und Dank auszusprechen“ (LF3).8 Außerdem soll Vergleichbarkeit mit den Beurteilungen des vorausgegangenen Jahres hergestellt werden: Die Beurteilungen werden in standardisierten Bögen erfasst, Noten vermerkt, elektronisch oder manuell archiviert und können zum Abgleich hervorgeholt werden. Das heißt, trotz der Betonung einer offenen Gesprächssituation sind es rechnerische und standardisierte Techniken, die zur Erfassung der Gesprächsergebnisse verwendet werden; mit dem Notensystem erinnern sie sogar an klassisch hierarchische Ausbildungsverhältnisse.9 Mehr noch, die diesem schriftlichen Vermerken und rechnerischen Erfassen zugrunde liegende Logik lässt sich trotz des Dialogischen als ein standardisierter Reflex von Messbarkeit und Vergleichbarkeit aufgrund von Indikatoren charakterisieren. Der gewünscht offene und dialogische Prozess alljährlicher Leistungsbewertung wird so mit einer standardisierten, normierten und normierenden Praxis der Personalführung parallelisiert. Eine solche Normierung zeigt sich auch in den verwendeten Kategorien zur Erfassung des Arbeitsverhaltens und der Zielerreichung. Dabei sind die Bögen der verschiedenen Institutionen ähnlich aufgebaut. Nach allgemeinen Daten zur Person (Name, Position etc.) und einer kurzen Stellenbeschreibung folgt der Merkmalskatalog, anhand dessen sich das Gespräch strukturieren soll.10 In diesem werden die verschiedenen Kriterien erwünschter Arbeitsleistung formuliert und klassifiziert: So spielt das ‚richtige’ „Verhalten“ (MG4) (persönliches Verhalten, Unternehmerisches Denken, Veränderungsbereitschaft) ebenso eine zentrale Rolle wie „Leistungskriterien“ (MG5) (Fachkenntnisse, Ergebnisse) oder Kriterien der „Arbeitsorganisation“ (MG5). Abschließend gibt es eine Rubrik für
8 9
10
Die Mitarbeitenden haben (zumindest theoretisch) die Möglichkeit, Einspruch gegen ihre in den Bögen festgehaltenen Beurteilungen einzulegen. Das könnte eine nicht unwichtige Rolle bei der internen Ablehnung des Mitarbeitergesprächs von Seiten der Mitarbeitenden spielen; ein Punkt, der sowohl in der Literatur (vgl. exemplarisch O. Neuberger 1980: 22f.) als auch in den von mir geführten Experteninterviews genannt wird. Es gibt auch die Gesprächsbögen (ca. ein Viertel der hier analysierten), bei denen ein Großteil der Kategorien offen ist. Zum Umgang damit: „Die standardisierten Ziele betreffend Stellenbeschreibung sind zu gewichten (z.B. 60%). Ergänzend zu den in der Stellenbeschreibung festgehaltenen Aufgaben gibt es oft noch zusätzliche einmalige Aufgaben oder Anforderungen, die innerhalb einer bestimmten Zeit erfüllt werden müssen. Diese Ziele bezeichnen wir als individuelle Leistungsziele, welche ebenfalls gewichtet werden (z.B. 40%). Auch können sich Ziele aus bestimmten neuen Anforderungen an das Können oder Verhalten von Mitarbeitenden ergeben“ (LF6).
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Zusammenfassung und Ausblick (Ziele), komplettiert mit der Unterschrift beider Gesprächsteilnehmer. Konkret kann das am untenstehenden Beispielbogen (Abb. 1) verdeutlicht werden: Unter dem Punkt „Leistungs- und Verhaltensbeurteilung“ wird die Überschrift „Selbständigkeit und Arbeitsorganisation“ näher spezifiziert als: „[d]enkt aktiv mit; übernimmt Verantwortung; plant den Arbeitsablauf selbständig; ist zuverlässig“ (MG1). Leistungs- und VerhaltensbeurA++ teilung Selbstständigkeit und Arbeitsorganisation Denkt aktiv mit; übernimmt Verantwortung; plant den Arbeitsablauf selbständig; ist zuverlässig Initiative und Flexibilität Greift anstehende Probleme auf; ist umsetzungsorientiert; schöpft den Entscheidungsspielraum aus Teamverhalten und Zusammenarbeit Arbeitet kooperativ im Team zusammen; bietet Hilfe und Unterstützung an; steht zu begangenen Fehlern Unternehmerisches Handeln Handelt lösungs- und zielorientiert; setzt sich durch; denkt an Aufwand/Nutzen
A+
A
B
C
Begründung/Maßnahme
Abb. 1: Ausschnitt aus einem Bogen zum Mitarbeitergespräch, MG1
Selbstständigkeit lässt sich dabei auf die initiative und aktive Mitarbeit beziehen; das heißt eigenständig (und unternehmerisch) zu entscheiden, wann welche Aufgaben anstehen, wie diese am besten organisiert werden usw.; Selbstständigkeit und Arbeitsorganisation gehen hier Hand in Hand. Das steht in einem deutlichen Gegensatz zum tayloristischen Arbeitsideal mit seinen klar abgegrenzten und eingeteilten Arbeitsabläufen. Dort plante man die Arbeitorganisation nicht selbstständig. Vielmehr wurden Abläufe von oben vermessen, zergliedert und „nach den Kriterien größtmöglicher Effizienz wieder neu zusammen[gesetzt]. Psychophysische Steuerung wurde zugunsten der Rhythmen einer idealisierten Kraftökonomie gelöscht“ (F. Betz/ J. Riegler 2003: 82). Das in den Abläufen durchrationalisierte Arbeitssubjekt des Taylorismus, das bei der Arbeit „außer
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sich war“ (K. Marx 1982: 367), ist hingegen in der zeitgenössischen Projektlogik notwendig „bei sich“ (ebd.), wird doch eine aktive, d.h. auch kognitiv ganzheitliche Bezugnahme zum Arbeitsprozess (und zur -organisation) gefordert. Im hier zitierten Fall geht es um den aktiv hergestellten Erfolg, es zählt das Ergebnis, der Weg unterliegt nicht mehr der Kontrolle des Managements (und wird daher auch nicht als Kriterium benannt), er scheint eher ‚zweitrangig’.11 Aber wie kann man sich in einem solchen Fall der Qualität der Ergebnisse versichern oder anders gefragt: Verabschiedet man die Mitarbeitenden in die Autonomie eigener Arbeitsorganisation, wohin wird dann die Kontrolle über die erwünschte Produktion von Ergebnissen (z.B. Einhaltung von Zielen, Produkten, Ideen etc.), die vormals an die strengen Regularien der Betriebsführung geknüpft waren, verlagert? Die Kontrolle wird verschoben auf einen Aspekt des Qualitätsmanagements – nämlich auf ‚Zuverlässigkeit’ und damit in die Verantwortlichkeitssphäre des Arbeitssubjekts selbst. Zuverlässigkeit übernimmt die Funktion der Unsicherheitsreduktion. Dass diese damit genauso Disziplinar- und Kontrollmechanismus ist, wurde verschiedentlich dargelegt (vgl. etwa D. Sauer/ V. Döhl 1994). Zuverlässigkeit, als die erwartete Übereinstimmung mit einem erklärten Ziel oder Ergebnis, impliziert in der Logik des Unternehmens nun etwas, was eher dem Bereich normierender Abläufe zuzuordnen ist und weniger der (unternehmerischen) Abweichung. Zuverlässig zu sein bedeutet, mit dem erwarteten Ergebnis rechnen zu können und zwar zum rechten und festgelegten Zeitpunkt („Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit“ (MG7)) und in der erwarteten Qualität (etwa „Arbeitsausführung und Arbeitsergebnis“ (MG5) oder „breite und tiefe Fachkenntnisse“ (MG3)). Die Form der Kontrolle verlagert sich somit zeitlich: auf den Moment der Abgabe resp. der Präsentation des Ergebnisses oder eben – das entspräche der Logik des Selbstunternehmers – in die stete Selbstbefragung des Arbeitssubjekts. Sie bleibt aber rückgebunden an die organisationellen Gütekriterien, an Deadlines, Qualitätsstandards usw., etwas, das der Grundidee der Innovation oder Kreativität nicht zwangsläufig zuwiderlaufen muss, aber in einer deutlichen Spannung dazu steht, da doch Kreativität beim Selbstunternehmer als „schöpferische Alterität“ (U. Bröckling 2007: 179), also als Abweichung von den standardisierten und normierten Wegen konzipiert ist. Der eröffnete Freiraum selbstständiger Arbeitsorganisationen steht damit in einem Spannungsverhältnis zur Vorgabe messbarer Qualitätsstandards bzw. spannt sich erst zwischen den vorgegebenen Standards auf. Genauso wie Selbstständigkeit betonen auch „Initiative und Flexibilität“ (vgl. Abb.1) auf den ersten Blick eher die Abweichung und weniger die Norm. 11
Vgl. dazu die Analyse von Neckel (2001), der der zeitgenössischen Marktgesellschaft eine Umstellung von Leistung auf Erfolg attestiert.
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Es geht darum, eine umsetzungsorientierte Lösung für ein identifiziertes Problem zu erarbeiten. Dabei soll der gesamte Entscheidungsspielraum ausgeschöpft werden. Flexibilität soll eben nicht an eine penible Auslegung der Vorschriften rückgebunden werden. Flexibilität setzt aber, sonst würde es sich nicht um eine solche handeln, eine stabile(re) Gegenseite voraus, der gegenüber man sich flexibel zu verhalten weiß. Das impliziert, dass man die Dimensionen des eigenen Spielraums, inklusive seiner Grenzen, kennt, denn nur so ist dieser auszuschöpfen. Der Spielraum bestimmt die Grenze und ist zugleich dieselbe: Tätig werden die Mitarbeitenden in diesem Spielraum und nicht darüber hinaus – die Entscheidungsbefugnis also bewegt sich im festgelegten Rahmen vorgegebener Verantwortungsbereiche. Die Initiative orientiert sich dabei zudem an den „Leitideen und Zielen von Amt und Abteilung“ (MG7), die deshalb „zu kennen“ (ebd.) seien. Sie wird damit in den Dienst der Organisation gestellt: Der individualisierte Selbstunternehmer wird zum Subjekt zwar flexibler und initiativer Bestrebungen, unterwirft diese aber den vorherrschenden Regeln und Normen. Die Suche nach originellen Lösungen wird damit zu einem Abwägen zwischen den Anforderungen der Organisation und den abweichenden Selbstanforderungen. Auch praktisch ist die Forderung nach totaler Flexibilität nicht durchzuhalten: Obwohl man sich „dem Diktat der Flexibilität folgend unablässig verändern und umstrukturieren“ (T. Lemke 2004: 87) muss, arbeiten Unternehmen ebenso mit langfristigen Zielen, die etwa mithilfe von Positionierungen, Strategieplänen und auch Mitarbeitergesprächen vereinbart werden. So gibt es in den meisten Gesprächsbögen eine Rubrik zur „Zielformulierung“ oder „Zielvereinbarung“, sowie zu „Förderungs- und Entwicklungsmaßnahmen“ (etwa MG8). Hier werden die „Prioritäten des Zieles, Erreichbarkeit des Ziels, benötigte Mittel zur Zielerreichung, Messgrösse[n] […] schriftlich fest[gehalten]“ (MG6). Dies lässt sich mit Foucault (2006: 89) als eine disziplinäre Normalisierungstechnik beschreiben, die auf der Basis der Erfassung und Klassifikation bestimmter Ziele und der Ausrichtung auf ein Optimum operiert.12 An solchen Punkten wird wieder die Bestrebung deutlich, in steten Vermittlungsbemühungen mit den Zielen der Organisation bzw. mit den Verfahrensregeln zu stehen, um der Anforderung, die „Aufgaben dienstleistungsorientiert, vertrauenswürdig, wirtschaftlich und innovativ“ (MG6) zu erfüllen, gerecht zu werden.
