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Bisher sind im BASTEI-LÜBBE Taschenbuchprogramm von JERRY POURNELLE nachstehende Bände erschienen: 21 124 Mars, ich hasse dich! 24 012 Black Holes 21 128 Der letzte Söldner 24 013 Die entführte Armee 21 136 Jenseits des Gewissens
Jerry Pournelle
König Davids Raumschiff Science Fiction-Roman
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestseller Band 22 061
© Copyright 1980 by Jerry Pournelle All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1983 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: King Davids Spaceship Ins Deutsche übertragen von: Barbara Heidkamp Titelillustration: Chris Moore Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Eisnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ISBN 3-404-22061-7 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Teil Eins Kolonie
1 Die Blaue Flasche Obwohl es noch ziemlich früh am Abend war, herrschte in der Blauen Flasche rege Betriebsamkeit. Mädchen kreischten laut, wenn Kunden sie kniffen, bunt gekleidete Kellner brachten Runde auf Runde, und fast überall im Raum waren fröhliche Rufe zu hören. Grund dafür waren drei Offiziere der Imperialen Marine, die in einer Ecke des überfüllten Raumes Hof hielten und jedem auf Prinz Samuals Welt Drinks spendierten, der sich zu ihnen setzte und ihnen zuhörte. Einige der Besucher verhielten sich reserviert, und mit jeder Runde wurde ihre Abneigung gegen die unerwünschte Gesellschaft deutlicher, aber für jeden von ihnen gab es vier andere Bürger von Haven City, die nur zu gern den Humor und den Alkohol des Imperators teilten. Noch vor Morgengrauen würden die Offiziere zweifellos neue Rekruten für die Imperiale und die Königliche Marine angeworben haben, junge Burschen, die sich nach einem bösen Erwachen im eisernen Dienst zwischen den Sternen wiederfinden würden. Sie würden ihre Heimat nie mehr wiedersehen und entdecken, daß imperiale Offiziere nicht mehr solche prima Kumpel waren, wenn man unter ihrem Befehl stand. Aber noch flossen Whisky, Brandy und Grua – ein Destillat aus einer Kreuzung zwischen einer Beeren- und einer Pfirsichsorte, die nur auf Prinz Samuals Welt angebaut wurde – in Strömen. Die Witze waren neu für die 7
Einheimischen, auch wenn sie schon vor hundert Jahren in den Baracken in New Annapolis erzählt worden waren, und die in karmesinrote und goldene Jacken gekleideten Offiziere Seiner Imperialen Majestät hatten sich entspannt und fühlten sich wie zu Hause, wie immer, wenn sie sich auf einem kaum zivilisierten Planeten aufhielten. Die drei waren Klassenkameraden, noch keine sechs Jahre aus der Akademie, und die Gold- und Silberstreifen des Leutnantrangs waren erst vor noch nicht allzu langer Zeit auf ihre Jackenärmel genäht worden. Bei näherer Betrachtung hätte man feststellen können, daß einer von ihnen ein Jahr jünger war als seine Freunde. Er war außergewöhnlich begabt, hatte seinen Rang eines Leutnants zur See allerdings nicht nur seinen Fähigkeiten, sondern auch dem Einfluß seiner Familie zu verdanken, und dieser junge, frischgebackene Leutnant Jefferson war im Augenblick sehr betrunken. Während seine Kameraden verstohlen die oberste Schnalle ihres gestärkten Jackenkragens geöffnet hatten, stand Jeffersons Jacke halb offen und enthüllte ein nicht gerade sauberes Hemd und darunter einen kleinen Taschencomputer. Die unzähligen, fingerhutgroßen Gläser mit Grua hatten ihn seine gewohnte Zurückhaltung vergessen lassen, und Leutnant Jefferson sonnte sich in der ehrfürchtigen Achtung, die ihm die Einheimischen entgegenbrachten. Er hatte schon fast vergessen, daß sie ja eigentlich Wilde waren, und daß er und der kleine Außenposten der Marine auf Prinz Samuals Welt die einzigen Vertreter der wahren Zivilisation im Umkreis von zehn Lichtjahren waren. Seine beiden Kameraden gaben gerade lautstark einige Lieder 8
zum besten, und als die Reihe an ihm war, fügte er eine Strophe hinzu, die so obszön war, daß die Mädchen schockierte Gesichter machten. Er grinste und sah sich beifallheischend um, worauf er ein weiteres Glas Grua hinunterkippte. Ihm gegenüber saß ein junger, von der Feldarbeit gebräunter Bursche, der eigentlich zu jung für die Blaue Flasche war, hätte er nicht bei den Vertretern des Imperators gesessen. Er strahlte seinen neuen Freund an und lobte begeistert dessen Sangeskunst. »Große Klasse, Leut… eh, Jeff, wirklich großartig. Wie sieht es eigentlich da draußen aus? Erzähl uns doch mal von den anderen Welten. Sind wir die rückständigsten Leute, die dir bisher untergekommen sind?« Leutnant Jefferson rülpste laut, murmelte automatisch eine Entschuldigung und versuchte, sich auf seinen Bewunderer zu konzentrieren. »Teufel, nein, Simon, bei weitem nicht. Samual hat doch schon Gewehre, Fabriken und – Elektrotechnik und Wasserkraftwerke. Liebe Güte, ihr braucht euch sicher nicht zu schämen. Ihr habt keine Weltregierung, und die Kriege, die ihr dauernd führt, machen euch kaputt, sonst wärt ihr ganz bestimmt keine Kolonie mehr im Imperium, sondern hättet längst Klassezwei-Status. Wenn man sich überlegt, wie schwer es euch in den Sezessionskriegen getroffen hat, ist es erstaunlich, wie weit ihr in den paar Jahrhunderten gekommen seid … Standardjahrhunderten, natürlich. Ihr seid schon ganz groß, stimmt's?« Aufmunternd stieß er seinem Kameraden den Ellbogen in die Rippen. Leutnant Clements drehte sich zu Jefferson um, und in 9
seinem schwarzen Gesicht blitzten zwei Reihen schneeweißer Zähne. »Klar doch, Jeff. Du brauchst nicht zu lügen, wenn du ihnen sagst, daß es uns noch nirgends so gut gefallen hat wie hier, seit wir die Hauptstadt verlassen haben. Wirklich«, fügte er bekräftigend hinzu, um sich dann wieder dem Mädchen zuzuwenden, das neben ihm saß. »Habt ihr das gehört, Leute?« rief Jefferson und sah sein Gegenüber an. »Lieber Simom, wir sind schon auf Planeten gewesen, wo man noch keine Kraftwerke kennt, keinen Strom und keine Gewehre, nur Pferde und Leute, die in Eisenhosen herumlaufen. Weißt du, wie ihr – nein, wie wir es in den imperialen Geschichtsbüchern nachschlagen können, die über die Zeit berichten, als es für die Menschen nichts als die Erde gab. Ihr seid ja dagegen schon fast bei der Raumfahrt, Leute. Wärt ihr hundert, oder vielleicht sogar nur fünfzig Jahre weiter, dann hättet ihr uns gefunden statt umgekehrt. Schade, daß es nicht so war«, fügte er mit veränderter Stimme hinzu. »Es wäre besser für euch gewesen, denn wenn ihr schon im Stadium der Raumfahrt gewesen wärt, als wir euch entdeckt haben, wäre euch der Klasse-zwei-Status, vielleicht sogar Klasse eins sicher gewesen. Aber es ist ja nicht eure Schuld; das Untersuchungsschiff war auf der Suche nach einem Gasriesen, der Treibstoff liefern kann, und dabei sind sie dann auf euch gestoßen. Ein Jammer.« Jefferson starrte auf sein leeres Glas. »He, Wirt! Wirt! Her mit dem Grua!« Zwei Besucher der Blauen Flasche marschierten demonstrativ dicht an den Offizieren vorbei, als sie mit wehenden Kilts aus der Schenke stapften, doch Jefferson 10
bemerkte es nicht. Nachdem der Oberkellner sie mit Nachschub versorgt hatte, fragte Simom: »Wie sieht es da aus, wo die Leute noch in Eisenhosen herumlaufen? Ist es weit von hier? Habt ihr den Planeten schon kolonisiert? Können wir ihn uns ansehen?« »He he«, rief Jefferson. »Immer schön eins nach dem anderen. Weit? Ich glaube, nur zwölf Lichtjahre von hier, also nur einen Sprung. Laß mich überlegen. Ja, zwischen den beiden Sonnen ist nichts, und ihre ist ziemlich groß. Wenn ich mich nicht irre, heißt sie bei euch Nadelöhr. Wenn du nach draußen gehst, müßtest du sie sehen können. Kolonien haben wir dort noch nicht, weil es sich einfach nicht lohnt. Wir sind so knapp besetzt. Da draußen ist nur ein kleiner Beobachtungsposten, der nach fremden Rassen Ausschau halten soll. Ein erster Leutnant, ein paar weitere Offiziere und einige wenige Soldaten. Noch nicht einmal ein Schiff kreist auf der Umlaufbahn. Ortungsgeräte und ein Beobachtungssatellit, das ist alles. Außer ihrem Tempel gibt es da draußen ja auch nichts von Bedeutung.« Jeffersons Stimme war bei den letzten Worten leiser geworden und ließ eine Spur von Resignation erkennen. Er mußte an die gewaltige Aufgabe der Imperialen Marine denken, die Teile eines Imperiums wieder zusammenfügen, das in den Sezessionskriegen auseinandergebrochen war, eine Aufgabe, mit der man erst vor wenigen Jahrzehnten begonnen hatte. Seine Majestät hoffte, das Imperium wieder zu vereinen, bevor ein neuer Krieg die Menschheit in die primitivsten Verhältnisse zurückwerfen würde. Bei dem letzten Krieg hatte es keine Gewinner gegeben, und der nächste würde sicher noch schlimmer sein. Es durfte 11
keinen nächsten geben, sagte er sich. Unter keinen Umständen. Sein Gesicht hellte sich wieder auf, als er an den rauhen Humor und die offene Freundschaft der Einheimischen dachte. Besser, sich jetzt zu amüsieren, überlegte Jefferson. Die Bewohner würden sicher nicht mehr so freundlich zu der Marine sein, wenn erst die ersten Kolonisten angekommen waren – aber bis dahin würden noch Jahre vergehen, und der Abend war noch lang. »Weißt du, Simom, das Komischste an dem Ganzen ist ja, daß der Tempel für sie wertvoller ist als der ganze verdammte Planet. Bloß wissen sie das nicht! Sie hatten ganz recht, als sie ihn zu einem heiligen Ort machten, den sie bewahrten und schützten, nur wissen sie nicht, warum! In diesem Labyrinth, das sie um den früheren Palast des Vizekönigs errichtet haben, befindet sich nämlich eine gesamte Unterabteilung der Bibliothek des alten Imperiums! Die Staatsbibliothekare sind fast verrückt geworden, was da noch alles zu finden ist. Geschichtsbücher und sogar Betriebshandbücher für die frühere imperiale Flotte. Alles, was du dir nur vorstellen kannst, ist dort noch vorhanden, entweder ganz oder zumindest teilweise. Und sie haben keine Ahnung, was sie da hüten! Aber auch wenn sie es wüßten, würde es ihnen nichts nutzen, denn sie könnten die Technik ja doch nicht verstehen. Und wie sie das Zeug bewachen! Wir haben nicht geglaubt, daß wir es schaffen würden, wenigstens ein paar Kopien für die Archive zu bekommen. Wenn wir auch nur einen der Würfel mitgenommen hätten – ja, du hast richtig gehört, Würfel. Die Bibliothek war nämlich an einen Computer angeschlossen. Etwas ganz anderes als die Bücher, wie ihr 12
sie kennt. Ich kann dir sagen, das war eine ganz schöne Arbeit. Die ganze Zeit über haben uns die Priester keine Sekunde aus den Augen gelassen. Wir haben auch nur ein paar Kopien machen können, aber irgendwann kommen wir schon dran. Eine Lebensaufgabe für einen Historiker. Wir mußten uns hineinschleichen, nachdem wir die Bischöfe davon überzeugt hatten, daß wir von den Sternen kamen – bis heute haben sie den Bewohnern der Stadt nichts von uns erzählt. Sogar der Kaplan hat mitspielen und sie überzeugen müssen, daß wir orthodoxe Gläubige seien. Er hat ihnen irgendwie weisgemacht, daß auch wir daran glauben würden, daß Gott aus ihren Archiven spricht, und gemeint, es wäre sehr wichtig für unseren Glauben, und gelogen hat er da nicht, denn das erste, was sie kopiert haben, war eine Bibel. Hätten sie es nicht getan, wären die Bischöfe wahrscheinlich aufsässig geworden und hätten die Bürger zur Verteidigung des Tempels aufgerufen, und dann wäre ein Schlachtschiff nötig gewesen, um sie alle zu töten. So etwas können wir aber nicht tun, denn sie sind im Grunde ganz brave Leute. Eines Tages werden wir jeden einzelnen in diesem Sektor brauchen. Uhhh, ich rede viel zuviel. Gieß nach. Dieser Grua ist doch das Beste, was es auf diesem Planeten gibt. Oder jedenfalls«, ergänzte er, wobei er zu dem großen blonden Mädchen aufsah, das neben ihm stand, »mit das Beste.« Leutnant Jefferson war nicht der einzige betrunkene Offizier in der Blauen Flasche, aber er hätte in dem grauäugigen Mann mit dem einfachen Kilt, der zwei Tische weiter saß, kaum einen Angehörigen der Offiziersklasse erkannt. Colonel Nathan MacKinnie, erst vor kurzem aus 13
dem Dienst für den Ausschuß von Orleans für Öffentliche Sicherheit entlassen, bevorzugte Whisky in großen Gläsern, von denen er fast schon so viele geleert hatte wie Jefferson Grua. MacKinnie war verhältnismäßig groß, einige Zentimeter größer als der durchschnittliche Samualit, besaß allerdings nicht die auffallend breiten Schultern, die typisch für die Bewohner dieses Planeten waren. Mit seinem strohblonden Haar, das an den Schläfen bereits leicht ergraut war, sah er eher aus wie ein dienstälterer Offizier der Imperialen Marine als wie ein Einheimischer. Er saß schweigend an seinem Tisch, winkte von Zeit zu Zeit nach einem weiteren Glas und rauchte unzählige Pfeifen 'robak. Hin und wieder, wenn ein besonders lauter Ruf aus der Ecke, in der die drei imperialen Offiziere zechten, an sein Ohr drang, verzog er das Gesicht zu einer Grimasse, doch die meiste Zeit über saß er einfach regungslos da, ohne sich die enormen Mengen von Whisky anmerken zu lassen, die er hinunterkippte. Hal Stark, MacKinnies früherer Sergeant, jetzt Diener, Begleiter und Kamerad in einem, beobachtete besorgt seinen Colonel, während er im Geist die Whiskys zusammenrechnete, die Nathan getrunken hatte, und daran denken mußte, wann sie das letzte Mal gegessen hatten und wie früh am Abend es noch war. Schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seinem eigenen Drink zu, dem zweiten an diesem Tag. Er ließ gerade einen Schluck von dem bernsteinfarbenen Grua genußvoll über seine Zunge fließen, als MacKinnie seine Pfeife so hart auf seinen Handballen schlug, daß der Holm zerbrach. »Verdammt!« murmelte er. »Sieh dir nur diese 14
jämmerlichen Exemplare von Offizieren an, Hal. Und diese Säufer sind die Herrn auf Prinz Samuals Welt, die ›Repräsentanten der Zivilisation‹, wie sie sich so schön nennen, die Männer, die bestimmen, was hier geschieht, und die die Unabhängigkeit von Orleans auslöschen wie ein Sturm eine Kerze. Sieh sie dir an, diese stammelnden und lallenden Herrscher über alles, was wir kennen.« »Sie haben natürlich recht. Aber, Sie mögen mir diese Bemerkung verzeihen, ich glaube, mich an einen jungen Leutnant erinnern zu können, der vor Jahren den Alkohol ebensowenig vertragen konnte wie jetzt diese drei, wenn ich es einmal so ausdrücken darf.« Es war schwierig zu entscheiden, inwieweit Starks entschuldigende Miene ehrlich gemeint war. Colonel MacKinnie runzelte einen Moment die Stirn, um dann in lautes Gelächter auszubrechen. »Da muß ich dir ausnahmsweise recht geben, Hal. Ich konnte es wirklich nicht.« Er betrachtete seine unbrauchbar gewordene Pfeife und machte dann einer Kellnerin ein Zeichen, von der er Zigarren aus echtem Tabak aus Erdbeständen kaufte, zu einem Preis, den er sich eigentlich nicht leisten konnte. »Ein paarmal hast du mich sogar zu den Kasernen zurückrollen müssen, stimmt's? Du hast mich nie im Stich gelassen. Als was bist du eigentlich am besten, Hal? Als Bursche, als Sergeant oder als arbeitsloser Diener eines Colonels ohne Kommando?« »Als was immer der Colonel mich haben möchte. Richtig geantwortet? Wohin gehen wir als nächstes, Colonel?« MacKinnie schüttelte bedächtig den Kopf und sah sich suchend im Raum um, als läge hier die Antwort auf die 15
Frage verborgen. »Auf dem Südkontinent wird immer noch gekämpft. Vielleicht können wir da etwas finden.« Er griff in seine Tasche und fügte hinzu: »Es wird übrigens allerhöchste Zeit, daß wir etwas finden, sonst verhungern wir am Ende. Aber es wird nicht mehr so sein wie früher, Sergeant. Wenn es jetzt für uns ›kämpfen‹ heißt, dann nur, um unsere Rechnungen bezahlen zu können. Was wir tun, ist nicht mehr von Bedeutung. Die Zukunft hier gehört denen da.« Mit der Zigarre in der Hand deutete er auf Jefferson, der inzwischen das blonde Mädchen auf seinen Schoß gezogen hatte. Die Hände hatte sie tief in seiner Uniformjacke vergraben, während er versuchte, ein Glas Grua in sich hineinzuschütten. Die Blonde kreischte vergnügt auf. »Für Sie ist es noch viel schlimmer als für mich, Colonel. Ich habe nie richtig gewußt, worum es eigentlich ging, jedenfalls nicht so genau wie Sie. Solange wie Sie es nur wissen, soll es den Truppen recht sein.« Stark kippte den Rest Grua in seinem Glas hinunter und blickte dann erneut auf seinen Offizier. »Trinken Sie aus, Colonel, irgendwo gibt es für uns sicher genug zu tun. Wir könnten ein ganzes Regiment von Männern aufstellen, die Ihnen bis in die Hölle folgen würden. Morgen werde ich ein paar der alten Kampfgefährten zusammentrommeln, und dann zeigen wir denen im Süden schon, was kämpfen heißt.« MacKinnie grinste, während er seine Zigarre systematisch anwärmte, bevor er sie anzündete. Es war gemütlich in der Schenke, die Gesellschaft war angenehm, und für einen Augenblick vergaß er die Hoffnungslosigkeit. Er bestellte sogar einen kleinen Grua, in den er das Ende 16
seiner Zigarre tunkte. Gedankenverloren inhalierte er den herben Rauch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, die Füße unter dem Tisch ausgestreckt. Stark, der ihn beobachtete, sah, wie sich die harten Linien im Gesicht des Colonels glätteten, und bestellte eine weitere Runde. Nichts war in Ordnung, überlegte MacKinnie, aber wozu sollte er den großen Mann neben ihm beunruhigen? Er würde das Spiel bis zum Ende spielen müssen, doch im Augenblick war er müde. Müde auf eine Weise, die auch der Schlaf, die Ruhe und die wenige Arbeit während der letzten Wochen nicht beseitigen konnten. Es war irgendwie komisch, dachte er. Vierzig Jahre lang war er Colonel seines eigenen Regiments gewesen, ein offizieller Bürger von Orleans, und seiner Karriere als höherer Offizier und schließlich General schien nichts im Wege zu stehen. Nicht schlecht für einen umherziehenden Söldner, dessen Stadtstaat nur wenige Monate vor seinem Abschluß an der kleinen Militärakademie zerstört worden war und der daraufhin auf der Suche nach einem Lebensunterhalt umhergestreift war, bis er in den Reihen der Armee von Orleans endete. Aufstieg, Ehrungen, Achtung und Staatsbürgerschaft, eine akzeptable Karriere. Und mit all dem war es vorbei, als die Boote des Schiffes landeten, das noch immer auf der Umlaufbahn um Samual kreiste. Zehn Jahre brillanter Kriegsführung hatten verhindert, daß Orleans das gleiche Schicksal erlitt wie das Nachbarland Samand. Keine Macht hatte es geschafft, die Republik zu annektieren – aber der Imperialen Marine war dies innerhalb von nur einer Woche gelungen. Jetzt war Orleans also das Herzogtum Orleans, Seiner Majestät König David 17
dem Zweiten von Haven Untertan, und Orleanisten waren in der königlichen Armee nicht gewünscht. Natürlich ehrte man den Helden vom Blanthern-Paß, dessen Regiment die besten Truppen besiegt hatte, die Haven ins Feld geführt hatte. Fein gemacht, alter Junge! Obendrein bewilligte man ihm eine unzureichende Pension. Natürlich hat seine Majestät ihre eigenen Colonels, aber wir werden Sie mit einer großzügigen Pension entschädigen. Keine Ressentiments, und natürlich keine Vergeltungsmaßnahmen gegen die Orleanisten. Wirklich nicht, höchstens gegen einige höhere Politiker. Sie haben sich nie mit Politik beschäftigt, Colonel? Natürlich nicht. Dafür sind Sie ein viel zu guter Soldat. Ja, Sie können jetzt abtreten. Und plötzlich war Colonel MacKinnie ein alter Mann, der die vielen Feldzüge zu spüren begann und der bereit war, im Alkohol Vergessen zu suchen. Er hatte den Palast schon verlassen und irrte ziellos umher, als er merkte, daß Stark ihm folgte. Sicher, er hätte kämpfen können. Auch nachdem sich der Ausschuß der allgewaltigen Macht der Imperialen Marine gebeugt hatte, hätte er MacKinnies Wölfe ins Feld führen können. Sie hätten sich in den Wäldern verstecken und in so kleinen Formationen gegen die Soldaten von Haven kämpfen können, daß die Marine sie niemals entdecken und mit ihren Weltraumwaffen hätte auslöschen können. Aber für wie lange? Und was hätten die Imperialisten dann mit Orleans gemacht? Wie lange hätte ihn das Volk der Republik noch unterstützt? Wie lange hätte es gedauert, bis diese romantische Geste den Reiz des Neuen verlor und sich die Bewunderung der Bürger in Haß und Abscheu verwandelte, wenn eine Stadt nach der 18
anderen aus dem Weltraum bombardiert und in ein geschwärztes Aschenfeld verwandelt worden wäre, so, wie es mit Lechfeld geschehen war? MacKinnie zog an seiner Zigarre und ließ den warmen Rauch über seine Zunge und die Lippen in seine Nase treiben, wo er die unglaublich angenehme Mischung aus echtem Tabak und Grua wahrnehmen konnte, bevor er die feinen Düfte mit dem harten Geschmack von Whisky zerstörte. Am Tisch gegenüber stand jetzt ein Pärchen auf und stolperte in Richtung Tür. MacKinnie konnte Jefferson zum erstenmal genau betrachten. Der junge Marineoffizier erzählte gerade einem jungen Bewunderer von einem fremden Planeten, einer Welt, wo man keine Gewehre, sondern nur Schwerter hatte und Gott in einem Tempel verehrte, der früher einmal eine Bibliothek des alten Imperiums gewesen war. Wir sind beide Säufer, dachte MacKinnie. Doch dem da drüben geht es besser als mir. Er sieht seinen Weg vor sich, und was er tut, wird nicht von etwas zunichte gemacht, gegen das man nicht ankämpfen und das man auch nicht verstehen kann. Stark hatte recht. Dieser junge Mann ähnelte dem früheren Nat MacKinnie, aber mit dem heutigen hatte er nichts gemeinsam. Der frühere kannte seinen Weg, und was er erreichte, gehörte ihm. Und dasselbe traf nun auf diesen Jungen zu. Mit einem bitteren Fluch erkannte Nathan MacKinnie, daß er die jungen Männer beneidete, die seine Welt erobert hatten.
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2 Ehrenhafte Räuber Der Abend schleppte sich dahin, und die erste Runde der Besucher beendete ihr Gastspiel. Für die Spätvorstellung war es noch zu früh, und für viele der Gäste war es bereits mehrere Drinks zu spät für alles andere. In der Schenke wurde es ruhiger, als die erste Gruppe von Zechern aufbrach und die Blaue Flasche den trinkfesten Besuchern und den Animiermädchen überließ. Nur die Stimme Leutnant Jeffersons, die gelegentlich von dem Gekicher der Mädchen am Offizierstisch unterbrochen wurde, hob sich von dem leisen Gemurmel der Unterhaltung ab. MacKinnie fand, daß es an der Zeit war, zu gehen. Entschlossen stand er auf, doch als er nach seinem Mantel greifen wollte, den er über einen Stuhl neben sich gelegt hatte, verlor er das Gleichgewicht und prallte gegen einen kleinen Mann mit rundem Gesicht und einem schmalen Schnäuzer. Der sprang flink wie ein Wiesel zurück und begann, eine Entschuldigung zu murmeln. »Nein, nein«, wandte sich MacKinnie an ihn. »Die Schuld liegt ganz bei mir. Nichts für ungut«, fügte er hinzu. Seine Entschuldigung war überflüssig, denn der kleine Mann war unbewaffnet, und der Gedanke, daß er sich durch MacKinnies Ungeschicktheit beleidigt fühlen und diesen herausfordern könnte, schien geradezu lächerlich. Nur mit Mühe konnte sich Nat ein Grinsen verbeißen. 20
»Aber das macht doch nichts«, antwortete der andere. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen.« Er streckte die Hand aus. »Malcolm Dougal«, stellte er sich eher schüchtern vor. Sein Händedruck war fester, als MacKinnie angenommen hatte. Er musterte sein Gegenüber ausgiebig, konnte aber nichts Ungewöhnliches an ihm feststellen. Der Mann trug einen Kilt, der aus einem Schottenplaid angefertigt war, wie man es in Geschäftskreisen bevorzugte. Dazu kamen ein teures Jackett, einige wenige ausgesuchte Schmuckstücke und ein Siegelring an der linken Hand, der auf die Prinz-Samual-Universität schließen ließ, obwohl es natürlich auch andere Schulen gab, die diese Gravierung kopierten. Abgesehen von seiner geringen Größe unterschied er sich in nichts von den zahllosen Geschäftsleuten, die man jederzeit in den Dinerclubs sehen konnte. Bei genauerer Betrachtung wirkte Dougal allerdings nicht mehr so klein. Es war seine wieselgleiche Art, die ihn so klein erscheinen ließ, und abgesehen davon wirkte natürlich neben Stark jeder winzig. Aber noch etwas anderes fiel MacKinnie an diesem Dougal auf. Wenn man ihn sich nämlich näher ansah, konnte man feststellen, das etwas Bedrohliches von ihm ausging, obwohl diese Vorstellung zu lächerlich erschien. MacKinnie schüttelte heftig den Kopf, um den Whiskynebel aus seinem Hirn zu vertreiben. »Vielen Dank, aber ich habe schon mehr als genug«, lehnte Nathan das Angebot ab. »Nathan MacKinnie. Ich vergesse ganz die guten Manieren. Es muß wohl an dem vielen Whisky liegen. Noch mal, nichts für ungut.« 21
»Es macht wirklich nichts. Vielleicht werden wir uns noch einmal begegnen. Guten Abend.« »Guten Abend, Bürger Dougal.« MacKinnie verbeugte sich und wandte sich dann dem Ausgang zu. Er überließ es Stark, ihre Umhänge zu holen und die Rechnung zu bezahlen. Draußen schlugen die beiden Männer die Richtung zum Hafen ein und schlenderten langsam auf die am Wasser gelegene Herberge zu, in der sie Zimmer gemietet hatten, die sich eher mit MacKinnies dürftiger Pension vereinbaren ließen als die Räume in den Gebäuden um die Blaue Flasche. MacKinnie machte es nichts aus, in billigen Unterkünften zu logieren, aber er war sich seines Ranges als Colonel noch immer soweit bewußt, daß er wenigstens in einer vornehmen Schenke trinken wollte. Ein leichter Regen setzte ein, der die wenigen Bürger, die sich draußen in den Straßen befanden, veranlaßte, sich nach Taxis umzusehen. Ein alkoholgetriebenes Dampfauto surrte ruhig an ihnen vorbei, und als es auf gleicher Höhe mit den beiden Männern war, wurde es langsamer. Der Fahrer blickte prüfend in ihre Gesichter, schien aber dann zu dem Schluß zu kommen, daß sie wohl als Fahrgäste nicht in Frage kamen, denn er fuhr zügig weiter. Hinter ihnen war plötzlich das Klappern von Pferdehufen zu hören. Es war eine zweirädrige Droschke, und von seinem Sitz aus sprach sie der Kutscher an. »Ich mache es billig für Sie, meine Herrn. Ganz gleich, wohin Sie wollen. Ich kann Ihnen alles in Haven zeigen, was Ihr Herz begehrt. Sie fahren zum Billigstpreis. Zu Fuß werden Sie doch naß bis auf die Haut.« MacKinnie nickte, worauf der Kutscher von seinem Sitz 22
heruntersprang und ihnen die Tür offenhielt. »Wohin soll's denn gehen, meine Herren? Zum Blackfire? Zum Hellfire? Oder möchten Sie vielleicht ein paar sehr nette Damen kennenlernen? Nicht solche, wie man sie in der Blauen Flasche und auch sonst überall finden kann. Ich meine wirkliche Damen, die zum Beispiel aus irgendwelchen Gründen zu Hause nicht mehr willkommen sind, die aber aus guten Familien kommen. Sie wissen schon, was ich meine.« Mit Kennerblick musterte er Stark und fügte dann hinzu: »Und meine Damen haben auch ganz ansehnliche Mädchen für Ihren Burschen, mein Herr, Mädchen, die bei ihnen wohnen.« Als MacKinnie ungeduldig mit den Fingern schnippte, um den Redefluß des anderen zu beenden, kletterte der Kutscher ergeben auf seinen Sitz zurück. Nachdem sich das Gefährt in Bewegung gesetzt hatte, beugte er sich zum Fenster hinunter. »Wohin, meine Herrn?« »Hinunter zum Wasser«, antwortete Stark. »Zum imperialen Landekai.« Eher würde er sich die Zunge abbeißen, als diesem geschwätzigen alten Kutscher den Namen des billigen Hotels auf die Nase zu binden, in dem sie wohnten, damit dieser später einmal sagen konnte, er habe den Eisernen MacKinnie zu einer drittklassigen Absteige gebracht. Es regnete inzwischen heftiger, und der alte Mann sah sich gezwungen, das Verdeck über die kunstvoll geschnitzten Bügel zu klappen. »Was meinen Sie, ob er viele Fahrgäste in dieser alten Karre hat?« lästerte Stark. Mit einem gackernden Lachen beugte sich der Kutscher zu ihnen herunter. »Mehr als Sie für möglich halten, mein 23
Guter. Und viele richtige Damen finden solche Droschken wie meine immer noch tausendmal besser als diese Dampfschaukeln. Wir kommen zwar nicht so schnell vorwärts wie sie, aber es gibt genug Leute, die gern an die gute alte Zeit zurückdenken, als es nur uns gab, und sie vergessen den alten Benjamin nicht, nein, nein.« MacKinnie schnippte wieder mit den Fingern, worauf der Kutscher seine Aufmerksamkeit der Straße zuwandte. Jedoch nicht für lange, denn schon nach wenigen Augenblicken beugte er sich erneut zu seinen Fahrgästen hinunter. »Sogar die Jungs von der Imperialen Marine haben eine Vorliebe für unsere Droschken. In der Umgebung des Imperiumsgebäudes sieht man fast nur Droschken. Sicher, sie halten auch ein paar Dampfautos bereit, für den Fall, daß sie es mal eilig haben, aber, wissen Sie, diese jungen Offiziere, die sind doch noch nie zuvor in Wagen gefahren, die von richtigen Pferden gezogen werden. Wie sie mir selbst gesagt haben, finden sie es richtig aufregend.« »Sicher, sicher«, pflichtete ihm MacKinnie geistesabwesend bei. »Die sind ein Bombengeschäft für uns, diese Imperialen«, fuhr der Kutscher fort. »Eigentlich ist es gar nicht so schlecht für uns, daß sie jetzt hier sind.« Der alte Mann begann, vor sich hinzupfeifen und sah jetzt wieder auf die Straße, während er das Gespann durch die verschlungenen, engen Straßen des Hafenbezirks lenkte, bis sie in die breite Dock Street einbogen, die mit Ausnahme von ein paar betrunkenen Seeleuten, die gefährlich nahe am Wasser vorbeischwankten, verlassen vor ihnen lag. Auf der anderen Seite der geschützten Bucht, die Haven 24
seinen Namen gegeben hatte, rissen strahlende Lichter, die heller waren als alles, was man in den vergangenen drei Jahrhunderten auf Prinz Samuals Welt gesehen hatte, das Imperiumsgebäude und das hundert Meter lange Schiff aus der Dunkelheit, mit dem die Imperialen ihre Leute von dem um den Planeten kreisenden Zerstörer auf Prinz Samuals Welt beförderten. In einem anderen Gebäudekomplex befanden sich eine Anzahl Apparate und Maschinen, die die Imperialen für ihre Basis benötigten. Pipelines waren bis in den Hafen verlegt worden, und die Kraftwerke hatten Havens Gewässer erwärmt, worüber sich die Fischer einerseits freuten, weil sie jetzt mehr fingen, auf der anderen Seite aber über die unkontrollierte Zunahme von Schiffsbohrwürmern und anderem Ungeziefer erbost waren. Die hellen Lichter strahlten auch die Halbkugel an, in der sich die Marineunterkünfte befanden, doch die schwarze Oberfläche reflektierte sie nicht. Die imperialen Marineunterkünfte wurden von einem sogenannten Langston-Feld geschützt. MacKinnie wußte nicht viel über dieses. Schutzfeld. Geschosse, die darauf abgefeuert wurden, wurden abgestoppt, und die Explosion wurde von dem schwarzen Schutzschirm oder vielleicht von den darunterliegenden Metallwänden absorbiert. Jedenfalls konnten sie die Halbkugel offensichtlich nicht beschädigen. Die Marine hatte verkündet, daß jeder Widerstand zwecklos war: Nur ein imperialer Kreuzer wäre in der Lage, den Schutzschirm, der die Baracken umgab, zu durchdringen. Ganz gleich, welche Waffen ein Kreuzer auch an Bord haben mochte, 25
MacKinnies Wölfen war es jedenfalls nicht gelungen, die Festung einzunehmen oder sie auch nur zu beschädigen. Dies war einer der Gründe, warum sich die Wölfe ergeben hatten. Die Landeboote waren dagegen verwundbar. In dem kurzen Gefecht um Lechfeld hatte er eines von ihnen schwer beschädigen können und mehrere Soldaten an Bord getötet – aber dann war das Feuer vom Himmel gekommen, ein glühender Tod, der das Dorf verkohlt und in Sekundenschnelle ein halbes Bataillon von Wölfen verbrannt hatte. Aber die Imperialen waren nicht unverwundbar. Auch sie waren nur Menschen. Hätten sie nicht ihre Marinebaracken … Hör auf, zu träumen, befahl sich MacKinnie. Selbst wenn es ihm gelingen würde, die Baracken einzunehmen und das letzte der Landungsboote zu zerstören, war da immer noch der Zerstörer, dem niemand auf Prinz Samuals Welt etwas anhaben konnte. Ein paar der Professoren an der Prinz-Samual-Universität experimentierten mit Raketen, die, wenn man sie groß genug baute, unter Umständen so weit reichen würden, daß sie nicht wieder zurückkamen. Vielleicht konnten sie dann sogar den Zerstörer erreichen. Die Professoren hatten eine große Kriegsrakete gebaut, die mit flüssigen Treibstoffen angetrieben wurde und mehr als zweihundert Kilometer geflogen war, aber es hatte nur diese eine gegeben – und selbst wenn sie eine zweite besessen hätten, wie hätte man sie auf den Zerstörer zusteuern sollen? Die Imperiale Marine behauptete, daß der Zerstörer 26
ebenfalls von einem Langston-Feld geschützt würde. Also würde die Rakete, selbst wenn sie den Kreuzer treffen sollte, nicht mehr Wirkung haben als MacKinnies Haubitzen, mit denen sie die Baracken angegriffen hatten. Die Imperialen hatten recht. Widerstand war zwecklos. Ein Gefühl der Resignation bemächtigte sich des Colonels. Er schloß die Augen und merkte, wie sich durch den Whisky alles in seinem Kopf immer schneller drehte. Rufe in seiner Nähe ließen ihn auffahren. Er konnte nicht sagen, wie lange er in einer jämmerlichen Verfassung gedöst hatte in der Hoffnung, so schnell wie möglich zu ihrer Unterkunft und in sein Bett zu kommen, bevor die volle Wirkung der ganzen Whiskys eintrat, den er an diesem Abend getrunken hatte. Lange konnte er nicht geschlafen haben, das erkannte er sofort, denn sie hatten das Imperiumsgebäude noch nicht erreicht. Es kostete MacKinnie wertvolle Zeit, sich aus der Betäubung des Schlafs aufzurichten und zu erkennen, daß sie von mehreren Männern angehalten worden waren. Räuber? Hier in Haven, so nähe am Imperiumsgebäude? Dann mußten es schon ziemlich dreiste und verzweifelte Männer sein. Er stieß die Tür auf und stolperte mit gezogener Pistole hinaus, doch plötzlich traf ein schwerer Stock sein Handgelenk und schleuderte die Waffe in die Dunkelheit. Auf der anderen Seite der Kutsche stieß Stark ein dumpfes Knurren aus, die wütenden Laute eines Mannes, der um sein Leben kämpft. Dann vernahm MacKinnie ein hartes Geräusch, als die Hand seines großen Sergeanten, mit der 27
er ohne weiteres selbstgebrannte Ziegel durchschlagen konnte, auf einen Körper traf. Irgend jemand da drüben würde ziemlich lange nicht mehr aufstehen können. Er hoffte, daß es Stark gelingen würde, sich seiner Gegner zu entledigen. Er selbst konnte nichts tun, denn einer der Schatten vor ihm hatte eine Pistole auf ihn gerichtet, während zu beiden Seiten Gestalten mit Kurzschwertern Stellung bezogen hatten. Mit einem Achselzucken hob MacKinnie die Hände. Was blieb ihm anders übrig? Er hörte, wie Stark erneut zuschlug, dann folgte ein dumpfes Geräusch, das er nicht zu deuten wußte. Augenblicke später tauchten drei Männer auf, die seinen Sergeanten trugen. Einer von ihnen hielt einen Sandsack in der Hand und blickte die verschwommene Gestalt mit der Pistole an. »Er ist nur für kurze Zeit bewußtlos, genau, wie Sie es angeordnet haben. Ich wünsche, ich könnte das gleiche auch von zwei von unseren Männern sagen. Sie werden möglicherweise nicht wieder auf die Beine kommen.« »Gut gemacht«, erklang die Stimme des Angesprochenen, die MacKinnie irgendwie bekannt vorkam. Es wollte ihm jedoch nicht gelingen, sie einzuordnen. »Bringt Colonel MacKinnie und die anderen bitte zu uns.« Die Gestalt verschwand in einer Nebenstraße. MacKinnie fühlte die Spitze eines Schwertes in seinem Rücken. Die Waffe glich jenen Schwertern, mit denen die Polizei von Haven ausgerüstet war, und als er darüber nachdachte, fiel MacKinnie ein, daß Kurzschwerter früher zur Standardausrüstung für die Soldaten von Haven gehört 28
hatten, bis der jetzige König seine Truppen mit längeren Bajonetten hatte ausrüsten lassen und Schwerter von da an nur noch zur Paradeuniform getragen wurden. Die Männer zu seinen Seiten schienen im Umgang mit ihren Waffen sehr vertraut. Eine überaus nützliche Fähigkeit, dachte MacKinnie. Wirklich sehr nützlich, wenn man lautlose Arbeit wollte. Schweigend legten sie gut und gerne einen Kilometer zurück, kamen durch verlassene Gassen und waren langsam bis auf die Haut durchnäßt, als sie schließlich ein mehrstöckiges Gebäude betraten, das sich in keiner Weise von den anderen unterschied, an denen sie bisher vorbeigekommen waren. Nachdem sie zwei Treppen in völliger Finsternis hinabgestiegen waren, zündete einer der Männer ein Streichholz an, worauf ein zweiter eine Taschenlampe zum Vorschein brachte, in deren Licht MacKinnie drei weitere Männer erkennen konnte, die Stark trugen. Sie mußten Soldaten sein, überlegte MacKinnie. Ihre Disziplin, ihre lautlose und präzise Arbeit waren beispielhaft, und es lag auf der Hand, daß es sich hier um keinen gewöhnlichen Raubüberfall handelte. Die Männer hatten genügend Gelegenheiten gehabt, ihnen die Kehle durchzuschneiden und ihm das bißchen abzunehmen, was von seiner monatlichen Pension übriggeblieben war. Außerdem hatte der Anführer Namen und Rang MacKinnies gewußt und sogar darauf bestanden, Stark persönlich zu untersuchen, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten. Diebe waren gewöhnlich nicht so sehr um das Wohlergehen ihrer Opfer besorgt. Die Treppe endete in einem feuchten Steintunnel, der 29
fast hundert Meter geradeaus lief, bis er nach einer Biegung vor den Stufen einer anderen Treppe mündete, die nach oben führte. MacKinnie war inzwischen neugierig geworden, wohin man ihn brachte, und ohne daß er dazu hätte angestoßen werden müssen, stieg er eilig die Stufen hinauf. Mit jedem Schritt lichtete sich der Nebel in seinem Kopf mehr, bis er schließlich wieder soweit Herr seiner selbst war, daß er sich der Situation durchaus gewachsen fühlte und bereit war, jede Möglichkeit zu seiner Befreiung auszunutzen, die sich ihm bieten würde. Eine holzgetäfelte Tür zwang ihn schließlich, stehenzubleiben. Der einzige Lichtschein in der Dunkelheit kam von der Taschenlampe des Wächters hinter ihm. Sie mußten einige Minuten warten, bis die Tür von innen geöffnet wurde und helles Licht in den Gang flutete, das MacKinnie blendete. Er wurde in ein großes Büro geschoben, dessen Wände mit roten Behängen aus kostbarem Material verkleidet waren. Über dem Schreibtisch hing ein großes Gemälde von König David dem Zweiten. Sergeant Stark wurde auf eine Couch an einer Wand des Büros gelegt. Seine Schultern waren so breit, daß fast die Hälfte von ihm über den Rand hinausragte und ein Arm bis auf den kostbaren Teppich hinunterbaumelte. MacKinnie sah, daß sein Gefährte gleichmäßig atmete, auch wenn er noch nicht bei Bewußtsein war. Unter dem in einen Kupferrahmen eingefaßten Gemälde des Königs stand ein großzügiger Schreibtisch aus Holz, der ganze zweieinhalb Meter breit und dessen glänzende Oberfläche völlig leer war. Dahinter erblickte der Colonel Dougal, der auch jetzt noch einem Wiesel glich und um 30
dessen Mundwinkel ein nervöses Lächeln zuckte. »Herzlich willkommen bei uns, Colonel MacKinnie. Willkommen im Hauptquartier der Geheimpolizei Seiner Majestät.«
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3 Bürger Dougal MacKinnie sah sich langsam in dem Büro um. An der Tür hinter ihm standen die jungen Männer, die Kilts aus dem gleichen Material wie der von Malcolm Dougal trugen und die ihre Pistolen wachsam vor der Brust hielten. Auch wenn sie diese Kilts trugen, blieben sie doch Soldaten, und hinter ihren emotionslosen Mienen entdeckte MacKinnie ein verräterisches Zucken. Grund dafür war möglicherweise die Anwesenheit der Geheimpolizei, aber wahrscheinlicher noch der Haß auf Nathan MacKinnie, der ihre Armee in drei aufeinanderfolgenden Feldzügen geschlagen hatte. Der Raum vermittelte einen allgemeinen Eindruck von Reichtum und Wohlstand. Das einzig sichtbare Mobiliar bestand aus dem Schreibtisch, zwei Stühlen und der Couch, aber hinter den roten Vorhängen, die vom Boden bis zur Decke an den Wänden entlangliefen, konnte sich alles mögliche befinden. Als Nathan schwieg, deutete Dougal auf einen der gepolsterten Stühle. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Colonel. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Einen Drink vielleicht? Nein, das habe ich auch nicht angenommen. Etwas anderes? Echten Kaffee aus Erdbeständen oder lieber Chickeest?« Dougals Lippen hatte sich sichtbar verzogen, als er Kaffee von der Erde anbot, und irgend etwas an seinem 32
Verhalten sagte MacKinnie, daß dieses Angebot ein Test war. »Danke, ich nehme Chickeest«, antwortete Nathan, ohne zu zögern. »Schwarz, und einen ganzen Topf voll.« Dougals Züge entspannten sich. Er wartete, bis Nathan Platz genommen hatte und winkte dann den Wachen. »Das wäre im Augenblick alles, Corporal. Halten Sie sich aber auf Abruf bereit.« MacKinnie hörte, wie hinter ihm leise die Tür geschlossen wurde. »Die Erfrischungen werden sofort kommen, Colonel«, wandte sich Dougal an Nathan. »Und jetzt würden Sie sicher gerne wissen, warum Sie hier sind.« »Es interessiert mich mehr, wen ich vor mir habe. Ich habe bisher weder von Ihnen gehört noch Sie, abgesehen von unserer ersten Bekanntschaft in der Blauen Flasche, zuvor gesehen, und dabei kenne ich die meisten Beamten Seiner Majestät.« »Die beiden Fragen haben durchaus miteinander zu tun. Ich heiße tatsächlich Malcolm Dougal. Meine Position in den Staatsbudgets, die dem Parlament vorgelegt werden, ist ziemlich vage, aber Tatsache ist, daß ich der Leiter der Geheimpolizei Seiner Majestät bin.« MacKinnie nickte. »Ich habe schon vermutet, daß Lord Arindell zu dumm ist, um eine so wirkungsvolle Truppe wie die Havens zu leiten. Inspektor Solon empfängt also von Ihnen seine Befehle.« »Ja. Sehen Sie, ich will ganz offen sein, Colonel, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie es ebenso halten. Hätten Sie mein Angebot zu einem Drink in der Blauen Flasche angenommen, dann hätte ich Sie vielleicht auf eine angenehmere Weise hierherbringen können. Aber ich 33
konnte das Risiko nicht eingehen, daß Sie ablehnen würden, oder daß die Imperiale Marine auf uns aufmerksam wird. Alles hängt davon ab, daß sie nicht argwöhnisch werden. Das ist alles.« Er beugte sich vor und sah MacKinnie eindringlich an. »Ich bitte Sie jetzt um Ihr Ehrenwort, daß nichts, was hier heute abend gesprochen wird, irgendeinem anderen ohne meine Erlaubnis berichtet wird, es sei denn, daß es mit den Aufgaben zu vereinbaren ist, in die ich Sie eingewiesen habe und in die Sie eingewilligt haben. Bitte!«, drängte er. MacKinnie hätte sich jetzt nur zu gern eine Zigarre angezündet, doch er war klug genug, den Tabak von der Erde in seiner Tasche zu lassen. Die Warnung, die in der Art und Weise gelegen hatte, wie Dougal die Worte »aus Erdbeständen« ausgesprochen hatte, war nicht zu überhören gewesen. Dougal lehnte sich in seinem Sessel zurück, schien jedoch gespannt auf eine Antwort zu warten. Also sagte MacKinnie das einzige, was er in dieser Situation sagen konnte. »Sie haben mein Wort, Bürger Dougal. Mein Ehrenwort.« »Danke.« Es klopfte an der Tür, und einer der Wächter kam mit einem Platintablett herein, auf dem sich Kupfertöpfe mit Chickeest, Zinnbecher und Zigaretten einer in Haven üblichen Marke befanden. MacKinnie bemerkte, daß alles, was er seit dem Betreten des Büros zu Gesicht bekommen hatte, von Samual stammte. Hinter der Wache tauchte die große, schmale Gestalt Inspektor Solons auf, der die mitternachtsblaue Uniform der Königlichen Polizei von Haven trug und schweigend im Türrahmen stehenblieb. Er machte keine Anstalten, einzutreten, und Dougal 34
sprach ihn auch nicht an. Als der Wächter hinausging, folgte Solon ihm und schloß die Tür hinter sich. »Sie haben den Inspektor natürlich bemerkt«, begann Dougal. »Es gibt zwei Gründe für seine Anwesenheit. Erstens möchte ich, daß Sie sehen, daß er meinen Befehlen untersteht, damit Sie wissen, daß ich auch der bin, für den ich mich ausgebe. Aber der zweite und noch viel wichtigere Grund ist die Tatsache, daß ich niemand anderem vertrauen würde, diese Tür zu bewachen, bis wir alles besprochen haben.« Er lächelte freundschaftlich. »Ich hoffe, es ist mir gelungen, Sie ausreichend zu beeindrucken. Genießen Sie Ihren Chickeest; Sie werden nämlich einige Zeit hier sein.« »Was ist mit meinem Sergeanten?« »Er ist bereits von Inspektor Solon untersucht worden, und der Mann, der ihn niedergeschlagen hat, war ein Experte. Er wird keinen dauernden Schaden davontragen und dürfte in einer Stunde, vielleicht sogar noch eher, wieder zu Bewußtsein kommen.« »Dann bringen wir die Sache hinter uns.« MacKinnie nippte an dem bitteren Getränk, das den Kaffee von der Erde nicht ersetzen konnte, wie er fand. Es gab nicht viel zwischen den Sternen zu finden. Die Menschen hatten Prinz Samuals Welt vor fast tausend Standardjahren kolonisiert, während sie auf der Erde schon seit Millionen von Jahren lebten. »Erzählen Sie mir, was Sie von den Plänen wissen, die die Imperiale Marine für Prinz Samuals Welt hat, Colonel MacKinnie.« 35