12
Foucault nennt noch ein viertes Charakteristikum der Disziplinierungstechniken: die mit dieser ‚Operation’ vollzogene Trennung von normal und anormal (Foucault 2006: 89). Bei den Mitarbeitergesprächen würde sich das etwa im Notensystem finden und – differenzierungstheoretisch formuliert – eher nach der Trennung ergebniserfüllend/nicht-ergebniserfüllend prozessieren.
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Was vor allem beim Leitbild der „Selbstständigkeit“, aber auch bei der „Initiative und Flexibilität“ betont wird, ist das einzelne Arbeitssubjekt und nicht das Kollektiv. Diese Form der selbstständigen Planung steht in einem Spannungsverhältnis zur Forderung nach Kooperation im Team (vgl. „Teamverhalten und Zusammenarbeit“, Abb. 1), also zu jenem Bereich, bei dem gemeinsame (häufig auch langfristige) Verabredungen und Prozessregeln die eigene Initiative stetig rückbinden an eine gemeinsame Zusammenarbeit. Reckwitz charakterisiert dieses „Verhältnis zwischen der dezidierten Selbstorientierung […] und [einer] simultanen Team- und Netzwerkorientierung“ (A. Reckwitz 2006: 524) als widerspruchsanfällig. So wird etwa die Vergegenwärtigung eines Fehlereingeständnisses zum komplexen Fall, muss man sich doch hier fragen, ob der Einzelne oder das Team aufgrund eigener oder kollektiver Fehlleistungen verantwortlich ist. Im Falle des Teams wäre zu fragen, wer zur Rechenschaft zu ziehen ist, denn die Zurechnung von Fehlern basiert, zumindest nach der Logik des Mitarbeitergesprächs und des unternehmerischen Selbst, auf der Zurechnung auf Einzelne und nicht auf das Kollektiv. In dieser potentiellen Widerspruchsanfälligkeit – aufgrund der strukturlogischen Inkohärenz ist ein Widerspruch stärker möglich – ist die Spannung, zwischen der Abweichung des Einzelnen und der Orientierung an den Normen des Teams und/oder der Gesamtorganisation schon angelegt. Ebenfalls quer zur Teamorientierung befindet sich die im Gesprächsbogen als „unternehmerisches Handeln“ (vgl. Abb. 1) charakterisierte Anforderung. Hier liegt die Prämisse auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül, welches dem Arbeitssubjekt als rational abgewogene Entscheidungsgrundlage stets vor Augen ist. Zugleich muss sich dieser inaugurierte Homo Oeconomicus auf dem internen ‚Markt’ „durchsetzen“ (MG1); gefordert wird Durchsetzungsvermögen, also (argumentative, instrumentelle etc.) Stärke. Hier wird ein ähnlicher Widerspruch deutlich wie schon bei der Forderung nach Initiative: Weder harmoniert die Durchsetzung eines Kosten-Nutzen-abgewogenen Handelns mit der empathischsolidarischen Perspektive der Teamarbeit (der es auch um Hilfe und Unterstützung geht), noch scheint die Abwägung von Aufwand und Nutzen der Idee eines kreativen, flexiblen Arbeitens zuträglich (vgl. etwa W. Rammert 2008: 303, ebenso U. Bröckling 2007: 150).
5
Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich aus diesen, bei weitem nicht erschöpfenden, Beobachtungen herausstellen, dass die Unternehmensfähigkeit des modernen Arbeitssubjekts auch in den Diskursen der öffentlichen Verwaltung eine herausgehobene Rolle spielt. Die Fokussierung auf unternehmerisches Handeln
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Hannes Krämer
und Selfempowerment sowie die Selbstökonomisierung und starke Betonung kreativer Arbeitsleistungen machen dies deutlich. Allerdings befindet sich dieser Selbstunternehmer in einer widersprüchlichen Situation: Er sieht sich verschiedenen Spannungen gegenüber wie etwa bei der Forderung Frei- oder Spielräume zu eröffnen oder der Forderung nach Eigeninitiative. Erstere werden von internen Standards eingeschränkt, letztere durch die Marktadaption an eine ökonomische Logik rückgebunden, deren Zweckrationalität als oberstes Gebot mit einem eher konträren, auf Abweichung und Kreativität geeichten Verständnis konkurriert. Ebenso ist die starke Forderung nach Teamorientierung, welche zur gleichsam zentralen Selbstorientierung in einem (potentiellen) Widerspruch steht, hier anzuführen. Es liegt somit nahe, innerhalb eines ökonomischen Kontextes neben der empirisch evidenten Perspektive des Unternehmerischen und Kreativen den Blick nicht zu verlieren für die Spannungen dieser Abweichungen mit (unternehmensinternen) Normen.13 Dies wird deutlich, wenn man sich die Auswirkungen dieses Zusammenhangs auf das Arbeitssubjekt vergegenwärtigt. Was bedeutet es, sich der steten Anforderung gegenüber zu sehen, abzuweichen und gleichzeitig an Normen anzuschließen? Es ist zu vermuten, dass solche (paradoxen) Anforderungskonstellationen Risiken wie etwa Ermüdungs- oder Erschöpfungserscheinungen bergen (vgl. A. Ehrenberg 2004, G. Wagner 2005). Es lassen sich aber neben diesen (pathologischen) Auswirkungen auch andere Wege der ‚Vermittlung’ mit diesen Anforderungen finden. Auf der Ebene der ‚Fähigkeiten’ der Mitarbeitenden etwa ist es die viel zitierte Kommunikations- und Teamfähigkeit, die solche potentiellen Widersprüche auflösen soll. Auf der Ebene der Organisationen ist die dazugehörige Installation von spezifischen Kommunikationstechniken und ‚-räumen’ zu nennen wie Supervision, Monitoring, Mediation etc., die hinsichtlich dieses Spannungsverhältnisses die Funktion übernehmen, erklärungsbedürftige Abweichungen wieder einzubinden in den allgemeinen Produktionsprozess resp. sie als Abweichung akzeptierbar zu machen. Auch auf gesellschaftlicher Ebene scheinen spezifische Strukturen geeignet, diese Widersprüche ‚auszuhalten’: etwa ein neues Arbeitsethos oder ein besonderer Professionalitätstypus (vgl. C. Koppetsch 2006, M. Pfadenhauer 13
Hier kann in Umkehrung des Konzepts des „flexiblen Normalismus“ (J. Link 1997: 51ff.) gefragt werden, wann und in welcher Form es sich bei der Fokussierung auf Abweichung um Abweichungen im Sinne von Neuheiten handelt, und wann man etwa von einer normierten Abweichung sprechen kann. Im Kontext ökonomischer Organisationen bezieht sich die Idee der normierten Abweichung auf diejenigen Praktiken, Technologien und Strategien, bei denen eine Harmonisierung mit den Rationalitäten und Logiken der Unternehmung angestrebt wird. Die geforderte „schöpferische Alterität“ (U. Bröckling 2007: 179) wird so zu einer regulierten (Neu-)Schöpfung. Zu einer kurzen Rekonstruktion der Idee ‚normaler Abweichung’ in der Soziologie (v.a. bei Goffman und Durkheim) vgl. C. Bohn 2003, 43f.
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2003), bei denen diese Widerspruchsanfälligkeit schon von Beginn der Berufslaufbahn an mitreflektiert wird, da die beiden Pole (Abweichung und Norm) stete Bezugspunkte der professionellen Identität sind.14 Kurzum, so prominent die Betonung der Abweichung als Leitbild spätmoderner Arbeit auch sein mag, es wäre verkürzt, (neuerdings) den Blick nur auf die Abweichungen zu lenken und die Normierungsbestrebungen aus den Augen zu verlieren. Denn die Orientierung an Kreativität ist keineswegs ein widerspruchsfreier und harmonischer Prozess. Sie offenbart, neben den von Bröckling u.a. konstatierten Problemen (z.B. Exklusion der Nicht-Kreativen, totaler Zugriff), eben gerade auch im Verhältnis von Abweichung und Norm widersprüchliche Anforderungen der täglichen Arbeit, die als potentielle Paradoxien stets mitlaufen und als solche auch ‚aushaltbar’ (gemacht) werden müssen.
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Berufe in der Kreativwirtschaft wären hierfür ein gutes Beispiel.
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Hannes Krämer
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Was bedeutet gesellschaftliche Verantwortung in Zeiten der Globalisierung und des wirtschaftlichen Umbruchs? Die Konstruktion einer globalen Norm zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen (ISO 26000) Maud Schmiedeknecht
Seit einigen Jahren befinden sich das globale ökonomische System, dessen Märkte und Organisationen in einem dynamischen und komplexen Veränderungsprozess; in diesem Zusammenhang ist der Begriff der Globalisierung eines der meist zitierten Schlagworte. Die Globalisierung der Märkte spiegelt sich in der Ausweitung, Intensivierung und grenzüberschreitenden Integration wirtschaftlicher Transaktionen in einem zuvor nie gekannten Ausmaß wider. Zu den Kennzeichen der ökonomischen Globalisierung gehören die internationalen Finanzmärkte und die Schaffung weltumspannender Wertschöpfungsketten durch eine Zunahme von Kooperationen transnational agierender Konzerne, den so genannten global players. Die Verflechtungen innerhalb der Finanzbranche und die Entstehung weltweiter Wertschöpfungsketten werfen eine Reihe moralisch sensibler Fragen hinsichtlich der Verantwortung von Unternehmen in der globalisierten Wirtschaftswelt auf. Ein Blick in die Schlagzeilen am Anfang des Jahrtausends lässt die Vielzahl der Konfliktfelder erahnen: Kollabierende Finanzkonstrukte von Investmentbanken, Schmiergeldzahlungen zur Sicherung von Aufträgen, nicht rechtmäßige Überprüfung von Mitarbeiterdaten sowie Skandale um Kinder- oder Sklavenarbeit in Ziegeleien und Kohlegruben sind nur ein kleiner Ausschnitt dieser Berichterstattungen. In der öffentlichen Wahrnehmung stehen die Reputation und Glaubwürdigkeit ganzer Branchen auf dem Spiel. Vertrauen, das über viele Jahre aufgebaut wurde, wird so binnen kürzester Zeit zerstört. Zunehmend wird über die gesellschaftliche Verantwortung von Organisationen und insbesondere von Unternehmen diskutiert – und zum Teil ein Mangel an Verantwortungsübernahme heftig kritisiert1: Wofür können Organisationen ver1
Der Verantwortungsbegriff wird als ein dreistelliger Zuschreibungsbegriff, bestehend aus dem Subjekt der Verantwortung, dem Objekt der Verantwortung und der Instanz der Verantwortung gesehen: Wer (Subjekt) ist für wen oder was (Objekt) vor oder gegenüber wem (Instanz) verantwortlich oder kann für etwas verantwortlich gemacht werden? Für die Diskussion über die Ausdifferenzierung der Facetten des modernen Verantwortungsbegriffs vgl. L. Heidbrink 2003.