»Herzlich wenig. Vor weniger als einem Jahr sind sie plötzlich aufgetaucht und haben sich in Haven niedergelassen. Zuerst schien es so, als hätten sie nicht die Absicht, sich in die Regierungsangelegenheiten des Planeten einzumischen, aber dann schlossen sie ein Abkommen mit Ihrem König David –« »Er ist auch Ihr König, Colonel«, unterbrach ihn Dougal. »Mit König David. Sie halfen Ihnen, die übrigen Stadtstaaten um Haven zu erobern, und schafften, was keiner Armee von Haven zuvor gelungen war. Sie gaben Ihnen Orleans. Ich weiß nicht, wer als nächstes an der Reihe ist, aber wahrscheinlich wird es so weitergehen, bis Haven den gesamten Nordkontinent unter seiner Kontrolle hat. Und danach … wer weiß, vermutlich kommen dann die Leute im Süden an die Reihe.« »Und was wird die Imperiale Marine dann tun, Colonel?« »In Ihren Zeitungen kann man ständig lesen, daß sie uns helfen und uns alle möglichen Wunder der Technik zur Verfügung stellen, aber bisher habe ich noch nichts davon zu sehen bekommen. Ihr aus Haven behaltet sie ja alle für euch.« »Das tun wir nicht, da wir sie nicht haben. Jeder Beistand der Imperialen bestand nur in direkter Hilfe, und ihre Leute haben selbst an den Waffen gestanden. Keiner von uns durfte ihre neuen technischen Errungenschaften sehen. Aber weiter, was kommt nun danach?« »Wenn ihr erst den ganzen verdammten Planeten erobert habt, werden sie euch wahrscheinlich in das Imperium 36
aufnehmen, mit König David dem Zweiten als alleinigem Herrscher.« »Und das wäre Ihnen derart unangenehm?« Dougal lächelte. »Was soll ich Ihnen darauf antworten, Bürger Dougal? Sie haben mir gesagt, daß Sie der Leiter der Geheimpolizei sind. Wollen Sie ein Wort des Verrats aus meinem eigenen Mund hören?« Malcolm goß vorsichtig Chickeest nach, bemüht, keinen Tropfen zu verschütten, und nahm einen großen Schluck, bevor er antwortete. »Ich bin mir Ihrer Situation bewußt, Colonel. Wenn ich Ihnen etwas Böses wollte, dann können Sie sich darauf verlassen, daß es auch passieren würde. Ich brauchte weder Beweise noch eine Verhandlung. Niemand außer meinen engsten Vertrauten weiß, daß Sie hier sind, und wenn Sie diesen Raum nicht lebend verlassen, wer sollte das schon erfahren? Ihre Meinung interessiert mich, Eiserner MacKinnie, und es ist äußerst wichtig für Haven und den ganzen Planeten. Und jetzt vergessen Sie mal Ihre Vorsicht, und beantworten Sie mir meine Fragen.« Es war das erste Zeichen einer Emotion, das MacKinnie, abgesehen von dem Zucken der Mundwinkel, als Dougal die Erde erwähnt hatte, bei seinem Gegenüber festgestellt hatte. Der Colonel zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete. »Ja, es wäre mir tatsächlich unangenehm. Natürlich kann ich mir noch unangenehmere Dinge vorstellen, zum Beispiel wenn einer der Despoten des Südkontinents die Herrschaft über den Planeten übernehmen würde. Doch 37
nach dem, was Sie Orleans angetan haben, ist es sicher mein gutes Recht, wenn mir die Vorstellung von König David als König des gesamten Planeten nicht gerade zusagt.« »Danke.« Dougals Stimme hatte ihren üblichen Klang, mit einem entschuldigenden Unterton, aber die Ähnlichkeit mit einem Wiesel war plötzlich verschwunden. Jetzt sah er ganz aus wie ein Geschäftsmann. »Wäre Ihnen ein Imperialer Vizekönig als Herrscher noch unangenehmer?« »Natürlich.« »Und warum?« Dougal winkte herrisch mit der Hand. »Ich kann Ihnen sagen, warum. Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie Chickeest trinken, auch wenn er noch so bitter sein mag. Weil er ein Fremder ist, weil er überhaupt nichts mit Samual zu tun hat, und weil wir hierhingehören. Dies hier ist unsere Welt und unsere Heimat, und ich sage Ihnen eins, Colonel MacKinnie: Wir werden niemals die Sklaven dieses Imperiums werden. Nicht, solange ich lebe und solange meine Söhne leben.« »Und Sie glauben, einen Ausweg gefunden zu haben, indem Sie mit Hilfe der Imperialen Marine und der Imperialen Flotte den Planeten erobern?« »Nein. Ich gebe zu, daß ich diese Hoffnung zuerst hatte, aber es funktioniert nicht. Colonel, wenn erst ihre Kolonisten samt dem Vizekönig hier gelandet sind, dann wird König David auf diesem Planeten nicht mehr zu sagen haben als Ihr Sergeant. Ich dachte, Sie wüßten zumindest etwas von ihren Absichten, obwohl nur wenige überhaupt etwas wissen.« Dougal griff unter seinen Schreibtisch, und 38
MacKinnie hörte, wie sich unmittelbar darauf die Tür hinter ihm öffnete. »Ja, Sir«, ließ sich eine emotionslose Stimme vernehmen. MacKinnie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß es sich nur um Inspektor Solon handeln konnte. Die kalte und tonlose Stimme, die aus den Tiefen eines Grabes zu kommen schien, paßte ausgezeichnet zu seiner Erscheinung. »Bringen Sie mir dieses Buch, Inspektor«, sagte Dougal ruhig. »Sofort, Sir.« Die Tür blieb offen, und Sekunden später erschien Solon mit einem Bündel Papiere in der Hand, die von einer seltsamen Klammer zusammengehalten wurden. »Danke.« Dougal entließ den Inspektor mit einer Handbewegung und deutete auf die Blätter. »Das hier ist das einzige imperiale Buch, an das wir herankommen konnten. Es ist zwar nur ein Roman, eine erfundene Geschichte über die Abenteuer eines Marineoffiziers auf einem neu besiedelten Planeten, aber er liefert uns doch eine Reihe von Informationen über die Struktur der Imperialen Regierung. Ähnlich wie ihnen die Cadace-Bestseller eine Menge über die Regierung von Haven verraten würden, auch wenn dies vom Autor gar nicht beabsichtigt ist. Verstehen Sie, was ich sagen will?« MacKinnie nickte. »Dann passen Sie auf«, fuhr der Polizist fort. »Im Imperium selbst gibt es verschiedene planetarische Regierungsformen. Da ist einmal die Erde selbst, die Ehrenhauptstadt, 39
die allerdings seit den Sezessionskriegen größtenteils unbewohnbar geworden ist. Aus Gründen, die nur den Imperialen bekannt sind, haben sie einige Institutionen einschließlich ihrer Marine- und Militärakademien dort belassen. Der wirkliche Hauptplanet allerdings ist Sparta, das in einem ganz anderen Planetensystem liegt. Außer den beiden Hauptplaneten gibt es eine Reihe von sogenannten angeschlossenen Königreichen, das heißt, Planetenregierungen, die stark genug sind, der Imperialen Marine erbitterten Widerstand zu leisten, wenn das Imperium versuchen sollte, sich in ihre inneren Angelegenheiten einzumischen.« »Sind das alles Monarchien?« wollte Nathan wissen. »Es gibt wenigstens eine Republik, von der ich weiß. Aber viele dieser Regierungen sind Monarchien.« Dougal nippte an seinem Chickeest. »Und dann gibt es Klasseeins- und Klasse-zwei-Planeten. Wir kennen zwar nicht den Unterschied zwischen diesen beiden Klassen, aber sie haben auf jeden Fall weniger Autorität, was ihre inneren Angelegenheiten betrifft, als die angeschlossenen Königreiche. Sie entsenden ihre Vertreter in eine Kammer der aus mehreren Kammern bestehenden Ratsversammlung der Hauptstadt, und einige ihrer Leute sind außerdem als Beamte im imperialen Dienst tätig. Die Klasseneinteilung bezieht sich auf irgendwelche Unterschiede in der Technologie der jeweiligen Staaten, die wir nicht kennen. Wir wissen allerdings, daß bei der Zulassung in das Imperium das technologische Niveau von entscheidender Bedeutung ist. Beide Klassen verfügen über etwas, das sie Atomenergie nennen und das die Wissenschaftler unserer 40
Universität brennend interessiert, sowie ihre eigenen Raumschiffe.« MacKinnie, dem plötzlich wieder einige Bemerkungen des betrunkenen Leutnants in der Blauen Flasche einfielen, nickte. Als er Dougal davon erzählte, nickte dieser ebenfalls. »Also«, erklärte er, »Sie sind hier, weil Sie mitgehört haben, was er gesagt hat. Sehen Sie, Colonel, nach den Klasse-eins- und den Klasse-zwei-Planeten kommen nur noch die Kolonien. Das, was wir sein werden.« »Und wie sieht es mit den Rechten der Kolonien aus?« fragte MacKinnie. »Die Kolonien haben keine Rechte. Imperiale Bürger werden auf diesen Kolonien als eine Art Aristokratie angesiedelt, die den Einheimischen Zivilisation lehren soll. Ein Vizekönig regiert im Namen des Imperators, und die Marine unterhält einen Truppenstützpunkt, damit es keine Schwierigkeiten gibt. Am Ende haben die Kolonisten das Sagen, und die Einheimischen müssen gehorchen, wenn ihnen ihr Leben lieb ist.« »Wie können sie denn einen ganzen Planeten gegen den Willen seiner Bewohner regieren? Was nützt es ihnen, die halbe Welt in Schutt und Asche zu legen, so, wie sie es mit Lechfeld getan haben?« MacKinnie trank den letzten Schluck seines inzwischen kalt gewordenen Chickeest, bevor er selbst seine Frage beantwortete. »Aber sie müssen ja gar nicht kämpfen, nicht wahr? Es findet sich immer eine Regierung auf dem jeweiligen Planeten, die sich nur zu gern zur Verfügung stellt. Jemand, der für sie die 41
schmutzige Arbeit erledigt.« Bei den letzten Worten sah MacKinnie sein Gegenüber vielsagend an, doch Malcolm Dougal tat, als hätte er es nicht bemerkt. »Ja, die findet sich immer. Wenn nicht König David, dann einer der Despoten im Süden. Aber es wird nicht soweit kommen, MacKinnie. Ich habe einen Weg gefunden, wie wir diesen Kampf gewinnen und Klasse-zweiStatus für Samual bekommen können. Ich habe einen Weg, eine Möglichkeit gefunden, aber ich kann es nicht allein schaffen. Ich brauche Ihre Hilfe.« Dougal lehnte sich über seinen Schreibtisch vor und sah Nathan MacKinnie eindringlich an. Colonel MacKinnie richtete sich langsam zu seiner vollen Größe auf, nahm dann den Kupfertopf mit Chickeest und goß sich von dem heißen Getränk ein. Vorsichtig ging er hinüber zu der Couch, auf der Stark lag, und untersuchte seinen Sergeanten einen Augenblick, bevor er schließlich wieder zu seinem Stuhl zurückkehrte. »Hätten Sie vielleicht eine Pfeife und etwas 'robak da, Mylord?« fragte er. »Es verspricht, ein ganz interessanter Abend zu werden … Warum ausgerechnet ich?« »Bis heute abend wußte ich selbst noch nicht, daß Sie es sein würden. Ich hatte nämlich noch keinen Plan, sondern mir lediglich eine Reihe von Aktionen überlegt, die ich durchführen könnte, und Vorbereitungen für eine günstige Gelegenheit, ganz gleich, wie sie auch aussehen würde, getroffen. Doch jetzt hat uns dieser junge Dummkopf ja genau erzählt, wie wir den Staat retten können. Sie haben ja selbst gehört, was er gesagt hat.« »Sollte ich es tatsächlich gehört haben, so habe ich es 42
auf jeden Fall nicht verstanden. Wie werden Sie also vorgehen?« »Aber Sie müssen doch wissen, was er gesagt hat. Sie waren doch dabei, als er von der Bibliothek des alten Imperiums auf einem Planeten am Nadelöhr geschwätzt hat.« »Ja, ich erinnere mich«, gab MacKinnie zu, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie uns das weiterhelfen könnte.« »Sie haben sich ja auch nicht wie ich schon seit Monaten damit beschäftigt. Wir haben dieses Buch kurz nach ihrer Landung in die Hände bekommen. Es hat nur wenige Wochen gedauert, bis wir ihre Sprache verstehen konnten. Sie unterscheidet sich im Grunde nicht so sehr von der unseren, zumindest in der geschriebenen Form. Deshalb haben es die Imperialen auch so einfach, in Haven zurechtzukommen.« Der Polizist zündete sich eine Zigarre aus 'robak an, lehnte sich zurück und starrte zur Decke hinauf. »Seit ich dieses Buch lesen kann, habe ich an kaum etwas anderes gedacht als wie wir aus dieser Falle herauskommen können. Es gibt keinen Weg, eine Eingliederung in das Imperium zu umgehen, aber wir können erreichen, daß sie uns als Menschen und nicht als Sklaven betrachten!« »Wenn Sie das Buch schon so lange haben, müssen Sie doch erkannt haben, was das Imperium mit Samual vorhat, bevor Sie das Bündnis mit ihnen eingegangen sind.« »Natürlich. Seine Majestät hat ja auf meinen Rat hin in dieses Bündnis eingewilligt. Wenn wir Prinz Samuals Welt 43
nicht unter eine planetarische Regierung bringen, haben wir überhaupt keine Aussicht, der Kolonisierung zu entkommen. Und wenn diese Regierung nicht unter der Herrschaft König Davids steht, dann werde ich keinerlei Einfluß auf sie haben, und Sie mögen mir vergeben, wenn ich behaupte, daß ich wohl der bessere Mann für diese Art von Intrige bin als jene, nun, sagen wir, jene ehrenwerteren Herrn der anderen Stadtstaaten.« »Schön«, erwiderte MacKinnie. »Sie sind also ein Meister der Intrige. Trotzdem verstehe ich immer noch nicht, was Sie vorhaben.« Dougal lachte. »Sie haben zuviel Whisky getrunken, Eiserner MacKinnie. Heute und an den Abenden vorher. Sie gleichen nicht mehr im entferntesten dem alten Colonel, der uns mehr als einmal mit seinen Tricks hereingelegt hat. Ich habe hier Ihre Akte, Colonel, und daraus geht hervor, daß Sie mehr als ein gewöhnlicher Frontkämpfer sind. Es ist erfreulich, zu sehen, daß auch Sie kein Übermensch sind.« Dougal goß sich Chickeest nach. »Die Bibliothek ist der Schlüssel zu allem. Wenn wir über das Wissen verfügten, das dort aufbewahrt wird – wir, das heißt unsere Leute an der Universität, die Industriemagnaten von Orleans und Haven und die Minenarbeiter von Clanranald – alles stünde uns dann offen. Wir könnten ein Raumschiff bauen. Vielleicht sogar ein Sternenschiff. Und nach ihren eigenen Bestimmungen müßten uns die Imperialen in diesem Fall als klassifizierten Planeten in ihren Verband aufnehmen und nicht als Kolonie. Wir wären zwar noch immer von ihnen abhängig, aber wir wären Untertanen und keine Sklaven.« 44
MacKinnie holte tief Luft. »Nicht übel, Ihr Plan.« »Es ist die einzige Möglichkeit.« »Ich weiß nicht so recht – Nun, angenommen, es stimmt. Mit den entsprechenden Kenntnissen, vielleicht sogar mit Bauplänen, mit einer planetarischen Regierung, die die Technologie des Nordkontinents und die Bodenschätze des Südkontinents vereinigt, ließe es sich möglicherweise machen. Möglicherweise. Aber es würde Jahre dauern, und so viel Zeit haben wir nicht.« »Doch, wir haben Zeit. Die Imperialen werden nichts unternehmen, bis wir die übrigen Königreiche ebenfalls eingegliedert haben. Sie haben ja keine Eile. Die Imperialen haben betont, daß sie möglichst wenig Blutvergießen und Zerstörung wollen. Und ich meine, daß es seine Zeit dauert, die Königreiche zu vereinen. Damit bleibt uns genügend Zeit, das Schiff zu bauen. Es wird natürlich nicht einfach sein, es direkt vor ihrer Nase zu bauen, aber sie sind ja nicht viele auf diesem Planeten, und wir werden es schon einzurichten wissen, daß sie nichts merken, bis es fertig ist.« MacKinnie schüttelte den Kopf. »Ich weiß zwar nicht, wie Sie das fertigbringen wollen, aber in solchen Dingen sind Sie mit Sicherheit besser als ich. Nur können Sie ohne ein Schiff dieser Bibliothek keinen Besuch abstatten, und ohne das Wissen in der Bibliothek können wir kein Schiff bauen. Und selbst wenn wir eins hätten, wüßten wir noch immer nicht, wie wir damit umgehen sollten. Seit Hunderten von Jahren hat niemand auf diesem Planeten ein Raumschiff von innen gesehen. Bis die Imperialen gekommen sind, haben doch die meisten Leute auf Samual gedacht, 45
daß die Geschichten von der Zeit vor den Sezessionskrigen nur alte Legenden sind. Wie in aller Welt sollen wir Ihrer Meinung nach denn zum Nadelöhr kommen?« »Das ist der einfachste Teil des Plans, Colonel. Die Imperialen haben sogar schon angeboten, uns dorthinzubringen.« Er lächelte, als er Nathans überraschten Ausdruck bemerkte. »Es sind nicht nur Angehörige der Marine und der imperialen Streitkräfte hier. Sie werden auch Händler unter den imperialen Bürgern finden. Und eine Gruppe von ihnen verhandelt im Augenblick mit König David über die Verkaufsrechte für Grua. Sie glauben, daß unser Brandy auf ihrem Hauptplaneten ein Vermögen wert ist. Sie sind auch an unserem Platin und Iridium interessiert; offensichtlich können sie diese Metalle gut gebrauchen, weil sie zudem bei ihnen anscheinend sehr knapp sind. Nur können sie uns nicht viel als Gegenleistung geben, weil die Marine ihnen nicht erlaubt, das an uns zu verkaufen, was uns wirklich interessiert – nämlich Technologie. In einer Bestimmung der Marine heißt es, daß man ohne Sondererlaubnis vom Imperialen Rat nichts verkaufen darf, das technisch weiterentwickelt ist als das, was der Käufer bereits besitzt. Wir waren an diesen kleinen Geräten interessiert, die sie wie Notizbücher mit sich herumtragen. ›Taschencomputer‹, so nennen sie die Leute von der Marine. Es scheint sich dabei um Maschinen zu handeln. Aber sie dürfen nicht verkauft werden.« »Was dürfen die Händler denn verkaufen?« »Nicht viel, wie es scheint. Sie haben allerdings dem König angeboten, einige Leute von uns zu einem Planeten 46
zu bringen, der noch nicht so weit entwickelt ist wie wir, und wo wir unser Glück im Handel versuchen können. Sie haben einen Planeten ganz in der Nähe des Nadelöhrs vorgeschlagen, und wir überlegen im Augenblick, ob wir nicht eine Expedition aufstellen sollen, die dorthin fährt und versucht, einen Handel aufzubauen …« »Und die Marine hat nichts dagegen?« »Es gibt gewisse Bestimmungen. Strenge Bestimmungen, darf ich vielleicht hinzufügen. Wir dürfen nichts mitnehmen, das weiterentwickelt ist als das, was die Einheimischen bereits besitzen. Die Marine wird die Teilnehmer der Expedition sowie die Waren einer genauen Musterung unterziehen, bevor sie starten. Sie werden uns das Unternehmen jedoch nicht verbieten. Offensichtlich verfügt der Imperiale Händlerverband über einen ziemlich großen Stimmenblock im Imperialen Rat. Ich will nicht behaupten, daß ich die Politik des Hauptplaneten verstehe, aber der IHV scheint einigen Einfluß zu haben. Sie können die Marine dazu zwingen, uns zu erlauben, auf diesem Planeten Makassar Handel zu treiben.« »Glauben Sie nicht, daß man darauf achten wird, daß wir nicht in die Nähe der Bibliothek kommen?« wollte MacKinnie wissen. Der Whiskynebel in seinem Kopf hatte sich gelichtet, aber noch wichtiger war für ihn im Augenblick das Gefühl, wieder nützlich zu sein und vielleicht etwas tun zu können, das ihm auch irgendein Schicksalsschlag nicht wieder abnehmen konnte. Er hörte Dougal so gespannt zu, daß er nicht bemerkte, wie sich Stark auf der Couch hinter ihm zu bewegen begann. »Sie hatten die Bibliothek bisher mit keinem Wort 47
erwähnt«, erklärte Dougal. »Bis dieser junge Leutnant heute abend in der Blauen Flasche davon gesprochen hat, wußte ich nicht, daß sie überhaupt existiert. Ich nehme an, daß die Bibliothek eine Anomalie in ihren Aufzeichnungen ist. Sie ist wahrscheinlich deshalb nicht als technisch fortgeschrittene Einrichtung registriert, weil sie so alt ist und die Bewohner von Makassar nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollen. Das ist natürlich nur eine Vermutung. Was ich jedoch mit Sicherheit weiß, ist, daß uns die Imperialen dort hinfliegen lassen.« Dougal schwieg und starrte MacKinnie aufmerksam an. »Das einzige Problem ist jetzt nur noch ein gewisser Colonel MacKinnie, der über die Existenz der Bibliothek im Bilde ist. Als ich von ihr erfahren habe, beschloß ich, jemanden dorthinzuschicken, der versuchen soll, an das dort aufbewahrte Wissen heranzukommen, und da Sie über die Bibliothek informiert sind, muß ich Sie entweder töten oder auf diese Expedition schicken. Ich weiß nicht, wie wir an diese Bücher herankommen sollen, und wahrscheinlich weiß es niemand auf diesem Planeten. Aber es ist mir lieber, Sie auf meiner Seite statt tot zu sehen. Sie waren sehr einfallsreich im Kampf gegen Haven, Colonel. Schwören Sie jetzt, König David und Haven die Treue zu halten?«
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4 Händler MacKinnie MacKinnie erwachte mit einem schalen Geschmack nach 'robak im Mund und einem Gefühl der Übelkeit im Magen, das von den Whiskymengen am Vorabend herrührte. Einen Augenblick blieb er unbeweglich zwischen den seidenen Laken liegen, während er versuchte, sich zurechtzufinden. Der Raum, in dem er lag, hatte keine Fenster und wurde nur von einer matt schimmernden Glühplatte an einer Wand erhellt. Rechts von ihm befand sich ein Badezimmer mit marmorner Ausstattung, und von dort aus führte eine Verbindungstür in einen weiteren Raum, ähnlich dem, in welchem er jetzt lag. Er wußte, wie er aussah, weil Sergeant Stark auf unsicheren Beinen hineingeschwankt war, nachdem sie Dougals Büro verlassen hatten. Sie befanden sich noch immer in demselben Gebäude, aber wo genau das war, konnte MacKinnie nicht sagen. Die Türen, die hinausführten, waren verschlossen, und er zweifelte nicht daran, daß Dougals Aufpasser im Gang standen und sie bewachten. Langsam richtete er sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Zu seiner Linken stand ein offener Schrank, in dem eine Reihe prächtiger und sicher nicht gerade billiger Kleidungsstücke hingen. Seine eigenen Kleider, Rock und Jacke, hingen zusammen mit seiner großen Pistole frisch gereinigt und geplättet an der Schranktür. MacKinnie 49
schlüpfte aus dem Bett und war keineswegs überrascht, als er nach kurzer Untersuchung feststellen mußte, daß die Patronen fehlten. In der Tasche bei seinen Sachen fand er auch seine Uhr, aber da sie stehengeblieben war, hatte er keine Ahnung, wie spät es sein mochte. MacKinnie beschloß, gleich aufzubleiben, da er nun einmal auf war. Er nahm sich Zeit in dem luxuriösen Badezimmer, rasierte sich und machte dann ausgiebig Gebrauch von den teuersten Rasierwassern und Pudern, die er je gesehen hatte. Wenn alle Gäste von König Davids Geheimpolizei so zuvorkommend behandelt wurden, würden die Leute sicher Schlange stehen, um wegen Hochverrats angeklagt zu werden. Aber wahrscheinlich gab es in diesem Gebäude mehr Kerker als Gästezimmer. Er hatte seine Morgentoilette fast beendet, als Stark anklopfte und geduldig wartete, bis Nathan fertig war. Der Colonel knöpfte sich gerade seine Jacke zu, als der Sergeant fertig rasiert und angezogen wieder auftauchte. Er schien genau wie immer an den Hunderten von Morgen, die sie in den Kasernen verbracht hatten, als er jetzt sachkundig MacKinnies Jacke glattstrich und letzte Hand an die Falten des Kilts legte. »Da sind wir vielleicht in eine Sache hineingeraten, Colonel«, meinte Stark, während er mit den Händen zuerst auf die Wände und dann auf seine Ohren zeigte. MacKinnie nickte. »Ich bin mir nicht sicher, aber es scheint mir noch besser zu sein, als die Südler zu schlagen. Ich glaube, dieser Job könnte ganz interessant werden. Denkst du, daß du ein paar Wölfe auftreiben kannst, die ihren Mund halten und Leibwächter für Händler spielen können?« 50
»So viel, wie Sie wollen, Colonel. Was glauben Sie, wie viele wir brauchen werden?« »Am besten alle, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß uns die Marine erlauben würde, mit einem ganzen Regiment nach Makassar aufzubrechen.« »Wir werden die nötigen Leute schon zusammenbekommen. Es wird komisch sein, Sie Händler zu nennen, aber ich werde mich schon daran gewöhnen.« Stark sah sich im Zimmer um. »Ganz ordentliche Quartiere, nicht, eh – Händler?« meinte er mit einem Seitenblick auf die aus Holz geschnitzten Möbel und die kostbaren Teppiche, die den mit Kristallplatten ausgelegten Boden bedeckten. »Ja, nicht übel. Tja, ich glaube, wir machen uns jetzt langsam startbereit. Wir wollen doch Dougal und Inspektor Solon nicht warten lassen.« »Jawohl, Sir. Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf: Ich hoffe, daß er uns nicht zu diesem verrückten Planeten begleiten wird. So hoch hinaufzusteigen und sogar unseren Planeten unter uns zurückzulassen, ist auch ohne die Gesellschaft dieser wandelnden Leiche schlimm genug.« »Er wird nicht mitkommen. Nervös, Hal?« »Nein, Sir, nicht, wenn Sie es nicht wünschen. Es fällt mir nur nicht leicht, mich an die Vorstellung zu gewöhnen.« »Da bist du nicht allein. Also los, Hal, sage ihnen, daß wir bereit für das Frühstück sind.« »In Ordnung, Sir.« Stark entdeckte das Sprachrohr in einer kleinen Nische unter der Glühplatte, nahm die Kappe 51
ab und pfiff hinein. Umgehend wurde ihm geantwortet. »Guten Morgen, ich möchte nur melden, daß der Colonel und ich fertig für das Frühstück sind.« Stark lauschte einen Augenblick und wandte sich dann zu MacKinnie um. »Er hat gesagt, daß in spätestens fünf Minuten jemand kommen wird, der uns abholt. Er klang sehr höflich.« Als Nathan nicht antwortete, verschloß Hal das Sprachrohr. Kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet und gab den Blick auf vier Wächter frei. Zumindest zwei von ihnen gehörten zu den Leuten, die MacKinnie und Stark am Abend zuvor entführt hatten. Sie hatten die Waffen in ihren Gürteln steckenlassen und waren ausgesprochen höflich, als sie MacKinnie und Stark baten, mitzukommen, doch der Colonel bemerkte, daß die Männer besonders den Sergeanten nervös beobachteten. Sie wurden in das große Büro gebracht, das MacKinnie schon am Abend zuvor kennengelernt hatte. An einer Wand waren die Vorhänge zurückgezogen worden und zeigten eine geschlossene Veranda, auf der Dougal und Solon an einem Glastisch saßen und Chickeest tranken. Als MacKinnie näher kam, erhob Solon sich, nickte Dougal zu und verließ sie wortlos. »Guten Morgen, Händler«, begrüßte Dougal den Colonel. Er stand auf, wartete, daß MacKinnie Platz nahm, und deutete auf einen Stuhl an einem Tisch in der Nähe, der für Stark bestimmt war. »Ihr Frühstück kommt sofort. Ich darf wohl annehmen, daß Sie gut geschlafen haben?« MacKinnie lächelte verbindlich. »Besser, als ich anfangs angenommen habe.« 52
Dougal nickte. »Es gibt eine ganze Reihe anderer Leute, denen ihr Aufenthalt in diesem Gebäude nicht so gut gefallen hat.« Er entließ die Wächter mit einer Handbewegung, bevor er sich wieder Nathan zuwandte. »Mein Plan läuft ab sofort, Händler MacKinnie. Sie können Ihren richtigen Namen behalten, aber wir werden Ihren Vornamen in Jameson umändern. MacKinnie ist ein ziemlich häufiger Name in Haven, und es gibt sogar eine große Händlerfamilie, die so heißt.« »Sind Sie sicher, daß mich die Imperialen nicht erkennen?« »Ziemlich. Außerdem werden sie wohl kaum nach einem Toten Ausschau halten. Colonel Nathan MacKinnie wurde in Lechfeld getötet. Er starb ein paar Wochen nach dem Gefecht an seinen Verwundungen. Ein zäher alter Soldat, der zu stolz war, etwas zu sagen, als er sein Schwert dem Generalstab von Haven übergab. Das geht auch aus den Akten hervor.« »Aber ich bin doch noch von einem jungen Offizier befragt worden … und der Zahlmeister weiß auch, daß mir schon seit Monaten meine Pension ausgezahlt wird. Und dann die Wirtin in unserer Absteige.« »Das ist jetzt nicht mehr von Bedeutung, denn unglücklicherweise sind alle diese Personen in der vergangenen Nacht Opfer einer Reihe von tragischen Unfällen geworden. Leider ist auch die Blaue Flasche einem Unglück zum Opfer gefallen. Kurz nachdem die imperialen Offiziere gegangen sind, ist sie bis auf die Grundmauern abgebrannt, und niemand ist mit dem Leben davongekommen. Die Feuerwehr war zwar kurze Zeit später schon zur Stelle, aber sie konnte nichts gegen die Heftigkeit des Feuers 53
ausrichten. Es will fast so scheinen, als hätte jemand das Feuer vorsätzlich gelegt, und wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, wird die Polizei Seiner Majestät die Übeltäter sicherlich bald finden: Möchten Sie etwas Chickeest?« »Und meine Männer? Meine ehemaligen Offiziere?« »Sie sind für eine Expedition zum Archipelago herangezogen worden, und das Angebot, das man ihnen gemacht hat, ist so großzügig, daß es wohl keiner von ihnen abschlagen wird. Sollte dies doch der Fall sein, nun, dann werden wir sie eben davon überzeugen, daß es nur zu ihrem Besten ist, wenn sie die Expedition begleiten.« Bevor MacKinnie etwas erwidern konnte, kam der Corporal mit dem Frühstück, und Dougal bestand darauf, daß sie zuerst aßen, bevor sie ihr Gespräch fortsetzten. Nachdem sie gefrühstückt hatten, winkte der Polizist, und der Corporal eilte mit einer Pfeife für MacKinnie herbei. Es war eine seiner eigenen, die er in den Zimmern aufbewahrt hatte, wo er mit Stark gewohnt hatte. Es erschien ihm überflüssig, ein Wort darüber zu verlieren. »Sie sind nicht sehr aktiv gewesen, seit Sie aus dem Dienst ausgeschieden sind«, begann Dougal. »Deshalb dürfte es nicht schwierig sein, Ihre Spuren wenigstens so weit zu verwischen, daß sich die Imperialen nicht allzusehr für Sie interessieren.« »Na schön, und wie sieht der heutige Dienstplan aus?« »Achten Sie besser auf das, was Sie sagen, Händler. Es wäre uns gar nicht lieb, wenn Ihre militärische Vergangenheit durchscheint. Allerdings werden wir dafür sorgen, daß aus Ihren Akten hervorgeht, daß Sie im theberischen Krieg 54
mit Auszeichnung als Kompanieführer in der Bürgerwehr Seiner Majestät gedient haben. Sie werden Ihre Rolle nicht allzulange spielen müssen; ich werde nämlich dafür sorgen, daß Sie möglichst bald starten können. Wir werden jetzt die übrigen Mitglieder kommen lassen. Sie kennen keinen von ihnen. Hier, bitte.« Dougal hielt ihm eine kleine Schachtel hin. MacKinnie öffnete sie und stellte fest, daß sie mit Ringen, Broschen und anderen persönlichen Schmuckstücken gefällt war, die so geschmackvoll gearbeitet waren, daß sie auch ihm hätten gefallen können, wenn er nicht so stark von seinen militärischen Gewohnheiten beeinflußt gewesen wäre. Er suchte sich einen Ring, eine Brosche und einen Ohrring aus und legte die Schmuckstücke an. »Jetzt sehen Sie schon eher wie ein Händler aus. Ich habe auch etwas für Ihren Mann.« Dougal kam mit prächtigem Schmuck zum Vorschein, der zwar funkelnder, aber weniger kostbar als der von Nathan war. Nachdem Stark ihn angelegt hatte, winkte er dem Corporal. Während die übrigen herankamen, fragte Nathan schnell: »Wer sind Sie denn für die da?« »Ein hoher Beamter der Geheimpolizei. Sie sind allesamt vertrauenswürdige Diener der Krone, die allerdings nicht den wirklichen Grund für diese Expedition kennen.« Dougal erhob sich und lächelte breit. »Guten Tag, meine Herrn und meine Dame. Das hier ist Händler MacKinnie, der König Davids Anteile an dieser Expedition verwalten wird. Er hat sie übrigens auch größtenteils finanziert, wenn ich das bemerken darf. Händler, hier sind Ihre Mannschaft und Ihre Berater.« 55
Die Gruppe teilte sich, und die Mitglieder warteten darauf, vorgestellt zu werden. Der erste war ein breitschultriger, mittelgroßer Mann, der kerzengerade dastand. »Händler, das hier ist Kapitän MacLean von der Königlichen Handelsmarine. Er ist sowohl im Umgang mit Segel- wie auch mit Motorschiffen vertraut.« »Sehr erfreut«, murmelte MacLean, der starr geradeaus sah. Sein Händedruck war fest, als wollte er MacKinnie auf die Probe stellen, und Nathan war angenehm überrascht, als er den erstaunten Ausdruck in den Augen des anderen sah, bevor er dessen Hand wieder losließ. Der Mann gehörte so offensichtlich zur Marine von Haven, daß MacKinnie sich nicht vorstellen konnte, wie man diese Tatsache vor den Imperialen verheimlichen wollte, doch er verbiß sich eine Bemerkung. »Und dies hier ist Akademiker Longway, der sich mit Sozialwissenschaft, primitiven Kulturen sowie alter Geschichte beschäftigt.« MacKinnie musterte den Mann eingehend. Es war ein kleiner, stämmiger Typ und mit seiner Statur, dem dunklen Haar und den hellen Augen typisch für die Bewohner von Prinz Samuals Welt. Er hätte ein Minenarbeiter sein können, wäre da nicht die dicke Brille gewesen. Sein Kilt sah aus wie jene, die Gelehrte trugen, ein dunkler Stoff mit schmalen roten Streifen, aber sein Händedruck und seine Stimme waren fest. »Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen. Händler, und ich bin froh darüber, daß man mich für eine so wichtige – eine so wichtige und seltene – Expedition ausgewählt hat. Es kommt nicht oft vor, daß ein Wissenschaftler die Gelegenheit bekommt, eine völlig fremde Kultur zu besuchen. Ich 56
bin zwar schon am Archipelago und auf vielen umliegenden Inseln gewesen, aber das ist ganz etwas anderes. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr es mich freut, daß ich Sie begleiten darf. Es ist ein historisches Ereignis.« »Wollen wir hoffen, daß Sie bei unserer Rückkehr noch genauso denken«, erwiderte MacKinnie. Er bemühte sich, seine Stimme freundlich klingen zu lassen, was ihm leichter fiel, als er angenommen hatte. Er mochte keine Männer, die zuviel schwätzten, aber die überschwengliche Liebenswürdigkeit des Wissenschaftlers wirkte irgendwie ansteckend. Longway zeigte auf den Mann, der hinter ihm stand. Es war ein junger Bursche von vielleicht zwanzig Ortsjahren, der nervös von einem Bein auf das andere trat und verlegen die langen Arme herunterhängen ließ. Er war von leichter Statur und hielt sich etwas gebeugt, so daß er noch kleiner wirkte, als er in Wirklichkeit war. Auch er trug eine Brille mit dicken Gläsern und einen einfachen Kilt, der mit Tinte und anderen Flecken beschmiert war. Unter den Arm hatte er ein dickes Buch geklemmt, und aus einer Tasche schaute ein unförmiges Notizheft heraus. »Das hier ist mein Assistent, Bakkalaureus Kleinst«, stellte Longway ihn vor. »Der brillanteste Student der Universität, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf. Ein überaus tüchtiger junger Mann.« »Erfreut, Händler«, murmelte Kleinst, während er mechanisch die Hand ausstreckte und sie nach einem laschen Händedruck so schnell wie möglich wieder zurückzog. Seine Stimme paßte genau zu seiner Erscheinung, und MacKinnie wußte augenblicklich, daß er ihn nicht mochte. 57
Erwartungsvoll drehte sich Nathan zum letzten Mitglied der Gruppe um. »Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Freelady Mary Graham vorstelle«, sagte Dougal. »Sie soll Ihnen als Assistentin und Sekretärin zur Seite, stehen. Ich darf vielleicht hinzufügen, daß sie einen Universitätsabschluß besitzt.« MacKinnie bemühte sich, seine Überraschung nicht zu zeigen. Es gab nur wenige Frauen an den Universitäten, und noch weniger hatten einen Abschluß. Er hatte zwar schon hübschere Mädchen gesehen, denn Haven war bekannt für seine schönen Frauen, doch häßlich konnte man Mary Graham auch nicht gerade nennen. Sie besaß das typische braune Haar und die hellen Augen der Bewohner von Haven, aber sie war um einiges kleiner als die meisten Frauen der Stadt. Ihre Kleidung war einfach und schlicht, konnte jedoch ihre mehr als erfreuliche Figur kaum verbergen. Nathan bemerkte, daß sie gespannt vor ihm stand und darauf wartete, daß er sie ansprach. Das leichte Zucken ihrer Finger, die gegen ihren Rock trommelten, verrieten, wie nervös sie war. Nathan schätzte sie auf irgendwo um die zwanzig, jedenfalls jünger als fünfundzwanzig. »Ich bin erfreut, Freelady«, nickte er ihr zu. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Händler.« Ihre Stimme war ganz angenehm, fand MacKinnie. Allerdings fühlte er sich durch ihre Anwesenheit verärgert. Es bestand keine Veranlassung, eine Frau auf eine so wichtige Expedition mitzunehmen, und es überraschte ihn, daß Dougal sie ausgesucht hatte. Auf Nathans Welt waren 58
die Frauen in zwei Kategorien eingeteilt: in Freeladys, die beschützt und behütet wurden, und in Marketenderinnen, die zwar einem durchaus nützlichen Zweck dienten, aber nicht unentbehrlich waren. Mary Graham ließ sich offensichtlich in keine der beiden Kategorien einordnen. Er war überzeugt, daß man ihn wieder testete, denn er konnte sich kaum eine Gruppe vorstellen, die zur Rettung des Staates weniger geeignet war als diese. Dougal hatte ihm am vergangenen Abend erklärt, warum MacKinnie selbst die Expedition anführen sollte. Die Imperialen würden aller Wahrscheinlichkeit nach alle wirklich kompetenten Offiziere von Haven kennen, aber auf der anderen Seite schien eine militärische Ausbildung unerläßlich, wenn man etwas auf Makassar erreichen wollte. Doch auch MacKinnie sah nicht gerade wie ein Händler aus und verhielt sich auch nicht so, und dazu kam noch die Mannschaft, die hier versammelt war: ein auf den ersten Blick durchschaubarer Marineoffizier, ein redseliger Wissenschaftler mit recht zweifelhaften Fähigkeiten, ein Schwächling mit fast femininem Aussehen und, um das Maß voll zu machen, noch eine Frau. Die Imperialen mußten argwöhnisch werden, dachte er – und selbst wenn sie es nicht wurden, was war dabei gewonnen, wenn man diese Gruppe nach Makassar schickte? Dougal winkte zwei junge Männer heran, die Kampfuniformen ohne Abzeichen trugen. »MacReedy und Todd, die Wächter«, erklärte er. MacKinnie unterzog sie einer eingehenden Musterung und stellte fest, daß die beiden von allen am besten in diese Expedition paßten. Er deutete auf Hal. »Das hier ist Hal, 59
Ihr Wachführer. Wir werden noch einige weitere Wächter aussuchen, sobald wir wissen, wie viele wir noch mitnehmen können. Wachführer, übernehmen Sie jetzt Ihre Leute – und machen Sie sich mit ihnen bekannt.« »Verstanden, Händler.« Stark führte die Männer auf die andere Seite der Veranda. MacKinnie wandte sich wieder an den Polizisten. »Mylord, ich bin sicher, daß uns die anderen einen Augenblick entschuldigen werden, damit wir über die Fracht sprechen können. Es gibt ein paar Probleme in der Finanzierung, die Sie gewiß nur langweilen würden. Sie könnten sich vielleicht mit der Ausrüstungsliste beschäftigen, während wir in Ihrem Büro das Finanzielle besprechen.« »Gewiß, Händler.« Die anderen verbeugten sich, als MacKinnie seinem Gegenüber durch die Verandatüren in das Büro voranging. Sobald sie allein waren, explodierte MacKinnie förmlich. »Erwarten Sie tatsächlich, daß die Imperialen so dumm und blind sind, diese Mannschaft passieren zu lassen? Wie beruhigend, Dougal, daß Ihr Plan schon mit einer schwachen Stelle anläuft. Ich kann unmöglich mit einer derart inkompetenten Gruppe auf diese Mission gehen. Liebe Güte! Da geben Sie mir einen höchst auffälligen Marineoffizier mit, der nur so darauf brennt, soviel wie möglich über ihre Schiffe zu erfahren, dann einen schwächlichen kleinen Intellektuellen und, ich weiß nicht, der Wissenschaftler mag ja gerade noch angehen, aber wo, um alles in der Welt, haben Sie dieses Mädchen aufgetrieben? Womöglich in einem Kurs für Spione des ersten Semesters?« 60
Dougal hob die Hand, um MacKinnies Schimpftirade zu unterbrechen. »Setzen Sie sich, Händler, und trinken Sie erst einmal etwas. Nur ruhig Blut.« Noch immer innerlich kochend, nahm Nathan Platz und stopfte sich eine Pfeife. »Und noch etwas, wo wir schon einmal dabei sind. Ich halte nichts von Mord. Wie viele Menschen haben Sie übrigens gestern nacht insgesamt umgebracht?« »So viele, wie nötig war, Händler«, entgegnete Dougal kühl. »Betrachten Sie sie als Märtyrer für Prinz Samuals Welt, und wir werden überall Denkmäler für sie aufstellen, wenn das hier vorbei ist. Falls es gelingen sollte. Was hätten Sie denn an unserer Stelle mit ihnen gemacht, nachdem sie das wichtigste Geheimnis auf diesem Planeten kannten?« »Ich hätte sie schwören lassen, nichts zu verraten –« MacKinnie wurde von Dougals Gelächter unterbrochen. »Nein, wahrscheinlich nicht«, gab Nathan zu. »Oder sie versteckt. Sie eingeschlossen …« »Und wenn es dann einem von ihnen gelungen wäre, zu fliehen, wäre unser Geheimnis die längste Zeit ein Geheimnis gewesen. Sagen Sie, Colonel MacKinnie, würden Sie in der Armee halbe Sachen machen?« »Nein …« »Nun, wir können uns das auch nicht leisten. Ich bin nicht stolz auf das, was in der letzten Nacht geschehen mußte, aber in meinen Augen war es notwendig. Haben Sie je an einen Guerrillakrieg gegen die Imperialen gedacht? Ich weiß, daß Sie so etwas in Erwägung gezogen haben. 61
Wären in Ihrem Krieg dann nicht auch unschuldige Leben geopfert worden? Wie viele werden nicht bei einem vergeblichen Widerstand gegen die imperialen Kolonisten getötet werden, wenn unser Plan mißlingt? Und jetzt möchte ich kein Wort mehr über diese Sache hören.« Er zündete sich eine Zigarette an, und nachdem er tief inhaliert hatte, sprach er weiter. »Nun zu Ihrer Mannschaft. Sie haben natürlich recht mit Ihrer Vermutung, MacLean sei ein Marineoffizier. Die Imperialen werden sich denken können, daß wir versuchen werden, einen Spion mit auf die Expedition zu schicken. Vielleicht sieht es wie ein recht plumper Versuch aus, aber zumindest wird man Sie dann nicht verdächtigen. Wahrscheinlich werden sie aufpassen, daß MacLean nicht in die Nähe ihrer Schiffsantriebe und der Steuersysteme kommt, doch man wird ihn wohl kaum daran hindern, mitzufahren. Akademiker Longway hat bereits an mehreren Expeditionen zum Archipelago teilgenommen, und er weiß über primitive und alte Zivilisationen so viel wie jeder andere auf diesem Planeten. Er hat sich mehr als einmal aus ziemlich brenzligen Situationen retten können, und ich glaube, daß er Ihnen nützlicher ist, als Sie im Augenblick vielleicht annehmen.« »Schon gut«, winkte MacKinnie ab. »Gegen ihn habe ich sowieso nichts. Aber was ist mit diesem anderen? Dieser Grünschnabel, der so aussieht, als haute es ihn schon beim kleinsten Windhauch aus den Pantoffeln?« »Kleinst ist genau das, was er vorgibt zu sein, mit einer kleinen Ausnahme. Er ist nicht Historiker, sondern Physiker. Der beste von denen, die den Imperialen noch 62
nicht bekannt sind. Der Junge hat eine so schnelle Auffassungsgabe, daß er sich gut genug in sein angebliches Fachgebiet einarbeiten kann, um Longway hilfreich zur Seite zu stehen und jeden Laien zu täuschen. Ich gebe zu, sein Äußeres spricht gegen ihn, aber wir können nicht wählerisch sein. Sie werden jemanden brauchen, der mit den Naturwissenschaften vertraut ist, sei es nur, damit sie wissen, welche Bücher Sie mit zurückbringen sollen.« MacKinnie zündete sich seine Pfeife an. »Und das Mädchen?« »Sie ist die Tochter eines meiner Offiziere. Sie hat tatsächlich ihren Universitätsabschluß, sie ist zuverlässig, und außerdem wird niemand vermuten, daß auch ein Mädchen intelligent sein kann. Sie könnte Dinge in Erfahrung bringen, die Sie nie herausfinden würden. Hübsche Mädchen kennen da so gewisse Mittel und Wege …« MacKinnie setzte zu einer Erwiderung an, doch Dougal bedeutete ihm zu schweigen. »Behalten Sie Ihre Einwände für sich. Sie ist loyal und zuverlässig, auch wenn sie vielleicht noch ein bißchen jung ist, und außerdem sind Sekretärinnen nicht ungewöhnlich auf Handelsexpeditionen. Wir wissen, daß imperiale Frauen oft mit Männern zusammenarbeiten. Es gibt sogar weibliche Offiziere in der Imperialen Marine – doch, doch, es ist mein voller Ernst.« MacKinnie versuchte, diese letzte Bemerkung zu verdauen, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. Die Vorstellung von Frauen in der Armee war ihm zu fremd. »Und wer von ihnen ist Ihr Spion, der mich im Auge behalten soll?« wollte er wissen. 63
»Sie alle. Aber Sie werden uns nicht hintergehen. Ich habe so viele Informationen über Sie, daß ich eine kleine Bibliothek damit füllen könnte. Seit wir Orleans eingenommen haben, hat der Geheimdienst Sie als möglichen Diener König Davids eingeplant. Und als Sie dann Zeuge jenes Gesprächs geworden sind, wußte ich, was ich tun würde. Ich verschwende keine guten Leute, MacKinnie. Für die große Aufgabe, die vor uns liegt, wird Haven jeden einzelnen brauchen. Wir retten einen Planeten vor der Versklavung! Sie werden Ihren Eid nicht brechen.« »Danke für Ihr Vertrauen.« MacKinnie erhob sich. »Sagen Sie mir nur, wieviel sie wissen«, fragte er, während er auf die Gruppe deutete, die draußen auf der Veranda war. Dougal verzog das Gesicht zu einem Lächeln. »Genug. Sie wissen, daß es sich um eine Expedition zu einem primitiven Planeten handelt, mit dem offensichtlichen Zweck, eine Handelsmission zu gründen und dem offensichtlich geheimen Auftrag, die Kriegskasse für die Eroberung unseres ganzen Planeten zu füllen. Sie glauben allerdings, daß sie in Wirklichkeit versuchen sollen, soviel wie möglich über imperiale Wissenschaft, Gebräuche und militärische Macht herauszufinden – daß dies also eine –, nun, sagen wir, Spionagemission ist. Sie haben den Befehl, keine imperialen Bestimmungen zu verletzen, wenn es nicht ausdrücklich von Ihnen angeordnet wird, aber sie sollen ihre Augen offenhalten, wenn sie sich auf Imperialen Schiffen aufhalten. Nur Sie und Ihr Sergeant sind über die Bibliothek unterrichtet. Sie können ja Ihre Mannschaft darüber informieren, wenn Sie Makassar erreicht haben.« 64
Dougal zündete sich eine neue Zigarette an. »Dann bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich mit meiner Mannschaft abzufinden«, stellte MacKinnie fest. »Schön. Und was ist mit meiner Fracht?« »Sie besteht aus größeren Mengen primitiver Waffen wie Äxte, Schwerter und ähnliches. Dann Rüstungen. Ein paar von ihnen aus Gold und Platin, aber es sind nicht viele, weil wir diese Metalle direkt an die Imperialen verkaufen können. Weiter Ballen mit Tuch, gutes Tartan, aus Winterwolle gewebt. Dann Grua, Gewürze und etwas Schmuck. Sie werden die Liste bald bekommen, und wenn Ihnen noch etwas an primitiven Gegenständen einfällt, die die Makassarer vielleicht kaufen würden, oder wenn Sie noch irgend etwas benötigen, dann lassen Sie mich es wissen. Aber versuchen Sie nicht, Verbotenes einzuschmuggeln.« »Ich werde mich hüten«, erwiderte MacKinnie. Er seufzte und starrte auf die Asche in seiner Pfeife. »Haben Sie jemals eine militärische Truppe geleitet?« fragte er. »Nein. Nur Polizeikräfte. Warum?« »Ein alter Grundsatz: Ein Plan scheitert bei Kontakt mit dem Feind. Und dieser hier wird keine Ausnahme sein.« »Vielleicht, aber was bleibt uns anderes übrig, als es wenigstens zu versuchen?« MacKinnie zuckte die Achseln. »Ich weiß es auch nicht. Aber es ist heller Wahnsinn. Sicher, es ist wahrscheinlich das Beste, was wir tun können, aber Sie würden sich besser einen Plan B überlegen. Ich bin nämlich überzeugt, daß Ihr Hauptschlachtplan so wenig Aussicht auf Erfolg hat, als 65
wenn ich versuchen würde, das Große Meer zu durchschwimmen.«
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5 Das Imperiumsgebäude MacKinnie saß allein auf der Veranda. Die anderen waren mit ihren verschiedenen Aufträgen unterwegs, und er war nun das einzige Mitglied der Expedition, das nichts zu tun hatte. Der Colonel hatte gerade seinen Chickeest ausgetrunken und sehnte sich nach einer guten Tasse Kaffee, als Stark herankam. »Hast du ein paar der alten Wölfe auftreiben können?« »Ja, Sir. Es sind so viele Unteroffiziere zusammengekommen, daß wir uns die besten Leute aussuchen können. Bei den Offizieren war es schon etwas schwerer. Wollen Sie wirklich Ihre alten Leute wieder mitnehmen? Wo Sie doch angeblich tot sind? Sie mögen zwar alle gute Kämpfer sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ein solches Geheimnis lange für sich behalten können. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich es schaffe.« »Was ist mit den beiden, die uns Dougal zur Verfügung gestellt hat? Taugen sie etwas?« »MacReedy ist ganz in Ordnung, Si- eh, Händler. Er hat eine Zeitlang in einer Wacheinheit für eine Handelsexpedition auf dem Südkontinent gedient und anschließend auf einem Schiff bei einer Tour durch das westliche Gebiet des Archipelagos. Er wird seine Sache schon machen. Mit Todd sieht es etwas anders aus. Er ist Fähnrich, nehme ich an. Scheint ein prima Bursche zu sein, der es sicher eines 67
Tages zum Colonel schaffen wird, nur sind seine Sprache und seine Manieren nicht die eines gewöhnlichen Soldaten. Wenn wir darauf achten, daß er nicht zu oft den Mund aufmacht, wird es vielleicht gehen.« »Etwas Ähnliches habe ich auch erwartet«, entgegnete MacKinnie. »Sich zu beschweren, wäre sinnlos. Dougal hat seine eigenen Vorstellungen, wie das Ganze vonstatten gehen soll, und es wird uns nicht möglich sein, da etwas zu ändern, bis wir den Planeten verlassen haben. Und vielleicht dann noch nicht einmal. Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, wer nun tatsächlich das Sagen hat.« »Ich schon«, meinte Stark. Mackinnie grinste. »Gehen wir besser auf Nummer Sicher.« Er dachte einen Augenblick nach. »Nimm Dunston und Olby, und such dir ein paar verfügbare Corporale. Ich habe da so eine Ahnung, daß wir ein paar zuverlässige Unteroffiziere brauchen werden, und es wäre mir ganz lieb, wenn nicht alle Wachleute aus Haven kommen. Eh – es ist übrigens nicht nötig, hinauszuposaunen, daß sie Wölfe sind.« Stark grinste wissend. »Jawohl, Händler.« Das Grinsen verschwand. »Glauben Sie, daß wir die Soldaten brauchen werden? Meinen Sie, es kommt zu einem Kampf?« MacKinnie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Dougal ja, sonst würde er nicht ausgerechnet mich ausgesucht haben. Ich mache schließlich nicht viel anderes als Kämpfen. Aber ich werde sicher mehr wissen, wenn ich mit den Vertretern des imperialen Händlerverbandes gesprochen habe.« 68
»Wann geht es los, Sir?« »So bald wie möglich. Es gibt keinen Grund, länger zu warten. Wir haben weder die Zeit, die Männer entsprechend auszubilden, noch wissen wir, wofür wir sie überhaupt ausbilden sollen. Die richtigen Schwierigkeiten fangen wahrscheinlich erst an, wenn es uns tatsächlich gelingen sollte, mit dem Zurückzukommen, wonach wir suchen, doch das ist dann Dougals Problem. Seins, Solons und das der Magnaten.« Als er aufblickte, sah er, daß Mary und Akademiker Longway auf sie zukamen. »Das ging ja schnell«, bemerkte er mit einem gezwungenen Lächeln. Das Mädchen verzog leicht den Mund und meinte: »Sobald Sie der Frachtliste zugestimmt haben, werde ich dafür sorgen, daß die Waren zum Imperialen Kai gebracht werden. Sie befinden sich noch in den Lagerhäusern. Haben Sie weitere Anweisungen?« »Ja. Sehen Sie sich nach jemandem um, der weiß, wie man Rüstungen oder Schutzpanzer anfertigt, und besorgen Sie sich die Maße. Ich will für jeden von uns einen Kettenpanzer, auch für Sie, Freelady. Und lassen Sie uns eine Auswahl verschiedener Schwerter der besten Qualität bringen. Jeder soll sich seine ganz persönliche Waffe aussuchen. Wachführer Stark wird Ihnen zur Ausrüstung seiner Männer entsprechende Instruktionen geben.« »Verstanden, Sir.« Sie zog ein Notizheft aus ihrer Tasche und machte sich mit präziser Schrift Notizen. »Wäre das alles?« »Nein. Leisten Sie mir beim Essen Gesellschaft.« 69
»Ja, Sir«, antwortete sie mit unveränderter Stimme, um sich dann umzudrehen und Stark zu seinem Tisch zu folgen. MacKinnie wandte sich an Longway. »Akademiker, gibt es irgendwelche speziellen Geräte, die Sie brauchen werden?« »Leider nein, Händler. Es gibt natürlich eine Reihe von Dingen, die wir sehr gut gebrauchen könnten, aber sie sind alle technischer Natur und deshalb verboten. Ich würde vorschlagen, daß Sie für sich und Ihre Leute Brustschilde anfertigen lassen. Wenn die Makassarer mit Pfeil und Bogen kämpfen, werden Sie sie brauchen.« »Eine ausgezeichnete Idee.« MacKinnie zündete sich seine Pfeife an. Wir erwarten zwar nicht, in Gefechte verwickelt zu werden, und ich hoffe, daß wir Panzer nur brauchen werden, um uns vor Dieben und ähnlichem Gesindel zu schützen, aber ein vernünftiges Brustschild könnte ganz nützlich sein. Das heißt, wenn sie rechtzeitig fertiggestellt werden können. Ich werde es der Freelady mitteilen.« »Im übrigen«, fuhr Longway fort, »wissen wir so wenig über Makassar, daß es schwierig zu sagen ist, was wir mitnehmen sollten. Natürlich Notizhefte und Papier. Dann einige Zeicheninstrumente, um Landkarten anfertigen zu können, und ein paar Standardnachschlagewerke wären vielleicht auch ganz nützlich. Was meinen Sie: Ob die Marine uns wohl erlaubt, Bücher mitzunehmen? Und kennen die Makassarer wohl schon die Druckkunst?« »Keine Bücher«, schüttelte MacKinnie den Kopf. »Und 70
erkundigen Sie sich nicht bei der Marine über die Makassarer. Nehmen Sie nur handgeschriebenes Material mit, und fragen sie die Marine nicht ohne meine Zustimmung nach speziellen Gegenständen.« Longway nickte nachdenklich. »Wie Sie meinen, Händler. Ich muß noch einige Kleidungsstücke von mir sowie ein paar Handelsgegenstände einpacken. Sie entschuldigen mich?« MacKinnie entließ ihn mit einem Kopfnicken und ging hinüber zu dem Tisch, an dem Stark mit seinen Männern saß. Todd und MacReedy tranken schweigend ihr Bier, während Stark dem Mädchen Instruktionen diktierte. Mary Graham schrieb wie wild in ihr Notizbuch. Hal, der sich zu konzentrieren schien, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte, während er sprach. »Ich brauche Armbrüste, Freelady. Aus gutem Federstahl. In der Garnison von Orleans gibt es einen Waffensergeanten, einen gewissen Brighton, der weiß, wie man sie anfertigt – er hat früher unsere Spezialtruppen damit versorgt. Wir brauchen dreißig davon, schätze ich. So viele müßten doch irgendwo aufzutreiben sein.« »Armbrüste«, wiederholte Mary Graham. »Und Pfeile?« »Ja, auch Pfeile. So viele, wie sie haben.« Stark schwieg und überlegte. »Und für unter den Panzer brauchen wir Wäsche aus Woolshfell, richtig dicke Sachen, an denen noch die Wolle ist. Sollte jemand dazukommen, mich mit dem Schwert abzuklopfen, dann möchte ich wenigstens schön gepolstert sein. Fordern Sie das jetzt erst einmal an, und wenn Sie das erledigt haben, werde ich noch mehr für Sie haben.« 71
Sie nickte und verließ den Tisch. MacKinnie setzte sich und goß sich ebenfalls ein Glas Bier ein. »Sie scheint ihrer Aufgabe gewachsen zu sein«, bemerkte er. »Vielleicht ist sie doch ganz nützlich.« »Ich habe ja eigentlich nicht viel übrig für Frauen auf einem Feldzug, Händler«, erwiderte Stark. »Aber sie scheint tüchtig zu sein. Ich werde es endgültig wissen, wenn ich die Ausrüstung gesehen habe, aber sie hat alles genau in ihrem Buch notiert und weiß offensichtlich, wo die Dinge zu finden sind, wenn es eilig ist.« »Warum haben wir es denn so eilig, Sir?« fragte Todd. »Das imperiale Handelsschiff startet in Kürze«, antwortete MacKinnie. »Wenn wir nicht mitfliegen, müssen wir auf das nächste warten.« So heißt es offiziell, dachte MacKinnie. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Wenn die Jungs von der Marine vor dem Kommandanten, einem Händler oder ganz gleich vor wem wieder mit dieser Bibliothek anfangen, dann wird uns schließlich noch jemand mit ihr in Verbindung bringen. Je eher wir von hier wegkommen, desto besser. Es ist ein hirnverbrannter Auftrag, aber ein Versuch lohnt sich, und je schneller wir zurückkehren, desto eher können die Magnaten mit den Arbeiten an diesem Schiff anfangen. Das heißt, wenn wir etwas erreichen, und wenn sie überhaupt in der Lage sind, eins zu bauen. Soweit er wußte, hatte Dougal bereits vorgeschlagen, daß Wissenschaftler der Universität mit den Arbeiten für die Technik eines Lebenserhaltungssystems beginnen sollten. Dabei sollten ihnen Hinweise aus dem gestohlenen 72
Roman helfen. Andere konnten sich in der Zwischenzeit um Pläne für den Aufbau des Rumpfes kümmern. Zuerst würde sich Dougal allerdings ihrer Loyalität versichern müssen. Die Prinz-Samual-Universität befand sich zwar in Haven, war aber unabhängig, und diese Unabhängigkeit wurde ihr schon seit Jahrhunderten durch Verträge garantiert. Jetzt, da Haven so viele Nachbarstaaten erobert hatte, würde die Universität wohl nicht mehr lange unabhängig bleiben, aber der Rektor würde kaum direkte Anweisungen von der Geheimpolizei König Davids entgegennehmen … Aber das war Dougals Problem. Das alles würde allerdings erst dann akut werden, wenn sie die Geheimnisse der Antriebsmaschinen und ihrer Energiequellen kannten. Und das ist mein Problem, dachte er. Mary Graham kehrte pünktlich zum Mittagessen zurück, und ihr Notizbuch quoll über mit Listen und Zetteln mit Notizen. Nachdem MacKinnie ihr einen Stuhl angeboten hatte, musterte er sie mit unverhohlener Neugier. Häßlich ist das Mädchen nicht, dachte MacKinnie. Und sie versteht sich so anzuziehen, daß sie ihr Äußeres nicht allzusehr betont. Sie hat ihre Kleidung offensichtlich sehr sorgfältig ausgesucht, was bedeutet, daß sie einen guten Eindruck machen will. Warum will sie nur mit auf eine solche Narrenexpedition gehen? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. »Sie sehen doch wie ein intelligentes Mädchen aus«, begann er. »Warum wollen Sie dann 73
unbedingt auf diese verrückte Fahrt mitgehen?« »Ich halte es für meine Pflicht, Händler.« Es war deutlich, daß sie ihre Worte sehr sorgfältig wählte. Wenn sie nur schauspielerte, dann war sie jedenfalls sehr gut. »Bürger Dougal sagt, daß dies eine der wichtigsten Missionen in der Geschichte von Haven werden könnte, auch wenn er nicht verraten wollte, warum.« »Sie sind also eine Patriotin?« Sie zuckte die Achseln. »Keine begeisterte. Ich möchte nur ein einziges Mal an einer wirklich bedeutenden Sache teilhaben. Und solche Gelegenheiten sind selten. Zumindest für Frauen.« Da hatte sie natürlich recht. Und so sollte es von Rechts wegen auch sein. Frauen waren in solchen Fällen nur ein lästiges Ärgernis. Obwohl es einmal eine gegeben hatte – schnell schob er den Gedanken wieder von sich. Immer wenn er an Laura dachte, empfand er dabei Zorn und gleichzeitig Schmerz, und er brütete so schon viel zuviel vor sich hin. Er hatte jetzt einen Auftrag zu erledigen, und dazu brauchte er einen klaren Kopf. »Und wie können Sie uns Ihrer Meinung nach helfen?« »Ich weiß nicht. Ich kann mich in vielen Dingen sicher nützlich machen. Auf vielen Expeditionen reist eine Sekretärin mit, und vielleicht erweist sich Ihnen auch meine Ausbildung als nützlich.« Nathan lachte leise. »Das bezweifle ich.« Und ich kann auch nicht glauben, daß du das einzig Nützliche tust, das mir im Augenblick einfällt, dachte er. Oder doch? Vielleicht war sie eine Spionin. Haven sollte angeblich auch 74
Frauen in seinem Geheimdienst haben, aber die wenigen, die den Sicherheitskräften von Orleans aufgefallen waren, waren leicht zu durchschauen gewesen. Meistens Frauen aus den unteren Schichten, die vorgaben, aus gutem Hause zu sein. Dieses Mädchen vor ihm war anders. Ihrem Benehmen nach konnte sie der Adelsschicht angehören. Wie Laura. Und auch Laura war klein gewesen wie dieses Mädchen – Wieder schob er den Gedanken an sie von sich. »Was haben Sie eigentlich studiert, und da wir schon einmal dabei sind: Was um alles in der Welt hat Sie dazu veranlaßt, die Universität zu besuchen?« »Ich habe ein bißchen von allem studiert, Händler. Da es an den Universitäten nur so wenig Mädchen gibt, konnte ich praktisch alles studieren, was mir Spaß machte. Meine Professoren wußten sowieso nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Es waren so ernste alte Herren, und man konnte förmlich sehen, wie es ihnen die Sprache verschlug, wenn sie feststellen mußten, daß sie dem Vortrag eines Mädchens zuhören sollten. Aber da sie sich nicht wirklich um mich kümmerten, konnte ich das studieren, was mir gefiel und die Vorlesungen besuchen, die mich interessierten. Wirklich, eine phantastische Art, zu studieren.« »Sie haben mir noch immer nicht verraten, warum Sie ein Studium begonnen haben.« »Bitte nennen Sie mich Mary. Schließlich arbeite ich ja für Sie. Oder nicht?« Sie nippte an ihrem gekühlten Wein und nahm dann, wie MacKinnie auffiel, einen kräftigen Schluck. Das verriet einiges über sie; ein Mädchen ihrer Klasse würde es nicht gewöhnt sein, um diese Tageszeit schon Alkohol zu trinken. »Nun«, begann sie, »warum ich 75
zur Universität gegangen bin, das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hielt es damals für das einzig Richtige. Meine Freunde waren schockiert … die wenigen jedenfalls, die ich hatte. Sie sind inzwischen alle verheiratet, und für sie bin ich eine arme alte Jungfer. Ich höre sie direkt sagen: ›Arme alte Mary, sie kriegt einfach keinen Mann mehr mit!‹ Aber das war mir alles egal. Was bleibt einem Mädchen in Haven und vermutlich überall auf dem Nordkontinent schon groß übrig, außer zu heiraten? Abenteuer gewiß nicht. Akademiker Longway erklärte in einer seiner Vorlesungen, daß der Krieg die Zahl der Frauen auf Prinz Samual derart reduziert hatte, daß die Männer sie wie einen Augapfel behüteten und niemand sie sehen durfte. Erst seit noch nicht allzu langer Zeit dürfen wir wieder allein aus dem Haus, hat er gesagt. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, aber das sind genau seine Worte. Ich für meinen Teil möchte etwas anderes tun, als bloß Kinder großzuziehen und meinem Mann bei seiner Karriere zu helfen, indem ich mit seinen Vorgesetzten flirte. Ich habe gedacht, daß mir das Studium an der Universität weiterhelfen würde, aber das Resultat war nur, daß die Leute mich für übergeschnappt hielten. Und deshalb will ich jetzt unbedingt mit auf diese Expedition.« Atemlos brach sie ab und lächelte nervös. »Sie sind also nicht gebunden?« »Nicht mehr. Ich war mit dem Sohn eines Freundes meines Vaters verlobt. Aber das gehört längst der Vergangenheit an.« »Was sagt denn Ihr Vater dazu, daß Sie den Planeten mit einer Expedition verlassen?« MacKinnie machte nach 76
außen hin einen entspannten Eindruck, doch er beobachtete das Mädchen scharf. Er war jetzt ziemlich sicher, daß sich Mary Graham nicht verstellte, was bedeutete, daß sie mehr hinderlich als nützlich sein würde. Ihren eigenen Angaben nach konnte ihnen ihre Ausbildung an der Universität in keiner Weise nützen. »Er war einverstanden, Händler«, erwiderte sie steif. »Ich habe alle notwendigen Erlaubnispapiere notariell beglaubigen lassen. Haben Sie Angst, er könnte Sie womöglich herausfordern?« In ihren Augen blitzte es auf, doch dann schien sie ihre Worte zu bereuen. »Ich habe es nicht so gemeint. Seien Sie mir bitte nicht böse. Wissen Sie, ich bin es so leid, für alles, was ich tue, die Erlaubnis meines Vaters einzuholen.« »Darf ich annehmen, daß Sie für dieses Gleichheit-derGeschlechter-Gerede eintreten, wie es von den Thereanern propagiert wird?« »Sie irren sich, Händler. Ich habe keineswegs den Wunsch, das Leben einer Marketenderin oder eines Animiermädchens zu führen. Aber – auch für uns muß es doch ehrenwerte Aufgaben geben. Nicht alle Sekretärinnen in Haven wurden in den Armenstationen geboren. Wenn Freeladys die Geschäfte für Magnaten und Händler führen können, warum dürfen sie dann keine eigenen Besitztümer haben? Akademiker Longway sagt, daß es im alten Imperium anders gewesen ist. Damals sollen sogar Frauen im Parlament gewesen sein, und niemand hat sich etwas dabei gedacht.« »Glauben Sie das etwa?« 77
»Ich gebe zu, es klingt ein bißchen seltsam, aber warum nicht? Wissen Sie, auch wir haben da oben etwas drin.« Sie tippte sich an den Kopf. »Jedenfalls einige von uns. Wer hat denn die Geschäfte weitergeführt, wenn die Männer im Krieg waren? Sie wissen genausogut wie ich, daß nicht alle Ehefrauen oder Begleiterinnen Aufpasser hatten … wenn sie die Geschäfte führen konnten, solange die Männer lebten, auch wenn sie für Monate von zu Hause weg waren, warum konnten sie das denn nicht auch, nachdem ihre Männer gefallen waren?« MacKinnie lachte und wandte seine Aufmerksamkeit seiner Pfeife zu. »Verwaltung ist eine Sache, Besitz eine andere, Freelady. Nur wenn man etwas besitzt, kann man auch etwas verkaufen.« Es gab tatsächlich Stadtstaaten, in denen Frauen Eigentum besaßen. Es kam nicht selten vor, daß, nachdem die Männer im Krieg gefallen waren, das Land größtenteils Frauen gehörte, und die Männer eine gute Partie suchten, um auf diese Weise zu Reichtum zu kommen. Aber das alles war jetzt unwichtig. Es lag auf der Hand, daß Dougal seine Gründe hatte, warum er gerade Mary Graham mit auf die Expedition schickte, also mußte MacKinnie versuchen, das Beste daraus zu machen. Vielleicht würde sie doch nützlich sein. »Wie weit sind sie mit der Fracht?« wollte er wissen. Sie griff in ihre Tasche und suchte zwischen Papieren herum, bis sie schließlich ein großes Blatt hervorzog. »Hier ist die Liste. Die abgehakten Gegenstände sind bereits zum imperialen Landekai gebracht worden.« 78
»Und die Panzer?« »Bürger Dougal hat die Kettenpanzer bei den Waffenmeistern von Haven in Auftrag gegeben. Sie haben offensichtlich entsprechend gutes Material gefunden, und einer ihrer Leute wird heute abend Maß nehmen. Die Gerber werden ebenfalls vorbeikommen, um uns wegen der Unterkleidung zu messen. Duncan und Larue sind damit beschäftigt, Schwerter nach verschiedenen Vorlagen zu schmieden, und sie werden uns die Modelle bringen lassen, sobald sie fertig sind. Wir haben auch Armbrüste finden können, zu denen im Augenblick die Pfeile angefertigt werden.« »Duncan und Larue«, überlegte MacKinnie laut. »Ich weiß noch gut, daß damals, als ich noch jünger war, ganze Kavallerieregimenter mit Schwertern und Pistolen bewaffnet waren. Mehr als eine Schlacht wurde durch sie entschieden.« Aber dann, dachte er, hatte sich alles geändert. Plötzlich kam man mit einer neuen Militärtechnologie, neuen Taktiken, die auf Selbstladegewehre und Schnellfeuerwaffen mit Mehrfachlauf basierten, und Hinterladungsgeschützen, die so leicht waren, daß man sie im Galopp hinter sich herziehen konnte. Die gesamte Kriegführung wurde anders, unpersönlicher und sehr viel häßlicher. Ich habe auch die neue Art der Kriegführung gelernt. Sehr gut sogar, während viele meiner Kameraden dabei versagten. Sie konnten sich nicht ändern. Sie beharrten auf ihrem Standpunkt, daß Mut und Kampfgeist wichtiger waren als Waffen und Taktiken, mit dem Ergebnis, daß ihre Regimenter niedergemetzelt wurden. Ich habe die 79
neuen Methoden gelernt, aber ich habe sie nie gemocht. Mühsam kehrte er aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zurück. »Das ist eine Partei, die von dieser Expedition profitieren wird. Vorausgesetzt, wir finden Dinge, die zu importieren sich lohnen.« Dougal kam eine Stunde später zu ihnen. »Sie werden in Kürze mit den imperialen Händlern zusammentreffen«, kündigte der Polizist an. »In Ihrem Quartier liegen neue Sachen für Sie bereit. Wenn Sie sich umgezogen haben, gehen wir zum Imperiumsgebäude.« Dougal schloß sich MacKinnie an und begleitete ihn zu seinem Raum. »Nehmen Sie sich in acht vor den imperialen Händlern. Es sind zwei, und sie sehen beide so aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Fallen Sie nur ja nicht auf ihr Äußeres herein; sie sind ganz bestimmt nicht durch Dummheit oder Gutmütigkeit reich geworden. Wahrscheinlich hat von den beiden Händler Soliman das Sagen, auch wenn sie behaupten, gleichberechtigt zu sein. Zwischen den imperialen Händlern und der Marine besteht zwar eine gewisse Feindschaft, aber darauf würde ich mich an Ihrer Stelle nicht unbedingt verlassen. Wir wissen nicht, was wirklich dahintersteckt, aber jedenfalls scheinen die Händler auf unserer Seite gegen die Marine zu stehen.« »Ich verstehe«, nickte MacKinnie. »Sie sprachen ja schon davon, daß uns die Marine die Expedition nicht erlauben würde, wenn sie die Händler nicht mehr oder weniger dazu gezwungen hätten.« »Genau. Die Händler wollen unbedingt, daß wir diese Expedition unternehmen. Sie sind sehr großzügig in ihren 80
Bedingungen. Nur bin ich mir nicht sicher, was sie dazu veranlaßt.« »Ich habe festgestellt«, erwiderte MacKinnie, »daß man am besten seinen Geldbeutel im Auge behält, wenn ein Geschäftsmann einem einen Gefallen erweisen möchte.« Sie hatten inzwischen die Tür zu MacKinnies Zimmer erreicht, und Dougal wartete, während MacKinnie hineinging. Der Colonel fand einen mit Gold und Silber gesäumten Kilt vor, sowie Schmuck, wie ihn die großen Handelsherrn von Haven trugen. Als er die Sachen vom Bett nahm, entdeckte er darunter Munition für seine Pistole. Mit einem Anflug von Erleichterung lud er die großkalibrige Waffe und hatte sie bereits umgelegt, bevor ihm bewußt wurde, daß sie überhaupt nicht zu seiner übrigen Kleidung paßte. In der Lederbox, die bei seinen Sachen auf dem Bett gelegen hatte, fand er dann eine kleinere Pistole, deren Griffe aus Drachenbaumholz mit Perlmutt, Jade und Kupferfäden ausgelegt war. Nachdem er sie entladen hatte, zog er mehrmals den Abzug durch und war freudig überrascht, wie leicht er sich betätigen ließ. Der Stempelplatte nach war es eine Arbeit der Gebrüder St. Andrews, die wohl besten und teuersten Waffenschmiede auf Samual. Obwohl es ihm nicht behagte, eine Waffe zu tragen, die er noch nie benutzt hatte, steckte MacKinnie sie ein und ließ die große Dienstpistole ergeben im Schrank zurück. Zwei Reihen Wachposten standen vor dem Imperiumsgebäude, und vor dem großen, von einer Mauer umgebenen 81
Hof hielten Soldaten von König Davids Leibgarde Wache. Ein junger Offizier, der in einem winzigen Büro innerhalb der Tore saß, kontrollierte ihre Ausweise und sammelte mit entschuldigender Miene ihre Waffen ein, bevor er sie über den Hof aus Lavagestein zu dem eigentlichen Imperiumsgebäude führte. Bei ihrer Ankunft schwangen zwei riesige Doppeltüren auf. Die Soldaten der Imperialen Marine, die sie im Innern erwarteten, trugen ihre scharlachroten und blauen Uniformen mit den Goldtressen und hielten Waffen in den Händen, die MacKinnie völlig fremd waren. Er sah zwar, daß es sich um Gewehre handelte, aber die Knöpfe und Skalen an den Schäften sagten ihm nichts – und darüber hinaus gab es auch keine sichtbaren Öffnungen am Ende der Läufe. MacKinnie hatte angenommen, wieder durchsucht zu werden, statt dessen sah der Unteroffizier auf eine Tafel mit Lichtern und Skalen und auf einen Schirm, der verschwommene Zahlen zeigte; MacKinnie konnte nur einen flüchtigen Blick auf ihn werfen, aber er glaubte, die Konturen seines Feuerzeugs erkennen zu können. Irgendwie schienen die Marineleute durch das Leder seiner Tasche sehen zu können … Sie warteten schweigend, während der Unteroffizier in ein Gerät sprach. Sehr gut organisiert, dachte MacKinnie. Es würde sicher ziemlich schwierig sein, hier unerlaubt einzudringen. Aber es würde ihnen nicht weiterhelfen, auch wenn es ihnen gelingen sollte, das Imperiumsgebäude einzunehmen, denn da waren immer noch die Festung und das Schiff, das um 82
Prinz Samuals Welt kreiste. Nein. Dougals Plan war am besten – mit der einen Ausnahme, daß er Orleans dazu verurteilte, unter der Herrschaft von Haven zu bleiben … Eine Innentür wurde geöffnet, und ein junger Marineoffizier kam herein. Er brachte kleine Abzeichen mit, die aus einem merkwürdigen Material bestanden; es war weder Metall noch ein anderer MacKinnie bekannter Stoff. Eins davon wurde dem Colonel ausgehändigt. »Tragen Sie diese Abzeichen, solange Sie sich im Imperiumsgebäude aufhalten«, wies sie der Offizier an. »Ich bin Leutnant Akelian und habe den Auftrag, Sie zu Ihrer Verabredung zu bringen.« »Da ist ja mein Bild drauf«, ließ sich MacKinnie vernehmen. Leutnant Akelian sah überrascht auf. »Natürlich. Wir machen Fotos von jedem, der das Imperiumsgebäude betritt. Hier lang, bitte.« MacKinnie warf einen flüchtigen Blick auf Dougal, der die Lippen fest aufeinandergepreßt hatte. Kein Wunder, dachte MacKinnie. Akelian war einer der drei Offiziere, die er in der Blauen Flasche gesehen hatte. Aber offensichtlich erkennt er uns nicht wieder. Wie sollte er auch, bei dem, was er an jenem Abend konsumiert hatte … Akelian führte sie durch hell erleuchtete Korridore. MacKinnie hatte noch nie so gut beleuchtete Räume gesehen. Elektrizität, hatte ihm jemand erklärt. Elektrische Beleuchtung. Aber nicht mittels eines Kohlefadens wie bei den Suchlichtern des Militärs. Die Professoren an der Prinz-Samual-Universität experimentierten mit einer neuen 83
Art von Licht, wie sie auch schon Versuche mit Fernkommunikation durchgeführt hatten, bei denen Elektrizität verwendet wurde, doch dazu waren Meilen von Draht nötig, und dieses Verfahren war zu teuer, als daß es sich auf der kupferarmen Prinz-Samuals-Welt gelohnt hätte. Sie wurden zu einer rollenden Treppe geführt, die vor einer Tür endete. Akelian öffnete sie und bedeutete ihnen, einzutreten. Sie befanden sich in einem großen, verhältnismäßig schlicht eingerichteten Raum. Bei ihrem Erscheinen erhoben sich zwei dicke Männer, die sich in ihrer Erscheinung kraß von den beiden Neuankömmlingen unterschieden. Sie trugen statt der auf Samual üblichen Kilts Hosen, schlichte Jacken und nur wenige Schmuckstücke. Akelian sah die Zivilisten einen Augenblick streng an und verließ dann wortlos den Raum. Sobald er verschwunden war, brach einer der Imperialen in lautes Lachen aus. »Gott segne die Marine«, gluckste er. »Aber gebe Er, daß ihre Leutnants endlich erwachsen werden. Guten Abend, meine Herrn.« Dougal erwiderte den Gruß. »Imperialer Händler Soliman«, fuhr er dann förmlich fort, »ich habe die Ehre, Ihnen den Händlermagnaten MacKinnie vorstellen zu dürfen, einen Diener Seiner Majestät und Leiter dieser Expedition. Händler MacKinnie, imperialer Händler Soliman der Imperialen Kapitale, und Vertreter des imperialen Handelsverbandes.« MacKinnie, der jede Bewegung der imperialen Händler verfolgte, bemerkte, daß der dicke Mann keine Anstalten machte, ihm die Hand zu reichen. Der Colonel verbeugte 84
sich leicht, was mit einem kaum merklichen Nicken des anderen erwidert wurde und wandte sich dann dem zweiten Mann zu. »Imperialer Händler Renaldi, ich möchte Ihnen den Händlermagnaten MacKinnie vorstellen«, säuselte Dougal. »Es ist mir eine Ehre«, entgegnete Renaldi und verbeugte sich gleichzeitig mit Nathan, jedoch nicht ganz so tief, ein Unterschied, den man höchstens mit einer Schieblehre hätte messen können. »Meine Herrn«, begann Soliman, »dieser Raum steht uns nach Belieben zur Verfügung. Setzen wir uns doch und unterhalten wir uns wie zivilisierte Menschen.« Er deutete auf die Couch vor dem offenen Kamin. Als sie Platz genommen hatten, fuhr er fort: »Erstaunlich, wie gemütlich es doch ist, wenn man das Holz im Kamin prasseln hört. In der Hauptstadt werden Sie so etwas nicht finden. Es gibt nur noch wenige Häuser, die einen offenen Kamin besitzen, und ich weiß nicht, wie lange es her ist, seit ich das letztemal einen brennen gesehen habe. Ich glaube, ich werde mir bei meiner Rückkehr auch einen einbauen lassen. Es regt zum Nachsinnen an, nicht wahr, Chasar?« »Es wäre sicher ganz nett«, erwiderte Renaldi. »Sie würden es nicht mehr so nett finden, wenn es Ihre einzige Wärmequelle wäre«, warf MacKinnie ein. »Nein, wahrscheinlich nicht.« Soliman machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wenn die Marine Handel mit solchen Dingen erlaubt, könnten vielleicht bessere Heizsysteme eingeführt werden. Sie würden sich sicher gut verkaufen lassen.« Er seufzte. »Aber die Militärministerien reagieren 85
immer entsetzlich langsam. Es wird bestimmt seine Zeit dauern.« MacKinnie fiel auf, daß beide Männer die Sprache des Nordkontinents fast perfekt beherrschten, doch ihre überexakte Aussprache ließ darauf schließen, daß sie sie erst vor kurzem gelernt hatten. Da er selbst die imperiale Sprache noch nicht gehört hatte, konnte MacKinnie nicht beurteilen, wie ähnlich sie ihrer eigenen war. Sie konnte sich aber offensichtlich nicht allzusehr von ihr unterscheiden, da Dougal das Buch hatte lesen können, das seine Agenten gestohlen hatten. Trotzdem würde man sie erlernen müssen, was bedeutete, daß die Imperialen entweder über eine Methode verfügten, wie man fremde Sprachen schnell erlernen konnte, oder daß die Händler es für so wichtig hielten, die Sprache von Samual zu beherrschen, daß sie keine Zeit oder Mühe scheuten, sie zu erlernen. Jede dieser Möglichkeiten schien äußerst interessant. Soliman bot ihnen Erfrischungen an, die er selbst an einer kleinen Bar in einer Ecke des Raumes einschenkte und ihnen reichte, bevor er sich schließlich zu ihnen gesellte. Sie tranken gekühlten Wein von einer der Inseln des Archipelagos, den Soliman in den höchsten Tönen lobte. »Ich hoffe, daß er den Transport vertragen wird«, meinte er. »Dieser Wein wird auf dem Hauptplaneten ein Vermögen wert sein. Er ist genausogut wie der echte Erdwein, oder sagen wir, beinahe so gut, und bei uns verlangt man dafür einen unglaublichen Preis. Sie leben auf einer sehr begünstigten Welt, meine Herren, und Ihre Weine und Ihr Brandy können Sie reich machen. Und 86
natürlich Ihr Grua – was glauben Sie, ob die Pfirsichpflanze auch anderswo wachsen würde? Aber wahrscheinlich gedeiht sie nirgendwo so gut wie hier. Wäre die Erde in den Sezessionskriegen doch nur nicht so schlimm verwüstet worden.« Er wechselte in einen vertraulichen Ton über. »Wissen Sie, deshalb ist die Marine auch so streng. Sie haben nämlich auf der Erde ihre Akademie, und die Offiziere wachsen mit den Resultaten des Kriegs vor Augen auf. Sie sind fest entschlossen, es nie wieder zu einem Krieg kommen zu lassen, und wenn sie die gesamte Galaxie versklaven müssen. Und jetzt, da es zur Tradition geworden ist, daß der Imperator den gesetzlichen Erben nach Neu Annapolis schickt, ist die ganze Regierung von dieser Einstellung infiziert.« Er seufzte tief. »Sind Sie schon auf Makassar gewesen, Händler?« wollte MacKinnie wissen. »Nur ganz kurz«, gab Soliman zurück. »Eine trostlose Welt, die für uns ziemlich wertlos ist. Aber ich bin natürlich überzeugt, daß Sie dort viele für Sie nützliche Dinge finden werden«, fügte er schnell hinzu. »Ganz so trostlos ist sie nun auch wieder nicht. Es kommt uns nur so vor, weil wir mehr Luxus gewöhnt sind als Sie. Kupfer gibt es in Hülle und Fülle, aber vielleicht sind die Transportkosten so hoch, daß es sich für Sie nicht lohnen wird, es in großem Rahmen zu importieren. Auch wenn Makassar für uns nicht so interessant ist, wird sich die Reise für Sie mit Sicherheit lohnen. Und natürlich haben wir uns nicht weit aus der Stadt herausgewagt, in der die Marine ihre Basis hat.« 87
»Hat die Marine schon über die Details der Reise entschieden?« fragte Dougal. »Werden Eure Exzellenzen uns begleiten? Oder ein Marineoffizier? Und wer wird der Kommandant des Schiffes sein?« »Ich habe zwar noch andere Geschäfte zu erledigen«, erwiderte Renaldi, »aber ich werde Sie begleiten. Ich freue mich schon auf die Reise, und Händler Soliman wird inzwischen meine Interessen hier vertreten.« Renaldis Ton ließ darauf schließen, daß sie eine Münze geworfen hatten, wer auf Samual bleiben durfte, und daß Renaldi verloren hatte, obwohl er sich nach außen hin gut gelaunt gab. »Da das Schiff Soliman und mir gehört, wird es von einem unserer Handelskapitäne und seiner Mannschaft kommandiert. Allerdings wird uns einer der imperialen Marineoffiziere als Beobachter begleiten. Er soll dafür sorgen, daß keine ihrer albernen Anordnungen verletzt wird. Wir müssen Sie warnen, Händler«, sagte er zu MacKinnie gewandt. »Sie sind unerbittlich, was ihre Anordnungen betrifft. Wenn Sie Ihren reizenden Planeten wiedersehen wollen, dann halten Sie sich genau an die Vorschriften. Das imperiale Gefängnis ist nicht gerade ein angenehmer Aufenthaltsort.« »Es besteht doch wirklich keine Veranlassung, über so deprimierende Dinge zu sprechen«, unterbrach ihn Soliman. »Reden wir lieber von den Profiten, die sich auf dieser Reise erzielen lassen. Dies ist doch sicher das erstemal, daß jemand von Ihnen seit den Tagen des alten Imperiums den Planeten verlassen wird, oder nicht?« Obwohl er in leichtem Plauderton gesprochen hatte, konnte er nicht verbergen, daß ihn die Antwort auf seine Frage brennend interessierte. 88
Bevor MacKinnie noch Zeit hatte zu antworten, fragte Dougal: »Was ist mit der Sprache auf Makassar? Glauben Sie, daß Händler MacKinnie mit den Einheimischen zurechtkommen wird?« »Die Sprache ist eng verwandt mit der Ihren, und auch der unseren«, erklärte Soliman. »Es sind degenerierte Formen der Sprache des alten Imperiums, die mit einigen Dialektausdrücken durchsetzt sind. Sie werden sich natürlich damit beschäftigen müssen, aber es dürfte nicht schwierig sein, sie zu erlernen. Sagen Sie, Händler MacKinnie, freuen Sie sich darauf, den Planeten einmal verlassen zukönnen?« »Ich würde eher sagen, ich sehe der Reise erwartungsvoll entgegen. Es wird eine neue Erfahrung für mich sein.« Er hatte eine leichte Betonung auf das vorletzte Wort gelegt und erhielt dafür ein zustimmendes Nicken von Dougal. »Aber wie sieht es im allgemeinen auf Makassar aus? Werden uns die Einheimischen freundlich gesinnt sein? Dürfen wir von Stadt zu Stadt ziehen, oder müssen wir uns damit begnügen, in einer Stadt zu bleiben und die Bewohner zu uns kommen zu lassen?« »Die Marine wird nichts dagegen einzuwenden haben, wenn Sie herumreisen wollen«, entgegnete Renaldi. »Vorausgesetzt, daß Sie nichts mitnehmen, das weiterentwickelt ist als das, was man auf Makassar kennt. Allerdings können Reisen auf dem Planeten mit primitiver Ausrüstung gefährlich sein, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es gibt dort überhaupt kein politisches System. Sie hier auf Samual haben wenigstens ein paar starke Regierungen und eine Reihe von Stadtstaaten in einem 89
Komplex von Allianzen – zumindest trifft das für den Nordkontinent zu. Auf Makassar dagegen gibt es Dutzende von Königreichen, freien Städten, kleinen Republiken, Ligen und so weiter und so fort. Nach Ihren Maßstäben sind sie alle ziemlich klein. Die Königreiche sind nur dem Namen nach Königreiche. Sie setzen sich in Wirklichkeit aus vielen verstreuten Baronien zusammen. Zweifellos ist diese Tatsache auf ihre fehlende Technologie zurückzuführen. Dazu kommt dann ihre primitive militärische Organisation. Sie alle drängen sich jedenfalls an der Küste des einzigen großen Kontinents zusammen. Die Grenze landeinwärts bildet eine riesige Steppe, die sich weit über dreitausend Kilometer nach Osten erstreckt. In diesem Gebiet finden Sie nur Wilde. Niemand kann genau sagen, wie viele es sind; sie ziehen umher, wie es ihnen gefällt und überfallen die Grenzgebiete der zivilisierten Gegenden. Es gibt auch einige Inselreiche von Wilden außerhalb der zivilisierten Gebiete, die sogar die größeren Städte überfallen. Niemand wird es Ihnen verbieten, im Land umherzuziehen, Händler MacKinnie, aber seien Sie nicht überrascht, wenn Sie dabei getötet werden. Sicher sind Sie nur in den größeren Städten, und auch das nur mit Einschränkung. Die Imperiale Marine unterhält zwar einen befestigten Beobachtungsposten, hat aber keine Kriegsschiffe in der Nähe, so daß man Ihnen kaum helfen könnte, selbst wenn es Ihnen gelingen sollte, die Marine zu benachrichtigen.« »Sicher, aber wer nicht wagt, der gewinnt nicht, oder…?« säuselte Soliman. »Und wer weiß, was Sie in den östlichen Königreichen nicht alles finden könnten. Der 90
Marineposten liegt an der westlichen Küstenlinie, und wir wissen noch so wenig über den Planeten.« MacKinnie nickte. »Wir werden sehr vorsichtig sein, wenn wir die imperiale Festung verlassen sollten. Was ich nicht verstehe, meine Herren, ist die Tatsache, daß Makassar noch so primitiv ist. Warum hat man die Menschen dort denn nicht wenigstens mit den technischen Grundlagen vertraut gemacht?« »Tja«, antwortete Soliman, »das ist eine Frage, zu der es einige Spekulationen, jedoch keine schlüssige Antwort gibt. Aus unseren Aufzeichnungen geht hervor, daß der Planet zu Beginn der Sezessionskriege nur schwach besiedelt war. Er scheint in erster Linie als Erholungsgebiet für die Marineangehörigen des alten Imperiums und den Beamtenapparat gedient zu haben … ein riesiger Park, eine unbewohnte und saubere Welt mit wenigen Maschinen und Energieanlagen. Im Verlauf des Krieges wurde der Planet dann aus strategischen Gründen, die uns unbekannt sind, zum Teil befestigt. Die Befestigungsanlagen wurden zerstört und mit ihnen das meiste der einzigen Stadt, obwohl der frühere Palast den Angriff anscheinend unbeschadet überstanden hat. Dann zogen die Kriege an Makassar vorbei, auf dem es zu jener Zeit sicher nicht mehr viele Menschen gab. Zumeist wahrscheinlich Beamte, ein paar Künstler, die Besitzer von Freudenhäusern und Prostituierte. Was für eine Zivilisation hätten solche Leute schon aufbauen können, da zudem die technische Ausrüstung fast ganz zerstört war?« Er schwieg nachdenklich und nippte an seinem Wein. »Und dann sind die meisten Pflanzen auf Makassar 91
einheimische Gewächse, die für uns Menschen ungenießbar sind. Irgend so ein hartes Zeug. Auf den Steppen wächst eine Abart unseres Weizens, die allerdings nur als Viehfutter in Frage kommt. Die meisten Nahrungspflanzen auf Makassar stammen von der Erde, und man kennt zwar eine Vielzahl von Nahrungsmitteln, aber es erfordert sehr viel Arbeit und Pflege, eßbare Pflanzen anzubauen. Da ist es doch nur natürlich, daß ein Teil der Bevölkerung zu Räubern geworden ist und von den Bauern lebt! Um sich vor den Überfällen zu schützen, wurde eine Kriegsklasse geschaffen, die sich im Laufe der Zeit zu einer Aristokratie entwickelte. Die Krieger mußten aber auch in Friedenszeiten eine Beschäftigung haben, und sie waren wohl kaum bereit, mit auf den Feldern zu arbeiten … Das konnten sie im übrigen auch nicht, denn die Wilden konnten jederzeit zuschlagen, und außerdem mußten die Krieger in Übung bleiben, wenn sie sich erfolgreich wehren wollten. Seit jener Zeit lebt der Planet in ständigem Kriegszustand zwischen den zivilisierten Bewohnern und den Wilden, zwischen den Kriegern innerhalb der zivilisierten Gebiete und zwischen den zivilisierten Städten und den Baronien. Das sind natürlich nur Vermutungen. Sicher ist aber, daß sie ständig kämpfen.« »Es hat eine ähnliche Periode wie die auf der Erde gegeben«, bemerkte Renaldi. »Das Ende wäre normalerweise die Entwicklung des wissenschaftlichen Ackerbaus gewesen, der eine Entdeckung der Kirche war. Nur hat Makassar seine eigenen Vorstellungen von einer Kirche entwickelt, und das nicht gerade zur Zufriedenstellung des Neuen Rom.« 92
»Ach ja«, fügte Soliman hinzu. »Außer Ihnen und den Beobachtern der Imperialen Marine werden Sie noch eine weitere Personengruppe auf Makassar finden. Seine Heiligkeit hat einen Bischof und eine kleine Gruppe von Missionaren nach Makassar geschickt, um die Bewohner für die Staatsreligion zurückzugewinnen. Bisher hatten sie mit ihrem Bekehrungsversuch allerdings noch keine nennenswerten Erfolge.« Dougal trank seinen Wein aus und setzte das Glas ab. Im selben Augenblick wälzte Soliman seinen dicken Bauch von der Couch, stellte die Gläser auf ein Kupfertablett und ging damit hinüber zu der Bar, um nachzugießen. »Ich bin sicher, daß Händler MacKinnie darauf achten wird, daß er bei Seiner Exzellenz nicht in Ungnade fällt. Dürfen wir hier auf Samual bald mit einem ähnlichen Besuch rechnen?« »Zweifellos«, gab Renaldi zurück. »Sie haben sich zwar offensichtlich entlang orthodoxeren Richtlinien entwickelt als die Bewohner von Makassar, aber wahrscheinlich wird die Kirche ihre Vielzahl von Sekten äußerst betrüblich finden. Dennoch wird sich das Neue Rom tolerant und kompromißbereit zeigen, davon bin ich überzeugt. Glauben Sie, daß es viel Widerstand bei der Vereinigung der Kirchen geben wird?« »Kaum«, antwortete MacKinnie. »Vor rund hundert Standardjahren hat es einige Religionskriege gegeben, aber von der religiösen Begeisterung ist auf Prinz Samuals Welt nicht viel übriggeblieben. Nach der Landung der Imperialen Marine haben die orthodoxen Kirchen dem Neuen Rom Gehorsam erklärt, und die übrigen wissen nicht, wie sie 93
sich verhalten sollen. Übrigens, inwieweit wird sich das Imperium in planetarische Angelegenheiten wie Religion einmischen?« »Oh, überhaupt nicht, überhaupt nicht«, versicherte ihm Soliman. Er servierte sehr vorsichtig den Wein, und MacKinnie fing einen strengen Blick auf, den Soliman dem anderen Händler zuwarf. Daraufhin wechselte Renaldi schnell das Thema, und die nächste halbe Stunde brachten sie damit zu, über Handelsgüter und die vorgesehene Fracht zu diskutieren. Schließlich wurden sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen, und auf Renaldis »Herein!« traten zwei Offiziere der Imperialen Marine ein, die steif auf MacKinnie zumarschierten und unmittelbar vor ihm stehenblieben. Ihre Haltung war alles andere als freundlich.