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Maud Schmiedeknecht
antwortlich gemacht werden? Wem gegenüber haben Organisationen Verantwortung? Wie viel Verantwortung sollten sie haben? Welche Normen gibt es in diesem Feld? Im internationalen Kontext wird die Debatte zur verantwortungsvollen Unternehmensführung im Allgemeinen unter den Begriffen ‚Corporate Social Responsibility’ (CSR) und ‚Corporate Citizenship’ (CC) geführt (A. Crane/ D. Matten 2008; J. Wieland 2005).2 Diese Termini signalisieren, dass Unternehmen als „Bürger“, gemessen an anderen Akteuren aus Politik und Gesellschaft, eine hervorgehobene Position und besondere Verantwortung zukommen. Ihre möglichen Wirkungsbereiche, so die weit verbreitete Meinung, dehnen sich zunehmend von der reinen Wertschöpfung auf unterschiedliche politische, kulturelle, ökologische und damit gesamtgesellschaftliche Problemfelder und Interessen aus, oder sollten dies zumindest tun. In Folge dieser Entwicklungen wurde von politischer und privater Seite eine Vielzahl von Initiativen mit dem Ziel auf den Weg gebracht, Normen für verantwortliches Handeln von Organisationen zu entwickeln.3 So wurden Richtlinien, Standards4 und Managementsysteme von Organisationen wie der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) und der International Labour Organisation (ILO) sowie von Unternehmen, Unternehmensverbänden, Nichtregierungsorganisationen oder anderen gesellschaftlichen Gruppierungen erarbeitet. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass zunehmend neue Organisationsformen zur Erarbeitung von internationalen Normen entstehen: politisch-ökonomische Netzwerke oder Multistakeholder-Dialoge5, die sich aus politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammensetzen. Beispiele für internationale Multistakeholder-Dialoge im CSR-
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3 4
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CC wird gegenüber CSR demokratietheoretisch angesetzt, nämlich als die Rechte und Pflichten des Unternehmens als moralisch verantwortlicher, kollektiver Bürger. „Citizen“ steht hier weniger für einen legalen Status als vielmehr für eine gesellschaftlich erwartete verantwortungsvolle Haltung und ein verantwortungsvolles Verhalten der Unternehmen (J. Wieland 2005). Vgl. für eine umfassende Übersicht über Corporate Social Responsibility Standards M. Jütterström 2006. Im Allgemeinen geben Richtlinien Grundsätze vor, nach denen sich Organisationen verhalten sollen. Sie haben im Gegensatz zu Gesetzen den Charakter der freiwilligen Selbstverpflichtung, das heißt, dass sich Organisationen an bestimmte Grundsätze selbst binden. Ob die Organisationen der Selbstbindung in vollem Umfang nachkommen, wird oftmals nicht extern überprüft. Standards gehen einen Schritt weiter, in dem sie die Grundsätze konkretisieren. Dabei werden diese in überprüfbare Bewertungskriterien aufgeschlüsselt und eine interne Bewertung oder externe Zertifizierung ermöglicht. In Theorie und Praxis existieren zahlreiche Synonyme für Multistakeholder-Dialoge. So wird von Partnerschaften (u.a. global partnerships, public-private partnerships), neuen Formen der Kooperation (u.a. cross-sectoral collaborations, inter-sectoral cooperations) und Netzwerken (global issue networks, global public policy networks) gesprochen. (Vgl. J. Meckling 2005,:24)
Die Konstruktion einer globalen Norm
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Bereich sind der Weltgipfel für Nachhaltige Entwicklung in Johannesburg6, die CSR-Initiative der Kommission der Europäischen Union7 oder der von Kofi Annan initiierte UN Global Compact.8 In diesem Beitrag wird ein Multistakeholder-Dialog näher beleuchtet, der den aktuellen Höhepunkt dieser weltweiten Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung von Organisationen darstellt: die Arbeitsgruppe der International Organization for Standardization (ISO) zur Entwicklung eines Guidance Document on Social Responsibility mit der Bezeichnung ISO 26000. Im Gegensatz zu vielen individuellen nationalen Initiativen, die sich zur Erarbeitung einer konzisen Definition von (Corporate) Social Responsibility zusammengefunden haben, handelt es sich bei diesem Prozess um einen internationalen Normungsprozess zur Erarbeitung eines Leitfadendokuments für Organisationen. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, bis Herbst 2010 in einem deliberativen Verfahren globale Normen für verantwortliches Handeln von Organisationen zu definieren. Dieser durch verschiedene inter- und transnationale Interessengruppen vertretene Prozess ist einer der relevanten Knotenpunkte, die erkennen lassen, welche Ziele Multistakeholder-Dialoge als neue Organisationsformen verfolgen (die Aushandlung von Normen), welchen Bedarf es an (neuen) Kommunikationsformen und organisationalen Strukturen gibt, und welche Reibungsflächen bzw. Probleme in jenen Prozessen liegen können. Dieser Artikel widmet sich im Folgenden der Frage, auf welchen Wegen solche Normen innerhalb eines Multistakeholder-Dialogs „konstruiert“ werden können. Dabei wird zunächst die ISO als Organisation skizziert und der Stellenwert des ISO 26000 Prozesses innerhalb der internationalen Normbildung eingeordnet. Im zweiten Schritt wird die Arbeitsgruppe, die zur Entwicklung der Norm gebildet wurde, kurz vorgestellt, unter Berücksichtigung folgender Aspekte: Welche Akteure sind an der Normbildung beteiligt? Welche Gremien wurden etabliert? In einem dritten Schritt wird der aktuelle inhaltliche Stand des ISO 26000 Dokuments umrissen. Abschließend werden von diesen empirischen Faktoren einige Erfolgskriterien dieses Multistakeholder-Dialogs abgeleitet und einige Reibungsflächen und Problemfelder offengelegt.
1
Die ISO und der ISO 26000 Prozess
Die Internationale Organisation für Normung (ISO), 1947 gegründet, ist die weltweit führende Organisation für die Erarbeitung internationaler Standards, 6 7 8
Vgl. World summit on sustainable development: http://www.worldsummit2002.org. (2.3.2009) Vgl. European Commission: http://ec.europa.eu/enterprise/csr/policy.htm. (2.3.2009) Vgl. United Nations Global Compact: http://www.unglobalcompact.org/. (2.3.2009)
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Maud Schmiedeknecht
insbesondere technischer und Verhaltensstandards. Sie ist ein Netzwerk aus nationalen Normungsorganisationen. Derzeit hat die ISO 157 nationale Organisationen als Mitglieder, die internationale Normen in nahezu allen Bereichen erarbeiten. Ausnahmen bilden die Normen im Bereich der Elektrik und Elektronik, die in den Zuständigkeitsbereich der Internationalen Elektrotechnischen Kommission (IEC) fallen, sowie die Normen im Bereich der Telekommunikation, die im Zuständigkeitsbereich der Internationalen Fernmeldeunion (ITU) liegen.9 Die Organe der ISO sind die Generalversammlung sowie normungspolitische (z.B. Council) und technische Lenkungsgremien (z.B. Technical Management Board).10 Innerhalb der nationalen Normungsorganisationen werden technische Komitees und als Spiegelgremien bezeichnete Arbeitsausschüsse gebildet, in denen Experten nationale Positionen zu einem Normungsthema erarbeiten, Vorschläge entwickeln und Delegierte zu den internationalen Gremien entsenden, um die jeweilige nationale Meinung zu vertreten und in den Konsensprozess der Normung einzubringen. Unter einer internationalen Norm wird eine im weltweiten Konsens aller interessierten Kreise erstellte Norm verstanden. Internationale Normungsarbeit beginnt mit einem Normungsvorschlag, der von einem Mitglied der ISO, beispielsweise vom Sekretariat eines technischen Komitees oder Unterkomitees, von einer internationalen Fachorganisation mit Liaisonstatus, vom technischen Lenkungsgremium oder vom Generalsekretär eingebracht wird. Im Jahr 2002 hat die Internationale Verbraucherschaft der ISO11 einen Normungsantrag bei der ISO gestellt, einen Standard zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen zu entwickeln. Daraufhin setzte der technische Lenkungsausschuss der ISO eine Beratergruppe ein, um die Realisierbarkeit eines solchen Projektes zu untersuchen. Im Juni 2004 wurden die Ergebnisse der Untersuchung auf einer Konferenz in Stockholm vorgestellt und mit über 350 Teilnehmern diskutiert. Nach der Konferenz beschloss der Lenkungsausschuss, das Norm-Projekt zu initiieren und startete eine schriftliche Umfrage bei den stimmberechtigten ISO-Mitgliedern, die dem Projekt mehrheitlich zustimmten. Dies war der Auftakt zur Erarbeitung eines Leitfadens zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen. Die Norm ISO 26000 soll für alle Arten von Organisationen – von Unternehmen über Nichtregierungsorganisationen bis hin zu Regierungen – in allen 9
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Die International Organization for Standardization (ISO), die International Electrotechnical Commission (IEC) und die International Telecommunication Union (ITU) bilden die World Standard Cooperation (WSC). Vgl. http://www.din.de. (2.3.2009) Committee on Consumer Policy (COPOLCO).
Die Konstruktion einer globalen Norm
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Ländern dieser Welt einschließlich der Entwicklungs- und Schwellenländer erarbeitet werden. Daher wird in der Norm auch nicht von Unternehmensverantwortung (Corporate Social Responsibility), sondern von der gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen (Social Responsibility) gesprochen. Festzuhalten ist, dass der ISO-Standard als Leitfaden eine Orientierungshilfe bieten soll und weder ein Managementsystem beschreiben noch als Grundlage für eine Zertifizierung geeignet sein soll.