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6 Vorschriften Der Unterschied zwischen den beiden Offizieren hätte nicht größer sein können. Der eine von ihnen war ein hochgewachsener junger Mann von schlanker Statur, dessen Haarfarbe ein undefinierbares Braun war, das an feuchtes Stroh erinnerte. Der andere war wesentlich älter; um seine ausdruckslosen Augen hatten sich tiefe Falten eingegraben, und sein Haar, das heißt, wo er überhaupt noch Haare hatte, war grau. Im Gegensatz zu seinem Kameraden war er klein und stämmig, aber beiden gemeinsam war der harte und fanatische Ausdruck in ihren Gesichtern; doch fehlte bei dem älteren die Erwartung, die die Miene des anderen widerspiegelte. »Händler MacKinnie«, stellte der ältere Offizier fest. »Ich bin Captain Greenaugh von der Imperialen Marine Seiner Majestät. Ich bin der Kommandant der hier ansässigen Garnison und der Tombaugh, die auf der Umlaufbahn um den Planeten kreist. Das hier ist Midshipman Landry, der mein Beobachter auf Ihrer unsinnigen Reise sein wird.« MacKinnie erhob sich und verbeugte sich leicht vor Captain Greenaugh. Die Verbeugung vor Landry fiel noch knapper aus, und als die anderen keine Anstalten machten, ihm die Hand zu geben, hielt sich der Colonel ebenfalls zurück. »Möchten Sie nicht Platz nehmen, Captain?« bot ihm 95
Soliman mit liebenswürdiger Stimme an. »Was kann ich Ihnen anbieten? Vielleicht einen Wein? Oder lieber Grua?« »Nein, danke. Mr. Landry und ich sind im Dienst.« Das Gesicht des Midshipmans blieb ausdruckslos; oder hatte es sich nicht eben zu einem kaum merklichen Lächeln verzogen? MacKinnie war sich nicht sicher. »Dann nehmen Sie doch wenigstens Platz«, drängte Soliman. »Ich ziehe es vor, stehenzubleiben.« Er wandte sich an den Colonel. »Da Sie der Verantwortliche dieser Expedition sind, Sir, ist es meine Pflicht, Sie zu warnen, daß jede Verletzung der imperialen Vorschriften seitens eines Mitgliedes Ihrer Expedition ein Gerichtsverfahren sowie anschließende Verurteilung des Mannschaftsmitgliedes sowie Ihrer selbst zur Folge haben wird. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Ja, Captain«, entgegnete MacKinnie. Er betrachtete angelegentlich den großen Ring an seiner linken Hand und blickte dann auf. »Sie haben sich deutlich genug ausgedrückt. Aber würden Sie vielleicht die Freundlichkeit besitzen, mir zu sagen, warum Sie sich über mich so ärgern?« »Ich ärgere mich nicht über Sie, Sir. Es ist durchaus verständlich, daß Sie durch den Raum reisen möchten. Nein, ich ärgere mich, daß mich Mr. Soliman mehr oder weniger dazu gezwungen hat, es Ihnen zu erlauben.« »Gezwungen, Captain?« echote Soliman amüsiert. »Ich habe doch lediglich darauf hingewiesen …« »Sie haben lediglich auf die relevanten Passagen in den 96
imperialen Satzungen hingewiesen und mich an Ihren Einfluß erinnert. Ihr Einfluß schert mich einen Dreck, aber an die Vorschriften muß ich mich leider halten. Trotzdem warne ich Sie, MacKinnie. Wenn sich Mr. Soliman schon so stur an die Vorschriften hält, dann kann ich das auch. Sie werden vor Ihrer Abreise eine Kopie der entsprechenden Artikel erhalten, aber ich hielt es für angemessen, Sie persönlich aufzusuchen, um Ihnen dieses Abenteuer auszureden.« »Wenn ich fragen darf, Captain«, meldete sich Dougal, »warum wehren Sie sich eigentlich so gegen unsere Handelsexpedition? Ich habe gedacht, daß es gerade die Politik des Imperiums ist, Handel zwischen den Planeten zu fördern. Ihr Botschafter hat uns versprochen, daß Prinz Samuals Welt durch den Beitritt in das Imperium große Vorteile und Profite bekommen wird.« »Sir –« Der Captain zögerte und schnippte mit den Fingern. »Bürger Dougal, Sir«, half ihm der Leutnant. »Im Dienste Seiner Majestät König David.« »Ich habe so schon zuwenig Offiziere hier, Bürger Dougal. Ich habe den Auftrag, diesen Planeten vor jedem Eingriff in seine Entwicklung und in seine Eingliederung in das Imperium zu schützen. Keine zwanzig Parseks entfernt gibt es ein Nest von Fremden; Ihr König David hat es verdammt eilig, diesen Planeten trotz einer starken Opposition zu vereinen; das Untersuchungsteam leiht sich ständig meine Leute aus, und wegen Ihrer Expedition muß ich nun auch noch für wer weiß wie lange einen jungen Offizier abkommandieren. Es müssen Berichte geschrieben 97
und Inspektionen durchgeführt werden. Und wozu das Ganze? Nur damit Mr. Soliman hier seinem Bankkonto eine weitere Megakrone hinzufügen kann, und damit Sie irgendwelche wertlosen Luxusartikel importieren können, die das bißchen Kapital hier auf Prinz Samuals Welt verschlingen. Es gefällt mir nicht, und es muß mir auch nicht gefallen.« »Schade, daß Sie so denken, Captain«, sagte MacKinnie, der den anderen insgeheim verstehen konnte. Er wußte nur zu gut, in welcher Misere sich ein Offizier befand, der bis zum Hals in Verwaltungsdetails steckte. Wäre nicht Lechfeld gewesen, hätte er sogar Sympathie für diesen Captain empfinden können. Aber die Imperialen waren der Feind. »Sie müssen aber auch zugeben, daß Sie unsere Motive für diese Expedition verstehen können. Ich hoffe, daß wir unsere Arbeit erledigen können, ohne Ihnen irgendwie Ärger zu bereiten.« »Das würde ich Ihnen auch raten«, fauchte Greenaugh. »Aber bevor Sie sich endgültig entscheiden, möchte ich Sie mit den Vorschriften vertraut machen. Erstens: Sie werden die Gelegenheit bekommen, die wichtigsten planetarischen Sprachen, auf die man in der Hauptstadt von Makassar trifft, zu erlernen. Es ist Ihnen nicht erlaubt, den Einheimischen Ihre Sprache oder die des Imperiums beizubringen. Alle Verhandlungen müssen in einer der planetarischen Sprachen geführt werden. Ist das klar?« MacKinnie nickte. Auf einmal war ihm auch klar, warum alle Imperialen, die er bisher kennengelernt hatte, die Sprache von Haven sprachen. Wenn man die Sprache des anderen benutzte, konnte man ihm kaum etwas 98
erzählen, das er nicht bereits wußte. Er hatte wahrscheinlich noch nicht einmal das entsprechende Vokabular für weiterentwickelte Konzeptionen. »Zweitens«, fuhr Greenaugh fort. »Als Bürger des Imperiums haben Sie normalerweise Anspruch auf Schutz vor Wilden und vor willkürlicher Gefangennahme. In Ihrem Fall müssen wir davon leider absehen. Die Garnison auf Makassar ist zu klein, und außerdem verfügt sie über kein Schiff im Raum. Sollten Sie in Schwierigkeiten kommen, sind Sie ganz auf sich allein gestellt.« Der Captain zog ein Gerät von der Größe eines Notizbuches aus seiner Tasche, drückte auf einen an der Seite angebrachten Knopf und blickte auf den Schirm, worauf er es wieder zurück in seinen roten Rock steckte. MacKinnie erkannte, daß es sich um einen der winzigen Computer der Imperialen handelte, von denen ein einziger angeblich Hunderte der besten mechanischen Kalkulatoren ersetzen konnte, die in den Banken von Haven in Gebrauch waren. Die Imperialen benutzten diese Computer für alles, als Notizbuch, als Taschenuhr, als Funkgerät und Terminkalender. »Noch etwas, MacKinnie. Jede technische Neuerung, die sich direkt oder indirekt auf Sie zurückführen läßt, kann eine Anklage wegen Intervention zur Folge haben. Sollte sich aus dieser Intervention ein schwerwiegender Eingriff in die Entwicklung des Planeten ergeben, können Sie mit einer lebenslänglichen Haftstrafe rechnen. Es liegt im Ermessen der Lordrichter, die Auswirkungen der Neuerungen sowie das Maß Ihrer Verantwortlichkeit zu schätzen.« »Warum sind die Vorschriften eigentlich derart streng, 99
Captain?« fragte Dougal. »Soweit wir es sehen, will das Imperium doch einzig und allein Frieden und Freundschaft für seine Mitgliedsplaneten.« »Da liegen Sie richtig. Und plötzliche technische Veränderungen zerstören beides. Ich kenne Planeten, wo sich irgendein gerissener Bursche mit ein bißchen Technologie und einer ganzen Menge Grips zum planetarischen König erhoben hat. Die eine Hälfte der Bevölkerung war arbeitslos, die andere Hälfte rebellierte. Mit einer gut ausgerüsteten Flotte und einer Division von Marinesoldaten hat er sie ruhiggehalten. Mister, ich sage Ihnen: In meinem Sektor wird das nicht passieren.« »Die Vorschriften sind nicht ohne Grund so streng«, fügte Renaldi hinzu. »Niemand kann sagen, wie die Auswirkungen selbst harmloser technischer Neuerungen aussehen werden. Sogar etwas so ganz und gar Gutes wie die Medizin kann das gesamte Leben auf einem Planeten verändern. Es gibt da einen beispielhaften Fall aus der Zeit des alten Imperiums. Die Kirche ging damals hin und vermittelte den Primitiven in gutem Glauben Kenntnisse der praktischen Medizin. Den Missionaren ging es vor allem darum, die Kindersterblichkeit durch Bekämpfung von Kinderkrankheiten zu reduzieren. Sie wollten ihnen auch neue Methoden des Ackerbaus und der Technik zeigen, doch die Menschen waren noch nicht soweit. Sie wollten nichts von Ackerbau und Industrie wissen, nahmen allerdings die medizinische Hilfe bereitwillig an. Es dauerte keine fünfzig Standardjahre, bis der gesamte Planet unter einer Hungersnot litt. Die Auswirkungen waren schrecklich.« 100
Greenaugh nickte. »Ich habe es selbst miterlebt. Ich war damals so alt wie Landry hier und diente auf einem Geleitschiff, das einen Lebensmittelkonvoi begleitete. Etwas Unsinnigeres kann man sich gar nicht vorstellen. Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie nutzlos es ist, Nahrungsmittel auf einen Planeten zu bringen, der am verhungern ist? Selbst wenn man jedes Schiff der Militärund der Handelsflotte eingesetzt hätte, und selbst wenn die notwendigen Nahrungsmittel kostenlos im selben Sternensystem bereit gestanden hätten, wäre es vergeblich gewesen. Aber die Schwester des Imperators entdeckte plötzlich Mitgefühl für das Schicksal dieser Welt. Also wurde wenigstens versucht, zu helfen. Natürlich hat es nichts genützt. Inzwischen ist die Bevölkerungszahl auf Placentia um einiges zurückgegangen, doch der Planet wird nie wieder der alte sein.« »Sie sehen also«, meinte Soliman freundlich, »wie wichtig es ist, sich nicht einzumischen. Ganz gleich, aus welchem Grund auch immer. Sie können zwar immer behaupten, daß alles noch schlimmer gewesen wäre, wenn Sie nicht eingegriffen hätten, aber Sie können es nicht beweisen.« Er nahm sein Glas und trank einen Schluck. »Außerdem wird sich Ihr Volk auf die Mißstände eingestellt haben, an die es gewohnt ist. Ihre Versuche zu helfen, könnten Mißstände einführen, die den Makassarern bisher unbekannt waren und die sie wahrscheinlich in ihrer natürlichen Entwicklung zurückwerfen würden.« »Vielen Dank«, erwiderte MacKinnie. »Wir werden äußerst vorsichtig vorgehen. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen müßte?« 101
»Sie sind also noch immer entschlossen, diese Expedition durchzuführen«, stellte Greenaugh fest. »Ich hätte es mir denken können. Nun, wenn ich Sie nicht überreden kann, Ihren Plan aufzugeben, dann eben nicht. Bringen Sie morgen Ihre Mannschaft zur Inspektion her. Midshipman Landry wird Sie über die weiteren Einzelheiten informieren.« Er wandte sich zur Tür, zögerte und drehte sich noch einmal um. »Vergessen Sie nicht, MacKinnie, daß ich Sie gewarnt habe. Zum Teufel damit.« Mit seinem Midshipman im Gefolge verließ er rasch den Raum. Als sie im Taxi saßen, öffnete MacKinnie den Mund, um etwas zu sagen, doch Dougal bedeutete ihm zu schweigen. Sie kehrten zum Königlichen Gästehaus zurück, wo Dougal dem Colonel vorschlug, sich zu duschen, doch so, wie er es sagte, klang es eher nach einem Befehl. Als MacKinnie fertig war, fand er saubere Sachen vor. Der kunstvolle Händlerkilt und die Jacke waren verschwunden. Er hatte sich gerade angezogen, als Dougal dazukam, der sich, wie der Colonel feststellte, ebenfalls umgezogen hatte. »Ich bitte um Entschuldigung, Händler«, begann Dougal, »aber bittere Erfahrung hat uns gezeigt, daß die Imperialen winzig kleine Geräte besitzen, die es ihnen erlauben, selbst auf große Entfernungen hin Gespräche mitzuhören. Unsere Techniker wollten es zuerst nicht für möglich halten, aber ich habe ihnen das Gegenteil bewiesen, indem ich den Imperialen absichtlich falsche Informationen geliefert habe. Meine Leute haben inzwischen eins dieser Geräte gefunden. Es ist noch nicht einmal 102
so groß wie Ihre Daumenkuppe.« MacKinnie stieß einen Pfiff aus. »Sind an unseren Sachen auch solche Geräte gefunden worden?« »Nein, diesmal nicht. Aber das Taxi hat vor dem Imperiumsgebäude gestanden, während wir bei den imperialen Händlern waren. Wer weiß, was sie in der Zeit gemacht haben.« »Haben Sie eine Ahnung, wie weit diese Dinger reichen?« fragte MacKinnie. »Nicht die geringste. Und da wir nicht wissen, wie sie funktionieren, können wir es noch nicht einmal vermuten. Ein paar unserer besten Wissenschaftler glauben zu wissen, wie man ein solches Gerät nachbauen kann, aber sie sagen, daß es sehr groß sein und viel Energie brauchen würde. Immerhin, es ist ein Anfang.« Da er keinen Stuhl fand, verschränkte er die Hände hinter dem Rücken und begann, nervös im Zimmer auf und ab zugehen. »Übrigens«, fragte MacKinnie, »was werden unsere Kirchen nun wirklich tun, wenn die Neue Römische Kirche hier die Macht übernehmen will? Mir ist aufgefallen, daß es in Orleans von den Bischöfen des Königs nur so wimmelt.« »Immer noch besser unsere als die fremden«, gab Dougal knapp zurück. »Übrigens ein weiterer Grund für das Gelingen Ihrer Mission, MacKinnie. Vielleicht handhabt man das Ganze auf klassifizierten Planeten nicht so streng.« »Ja, vielleicht.« Nathan stand gegen eine Wand gelehnt und sah seelenruhig zu, wie Dougal auf und ab spazierte. 103
»Nach diesem Gespräch mit den Händlern bin ich immer noch nicht schlauer. Ich weiß auch jetzt noch nicht, wie ich an die Bücher herankommen soll – das heißt, es sind ja gar keine richtigen Bücher, nicht wahr? Dieser Marineoffizier hat doch an dem Abend in der Blauen Flasche von Spulen geredet, was immer das auch sein mag. Aber man könnte sie ausdrucken lassen, wenn man wüßte, wie es funktioniert. Nur wissen wir das leider nicht, stimmt's? Im Grunde wissen wir so gut wie gar nichts.« »Wollen Sie etwa aufgeben?« »Nein, um Himmels willen!« MacKinnie grinste. »Und je früher wir anfangen, desto besser. Ich halte es zwar immer noch für ein Wahnsinnsunternehmen, aber wenigstens bin ich wieder zu etwas nutze, ob wir nun gewinnen oder verlieren!«
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7 Die Last des Imperiums Leutnant Alphonse Pavlovnicek Jefferson war verliebt. Es war ganz plötzlich passiert, aber er wußte es genau; er zeigte alle Symptome, die in den Liebesromanen so genau beschrieben wurden. Seine früheren Affären kamen ihm jetzt lächerlich oder abstoßend vor, und er verspürte nicht die geringste Lust mehr, mit seinen Kameraden durch die Kneipen zu ziehen. Alles drängte ihn zu Elaine. Es mußte einfach Liebe sein. Er hatte sie auf der Straße kennengelernt, als er sich verlaufen und sie nach dem Weg gefragt hatte. Natürlich war er froh gewesen, die Gelegenheit zu bekommen, mit einem einheimischen Mädchen zu sprechen. Auf den zivilisierteren Planeten war es wesentlich einfacher als hier, ein anständiges Mädchen kennenzulernen. Da er sich schlimmer verlaufen hatte, als er angenommen hatte, mußte sie ihm den Weg aufzeichnen, und es ergab sich von selbst, daß er sie zu einem Kaffee in einem Restaurant in der Nähe einlud. Es war so günstig gelegen, daß Jefferson fast schon an eine Fügung des Schicksals geglaubt hatte. Später hatte ihm Elaine dann anvertraut, daß sie seine Einladung nur angenommen hatte, weil sie noch nie vorher mit einem imperialen Offizier gesprochen hatte. Zudem waren ihre Eltern auch nicht gerade dafür. Stunden vergingen. Er konnte sich später an keine 105
Einzelheiten mehr erinnern. Sie hatten einfach dagesessen, erzählt, und waren dann durch den Park und am Wasser entlangspaziert, ein erfreulicher Spaziergang an einem erfreulichen Nachmittag, an dem es nichts Wichtiges zu sagen gab. Das einzigste, was ihn beschäftigte, war die Frage, ob er sie wohl wiedersehen durfte, und als er sie aussprach, willigte sie ein. Natürlich würde er sie zu Hause anrufen müssen, würde sich bei ihrem Vater vorstellen und ihn um Erlaubnis bitten müssen, seine Tochter sehen zu dürfen. Man hatte ihn gewarnt, daß die lokalen Sitten und Gebräuche sehr streng seien, und Captain Greenaugh hatte wiederholt betont, daß jeder Offizier, der Schwierigkeiten verursachte, zur Rechenschaft gezogen würde. Jeff freute sich nicht gerade auf das Gespräch mit Elaines Vater, aber sicher würde alles glattgehen. Das Schicksal konnte ihm unmöglich so übel gesinnt sein, daß es ihn erst Elaine finden ließ, er sie aber dann nicht besuchen durfte. Ihr Vater war Beamter in Haven, und das Imperium war mit Haven alliiert. Kaum denkbar, daß er eine mögliche Abneigung gegen Imperiale Offiziere nach außen hin erkennen ließ, und vielleicht war er sogar froh, endlich einmal die Gelegenheit zu bekommen, einen kennenzulernen. Mehr als einmal versuchte Jeff, sich mit diesen Argumenten zu beruhigen. Im Augenblick hatte er jedoch eine andere Verabredung. Oberkommissar Sir Alexei Dmitrivitch Ackoff hielt sein wöchentliches Seminar über Kolonialverwaltung, und es wurde allen jungen Offizieren dringend empfohlen, das Seminar zu besuchen. Vermutlich gab es einen Unterschied zwischen einer Empfehlung und einem Befehl, und wenn 106
Elaine nicht dringend nach Hause gemußt hätte, wäre dies wahrscheinlich eine Gelegenheit für Leutnant Jefferson gewesen, es herauszufinden. Aber Elaine hatte nicht bleiben wollen, und sogar in seiner euphorischen Stimmung kam es Jeff zu Bewußtsein, daß es sicher keine gute Idee war, Ackoffs Geduld auf die Probe zu stellen. Er kam gerade noch rechtzeitig. Die anderen hatten sich bereits in Ackoffs spartanisch eingerichtetem Konferenzraum versammelt, und gerade als Jeff hineinhuschte, wurde die gegenüberliegende Tür, die zum Büro des Kommissars führte, geöffnet. Die anderen standen respektvoll stramm. Sir Alexei nickte ihnen zu und bedeutete ihnen, sich um den großen Konferenztisch zu setzen, während er selbst seinen Platz am Kopfende einnahm. Er war weder besonders groß noch sonst irgendwie imponierend, und seine äußere Erscheinung hätte nicht vermuten lassen, daß er der mächtigste Mann auf Prinz Samuals Welt war, der einzige, der der Marine Befehle geben konnte. Sicher, er konnte eine gewichtige Miene aufsetzen und in einem Ton sprechen, der erkennen ließ, daß er Gehorsam gewohnt war, aber selbst diese Attribute waren nicht immer vorhanden, denn schließlich war er ein Diplomat, der wußte, wie man andere überzeugen konnte. Dies hier war das erstemal, daß man ihn als Kommissar auf einen Planeten geschickt hatte, aber er war bereits zweimal stellvertretender Kommissar gewesen, und man sagte ihm nach, daß er äußerst fähig war. Jeffs Vater kannte Ackoff flüchtig und hatte den Kommissar in seinem letzten Brief an Jeff als bestes – und schlimmstes – Beispiel für einen Musterbeamten im 107
imperialen Staatsdienst erwähnt. »Gib ihm eine Politik, und er wird sie durchsetzen. Er wird sogar so viel Verstand aufbringen, daß er Ausnahmen bewilligt. Aber du mußt ihm eine Politik geben, denn er wird von sich aus keine vorschlagen können.« Die trockene Stimme seines Vaters hatte ihm weiter geraten, den letzten Teil des Briefes zu vernichten, damit er nicht durch Zufall Sir Alexei in die Hände fiel. »Dein Bruder wird den Familientitel erben, mein Sohn«, hatte das Bild seines Vaters mit einem Augenzwinkern gesagt. »Und du wirst Freunde wie Sir Alexei brauchen, wenn du einmal beabsichtigst, deine eigene Familie zu gründen. Vielleicht spielst du sogar mit dem Gedanken, dich auf Prinz Samuals Welt niederzulassen. Scheint kein übler Ort zu sein, nach dem, was ich gehört habe, und man wird Kolonisten brauchen. Es würde mich nicht überraschen, wenn du es zu einer Baronie brächtest. Es lohnt sich, wenn du dich mit Sir Alexei gut hältst. Außerdem ist er gar nicht so übel, wenn du ihn zu nehmen verstehst.« »Meine Herrn«, begann Ackoff. »Ich bin leider mit meinem Arbeitspensum so weit zurück, daß ich das heutige Seminar kurz machen werde.« Midshipman Landry, der Jeff gegenübersaß, verzog erleichtert das Gesicht. Jeff hoffte, daß ihm seine Erleichterung nicht so deutlich anzusehen war, aber offensichtlich war es das doch, denn Ackoff blickte ihn plötzlich an. »Amüsieren Sie sich über etwas, Mr. Jefferson?« »Nein, Sir.« »Dazu haben Sie auch keinen Grund. Sie werden 108
nämlich morgen dem Untersuchungsteam zugeteilt. Und die meisten anderen von Ihnen auch. Sie brauchen nicht zu stöhnen, meine Herren. Die Arbeit ist für uns äußerst wichtig.« Davon bin ich überzeugt, dachte Jeff. »Aber … Sir?« fragte er. »Ja?« »Ich – wissen Sie, welchem Abschnitt ich zugeteilt werde?« »Sie bleiben im Augenblick noch in der Nähe von Haven«, erklärte Ackoff. »In der Universität.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, vielleicht aber war es auch etwas anderes. »Wir müssen uns ein genaues Bild über die Kapazität der hier ansässigen Industrie verschaffen. Wir brauchen eine exakte Vorstellung von ihrem Energiepotential. Taxieren Sie ihre Fähigkeit, komplexe Technologien zu entwickeln. Ohne diese Informationen können wir nicht beurteilen, was wir für den Import freigeben können.« Midshipman Landry hob die Hand. »Ja?« sagte Ackoff. »Händler Soliman behauptet, er wüßte schon, was er importieren will, und wenn er sich irrt, wird ihn der Markt ziemlich bald Lügen strafen.« »Ich kann mir vorstellen, daß er so etwas gesagt hat«, erwiderte Ackoff. »Er hat Ihnen nicht auch zufällig gesagt, was er zu importieren gedenkt?« »Nein, Sir.«
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»Lassen Sie sich versichern, daß sich die Vorstellungen von Mr. Soliman beträchtlich von den meinen unterscheiden«, meinte Ackoff. »Zweifellos denkt er an Luxusartikel und Waren des täglichen Bedarfs. Und dazu gehören auch so schwachsinnige Unternehmen wie diese Expedition nach Makassar. Es ist ganz natürlich, daß Mr. Soliman Profite für die imperialen Autonetiks erzielen möchte, und man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie er das erreichen will. Unsere Aufgabe ist es, diesen Planeten reibungslos in das Imperium einzugliedern, und das könnte schon etwas schwieriger sein. Denken Sie an unsere Situation, daran, wie wenige wir nur sind und wie kostspielig es sein wird, überhaupt etwas hierherzubringen. Wir können uns keine Fehler erlauben. Vielleicht straft der Markt Händler Soliman Lügen, doch sein Irrtum kostet ihn schlimmstenfalls Geld, während unsere Fehler Leben kosten – und machen Sie sich da bitte nichts vor, wir werden Fehler machen.« Die Offiziere am Tisch sahen sich vielsagend an. Ackoff war bei seinem Lieblingsthema, und wenn er einmal mit diesem Thema angefangen hatte, würde er wahrscheinlich auch dabei bleiben. Aber was noch wichtiger war: Er würde kaum viele Fragen stellen. Wenn Ackoff in diesem Ton von der Last des Imperialen Auftrags sprach, konnte man sich in Ruhe zurücklehnen und sich Tagträumen hingeben … »Zum Beispiel weiß doch jedes Kind«, fuhr Ackoff fort, »daß die Energiesysteme der Schlüssel zur Industrialisierung sind. Erzeuge auf billige Weise viel Energie, und die Leute werden schon wissen, wozu sie sie verwenden. 110
Aber was für Energiesysteme?. Satelliten? Dieser Planet verfügt nicht über die entsprechende industrielle Ausgangsbasis, und wir haben nicht die Leute, um die Raum- oder Bodenanlagen zu bauen. Wir werden kaum genügend Fachleute dafür bekommen. Energiesatelliten können wir also für sicher eine Generation streichen. Kleine Fusionswerke? Wer soll sie bedienen? Wer soll sie warten? Wie viele Techniker müßten wir dazu herholen, und wer soll die anderen hier ausbilden? Und wie soll Energie verteilt werden auf einer Welt, wo Metalle wertvoll sind und Kupfer so selten ist, daß es wie Diamanten verwendet wird? Wir werden organische Leiter verwenden müssen. Diese Technologie ist zwar an sich viel zu kompliziert für eine so primitive Welt wie diese, aber wahrscheinlich bleibt uns gar nichts anderes übrig. Und wenn wir einmal den Anfang gemacht haben, wenn wir in großen Mengen billige Elektrizität herstellen können – wie sollen wir dann die industriellen Entwicklungen kontrollieren? Was wir auch tun, wir werden auf jeden Fall die Klassenstruktur dieses Planeten verändern. Das Kräfteverhältnis wird sich verschieben, und das in unvorhersehbare Richtungen. Mister Jefferson. Wie lautet unsere vorrangigste Aufgabe?« »Sir?« Jefferson zuckte zusammen und versuchte, sich die Frage ins Gedächtnis zurückzurufen. »Den Frieden zu bewahren.« »Exakt. Was bedeutet, daß dieser Planet, wenn er eine industrielle Basis entwickelt, von Leuten regiert – und zwar gut regiert werden muß, die dem Imperium treu ergeben sind. Gouverneure also, die sowohl tüchtig wie 111
auch beliebt sind, zumindest soweit beliebt, daß sie sich ohne ständige Revolten im Amt halten können. Aber denken Sie: Wenn wir der Bevölkerung hier die Industrie bringen wollen, müssen wir auch die entsprechenden Leute herholen, die die Primärsysteme bauen und bedienen können. Wie aber können wir sie dazu veranlassen, herzukommen? Was haben wir hochqualifizierten Leuten anzubieten, so daß sie bereit sind, eine primitive Welt zu kolonialisieren?« »Reichtum«, antwortete Landry. »Exakt. Reichtum. Günstige Chancen. Die Möglichkeit, eine aristokratische Familie zu gründen. Ja, sogar Macht. Aber wenn Sie eine fremde Klasse als regierende Klasse einführen, werden Sie unvermeidlich Ressentiments unter der Bevölkerung hervorrufen. Werden sie zu groß, können Sie nicht mehr regieren. Sie verlieren die Kontrolle. Ob es uns gefällt oder nicht, Tatsache ist, daß Prinz Samuals Welt in wenigen Generationen in der Lage sein wird, moderne Waffen herzustellen. Wenn es soweit kommt, muß der Planet loyal sein. Die Alternative ist fast undenkbar. Ich möchte Sie nur an Istvan und Kutuzov erinnern …« Jeff schüttelte sich. Admiral Kutuzov hatte einen ganzen Planeten ausgebombt. Die Alternative war die Revolte eines ganzen Sektors; die Alternative hätte ein zweiter Sezessionskrieg sein können, zerstörte imperiale Planeten und eine Wiederholung all der Kriegsschrecken. Kutuzov hatte die richtige Entscheidung getroffen, aber es war eine Entscheidung, vor der kein normaler Offizier stehen wollte. Auch hier konnte es soweit kommen, dachte er. Es könnte mir passieren, oder die Kehrseite der Medaille, 112
wenn ich mich entschließen würde, mich hier niederzulassen. Vielleicht nicht mir, sondern erst meinen Kindern. Meinen und Elaines – Der Gedanke ließ ihn aufschrecken. Dachte er tatsächlich an eine Heirat? Er kannte sie doch kaum. Aber er wollte nicht von ihr getrennt sein, nicht eine einzige Stunde, und – Es war nicht undenkbar. Sie kam aus einer guten Familie, und die Imperiale Politik ermutigte Kolonisten dazu, Einheimische zu heiraten, damit sie sich mit der Welt verwurzelt fühlten, auf der sie leben wollten. »Schwerwiegende Entscheidungen, meine Herren«, sagte Ackoff. »Denn die Entscheidungen, die wir fällen, werden die Geschichte dieses Planeten verändern. Noch ist die lokale Regierung bereit zur Kooperation. Ja, sie begrüßt unsere Unterstützung sogar. Wir haben ihnen Grund zu der Annahme gegeben, daß die lokale Dynastie an der Macht bleiben wird, wenn sie erst eine planetarische Regierung gebildet haben. Sie werden diese Täuschung natürlich so lange wie möglich aufrechterhalten.« »Was passiert, wenn sie herausfinden, daß wir sie belogen haben?« wollte ein Konsularoffizier wissen. Ihr Tonfall verriet, daß sie das Täuschungsmanöver nicht billigte. »Es ist eigentlich keine Lüge, Miss Neville«, entgegnete Ackoff. »Eher eine, nun, sagen wir: eine diplomatische Wahrheit –« »Nennen Sie es, wie Sie wollen, jedenfalls werden sie es herausfinden, und was dann?« »Herausfinden«, echote Ackoff. »Was sollen sie heraus113
finden? Daß die Experten, die wir herholen, wichtiger sein werden als die einflußreichsten Einheimischen, ganz gleich, wie unsere Absichten auch aussehen mögen? Daß die Händler, die Techniker, Diplomaten und Beamten über das nötige Wissen und die nötigen Fähigkeiten verfügen, während der unvermeidlichen Unruhen auf dem Weg zu einer modernen Gesellschaft Karriere zu machen? So sieht es nämlich in Wirklichkeit aus, und diese Tatsache ist viel entscheidender als alle Verordnungen, die wir erlassen könnten. Wie sehr wir es auch versuchen – und wir werden es versuchen –, es wird keinen Weg geben, einen Wandel in der herrschenden Elite zu verhindern. Aus Gründen, die ich wohl nicht näher erläutern muß, ist es wichtig, daß diese neue Herrscherklasse loyal ist. Manchmal ist es dazu erforderlich, die traditionellen Führer zu unterstützen. Manchmal auch, sie zu ersetzen. Oder …« »Wieso können wir sie denn nicht einfach in Ruhe lassen?« meldete sich Sirica Neville. Ackoff zuckte die Achseln. »Halten Sie das für ratsam?« wollte er wissen. »Nehmen wir an, wir würden Ihrem Vorschlag folgen. Sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich so entwickeln können, wie sie es wollen. Ganz abgesehen von der Tatsache, daß die Revolution, die unvermeidbar ist, ebenso leicht Ungeheuer wie Heilige als Führer hervorbringen kann, bleibt sie Frage, was wir tun sollen, wenn sie sich vom Imperium distanzieren, wenn sie sich mit fremden Rassen verbünden und zu einer Bedrohung für diesen Sektor werden?« Wieder Kutuzov, dachte Jeff. Es muß doch einen anderen Weg geben … 114
»Ich werde Sie jetzt mit Ihren Gedanken über unsere schwere Aufgabe allein lassen«, fuhr Ackoff fort. »Wir dürfen nicht versagen.« Er blickte auf seinen Taschencomputer. »Es ist schon ziemlich spät, wie ich sehe. Bitte erheben Sie sich, um den Treueeid zu sprechen …« Alle Anwesenden wandten sich dem Portrait von Leonidas IX zu, dem Imperator der Menschheit.
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8 Im Raum Obwohl Dougal zur Eile drängte, dauerte es noch volle drei Tage, bis die Fracht inspiziert und verladen war. Schließlich war alles erledigt, und MacKinnie traf zum letztenmal vor seiner Abreise mit Dougal zusammen. »Wir müssen Händler Renaldi für seine Unterstützung danken«, bemerkte Dougal. »Ohne seine Hilfe müßten wir uns jetzt immer noch mit den imperialen Bürohengsten herumschlagen.« MacKinnie lachte. »Er hat es eilig, in die Zivilisation zurückzukehren.« Dougal schnaubte verächtlich. »Er denkt sich wahrscheinlich …« »Aber er hat es nicht gesagt.« »Nein, das war auch nicht nötig.« Dougal zuckte die Achseln. »Wie auch immer, jedenfalls können wir froh sein, daß er es so eilig hat. Und daß sich die imperialen Bürokraten nicht von den unseren unterscheiden.« »Es müßte ihnen doch ziemlich klar sein, daß wir viel zu primitiv sind, um eine Bedrohung für das Imperium darzustellen …« »Oder genauer gesagt, für ihre Akten. Und für ihre Karriere«, fügte Dougal hinzu. »Gott sei Dank haben sie nicht diesen jungen Schwätzer aus der Schenke zu Ihrer 116
Begleitung abkommandiert.« »Da haben Sie recht. Dieser Landry scheint ein fähiger Bursche zu sein, allerdings ist er noch nie zuvor auf Makassar gewesen. Ich hätte gedacht, sie würden einen von diesen Leuten nehmen, die schon auf Makassar gewesen sind …« »Sie können keinen höheren Offizier als einen Midshipman erübrigen«, erklärte Dougal. »Dieser Junge, Leutnant Jefferson, soll angeblich sehr tüchtig sein.« »Dann müssen wir ihn wohl gerade außer Dienst erlebt haben«, gab MacKinnie zurück. »Wahrscheinlich. Auf jeden Fall hat man ihn jetzt an die Universität geschickt, wo er sich unsere technischen Bücher und die Forschungslaboratorien ansieht.« MacKinnie runzelte die Stirn. »Sind sie mißtrauisch geworden? Und weswegen?« »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Er sagt, er gehört zu einem Untersuchungsteam, das feststellen soll, was Prinz Samuals Welt braucht. Es gibt sicher eine ganze Reihe von ihnen, die sich an den unmöglichsten Stellen umsehen, aber von Jefferson wissen wir etwas mehr als von den anderen. Er hat sich mit der Tochter eines Beamten König Davids angefreundet, und man hält mich über seine Aktivitäten auf dem laufenden. Bisher hat er Makassar noch mit keinem Wort erwähnt, aber mir wird wohler sein, wenn Sie weg sind.« »Sicher. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich langsam auf den Weg zum Hafen mache.« »Nervös?« 117
»Ein bißchen schon.« »Sie haben getan, was Sie können.« »Stimmt«, erwiderte MacKinnie, »und das ist wenig genug. Der Himmel weiß, wie ich diese Bücher herbringen soll.« »Oder was immer sie auch sein mögen.« »Ja, oder was immer sie sein mögen.« Er zuckte die Achseln. »Alles zu seiner Zeit. Laß die Dinge auf dich zukommen und sieh dann, wie du mit ihnen fertig wirst.« Genau das, dachte Nathan, hat mir mein Ausbilder in der Akademie immer gesagt. Eine Akademie, die es nicht mehr gibt … »Sie werden uns schon nicht enttäuschen.« Dougal zögerte einen Augenblick und streckte dann seine Hand aus. »Viel Glück.« »Danke. Ich glaube, ich kann es gebrauchen.« Die Handelsfähre war ein häßlicher flacher Zylinder mit Flügeln, ganz anders als die schlanke Marinefähre, die neben dem Hauptpier der imperialen Docks lag. Die Gangway, die aussah, als hätte man sie aus einer Seite der Fähre herausgeschnitten, senkte sich bis an das Dock. Die Kabine im Innern war aus nacktem Stahl. »Sie dient nur zum Zwischentransport für Güter«, erklärte Landry, als sie an Bord gingen. »Im Gegensatz zu einem Marineboot muß sie in der Atmospäre nicht manövrierfähig sein.« Die anderen erwiderten nichts, obwohl MacLean dem 118
Offizier mit offensichtlichem Interesse zuhörte. Durch einen kurzen Korridor gelangten sie in eine Kabine mit gepolsterten Sitzen. »Suchen Sie sich einen Platz«, forderte Landry sie auf. »Ich werde Ihnen helfen, sich anzuschnallen.« »Was sollen denn die Gurte?« wollte Longway wissen. »Wenn das Ding herunterfällt, können sie uns auch nicht mehr helfen, oder?« »Kaum«, gab Landry zu. »Aber diese Boote sind ganz zuverlässig. Es passiert selten einmal etwas.« »Das will ich hoffen«, mischte sich Mary Graham ein. »Ich – wo sind die Händler?« »Sie haben schon vor Stunden abgehoben«, erklärte Landry. »Mit ihrer eigenen Ladung. Sie ist nicht so groß wie die Fracht, die wir mitführen …« MacKinnie konnte aus dieser Bemerkung seine eigenen Schlüsse ziehen, und sie wollten ihm ganz und gar nicht gefallen. Aber sie mußten sich wohl mit ihrer Situation abfinden. Wenigstens war Landry dabei … Von irgendwoher erklang ein Warnsignal, drei längere Töne und anschließend eine Reihe von kürzeren Tönen, die in einem plötzlichen Heulen untergingen, das von hinten kam. Das Boot ruckte vorwärts und glitt dann auf das Wasser hinaus. »Wodurch wird es angetrieben?« fragte Kleinst. »Dampf«, gab Landry bereitwillig Auskunft. »Destilliertes Wasser fließt durch eine nukleare Wärmequelle …« »Nuklear?« fragte MacLean.
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»Tut mir leid«, murmelte Landry, »aber es würde zu lange dauern, es zu erklären. Ich weiß sowieso nicht, ob ich es Ihnen überhaupt sagen darf …« »Das Imperium ist doch unser Verbündeter«, warf Mary Graham ein. »Warum sollten Sie es uns dann nicht sagen dürfen?« »Eine gute Frage, Freelady«, meinte Landry. »Nur weiß ich die Antwort wirklich nicht. Ich habe eben meine Befehle … lehnen Sie sich jetzt zurück. Es geht los.« Die Beschleunigung nahm sprunghaft zu, und sie wurden in ihre Sitze gepreßt, bis sie das Gefühl hatten, viel zu schwer zu sein. MacKinnie knirschte mit den Zähnen und bemühte sich, die Ruhe zu bewahren. Er konnte zwar nicht hinaussehen, aber er glaubte zu wissen, daß sie sich jetzt in der Luft befanden, seit Jahrhunderten die ersten Einheimischen von Prinz Samuals Welt, die in einer Maschine flogen, die schwerer war als die Luft. Nathan warf einen Blick auf Mary Graham. Sie hatte die Hände instinktiv um die Armlehnen ihres Sitzes verkrampft, aber ihr Mund war zu einem Lächeln verzogen. Die anderen konnte MacKinnie nicht sehen. Das Gefühl, zu schwer zu sein und, wie MacKinnie schätzte, das doppelte seines Normalgewichts zu wiegen, hielt eine ganze Zeit an. Es war zwar unangenehm, aber nicht schmerzhaft. Er hatte Kameraden schon wesentlich länger auf seinem Rücken getragen. Und doch wünschte er sich, es würde endlich aufhören. Als
die
Motoren
verstummten, 120
herrschte
eine
erschreckende Stille. Noch schlimmer als die unheimliche Stille aber war das Gefühl, zu fallen. Mary Graham war die erste, die wieder Worte fand. Ihre Stimme klang ruhig und beherrscht. »Ich höre die Motoren nicht mehr. Stürzen wir ab?« Stimmen redeten durcheinander, und plötzlich rief eine der Wachen: »Verflucht, wir fallen ja wirklich!« MacKinnie blickte dem Tod entschlossen ins Auge und versuchte, sich an die dummen Gebete zu erinnern, die der Geistliche bei einem Sterbenden sagte. Irgendwie waren sie jetzt überhaupt nicht mehr dumm. »Nein, nein«, versuchte Landry sie zu beruhigen. »Es ist meine Schuld. Ich hätte Sie warnen sollen. Wir befinden uns jetzt auf einer Umlaufbahn. Das Gefühl, zu fallen, ist ganz natürlich, aber es trügt. Wir können sogar überhaupt nicht fallen. Ohne Energie wäre es uns nicht möglich, diese Umlaufbahn zu verlassen, weil wir um den Planeten fallen – ach, verflucht, ich kann nicht von Ihnen erwarten, daß Sie es verstehen. Jedenfalls sind wir sicher.« »Da bin ich aber froh«, ließ sich Longway vernehmen. »Aber Sie hätten es uns vielleicht besser vorher gesagt …« Der kleine Zwischenfall trug dazu bei, daß MacKinnie sich wegen Kleinst etwas beruhigte. Der junge Wissenschaftler mußte gewußt haben, daß ihnen nichts passieren konnte, und doch hatte er nicht versucht, die anderen zu beruhigen und so seine Tarnung als Gesellschaftshistoriker aufzudecken. MacKinnie hatte zwar nichts für Schwächlinge übrig, aber der junge Mann schien nicht zur intelligent zu sein, sondern auch gesunden Menschenverstand zu besitzen. 121
Die Motoren des Fährboots schalteten sich wieder ein, diesmal allerdings sanfter als beim erstenmal. Die Beschleunigung, die bald vorwärts, bald seitwärts gerichtet war, hielt fast eine Stunde an. Schließlich erklang ein hohles Geräusch, auf das andere Laute folgten. Leutnant zur See Landry blickte auf seinen Taschencomputer. »Genau nach Zeitplan«, stellte er fest. »Ich hätte es auch nicht besser machen können.« »Steuern Sie etwa solche Schiffe?« fragte MacLean. »Entschuldigen Sie, aber Sie scheinen noch ziemlich jung für eine solche Aufgabe. Es muß doch sehr schwierig und kompliziert sein.« MacKinnie hörte belustigt zu. Aus den Gesprächen mit MacLean wußte er, wie schwer es diesem fallen mußte, zu einem einfachen Midshipman so höflich zu sein. »Ich bin jetzt seit fast einem Jahr ausgebildeter Fährschiffpilot«, erklärte Landry stolz, wobei er zu Mary Graham hinübersah, als suchte er bei ihr nach Anerkennung. Sie lächelte ihm freundlich zu. »So schwierig ist es eigentlich nicht«, fuhr Landry fort. »Die meiste Arbeit wird von den Computern erledigt. Es sieht sogar so aus, daß wir dieses Schiff ohne sie überhaupt nicht fliegen könnten.« Die Kabinentür glitt auf, und zwei Männer in Overalls traten ein. Einer von den beiden trug Goldstreifen auf seinen Ärmeln. Sie waren alle zwei dunkelhäutig, und MacKinnie bemerkte, daß ihre Augen wie Schlitze aussahen. Auf Prinz Samuals Welt kannte man keine Asiaten, und entsprechend neugierig wurden die beiden Neuankömmlinge angestarrt. 122
»Ich heiße Taka«, stellte sich einer von ihnen vor. Er schwebte hinüber zu den Sitzen und begann, die Gurte zu lösen. Als alle losgeschnallt waren, deuteten die beiden Besatzungsmitglieder auf die Tür. Mary Graham starrte die Asiaten mit unverhohlener Neugier an, doch MacKinnie war sich nicht sicher, ob es ihre seltsamen Augen oder die Art und Weise war, wie sie durch die Kabine trieben, die sie interessierte. Kleinst stellte eine gelangweilte Miene zur Schau, aber darunter glaubte MacKinnie, brennendes Interesse entdecken zu können. Der blasse junge Wissenschaftler schien entspannt, doch der Eindruck täuschte, denn sooft eins der Besatzungsmitglieder etwas sagte, verkrampften sich seine Züge kaum merklich. »Kommen Sie«, forderte Landry sie auf. »Wir sollten keine Zeit verlieren …« Sie schwebten langsam durch den Verbindungsgang zwischen der Fähre und dem Hauptschiff, wobei sie sich an den Tauen hielten, die die Schiffsoffiziere für sie ausgelegt hatten. Wir haben unsere Welt verlassen, dachte MacKinnie, der wie die anderen von ehrfürchtigem Staunen ergriffen war. Und ich soll nun das Wissen beschaffen, das nötig ist, um solche Schiffe zu bauen. Er schüttelte wütend den Kopf. Je mehr er von dem Schiff sah, desto überzeugter wurde er, daß sie einen unmöglichen Auftrag übernommen hatten. Ihre Aufenthaltsräume stellten sich als winzige Kabinen heraus, die auf den ersten Blick nur spärlich eingerichtet zu sein schienen. Auf Knopfdruck gaben die Wände jedoch das verschiedenste Mobiliar frei, angefangen von Betten 123
bis hin zu Tischen und Stühlen. MacKinnie zog sich in einen Sessel und hielt sich dort fest, während er sich umsah. Langsam ließ das Gefühl der Schwerelosigkeit nach. Ein Schiffsoffizier führte ihn dann in einen Aufenthaltsraum, in dem sich bereits einige Mitglieder seines Teams versammelt hatten. Der Raum bot einen MacKinnie völlig fremden Anblick. Er war luxuriös ausgestattet, und zusätzlich zu den Sofas, Sesseln und Tischen auf dem Deck unter ihm war auch eine große, kreisförmige Wand mit Teppichen und Möbeln versehen, die an ihre Plätze angeschraubt waren. Die Wand war allerdings nicht ganz kreisförmig, denn genau über Nathans Kopf lief eine Zentralröhre durch sie hindurch. Noch seltsamer als die doppelte Möblierung war aber das Deck selbst, das sich vor und hinter ihm zur Decke wölbte, obwohl er das Gefühl hatte, über eine ebene Fläche zu gehen. Als er sich nach ein paar Schritten umsah, stellte er fest, daß die Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, jetzt ein gutes Stück über ihm war. Hinter einem Pfeiler entdeckte er dann Renaldi, der es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte, ein Glas in der Hand hielt und an der Decke zu schweben schien. »Ah, Händler MacKinnie. Setzen Sie sich doch. Die anderen werden auch gleich hier sein.« Renaldi trank einen Schluck. »Ein angenehmes Gefühl, sein Gewicht wiederzuhaben, finden Sie nicht auch?« »Ja.« Als MacKinnie sich in den Sessel fallen ließ, konnte er wieder jenes eigenartige Gefühl in seinen Ohren wahrnehmen, das immer auftrat, wenn er eine plötzliche Bewegung machte. »Wie haben Sie das gemacht? Ich 124
meine, daß wir jetzt wieder unser Gewicht haben?« Renaldi starrte ihn einen Augenblick erstaunt an. Dann lächelte er. »Sie scheinen es tatsächlich nicht zu wissen. Ich warte, bis die anderen da sind und erkläre es Ihnen dann. Trinken Sie doch etwas, Händler. In einer Stunde starten wir, und dann müssen wir für die Übergangszeit zurück in unsere Kabinen.« Es dauerte nicht lange, bis sich MacLean, Longway, Kleinst und Mary Graham zu ihnen gesellten. Wenige Augenblicke später kam auch Midshipman Landry hinzu, der ihnen erklärte, daß man die Wachen und ihren Führer auf einem anderen Deck mit einem eigenen Aufenthaltsraum untergebracht hatte. Als alle Platz genommen hatten, wandte sich Renaldi an Landry. »Der Händler interessiert sich für unser Gewicht, Mr. Landry. Das Imperium wird sicher kaum zusammenbrechen, wenn wir es unseren Gästen erklären, oder?« »Nein, natürlich nicht, Händler«, entgegnete Landry. »Sehen Sie, das Schiff dreht sich im Moment um seine Längsachse, so daß Sie gegen die Wände gedrückt werden. Wenn wir unsere Reise beginnen, wird das Schiff dagegen für eine relativ lange Zeit beschleunigt, und die Rotation hört auf. Während wir beschleunigen, werden Sie zwar Ihr Gewicht spüren, aber ›unten‹ wird dieses Deck da vor Ihnen sein, und unser Deck hier wird eine Wand werden.« Er schwieg einen Augenblick und meinte dann plötzlich: »Wenn Sie Ihre Welt noch nie verlassen haben, dann werden Sie auch noch nie Ihren eigenen Planeten gesehen haben. An diesem Schott dort hinten sind Luken. Erlauben Sie mir, daß ich sie für sie öffne.« 125
Bevor die anderen sich noch erheben konnten, war Kleist schon aufgestanden und über das Deck gegangen, wo er ungeduldig wartete, bis eine Luke frei war. Mit einem Achselzucken öffnete Landry noch einige andere, und auch die übrigen kamen hinzu, um der Reihe nach hinauszuschauen. Keiner von ihnen brachte es über sein Herz, Kleinst von seinem Beobachtungsposten zu vertreiben. Sie konnten Prinz Samuals Welt sehen, allerdings nicht als Kugel, da die Umlaufbahn zu niedrig war. Obwohl er teilweise von Wolken verdeckt wurde, konnten sie doch den Nordkontinent erkennen, einen Teil des Großen Meeres und mehrere größere Inseln des Archipelagos. Abgesehen von den Schäfchenwolken sah der Planet genauso aus wie auf den Karten, die sie in der Schule gesehen hatten. Es kam ihnen so vor, als würde sich die Welt unter ihnen quer über ihr Blickfeld bewegen, und nachdem sie vorbeigezogen war, konnten sie nur noch die Schwärze des Raums und Sterne sehen, die heller funkelten, als sie es je für möglich gehalten hätten. Lange Zeit blieben sie so schweigend stehen. Schließlich begaben sie sich langsam, einer nach dem anderen, zu ihren Plätzen zurück, außer Kleinst, der sich von dem Blick nicht trennen konnte und die Luke erst verließ, als sie zu ihren Kabinen geführt wurden. Die Reise begann. MacKinnie durfte das Deck nicht verlassen, ausgenommen, wenn er die Quartiere von Stark und den Wachen auf dem nächst tieferen Deck aufsuchen wollte, die er über eine Leiter erreichen konnte. Sie wohnten längst nicht so 126
luxuriös wie MacKinnie, aber sie hatten mehr Platz, und Hal nutzte die Zeit so gut wie möglich aus, indem er die Männer in unbewaffnetem Kampf trainierte und mit Schwertern und Schildern aus ihrem persönlichen Gepäck übte. Die Männer machten einen fröhlichen Eindruck, und MacKinnie ordnete an, daß jeder eine kleine tägliche Ration Brandy zugeteilt bekommen sollte, um die Eintönigkeit der Reise zu unterbrechen. Die Tage vergingen in gleichmäßiger Monotonie, die nur durch ihre Bemühungen gelockert wurde, die Sprache von Makassar zu erlernen. MacKinnie und MacLean ließen Holzschwerter kommen und setzten täglich eine Trainingsstunde an, die Schrammen und blaue Flecken bei beiden und wachsende Achtung vor dem anderen zur Folge hatten. Daneben trainierten sie auch mit ihren Männern. Longway und Mary Graham schienen ein natürliches Talent für Sprachen zu besitzen, besonders der Akademiker, der schon nach kurzer Zeit von den Hauptdialekten zu Nebendialekten überging, die er in Ergänzungsteilen der losen Bücher fand, die ihnen die Imperiale Marine zur Verfügung gestellt hatte. Man teilte ihnen mit, daß die Bücher vor dem Planetenfall wieder eingesammelt würden, und MacKinnie hielt bei dieser Bemerkung unwillkürlich den Atem an, aber es wurde nichts weiter darüber gesagt. Elf Tage von Samual entfernt, wurden sie wieder in ihren Kabinen angeschnallt und durchlebten erneut eine Stunde der Schwerelosigkeit, bevor ihr normales Gewicht zurückkehrte. Durch beharrliches Bohren brachte der Colonel Landry dazu, ihnen zu erklären, daß sie während des ersten Teils der Reise beschleunigt hatten und jetzt 127
abbremsten, um in den Überlichtflug einzutreten. Als er daraufhin bei den Passagieren nur erstaunte und verständnislose Gesichter sah, gab er ihnen genauere Erklärungen. »Es gibt zwei Antriebsarten, den Normalraumantrieb und den Hyperraumantrieb. Beim Normalantrieb baut der Fusionsantrieb ein Langston-Feld auf und gibt Photonen frei, die das Schiff vorwärts stoßen. Machen Sie sich nichts daraus, wenn Sie es nicht verstehen. Eigentlich darf ich es Ihnen überhaupt nicht erzählen. Jedenfalls wird das Schiff vorwärtsgetrieben und beschleunigt. Der Hyperraumantrieb arbeitet dagegen nach einem anderen Prinzip. Er arbeitet auf der pseudonuklearen Bahn zwischen zwei Planeten. Das sagt Ihnen vermutlich auch nicht viel. Die Kraftbahnen zwischen zwei Planeten können Sie in etwa mit den Kräften vergleichen, die Atomteilchen zusammenhalten. Aber im Gegensatz zu diesen Atomkräften, die in einer exponentialen Relation zur Entfernung rapide abnehmen – ach, zum Teufel, das sagt Ihnen genausowenig. Wichtig ist jedenfalls, daß der Antrieb nicht funktioniert, solange man sich in der Nähe einer Sonne oder eines Planeten befindet. Man muß den exakten Alderson-Punkt erreichen, um in den Hyperraum eintreten zu können, sonst passiert gar nichts, wenn man den Antrieb einschaltet. Da Marineschiffe eine bessere Ausrüstung zur Lokalisierung der Anderson-Punkte besitzen, müssen sie nicht so stark abbremsen wie Handelsschiffe. Wenn wir den richtigen Punkt erreicht haben, können wir in die Hyperraumbahn zwischen den Sternen eintreten. Und auf dieser Bahn fliegen wir mit Überlichtgeschwindigkeit.« Als Landry sich fragend umsah, setzte Kleinst hastig die 128
gleiche ausdruckslose Miene auf, die auch die Gesichter der anderen zeigten. Der Midshipman kratzte sich am Kopf, murmelte etwas davon, daß er ihnen nicht mehr erzählen durfte und bat um einen Drink. MacKinnie fand mit der Zeit heraus, daß Landry gewöhnlich genau drei Drinks nahm und sie unmittelbar nach dem dritten verließ. Er stellte auch fest, daß der Leutnant wesentlich gesprächiger war, wenn er Mary Graham in der Nähe wußte. Die Tage wurden von den Schiffsuhren angegeben, die auf einen Standardtag eingestellt war, der etwas kürzer als ein Tag auf Prinz Samuals Welt war, da ein Jahr auf Samual etwas kürzer als ein Erdjahr war. MacKinnie bemerkte, daß die Imperialen gerne Ausdrücke und physikalische Geräte benutzten, wie sie auf der Erde üblich waren. Am zweiundzwanzigsten Tag wurden sie abermals aufgefordert, ihre Kabinen aufzusuchen. Anschließend besuchte Landry jeden einzelnen. »Bitte keine Panik, ganz gleich, was sie auch denken oder zu hören glauben«, warnte er sie. »Der Aldersonantrieb wirkt sich auf jeden einzelnen anders aus. Es kommt oft vor, daß man die Orientierung verliert. Bleiben Sie ruhig, und dann kann überhaupt nichts passieren.« Eine Stunde nach dem Besuch des Leutnants war MacKinnie, der nur da sitzen und abwarten konnte, in Schweiß gebadet. Er hoffte, daß sich die anderen an die Anweisungen Landrys halten würden. Als er sicher zum zwanzigstenmal auf seine mechanische Uhr sah, vernahm er plötzlich ein brummendes Geräusch, das sich durch das ganze Schiff fortzusetzen schien. Es hielt einige Minuten 129
an, dann verspürte MacKinnie einen kaum wahrnehmbaren Ruck, so, als wäre das Schiff für einige Zeit unglaublich beschleunigt worden, die so kurz war, daß sie sich kaum auf sie auswirken konnte. Augenblicklich glaubte Nathan zu spüren, daß nichts um ihn herum mehr stimmte. Er blickte auf die Wände und die übrigen Gegenstände, die ihm mittlerweile vertraut geworden waren, und obwohl sie genauso aussahen wie immer, kamen sie ihm doch irgendwie verändert vor. Seltsame Empfindungen krochen durch seine Kopfhaut. Das Brummen hatte aufgehört, aber etwas von diesem Geräusch war zurückgeblieben, ein Ton, wie ihn MacKinnie noch nie zuvor gehört hatte. Dann war es einen Augenblick still. Er war zu kurz, als daß man ihn bewußt hätte wahrnehmen können, und doch schien die Stille förmlich greifbar zu sein, schien jedes Geräusch und vielleicht sogar Wärme, Licht und alles andere zu verschlucken. Plötzlich waren die Geräusche wieder da, wurden lauter, um dann zu verstummen. Schließlich kehrte auch das Gewicht wieder zurück, das jetzt auf den kreisförmigen Teil orientiert war, der für MacKinnie in der Zwischenzeit zu den Wänden der Kabine geworden war. Mit der Rückkehr des Gewichts schien sich auch seine Umgebung wieder zu normalisieren, auch wenn tief in seinem Innern das erschreckende Gefühl zurückblieb, daß nichts normal war.
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9 Makassar Sie befanden sich in einem neuen Sternensystem. MacKinnie versuchte, diese Tatsache zu begreifen, doch er konnte es einfach nicht glauben. Trotzdem mußte es so sein. Die Sterne waren irgendwie anders; einige Konstellationen waren gleichgeblieben, andere dagegen waren verändert. Die Reise nach Makassar dauerte weitere vierundzwanzig Tage, und diesmal fand der Übergang von Beschleunigung zur Abbremsung mitten in der Nacht statt. Am »Nachmittag« des letzten Tages hatten sie sich im Aufenthaltsraum versammelt, und Stark spielte den Kellner, als die Luke geöffnet wurde und Landry und Renaldi sich zu ihnen gesellten. »Wir sind fast am Ziel, meine Herrn«, verkündete Renaldi mit wichtigtuerischer Miene. »Ich habe Midshipman Landry um seine Erlaubnis gebeten, Sie das Objekt Ihrer Aufmerksamkeit sehen zu lassen, und er hat es großzügigerweise erlaubt. Sie können es durch die kleinen Luken dort sehen.« Während Renaldi seine Erklärung abgab, entfernte Landry die Schlösser von den Beobachtungsluken und öffnete sie. Makassar hing als winziger Ball in der Schwärze des weiten Raumes. Die hervorstechendsten Merkmale, die selbst aus dieser Entfernung noch sichtbar waren, waren 131
zwei riesige Gletscher. Ein großer Teil des dazwischenliegenden Gebietes bestand aus Wasser, und der einzige Kontinent, der sich hauptsächlich auf der südlichen Hemisphäre ausdehnte, trieb wie ein riesiger Wal westlich. Zwei große Inseln, die man ihrer Größe nach fast als Kontinente hätte bezeichnen können, lagen darüber auf der nördlichen Hemisphäre, und die flachen Meere waren mit zahlreichen kleineren Inseln gesprenkelt. Wo die Sonne auf die Meere schien, konnte man zwei Farben unterscheiden, und Kleinst vertrat die Ansicht, daß dieser deutliche Farbunterschied auf einen großen Tiefenunterschied des Wassers zurückzuführen sein mußte. Die Tiefsee befand sich vor allem auf der nördlichen Hemisphäre, während der Kontinent von einer blaßblauen Farbe umgeben war, die flachere Gewässer markierte. »Eine hübsche Welt«, bemerkte Landry, der neben MacKinnie stand und auf den Planeten unter ihnen deutete. »Kleiner als die Erde. Die Schwerkraft beträgt rund siebenundachtzig Prozent der Schwerkraft auf der Erde, also ungefähr mh, lassen Sie mich rechnen.« Er zog seinen kleinen Computer heraus und schrieb mit einem Stift auf die Oberfläche. »Das macht ungefähr neunundsiebzig Prozent der Schwerkraft, die auf Ihrem Planeten herrscht, Händler. Ihre Männer werden also im Vergleich mit den Einheimischen verhältnismäßig stark sein. Das könnte unter Umständen ganz nützlich sein.« »Da könnten Sie recht haben«, murmelte MacKinnie. »Ist diese Größe der Eisberge normal? Ich meine, mich daran erinnern zu können, daß unsere Karten von Samual wesentlich kleinere zeigen.« 132
»Die Temperaturen auf Makassar liegen etwas tiefer als die auf Samual. Seine Bahn ist exzentrischer, daher der klimatische Unterschied. Außerdem ist die Planetenneigung größer. Dadurch ist in der südlichen Hemisphäre dann Sommer, wenn der Planet am weitesten von der Sonne entfernt ist. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es würde mich nicht überraschen, wenn die beiden großen Inseln im Norden praktisch unbewohnbar sind. Es muß da ganz schön kalt sein. Sie kommen genau mitten im Frühling auf dem Hauptkontinent an.« MacKinnie rief sich die Karten ins Gedächtnis zurück, die man ihnen gegeben hatte. Mit Ausnahme von einigen wenigen Händlerstädten konzentrierte sich die gesamte Bevölkerung von Makassar auf dem Hauptkontinent, zumindest soweit es die Imperialen beurteilen konnten. Die Karten waren nicht besonders genau, aber es waren die einzigen, die man hatte bekommen können. Sie sahen zu, wie der Planet langsam größer und größer wurde. Die Mitglieder der Expedition standen schweigend vor den Luken, jeder in seinen ganz persönlichen Träumen verloren, Träume von fremden Welten. Dann erklang das Alarmsignal, und sie machten sich auf den Weg zum Fährboot. Die imperiale Basis befand sich in einer kleineren Handelsstadt, die an einer großen Bucht am Westzipfel des Hauptkontinents lag. Eine Kette aus verstreut liegenden Inseln führte durch das flache Meer zu einer Reihe von größeren Inseln, von denen die Handelsschiffe und gelegentlich auch die Räuber herüberkamen. Aufgrund der ständigen Überfälle von Piraten war das Gebiet um Jikar so 133
gut wie unbewohnt, eine Tatsache, die den Imperialen sehr gelegen kam. Ihre Anwesenheit in der Stadt brachte an sich schon Unruhe genug, und so war es ihnen nur recht, daß sie dem größten Teil der Bevölkerung Makassars verborgen blieben. Ein leichter Regen fiel, als sie das Fährboot verließen. Auf dem Steindock blieben sie stehen und blickten sich schweigend um. »Eine neue Welt«, begann Mary Graham. »Ich kann es kaum glauben.« »Da sind Sie nicht die einzige«, erwiderte MacKinnie. Er sog prüfend die Luft ein, konnte aber keine außergewöhnlichen Gerüche feststellen. Der Regen hatte nicht nur alle fremden Gerüche weggewaschen, er hinderte sie auch daran, etwas von ihrer neuen Umgebung erkennen zu können. Der Colonel wandte sich wieder an Mary Graham. »Endlich können wir wieder ungestört sprechen, ohne daß jemand zuhört«, meinte er. »Was sollte eigentlich diese hitzige Diskussion, die Sie gestern mit Renaldi hatten?« »Ach, das war nicht so wichtig …« »Entschuldigen Sie, aber das nehme ich Ihnen nicht ab.« »Er wollte – ich sage Ihnen doch, es war nicht weiter wichtig.« »Der Händler hat sie zum Essen eingeladen«, erklärte Longway. »Allein?« »Ja. Natürlich habe ich abgelehnt«, sagte Mary Graham. MacKinnie sah sie böse an. »Sie hätten es mir sagen müssen. Ich bin …«
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»Mein Aufpasser«, beendete Mary Graham den Satz für ihn. »Ich weiß, und wozu wäre das gut gewesen? Oder hätten Sie ihn herausgefordert? Er wäre entsetzt gewesen und hätte uns für Wilde gehalten. Dadurch wäre nichts gewonnen …« »Aber …« »Sie hat recht«, verteidigte sie Longway. »Nach seinen Begriffen war an dieser Einladung nichts Ungehöriges.« Er legte seine Hand auf MacKinnies Ärmel. »Ich weiß«, fuhr er fort. »Eine solche Einladung impliziert, daß das Mädchen sie annimmt. Da aber freigeborene Frauen einen Mann niemals bei ihm besuchen würden, deutet er an, daß sie nichts weiter als ein billiges Animiermädchen ist. Nur ist ihm das nicht bewußt, Händler MacKinnie.« »Und wer soll das ihrem Vater erklären?« »Er ist ja nicht hier«, entgegnete Longway vorsichtig. »Und es gibt doch auch keinen Grund, es ihm zu sagen. Händler, ich glaube, daß imperiale Frauen nicht unmoralischer sind als unsere auch. Aber sie sind eben ihre eigenen Herren und stehen nicht unter dem Schutz eines Vormundes. Das Imperium ist über unsere Bräuche genauso entsetzt wie wir über die ihren. Wahrscheinlich sogar mehr noch. Und vergessen Sie nie, wer wir sind. Sie können froh sein, wenn uns nichts Schlimmeres als das passiert.« MacKinnie wandte sich stumm ab. Natürlich hatte Longway recht. Sogar auf Prinz Samuals Welt gab es Kulturkreise, in denen die Frauen nicht so streng bewacht wurden wie in den Kulturen auf dem Nordkontinent. Es 135
gab auch Gegenden, in denen die Männer nicht ständig bewaffnet umhergingen. Er hatte sich daran gewöhnt, und er würde sich auch an Makassar gewöhnen. Das Marinegebäude war ein rotes Steingebäude, das von Einheimischen errichtet worden war. Eine Festung gab es hier nicht. Wie immer auch die Verteidigungsanlagen der Imperialen aussehen mochten, sie blieben MacKinnies Augen jedenfalls verborgen, als er sich mit seiner Gruppe dem imperialen Hauptquartier näherte. Die einheimischen Männer waren allgemein klein, braunhäutig oder dunkel und erinnerten MacKinnie an die Offiziere an Bord des Handelsschiffes. Ihre Kleidung war recht seltsam; die Männer trugen teils Hosen und teils lange, tunikaähnliche Roben, die ihnen bis an die Knie reichten. Im Gegensatz zu den Neuankömmlingen hatten anscheinend alle Einheimischen irgendeine Form von Bart, der allerdings nicht immer sehr dicht war. Offensichtlich waren lange Haare Mode, und wenn man näher kam, mußte man feststellen, daß Baden wohl nicht gerade die Lieblingsbeschäftigung der Bewohner von Makassar war. Auf den hundert Yards von den Docks zum Marinegebäude wurde MacKinnie von mindestens zehn Bettlern angesprochen, von denen einige voll Stolz schreckliche Entstellungen sehen ließen. Sie riefen ihm zu und baten um Almosen, und MacKinnie bemerkte erfreut, daß er sie durchaus verstehen konnte. Also machte sich die Übung an Bord bezahlt, auch wenn es ihn nicht drängte, seine Sprachkenntnisse aktiv unter Beweis zu stellen. Stark warf ein paar Kupfermünzen auf die Straße, so daß sie dem 136
Ansturm der Bettler entkommen konnten, während sich diese fluchend um das Geld balgten. Sie durften nur wenige Tage im Marinegebäude bleiben, und während dieser Zeit erkundeten MacKinnies Leute eifrig die kleine Stadt, sprachen mit den Bewohnern und sahen sich nach möglichen Handelsartikeln um. Am Ende des dritten Tages auf dem Planeten kamen sie alle in dem einzigen großen Raum des Hauptquartiers zusammen. Renaldi saß wie gewöhnlich mit einem Glas in der Hand am Feuer. »Eure Exzellenz, es ist uns nicht gelungen, auch nur einen einzigen Artikel zu finden, dessen Transport nach Prinz Samuals Welt sich lohnen würde. Wir fangen langsam an zu glauben, daß es hier nichts zu importieren gibt«, stellte MacKinnie fest. »Wo sind die Gewürze, die exotische Kleidung und all das andere, das Sie und Ihr Partner uns versprochen haben?« Renaldi lachte. »Soweit ich weiß«, entgegnete er gemächlich, »gibt es hier kaum etwas von Wert. Soliman plündert einen Ort immer ziemlich gründlich, wenn er die Gelegenheit bekommt.« »Aber – aber«, stammelte MacKinnie. »Wenn es hier nichts gibt, dann sind wir ruiniert. Sie haben uns eine enorme Summe für den Transport hierher berechnet. Es muß doch hier Dinge geben, die zu kaufen sich lohnt. Wie sollten wir sonst unsere Ausgaben decken?« »Wahrscheinlich gar nicht. Wir haben Ihnen keinen Gewinn versprochen, Händler.« Renaldi sprach den Titel aus, als wäre er eine Beleidigung. »In unserem Geschäft 137
muß man Risiken eingehen. Und Sie haben vielleicht Pech dabei gehabt.« »Aber wir sind doch nur Ihrem Rat gefolgt!« fauchte MacKinnie, sprach aber dann in flehendem Ton weiter. »Sicher wissen Sie eine Möglichkeit, wie wir die Reise für König David doch noch lohnenswert machen können. Sie haben doch so viel Erfahrung. Sicher können Sie uns helfen.« »Höchst unwahrscheinlich.« Renaldi nahm einen tiefen Schluck. »Aber ganz gleich, was Sie jetzt unternehmen wollen, beeilen Sie sich, denn das Schiff startet in drei Tagen.« »Drei Tage! Unmöglich! Sie haben uns doch versprochen, daß wir genügend Zeit bekommen, den Markt zu erforschen und vielleicht sogar eine ständige Handelsniederlassung zu errichten. Das wußten Sie, bevor wir aufgebrochen sind.« Als MacKinnie das gleichgültige Gesicht vor ihm sah, hätte er am liebsten jedes Haar des kleinen Schnurrbarts einzeln ausgerissen. Mühsam beherrschte er sich und fuhr fort: »Ich werde mich bei der Marine über Sie beschweren. Man wird schon dafür sorgen, daß Sie sich an den Vertrag halten.« »In unserem Vertrag steht, Händler, daß Sie hierhergebracht und zu einem Zeitpunkt wieder zurückgebracht werden, der beiden Seiten paßt. Das Schiff startet in drei Tagen, und das paßt uns. Und Sie haben keinen Grund, sich zu beschweren; wir werden nämlich noch zwei weitere Sternensysteme anfliegen, bevor wir zu Ihrem jämmerlichen Planeten zurückkehren. Sie werden zwar nicht die Erlaubnis bekommen, Ihre Quartiere zu verlassen, während 138
wir dort sind, aber denken Sie doch nur an das Vergnügen der ausgedehnten Reise, die Sie erleben dürfen.« »Es paßt nicht beiden Seiten, wenn die eine Seite nicht einverstanden ist«, mischte sich Longway mit freundlichem Ton ein. »Wir haben vielleicht nicht viele Rechte, imperialer Händler Renaldi, aber ich nehme an, daß Captain Greenaugh die wenigen, die wir haben, doch unterstützen wird. Er machte nicht gerade den Eindruck, als wäre er den imperialen Händlern besonders geneigt, Eure Exzellenz. Wir werden nicht in drei Tagen starten.« Renaldi zuckte die Achseln. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Das nächste Schiff, das wir in dieses erbärmliche System schicken könnten, wird frühestens in einem Standardjahr hier ankommen können. Wenn Sie so lange warten möchten, werde ich die Marine bitten, die genaue Anzahl der lokalen Tage bis zu seiner Ankunft auszurechnen. Dann können Sie auf diesem armseligen Planeten so lange herumlaufen, wie es Ihnen Spaß macht.« Mühsam erhob er sich, um sein Glas aus einer offenen Flasche nachzufüllen, die auf einem großen, den Raum beherrschenden Tisch stand. MacKinnie bemerkte, daß die Flasche ziemlich primitiv hergestellt war, aber eine interessante Färbung besaß. Renaldi schien eine Vorliebe für den einheimischen Brandy zu haben. »Drei Tage oder mehr als ein Jahr«, überlegte Nathan. »Weder das eine noch das andere sagt uns zu.« »Aber uns passen sie beide. Welchen Zeitpunkt wählen Sie also?« Renaldi wich nervös vor MacKinnie zurück, als der Soldat auf ihn zukam und nach seinem Gürtel tastete, als wollte er eine Waffe ziehen, die nicht da war. Erst als er 139
wieder in seinem Sessel saß, kehrte sein altes Selbstbewußtsein zurück. »Kommen Sie, mehr haben wir Ihnen nie versprochen. Und überlegen Sie nur, welche Abenteuer Sie erleben können, wenn Sie auf einem Planeten umherstreifen, der von Schweinehirten bewohnt wird.« Er brach in lautes Gelächter aus, verstummte aber augenblicklich, als er MacKinnies Gesicht sah. Nathan wandte sich an MacLean. »Holen Sie den verantwortlichen Leutnant dieses Postens. Wir wollen doch mal sehen, was dieser Mann für uns tun kann.« Die Gruppe wartete mehrere Minuten in angespanntem Schweigen, bis MacLean mit Landry und einem anderen Offizier zurückkehrte. Leutnant Farr war ein kleiner, dunkler Mann, der eine starke Ähnlichkeit mit den Einheimischen von Makassar besaß, und MacKinnie überlegte, ob man ihm wohl gerade für diesen Posten bestimmt hatte, weil er sich kaum von der Bevölkerung unterschied. Nathan erklärte die Situation, worauf sich Renaldi und Farr in der imperialen Sprache unterhielten und so schnell redeten, daß noch nicht einmal Longway sie verstehen konnte. Renaldi wurde immer aufgeregter, während der Leutnant mit kalter Ruhe weitersprach. Farr zeigte zwar nicht jenen durchdringenden, fanatischen Ausdruck, der MacKinnie bei den anderen Marineoffizieren aufgefallen war, aber er schien auch nie zu lächeln. Er trug eine kühle und amtliche Miene zur Schau, die eine Spur von Erleichterung durchblicken ließ, daß endlich einmal eine kleine Abwechslung in seinem Leben als kommandierender Offizier einer Station ohne Mission eintrat, das langweilig genug war. 140
Schließlich wandte sich Farr an MacKinnie und begann, sehr langsam zu sprechen. »Wenn er mich über die Einzelheiten des Vertrags, den Ihr König unterzeichnet hat, richtig informiert hat, dann ist er im Recht. Wir könnten den Fall für Sie untersuchen, wenn Sie so viel Zeit haben, aber es wird dauern. Wir haben hier nämlich keinen Rechtsbeamten.« MacKinnie legte den Kopf auf eine Seite, erkannte aber sofort, daß diese Geste dem Leutnant etwas sagen würde. »Danke, ich verzichte. Ich bin überzeugt, daß sie den Vertrag sehr umsichtig aufgestellt haben.« Er griff nach einem Glas, füllte es und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. »Sehen Sie eine Möglichkeit, wie wir auf diesem Planeten einen lohnenswerten Handel aufbauen können? Und dürfen wir uns auf dem Planeten bewegen, um eine Gemeinschaft zu finden, mit der wir Handel treiben können?« »Der einzige Ort, den ich Ihnen vorschlagen kann, ist Batav, die Hauptstadt. Sie soll sehr wohlhabend sein, obwohl die Einheimischen unter diesem Begriff etwas anderes verstehen als das, was Sie vielleicht gewöhnt sind. Mehr werden Sie nicht finden.« MacKinnie nickte. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als es dort zu versuchen. Ich kann nicht mit leeren Händen zu unserem König zurückkehren.« »Es gibt da allerdings einige Probleme«, erwiderte Leutnant Farr langsam. »Vom Imperium dürfen Sie keine Hilfe erwarten. Das ganze Land befindet sich in einer Art Kriegszustand, und es ist kaum anzunehmen, daß Sie Batav lebend erreichen werden. Wir können Sie nicht schützen …« 141
Er zögerte. »Aber wenn Sie es trotzdem noch versuchen wollen, könnten Sie sich vielleicht nach einer anderen Gruppe von imperialen Bürgern umsehen, die auch nach Batav wollten, eine Gruppe von Geistlichen, die unsere Warnungen mißachtet hat. Sie sind schon vor Monaten aufgebrochen, und seitdem haben wir nichts mehr von ihnen gehört. Seine Heiligkeit wird wissen wollen, was aus seinen Missionaren geworden ist. Wenn Sie es herausfinden könnten, würden Sie uns damit die Arbeit erleichtern.« MacKinnie der den Offizier beobachtete, wurde bewußt, daß die Marine kaum versuchen würde, eine Gruppe von kolonialen Händlern zu schützen, wenn sie noch nicht einmal einen Suchtrupp nach den verlorenen Missionaren losschicken konnten. Prinz Samuals Welt schien so weit weg, irgendwo in den Sternen über ihm, und er war sicher, daß er sie nie wiedersehen würde. Wenigstens würde niemand wissen, was er in der alten Bibliothek wollte, falls er sie erreichen würde. »Wir werden die Augen offenhalten, Leutnant«, versprach Nathan. »Und jetzt werden wir uns daranmachen, Quartiere in der Stadt zu finden, damit wir unsere Expedition organisieren können. Ich wage nicht, in unsere alte Welt zurückzukehren, bis wir nicht alles versucht haben, was in unserer Macht steht, einen Gewinn für unseren König zu erzielen.« Dann wandte er sich an Renaldi. »Und was Sie betrifft, bin ich froh, daß das Imperium lokale Sitten und Bräuche soweit erhält, wie es möglich ist. Ich werde dem Tag entgegensehen, wenn Sie nach Prinz Samuals Welt zurückkehren und ich Sie auf 142
Ihre Ehre zum Duell herausfordere. Falls Sie so etwas wie Ehre überhaupt besitzen.« Als Renaldi schwieg, stapfte MacKinnie entschlossen davon.