2
Die ISO Working Group
Mit dem Thema der gesellschaftlichen Verantwortung betritt die ISO neuen Boden: Erstmals soll nicht eine technische, sondern eine gesellschaftliche Vereinbarung ausgehandelt werden. Da die ISO selbst nicht über das notwendige Wissen im Bezug auf Social Responsibility (SR) verfügt, jedoch als globale Normierungsorganisation anerkannt ist, hat sie einen Rahmen für die Erarbeitung geschaffen, eine Arbeitsgruppe, in der sich Experten aus unterschiedlichen Bereichen über ein Konzept der Social Responsibility austauschen und einigen können: die ISO/TMB12 Working Group on Social Responsibility, kurz ISO Working Group.13 Im Folgenden werden die Teilnehmer, die Sitzungen sowie die Gremien der ISO Working Group dargestellt.
2.1 Die Teilnehmer Die nationalen Normierungsinstitute haben jeweils einen Arbeitsausschuss gebildet, in dem Experten auf dem Feld Social Responsibility vertreten sind.14 Das Besondere am Multistakeholder-Dialog ist, dass viele unterschiedliche Interessensvertreter gemeinsame Standpunkte entwickeln. Meist beteiligen sich an solchen von der ISO initiierten Arbeitsgruppen hauptsächlich Industrievertreter, doch nicht so bei diesem Standard. Um ein möglichst breites Spektrum von Interessengruppen am Prozess beteiligen zu können, wurden sechs Stakeholderkategorien gebildet: Verbraucher (consumer), Öffentliche Hand (government), Wirtschaft (industry), Gewerkschaften (labour), Nichtregierungsorganisationen 12 13 14
Technical Management Board (TMB). Der Prozess wurde mit der Erarbeitung eines New Work Item Proposal (NWIP) im Oktober 2004 gestartet. Im Jahr 2004 wurde beispielsweise in Deutschland auf Beschluss des DIN-Präsidiums im Normenausschuss Sicherheitstechnische Grundlagen (NASG) der neue Arbeitsausschuss „Gesellschaftliche Verantwortung von Organisationen“ gegründet. Zur Organisation innerhalb der DIN vgl. R. Hager 2006: 16 ff.
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Maud Schmiedeknecht
(non-governmental organizations – NGOs) sowie Dienstleister, Berater, Wissenschaftler und andere (service, support, research and others – kurz SSRO). Jedes ISO-Mitglied darf sechs Experten benennen, die jeweils eine der Interessengruppen vertreten, und diese zu den internationalen Sitzungen der ISO Working Group entsenden.15 Des Weiteren haben überregionale Regierungsorganisationen sowie international ausgerichtete Verbände wie beispielsweise Global Compact, die International Labour Organisation (ILO) und die Organization for Economic Co-operation and Development (OECD), die sich mit dem Thema Social Responsibility beschäftigen, die Möglichkeit, sich an dem Multistakeholder Dialog zu beteiligen. Sie werden unter D-Liaison Organisationen16 zusammengefasst. Derzeit beteiligen sich ca. 430 Experten aus 84 ISO-Mitgliedsstaaten und 40 D-Liaison-Organisationen an der ISO Working Group.17
2.2 Die Sitzungen der ISO Working Group Seit dem Arbeitsbeginn der ISO Working Group im September 2004 bis Ende 2009 fanden sieben einwöchige Sitzungen statt: in Salvador de Bahia (Brasilien) im März 2005, in Bangkok (Thailand) im September 2005, in Lissabon (Portugal) im Mai 2006, in Sydney (Australien) im Januar 2007, in Wien (Österreich) im November 2007, in Santiago de Chile (Chile) im September 2008 und in Quebec City (Kanada) im Mai 2009. Jeweils zwischen den Sitzungsblöcken finden Abstimmungsprozesse über eine dafür eingerichtete Internetplattform statt.18 Während der ersten zwei Arbeitssitzungen in Salvador und Bangkok haben sich die Experten hauptsächlich auf die im Folgenden beschriebenen Organisationsstrukturen geeinigt, die in den darauf folgenden Sitzungen jeweils leicht modifiziert wurden. Diskussionen über die Inhalte des Standards wurden überwiegend seit der dritten Sitzung geführt. 15
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Diese Interessenvertreter mit Expertenstatus (experts) haben Rederecht in der Arbeitsgruppe und Stimm- bzw. Vetorechte bei den Abstimmungen zu Beschlüssen und Textentwürfen. Neben den Experten können die ISO-Mitglieder jeweils einen Beobachter pro Interessengruppe benennen. Der Status dieser so genannten observer beinhaltet, dass sie in den Sitzungen anwesend sein dürfen und alle Dokumente erhalten, jedoch kein Stimm- und Rederecht haben. Das ISO/TMB entscheidet, welche Organisationen an dem ISO-Prozess teilnehmen dürfen und den Status einer D-Liaison-Organisation erhalten. D-Liaison-Organisationen sind Organisationen außerhalb der ISO, die an einer Zusammenarbeit mit der ISO Working Group interessiert sind und einen fachlichen Beitrag zur Arbeit leisten können. Sie können je zwei Experten und Beobachter entsenden. Nach dem aktuellen Stand (August 2008) sind 426 Experten und 170 Beobachter registriert. Vgl. Report of the Secretary, Document ISO/TMB WG SR N 153. Vgl. Working Area: http://www.iso.org/wgsr. (2.3.2009)
Die Konstruktion einer globalen Norm
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2.3 Die Gremien Die Arbeitsgruppe wird unter gemeinsamer Leitung eines Sekretariats der Standardisierungsorganisationen von Brasilien und Schweden koordiniert. Eine Beratergruppe, die so genannte Chairman´s Advisory Group (CAG), unterstützt das Sekretariat in strategischen Fragen der Organisation.
Abbildung 1: Organisation der ISO Working Group 19
Drei Strategic Task Groups befassen sich mit übergreifenden Aspekten, u.a. mit der Finanzierung des Prozesses, der Öffentlichkeitsarbeit und der Erarbeitung von Verfahrensweisen zur Gewährleistung einer ausgewogenen StakeholderBeteiligung.20 Die Standard Setting Task Groups arbeiten inhaltlich an den ver19
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Abbildung erstellt in Anlehnung an das aktuelle Organigramm (Überarbeitung auf der ISO Sitzung in Wien im November 2007), veröffentlicht auf der Homepage www.iso.org/sr (2.3.2009). Im Einzelnen befasst sich die Untergruppe TG 1 Funding und Stakeholder Engagement mit der ausgewogenen Beteiligung aller Interessensgruppen. TG 1 versucht Mittel zu beschaffen, um unterrepräsentierte Stakeholdergruppen zu fördern. Des Weiteren organisiert TG 1 regionale Workshops, um derzeit noch unterrepräsentierte Stakeholdergruppen über die Arbeit der Working Group zu informieren und diese für die Mitarbeit zu gewinnen. Die Kommunikation der
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schiedenen Kapiteln des zukünftigen Standards: Prinzipien und Anwendungsbereiche gesellschaftlicher Verantwortung, Kernthemen von Social Responsibility und Empfehlungen zur praktischen Umsetzung von Social Responsibility. Die Task Group-übergreifenden Aspekte werden in einer Integrated Drafting Task Force besprochen. Die Texte aus den inhaltlichen Untergruppen werden von einem Editing Committee redaktionell bearbeitet. Dieses Redaktionskomitee besteht aus den Leitern der Arbeitsgruppe, den Leitern der Untergruppen und jeweils einem Vertreter jeder Stakeholdergruppe. Um einerseits der sprachlichen Vielfalt der Teilnehmer gerecht zu werden und Sprachbarrieren zu vermindern sowie andererseits die Verbreitung des Standards weltweit zu fördern, wurden diverse Language Task Forces gegründet, die die Dokumente der Arbeitsgruppe in verschiedene Sprachen übersetzen. Organisatorisch sind die Gremien so strukturiert, dass sie jeweils von einem Vorsitzenden (convenor), einem Vize-Vorsitzenden (co-convenor) sowie einem Sekretär (secretary) und stellvertretenden Sekretär (co-secretary) geleitet werden. Bei der Besetzung der leitenden Funktionen in den einzelnen Gremien wird neben der Ausgewogenheit hinsichtlich der Stakeholder-Zugehörigkeit darauf geachtet, dass die Stelle jeweils mit einem Vertreter aus einem entwickelten Land und aus einem Entwicklungsland besetzt ist. Das von ISO so benannte Twinning-Prinzip hat zum Ziel, Entwicklungsländer zunehmend in die Standardsetzung einzubinden. Neben der ausgewogenen Verteilung nach Kontinenten (region) spielt eine ausgewogene Geschlechterverteilung (gender) der Teilnehmer eine Rolle für die von der ISO gewünschte ausgewogene Beteiligung (balanced representation).
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ISO 26000 – Stand der Diskussion
Ziel der Norm ISO 26000 ist es, eine einheitliche Terminologie im Bereich Social Responsibility zu etablieren, eine praktische Hilfestellung bei der Operationalisierung von Social Responsibility zu geben und dabei Konsistenz mit bereits existierenden internationalen Normen und Konventionen zu schaffen. Nach dem bisherigen Diskussionsstand der ISO Working Group werden die inhaltlichen
Arbeitsergebnisse nach innen und nach außen übernimmt die TG 2 Communication. Deren Ziel ist es, den zukünftigen Standard ISO 26000 bereits während der Erarbeitung innerhalb der Working Group bekannt zu machen. TG 3 mit dem Namen Operational Procedures hat zur Aufgabe, bestehende ISO-Regeln für die Zwecke der Arbeit innerhalb der internationalen Arbeitsgruppe anzupassen.
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Eckpfeiler des zukünftigen Standards voraussichtlich folgende Punkte enthalten21: 1. Scope: In diesem Abschnitt wird der Anwendungsbereich des Standards beleuchtet. 2. Terms and definitions: Definition der gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen. 3. Understanding social responsibility: Der Hintergrund der zunehmenden Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung von Organisationen wird in diesem Teil skizziert. 4. Principles of social responsibility: Zu den Prinzipien gesellschaftlicher Verantwortung werden accountability, transparency, ethical behaviour, stakeholder, rule of law, international norms und human rights gezählt. 5. Recognizing social responsibility and engaging stakeholders: In diesem Abschnitt wird die Dringlichkeit von der Identifizierung und Berücksichtigung von Stakeholdern einer Organisation beschrieben. 6. Guidance on social responsibility core subjects: Bisher wurden folgende Kernbereiche gesellschaftlicher Verantwortung festgelegt: organisational governance, human rights, labour practices, the environment, fair operating practices, consumer issues, community involvement und development. 7. Guidance on implementing practices of social responsibility: Im letzten Teil des Standards sollen Orientierungshilfen gegeben werden, wie Organisationen ihre gesellschaftliche Verantwortung sowohl in ihre strategischen Ziele integrieren als auch operativ umsetzen können.