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10 Jikar Die Schenke erinnerte MacKinnie an die Blaue Flasche, und sogar ihr Name ließ sich in etwas Ähnliches wie das Blaue Weinglas übersetzen. Und sie erinnerte MacKinnie an zu Hause. Obwohl es erst ein Uhr mittags war, herrschte Hochbetrieb. Master Blatt, Gerbermeister und Master Hoorn, der Tuchhändlermeister, freuten sich über MacKinnies Gastfreundlichkeit. Schweigend tranken sie die erste Flasche Wein aus und genossen das aromatische Gebräu, das der Schenkenbesitzer aus dem sauren lokalen Erzeugnis herstellte. Er verkaufte es zu einem Preis, den sich kaum jemand im Dorf leisten konnte und der MacKinnie zu einem beliebten Mann machte. Nathan beobachtete die beiden Männer, die einmal sehr stämmig und kräftig gewesen sein mußten, jetzt aber von Fleischfalten entstellt wurden, die auf Unterernährung zurückzuführen waren. Andere brüteten schweigend vor sich hin, viele von ihnen an Tischen, auf denen weder Gläser noch Flaschen standen. Der Schenkenbesitzer hatte seinen Zehnten gegeben, und sie hatten keinen Kredit mehr. Trotzdem saßen sie da, denn sie wußten nicht, wohin sie sonst hätten gehen sollen. »Sieht es in Jikar oft so aus?« wollte Nathan wissen, als die Flasche schließlich leer war. »Entschuldigen Sie, Masters, aber ich kann mir kaum vorstellen, daß ein Dorf 144
in diesem Zustand lange überleben kann, auch wenn es einen Hafen und Felder besitzt.« Hoorn räusperte sich und sah vielsagend auf die Flasche, aber er war zu stolz, nach einer neuen zu fragen. MacKinnie winkte mit einer lässigen Handbewegung in Richtung Theke, worauf der Schenkenbesitzer in rege Aktivitäten ausbrach. Mit Ausnahme eines kleinen Jungen, der höchstens acht Jahre sein konnte, hatte MacKinnie keine weitere Bedienung gesehen, obwohl die Schenke ziemlich groß war und früher einmal gut floriert haben mußte. Als die neue Flasche serviert wurde, seufzte Horn tief. »Das ist erst so, seit sie da sind«, flüsterte er, um dann etwas lauter hinzufügen: »Bei ihrer Landung wurde unsere Kriegsflotte zerstört. Die Piraten wollen sich nicht mit Jikar einigen; wir haben zu viele von ihnen im Gefecht getötet. Unsere Stadt ist klein, Händler, aber früher einmal waren wir sehr stolz. Und was ist uns jetzt davon geblieben? Die Piraten halten die Hafenzufahrt besetzt, und die Wilden plündern unsere Felder. Und sie unternehmen nichts dagegen. Sie dürfen sich nicht einmischen, sagen sie uns.« Die Stimme des Tuchhändlers wurde lauter und ließ erkennen, daß er mit Tränen des Zorns kämpfte. »Im Namen des Unsterblichen Gottes, haben sie sich denn nicht schon eingemischt? Sie waren der Untergang von Jikar!« »Ja«, murmelte Blatt zustimmend. »Mit unserer Flotte ging es genauso wie mit unserer Armee. Beide sind vernichtet worden. Unsere Weiden sind verbrannt, die Felder zertrampelt. O ja, innerhalb der Mauern sind wir sicher. Sie werden nicht zulassen, daß die Stadt zerstört wird. Würden 145
sie es doch nur. Wenn wir angegriffen würden, würden unsere jungen Männer vielleicht wieder Mut fassen und kämpfen, statt vor den Stufen der Kirchen zu kauern und um Almosen zu betteln, die sie früher einmal selbst gegeben haben, oder den Zehnten des Wirts trinken, bevor er den Priester erreichen kann. Verflucht seien die Fremden.« Er hob das Glas, um auf seinen Fluch zu trinken, doch dann fiel ihm ein, mit wem er hier am Tisch saß. »Oh, Entschuldigung, Händler. Sie scheinen nicht zu denen zu gehören.« MacKinnie nickte, während er sich in Gedanken mit seiner mißlichen Lage beschäftigte. Am folgenden Tag würde das Fährschiff starten und seine Mannschaft allein auf dem Planeten zurücklassen, und noch immer hatte er keinen Weg gefunden, wie sie aus Jikar hinauskommen konnten. Unmittelbar hinter den Stadtmauern lauerten die Horden der Wilden, die nur darauf warteten, jeden auszurauben, der dumm genug war, eine der beiden Straßen zu nehmen, die sich nach Süden und Norden hinzogen. Draußen vor dem Hafen hatten Piratenbanden auf den Inseln der flachen Bucht der Sulawa Sea Posten bezogen und blockierten die Hafenzufahrt. Sie forderten nicht nur Zoll von der Stadt, sondern überdies den Kopf des Masters von jeder Gilde der Stadt. Zur Ehre der Bürger mußte gesagt werden, daß sich niemand von ihnen für den Handel mit den Piraten ausgesprochen hatte, mit Ausnahme zweier alter Gildemeister, die anführten, daß sie so oder so nur noch wenige Jahre zu leben hätten. Ihre eigenen Gilden weigerten sich allerdings heftig, den Vorschlag auch nur in Erwägung zu ziehen. 146
Der Einfall der Wilden in ehemals zivilisiertes Gebiet hatte zu einem Chaos in den Ländern geführt, die selbst in den besten Zeiten nie vernünftig regiert worden waren. Viele der Kriegerfamilien, die wenigstens die Illusion von Frieden und Ordnung aufrechterhalten hatten, existierten nicht mehr, andere waren geflohen. Niemand konnte sich da für die Sicherheit einer kleinen Gruppe verbürgen, die sich zu der fast dreitausend Kilometer entfernten Stadt des alten Imperiums aufmachte. Die Imperialen wußten nur wenig über Batav. In der Hoffnung, einen Einheimischen zu finden, der schon einmal dort gewesen war, war Nathan an die Gildemeister herangetreten, die die Stadt regierten. Doch seine Hoffnungen wurden enttäuscht. Nur wenige Bürger der Stadt waren jemals weiter als ein paar hundert Kilometer gekommen, und von ihnen waren die meisten in dem kurzen und vergeblichen Widerstand gegen die Marine gefallen. Für die Marine war der Verlust von dreihundertneunzig Bürgern ein bedauerlicher Zwischenfall; für Jikar bedeutete es das Ende. »Gott ist böse mit Ihnen, Händler«, meinte Hoorn. »Noch vor ein paar Jahren war Jikar der größte Hafen an der gesamten Westküste. Hier draußen haben wir nicht so große Städte wie im Osten, aber es lebten fünftausend Bürger in unserer Stadt, und noch viele mehr in den umliegenden Gebieten. Der Handel blühte. Wir brauchten niemanden, der für uns kämpfte. Wir waren freie Bürger, niemandem verpflichtet und unter unserem eigenen Schutz. Hier herrschten die Gilden, und nicht irgendwelche hohlköpfigen Krieger, die zu nichts weiter brauchbar sind, als 147
mit Schwert und Lanze auf ihren Pferden zu galoppieren.« »Sie sprechen zu hart von den Kämpfern«, beschwichtigte ihn Blatt. Der Wein löste seine Zunge und erinnerte ihn an angenehmere Zeiten, die er in dieser Schenke verbracht hatte. Er nahm einen jener bläulich getönten Becher auf, denen die Schenke ihren Namen zu verdanken hatte und trank einen großen Schluck. »Sicher, sie können nichts weiter als kämpfen, aber ich glaube, daß Jikar nie eine freie Stadt gewesen wäre, wenn nicht die Sumpfgebiete im Osten gewesen wären. Es war unser Verhängnis, daß die Kämpfer an Seuchen gestorben und ihre Festungen gefallen sind, über die dann die Horden weitergezogen sind. Davor hatten wir uns nur einiger weniger Räuber zu erwehren, die sich an den Festungen vorbeigeschlichen hatten wie Diebe in der Nacht. Als sie schließlich gesammelt zuschlugen, waren wir gewarnt.« »Wir wußten es und siegten!« rief Hoorn. »Ach, Händler, Sie hätten es sehen sollen. Unsere jungen Männer, die Seeleute von unseren Flotten und die Burschen der Gilden, wie sie mit ihren erhobenen Lanzen dastanden und keinen Meter wichen, während die Wilden gegen uns anstürmten. Großer Gott, das Schlachtfeld war vom Blut durchtränkt! Wir nahmen hundert Pferde und viele Ayuks mit.« Offenbar hatte das alte Imperium Pferde und Vieh nach Makassar gebracht. Jetzt liefen beide Tierarten wild im Land herum, wurden von den einheimischen Raubtieren gejagt, wenn sie nicht unter dem Schutz der Menschen standen, und doch überlebten sie. Einige der Wilden ritten auch auf Ayuks, einer einheimischen Tierart, die einem Elch glich und lange 148
Greifklauen und einen verlängerten Greifrüssel besaß. Sie ernährte sich von der Stockratte, einem eierlegenden Warmblütler von rund sieben Inches Größe, der in großen Kolonien lebte. Nur wenige dieser Tiere waren fortpflanzungsfähig. Die Stockratte war eins der gefährlichsten Tiere auf Makassar, obwohl sie kein Fleischfresser war. Sie konnte mit Leichtigkeit das steinharte einheimische Holz durchnagen und fand alle für den Menschen eßbaren Pflanzen sehr schmackhaft. Wenn sie in eine Falle geriet, kämpfte sie, und wenn ein Tier verwundet war, kamen Hunderte seiner Artgenossen in blinder Wut zur Hilfe. Mehr als ein Mann war gestorben, wenn er sich im Freien von ihnen hatte überraschen lassen. »Ein großer Sieg«, nickte Blatt. »Master Hoorn könnte Ihnen mehr darüber berichten, denn er hat an jenem Tag die Gilden angeführt. Tja, wir konnten sie zwar zurückschlagen, aber nicht verfolgen. Die meisten von ihnen entkamen. Hätten wir nur fünfzig Kämpfer auf ihren Pferden gehabt, die die Verfolgung hätten aufnehmen können, hätte uns unser Sieg die Wilden sicher hundert Jahre von der Stadt ferngehalten.« »Ja.« Hoorn trank wieder einen großen Schluck, lächelte und zuckte die Achseln. »Fest steht, daß die Krieger wissen, wie man kämpft. Aber ich habe auch schon gesehen, daß sie vor den Toren einer Stadt wie der unseren zurückgeschlagen wurden. In einer offenen Schlacht. Die jungen Männer hielten ihre Lanzen aufrecht, und die Kämpfer, von denen Master Blatt so begeistert ist, hatten Angst anzugreifen und teilten sich zu beiden Seiten der Verteidigungsfront. Von dieser Stadt haben sie keinen 149
Tribut genommen.« Bei Hoorns letzten Worten kam ein junger Mann mit dunklem Haar herein, der für Makassar verhältnismäßig groß war. Früher einmal mußte er muskulös gewesen sein, jetzt aber war er nur noch mager wie die anderen. Er durchquerte selbstbewußt den Raum, den Kopf im Gegensatz zu den Einheimischen, die MacKinnie bisher gesehen hatte, stolz erhoben. Er mochte vielleicht fünfundzwanzig Erdjahre sein, sah aber jünger aus. Auch seine Kleidung unterschied sich etwas vom Üblichen. Seine Hosen waren zwar aus dem gleichen rauhen Tuch, wie es auch die Dorfbewohner trugen, aber seine Jacke und der Umhang waren aus feinerem Material, und Nathan fiel auf, daß am Kragen andersfarbige Streifen zu sehen waren, so, als wäre er früher mit etwas anderem gesäumt gewesen. Dann erinnerte er sich daran, daß goldbesetzte Kragen und Goldbänder das Abzeichen der Gildemeister waren. Der Wirt reichte dem Neuankömmling ein Glas mit billigem Wein und eine dicke Scheibe Brot, die er jedem Gast alltäglich statt des Kirchenzehnten ausgab. Ohne mit jemandem zu sprechen, begann der Mann zu essen. »Mit ihm sollten Sie sprechen«, riet Hoorn dem Colonel. »Wir sollten ihn herkommen lassen. Wenn es einen Mann in Jikar gibt, der Ihnen sagen kann, was Sie hinter dem Fluß und dem Wald finden, dann ist es Brett. Oder sein Freund, dieser Krieger.« »Wer ist der Mann?« »Er heißt Brett«, erklärte Hoorn und senkte dann seine Stimme. »Er soll von ziemlich weit kommen, einige behaupten, von der Ostküste. Er bringt uns Geschichten 150
und Lieder, aber man bringt kein Wort über seine Abstammung aus ihm heraus. Ich für meinen Teil glaube, daß er als Sohn eines Wilden geboren wurde.« »Aber er kennt viele zivilisierte Sprachen«, wandte Master Blatt ein. »Ja.« Hoorn spitzte gedankenverloren den Mund. »Die Wilden kommen nicht oft hierher, also wird es hier nicht gemacht. Aber ich habe mir sagen lassen, daß in jenen Gegenden, wo die Barbaren häufig sind, die Städter oft junge Wilde gefangennehmen und sie als Sklaven halten.« »Und Sie glauben, daß Brett einer von ihnen war?« fragte MacKinnie. »Es ist jedenfalls möglich«, erwiderte Blatt. »Obwohl ich niemanden beneide, der einen Mann wie den Sänger als Sklaven besitzt. Als Freund wäre er mir lieber.« »Ja«, pflichtete ihm Hoorn bei. »Es sind auch schon andere Sänger in Jikar gewesen, aber so wie Brett war keiner. Während Sänger normalerweise zu Fuß kommen, reitet Brett ein großes Kriegspferd und hat einen jener Krieger in Rüstung und mit Schwert und Lanze zum Freund. Er heißt Vanjynk. Er wurde von seinem Besitz im Süden vertrieben und wandert nun wie Brett umher, um sich an jeden als Kämpfer zu verkaufen.« Ein umherziehender Söldner, dachte MacKinnie. Wie ich einer war. Der Colonel studierte die dunklen Gesichtszüge des Betreffenden und war zufrieden mit dem, was er sah. Er mochte Pech gehabt haben, aber er würde sich nicht so leicht geschlagen geben. Trotz seiner Jugend hatte der 151
junge Mann mehr gemeinsam mit den Gildemeistern als die Müßiggänger in der Schenke. »Holen Sie ihn herüber«, meinte er kurz entschlossen. »Sänger«, rief Hoorn. »Mach uns doch das Vergnügen, und leiste uns Gesellschaft. Unser nobler Freund ist ein großzügiger Gastgeber.« Der Sänger kam heran und verbeugte sich, als Hoorn Nathan vorstellte. »Man hat mir gesagt, Sie kennen weit entfernte Gebiete«, begann MacKinnie, der Wein in ein Glas goß und es zu Brett hinüberschob. »Wenn Sie Zeit haben, könnten Sie mir vielleicht von Ihren Reisen erzählen.« Brett verzog das Gesicht. »Ich habe fast gar nichts, aber Zeit habe ich im Überfluß.« Dann nahm er das Glas und leerte es in einem Zug. »Sie reisen nicht allein, Sänger?« erkundigte sich MacKinnie, während er das Glas wieder füllte. »Seit einem Jahr sind wir zu zweit. Ich bringe Vanjynk das Dichten bei und er mir das Kämpfen. Jetzt sind wir beide in beiden Gewerben gut, und es läßt sich besser leben.« Er sah sich traurig in der Schenke um. »Oder besser: konnten. Aber wir werden unsere Knochen nicht hierlassen, damit Master Blatt sie unter die Erde bringen kann.« »Sie möchten Jikar also verlassen?« »Händler, wir würden den Mann bezahlen, der uns erlaubt, für ihn zu kämpfen, hätte er nur genug Männer, um durch die Reihen der Maris zu brechen. Aber sie werden erst gehen, wenn sie alles aufgegessen oder verbrannt 152
haben, was sie finden können, und da sie nicht so dumm sind, wie die Gilde es hofft, wird das nicht vor dem ersten Schnee sein. Dann werden sie abziehen. Und gleichzeitig werden sie Ihnen einen großen Segen bringen, Gildemeister.« »Was für einen Segen könnte eine Horde Wilder – Sie nennen sie Maris? –, welchen Segen könnten sie wohl bringen?« Blatt baute sich vor Brett auf, die von Gerbsalzen und Säuren gehärteten Hände in die Hüften gestemmt, und mit seinen breiten Schultern verdeckte er fast den jungen Mann. »Ruhig Blut, Sie werden unseren Gastgeber beunruhigen, und dann gibt es keinen Wein mehr«, entgegnete Brett leise. In seiner Stimme lag die Spur einer Drohung, ein Ton, den sich Gildemeister gewöhnlich nicht gefallen ließen. »Ich nenne sie Maris, weil sie selbst sich so nennen. Und der Segen ist die Vernichtung der Stockratten. Es werden nur wenige von ihnen übrigbleiben, wenn die Maris weiterziehen – das ist übrigens genau der Grund, warum sie weiterziehen werden. Die Ayuks brauchen viele von ihnen, deshalb wandern die Maris auch ständig umher. Wenn die Ayuks nicht essen, essen auch die Maris nicht. Sogar hier werden sie Ihr ganzes Erdgetreide gegessen haben, bevor die Ayuks mit den Stockratten fertig sind.« MacKinnie hatte interessiert zugehört. »Leben die Maris denn von ihren Ayuks?« Brett sah ihn erstaunt an. »Ihre Sprache ist anders als alle, die ich bisher gehört habe«, überlegte er. »Und doch 153
sind Sie nicht von hier, wo die Maris noch nicht gewesen sind. Woher sind Sie, daß Sie nichts über sie wissen? Ah, sicher aus einer der Bergstädte im Norden. Nun, Sie müssen wissen, Nordmann, daß die Plaitane der großen Ebene für uns so giftig ist wie die meisten Pflanzen auf Makassar. Wie die Priester sagen, muß es so gewesen sein, daß wir vor sehr langer Zeit von einem anderen Stern hierhergekommen sind, denn warum hätte uns Gott auf eine Welt setzen sollen, wo es nichts zu essen für uns gibt? Aber die Ayuks können die Pflanzen essen, und die Menschen können die Ayuks essen und ihre Milch trinken und sogar, wie es die Maris tun, das Blut ihrer Rösser trinken. Mit den Pferden ist es einfacher, denn sie fressen das Gras, das zwischen den Plaintanen wächst, und manche Maris leben sogar nur von ihren Pferden, aber das Ayuk ist besser. Doch das ist nicht genug. Wenn sie nichts anderes bekommen, werden sie schwach und sterben wie diese Männer hier. Im Norden kann man das hohe Gras essen, das von der Erde stammen soll, und man hat dort auch das Grotka. Doch wenn Sie nichts essen würden außer Grotka und den Tieren aus dem Wasser, dann müßten Sie auch sterben.« MacKinnie nickte. Die Imperialen hatten ihm von den Ernährungsproblemen auf Makassar erzählt. Die meisten Tiere waren eßbar, die Pflanzen dagegen nicht, mit Ausnahme derjenigen, die ursprünglich auf einem anderen Planeten beheimatet gewesen waren. Die einheimischen Pflanzen speicherten verschiedene Metalle, die ihnen ihre Festigkeit verliehen, sie aber gleichzeitig für den Menschen ungenießbar und tödlich machten. Die einheimischen Tiere 154
sonderten das Metall aus, doch für einige von ihnen, wie zum Beispiel die Stockratte, die nicht nur Früchte und Getreide, sondern auch holzige Stengel aß, waren sie ebenfalls tödlich. Allen fehlten lebenswichtige Vitamine. Während er dem Sänger zuhörte, kam ihm plötzlich eine Idee. »Ich möchte zu den Bergen im Norden zurückkehren«, erklärte Nathan. Von den Karten wußte er, daß sich Batav an die Seite – von Jikar aus allerdings die falsche Seite – eines Gebirgszuges schmiegte, der vom nördlichen Rand des Kontinents die große Peninsula durchzog. Dann bog sich die Gebirgskette nach Osten, bevor sie zu kleineren Hügeln wurde, die aber immer noch hoch genug waren, um eine natürliche Grenze zu den großen Ebenen zu bilden. »Nach Norden?« fragte Brett ungläubig. »Wie lange ist es her, daß Sie von dort gekommen sind? Sie müssen mit dem Schiff gekommen sein, denn die Route über Land ist schon seit über zwei Jahren geschlossen, Händler. Der High King der Pässe ist tot, und die anderen kämpfen um seine Nachfolge. Man ist seines Lebens dort nicht mehr sicher, es gibt keine Gerichte mehr, und die Leute versuchen, sich so gut wie möglich durchzuschlagen. So wohlhabend, wie Sie sind, könnten Sie vielleicht genug Männer finden, um den Weg nach Süden zu wagen. Und wenn ich Ihnen den Weg zeige, könnten Sie sich durch die Reihen der Maris kämpfen und die Stadtstaaten und Königreiche des Kepul erreichen. Aber nicht nach Norden, Händler. Wir kämen nie über den Sangi.« Brett setzte das Glas ab und winkte einem kleineren Mann mit blonden Haaren, der in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil des 155
Sängers war und doch das gleiche Selbstbewußtsein zur Schau trug. Langsam kam der andere heran. »Das ist Vanjynk, Händler«, stellte Brett den Blonden vor, »der beste Freund, den ein Wanderer je gehabt hat und vom Schicksal gezwungen war, durch das Land zu ziehen.« Ohne zu fragen, goß Brett seinem Freund Wein ein. Vanjynk nickte MacKinnie zu und nahm schweigend Platz. Er war jünger als Brett, vielleicht zwei lokale Jahre, schätzte Nathan. Es war offensichtlich, daß er adliger Abstammung war, während Brett mit Sicherheit nicht in einer Festung geboren worden war. Die Beziehung zwischen den beiden Männern mußte sehr komplexer Natur sein. Die anderen hatten dem jungen Krieger inzwischen von Nathans Vorhaben berichtet. »Aber es gibt keinen Weg durch den Sangi«, schloß Brett. »Zumindest kann ich keinen sehen.« »Ich auch nicht«, erwiderte Vanjynk, während er das Glas nahm. Er trank so langsam und bewußt, wie er auch alles andere zu tun schien. »Sie werden nicht genug Leute finden, um die Route durch den Wald nehmen zu können. Die Küste ist geschlossen. Und ich kenne die See nicht.« »Die See«, echote Blatt verächtlich. »Gäbe es einen Weg über das Wasser, wäre längst halb Jikar unterwegs. Mit Ihrem ganzen Gold können Sie nichts gegen die Piraten ausrichten, Händler, und es gibt nur noch ein Kriegsschiff in Jikar.« »Es gibt ein Schiff hier?« fragte MacKinnie. »Ist es zu verkaufen?« 156
»Zu verkaufen?« mischte sich Hoorn ein. »Es gehört dem Schmied. Es gibt kaum etwas in Jikar, das nicht verkäuflich ist, einschließlich der Tugend unserer Töchter. Ich könnte Ihnen helfen, das Boot zu kaufen.« »Das ist verboten.« Blatts Stimme hatte einen entschiedenen Ton angenommen. »Einem Mann etwas zu verkaufen, das ihn in seinen sicheren Tod bringt, ist nicht erlaubt. Gehen Sie zurück zu Ihren Kleidern, Hoorn; die Gilden dürfen sich nicht an diesem Mann von den Sternen bereichern.« Nathan bemerkte den interessierten Ausdruck, den Brett zu verbergen versuchte und wandte sich an Blatt. »Aber ich will es kaufen, Master Tanner.« Obwohl er es mit keiner Miene zeigte, beeindruckte ihn die Ehrlichkeit des Mannes doch mehr, als er von sich auszugeben wollte. »Wenn wir ohne einen Gewinn nach Hause zurückkehren, wäre das nicht nur unser Ruin, sondern auch der vieler anderer. Kaufen Sie mit Master Hoorn das Schiff für mich, und wir werden beide Gilden dafür entschädigen. Freeman Brett und Vanjynk, ich möchte Sie für Ihren Rat bezahlen, ob Sie nun mitkommen oder nicht. Wir werden mit dem Schiff aus dem Hafen segeln, und wenn da draußen sämtliche Piraten auf der Lauer liegen.«
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11 Reisevorbereitungen MacKinnie und seine Leute inspizierten gerade ihr Schiff, als das Fährboot vom Hafen aufstieg und schon bald in den tief hängenden Wolken verschwunden war. Nathan bedauerte es keineswegs, denn er hatte viel zuviel zu tun, um sich noch einer Rolle zu widmen und Renaldi anzuflehen oder bei der Marine sein Recht zu verlangen. Das Schiff befand sich nämlich nicht gerade im Bestzustand. Nathan war über noch etwas froh: Midshipman Landry war zusammen mit Renaldi ebenfalls abgeflogen. Als sie Leutnant Farr über MacKinnies Pläne in Kenntnis gesetzt hatten, war er der Ansicht gewesen, daß die Marine unmöglich einen ihrer Leute ein ganzes Jahr lang entbehren konnte, und ganz speziell in diesem Fall, bei dem man damit rechnen mußte, daß man nie wieder etwas von der wagemutigen Gruppe hören würde. Landry wurde angewiesen, den nächsten Hafen anzufliegen und von dort aus vom Hauptquartier weitere Instruktionen zu holen. Vor Renaldis Abflug hatte ihm der Leutnant noch einmal zu verstehen gegeben, daß die Marine sein Verhalten MacKinnie gegenüber sehr bedauerte und darauf bestehen würde, daß Renaldi ein Transportmittel zum Rückflug nach Prinz Samuals Welt bereitstellte, ganz gleich, wie gering Nathans Überlebenschancen auch sein mochten. MacKinnie war überzeugt, daß der Leutnant sich 158
mehr über die Zeitverschwendung Landrys als über die Ungerechtigkeit der Situation aufregte, da Greenaugh geglaubt hatte, er müsse den Jungen nur für einige Monate entbehren. Wie auch immer, jedenfalls konnte er jetzt sicher sein, nach Hause zurückkehren zu können, falls er nach Jikar zurückkehrte. Auch Mary Graham blieb auf Makassar. Sie hatte sich entschieden geweigert, ohne MacKinnies Schutz mit demselben Schiff wie Renaldi zu fliegen, und Gesetz und Brauch von Haven gaben ihr recht. Diese Tatsache an sich war schon ärgerlich genug, aber zu allem Überfluß bestand sie auch noch darauf, die Expedition zu begleiten, und kein gutes Zureden konnte sie von ihrem Entschluß abbringen. »Was glauben Sie denn, was ich hier sonst tun sollte?« verteidigte sie sich. »Ich wußte vorher, daß es gefährlich werden könnte.« »Freelady«, entgegnete Nathan kühl, »Bürger Dougal hat Sie von sich aus mitgeschickt. Wir hatten gedacht, daß wir eine Handelsstation im imperialen Hafen einrichten könnten, wo Sie dann als unser Vertreter bleiben sollten.« »Aber das ist doch hier überflüssig«, protestierte Mary Graham. »Stimmt. Trotzdem können Sie uns nicht begleiten. Sie würden an Bord höchst ungelegen kommen. Wir können Ihnen keine geeignete Unterkunft bieten, und, um offen zu sein, was ist erst mit den sanitären Einrichtungen? Das Ganze ist eine völlig verrückte Idee.« »Verrückt, Händler? Ist es vielleicht vernünftiger, mich hierzulassen, hier, in einer belagerten Stadt? Vielleicht kann ich mich nützlich machen.« 159
»Nein.« »Sie sind dagegen, aber Sie sollten lieber einmal überlegen. Ich bin nicht verläßlich genug, um mit auf diese Expedition zu gehen. Wie können Sie dann annehmen, daß ich ein Jahr lang den Mund halte. Hier, bei den imperialen Offizieren …« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie nicht verläßlich sind.« »Glauben Sie, Dougal würde mich zurücklassen? Überlegen Sie doch. Dougal würde mich eher töten, als ein solches Risiko einzugehen.« Mit Sicherheit, dachte MacKinnie. Aber – kennt sie unsere wirkliche Mission? Ich habe keinem von ihnen etwas davon erzählt. Kleinst weiß es. Vielleicht auch Longway. Und Mary Graham? Einer von den beiden könnte es ihr gesagt haben. »Bitte, Händler«, drängte sie. »Man hat mir gesagt, diese Mission wäre sehr wichtig für Haven und Prinz Samuals Welt. Wollen Sie mir jetzt etwa verweigern, zu zeigen, daß ich – daß sich die Frauen von Haven – Pflicht und Ehre genauso verbunden fühlen wie Sie? Glauben Sie, nur Männer können Patrioten sein?« Daran habe ich nicht gedacht, überlegte MacKinnie. Aber was noch wichtiger ist: Kann ich es wagen, sie hier zurückzulassen? Sie hat recht, Dougal würde es nicht tun. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie sie sich nützlich machen könnte, aber … »Also gut.« »Danke. Sie werden es nicht bereuen.« Ich bereue es jetzt schon, dachte MacKinnie, aber er sagte nichts. 160
Und jetzt kletterte sie geschäftig auf der Werft herum, blieb MacLean auf den Fersen und machte eifrig Notizen, während der Seemann glückstrahlend das Schiff inspizierte. Eine Gruppe junger Einheimischer, die froh waren, Arbeit zu bekommen, wartete unter der Aufsicht der Leute von der Schiffbauergilde in der Nähe des Schiffes. Die Schiffbauer hatten in dem kurzen und aussichtslosen Kampf mit der Imperialen Marine schwere Verluste hinnehmen müssen und erlaubten nun jedem in der Stadt, an der Instandsetzung des Schiffes mitzuhelfen, vorausgesetzt, sie bezahlten einen Lohnanteil an die Gilde und arbeiteten unter ihren Meistern. Nach der Menge der Männer vor und auf der Werft zu urteilen, mußte sicher die Hälfte der arbeitsfreudigen Männer von Jikar in der Hoffnung auf Arbeit hergekommen sein. Das Boot selbst war nicht gerade beeindruckend. Es war nur rund dreißig Meter lang und auf verhältnismäßig primitive Weise aus dem Wasser aufs Trockene gezogen worden. Entlang des Flachbodens verlief ein schmaler Kiel. Vorder- und Achtersteven ragten hoch über die Wasseroberfläche hinaus, und quer über dem Heck hatte man eine Plattform angebracht, auf der sich die Kabine befand. Entlang beider Seiten des Bootes, das im übrigen nicht überdeckt war, verlief eine Art Podest für die Ruderer. Auf den beiden Ruderhalbdecks konnten sicher an die hundert Männer sitzen, doch MacKinnie wußte, daß er so viele Leute für diese waghalsige Reise nicht zusammenbringen würde, selbst wenn vor dem Hafen keine Piraten gelauert hätten. Im Augenblick. hatte er außer seiner ursprünglichen Expeditionsgruppe noch gar keine 161
Mannschaft. Nur Brett und Vanjynk standen bisher auf seiner Lohnliste, und die beiden würden sogar mitkommen, obwohl sie an ein Durchkommen nicht so recht glauben wollten. Nachdem MacLean das Schiff inspiziert hatte, nahm ihn MacKinnie zur Seite, um sich mit ihm zu bereden. Hal Stark stellte sich in der Nähe auf und hielt Wache, während Nathan gleich zur Sache kam. »Können wir es schaffen? Es ist von größter Wichtigkeit, daß wir nach Batav kommen, und wenn wir dorthin schwimmen müssen.« MacLean zog nachdenklich an seiner Pfeife. Die Dorfbewohner schienen es nicht ungewöhnlich zu finden, wenn sie jemanden rauchen sahen, obwohl sie selbst offenbar nicht rauchten, doch MacLeans Feuerzeug war auf diesem Planeten etwas äußerst Fortschrittliches. MacKinnie wunderte sich, wie er es durch die Kontrolle gebracht hatte, die Landry durchgeführt hatte, bevor sie ihre Besitztümer aus dem Fährschiff hatten ausladen dürfen. »Wir werden wohl ein paar Änderungen vornehmen, bevor wir soweit sind«, meinte MacLean nach einem langen Zug. »Hier soll die See angeblich noch ziemlich geschützt und ruhig sein, aber wenn wir ein Stück weiter sind, müssen wir mit hohem Seegang rechnen. Ein Sturm auf offener See könnte die Hölle sein.« »Was mich interessiert, ist, ob wir es schaffen können.« Als MacLean nickte, fuhr der Colonel fort: »Wieviel Leute brauchen Sie?« »Wenn das Schiff so verändert wird, wie ich es vorhabe, dann werden wir nicht mehr als doppelt soviel Leute brauchen, wie wir jetzt haben. Allerdings wird jeder mit 162
anpacken müssen. Wenn Sie ein paar Einheimische anheuern könnten, wäre das vielleicht gar nicht schlecht. »Ich werde das Boot schon wieder seetüchtig machen. Zuerst muß aber dieser verdammte Mast ab und durch einen höheren ersetzt werden. Dann werde ich ein Deck überziehen lassen und Eisen als Ballast in den Rumpf bringen. Dagegen dürften die Imperialen nichts einzuwenden haben. Außerdem werde ich Seitenschwerter anbringen.« Der Ausdruck sagte MacKinnie überhaupt nichts, aber er würde es noch früh genug herausfinden. »Kann das Schiff bei hohem Seegang nicht kentern?« MacLean schüttelte den Kopf. »Das soll der Ballast verhindern. Das Boot ist ja breit genug und müßte ziemlich formstabil sein. Die Rumpfteile gefallen mir ausgezeichnet. In solchen Booten sind schon viele böse Stürme überstanden worden. Diese dicke Eisenramme am Bug läuft zurück bis ungefähr mittschiffs. Ihre Funktion ist ähnlich dem Ballastkiel.« Er sog an seiner Pfeife. »Ich glaube, daß es hier viele flache Stellen im Meer gibt, und bei diesen seltsamen Gezeiten von den beiden Monden müssen sie ziemlich oft auf Grund laufen. Deshalb haben die Boote auch einen flachen Boden. Ich nehme an, daß man sie abends normalerweise auf den Strand laufen läßt. Wir könnten es schaffen, Händler. Das einzige Problem sind die Piraten.« MacKinnie nickte. »Irgendwelche Vorschläge?« »Machen wir erst mal das Boot klar, und lassen Sie uns dann hoffen, daß wir schneller sind als sie. Im Kampf sind 163
wir ihnen mit Sicherheit unterlegen. Wissen Sie, das Boot hier ist größer als die meisten Piratenboote. Und schneller. Es soll eins der besten Kriegsschiffe auf diesem Planeten gewesen sein, habe ich mir sagen lassen. Nur lauern da draußen verteufelt viele Piraten. Ohne eine komplette Mannschaft sind wir verloren, wenn es einem ihrer Boote gelingen sollte, uns zu entern.« »Ja. Aber warten wir erst einmal ab. Wie lange werden die Reparaturen dauern?« Jetzt, da Nathan nicht mehr ständig von den Imperialen beobachtet wurde, konnte er wieder nach eigenem Gutdünken handeln, und das neue Vorhaben ließ ihn ungeduldig werden. Er sah sich um, holte seine Pfeife hervor und lieh sich MacLeans Feuerzeug, um sie anzuzünden. »Wie haben Sie das bloß durchgeschmuggelt?« »Das da? Durchgeschmuggelt?« MacLean starrte auf das Feuerzeug, als sähe er es zum erstenmal. Es war ein ganz gewöhnliches Modell, nicht so elegant wie die Anzünder der Imperialen, die ohne Flamme funktionierten. »Ich bin einfach damit von Bord gegangen. Landry hat es gesehen, aber er hat nichts gesagt.« MacKinnie nickte langsam. Für die Begriffe der Imperialen war MacLeans Feuerzeug so primitiv, daß sie es auf eine Stufe mit der Technologie von Makassar stellten. Er fragte sich, wie viele Apparate und Geräte es nicht auf Samual geben mochte, die den Makassarern unbekannt waren, die aber die Marineleute durchgehen lassen würden; eine interessante Frage. »Wie lange wird es dauern, bis wir segeln können?« MacLean kratzte sich am Kinn. »Wenn wir Glück haben, 164
ein paar Tage. Am schwierigsten wird es sein, das Deck aufzuziehen. Wir haben zwar viele Hände, die helfen wollen, aber die meisten Männer haben so etwas noch nie gemacht. Aber ich glaube, bis Sie Fracht und Verpflegung an Bord haben, müßten wir bald startklar sein.« Die Arbeiten nahmen zwei Wochen Ortszeit in Anspruch. Obwohl die Tage auf Makassar etwas länger waren als auf der Erde, gewöhnten sich MacKinnie und seine Mannschaft sehr schnell an die Ortszeit, die mit Sonnenuhren oder überhaupt nicht gemessen wurde. Die Arbeiten gingen unter anderem deshalb so langsam voran, weil die Ortskirche darauf bestand, daß der wöchentliche Feiertag eingehalten wurde und zusätzlich fast jede Woche einen Hochtag ausrief. Dies, und die Unerfahrenheit der Einheimischen bei den Baumethoden, auf denen MacLean bestand, verursachten die ersten Verzögerungen. Als das Schiff dann endlich fertig war, verging eine weitere Woche, bis man passendes Tuch für die Segel gefunden und es nähen lassen hatte. MacLean war der einzig greifbare Mann, der die notwendige Ausrüstung entwerfen konnte. Er ließ Anker gießen, die technisch weiterentwickelt waren als alles, was man seit dem Krieg auf Makassar gesehen hatte; er installierte Ankerspille und Winden, die die Schmiede aus Bronze gegossen hatten und ließ Seile und Kabel aus einheimischen Fasern herstellen. Die Tage vergingen wie im Flug. Eines Tages kam eine Gruppe von Imperialen, angeführt 165
von einem Unterleutnant, zur Werft und inspizierte die Arbeiten, doch zu Nathans Beruhigung schien nichts ihren Unmut zu erregen. Anker und Winden waren Geräte für Primitive, und mit einigen von MacLeans Neuerungen wußten die Marineleute gar nichts anzufangen. Zur Vorsicht hatte MacKinnie dem Sänger den Zweck der meisten Geräte erklärt, damit sie Brett vertraut waren, wenn ihn jemand danach fragen sollte. Vielleicht würden die Imperialen denken, daß solche Dinge anderswo auf Makassar gebräuchlich waren. Als das Boot endlich fertig war, befanden sich auch schon die Waren und Waffen an Deck, die sie mitführen wollten. Der starke Westwind trieb Nieselregen vor sich her, und die Gruppe, die zusah, wie die Einheimischen das Schiff ins Wasser ließen, war bald bis auf die Haut durchnäßt. Die primitive Werft ließ keine technischen Finessen zu – das Boot wurde einfach von den jungen Männern der Stadt hochgehievt und ins Wasser gezogen. MacKinnie erwartete, sofort segeln zu können, doch er sah sich getäuscht. »Was denn noch?« fragte er MacLean. »Masten. Stagen. Die Segel aufziehen, um zu sehen, wie sie passen. Den Ballast sichern. Händler, das Schiff kann heute oder morgen in einen Sturm geraten, und Sie wollen doch sicher nicht, daß dann der Ballast da unten hin und her rutscht. Außerdem müssen wir noch die Seitenschwerter anbringen. Sie können Zeit sparen, wenn Sie heute noch den Rest der Ausrüstung an Bord bringen lassen, aber finden Sie sich damit ab, daß wir frühestens in drei Tagen segeln können.« 166
MacKinnie fluchte so leise, daß MacLean ihn nicht hören konnte. Das einzige, was er tun konnte. Am. Nachmittag gab MacLean Instruktionen, wie das Schiff gesegelt werden mußte. Es stellte sich heraus, daß der junge Todd schon auf kleineren Booten im Hafen von Haven gesegelt war, auf MacKinnies drängende Fragen gestand er schließlich ein, daß er ein Militärkadett aus einer der wohlhabenden Familien des Königreichs von Haven war. Daraufhin ernannte MacLean ihn augenblicklich zum Midshipman und Quartiermeister. Sie erlernten die Sprache, die die Einheimischen an Bord benutzten, allerdings mußte MacLean verschiedene einheimische Worte für Begriffe verwenden, die ihnen nicht vertraut waren. Dann ließ er Todd jeden auf die Seemannsausdrücke drillen. MacKinnie bemerkte, daß Brett sehr gelehrig war und schneller begriff als die anderen, während sein Freund Vanjynk einen eher gleichgültigen Eindruck machte. Stark lernte, wie gewöhnlich, seine Aufgaben und trieb die Wachen zu den ihren an; er hatte sich offensichtlich durch die Tatsache, daß Todd plötzlich über ihm stand, nicht aus der Ruhe bringen lassen. An jenem Abend saßen Stark und MacKinnie zusammen in MacKinnies kleinem Zimmer im Gasthaus, das auf das Wasser hinausging. »Wir müssen die Männer vernünftig beschäftigen, Sir«, meinte Hal. »Die Ausbildung mit Schwert und Schild ist ja ganz in Ordnung, aber es ist nichts für sie, den ganzen Tag Waren zu schleppen oder Nägel einzuschlagen. Ich habe da ein paar ganz gute Tips von diesem Vanjynk bekommen. Wenn ich mich nicht irre, arbeitet er in gleichen Geschäft wie wir.« 167
MacKinnie nickte. »Ich nehme an, daß er nichts anderes gelernt hat, bis er dann sein Land verlor und mit dem Sänger umherziehen mußte. Was hältst du von Brett.« »Ich werde nicht ganz schlau aus ihm. Er befolgt meine Befehle besser als Vanjynk, aber sonst …« MacKinnie nickte. »Ein zäher Bursche, dieser Brett. Und diese Partnerschaft mit Vanjynk ist ganz schön seltsam. Vanjynk scheint zu jenen Kämpfern zu gehören, von denen uns Blatt erzählt hat.« Er hob das Glas und prostete seinem Sergeanten zu. »Auf die neuen Truppen vom Eisernen MacKinnie. Wenig genug Leute haben wir ja. Hast du noch ein paar Männer auftreiben können?« »Darüber wollte ich gerade mit Ihnen sprechen, Sir. Ich habe da einen Kapitän kennengelernt, einen gewissen Loholo. Er behauptet, daß er uns unter bestimmten Bedingungen eine Mannschaft besorgen kann. Zu diesen Bedingungen gehört übrigens, daß er uns begleiten will. Mr. MacLean scheint nicht gerade glücklich mit dem Gedanken, einen einheimischen Kapitän an Bord zu haben. Er meint, es gibt schon genug Probleme, da niemand weiß, wem er unterstellt ist. Ich glaube, er ist nicht begeistert von Ihnen als Leiter. Was diesen Loholo betrifft, da bin ich mir nicht ganz sicher, Sir. Die Leute von der Gilde halten offensichtlich große Stücke auf ihn. Soll ich ihn rufen lassen? Er ist heute abend im Blauen Glas und wartet darauf, von mir zu hören.« »Es könnte nicht schaden, sich mal mit ihm zu unterhalten. Sicher, warum nicht?« Stark nickte und ging zur Tür. Nachdem er leise ein paar 168
Worte mit einer der Wachen auf dem Flur gewechselt hatte, kehrte er zu MacKinnie zurück. »Er wird gleich hier sein, Händler. Es wäre besser, daß ich im Dienst bin, wenn er hereinkommt.« Hal nahm sein Glas und stellte es auf einen anderen Tisch am Ende des Zimmers. Captain Loholo war ein kleiner, dunkelhäutiger Mann von kräftiger Natur, und mit den typischen, leicht schräg gestellten Augen erinnerte er MacKinnie an die Offiziere auf dem Schiff, mit dem sie hergekommen waren. Auf Makassar waren ihm inzwischen schon viele Leute dieses Typs begegnet, die sich so sehr von den großen blonden Männern wie Vanjynk unterschieden. Loholo trug einen Ohrring in Form eines Schädels im Ohr, und in seinem Gürtel steckte ein großes Krummesser. Seine Kleidung war aus einem besseren Material als die der meisten Männer in Jikar und war frisch gereinigt. Selbstsicher blieb er im Türrahmen stehen, um die beiden Männer von den Sternen mit kühlem Blick zu mustern. »Händler«, begann Hal, »ich möchte Ihnen Captain Loholo vorstellen, Kapitän und Kaufmann. Ich habe mir sagen lassen, daß er der einzige Kapitän ist, den es hier noch gibt.« »Setzen Sie sich doch bitte, Captain«, forderte MacKinnie ihn auf und goß Wein in ein Glas. »Mein Wachführer hat mir berichtet, Sie könnten uns eine Mannschaft besorgen.« »Ja.« Loholo drehte das Glas zwischen seinen Fingern herum, sah MacKinnie einen Augenblick intensiv an und trank dann. »Keine besonders gute Mannschaft, Händler. Die guten Leute liegen jetzt auf dem Meeresboden oder 169
sind zu den Piraten übergelaufen. Aber es gibt doch noch Männer hier, die die Riemen pullen können. Keine Seeleute, sondern Lehrlinge aus allen Gilden, junge Burschen, die endlich wieder beweisen wollen, daß sie Männer sind.« Er redete so schnell, daß MacKinnie Mühe hatte, ihm zu folgen, und Loholo seine Worte wiederholen mußte. »Ich habe sie gesehen«, entgegnete MacKinnie. »Aber Captain MacLean hat keinen von ihnen anheuern können.« »Das glaube ich gern.« Loholo griff nach der Weinflasche und blickte auf MacKinnie. Als der nickte, füllte der dunkle Mann sein Glas und trank einen großen Schluck, bevor er fortfuhr. »Ihr Captain MacLean ist ein seltsamer Mann, Händler. Er läßt Decks über das Schiff ziehen, so daß die Ruderer nicht mehr richtig atmen können. Er hat die meisten Ruderbänke herausnehmen lassen, und was jetzt übriggeblieben ist, ist zu hoch, um richtig rudern zu können. So werden Sie das Schiff keine hundert Klamaters weit bringen. Und das ganze Eisen, das er in den Rumpf gelegt hat, ist nichts als überflüssiges Gewicht, das mitgeschleppt werden muß. Die Männer von Jikar wollen nicht mit ihm segeln, weil sie, auch wenn sie keine Seeleute sind, sehen können, daß auch Ihr Mann kein Seemann ist. Das Schiff wird viel zu langsam sein, um den Piraten entkommen zu können, und selbst wenn, würde es doch nicht richtig segeln.« Er zuckte die Achseln. »Sie mögen mir verzeihen, wenn ich so offen spreche.« »Aber Sie würden mitkommen? Mit einer Mannschaft?« »Ja.« 170
»Weiter. Warum?« »Sie sind kein arbeitsloser Kapitän, Händler. Wenn Sie Seewasser im Blut hätten, dann wüßten Sie, warum. Mein Schiff lief aus, um zu kaufen, während ich krank an Land bleiben mußte. Es ist nicht wieder zurückgekommen. Alles, was ich besessen habe, steckte in diesem Schiff, Händler. Mir ist nichts geblieben, womit ich das Schiff des Schmieds hätte kaufen können. Auch wenn ein Kriegsschiff nicht viel für den Handel taugt, hätte ich versucht, die Subao zu kaufen, denn ein Schiff bleibt ein Schiff. Sie werden schon noch Verstand annehmen, wenn Sie feststellen müssen, daß es so nicht klappt. Und Sie werden einen Mann brauchen, der weiß, wie man in diesem Gebiet segelt. Ich bin überzeugt, daß ich schon eine Woche nach unserem Auslaufen Kapitän sein werde. Das heißt, wenn Sie so lange leben. Aber das ist mir das Risiko wert.« Warum eigentlich nicht, überlegte MacKinnie. Der Griff des Dolches, den Loholo trug, mußte einmal mit Juwelen besetzt gewesen sein, aber er diente sicher nicht zur Zierde. Auf der anderen Seite war es möglich, daß sich Loholo mit seiner eigenen Mannschaft an Bord selbst zum Kapitän ernennen würde. MacKinnie sah hinüber zu Stark, der offensichtlich mit ähnlichen Überlegungen beschäftigt war. Trotzdem, sie konnten den Mann gebrauchen, und vielleicht war er ja doch ehrlich und aufrichtig. »Ist Ihre Mannschaft mit dem Schiff untergegangen?« »Ja. Alle. Ich kann Ihnen keine echten Seeleute besorgen, Händler, aber es sind Männer, die zupacken können, und sie werden gern mitkommen.« 171
»Wieso das?« Loholo grinste. »Ich bin als Kapitän bekannt, der immer wieder zurückkommt. Reich. Und man sagt mir nach, daß ich immer Glück habe.« »Trotzdem verstehe ich nicht, wie Sie die Leute dazu bringen wollen, mitzukommen, wo doch draußen vor dem Hafen die Piraten lauern.« »Ich werde ihnen sagen, daß die Männer von den Sternen sie beschützen. Sie wissen, was draußen im Hafen damals, als sie landeten, geschehen ist. Sie werden mir glauben.« »Wenn Ihnen die Männer von den Sternen helfen würden, Händler, dann brauchte Ihr Wachführer sicher nicht Wein zu spendieren, um Männer zu finden. Sie werden Ihnen nicht glauben.« MacKinnie nickte. »Was ist mit den Piraten?« »Ich weiß ein paar Möglichkeiten, wie wir sie überrumpeln können. Ich kenne diese Gewässer, Händler. Wenn die Monde zusammenkommen, ist das Wasser über den Riffs ziemlich tief, aber es sinkt sehr schnell. Wenn Sie vor den anderen, die sie jagen werden, rechtzeitig über die Riffs kommen, wird Sie keiner mehr einholen. Ich glaube kaum, daß die Piraten die Gewässer hier so gut kennen wie ich. Wir haben eine Chance. Das heißt, wenn Sie das Boot rudern können. Aber dazu müssen erst einmal wieder die Ruderbänke an Ort und Stelle.« »Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen verspräche, daß wir Sie nach unserer Rückkehr nach Jikar zum Kapitän des Schiffes und zu unserem Handelsagenten machen? Mit 172
einem monatlichen Gehalt in Gold und einem Anteil am Handel?« Loholo musterte MacKinnie genau. »Bringen Sie nicht einen verzweifelten Mann in Versuchung, Händler. Meinen Sie das im Ernst?« »Wenn Sie mir treu dienen. Ihre erste Aufgabe wird sein, eine Mannschaft von zwanzig Männern zu finden, die kämpfen können. Sagen Sie ruhig, daß wir verrückt sind, aber daß Sie das Schiff schon an den Piraten vorbeibringen werden. Besorgen Sie uns so ruhig wie möglich eine Mannschaft, und sorgen Sie dafür, daß die Männer morgen bei Einbruch der Dunkelheit an Bord kommen.« »Und Sie übergeben mir nach unserer Rückkehr das Schiff? Als Kapitän?« »Als Kapitän. Und ich biete Ihnen die Gelegenheit, Waren von den Sternenschiffen überall hinzubringen. Sie werden der Besitzer von so vielen Schiffen, wie Sie wollen.« Loholo grunzte. »Ich brauche nur eins. Sie bekommen Ihre Mannschaft, Händler. Aber hat dieser Mann von Ihnen das Kommando auf der Fahrt?« »Ja. Er hat das Kommando. Ich habe noch jemanden zum Offizier ernannt, der ihn unterstützen wird. Und dann ist da natürlich noch mein Wachführer. Wenn MacLean Sie als Offizier haben will, wird er es Ihnen bestimmt sagen. Und ich nehme an, daß er es will.« »Ich bin schon einmal Mannschaftsführer gewesen, Händler. Ich könnte es wieder sein. Bis Sie mich brauchen.« 173
12 Ripptide Sie segelten im Morgengrauen. Loholo, der neue Mannschaftsführer, hatte zwanzig junge und gut bewaffnete Seekadetten mitgebracht. Die Fracht war an Bord, und MacLean hatte die Seitenschwerter montiert, große, fächerartige Holzbretter, die am schmalen Ende des Fächers aufgehängt und ungefähr in der Mitte des Schiffes befestigt waren. Wenn sie eingezogen wurden, sahen sie aus wie Riesenschilde. MacKinnie holte die Mannschaft und die Passagiere in der Nacht bevor sie ausliefen an Bord; interessiert sah er zu, wie MacLean und Loholo der Mannschaft dabei halfen, Hängematten zu knüpfen und sie mit Flüchen auf ihre Plätze unter Deck schickten. MacLean hatte die Quartiere nach der üblichen Art und Weise aufgeteilt. Seine eigene Kabine befand sich achtern rechts, und auf beiden Seiten lagen kleinere Räume für MacKinnie und Mary Graham. Direkt davor hatten Longway und Kleinst ihre Quartiere, die nicht viel größer als ein Loch waren. Hal und seine Wachleute schlugen ihre Hängematten in einem größeren Raum auf, der von einer Seite des Schiffes bis zur anderen reichte. MacLean bestand darauf, daß jeweils zwei von Starks Männern in voller Bewachung im Einsatz waren und auf dem Achterdeck in der Nähe der großen Ruderpinne, die das Schiff steuerte, Wache schoben. 174