4
Die Konstruktion einer Norm – Voraussetzungen
Der deliberative Prozess der Entwicklung der Norm ISO 26000 ist eine organisationale Form der Koordination und Kooperation von unterschiedlichsten Akteuren. Der Erfolg dieses Prozesses innerhalb der ISO Working Group hängt im Wesentlichen ab a) von den Ressourcen und Kompetenzen der beteiligten Akteure, b) den organisationalen Koordinations- und Kooperationsstrukturen zur Bündelung dieser Ressourcen und Kompetenzen sowie c) der Integration der Vielfalt der vorhandenen Gesetze, Verordnungen und Standards (formale Institutionen) und Traditionen (informale Institutionen). Ad a) Akteure: Die Voraussetzung für eine gelungene Zusammenarbeit innerhalb des Multistakeholder Dialogs ist es, dass die einzelnen Experten der ISO 21
Vgl. Working Draft 4.2. Die typischen Phasen der Standardsetzung bei der ISO sind: Working Draft (WD), Committee Draft (CD), Draft International Standard (DIS), Final Draft International Standard (FDIS).
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Working Group ihre jeweiligen Ressourcen und Kompetenzen einbringen. Beispiele hierfür sind unterschiedliches Expertenwissen (professionelle Ressourcen und Kompetenzen), um das weite Themenspektrum der gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen (Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Umwelt, Verbraucherschutz, etc.) umfassend abzudecken. Außerdem hängt der potenzielle Erfolg des Prozesses maßgeblich davon ab, dass sich alle Stakeholder für die ISO Working Group engagieren und sich mit deren Zielen auch identifizieren (motivationale Ressourcen und Kompetenzen). Es geht hierbei um die glaubwürdige Versicherung über die Präferenzen und Handlungsabsichten der Stakeholder im Hinblick auf das intendierte Kooperationsprojekt. Für den Wissensaustausch innerhalb der ISO Working Group sind weiterhin Kommunikationsfähigkeiten, interkulturelle und transkulturelle Kompetenzen oder Sprachkenntnisse unerlässlich (kooperative Ressourcen und Kompetenzen). Neben diesen immateriellen Ressourcen müssen die Experten bzw. ihre Organisationen Kapital (materielle Ressourcen und Kompetenzen) beispielsweise zur Finanzierung der Reisen zu den Sitzungen der ISO Working Group aufbringen können. Mangelt es an Ressourcen und Kompetenzen, können Konflikte innerhalb des Multistakeholder-Dialogs entstehen.22 So tauchen beispielsweise Probleme auf, wenn die Teilnehmer des internationalen Prozesses die Verhandlungssprache auf unterschiedlichem Niveau beherrschen. Im Fall der ISO Working Group ist die Verhandlungssprache Englisch. Zum einen entstehen durch Sprachschwierigkeiten Informationsverluste. Zum anderen können Muttersprachler Vorteile in den Verhandlungen haben und sich gegebenenfalls besser durchsetzen. Hinzu kommt vielfach, dass sich in der Person eines Experten unterschiedliche und eventuell konfligierende Rollen vereinen. Zum einen vertritt er als Experte den jeweiligen Themenschwerpunkt, zum anderen die Perspektive der jeweiligen Stakeholderkategorie, der er angehört. Diese Brisanz wird noch dadurch verstärkt, dass er als nationaler Delegierter seine jeweils nationale Position vertreten kann. Ad b) Organisationale Koordinations- und Kooperationsstrukturen: Die organisationalen Strukturen sind entscheidend für den Erfolg eines Normungsprozesses, indem sie den Rahmen dafür schaffen, die Akteure mit ihren Ressourcen und Kompetenzen zusammenzubringen. Dazu gehören formale Steuerungsstrukturen wie Organisationsstrukturen (vgl. Abb. 1) sowie die Regel- und Verfahrensweisen, um Entscheidungen zu treffen (so genannte operational procedures und meeting rules), und informale Steuerungsstrukturen wie Seitenverhandlungen zwischen den einzelnen Arbeitssitzungen.
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Diese Angaben basieren auf den Ergebnissen einer empirischen Untersuchung. Für eine erste Diskussion der Ergebnisse einer empirischen Studie vgl. J. Wieland 2007, M. Schmiedeknecht/ J. Wieland 2007, M. Schmiedeknecht 2008.
Die Konstruktion einer globalen Norm
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An dieser Stelle und mit Blick auf die Konstruktion global ansetzender Norm(alität)en stellt sich die Frage, mit welchen organisationalen Koordinationsund Kooperationsstrukturen eine möglichst effiziente und verfahrenslegitime Konsensbildung von hunderten Teilnehmern mit unterschiedlichen Interessen ermöglicht werden kann. Reibungsflächen können bei der Koordinierung von Effizienz und Verfahrenslegitimität des Multistakeholder-Dialogs leicht entstehen: So kann beispielsweise aus Organisationsstrukturen, die die Verfahrenslegitimität des Prozesses durch die zunehmende Inklusion betroffener Stakeholder erhöhen, eine Abnahme der Effizienz des Prozesses durch endlose Debatten resultieren. Oder umgekehrt können Organisationsstrukturen durch die Abnahme von Verfahrenslegitimität durch eine geringere Anzahl an Stakeholdergruppen zwar zu einer Zunahme der Effizienz von Multistakeholder-Dialogen, jedoch am Ende zu einer Abnahme ihrer Effektivität beispielsweise durch mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz des Standards führen. Ad c) Informale Institutionen und formale Institutionen: Bei der erfolgreichen Erstellung einer globalen Norm geht es um das Wissen und die Berücksichtigung dieser Institutionen – zum einen um das Wissen um die jeweiligen branchen-, organisations- oder nationalspezifischen Traditionen der gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen (informale Institutionen) und zum anderen um die Inklusion von bereits bestehenden Gesetzen, Verordnungen oder Standards bzw. Leitlinien (formale Institutionen).
5
Resümee
Der vorliegende Artikel hat am Beispiel des ISO 26000 Prozesses erläutert, dass Normen im Bereich der gesellschaftlichen Verantwortung für Organisationen und insbesondere Unternehmen an Bedeutung zugenommen haben und wie gesellschaftliche Normen innerhalb von Multistakeholder Dialogen ausgehandelt werden. Das Potenzial solcher Multistakeholder-Dialoge im Prozess der Ausbalancierung von partikularen und globalen Interessen liegt im Wissensaustausch, der (theoretisch) gleichberechtigten Berücksichtigung von unterschiedlichen Interessensgruppen und der effektiven Konsensbildung zwischen den jeweiligen Akteuren (vgl. L. W. Fransen/ A. Kolk 2007). In diesem Zusammenhang sind Inklusion und Partizipation die Schlagworte für einen gelungenen Wissensaustausch und fruchtbare Lernprozesse. Im Kern geht es somit um die Bündelung vorhandener Ressourcen zur Bearbeitung grenzüberschreitender Probleme. Gleichzeitig sind die Schwierigkeiten vielfältig: In der Regel sind sie durch hohe Transaktionskosten gekennzeichnet. So fallen üblicherweise mit steigender
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Zahl von Akteuren enorme Koordinationskosten an.23 Ferner herrscht eine latente Spannung zwischen dem Ideal, alle Akteursinteressen in den Politikprozess einzubinden, und dem Druck, handfeste Ergebnisse zu produzieren (vgl. Benner et al. 2002). Des Weiteren kann es aufgrund unterschiedlicher Ressourcenausstattung und Verhandlungsposition der Stakeholder sowie aufgrund der Homogenität innerhalb der Stakeholdergruppen zu Machtasymmetrien zwischen den Netzwerkakteuren kommen. Der beschriebene Multistakeholder-Prozess zur Entwicklung eines Guidance Documents on Social Responsibility ist daher eine Herausforderung in jeder Hinsicht. Im Kern geht es um die Generierung von gesellschaftlich akzeptierten Spielregeln, die eine Selbstverpflichtung von Organisationen zu diesen Regeln erfordert.
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Die Konstruktion einer globalen Norm
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Arbeit am Image. Zur gesellschaftlichen Bedeutung zeitgenössischer Darstellungsnormen Anne Sonnenmoser
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Das Problem der Selbstdarstellung
„We are living in an image based society“, antwortete eine amerikanische Imageberaterin, als sie in einem Interview nach den Beratungsmotiven ihrer Kunden gefragt worden war.1 Wie in diesem Fall, so wird die Aufmerksamkeit für die Selbstdarstellung des Einzelnen von Imageberatern häufig als genuin modernes Phänomen beschrieben. Auch wenn eine solche Diagnose in der Regel eher unspezifisch bleibt, ist sie ein Indiz für Wandlungsprozesse im Bereich personaler Selbstdarstellung. Aus soziologischer Perspektive sind Images Grundlage jeglicher Form von Gemeinschaft – setzt doch die jeder Interaktion zugrunde liegende Fähigkeit des Menschen zur Selbstwahrnehmung und -reflexion Selbstdarstellung als Bedingung voraus. Nur im Umweg über die Reaktion anderer kann der Einzelne eine Vorstellung seiner selbst erlangen und festigen; Voraussetzung für eine solche Perspektivenübernahme ist wiederum, dass er über die bewusste oder unbewusste Darstellung seiner selbst im Körperausdruck die Deutung seiner Person anleitet – das „stärkste Gefühl teilt sich nicht mit, wenn es die Darstellungsfläche des Tonfalls und der Bewegung nicht erreicht“ (H. Plessner 2003 [1948]: 408). Zur Darstellung seiner selbst nutzt der Einzelne indes nicht nur Tonfall und Bewegung, sondern vielmehr erschafft er sich komplexe Arrangements aus Gestik und Mimik, aus Körperhaltung und -bewegung, aus Sprache, Stimme, Geruch und den Dingen, die seinen Körper umgeben und rahmen (Kleidung beispielsweise oder 1
Die hier skizzierten Überlegungen sind im Kontext eines Forschungsprojekts entstanden, das die gegenwärtig beobachtbare Verlagerung personaler Imagebildung aus den Settings alltäglicher sozialer Interaktion hinein in professionell angeleitete und audiovisuell geprägte Wahrnehmungs- und Handlungskonstellationen als neuartigen Typus personaler Selbstdarstellung untersucht. Der empirische Fokus des Projekts ist auf jene, einander sinnhaft bedingenden Körpertechniken und strukturellen Problemwahrnehmungen gerichtet, die diesen Selbstdarstellungstypus kennzeichnen und seine historische Genese soziologisch erklären. Der Untersuchung liegen deutsche und US-amerikanische Ratgeberbücher und Fernsehsendungen sowie Interviews mit deutschen und US-amerikanischen Imageberatern zugrunde. Darüber hinaus wurden teilnehmende Beobachtungen bei Imageseminaren durchgeführt.