Bei Tagesanbruch, als sich noch der Nebel über das Wasser hob, wurde die Mannschaft aus ihren Hängematten geholt, um die Ruder zu besetzen. Loholo lachte still, als er die Veränderung an den Rudern sah. Es gab keine Ruderbänke, statt dessen gingen die Männer, zu jeweils zweien an einem Ruder, über das Deck hin und her und tauchten die großen Riemen ins Wasser ein. Langsam glitt das Boot vom Ufer in die Bucht hinaus. »Wäre es nicht besser gewesen, wenn wir nachts ausgelaufen wären?« wollte MacKinnie wissen, der mit den anderen Samualiten auf dem Achterdeck stand. Hal und seine Wachmänner hatten ihre Kampfausrüstung angelegt. Die Rüstungen für den Rest der Mannschaft waren mit Lederriemen auf dem Deck gesichert. Weiter vorn hielten sich Brett und Vanjynk ebenfalls in ihren Rüstungen bereit. Es war unmöglich gewesen, Vanjynk dazu zu bringen, sich an ein Ruder zu stellen, und MacKinnie hatte eingesehen, daß sich Brett wahrscheinlich ebenfalls weigern würde, also hatte er die beiden als Wachen eingesetzt. Ihre Pferde standen zusammen mit dem Vieh, das die Subao als zusätzliche Verpflegung mitführte, zusammen in einem Verschlag. MacLean sah über das Wasser auf die in der Ferne verschwindende Küste und musterte dann die Umgebung vor und hinter ihnen, bevor er antwortete. »Nein, Händler. Auch in der Nacht würden uns die Piraten bemerken, und dann legt sich der Wind. Gegen Mittag können wir mit einer stärkeren Brise rechnen. Die Seewinde und die vorherrschenden Westwinde kommen an dieser Küste 175
zusammen, und wir brauchen einen starken Wind, um den Piraten entkommen zu können.« »Wenn Sie meinen«, erwiderte MacKinnie achselzuckend. »Und wenn der Wind nicht auffrischt?« Wieder zuckte er die Achseln. »Ich sehe, es ist die einzige Chance, die wir haben. Also vorwärts, Captain MacLean.« »Aye aye, Sir.« MacKinnie glaubte, eine Spur jener Verachtung aus MacLeans Stimme herauszuhören, die Seeleute für Landratten empfanden, doch er sah keinen Anlaß, den anderen zurechtzuweisen. Er brauchte MacLean, wenn er Batav erreichen wollte. Nathan begab sich zur Reling und starrte hinaus aufs Wasser. Es war bereits so hell, daß er um das Schiff herum die Meeresbewohner erkennen konnte, kleine, fischähnliche Lebewesen, die träge neben dem Boot schwammen und sich den dunklen Störenfried neugierig anschauten, bevor sie den Rudern auswichen. Loholo zählte die Schläge in gleichmäßigem Rhythmus und mit monotoner Stimme mit, die sich auch dann nicht veränderte, wenn er ins Fluchen verfiel: »Schlag, Schritt, zurück, zurück, Idiot, Schritt, zurück, zurück, pull, du, Hunde, Sohn, Schlag …« MacLean ließ den Colonel stehen und begab sich in die Nähe der Ruderpinne, um den Kompaß im Auge zu behalten, der an dem kleinen Mast direkt vor dem Steuermann hing. Ein Stück weiter vorn ragte ein zweiter Mast hoch über das Schiff hinaus. Die Hüllen um die Segel der Masten waren schon abgenommen und unter Deck verstaut worden, so daß die Segel jederzeit hochgezogen werden konnten. MacKinnie fühlte schon die Morgenbrise, die jetzt noch von Süden kam, sich später aber nach 176
Westen drehen würde. Mary Graham und Longway kamen langsam über das Deck und blieben steuerbord bei MacKinnie stehen. Loholos Rufe waren deutlich zu vernehmen und klangen fast wie ein Gesang. »Schlag … Schritt … zurück … zurück … Schlag …« »Kurs Steuerbord, Mr. Todd«, wies MacLean den jungen Mann leise an. »Aye aye, Sir.« »Sobald es richtig hell ist, müßten wir da drüben das Land sehen können«, klärte MacKinnie seine Begleiter auf. »Wenn ich mich nicht täusche, ist Loholo der Meinung, wir sollten uns ziemlich dicht an der Küste halten. Es gibt Riffe und Felsen, die nur er kennt, und er schwört, daß er uns da durchführen kann, ohne daß uns die Piraten schnappen.« »Interessant«, erwiderte Longway nachdenklich. »Aber warum ist er dann nicht schon mit einem anderen Schiff durch die Riffe gefahren? Wieso war die Blockade der Piraten bisher so wirkungsvoll?« »Sie müssen ja nicht alles wissen«, wandte Nathan ein. »Jedenfalls glaubt MacLean, daß sich ein Versuch lohnt. Wir müssen das Risiko einfach eingehen, und je weiter wir kommen, bevor die Piraten auftauchen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, da zu landen, wo keine Wilden sind.« Es wurde jetzt rasch hell, und vor sich konnten sie die vagen Umrisse der Küstenlinie erkennen. Über dem Nebel, rund fünfzig Meilen entfernt, blitzten die Gipfel der Berge weiß in der Morgensonne. 177
»Wenn wir es bis dahin schaffen«, fuhr MacKinnie fort, »dann brauchen uns die Wilden nicht mehr zu kümmern. »Nur die Piraten könnten uns dann noch Sorgen machen. Aber wir könnten ja den Strand anlaufen und den Rest zu Fuß zurücklegen. »Das wäre aber ein ganz schöner Marsch«, gab Longway zu Bedenken. »Stimmt. Aber haben Sie einen besseren Vorschlag?« Kleinst stand schweigsam an der Reling, und MacKinnie glaubte, zu erkennen, daß das Gesicht des jungen Wissenschaftlers eine leicht grünliche Färbung angenommen hatte. Wenn der junge Mann schon das sanfte Schaukeln, mit dem sich das Schiff im Augenblick vorwärts bewegte, nicht vertragen konnte, was sollte dann erst werden, wenn ein richtiger Wind aufkam? Kleinst hatte sich die ganze Zeit über zurückgehalten, schien allerdings seltsamerweise eine freundschaftliche Beziehung zu Brett angeknüpft zu haben. Nathan hatte mehr als einmal bemerkt, daß sich der Sänger und der Physiker über einem Glas Wein im Zimmer des Physikers angeregt unterhalten hatten. »Wo sind denn die Piraten, Händler?« erkundigte sich Longway. »Meinen Sie nicht, es wäre besser, wenn die Ruderer langsam ihre Rüstungen anziehen würden?« »Die Piraten werden noch ein paar Stunden auf sich warten lassen«, entgegnete MacKinnie. »Sie hielten sich vom Hafengebiet weg, vermutlich weil sie sich vor den Jungs von der Marine fürchten. Aber glauben Sie mir, sie lauern da draußen auf uns, irgendwo da hinten am Horizont. Sie werden sie noch früh genug zu sehen bekommen.« 178
»Wahrscheinlich früher, als mir lieb ist«, murmelte Longway. Es war mittlerweile ganz hell. Die Sonne von Makassar, das Nadelöhr, wie sie genannt wurde, schickte ihre Strahlen über das Wasser. Während das Schiff ruhig voranglitt, schwanden auch die letzten Nebelfetzen. Es war ganz still, und nur die Kommandos von Loholo waren zu hören, der seine Stimme so weit gesenkt hatte, daß man sie achtern kaum noch verstehen konnte. »Schlag …! Der Hafen war jetzt nicht mehr zu sehen. Das Wasser war unglaublich blau und klar, und man konnte den Meeresgrund erkennen, der hier höchstens drei Yards tief war. Lange, dünne Fische huschten unter der Wasseroberfläche umher, auf der Flucht vor sicher einem Meter langen Monstern, die mit gierigen Augen auf ihre Beute starrten. Größere Tiere mit ähnlichen Formen schwammen nahe an das Schiff heran und sahen mit fast intelligentem Blick zu den Menschen hinauf, bevor sie träge abdrehten. MacKinnie überlegte gerade, was für Wesen es wohl sein mochten, als er MacLean von seinem Posten am Besanmast rufen hörte, »An die Segel, Männer!« befahl er. MacKinnie beobachtete interessiert, wie sich die Samualiten auf dem Mitteldeck sammelten. »Besetzt die Kreuztaue«, rief MacLean. Dann wandte er sich an den Steuermann. »Drehen Sie sie in den Wind, Mr. Todd. Das Ruder herum.« »Ruder in Lee, Sir.« »Ihr da, an die Kreuztaue. Herunter mit den Manschetten.« 179
Hal entfernte zusammen mit einem der Wachmänner die Schnallen vom Segel und ergriff das Tau. »Segel setzen«, wies MacLean die Männer an. Das große Gaffsegel schoß mit einem Ruck in die Luft, da die Männer an den Klauteilen zu schnell gezogen hatten, doch schließlich stieg das Segel gleichmäßig hoch. »Wechselt euch an der Winde ab. Zieht, Männer. Zieht es straff. Ziehen sollt ihr, ihr Bastarde! Jetzt zurrt es fest.« Das Gaffsegel flatterte im Wind, und das Boot wurde merklich langsamer. »Und jetzt an das Großsegel«, befahl MacLean. »Hoch mit ihm, aber schön langsam.« Die Männer liefen nach vorn, und das Großsegel, das fast zweimal so groß war wie der Besan, wurde genausoschnell hochgezogen wie das kleinere. »An die Schoten«, kommandierte MacLean. »Idiot, das Tau da vorn«, erklärte er einer der Wachen, der ihn verständnislos anstarrte. »Halten Sie sich bereit, die Segel zu trimmen, Mr. Stark.« »Ja, Sir.« Hal warf MacKinnie einen spöttischen Blick zu und folgte dann seinen Soldaten. Das Schiff hatte jetzt kaum noch Fahrt, obwohl die Männer an den Rudern mit voller Kraft pulltest. Loholo stand schweigend da, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah MacKinnie mit einem Blick an, der zu sagen schien: Na, habe ich es dir nicht gesagt? »Das Ruder herum, Mr. Todd. Vier Grad Steuerbord.« »Aye aye, Sir. Ruder nach Luv.« Das Boot schwenkte herum, und der Wind fing sich in den großen Segeln und drückte sie nach rechts. »Zurrt die Schoten fest. Mehr. Holt ein. Zieht, ihr Lumpenpack. 180
Festzurren. Mr. Stark, ich will Steuerbord nach Lee.« Das Boot glitt jetzt seitwärts und bewegte sich fast so schnell nach Lee wie nach vorn. Die Ruderer bemühten sich nach Leibeskräften, die Manövrierfähigkeit des Schiffes aufrechtzuhalten, während Loholo wieder zu zählen begann, nachdem er auf seinen stummen Ruf an MacKinnie keine Antwort erhalten hatte. Stark machte das Tau los, das das große, fächerförmige Leeschwert eingehalten hatte, und das schwere Holz platschte ins Wasser. Ein Eisenschuh an seinem Ende sorgte dafür, daß es schnell unterging. »Mr. Loholo, lassen Sie die Ruder einholen«, wies MacLean den braunen Mann an. »Machen Sie schon, Mann, und passen Sie auf Ihre Leute auf.« Das Boot ruckte in einer plötzlichen Böe scharf herum, und fast wären einige der Seeleute steuerbord ins Wasser gefallen. »Wer sich nicht an Bord halten kann, wird an Land schwimmen müssen«, drohte MacLean. »Stark, hoch mit den Klüvern.« Der Windstoß warf das Schiff herum, und das Leeschwert schnitt ins Wasser. Langsam wurde das Boot vorwärts gedrückt, und nahm dann an Fahrt zu, bis es schließlich nicht mehr zu übersehen war, daß es jetzt schneller vorankam, als die Ruderer es hatten vorwärts bewegen können, und immer noch wurde es schneller. Am Bug bildete sich weißes, schaumiges Wasser, und am Heck teilten sich zwei Viertelwellen. MacKinnie hatte den Eindruck, daß der Wind merklich stärker geworden war und das Schiff genau in ihn hineingetrieben wurde. Langsam hob sich die Subao über die Wellen und glitt voran, während Loholo staunend an der Reling stand und 181
schließlich fast ehrfürchtig den Kopf schüttelte. »Nun, Mr. Loholo?« fragte MacLean. Der ehemalige Kapitän blickte seinen neuen Kapitän schweigend an, bevor er dann in einem etwas ungeschickten Gruß die Hand an die Stirn nahm. »Sie ist schneller, als die Ruderer sie je voranbringen könnten, Captain. Sie ist jetzt sicher das schnellste Schiff auf ganz Makassar.« »Hoffen wir es, Mr. Loholo. Jedenfalls schneller als die Piraten. Lassen Sie jetzt bitte die Ausgucks besetzen.« »Aye aye Sir.« Loholo wandte sich an seine Mannschaft. »Banta, in die Wanten. Hinauf mit dir, und halt die Augen offen. So schnell, wie wir jetzt vorwärts kommen, werden wir bald in Piratengewässern sein.« Aufrecht wie ein Ladestock marschierte er über das Deck, während er einen Teil der Mannschaft nach vorn und den Rest auf das Mitteldeck schickte. »Wie segelt sie, Captain?« wollte MacKinnie wissen. »Ausgezeichnet, Händler«, erwiderte MacLean. »Besser gegen den Wind, als ich gedacht habe. Sie segelt nicht so hart am Wind wie ein richtiges Kielboot, aber mit einem vollen Kiel könnten wir auch nicht aufs Trockene auflaufen. Jedenfalls können wir härter am Wind segeln als die Piraten mit ihren Booten. Und so werden wir ihnen wahrscheinlich auch entkommen können. Sie werden rudern, während wir uns mit unseren Segeln im Wind halten. Wir werden die Hurensöhne schon austricksen … eh, entschuldigen Sie, Freelady.« »Sie müssen sich nicht entschuldigen, Captain MacLean. 182
Ich finde es phantastisch, was Sie aus diesem primitiven Boot gemacht haben.« Sie blickte zuerst ihn an und wandte sich dann an MacKinnie. »Kann ich Ihnen irgend etwas bringen, Captain? Und Ihnen, Händler?« »Chickeest«, antwortete MacKinnie. »Das heißt, wenn Sie hier überhaupt kochen können.« »Wenn nicht, dann werden wir uns auf der ganzen Fahrt mit kaltem Essen begnügen müssen«, entgegnete MacLean barsch. »Das Wetter könnte nicht besser sein, Händler. Gegen Nachmittag werden wir es wahrscheinlich mit ein paar größeren Wellen zu tun bekommen. Tja, und dann müssen wir auch mit der Strömung rechnen. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber die Gezeitenströmung hat uns mitgetragen. Wenn sich die Strömung dreht, könnte es etwas unangenehm werden. Am besten üben Sie sich jetzt gleich ein bißchen in der Kombüse, Freelady. Nehmen Sie Brett mit. Er kann sich da unten nützlich machen.« »In Ordnung, Captain.« Sie stolperte über das Deck, und als sie keinen Halt finden konnte, ließ sie sich von Brett am Arm nehmen und die Kajütstreppe hinunterführen. Das Boot lag jetzt so schräg, daß das Deck in einem Winkel von vielleicht vierzig Grad zur Waagerechten geneigt stand. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Mary Graham den Chickeest vom vergangenen Abend aufgewärmt hatte, und als sie mit dem Topf und den Tassen in den Händen zum Achterdeck balancierte, vergoß sie auch noch einen Teil, aber trotzdem schien sie stolz auf ihre Leistung. Ihr Gesicht hatte die gleiche grünliche Färbung angenommen wie das 183
von Kleinst, und als MacKinnie sich umsah, bemerkte er den Wissenschaftler, der sich mit verkrampfter Miene an der Reling festhielt und auf die weit entfernte Küste steuerbord starrte. »Segel voraus«, meldete der Ausguck. »Zwei Segel.« Loholo kletterte, behende wie ein Affe, die Wanten hinauf, legte die Hand über die Augen und blickte suchend in die Richtung, in die der Mann im Ausguck deutete. Schließlich kam er wieder herunter auf Deck, um MacLean Bericht zu erstatten. »Piraten, Captain. Unter Segel. Backbord voraus.« MacLean nickte. Die Piraten lagen luvwärts und hatten viereckige Segel aufgezogen, um die Subao einzuholen. »Jetzt ruhig Blut, Mr. Todd. Mr. Loholo, es wäre vielleicht am besten, wenn Sie zu Todd ans Ruder gehen. Nach Luv zu steuern ist schwieriger, als nur den Kompaß zu beobachten, und wir werden erfahrene Steuermänner brauchen. Kennt sich einer Ihrer Männer am Ruder aus?« »Nein, Captain. Sie sind alle Landratten. Arbeitswillig, aber unerfahren auf See.« »Dann müssen Sie es machen. Nehmen Sie Ihren Platz ein.« Er legte die Hände zusammen, um seine Augen zu überschatten und stand ohne Mühe sicher auf dem schlingernden Deck. Wie er es vorher gesagt hatte, war die See nun rauher, und die Subao krängte so stark, daß sich außer drei Seeleuten niemand mehr ohne einen Halt auf Deck halten konnte. »Wir werden jetzt unseren Kurs ändern und sehen, daß wir Räumte erreichen«, meinte MacLean. »Stark, an die 184
Klüver. Die Gaffsegel richten sich selbst. Los Mann, wir haben nicht ewig Zeit.« Hal und seine Wachleute rannten zum Vordeck. Ein paar Ruderern, die untätig herumsaßen, bedeuteten sie, ihnen zu folgen. »Haltet euch bereit, die Segel zu lösen«, schrie MacLean. MacKinnie war überrascht, wie gut die Stimme des Kapitäns gegen den Wind auszumachen war; trotzdem wiederholte Brett den Befehl von seinem Posten am Besan aus. »Ruder in Lee, Mr. Todd.« Das Schiff schwenkte in den Wind, und die Segelstangen schossen über das Deck. Einer von Loholos Leuten sah sie auf sich zukommen, warf sich flach zu Boden und krabbelte aus dem Weg, während die Mannschaft auf dem Achterdeck dem Beispiel von MacLean folgte und sich einfach tief duckte. Die Segel schlugen zurück und drückten den Bug herum. »Die Klüversegel loslassen«, rief MacLean. »Und jetzt zurrt sie backbord fest. Tempo. Besetzt die Schwerter! Macht schon, Leute!« Das Schwert nach Backbord heruntergelassen, während auf der anderen Seite Männer das Steuerbordschwert einholten. MacLean stampfte ungeduldig mit dem Fuß, bis die Order erledigt war. Dann wandte er sich an MacKinnie. »Sie ist ganz schön wendig. Vielleicht ein bißchen langsam, wenn sie über Stag geht. Sollte ich irgendwann nicht mehr einsatzfähig sein, dann denken Sie daran, was ich Ihnen gerade gesagt habe. Lassen Sie die Klüversegel fest, bis der Bug herum ist, sonst könnte es sein, daß Sie in Schwierigkeiten kommen.« Nathan betete inständig, daß er nie selbst das Schiff würde führen müssen. Aber es blieb ihnen immer noch der 185
junge Todd, falls MacLean getötet würde. Sie näherten sich den Piratenschiffen jetzt mit großer Geschwindigkeit. »Fünf Segel hinter den zwei vorn, Sir«, meldete der Ausguck. »Das werden ebenfalls Boote der Piratenflotte sein«, mischte sich Loholo ein. »Entschuldigung, Sir, aber da drüben sind schon die Riffe.« Er zeigte nach vorn und nach steuerbord. MacLean nickte gelassen. »Den Kurs können wir noch nicht einschlagen, Loholo. Wenn wir Räumte erreicht haben, werden wir Ihren Rat versuchen.« Er schätzte die Entfernung zu den schnell näher kommenden Piratenschiffen. Während sie noch zusahen, wurden die Ruder der feindlichen Boote ausgebracht und begannen, rhythmisch ins Wasser einzutauchen. Die Piratenschiffe ähnelten der Subao, wie sie vor MacLeans Veränderungen ausgesehen hatte, nur besaßen sie höhere Masten. Am Bug von jedem Boot war eines jener tintenfischähnlichen Monster geschnitzt, die MacKinnie im Wasser entdeckt hatte. »Wer nichts zu tun hat, unter Deck«, ordnete MacLean an. »Freelady, Professor Longway, Mr. Kleinst – gehen Sie nach unten und bleiben Sie dort, bis Sie gerufen werden. Mr. Loholo, ich kann Sie im Augenblick an der Ruderpinne entbehren, bis Sie Ihre Mannschaft bewaffnet haben.« »Aye aye, Captain.« Loholo bahnte sich einen Weg zum Mitteldeck, um seine Männer zu bewaffnen. MacKinnie sah zu, wie Hal Armbrüste an seine samualitischen Wachmänner austeilte und sie entlang des 186
Mitteldecks aufstellte. Die Piraten hatten inzwischen bemerkt, daß die Subao ohne Ruder gegen den Wind steuerte und korrigierten ihren Kurs so, daß sie die Subao ein gutes Stück vor ihrer jetzigen Position schneiden würden. Die Boote kamen jetzt nicht mehr so schnell näher wie vorher, sondern drehten ungefähr drei Schußlängen von Backbord und ebensoviel von vorn entfernt bei. »Ich glaube kaum, daß es zum Kampf kommen wird«, bemerkte MacLean ruhig. »Sie können uns nicht einholen, es sei denn, sie sind mit ihren Rudern wesentlich schneller, als ich mir vorgestellt habe.« Als wollte er den Kapitän Lügen strafen, rief plötzlich der Ausguck: »Drei Segel steuerbord. Drei Segel voraus, Sir.« MacLean schüttelte den Kopf. »Wenn sie sich so schnell an unsere Taktik gewöhnen wie die hier, dann werden wir doch noch kämpfen müssen.« Er deutete mit dem Kopf auf das vordere Piratenschiff. »Mr. Stark, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nach vorn gingen und sich zum Wendemanöver bereit halten. Lösen Sie das Segel erst, wenn ich es Ihnen sage. Und schicken Sie fünf Mann an die Schwerter.« »Aye, Sir.« Hal nahm seine Männer mit nach vorn, wobei er darauf achtete, daß sie ihre Armbrüste an der Reling auf der niedrigeren Seite verstauten. Doch MacLean schüttelte den Kopf. »Bringen Sie sie nach Steuerbord, Stark. Ich möchte nicht, daß uns die Waffen vor die Füße rollen, wenn es losgeht.« »Halten Sie sich bereit, Todd. Ich will sie so nahe wie 187
möglich schneiden, ohne daß sie uns jedoch rammen.« Die Piratenschiffe kamen jetzt näher. »Kurs ein Grad ab«, befahl MacLean leise. Das Schiff nahm Fahrt auf und glitt schneller durch das Wasser. »Aufgepaßt … Ruder in Luv!« Die Subao, die plötzlich scharf gegen den Wind segelte, schien einen Moment stillzustehen, um dann nach Steuerbord zu lavieren. »Laßt die Klüversegel los. Jetzt holt sie ein. Zieht die Schwerter ein, Jungs!« MacLeans Stimme war eiskalt, während er beobachtete, wie der bewaffnete Bug des vordersten Piratenschiffes näher kam. Die Ruder des feindlichen Bootes schlugen immer schneller, und an Bord der Subao war jetzt der Klang einer Trommel zu hören, die den Takt angab. Zisch! MacKinnie hörte etwas über seinen Kopf wischen, und als er hochsah, stellte er fest, daß sich jetzt ein Loch im Segel über ihm befand. Dann erklang ein Chor von Geräuschen, Pfeile, die gegen die Schanzverkleidung prallten. »Runter!« rief MacKinnie. Tief gebückt lief Stark über das Schiff, um sich seine Armbrust zu schnappen. Alles, was sie sehen konnten, war der große Bug des Feindes rund dreißig Yards von ihnen entfernt, von dem aus der Rammsporn knapp über der Wasseroberfläche nach vorn ragte. Das Piratenschiff glitt auf sie zu. MacKinnie sah schweigend zu; im Augenblick konnten sie nichts weiter tun als warten. Der Eisensporn wurde größer und größer, doch dann schien er leicht zurückzufallen. Die Subao wurde schneller, und auf einmal zielte das Piratenboot nicht mehr auf die Mitte des Schiffes. »Kurs halten«, sagte MacLean ruhig. Der Rammsporn des feindlichen Schiffes fiel weiter zurück, worauf die Piraten 188
versuchten, die Subao von neuem anzusteuern. »Ganz ruhig«, murmelte MacLean. Das Piratenschiff passierte die Subao so nahe achtern, daß sich fast die Ruder berührten. Eine Wolke von Pfeilen flog auf sie zu, auf die Stark mit seinen eigenen Stahlpfeilen antwortete. Vom Piratenschiff erklang ein Schrei, dann herrschte Stille. »Sie werden erst das Segel einholen müssen, bevor sie nach Luv rudern können«, bemerkte MacLean beiläufig. »Jetzt holen sie uns nicht mehr. Ausguck! Wo sind die anderen Schiffe?« »Backbord voraus, Sir!« »Sie liegen direkt nach Luv. Mal sehen, ob sie denken können. Mr. Loholo, Sie können jetzt zurück zum Achterdeck kommen.« »Aye aye, Sir.« Als Loholo näher kam, konnten sie Blut an seinen Händen sehen. »Ein Besatzungsmitglied ist tot, Sir. Pfeil durch die Kehle. Und in unseren Segeln sind auch ein paar Löcher.« »Wo sind Ihre Riffe, und wann wird die Ebbe einsetzen?« Loholo deutete auf eine Spalte in den Bergen an der Küste. »Genau dort, Sir. Es ist jetzt Vollflut. Die Ebbe müßte in ungefähr einer Stunde einsetzen.« »Ausgezeichnet. Todd, steuern Sie die Riffe an, und lassen Sie sich von Loholo beschreiben, wie sie aussehen. Vielleicht können sie uns ganz nützlich sein. Mr. Loholo, wie viele Männer faßt ein solches Piratenschiff normalerweise?« 189
»Siebzig, vielleicht auch ein paar mehr, Sir. Aber nicht alle von ihnen sind Seeleute.« »Und wie viele können kämpfen?« »Fast alle, Sir. Deshalb fahren sie ja auch mit.« MacLean nickte. »Sie werden uns nicht entern, das verspreche ich. Passen Sie auf, Mr. Todd, Sie sind zu nahe dran.« MacLean blickte auf die Küstenlinie, warf dann nachdenklich ein leichtes Seil über Bord und beobachtete, welchen Winkel es mit der Mittellinie der Subao bildete. »Wir segeln mehr leewärts, als mir lieb ist. Und der da draußen scheint tatsächlich Verstand zu haben. Die anderen versuchen, uns zu folgen, während er sich abseits hält, um in Luv zu bleiben und uns so abzufangen. Das könnte interessant werden.« Sie segelten weiter. Mit Einsetzen der Ebbe, die das Wasser zurückzog, drehte sich am Nachmittag auch der Wind, bis er fast direkt von der Küste her zu kommen schien. Die erste Gruppe von Piratenschiffen war hoffnungslos zurückgefallen, und die zweite hatten sie jetzt auch hinter sich zurückgelassen. Die Piraten hatten nämlich den Fehler begangen, zu nahe an die Subao heranzukommen und befanden sich schließlich auf ihrer Leeseite, als sie endlich versuchten, zu ihr zurückzurudern. Obwohl es zuerst schien, als könnten sie es schaffen, war die Anstrengung doch zu groß, und bald fiel das Piratenschiff immer weiter zurück. Jetzt blieb nur noch ein einziges feindliches Boot zwischen der Subao und der offenen See. Im Verlauf der Jagd fiel die Küstenlinie nach Norden weg, so daß der Wind das Schiff nun noch mehr neigte. 190
Die Tiere im Verschlag schrien protestierend, ein schriller Lärm, der allen, die nicht daran gewohnt waren, an den Nerven zerrte und Brett veranlaßte, zu seinen Tieren zu eilen, um sie zu beruhigen. Das Piratenschiff glitt parallel zur Subao an der Küste entlang und kam langsam näher, ging aber kein Risiko ein, seine Beute zu verlieren, wie es die anderen getan hatten. Der Kapitän hatte die großen Lateinsegel seines Bootes festgesetzt und nur ein paar Männer an den Rudern gelassen. MacLean stand wachsam auf seinem Posten, während Loholo das Ruder hielt. Der Makassarer hatte die Aufgabe schneller gelernt, als MacLean angenommen hatte, und jetzt hielt er mit Leichtigkeit die gewaltige Holzstange, balancierte sein Gleichgewicht gegen das Schlingern des Bootes aus und beobachtete die Küstenlinie. »Wo sind wir jetzt, Mr. Loholo?« wollte MacLean wissen. »In seichten Gewässern, Captain. Bei der einsetzenden Ebbe werden wir in ungefähr einer Viertelstunde auf Grund laufen.« »Gut.« MacLean blickte hinüber zum feindlichen Schiff. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, weiter vorwärts zu kommen, auch wenn die Piraten dadurch näher herankommen. Fertigmachen zum Brassen der Segel«, rief er. »Ein Grad mehr nach Lee, Mr. Loholo.« »Aye.« Durch den neuen Kurs näherten sie sich dem Piratenschiff ziemlich rasch. In Minutenschnelle war die Strömung so stark geworden, daß das Seil über der Reling in 191
einem Winkel von sechzig Grad vom Heck des Schiffes abtrieb. »Es wird schnell flacher«, bemerkte Loholo. »Mr. Todd«, befahl MacLean, »nehmen Sie ein Lot und melden Sie die Tiefe.« Der Kadett hängte sich in die Wanten, beugte sich vor, um das Lot auszuwerfen und meldete die Wassertiefe. »Drei Meter … zweieinhalb … drei Meter …« »Das Piratenschiff kommt näher, Händler.« MacLean betrachtete nachdenklich das feindliche Boot. »Bitte die Wachen in ihre Rüstungen. Für den Fall, daß sie uns doch entern.« MacKinnie sah sich um, konnte aber keine anderen Schiffe entdecken. »Mehr konnten wir nicht hoffen, Händler«, meinte MacKinnie leise. »Wir erwarteten, es mit einem Dutzend Schiffe zu tun zu bekommen, und jetzt ist es nur noch eins.« »Zweieinhalb …« meldete Todd. »Und zwei … und eineinhalb …« Die Ebbe setzte immer stärker ein. MacKinnie hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen und fragte MacLean, warum die Strömung derart stark war. »Diese zwei Monde verursachen sehr starke Gezeiten«, erklärte MacLean, »und in dieser verhältnismäßig flachen Bucht befindet sich nicht viel Wasser. Sie wird ziemlich schnell leer.« Der Kapitän hielt die Strömung sorgsam im Auge. »Wir werden in ein paar Minuten auf Grund laufen, Händler. Wenn wir versuchen, mit der Strömung weiter hinauszutreiben, dann haben uns die Piraten bald. Wenn 192
wir dagegen auf Grund laufen, dann können sie uns zumindest nicht mehr rammen. Vielleicht kommt es zum Kampf, wenn sie uns auf dem Trockenen sehen. Oder sie beschließen, mit der Strömung auszulaufen und ihre Freunde zu Hilfe zu holen. In diesem Fall müssen Sie entscheiden, ob wir die Küste anlaufen oder nicht.« MacKinnie nickte. Es sah so aus, als bliebe das Piratenschiff ziemlich nahe an der Subao. Vielleicht liefen auch die Piraten fest. Wenn sie diese Gewässer wirklich nicht so gut kannten, dann glaubten sie womöglich, daß die Besatzung der Subao mit der Strömung hinauslaufen wollte. Das Seitenschwert berührte Grund, ruckte hin und her und stieß dann erneut auf Grund. »An die Falleinen!« rief MacLean. »Herunter mit den Segeln. Bewegt euch, ihr faulen Hunde!« Etwas ruhiger fuhr er fort: Mr. Loholo, Ruder nach Luv … Manövrieren Sie sie gegen die Strömung … vorsichtig … Sergeant Stark, machen Sie Ihren Männern Dampf.« Mit äußerster Kraftanstrengung holten die Männer die Segel ein. Die schwere Leinwand schlug auf das Deck, und die Mannschaft von Makassar eilte herbei, um sie zusammenzulegen und wieder an Ort und Stelle zu befestigen. Das Schiff, das von der starken Brise gegen die Strömung getrieben wurde, schwankte und drehte dann nach steuerbord ab. Loholo war offensichtlich daran gewöhnt, mit seinen Schiffen in den flachen Gewässern von Makassar auf Grund zu laufen, denn er balancierte das Schiff selbständig aus. Während die Ebbe immer stärker wurde, ging zuerst der Bug auf Grund, dann setzte der Rest 193
auf dem sandigen Boden auf; das Boot war jetzt in Richtung Küste gerichtet. »Wir sind aufgelaufen«, stellte MacLean fest. »Sehen Sie, das Piratenschiff ist auch auf Grund«, rief er dann mit einem Blick auf den Feind, der sich rund dreihundert Yards von ihnen entfernt befand. Er schafft es nicht mehr gegen den Wind.« Die feindliche Besatzung kämpfte verbissen an den Rudern, während andere die Segel einholten, doch fast gleichzeitig berührte der Bug des Bootes den Grund. Das Wasser zog sich so schnell zurück, daß die Piraten innerhalb von Sekunden so festsaßen wie die Subao. Brett lief zum Mitteldeck. Erfolglos versuchte er, die Luke zu öffnen, bis Vanjynk ihm zur Hilfe kam. »Was zum Teufel treibt ihr beiden da?« rief MacLean ihnen vom Achterdeck zu. »Wir müssen unsere Pferde herausholen«, rief Brett zurück. »Master Vanjynk und ich wollen zu Pferde kämpfen, Captain.« »Lassen Sie sie«, mischte sich MacKinnie ein. »Wir sind in der Zahl unterlegen, und vielleicht kann eine kleine Kavallerietruppe wie die beiden uns nur nützlich sein. Sehen Sie doch nur mal da vorn.« Die Piraten sprangen zu Dutzenden von ihrem Boot, doch statt gegen die Subao anzustürmen, bildeten sie auf dem harten Sand vor ihrem Schiff Kampfreihen. »Jetzt bin ich endlich an der Reihe«, meinte MacKinnie. »Kümmern Sie sich um Ihre Leute. Hal, hilf Brett, die Tiere hinaufzuholen.« 194
Die Luke war jetzt offen, und mit Hilfe des Hautmastes und breiter Bauchriemen wurden die beiden Pferde hinaufgehievt, zur Seite geschwenkt und dann im Sand heruntergelassen. Brett und Vanjynk beeilten sich, ihre Tiere zu satteln und ihnen Kettenpanzer anzulegen. »Worauf warten sie denn?« wollte MacLean wissen und zeigte auf die Piraten. »Sie wissen nicht, wie viele wir sind und ob wir die gefürchteten Sternenwaffen besitzen«, antwortete Loholo. »Ihre Führer werden so lange auf sie einreden und ihnen von reicher Beute und der Schmach erzählen, die ihnen zugefügt worden ist, bis sie schließlich doch attackieren. Es wird am besten sein, wenn unsere Leute ebenfalls von Bord gehen, es sei denn, Sie wollen vom Schiff aus kämpfen.« »Lieber nicht«, schüttelte MacKinnie den Kopf. »Sie haben nämlich Äxte dabei, und wenn sie an die Subao herankommen können, dann werden wir ganz sicher mit der Flut nicht wieder auslaufen. Hal, lassen Sie die Männer hinter dem Schiff Aufstellung nehmen, so daß der Feind nicht sehen kann, wie viele wir sind.« »Verstanden, Colonel!« Mit Bitten und lauten Flüchen brachte Hal halbwegs Ordnung in die Reihen der Makassarer, während seine Wachen aus Haven am anderen Ende der Linie eine Gruppe bildeten. Schilder blitzten in der Sonne, und die Männer warteten nervös. »Teilen Sie die Piken aus, Mr. Longway«, wies MacLean den Akademiker an, der gerade an der Kajütstreppe auftauchte. »Und dann bleiben Sie mit den anderen unten.« 195
»Wie Sie befehlen, Captain«, erwiderte Longway. »Aber ich kann kämpfen.« Als er jetzt ganz herauskam, konnte MacKinnie sehen, daß der Wissenschaftler eine Rüstung aus einem Panzerhemd und Leder übergezogen hatte. Zusammen nahmen sie die Piken aus den Gestellen am Schanzkleid der Subao und verteilten sie an die auf dem Sand wartenden Männer. Alle Makassarer trugen Brustschilde, Beinschienen und einen Helm aus Metall und waren mit Kurzschwertern und Rundschilden ausgerüstet. Auch die Samualiten wurden durch Kettenpanzer geschützt. Mit den Piken in den Händen schien MacKinnies kleine Kampftruppe äußerst diszipliniert und bereit, dem Feind entgegenzutreten. »Es sind gute Kämpfer, wenn man ihnen nur sagt, was sie tun sollen«, meinte Loholo. »Es sind zwar durchwegs junge Burschen, aber die Gilden beginnen schon ziemlich früh mit der Ausbildung ihrer Leute.« MacKinnie ließ sich über die Reling hinunter, um sich zu der kleinen Gruppe zu gesellen und ließ MacLean und Loholo auf dem Schiff zurück. »Das wichtigste ist, Disziplin zu bewahren«, erklärte er. »Wenn ihr in Reihen bleibt, kann nicht viel passieren. Haltet eure Schilde als Schutzmauer so lange hoch, wie der Feind noch nicht heran ist, damit er uns nicht mit Pfeilen beschießen kann, und wenn ich es euch sage, dann marschiert ihr vorwärts. Ich will die Piraten mit einer einheitlichen Truppe angreifen, nicht mit einem unordentlichen Haufen von Einzelkämpfern. Hal, deine Männer aus Haven sollen hinter der Haupttruppe eine Reserve bilden und Speere und Armbrüste bereit halten. Ich will eine volle 196
Salve von Pfeilen sehen, sobald die Piraten in Schußweite sind, und zwar so lange, bis sie zum Nachladen zu nahe sind. Dann haltet ihr die Speere bereit, bis ich euch den Befehl zum Werfen gebe.« »Jawohl, Sir.« »Und dann wartet auf weitere Befehle. Brett, Sie und Vanjynk bleiben bei mir, bis ich Ihnen den Einsatzbefehl gebe.« »Ich finde es nicht richtig, daß wir zurückbleiben und diesen Grünschnäbeln die Ehre überlassen müssen, den Kampf zu eröffnen«, beschwerte sich Vanjynk. »Zum Teufel mit Ihrem ›richtig‹. Ich sage Ihnen eins, Vanjynk: Wenn Sie oder Brett ohne meinen ausdrücklichen Befehl attackieren, werde ich dafür sorgen, daß Hal Sie aus dem Sattel schießt. Ich verlange nichts Unehrenhaftes von Ihnen, Master Vanjynk, nichts, außer, daß wir diese Schlacht gewinnen.« »Wir haben uns verpflichtet, dem Sternenmann zu dienen«, beschwichtigte Brett seinen Freund. »Es ist richtig, daß wir seine Anweisungen befolgen, mein Freund.« Er schlug Vanjynk auf die Schulter. »Außerdem, welche Ehre haben die Piraten schon? Was bedeutet denn ›richtig‹ für sie?« »Sie kommen!« rief Longway vom Achterdeck. MacKinnie schritt zum Bug des Schiffes und spähte vorsichtig um die Ecke. Die Piratengruppe, fast hundert Mann stark, bewegte sich langsam und diszipliniert über den Sand auf die Subao zu. »Hal, deine Männer zum Heck. Haltet euch bereit. Feuert, wenn ihr glaubt, daß sie in 197
Schußweite heran sind.« »Jawohl, Sir. Wachen, rechts herum. Vorwärts marsch.« Stark führte seine kleine Gruppe zum Heck, hinter dem er die Leute Aufstellung nehmen ließ. Sie waren jetzt näher am Feind als MacKinnies Truppe am Bug. Nathan beobachtete die herankommenden Reihen der Piraten, die, bedingt durch die zurückgebliebenen Wasserpfützen langsam auseinandergingen, bis schließlich deutliche Lücken in der Formation der Angreifer zu erkennen waren. Der Anführer der Piraten schien sich offensichtlich nicht die Mühe zu machen, seine Männer neu zu formieren. Nach dem, was MacKinnie von ähnlichen Gruppen auf dem Südkontinent wußte, war es schon eine taktische Meisterleistung, daß sich die Piraten überhaupt formiert hatten, bevor sie zu einem wilden Angriff starteten. Als sie näher herankamen, rief Hal seinen Männern zu: »Achtung! Feuer!« Ein paar Angreifer fielen in dem Pfeilregen, doch der Rest stürzte unbeeindruckt heran. MacKinnie beobachtete das Geschehen, gab allerdings noch keinen Einsatzbefehl. Hinter ihm sprachen Brett und Vanjynk leise mit ihren Tieren, um sie zu beruhigen, aber ihre Stimmen klangen schrill, und ihre Begierde, sich in den Kampf zu stürzen, war deutlich herauszuhören. Ein zweiter Pfeilregen mähte weitere Piraten nieder, und die wilde Truppe von leuchtend bunt gekleideten Einheimischen, die nur mit Schwertern und einigen Äxten und Schilden ausgerüstet war, schwenkte zu ihren Peinigern herum, wodurch sie MacKinnie ihre ungeschützte Flanke darbot. 198
»Jetzt, Männer. Marschiert vorwärts. Folgt mir und bleibt in Formation. Brett, Sie und Ihr Begleiter bleiben hinter der Schildmauer, bis ich Ihnen weitere Instruktionen gebe.« Die Piraten befanden sich nun zwischen zwei kleinen Abteilungen. Ihre Anführer schrien Befehle, worauf sie sich in kleinere Gruppen teilten und sich auf Stark und seine Männer stürzten. »Folgt mir, Soldaten!« rief MacKinnie. »Bleibt in eurer Formation. Haltet eure Nachbarn zur Linken und Rechten im Auge und bleibt dicht neben ihnen.« Mit seiner Truppe im Gefolge marschierte er jetzt in einem Winkel vom Bug des Schiffes in Richtung Heck, wobei er die Piratengruppe immer zwischen den beiden Teilen seiner kleinen Armee hielt. Einige der Feinde sahen ihn plötzlich, während die übrigen weiter gegen Stark stürmten. Hal ließ eine dritte Salve gegen die Angreifer abfeuern, dann warfen seine Männer ihre Waffen in den Sand und bückten sich, um die Piken aufzuheben. Als MacKinnies Gruppe die Piraten fast erreicht hatte, rief Nathan: »Jetzt, Hal.« Starks Gruppe rannte vorwärts, warf ihre schlanken Speere gegen den Feind und riß Lücken in seine Reihen. Dann war MacKinnie auch schon über ihm, und die Pikeniere griffen an, während Hal mit seinen Samualiten von der anderen Seite mit Schwertern und Schilden über die Piraten herfiel. Auf beiden Flanken einer Gruppe von Piraten kämpften jetzt MacKinnies Truppen, doch die große Masse der Angreifer hielt sich noch zurück, da sie nicht die gefährliche Zone dazwischen betreten wollten. Dann stürmten sie 199
plötzlich direkt auf MacKinnies Truppe zu, griffen an, tauchten unter den aufgerichteten Speeren hinweg und schlugen mit ihren Schwertern auf die unbewaffneten Männer ein. Zwei der jungen Seeleute aus Jikar fielen und öffneten eine Lücke in der Reihe der Pieken. Die Piraten auf der anderen Seite der Formation konnten nichts gegen Hal und seine Wölfe ausrichten. Unbewaffnet, und mit unzureichenden Schilden schafften sie es zwar, Stark abzuwehren, doch es gelang nur durch ihre bloße Überzahl. Eine dritte Gruppe sprang vorwärts und griff nach der Schiffsreling. MacKinnie stürzte sich in die Lücke der Piken, und während er sein Schwert kreisen ließ, rief er seinen Leuten zu, standzuhalten. Ein Kurzschwert, das auf ihn zukam, wehrte er ab, um dann selbst zuzuschlagen. Der Angreifer fiel, und Nathan ließ das Schwert herumwirbeln, um einen zweiten Angreifer zurückzutreiben. Die Lücke war jedoch zu klein, um von MacKinnie allein gehalten zu werden, und bald versuchte ein dritter Pirat, an ihm vorbeizudrängen, wurde jedoch sofort von einem der Pikeniere aufgespießt. Kraftlos glitt sein letzter Schlag an MacKinnies Kettenpanzer ab, während dieser wie wild Befehle schrie, die Lücke zu schließen. Zögernd rückten die Jikarer enger zusammen. »Schild an Schild!« rief MacKinnie. »Schließt an!« Sobald die Gruppe aufgeschlossen hatte und die Lücke dicht war, konnte er seine Aufmerksamkeit wieder der Gruppe zuwenden, die das Schiff attackiert hatte. Die Piraten waren an Deck von Longway aufgehalten worden, der mit dem Schwert in der Hand jeden 200
abzuwehren versuchte, der sich über die Reling hochziehen wollte. MacLean stand ihm zur Seite, während Loholo, der vor ungezügelter Wut laut schrie, mit einem gewaltigen, beidhändigen Kurzschwert auf den Sand sprang und unter Flüchen seine Waffe kreisen ließ. »Die Subao ist mein!« schrie er. »Drecksgesindel, Mistbrut, widerliche Aasgeier! …« Einem angreifenden Piraten schlug er mit einem Hieb den Kopf ab, dann stellte er sich mit dem Rücken gegen das Boot und hielt den Rest mit ungestümen Attacken auf Abstand. Der Anführer der Piraten, der an leuchtend goldenen Bändern um Hals und Füße zu erkennen war, rief seinen Männern Befehle zu und ließ sie den Kampf unterbrechen, um sich neu zu formieren und die Tatsache, daß sie zahlenmäßig überlegen waren, besser auszunutzen. MacKinnie wartete, bis sich die Piraten zurückgezogen hatten. Dann machte er Brett ein Zeichen. »Jetzt!« rief er. Brett schrie fremd klingende Verwünschungen, gab seinem Pferd die Sporen, und zusammen mit Vanjynk donnerte er auf die Feinde zu. Die schwachen Verteidigungsversuche der Piraten, die Angst hatten, zu Tode getrampelt zu werden, wehrten die beiden mit gewaltigen Schwerthieben ab. Auch die Tiere kämpften, stiegen hoch und schmetterten mit ihren gefährlichen Hufen Männer in den Sand. Eine Gruppe von Piraten brach aus und ergriff die Flucht, als sich Hal und seine Männer von der anderen Seite näherten, um die äußeren Reihen niederzumachen. MacKinnie hielt seine eigene Abteilung zurück, die Speere auf die Piraten gerichtet, während Loholo seinen Amoklauf fortsetzte und sein großes Schwert singen ließ. Schließlich 201
verloren auch die letzten Piraten den Mut und liefen zurück zu ihrem Schiff. Brett und Vanjynk verfolgten die Feinde über den Sand, aber als eine Gruppe an Bord des Piratenbootes Pfeile auf die beiden abschoß, rief MacKinnie sie zurück. Er befahl seinem kleinen Kommando, sich hinter der Subao neu zu formieren und überließ sie sich vorerst selbst, um sich das Schlachtfeld anzusehen. Er hatte zwei einheimische Soldaten verloren, die getötet worden waren, als die Piraten ihre Formation durchbrochen hatten. Einige andere hatten tiefe Schnittverletzungen erlitten, und einem war ein Messer durch die Schulter geworfen worden. MacLean hatte sich einen tiefen Schnitt über den Handrücken eingehandelt, den ihm ein sterbender Pirat, der von Longway niedergemacht worden war, beigebracht hatte. Die übrigen waren unverletzt. Die Abteilung von Haven hatte nur attackiert, und die Piraten hatten weder die Gelegenheit gehabt, nahe an sie heranzukommen, noch waren ihre Waffen wirkungsvoll genug gewesen, durch die Kettenpanzer zu dringen, da Hal ihnen so viel Zeit erst gar nicht gegeben hatte. MacKinnie zählte vierunddreißig Körper auf dem Sand, von denen einige noch schwach zuckten. Die meisten lagen ein gutes Stück von der Subao entfernt; sie waren entweder von Hals Männern oder von der kleinen Kavallerie auf der Flucht niedergestreckt worden. »Es ist immer so«, erklärte er Longway und MacLean, als er zurück an Bord kletterte. »Ich habe noch nie einen Kampf erlebt, bei dem der Verlierer im entscheidenden Moment genug Kraft hatte, den Spieß umzudrehen. Sobald 202
sie ihren Kampfeswillen verloren haben, sind sie erledigt. Jedesmal werden mehr Männer auf der Flucht als im Kampf getötet.« »Aber es sah doch so einfach aus!« mischte sich Mary Graham ein. Überrascht, sie auf Deck vorzufinden, wandte sich MacKinnie zu ihr um. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten unter Deck bleiben«, murmelte er. »Im übrigen wäre es sicher nicht so einfach gewesen, wenn sie uns auf Deck überrascht hätten. Wären sie über uns hergefallen, als unsere Truppen noch nicht formiert waren und keinen Platz hatten, sich zu bewegen, dann hätten sie gewonnen. Gott sei Dank waren sie dumm genug, nach unseren Spielregeln zu kämpfen. Nun, Freelady, was können Sie meinen Männern zum Mittag anbieten?« Mary Graham mußte hart schlucken. »Werden sie zurückkommen?« wollte sie dann wissen. »Es wird einige Zeit dauern, bis ich etwas zubereitet habe.« »Ich glaube, daran ist ihnen die Lust vergangen.« Er drehte sich zu Loholo um. »Glauben Sie, daß die Piraten noch einmal versuchen werden, anzugreifen, wenn wir wieder flott sind?« Loholo schüttelte den Kopf. »Sie werden genau wie wir genug Schwierigkeiten damit haben, nicht zu nahe an die Küste zu kommen, Händler. Es wird kaum Zeit zum Kämpfen bleiben, wenn das Wasser wiederkommt.« MacKinnie bemerkte, daß neben der Subao jetzt ein Anker lag. Während sie gekämpft hatten, hatte ihn MacLean hinaustragen und auf die zum Meer gerichtete 203
Seite des Bootes legen lassen. »Wir werden ihn brauchen«, erklärte er. »Ohne ihn könnte das Schiff mit Einsetzen der Flut an die Küste gespült werden. Der Anker wird uns so lange halten, bis wir segeln können.« »Haben die Piraten auch einen Anker ausgeworfen?« fragte MacKinnie. »Wenn sie nur einen Funken Verstand haben, ja.« »Ich verstehe. Dabei fällt mir eine Idee ein. Ich muß es aber zuerst mit Brett besprechen.« Von Seiten der Piraten gab es keine weiteren Aktivitäten, trotzdem ließ Nathan seine Leute im Sand warten, wo sie auch das Essen einnahmen. Eine Stunde vor Einsetzen der Flut wurde Vanjynks Pferd an Bord gehievt, und die übrige Mannschaft nahm wieder ihren Platz an Bord ein. Nur Brett blieb mit seinem Pferd auf dem Sand hinter der Subao. Ein paar Piraten kamen bis auf hundert Yards heran, doch als Brett auf seinem Pferd um das Schiff auf sie zugestürmt kam, flohen sie in wilder Hast, und der Sänger kehrte auf seinen Posten zurück. »Wir werden Sie noch brauchen, Vanjynk«, wandte sich MacKinnie an den Makassarer, der auf dem Mitteldeck stand und rauchte. »Halten Sie sich für weitere Befehle bereit.« Schweigend warten sie. »Ich kann sie sehen!« rief Loholo vom Ausguck. »Die Flut kommt.« MacKinnie winkte Brett zu. »Jetzt!« rief er. Der Sänger galoppierte auf das feindliche Schiff zu. Immer auf der Hut, daß er nicht in Reichweite der Pfeile kam, umrundete er dann das Boot, bis er den Anker 204
gefunden hatte, den die Piraten ausgelegt hatten. Mit einem präzisen Schlag seines Schwertes durchschnitt er das Ankerseil und ritt so schnell es ging zur Subao zurück. Sein Panzer und der seines Pferdes waren schon vorher an Bord gebracht worden, und als Brett das Boot erreichte, stand Vanjynk mit dem Bauchriemen bereit. Reiter und Tier wurden gleichzeitig an Bord gehievt, während das Donnern des heranrauschenden Wassers immer lauter wurde. MacKinnie kletterte ein Stück die Wanten hoch und blickte seewärts. Keinen Kilometer von ihnen entfernt sah er einen dunklen Streifen, der mit unglaublicher Geschwindigkeit herankam. Beim Anblick der sicher drei Meter hohen Wasserwand, die auf sie zugeschäumt kam, begannen die Piraten zu schreien, und einer von ihnen, der im Heck des Bootes stand, schüttelte drohend die Fäuste. Die Feinde waren zur Untätigkeit verurteilt; bis sie das Ankerseil der Subao erreicht hätten, wäre schon das Wasser über ihnen gewesen, und offensichtlich war keiner der Piraten bereit, sein Leben zu opfern, nur um MacKinnie Ärger zu machen. Haltlos wurde ihr Schiff von der Strömung auf die Klippen zu getrieben, als MacLean den Befehl gab, Segel zu hissen und die Subao für ihre lange Reise vorzubereiten.