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Mobiliar). In der Wahrnehmung und Deutung dieser Arrangements macht sich sein Gegenüber ein ‚Bild’ von ihm, reagiert auf ihn und ‚spiegelt‘ ihn in diesen Reaktionen wieder. Hervorzuheben ist, dass dieser ‚Spiegelreflex’ in Abhängigkeit von der Position des Einzelnen im sozialstrukturellen Gefüge als typisierende und damit auch bewertende Wahrnehmung seiner Person zu verstehen ist. Von dieser gesellschaftlich zugewiesenen Position aus und in Abhängigkeit von seinen biographischen Erfahrungen bewertet er die Reaktionen eines Gegenübers und fügt diese seiner Vorstellung von sich selbst als Person ein. In einer idealtypischen ‚geschlossenen’ Gesellschaft mit einem weitgehend konkurrenzlosen Deutungshorizont für personale Selbstdarstellungen würden solche ‚Selbstbilder’ vornehmlich aus dem gemeinsamen Wissensvorrat geschöpft werden, – „die Last des Bildentwurfs“ wäre dem Einzelnen, wie Helmuth Plessner konstatiert, „durch die Tradition (…) abgenommen“ (H. Plessner 2003 [1948]: 411). In pluralistischen Gesellschaften wandeln sich soziale Ordnungs- und Stratifizierungsmuster hingegen fortlaufend, so dass tradierte Selbstentwürfe an Bedeutung verlieren, transformiert oder ersetzt werden. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts sind denn auch in den westlichen Industriegesellschaften vermehrt Versuche zu beobachten, Problemen gesellschaftlicher Sichtbarkeit und personaler Zuordnung mittels ästhetisch gezielt überhöhter symbolischer Darstellungsformen zu begegnen. Die Träger solcher „Stile des Lebens“ (G. Simmel 1989: 591), ‚Dandys’ beispielsweise oder ‚Punks’, bringen die Deutung der eigenen Position im gesellschaftlichen Gefüge für ihre Zeitgenossen symbolisch zum Ausdruck und bewegen sich dabei außerhalb traditioneller Formen sozialer Zuordnung und personaler Anerkennung.2 Im Gegensatz zu solch gleichsam unorthodoxen Versuchen personaler Selbstdarstellung ist in den letzten Jahren hinsichtlich der Gestaltung von Darstellungsformen eine gänzlich neue Entwicklung zu beobachten: Massenmedien und gesellschaftlich und medial als einschlägig ausgewiesene Experten führen tendenziell jedermann die Bearbeitungsbedürftigkeit seiner Selbstdarstellung vor Augen und vermitteln hierfür hochgradig normative Vorlagen. Als normativ können diese Vorlagen deshalb gelten, weil es sich um Darstellungs- und Ausdrucksregeln handelt, mit deren Nichtanwendung nach Meinung der befragten Image-Experten gesellschaftliche Sanktionen einhergehen: Jene gesellschaftliche Missachtung oder gesellschaftliche Nichtbeachtung, die Axel Honneth als „soziale Unsichtbarkeit“ bezeichnet hat (A. Honneth 2003: 10-27).3
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Vgl. hierzu: G. Simmel 1996 [1900]: 375-481; G. Simmel, 1990 [1908]: 295-309; H.-G. Soeffner 1995: 76-101; H.-G. Soeffner 2001: 79-114; M. R. Müller 2009. Zu dieser Definition des Normbegriffs vgl. H. Popitz 2006: 69.
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Auch wenn Normen dem Einzelnen häufig als unumstößliche Faktizität erscheinen, eine ihrer zentralen Eigenschaften ist ihre Veränderlichkeit über die Zeit. Normen können neu gesetzt werden, an Geltungskraft verlieren oder gewinnen oder in andere Sanktionszusammenhänge überführt werden. Die Geltung von Normen verändert sich in Abhängigkeit von sich wandelnden Weltanschauungen, Moralvorstellungen, Werten oder Lebensauffassungen, die in Wechselbeziehung stehen mit den realen Lebensbedingungen. Neuartige gesellschaftliche Konstellationen gehen mit neuartigen Problemlagen einher und bedingen somit Veränderungen im Normengefüge einer Gesellschaft (K.-H. Hillmann 2007: 629-630). Insofern kann die Etablierung neuer Normen als Reaktion auf gesellschaftlich-strukturelle Problemlagen begriffen werden. Bezüglich der Etablierung der beobachteten Darstellungsnormen ist demnach im Folgenden zu fragen, (a) welche gesellschaftlich-strukturellen Problemlagen diesen zugrunde liegen, und (b) weshalb auf diese Problemlagen mit Normierungen im Bereich der personalen Selbstdarstellung reagiert wird.
2
Image und Imageberatung
Im Zusammenspiel einer sich schrittweise entwickelnden Consumer Culture und der Proliferation der durch die Technik der neuen Medien bedingten und durch dieselben verbreiteten Körpertechniken entstehen in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue Darstellungsideale. Personell wird die Fähigkeit zur idealen Verkörperung und Umsetzung dieser Ideale hauptsächlich zwei Personengruppen zugeschrieben: den Filmschauspielern, und innerhalb dieser Gruppe insbesondere den so genannten „Filmstars“, sowie den ‚Körpertechnikern’ des Films, den Maskenbildnern, Kosmetikherstellern und Kostümschneidern. Beide, Schauspieler wie ‚Körpertechniker’, werben für Körperpflegeprodukte und Kleidung, berichten in Filmmagazinen, Zeitungen und Zeitschriften über Körperpflege- und Körperbemalungstechniken, Diäten sowie Bekleidungs- und Körpertrainingsmethoden. Sie eröffnen Schönheitssalons, treten in Radio- und Fernsehsendungen auf, die sich der ästhetischen Gestaltung der körperlichen Erscheinung widmen, und verfassen Ratgeberbücher.4 Das Wissen um Darstellungstechniken wird durch die seit Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend verbreitete Profession der Home Economics, die an Schulen und Universitäten Wissen in allen Belangen der Haushaltsführung und des Konsums vermittelt und dieses Wissen wissen-
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Vgl. hierzu: J. Basinger 2007; F. E. Basten 2008; D. Chierichetti 2003. Vgl. hierzu außerdem frühe amerikanische Filmmagazine wie Photoplay, Silverscreen oder Movie Mirror.
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schaftlich zu begründen sucht, zusätzlich systematisiert.5 Seit den 1980er Jahren werden vermehrt Ratgeberbücher verfasst, die die Umsetzung dieser Darstellungstechniken anleiten. Mit Unterstützung des 1980 erschienenen Ratgeberbuches „Color me beautiful“, das nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland sehr erfolgreich war und ist, wird professionelle Beratung bei Fragen der personalen Selbstdarstellung zunehmend populärer (C. Jackson 1980). Während zunächst hauptsächlich Bekleidung und Körperpflege anhand medialer Idealbilder bearbeitet wurden, deckt die Beratung seit den 1980er Jahren immer weitere Bereiche der menschlichen Selbstdarstellung ab (Stimme, Körpersprache, Körperhaltung). In den 1990er Jahren schließen sich Berater, die für verschiedene Bereiche der personalen Darstellung Dienstleistungen anbieten, zur International Association of Image Consultants (AICI) zusammen. Die AICI zertifiziert und vermittelt Schulungen auf dem Gebiet der Darstellungsberatung, veranstaltet Kongresse und vermittelt zudem auf einer Homepage weltweit Imageberater an Kunden oder Imageberater an Ausbilder. In Deutschland werden etwa seit den 1980er Jahren Einzelberatungen, Workshops und Volkshochschulkurse mit dem Ziel der Verbesserung der Selbstdarstellung angeboten. Zusätzlich widmen sich Mode-Zeitschriften und Ratgeber dem Thema. Zusätzlich führen neuartige Fernsehformate6 die professionelle Bearbeitung der personalen Selbstdarstellung vor. Dabei ist augenfällig, dass die Darstellungsberatung in Deutschland von Beginn an durch die US-amerikanische Darstellungsberatung geprägt war und auch heute noch stark unter ihrem Einfluss steht: Zahlreiche amerikanische Ratgeberbücher liegen in Übersetzung vor, das der Beratung zugrunde liegende Wissen unterscheidet sich kaum, deutsche Fernsehformate wie „Bruce – Eure Styling-Show“ (ARD) oder „Germany’s next Topmodel (Pro 7)“ sind amerikanischen Sendeformaten nachempfunden. Im Gegensatz zu den USA ist diese Form der Beratung in Deutschland allerdings noch nicht stark institutionalisiert. Zwar existieren lose Zusammenschlüsse von Beratern, die jedoch im Vergleich zur amerikanischen AICI weit weniger verbreitet sind, zudem hat die Imageberatung in Deutschland – anders als die Imageberatung in den USA – auch noch keinen Eingang in die Universitäten gefunden. Auch der Begriff des Imageberaters (Image Consultant) ist in Deutschland nicht sehr verbreitet, wobei auch in den USA zahlreiche Bezeichnungen für die 5
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Zur Profession der Home Economics vgl. B. Ehrenreich/ D. Englisch 1978: 126-164; zur Systematisierung von Darstellungsnormen vgl. etwa J. Hessler 1912: 469-471, Committee on Nomenclature and Syllabus of the American Association of Home Economics 1913, H. Buttrick 1924. Zum Beispiel: The Swan – Endlich schön (Pro 7), Look of Love (Pro 7), Extrem schön (RTL), Bruce – Eure Styling-Show (ARD), 10 Jahre jünger (RTL), Das Model und der Freak (Pro 7), Germany’s next Topmodel (Pro 7).
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Tätigkeit eines Imageberaters existieren und darüber hinaus innerhalb der imagebezogenen Dienstleistungen eine Vielzahl an Differenzierungen vorgenommen werden. So gibt es Stilberater, Farbberater, Stimm-/Sprechberater und Benimmberater oder Berater, die sich der Körperhaltung, der Mimik oder der Gestik widmen, sowie Berater, die mehrere dieser Dienstleistungen zugleich anbieten. Dennoch sollen all diese Dienstleistungen im Folgenden unter dem Begriff der Imageberatung zusammengefasst werden, da dieser nicht aus der Empirie, sondern aus der sozialwissenschaftlichen Theorie hergeleitet wird und somit analytischen Charakter hat. Spricht man im Alltag vom ‚Image’ einer Person, so meint man ihren Ruf, den Eindruck, den sie bei verschiedenen anderen hinterlassen hat. Der von Erving Goffman eingeführte sozialwissenschaftliche Begriff des Images bezeichnet hingegen nicht nur den Eindruck, den der Einzelne bei anderen hinterlässt, sondern auch den Handlungsentwurf einer Person, der auf einen bestimmten Eindruck hin ausgerichtet ist. Mehr noch, Goffman beschreibt mit dem Begriff des Images die – im Zusammenwirken von Selbstdarstellung, Fremddeutung dieser Selbstdarstellung und der Reaktion auf dieselbe – entstehende Vorstellung von einer Person: also nicht nur die Vorstellung der Person von sich selbst, sondern die diese hervorbringende intersubjektive Konstellation (E. Goffman 1999 [1971]: 10-20). In dieser Hinsicht Goffman folgend, muss im Folgenden gleichwohl von der Goffmanschen Begriffsdefinition partiell abgewichen werden: Da im vorliegenden Fall nicht „Situationen und ihre Menschen“ beobachtet werden, sondern normierte Darstellungsformen in ihrem gesellschaftlich strukturellen Kontext, wird der Begriff des Images nicht wie von Goffman eingeführt als „der positive soziale Wert definiert werden, den man für sich durch die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion“, sondern – sehr viel offener gefasst – als die (positive oder negative) Vorstellung, die sowohl eine Person von sich als auch ihre Beobachter in Prozessen wechselseitigen Deutens und Handelns erlangen (E. Goffman 1999 [1971]: 8, 10). Eine idealtypische Imageberatung stellt nun eine besondere kommunikative Situation wechselseitiger Wahrnehmung und Zuschreibung dar, in welcher bestimmte Interaktionsstrukturen im Vorhinein festgelegt sind: Ein professionell Ratgebender steht einem ratsuchenden Laien gegenüber, wobei der Ratgebende mit dem Ratsuchenden bestimmte Handlungsoptionen erarbeitet und bisweilen auch Handlungsempfehlungen gibt (R. Schützeichel/ T. Brüsemeister 2004: 274280). Im Falle der Imageberatung wird der Prozess der Imagebildung aus dem fraglosen und quasi-natürlichen Bereich alltäglicher Interaktion herausgelöst und zum Objekt professioneller Beobachtung und Instruktion.
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Auch wenn es sich bei Benimmbüchern, Frauenzimmeralmanachen oder auch Erziehungsratgebern bereits um Frühformen der professionellen Darstellungsberatung handelt, ist das hier fortan als Imageberatung betitelte Phänomen durch eine sich in zertifizierten Ausbildungen und Beraternetzwerken niederschlagende Professionalisierung sowie eine ausgeprägte Standardisierung der Beratungsverfahren gekennzeichnet.
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Darstellungsnormen
Die von ihnen vermittelten Darstellungsnormen werden von Imageberatern mit dem Hinweis versehen, dass der audiovisuellen Darstellung der Person im Beruf und in der Öffentlichkeit – wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge – große Bedeutung zukomme. Als eine der wichtigsten Belege für jene Annahme gilt „Mehrabian’s Rule“. Diese Regel besagt nach Auskunft verschiedener im Zuge der Untersuchung befragter Imageberater, dass in den Eindruck, den eine Person bei ihrem Gegenüber hinterlässt, die Optik oder die körperliche Erscheinung zu 55%, die Stimme zu 38% und das gesprochene Wort zu 7% eingehen. Dass der amerikanische Psychologe Albert Mehrabian selbst betont, dass seine Untersuchungen zur Wahrnehmung von Gefühlen und Einstellungen sich nicht auf Selbstdarstellung im Allgemeinen übertragen lassen, sei hier nur am Rande erwähnt.7 Von rekonstruktivem Interesse ist vielmehr, dass diese vermeintlich sozialwissenschaftliche Erkenntnis in der Imageberatung zu einem alltagsrelevanten Handlungsimperativ wird. Denn mit ihrer Interpretation von „Mehrabian’s Rule“ argumentiert die Imageberatung, dass der erste Eindruck, den der Einzelne bei seinem Gegenüber hinterlässt, den Fortgang der Interaktion determiniert, und dass dieser Eindruck im Laufe einer Beratung folglich systematisch zu reflektieren und mithilfe regel(ge)rechter Körpertechniken zu bearbeiten ist. Neben ihrer appellativen Funktion deutet eine solche Aufwertung des ersten Eindrucks insbesondere auch die Problemlagen aus, die im Rahmen von ImageBeratungen bearbeitet werden sollen. Auf der Internetseite des Seminaranbieters „Up Grade Image Consulting“ etwa sind diese Problemlagen explizit benannt: „Der ‚erste Eindruck’ beeinflusst entscheidend jede Verhandlung, die Wirkung eines Vortrags oder den Verlauf eines Gesprächs. Denn schon unser ‚Bild’ kommuniziert. Im Idealfall sendet es Sympathie, Selbstbewusstsein, Kompetenz und Seriosität aus. Im Idealfall...“.8
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Vgl. A. Mehrabian 1972. Zu Albert Mehrabians Position zu einer solchen Auslegung seiner Forschungsergebnisse vgl. http://www.kaaj.com/psych/smorder.html (16.12.2008). www.upgrade-imageconsulting.de/ (07.12.2007).
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Personale Anerkennung, die „positive Zurkenntnisnahme“ (A. Honneth 2003: 14) einer Person durch andere, scheint durch eine unbearbeitete Selbstdarstellung nicht nur gefährdet. Weit mehr, innerhalb der Sinnstruktur der Imageberatung wird eine solch unkontrollierte Selbstdarstellung sowohl für berufliche als auch für private Interaktionszusammenhänge zum sozialen Exklusionsrisiko par excellence. Das zentrale Bewährungsfeld sozialer Inklusion ist demnach nicht eine „spezifische geartete Lebensführung“, wie sie Max Weber als alltagspragmatische Voraussetzung für die Zuerkennung „ständischer Ehre“ (M. Weber 1980 [1921]: 535) beschrieben hat, oder die „unverwechselbare soziale Erkennbarkeit“ (H. Willems/ Y. Kaut 1999: 299), wie sie seit dem 19. Jahrhundert verstärkt diskursiv eingefordert wurde, sondern die situative Darstellung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten – und ‚performativer’ noch: die ästhetische Bewährung in der Darstellung dieser Eigenschaften. In der Sinnstruktur der Imageberatung zumindest hat die hochgradig normierte Ästhetisierung personaler Selbstdarstellung die symbolische Funktion, den Fortgang und den Ausgang einer Interaktion bereits im Auftakt eines gezielten impression management zu determinieren. Notwendig ist es hierfür – ich habe implizit bereits darauf hingewiesen – unwillkürliche Verhaltensanteile durch die gezielte ‚Dissimulation’ spontaner Ausdrucksbewegungen oder biographischer Spuren zu vermeiden und durch ästhetisch normierte Darstellungsanteile zu ersetzen.9 Zum Zuge kommen hier – grundsätzlich unterschieden – zwei Gruppen von Normen: Normen, denen allgemeine Gültigkeit zugesprochen wird, und Normen, die in der Beratung von Person zu Person oder zwischen bestimmten Personengruppen variiert werden. Zu den Normen allgemeiner Gültigkeit sind (1) Normen der Körperpflege, der Körperhygiene sowie Normen der Höflichkeit und der Etikette zu zählen. So müssen die Fingernägel gepflegt sein, die Schuhe sauber, der Körpergeruch unaufdringlich, der Körper muss gewaschen sein, die Haare gepflegt und frisiert und die Kleidungsstücke müssen sauber und unbeschädigt sein; bei Tisch, bei der Begrüßung, bei einer Einladung sind Benimmregeln einzuhalten. Diese Normen der Körperpflege und Körperhygiene sind ebenso wie Normen der Höflichkeit Modi der Grenzziehung. Sie dienen dazu, den Einzelnen von jenen zu scheiden, die sich dieser Normen nicht bewusst sind oder die absichtlich gegen sie verstoßen. Zwar ist bei kleinen Verstößen gegen die Etikette vielleicht mit ein wenig Missbilligung zu rechnen. Größere Verstöße gegen Regeln des guten Benehmens, der Körperhygiene und der Körperpflege werden nach Deutung der Experten nicht nur missbilligt, vielmehr exkludieren die mit ihnen verbundenen sozialen Typisierungen eine Person aus gesellschaftlichen Anerkennungsverhält9
Zum Phänomen der Dissimulation individueller Typik vgl. M. R. Müller 2009: 179-218.
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nissen und weisen ihr soziale Randpositionen zu. Somit dienen soziale Darstellungsnormen nicht nur der sozialen Differenzierung, in der bewussten Umsetzung dieser Normen zeigt sich auch der Versuch selbsttätiger sozialer Inklusion. Den allgemeine Gültigkeit beanspruchenden Darstellungsnormen sind (2) Normen der Körperhaltung, der Stimme, der Gestik und der Mimik zuzurechnen. Diese Normen zielen darauf hin, ein Image so zu verkörpern, dass es einem Gegenüber glaubhaft erscheint. Beispielsweise soll die Körperhaltung aufrecht sein, um Selbstbewusstsein zu signalisieren, die Stimme soll deutlich und gut verständlich sein. Eine gebückte Körperhaltung, leises und undeutliches Sprechen oder eine zu hohe Stimme, werden nach Deutung der Experten von Beobachtern als Rollenunsicherheit ausgelegt und wirken aus diesem Grund nicht ‚authentisch’.10 Maßstab für die Glaubhaftigkeit einer Darstellung ist jedoch nicht der Alltag, sondern die mediale Inszenierung, denn trainiert werden diese Normen mit den Techniken des Schauspielers, um schließlich auf einer (improvisierten) Bühne oder vor einer Kamera erprobt zu werden.11 Von den besprochenen Darstellungsnormen können Normen unterschieden werden, die in der Beratung von Personengruppe zu Personengruppe variiert werden, abhängig von sozialer Rolle, Körperbau, Körperfarbe und persönlichen Eigenschaften. Anhand dieser persönlichen Merkmale wird der Einzelne einem Stiltypus, einem Farbtypus oder einem Figurtypus zugeordnet. Die Stilberaterinnen Veronika Wimmer und Angelika Encke etwa unterscheiden in ihrem Lehrbuch für die Ausbildung zur Typstylistin fünf Stiltypen, die in der Beratung noch weiter differenziert werden: „Feminin-romantisch, natürlich-leger, sportlich, klassisch-formell-elegant, und extravagant-provokant“ (V. Wimmer/ A. Encke 2006: 24). Mit der Zuweisung zu einem bestimmten Stiltypus werden dem Einzelnen somit auch spezifische Eigenschaften testiert, die bestimmte Fähigkeiten implizieren und fortan in seinem Auftreten zum Ausdruck kommen sollen. Es ist folglich nicht mehr die sich in Werken und Taten beweisende ständische Ehre, auf die eine solche Normierung zielt, sondern die in Kategorien des ‚Ansehens’ oder des ‚Prestiges’ beschreibbare Anerkennung als Person mit je spezifischen, zu gesellschaftlicher Selbstbehauptung befähigenden Eigenschaften und Fähigkeiten, die soziale Inklusion absichern und sozialen Aufstieg befördern sollen (A. Honneth 2003 [1992]: 204). Die Einübung dieser Eigenschaften und Fähigkeiten erfolgt in der persönlichen Beratung und auch in der Ratgeberliteratur häufig mithilfe von medialen Bildvorlagen. Nicht am Beispiel konkreter Anderer des sozialen Umfelds, son10 11
Vgl. hierzu M. Vorbeck 2003: 16f.; M. A. Reiter 2007:21-29;. E. Becker 2001: 82-89. Vgl. hierzu M. Vorbeck 2003: 16; M. A. Reiter 2007: 103; E. Becker 2001: 61.
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dern anhand von Modeaufnahmen oder Abbildungen prominenter Personen erfährt der Einzelne, wie er einen bestimmten Stil bildhaft zum Ausdruck bringen kann. Und so wird etwa der „sportlich-dynamisch-klare Stil“ für den Mann – laut Lehrbuch für persönlichkeitsorientierte Stilberatung – von den Schauspielern Clint Eastwood, Bruce Willis und Paul Newman vorbildlich verkörpert (V. Wimmer/ A. Encke o. J.: 73).