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Teil Zwei Loyalitäten
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13 Die Jagdhütte Zwölf Lichtjahre von Makassar entfernt, folgte ein fluchender Malcolm Dougal einem kurvenreichen Weg, der sich durch dichte Wälder bergauf wand. Der Wald war als Jagdgebiet durch all die Jahrhunderte bewahrt worden, seit die Sezessionskriege Prinz Samuals Welt verwüstet hatten, aber Dougal hatte keinen Sinn für seine Schönheit, für das Gezwitscher der Vögel oder die Rufe der Korkspechte. Er wußte nicht, daß die Bäume von der Erde importiert worden waren, und hätte er es gewußt, dann hätte er sie verflucht, wie er alles verfluchte, was von der Erde stammte. Malcolm Dougal trug einen einfachen Kilt. Sein rundes Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die ihn noch drohender als gewöhnlich erscheinen ließ, doch mit Sicherheit hätten nur wenige seine wirkliche Tätigkeit erraten. Er betrachtete sein Aussehen als Pluspunkt; wie sollte man sich denn einen Polizisten schon vorstellen, pflegte er in jenen seltenen Augenblicken zu sagen, wenn er sich bei seinen Freunden entspannen konnte. Ein Korkspecht flatterte vorbei, und Dougal schlug nach ihm, obwohl er normalerweise an den Possen des possierlichen fliegenden Säugetieres seine Freude hatte. Andere flogen neugierig an ihm vorbei, aber Dougal beachtete sie 207
nicht. Als er sich der Jagdhütte näherte, begann er wieder zu fluchen. Zwanzig Jahre, dachte er. Nein. Sei nicht ungerecht. Wohl eher an die fünfzig. Zum Teufel mit dem Imperium der Menschheit! Wo war denn das Imperium, als wir es brauchten? Als wir versuchten, aus radioaktiver Asche und zerstörten Städten eine neue Zivilisation zu begründen? Und jetzt, keine fünfzig Jahre vor der Entwicklung unseres ersten Raumschiffes, ist das Imperium gekommen – und sie wollen uns keine fünfzig Jahre mehr geben. Sie wollen uns überhaupt keine Zeit mehr geben. Sie sind da, und ich muß den König im geheimen an diesem einsamen Ort treffen … Es störte Dougals Majestätsgefühl. Statt hier einen bewaldeten Hügel zu einem einsamen Jagdhaus hinaufzuschleichen, hätte er sich seinem Herrscher auf einem roten Teppich nähern oder ihn im stillen in seinem Büro hinter dem Audienzraum treffen sollen. Aber jetzt waren diese Räume nicht mehr sicher. Nichts war mehr sicher. Das Imperium hatte seine Ohren überall. Doch es würde sein Geheimnis nicht erfahren! Vielleicht doch. Die Angst macht uns noch alle verrückt, dachte er. Jetzt treffe ich mich also hier draußen mit König David, und noch nicht einmal die Königlichen Wachen wissen, wo sich Seine Majestät aufhält. Die Instruktionen des Königs waren deutlich gewesen: Dougal durfte niemandem etwas von diesem Treffen erzählen, und Seine Majestät würde allein sein. Niemand, noch nicht einmal die Wachen sollten wissen, wo das 208
Treffen stattgefunden hatte. Nur zwei Menschen im ganzen Universum sollten wissen, daß Dougal und der König sich hier trafen. Natürlich wußten es mehr. Malcolm hatte ein paar Männer damit beauftragt, die Jagdhütte zu sichern. Aber es waren absolut vertrauenswürdige Leute, Leute, denen man sich anvertrauen konnte – »Halt!« Vor dem Eingang zu der Hütte standen zwei Männer, die Dougal sofort als Wachoffiziere erkannte, auch wenn sie jetzt keine Uniform trugen. Sie waren mit Pistolen und Gewehren bewaffnet. Einer von ihnen musterte Dougal mit kühlem Blick und nickte dann. »Sie dürfen passieren, Mylord.« Aber – wieso? wunderte sich Dougal. Beim Betreten der Hütte erwartete ihn der nächste Schock, denn der König war nicht allein. »Seid gegrüßt, Mylord«, sagte David förmlich. »Wir hoffen, es geht euch gut.« »Danke, ja, Sire.« Dougal verbeugte sich zuerst vor dem König, dann vor dem anderen Mann. Im Gegensatz zu dem gutaussehenden, jungen König war der Premierminister ein alter Mann. Sein Gesicht war runzlig, und der Bauch wölbte sich über seinem Bund. Malcolm Dougal war fast überzeugt, daß er in dreißig Jahren ähnlich aussehen würde wie Sir Giles Og heute – mit der einen Ausnahme, daß er nicht erwartete, so lange zu leben. Seine Tätigkeit würde das schon zu verhindern wissen. »Ich habe angenommen, dieses Treffen sei geheim, Majestät«, stellte Dougal fest. 209
König David nickte. »Das war es, und das ist es. Sagen Sie mir, Mylord, wie viele Ihrer Geheimpolizisten halten sich da draußen auf?« Malcolm Dougal schwieg. Der König nickte. »Und da ich wußte, daß Sie mich nicht allein hierherkommen lassen würden, konnte ich nichts Verwerfliches darin sehen, ebenfalls ein paar Männer mitzubringen, vertrauenswürdige Wachen.« »Und Sir Giles?« fragte Malcolm. »Er ist der eigentliche Grund für dieses Treffen. Malcolm, das Budget sieht überhaupt nicht gut aus. Sir Giles braucht mehr Geld, oder die Regierung wird auseinanderbrechen.« »Erhebt mehr Steuern«, schlug Dougal vor. Sir Giles' Stimme war im Gegensatz zu seiner Erscheinung klar und fest, eine Rednerstimme, die einer der Hauptgründe für seinen Aufstieg im Parlament gewesen war. »Ich kann nicht mit gutem Gewissen höhere Steuern verlangen, Mylord. Wir haben im Augenblick die höchsten Steuern in unserer Geschichte. Aber jetzt, nach dieser geheimnisvollen Expedition nach –« Er stockte bei dem Namen. »Nach Makassar, und bei den immer größer werdenden Summen, die die Geheimpolizei verschlingt, sind über die Hälfte der Staatseinnahmen verschwunden. Bei derart hohen Steuern dürften wir eigentlich keine finanziellen Probleme haben – aber sie sind da. Und ich muß wissen, warum.« »Nein«, erwiderte Malcolm. »Ich meine, wir sollten es ihm sagen«, warf der König ein. 210
»Sire! Sie haben versprochen …« König David zuckte die Achseln. »Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, Malcolm, und ich werde es nicht brechen. Hier, setzen Sie sich und lassen Sie uns mit den Formalitäten aufhören. Es gibt eine ganze Menge zu besprechen. Würden Sie uns etwas zu trinken holen, Sir Giles?« König David saß in einem schweren Sessel vor einem offenen Kamin und winkte den beiden Männern, sich zu ihm zu gesellen. Er war von eher schmaler Statur, und obwohl seine Züge an sich gut geformt und hübsch waren, war sein Gesicht in jungen Jahren von einer Krankheit entstellt worden, daß die königlichen Kammerjunker alle Mühe hatten, ihn vor Auftritten in der Öffentlichkeit entsprechend herzurichten. Für dieses Treffen hatte er sich kein Make-up auflegen lassen, und die kleinen Narben gaben ihm ein etwas wildes Aussehen und unterstützten noch den entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. »Seine Majestät hat mir nichts gesagt«, erklärte Sir Giles, als er mit kleinen Gläsern und einer Flasche Grua herankam und sie auf einem Tisch neben dem Sessel des Königs absetzte. »Er hat mir nur gesagt, daß es für das Königreich lebenswichtig ist, daß Ihrem Amt auch weiterhin große Summen zur Verfügung stehen.« Sir Giles zögerte. »Ich bin ein loyaler Untertan Seiner Majestät, und ich anerkenne die Notwendigkeit, daß die Polizei unsere Neuerwerbungen konsolidiert, aber ich bin nicht bereit, für meine eigene Versklavung zu bezahlen, weder durch die Krone noch durch irgend jemand anders.« Dougal lachte. »Ich habe nicht die Absicht, die Bürger von Haven zu versklaven, Sir Giles. Ganz im Gegenteil …« 211
»Sie werden meine Bemerkung verzeihen, aber da wir nicht wissen, wohin das Geld geht, haben wir auch keine Beweise für Ihre Absichten …« »Die Arbeit ist lebenswichtig für das Wohl des ganzen Planeten«, warf König David ein. »Ich gebe Ihnen mein Wort.« »Und meins haben Sie auch«, fügte Dougal hinzu. »Das genügt mir nicht«, erwiderte Sir Giles. »Ganz und gar nicht.« »Ich verstehe.« Dougal musterte den Premierminister kalt. »Weder mein Wort noch das des Königs genügt also…« »Nein.« Der ältere Mann hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl.« Sie tranken. »Ich bin loyal gegenüber der Dynastie, aber auch gegenüber der Konstitution. Wenn Sie mir Ihre Geheimnisse nicht anvertrauen können, dann gehöre ich nicht zur Regierung, sondern zur Opposition.« »Sir Giles will zurücktreten«, erklärte der König. »Ich verstehe.« Dougal starrte in das prasselnde Feuer. Ohne Sir Giles würde die Koalition, aus der sich die Regierung zusammensetzte, zusammenbrechen. Die Koalition war unerläßlich. Oder nicht? Konnte der König auch ohne eine Regierung regieren? Malcolm schob den Gedanken betrübt von sich. Die Geheimpolizei war zwar sehr wirkungsvoll, aber sie würde nicht in der Lage sein, gegen ein aufgebrachtes Volk anzukommen. König Davids Vater hatte dem Parlament seine Rechte verliehen, Rechte, die nicht so einfach nichtig gemacht werden konnten. 212
Und eine Terrorherrschaft würde niemals das bringen, was Prinz Samuals Welt brauchte. Konnten sie es überhaupt schaffen? Malcolm rang sich zu einer schnellen Entscheidung durch. »Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen, Sir Giles. Und wenn Sie sie gehört haben, dann wird von jetzt an immer einer meiner Leute in Ihrer Nähe sein. Sollten Sie uns jemals verraten …« »Ersparen Sie mir Ihre Drohungen.« »Es sind keine Drohungen. Ich habe gehofft, Sie so überzeugen zu können, daß es besser für Sie wäre, wenn Sie die Geschichte nicht hören würden.« Sir Giles saß einen Moment schweigend da. »Fast nehme ich an, daß Sie guten Grund für Ihre Handlungsweise haben …« »Das habe ich.« »Trotzdem werde ich die Konstitution nicht aus einem Grund aufgeben, den ich nicht kenne. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich Ihr Geheimnis bewahren werde. Allerdings kann ich nicht versprechen, Ihnen zu helfen …« »Sie werden uns helfen, wenn Sie erst die Geschichte gehört haben«, fiel ihm Dougal ins Wort. »Das einzige Problem ist, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Er starrte ins Feuer. »Zu Königs Johns Zeit wurde Haven zum größten Einzelstaat auf Samual. Er konsolidierte eine Reihe von Fürstentümern und Stadtstaaten, und eine Weile sah es so aus, als könnte der Traum von einer einzigen Regierung auf diesem Planeten verwirklicht werden. Aber der nächste Schritt war Orleans, und die Orleanisten wollten sich uns 213
nicht anschließen. Die Kriege dauerten an. Schließlich entwickelten wir neue Industrien, und eine Vereinigung schien wieder möglich. Nur wurde alles für die Kriege vergeudet, und alle Bemühungen, die Republik von Orleans zu erobern schlugen fehl.« »Wir hätten sie fast geschlagen«, sinnierte König David. »Noch ein Feldzug …« »Fast«, unterbrach ihn Sir Giles. »Bis uns dieser verdammte Colonel MacKinnie am Blantern-Paß besiegt hat. Der Eiserne MacKinnie – Mylord, mir ist unsere Geschichte hinreichend bekannt. Was hat das alles aber mit dem Budget zu tun? Orleans ist jetzt eines unserer Herzogtümer …« »Es ist eins unserer Herzogtümer, weil die Imperialen gekommen sind und uns mit ihrer Marine geholfen haben, Orleans zu besiegen«, bemerkte König David ruhig. Malcolm nickte. »Genau. Die Imperialen haben sich mit Haven verbündet, und sie helfen uns, eine einheitliche Regierung auf Samual einzusetzen. Nichts und niemand auf diesem Planeten ist ihren Waffen gewachsen.« Er lachte bitter. »Nachdem wir also zehn Generationen davon geträumt haben, legt man uns jetzt die Vereinigung in den Schoß.« »Hauptsache, wir bekommen sie«, erwiderte Sir Giles. »Nur geschieht das langsamer, als mir lieb ist.« »Es dauert lange und kostet Geld«, erklärte Dougal. »Und das hat seinen Grund.« »Ja.« Die Stimme des jungen Königs war hart. »Unser Ziel ist es, den Planeten zu vereinigen, nicht aber, ihn zu 214
versklaven. Das werden nämlich die Imperialen noch früh genug tun.« »Sire?« Sir Giles setzte umständlich sein Glas auf den Tisch. »Die Imperialen sind Havens Verbündete. Wie können sie uns dann versklaven? Sie haben keine fünfzig Leute auf diesem Planten.« »Verbündete.« Dougals Stimme klang verächtlich. »Alle haben geglaubt, sie wären unsere Verbündeten, Sir Giles. Es stimmt, daß sie uns bei der Eroberung von Orleans geholfen haben, aber meine Agenten haben herausgefunden, warum. Sie wollen uns dazu benutzen, den Planeten zu vereinigen, um dann Kolonisten von anderen Welten herzubringen. Händler. Unbedeutende Bürokraten, die Aristokraten sein wollen und die unsere Adelsschicht werden wollen. Eine Regierung, in der wir wohl kaum etwas zu sagen haben werden.« Einen langen Augenblick war es still im Raum, und die einzigen Geräusche waren die Laute aus dem Wald und das Prasseln des Feuers. »Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht«, sagte Sir Giles schließlich. »Die Marineoffiziere benehmen sich doch nicht wie Eroberer. Sie kommen mir nicht wie Schurken vor.« »Sie sind noch viel gefährlicher als einfache Schurken.« Dougal sprach jetzt sehr schnell. »Sie sind nämlich Fanatiker. Die Imperiale Marine will die menschliche Rasse unifizieren, damit es nie wieder zu einem interstellaren Krieg kommen kann. Und wenn sie die Hälfte der Menschheit umbringen müssen, um Lysanders Titel als ›Imperator der Menschheit‹ zu rechtfertigen, so werden sie es tun.« 215
»Genauso, wie wir Samual durch Eroberung vereinigen wollen«, warf David ein. »Ich weiß es genau«, versicherte Dougal. »Ich kenne ihre Motive. Die gleichen Motive, die auch mich antreiben. Wäre ich ein Bürger von Orleans gewesen, dann hätte ich hoffentlich Verstand genug gehabt, einzusehen, daß eine Vereinigung notwendig war und mich um einen gewissen Status in dieser Union bemüht. Und das sollte auch unser Ziel für Samual innerhalb des Imperiums sein.« Die Stimme des Polizisten wurde vor verhaltenem Zorn lauter. »Und bei Gott, wir werden sie überlisten!« Sir Giles beugte sich vor. »Was – was haben Sie vor? Wir können doch nicht gegen das Imperium kämpfen …« »Nein. Wir würden nicht eine einzige Schlacht gewinen.« Dougal schüttelte den Kopf. »Aber trotzdem können wir unsere eigenen Herren bleiben. Denn sie haben Gesetze, Sir Giles. Sie haben eine Konstitution. Und das können wir für uns ausnutzen. Eine dieser Regeln lautet, daß Welten mit einer Raumfahrt einen viel höheren Status genießen als die anderen Welten mit eigener Raumfahrt haben die Kontrolle über ihre eigenen inneren Angelegenheiten und sind im imperialen Parlament vertreten –« »Raumfahrt? Aber das ist doch unmöglich«, protestierte Sir Giles. Plötzlich schien er zu verstehen, denn seine Augen wurden groß. »Sie wollen mit Hilfe der geheimen Fonds Raumschiffe bauen? Wie denn? Wir wissen nichts über Raumschiffe …« »Das ist das wirkliche Geheimnis«, erklärte Dougal vorsichtig. »Und es wäre mir lieber gewesen, wenn es auch 216
für Sie ein Geheimnis geblieben wäre. Es wird das seltsamste Geheimnis sein, das Sie je gehört haben und nur eine winzige Andeutung vor der Imperialen Marine würde genügen, all unsere Hoffnungen zunichte zu machen.« »Ich verstehe.« Sir Giles setzte sich wieder zurück und stützte das Kinn auf beide Hände. Die Adern auf den Handrücken hoben sich dunkel von seinem weißen Bart ab. »Ich nehme an, Sire«, wandte er sich an den König, »daß diese so teure Expedition nach Makassar etwas damit zu tun hat. Stimmt das? Und daß Sie erwarten, daß diese Leute auf ihrer Reise in den Raumschiffen das Geheimnis der Raumfahrt ausspionieren und zurückbringen können?« Nicht schlecht, dachte Dougal. »Ja.« »Das kann nicht funktionieren«, widersprach Sir Giles. »Sire, Mylord, Ihnen fehlt das technische Hintergrundwissen. Es ist zwar schon eine ganze Weile her seit meiner Ausbildung zum Techniker, aber eins kann ich Ihnen sagen: Es gibt keine Werkstatt auf ganz Prinz Samual, die ein solches Ding bauen könnte, selbst wenn uns die Imperialen ungehindert auf ihren Schiffen mitfahren ließen. Uns fehlen die Grundwerkzeuge, und wir wissen auch nichts von den eigentlichen Problemen. Dieser Plan ist der reinste Wahnsinn!« »Das ist nicht alles«, warf König David ein. »Wir hoffen auf mehr. Wir hoffen, daß unsere Expeditionsgruppe, die nach Makassar unterwegs ist, mit der unbezahlbarsten Fracht zurückkehren wird, die je nach Prinz Samuals Welt gekommen ist. Die Fracht heißt Freiheit.« 217
»Wie das?« »Unser Geheimnis ist sehr zerbrechlich«, erklärte Dougal. »Und nicht nur das, die Imperialen selbst kennen sogar das Geheimnis von Makassar …« »Ich höre immer nur Geheimnis«, unterbrach ihn Sir Giles. »Sie scheinen nicht zu verstehen. Ihre Expedition ist kein Geheimnis. Die Marine weiß doch, daß Ihre Männer dort sind. Und was ihren Befehl betrifft, die ›Geheimnisse‹ der Marineschiffe auszuspionieren, wäre der Kommandant darüber höchstens belustigt, wenn er es erfahren würde. Mylord, Sie scheinen keine Ahnung von den Schwierigkeiten zu haben, die damit zusammenhängen! Es wird noch gut und gern hundert Jahre dauern, bis wir in der Lage sind, Raumschiffe zu bauen …« »Vielleicht«, fiel ihm Dougal ins Wort. »Vielleicht auch nicht.« Es herrschte unheilvolles Schweigen im Raum, während Dougal kalt das Gesicht des Premierministers studierte. »Sie wollen also alles wissen? Sie lassen mir kaum eine Wahl. Entweder ich erzähle Ihnen alles, oder ich lasse Sie töten.« »Lord Dougal, das verbiete ich!« Die Stimme des Königs war scharf und laut. »Ich habe absichtlich die Augen verschlossen vor einer ganzen Reihe von Dingen, die Ihre Polizei in meinem Namen unternommen hat, aber bei Gott, ich werde nicht hier ruhig sitzen und zuhören, wie Sie meinem Premierminister drohen!« Dougal spreizte die Hände. »Ich sagte, ich habe zwei Möglichkeiten, Sire.« Und noch eine dritte, dachte er bei sich. Meine Männer warten draußen, und der König hat nur 218
ein paar Wachen hier … »Ich wußte nicht, daß Sie illoyal sind«, meinte der König. »Sie können Ihre Gedanken nicht vor jemandem verbergen, der am Hof aufgewachsen ist.« »Ich bin loyal, Sire«, protestierte Dougal. »Loyal gegenüber Prinz Samuals Welt, gegenüber Haven, der Dynastie und Ihnen.« »In dieser Reihenfolge.« »Ja, Sire. In dieser Reihenfolge.« Er stand auf, ein kleiner Mann im Kilt, unbewaffnet und mit einem runden Gesicht, das fast komisch wirkte, und doch ging eine spürbare Drohung von ihm aus. »Majestät, Sir Giles, ich werde alles tun, um dieser Welt die Freiheit zu bewahren! Wir erlauben nicht, daß wir von Fremden regiert werden! Prinz Samuals Welt ist seit Jahrhunderten unsere Heimat, und wer gibt Sparta oder der Erde das Recht, uns zu regieren?« Er kämpfte sichtlich mit seiner Selbstbeherrschung. »Das Geheimnis, Sir Giles?« Dougal wurde lauter. »Es ist einfach, so einfach, daß ein einziges, achtlos dahingeworfenes Wort unseren großen Plan vereiteln kann.« Er lächelte verzerrt. »Und da sollte ich eigentlich nicht so schreien, nicht wahr?« Er nahm wieder Platz und fuhr mit gesenkter Stimme fort. »Auf Makassar befindet sich ein bestimmtes Gebäude, ein Gebäude, das die Bewohner des Planeten als Tempel verehren. Aber es ist mehr als das. Im Innern gibt es nämlich eine alte Bibliothek …« Sir Giles hörte mit wachsendem Entsetzen zu. Es lag auf der Hand, daß sich weder Dougal noch der König des 219
Problems bewußt waren, das sie sich da gestellt hatten. Als der Polizist mit seinem Bericht fertig war, goß er sich ein und überlegte konzentriert. Wie sollte er es ihnen nur beibringen? So einfach es war, er konnte es nicht. »Nun? Verstehen Sie jetzt? Werden Sie uns helfen?« fragte König David eifrig. »Sire, Ihr Anliegen ist edel und gerecht«, begann Sir Giles. »Und sicher könnte das Wissen, das Ihre Expeditionsgruppe nach Samual zurückbringen wird, unsere Welt verändern. Aber –« Er zögerte und konnte Dougals eisigen Blick förmlich spüren. »Zum Bau eines Raumschiffes gehört mehr als nur das Wissen. Sie werden zugeben müssen, daß ich besser über unsere technischen Fähigkeiten informiert bin als Sie. Und selbst mit genauen Plänen werden wir meiner Meinung nach nicht in der Lage sein, ein Schiff zu bauen.« »Wir könnten es immerhin versuchen«, warf Dougal ein. »Und dahin ist also auch das ganze Geld verschwunden.« »Mit einem großen Teil des Geldes haben wir die Expedition finanziert«, erklärte Dougal. »Der Rest ist in die Erweiterung der Werften und in die Errichtung einer geheimen Militärbasis in den Corliss-Grant-Bergen investiert worden. Wir haben viele junge Wissenschaftler dorthin geschickt. Sie kennen doch auch jene Erzählungen von Kommunikation ohne Telegraphendrähte … nun, so weit sind wir jetzt schon. Die Anlagen sind zwar noch ziemlich unfertig, aber sie funktionieren. Auf den Werften werden 220
Versuche mit Metall durchgeführt, weil wir, wie es offiziell heißt, Metallfährzeuge bauen wollen, die unter Wasser fahren können – aber wenn es uns gelingt, sie wasserdicht zu machen, dann wird es uns auch gelingen, sie luftdicht zu machen, damit sie dem Lichtäther standhalten können. Sir Giles, wir tun alles, was wir können …« Ich werde nachgeben, dachte Sir Giles. Aber nicht aus den Gründen, an die ihr denkt. Es ist unmöglich, ein Raumschiff zu bauen. Doch wenn ich das sage, dann werden sie mich töten. Darin würden die königlichen Wachen und Dougals Geheimpolizei übereinstimmen. Es gibt nur einen Weg, wie ich diese Hütte lebend verlassen kann. Er erhob sich und ging hinüber zum Schreibtisch. »Das hier ist mein Rücktrittsgesuch«, sagte er, zerriß das Papier und warf es ins Feuer. »Ich werde Ihnen helfen. Aber Sie werden mir die Bemerkung verzeihen, daß ich nicht überzeugt bin, daß Sie Erfolg haben werden …« »Das ist keiner von uns«, entgegnete Dougal. »Wir können noch nicht einmal sicher sein, daß MacKinnie überhaupt zurückkommt. Aber ohne ihn gibt es gar keine Hoffnung.«
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14 Batav Der Hafen von Batav war mit Steintreppen gesäumt, die hinunter zum Wasser führten. Er wurde von großen Kriegsschiffen patrouilliert, die die Flaggen des Tempels gehißt hatten und in deren Bug safrangelb gekleidete Akoluthen standen, um Neuankömmlinge herauszufordern. Die Hafeneinfahrt wurde von einer massiven Kette abgeschlossen, die über gewaltige Flöße an den Enden eines großen Mastes lief. Loholo erklärte den Patrouillenbooten, daß sie von Jikar kamen, erwähnte aber auf MacKinnies Anordnung hin mit keinem Wort, daß ihr Schiff von Männern von den Sternen kommandiert wurde. Eins der Boote eskortierte sie dann bis hinter die Kette. Die Subao glitt mit eingestrichenen Segeln schwerfällig voran, und die Männer an den Rudern hatten alle Hände voll zu tun. Unter dem Schiff konnte man den Grund sehen, und Gruppen von Männern standen bis zu den Hüften im Wasser, um Schlamm aus dem Hauptkanal zu schöpfen. »Sträflinge«, wußte Loholo zu berichten. Man legt sich hier besser nicht mit den Priestern an. Aber wenigstens tun sie etwas, um den Hafen offenzuhalten. Der beste Hafen auf ganz Makassar.« Man wies ihnen ein graues Steindock an, in das eine Vertiefung geschlagen worden und das mit Holzpflöcken 222
versehen war, so daß ein Schiff trotz der starken Gezeiten sicher angelegt werden konnte. In der Nähe war eine andere Gruppe von Sträflingen damit beschäftigt, mit Hilfe von Pumpen den Schlamm in Lastkähne zu befördern. Ein anderer Schlepper war bereits beladen und nahm Kurs auf das Meer. »Die Tempelpriester haben hier alles unter ihrer Kontrolle«, erklärte Loholo, nachdem sie die Subao angelegt hatten. »Einer ihrer jüngeren Diakone wird sicher gleich auftauchen, um Ihnen ein Angebot für Ihre Waren zu machen. Am besten halten Sie ihn so lange hin, bis Sie wissen, was die einheimischen Händler für die Ladung bezahlen. Einen Teil der Fracht werden Sie allerdings an Seine Heiligkeit verkaufen müssen, sonst werden Sie diesen Hafen nicht mehr verlassen.« MacKinnie stand auf dem Achterdeck der Subao und beobachtete den Verkehr auf der Hafenstraße vor ihm. Hier herrschte mehr Betriebsamkeit als in Jikar, doch nicht in dem Ausmaß, wie Nathan es für eine so große Stadt wie Batav erwartet hätte. Es lagen auch nicht viele Schiffe im Hafen. Vier Anlegeplätze weiter wurde gerade ein Frachtkahn entladen, und erst nach einem großen Zwischenraum lag das nächste Schiff fest. Hoch über dem Hafen stand ein kreideweißes Gebäude, auf dem die Flaggen des Tempels flatterten, große rot und blaue Kreuze auf schwarzem Untergrund und einem stilisierten Bild des Tempels. Die frühere imperiale Bibliothek war aus Granit erbaut worden und Teil des Palastes des Vizekönigs gewesen. Entlang des Gesimses entdeckte MacKinnie Wasserspeier und Engel, und korinthische 223
Säulen stützten die vier Säulengänge in den Haupthimmelsrichtungen. Der Colonel hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen und fand das Gebäude trotz seiner Häßlichkeit imponierend. »Das ist der Tempel«, vernahm er Bretts Stimme. Der Sänger stand auf der gegenüberliegenden Seite des Achterdecks und wurde von Kleinst und Longway begierig ausgefragt. »Gott selbst hat ihn vor dem Untergang erbaut, damals als wir alle hier Menschen von den Sternen waren, und Er hat all Seine Weisheit und Sein Wissen in den Tempel gelegt. Doch die Menschen von Makassar waren stolz und sagten, daß sie Gott nicht brauchten, da sie selbst alles wußten. Der Zorn Gottes traf den Tempel – seht, ihr könnt es dort noch sehen. Auf dieser Seite wurde ein Teil des Tempels wiederaufgebaut. Doch bevor Er ihn ganz zerstören konnte, erinnerten Ihn an das, was Er unserem Volk versprochen hatte, und Er verschonte den Tempel, nahm uns aber das Wissen, wie man die große Weisheit im Tempel benutzen kann. Nur die Priester wissen es, aber sie wissen nicht, wie man die Worte der Engel übersetzt, wenn sie sie überhaupt zum Sprechen bringen können.« Brett rümpfte die Nase. »Das werden euch jedenfalls die Tempelpriester erzählen. Früher einmal hat es in jeder Stadt Anhänger und Gläubige gegeben, und ihre Diakone und Akolythen kontrollierten ganze Fürstentümer und Königreiche. Die wahren Christen, wie zum Beispiel die in Jikar, waren meistens nur eine kleine Gruppe, die gezwungen war, sich an geheimen Orten zu versammeln. Jetzt aber kontrollieren die Tempelpriester praktisch nur noch Batav, und heute sind es ihre Anhänger, die sich im 224
geheimen treffen und um ihr Leben fürchten müssen. All das soll im Zeitraum von zwei Menschenleben passiert sein, so habe ich mir sagen lassen.« »Was könnte denn der Anlaß für eine solch rasche Wandlung der religiösen Werte einer ganzen Gesellschaft gewesen sein?« fragte Longway interessiert. »Meinen Beobachtungen nach brauchen solche Veränderungen sehr viel Zeit, es sei denn, sie sind eine Begleiterscheinung gewisser technologischer Veränderungen. Wir selbst haben einen vergleichbaren Zusammenbruch der etablierten Kirche auf Prinz Samuals Welt erlebt, aber der war eher auf Pulver, Disziplin und Geld als auf alles andere zurückzuführen.« »Ich weiß es nicht, Sternenmann«, entgegnete Brett. »Aber seit vielen Jahren geschehen bei uns seltsame Dinge. Die Sommer sind kürzer, die Winter kälter, und die Präriebewohner ziehen in die Küstengebiete und greifen die Städte an, weil die Ebenen sie und ihre Herden nicht mehr ernähren können. Die Leute sagen, daß Gott sich von Makassar abgewandt hat.« »Ach so«, meinte Kleinst vielsagend. Alle drehten sich zu dem schmalen Wissenschaftler um, der zum erstenmal, seit sie an Bord des Schiffes gegangen waren, fast normal erschien. »Natürlich. Die Umlaufbahn von Makassar ist sehr exzentrisch, und auch seine Axialneigung ist ziemlich groß. Beide haben Generationen lang für ein annehmbares Klima auf der südlichen Hemisphäre gesorgt, aber jetzt verschieben sich langsam die Phasen. Die Winter hier werden immer schlimmer werden, bis es schließlich der Norden ist, der unbewohnbar ist. Kein Wunder, daß es die Barbaren zum Äquator zieht.« 225
»Und mit ihrer Abwanderung in die gemäßigteren Gebiete zerstören sie natürlich auch die Zivilisation dort«, fügte Longway hinzu. »Und dies resultiert vielmals in einer inneren Stärkung der herrschenden Kirche. Aber ich weiß von Fällen, in denen die Zivilisation, wenn es bereits zu einer Spaltung der Kirche gekommen war, viele dazu brachte, sich von den Kirchen abzuwenden oder sich auf der Suche nach Rettung nach neuen umzusehen.« Schweigend sahen sie zu, wie das Wachschiff Sträflinge an Bord nahm. Mary Graham kam mit Wein und Chickeest an Deck. Einer der Wachleute trug das schwere Tablett für sie. Auf der Reise hatte sie ein erstaunliches Geschick in der Zubereitung von warmen Mahlzeiten entwickelt. Sie hatte ein paar junge Makassarer angelernt und war ziemlich schnell zum absoluten Küchenchef avanciert. »Ist das da der Tempel?« Sie deutete auf das riesige Gebäude, das das Stadtbild beherrschte. »Ja, Mylady«, gab Brett Auskunft. »In den Zellen dieses Gebäudes sind fünfhundert Priester und Diakone sowie zweitausend Wachen untergebracht. Bisher allerdings hat ihnen ihre Armee im Kampf gegen die Wilden kaum geholfen.« »Aber was können die Präriebewohner denn gegen die Tempelwachen schon ausrichten?« wollte Mary wissen. »Sie haben mir doch gesagt, daß sie nicht genügend ausgerüstet sind, während der Tempel doch reich sein muß, wenn er sich so viele Soldaten leisten kann.« »Sie kämpfen aber nicht so, wie es der Tempel möchte«, 226
erklärte Brett. »Die Wilden rennen vor den schwerbewaffneten Männern davon, bis die Pferde der Tempelmänner müde sind. Dann kommen sie mit Seilen zurück, reiten um die Männer in Eisen herum, binden sie an ihre Pferde und ziehen sie dann zu Boden. Oder die Wilden weichen seitlich aus, warten, bis die eisernen Angreifer vorbei sind und greifen dann von hinten an.« »Beweglichkeit gegen schwere Kavallerie«, murmelte MacKinnie. »Und die Tempelwachen werden von den Mauern weggelockt, so daß sie sich nirgendwo ausruhen oder ihre Truppen neu formieren können.« Er nickte. »Ich mache mir Sorgen um den Tempel, Akademiker. Können die Priester denn diese Stadt und ihr Heiligtum gegen den Feind halten?« »Nicht mehr lange«, antwortete Longway. »Wenn ich von meinen Erfahrungen auf dem Südkontinent ausgehe, dann werden die Bewohner dieser Stadt jetzt, da sie in ihrer Kirche nicht länger die Stimme Gottes sehen, bald des Kämpfens müde sein. Die Priester werden nicht mehr genug Männer sammeln können, um diese Mauern zu halten, wenn der Feind vor den Toren bleibt.« MacKinnie nickte. »Es ist nicht das erstemal, daß ich erlebe, wie Männer ihren Kampfeswillen verlieren. Sie beginnen, sich um ihre Bequemlichkeit zu kümmern und vernachlässigen dabei ihr Leben, und bald haben sie beides verloren. Ich glaube, wir sind gerade in einem kritischen Augenblick eingetroffen. « »Wie schrecklich«, mischte sich Mary ein. »All diese Menschen. Was wird aus ihnen werden?« 227
Brett holte tief Luft, bevor er antwortete. »Die Männer werden getötet werden. Die hübschen Frauen werden verschleppt, und wenn sie Glück haben, finden sie einen Platz unter den Frauen irgendeines Kriegers. Die kleinsten Jungen werden vielleicht in einen Clan aufgenommen und als Wilde aufgezogen. Die übrigen, all jene, die nicht gekämpft haben, als die Mauern eingenommen wurden, werden zum Vergnügen der Stammesfrauen sterben.« Mary erschauerte. »Gibt es denn nichts, was wir hier tun können, Händler?« »Ich weiß nicht, ob mir die Stadtbewohner leid tun sollten, Mylady«, wandte Brett ein. »Sie haben noch nicht miterlebt, was sie mit Präriebewohnern anstellen, die ihnen in die Hände fallen. Das Leben hier draußen ist hart, und die Männer tun, was sie tun müssen.« Sie wurden von Stark unterbrochen, der mit zwei Wachleuten am Ende des Piers Posten bezogen hatte. »Wir bekommen Gesellschaft, Sir«, meldete er. »Aber keiner von diesen Diakonen, nach denen ich Ausschau halten sollte. Ich würde sagen, sie sehen eher nach Zivilisten aus.« Er deutete auf den Anfang des Piers, wo zwei Männer aufgetaucht waren, die unverkennbar Magnaten waren. Sie wurden von sechs schwerbewaffneten Männern begleitet. »Soll ich die Wachen herauskommen lassen?« wollte Hal wissen. »Nein, aber laß alle verfügbaren Leute hinter den Luken Posten beziehen und diese beiden hier stehen. Wenn du die Leute postiert hast, komm zurück. Aber sei vorsichtig; ich möchte nicht unnötig Ärger heraufbeschwören.« MacKinnie sah zu, wie die kleine Gruppe langsam näher kam. 228
Der Anführer war ein großer Mann und dünn wie ein Gerippe. Er hob die Hand, die Handfläche nach MacKinnie gerichtet. »Seien Sie gegrüßt«, begann er. »Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Überfahrt.« MacKinnie runzelte die Stirn. Er konnte den Mann verstehen, aber – plötzlich wurde ihm klar, warum er überlegt hatte: Der Fremde hatte ihn in der Imperialsprache angesprochen. »Kann mich irgend jemand von Ihnen verstehen?« Unvermittelt wechselte er in einen lokalen Dialekt über. »Friede. Seien Sie gegrüßt.« »Willkommen an Bord«, erwiderte MacKinnie, so gut ihm die Imperialsprache geläufig war. »Und was kann ich für Euer Gnaden tun?« Der Mann wandte sich an seinen Begleiter, wechselte einige schnelle Worte mit ihm und sah MacKinnie dann mit offensichtlicher Erleichterung an. »Dank sei dem Himmel, daß die Marine uns gefunden hat. Unsere Gebete sind endlich erhört worden. Als wir hörten, daß ein Schiff von Jikar eingetroffen sei, wagten wir kaum zu hoffen.« MacKinnie musterte die kleine Gruppe. Die beiden Führer waren beide groß und dunkel und sahen ganz anders aus als die Einheimischen, die MacKinnie bisher gesehen hatte. Ihre Wachleute dagegen waren ganz offensichtlich Einheimische, wahrscheinlich gemietete Kämpfer. »Kommen Sie doch bitte an Bord«, forderte MacKinnie sie auf. »Können wir Ihren Wachen vielleicht Wein und etwas zu essen anbieten.« »Ich danke Ihnen.« 229
MacKinnie nickte Todd zu und schickte ihn unter Deck, um Hal zu finden und die Erfrischungen für die Wachen vorbereiten zu lassen. Die beiden Sternenmänner kamen an Bord und wurden nach unten in MacKinnies Kabine geführt. Nachdem sie es sich bequem gemacht hatten und Wein gebracht worden war, stellten sie sich vor. »Ich bin Vater Deluca, und das hier ist Seine Lordschaft Hilfsbischof Laraine. Wir sind Vertreter Seiner Eminenz des Erzbischofs Casteliano, dem obersten Glaubensboten auf diesem einsamen Planeten. Es ist ein wahres Wunder, daß Sie uns gefunden haben.« »Ich verstehe nicht, Eure Exzellenz«, entgegnete Nathan. »Sie verfügen doch sicher über Mittel und Wege, die Marine jederzeit herzurufen?« »Nein, mein Sohn«, erklärte Bischof Laraine trübselig. »Die Wilden haben unseren Sender zerstört. Bruder Le Moyne hätte ihn vielleicht noch reparieren können, wenn sie nicht so gründlich gewesen wären, aber im Grunde können wir froh sein, daß wir mit dem Leben davongekommen sind. Zwei andere Mitglieder unserer Mission, ein Bruder und ein Priester, hatten weniger Glück. Gott gebe ihren Seelen Frieden. Wir haben es bis in diese Stadt geschafft, und jetzt sind wir hier, belagert von Wilden, haben kaum noch Gold, keinen Sender mehr und wagen es nicht einmal, diese Heiden über unsere wahre Mission aufzuklären. Ketzer werden hier verbrannt, und für solche hält man uns. Nicht, daß wir den Märtyrertod fürchten, aber unter den gegebenen Umständen würde das dem Glauben kaum nützen.« »Ich möchte Eurer Exzellenz nicht widersprechen«, 230
mischte sich Deluca ein, »aber wir haben es hier nicht mit Heiden zu tun. Sie glauben an alle Lehren der Kirche, nur wollen sie nicht die Autorität des Neuen Roms anerkennen. Allerdings glauben sie auch, von Gott inspiriert zu sein, und sie glauben an die Reliquien, die in ihrem Tempel aufbewahrt werden und daran, daß Gott zu ihnen aus dem Tempel spricht. Sie besitzen sogar Aufzeichnungen, die eine direkte Kontinuität zwischen ihren Bischöfen und den ersten Bischöfen von Makassar beweisen. Ich glaube, das Neue Rom würde beschließen, sie ohne neue Bestimmungen in die Kirche aufzunehmen, wenn sie sich nur der Autorität unterwerfen würden.« Der Bischof schüttelte den Kopf. »Es stimmt, was Vater Deluca sagt, aber es gibt keinen Weg, sie von ihren Illusionen zu befreien. Sie glauben wahrhaftig, daß sich in ihrem Tempel die Heilige Schrift befindet. Das ist gewiß nicht falsch, da im Tempel Kopien der Bibel aufbewahrt werden, aber sie halten ihren Tempel darüber hinaus für eine Quelle ewiger und fortgesetzter Offenbarung.« »Ich verstehe.« MacKinnie leerte sein Glas, während er überlegte, was er den beiden sagen sollte. Nathan hatte bisher noch keine Erfahrungen sammeln können, wie man Geistliche belog, da sich seine Kontakte mit ihnen auf die wenigen Begegnungen mit Militärpriestern beschränkt hatten, die mit ihm gedient hatten, und demgemäß war er nun etwas unsicher. Schließlich entschloß er sich für einen Kompromiß. »Ich sage es Ihnen nur ungern, Eure Exzellenz, aber unsere Anwesenheit kann Ihre Probleme nur teilweise lösen. Auch wir haben keinen Sender.« Er ging vorsichtig mit dem fremden Ausdruck um, sah aber 231
keine Reaktion. »Wir haben zwar Gold, und wir können auch dafür sorgen, daß Sie hier etwas sicherer sind, aber es wird einige Zeit dauern, bis wir Sie nach Jikar zurückbringen können. Die Zeit der Stürme kommt, und mein Kapitän hat mir erklärt, daß es zu dieser Jahreszeit unmöglich ist, nach Westen zu segeln. Wir sind auf der Hinfahrt in einen der Stürme von Westen geraten, und das Meer war zum Fürchten. Wie man mir gesagt hat, wird es sogar noch schlimmer.« Laraines Gesicht blieb ausdruckslos, während sich Vater Deluca halb erhob und dabei mit dem Kopf gegen die niedrigen Deckenbalken stieß. Mit Tränen in den Augen, die wohl ebenso auf die Enttäuschung wie auf den Stoß zurückzuführen waren, setzte er sich wieder. »Dann müssen wir also noch ein weiteres Jahr an diesem schrecklichen Ort bleiben«, seufzte er. »So Gott will«, entgegnete Laraine scharf. »Ihr Angebot, uns mit Geld auszuhelfen, ist sehr großzügig, Mylord. Seine Eminenz wird erfreut sein. Werden Sie uns begleiten und es ihm selbst sagen?« »Man hat mir gesagt, ich sollte warten, bis die Tempelleute gekommen sind, um meine Fracht zu begutachten«, gab Nathan zur Antwort. »Danach werde ich Seine Eminenz zu gern besuchen. Wofür halten Sie eigentlich die einheimischen Priester?« »Für Händler, die von den Wilden überfallen worden sind«, erklärte Deluca. »Wir haben schon daran gedacht