4
Resümee
In überwiegend geschlossenen und geringfügig anonymisierten Gesellschaften ist personale Selbstdarstellung weitgehend durch die soziale Position bestimmt: Material der Kleidung, Schnitt und Farbe, aber auch Haartracht, Schmuck und das Verhalten, geben dem Beobachter Auskunft über Stand, Berufsrolle, Alter, Religionszugehörigkeit, Herkunft, Lebensphasen oder Familienstatus. Die soziale Zuordnung durch im gesellschaftlichen Wissensvorrat fest verankerte Selbstdarstellungsformen ermöglicht es dem Beobachter, eine Person als diese oder jene zu identifizieren und ihr die ihrem Status entsprechende Wertschätzung entgegenzubringen. Solch verbindliche Formen sozialer Zuordnung verschwinden indes weitestgehend, wenn sich im Zuge der Pluralisierung gesellschaftlicher Deutungshorizonte die Zuteilung von Anerkennung von vorgeformten sozialen Rollenerwartungen tendenziell ablöst und sich an bestimmten Eigenschaften und Fähigkeiten entscheidet (A. Honneth 2003 [1992]: 207). Solche Eigenschaften und Fähigkeiten, wie Seriosität, Kreativität oder Flexibilität, sind für den Einzelnen zunächst überaus abstrakt und in anonymisierten Sozialzusammenhängen zudem nur schwer zu kommunizieren. Die Imageberatung stellt symbolische Formen für die Verkörperung von Eigenschaften und Fähigkeiten zur Verfügung und verspricht durch deren Anbindung an die Bildentwürfe massenmedialer Körpernormen die sichtbare Positionierung des Einzelnen innerhalb gesellschaftlicher Beobachtungs- und Anerkennungsordnungen. Innerhalb anonymisierter Sozialzusammenhänge bilden die Massenmedien jenen subjektiv geteilten Deutungshorizont, der für die Auslegung von Selbstdarstellungsformen unverzichtbar ist. Denn „je öffentlicher und je größer die ‚Bühnen’ oder Arenen sind auf denen soziales Handeln stattfindet, um so stärker ist der Zwang für die Akteure, sich ‚überpersönlicher’, ‚gemeinhin’ anerkannter oder zumindest bekannter Formen und Typen zu ‚bedienen’“ (H.-G. Soeffner 2000: 283). Die große Bedeutung, die der körperlichen Erscheinung und ihrer schnellen Interpretierbarkeit in der Imageberatung zugeschrieben wird, weist auf eine weitere, übergeordnete Problemstruktur hin: Nicht nur aufgrund struktureller Indivi-
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dualisierungsprozesse, sondern auch bedingt durch einen „neuen Geist des Kapitalismus“ wie ihn Luc Boltanski und Ève Chiapello in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts ausgemacht haben, übernimmt der Einzelne, „für seinen Körper, für sein Image, seinen Erfolg und sein Schicksal selbst die Verantwortung“. (L. Boltanski/ È. Chiapello 2003: 208). Die gegenwärtige wirtschaftliche Situation, infolge derer dem Einzelnen herkömmliche Formen gesellschaftlicher Durchsetzung (beruflicher Erfolg, sozialer Aufstieg) zunehmend verwehrt werden, erschwert jene Bürde der Verantwortung zusätzlich. Die massenmedial normierte und professionell angeleitete notwendige und aufwändige Arbeit am Image signalisiert dem jeweiligen Gegenüber ebenso wie dem Darsteller selbst die prinzipielle Fähigkeit und ebenso die Bereitschaft zu gesellschaftlicher SelbstInklusion und erweist sich so als ‚symbolische Arbeit’ an der je eigenen gesellschaftlichen Existenz.
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Internetadressen www.upgrade-imageconsulting.de (07.12.2007) http://www.kaaj.com/psych/smorder.html (16.12.2008)
Herausgeberinnen
Gesine Drews-Sylla promovierte 2007 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen mit einer Arbeit zu postsowjetischer Aktionskunst. Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin des Slavischen Seminars Tübingen und bearbeitet das Habilitationsprojekt „Russland und Afrika: ein polyloges Diskursgeflecht“ im Rahmen des Margarete von Wrangell-Programms. Elisabeth Dütschke ist Diplom-Psychologin und seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe in der Abteilung Energiesysteme und Energieeffizienz. Sie hat ihre Doktorarbeit zum Thema flexible Beschäftigung an der Universität Konstanz verfasst und war dort ebenfalls als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin tätig. Halyna Leontiy promovierte an der Universität Konstanz im Fach Soziologie mit einer empirischen Arbeit zur interkulturellen Wirtschaftskommunikation am Beispiel deutsch-ukrainischer Arbeitskontexte. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz und Lehrbeauftragte an der Zeppelin University Friedrichshafen. Derzeit bereitet sie ein Post-Doc-Projekt zur Erforschung von Inklusions- und Exklusionsprozessen durch Satire und Komik in Spätaussiedler-Milieus vor. Elena Polledri ist Assistenzprofessorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Udine. Sie war 2007 bis 2009 Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Universität Konstanz mit dem Projekt „Die Aufgabe des Übersetzers in der Goethezeit“ und promovierte an den Universitäten von Mailand (Cattolica) und Konstanz mit der Dissertation „Der Begriff des Maßes in Hölderlins Werk“ (2001).
Autorinnen und Autoren
Andrea Bettels studierte Gender Studies und Germanistische Linguistik an der HU Berlin. Sie arbeitet an einer biografischen Studie zu lesbischen Frauen in der Slowakei (Dissertationsprojekt im Bereich Gender Studies/ Erziehungswissenschaft) und ist zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Greifswald. Christa Baumberger promovierte an der Universität Zürich mit einer Arbeit zu Polyphonie und Mehrsprachigkeit bei Friedrich Glauser. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und Redakteurin des Literaturjahrbuches „Viceversa Literatur. Jahrbuch der Literaturen der Schweiz“. Michael Bolte ist freiberuflicher Soziologe. Er promovierte als Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung an der Technischen Universität München zu individuellen Formen des Zeithandelns in privaten und Unternehmenskontexten. Elena Botsi promovierte an der Universität Konstanz mit einer Arbeit über die albanischsprachigen (arvanitika) Gemeinschaften Griechenlands. Derzeit ist sie Dozentin an der Panteion Universität Athen – Sektion Soziologie und Mitarbeiterin des von der Balkan-Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geführten Forschungsprojekts „Cultural contact and terminology by mobile shepherds“. Mareike Clauss promoviert zurzeit mit einem Forschungsprojekt zu Männlichkeitsdarstellungen im Spielfilm der DDR und USA. Seit Abschluss des SFB "Norm und Symbol" in Konstanz arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für vergleichende Kultursoziologie an der Europauniversität Viadrina. Juliane Deppe studierte Italienisch und Latein in Konstanz und Rom. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz. Seit 2008 ist sie Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg und arbeitet an einer Dissertation mit dem Titel „Verstummen erzählen. Aphasie und Poetik in der Narrativik von Abate, Bonaviri und Consolo“. Sie ist Lehrbeauftragte an der Universität Konstanz.
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Stefanie Everke Buchanan ist Ethnologin und promovierte an der Monash University in Melbourne, Australien, zur Konstruktion kultureller Identität bei deutschen Einwanderern. Sie ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sportwissenschaft der Universität Konstanz tätig. Andrea von Kameke hat in London und Hamburg studiert und promoviert derzeit am Institut für Medienwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Sie war Mitglied des Graduiertenkollegs „Die Figur des Dritten“ in Konstanz und ist seit 2008 als Fellow am ICI Kulturlabor in Berlin im Rahmen eines Forschungsprojektes zum Thema „Spannung“. Konstantin Kaminskij studierte Slavistik, Deutsche Literatur sowie Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz und St. Petersburg. Zurzeit promoviert er an der Universität Konstanz zum Thema „Poetik der Elektrizität“, und ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle „Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären“ beschäftigt. Zornitza Kazalarska studierte Slawistik und Literaturwissenschaft an der Universität „St. Kliment-Ohridski“ in Sofia. Sie war 2005-2008 Forschungsstipendiatin des DAAD an der Humboldt-Universität zu Berlin und promoviert derzeit über das Thema „Die Wiederholung als Schwelle. Die ostmitteleuropäische Tauwetterlyrik 1956-1964“. Géraldine Kortmann-Sene studierte romanistische Literaturwissenschaft, Soziologie, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz, Paris und Lyon. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz. Seit 2008 arbeitet sie am Konstanz Institut für Wertemanagement an der HTWG Konstanz. Promotionsprojekt zum Wandel der Darstellungs- und Erinnerungsformen zum Holocaust in Literatur und Film. Hannes Krämer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ an der Universität Konstanz. Er forscht in seinem Dissertationsprojekt aus organisations- und arbeitsethnographischer Perspektive zur Praxis der Erwerbsarbeit in den Creative Industries. Ana-Maria Palimariu hat einen Master in den Fächern Germanistik und Anglistik der Universität „Alexandru Ioan Cuza“ in Jassy (Rumänien) absolviert, wo sie heute als wissenschaftliche Oberassistentin arbeitet. 2006 promovierte sie im
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Autorinnen und Autoren
Fach Germanistik an der Universität Konstanz mit einer Arbeit über Martin Walsers Ironiebegriff. Maud Schmiedeknecht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Konstanz Institut für WerteManagement und promoviert an der Universität Oldenburg mit einer Arbeit zum Stakeholder Management und zur gesellschaftlichen Verantwortung von Organisationen. Anne Sonnenmoser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und arbeitet an einer Dissertation im Fach Soziologie zum Thema „Personale Selbstdarstellung in medialen Beobachtungs- und Anerkennungsordnungen“. Sandra Tinner studierte an den Universitäten Zürich und Neuchâtel (Schweiz) Romanistik mit Schwerpunkt französische Linguistik und wechselte nach ihrem Abschluss in die Neuropsychologie. Sie ist zurzeit in der Endphase ihres Dissertationsprojekts bei Prof. Lutz Jäncke an der Universität Zürich, wo sie Gehirnstrukturen von früh- und spätzweisprachigen Personen untersucht. Agnieszka Vojta promoviert an der Universität Konstanz über Frauenreiseliteratur. Sie ist Co-Koordinatorin des Konstanzer Netzwerks internationaler (Post-) Doktorandinnen. Sonja Wrobel ist Politikwissenschaftlerin und hat ihre Dissertation an der Graduate School of Social Sciences (Universität Bremen) über Legitimationsstrategien von politischen Akteuren in der Sozialpolitik verfasst. Sie war als Postdoktorandin am Bremischen Sonderforschungsbereich 597 „Staatlichkeit im Wandel“ und als Referentin in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrates in Köln tätig. Seit 2010 arbeitet sie für das nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerium.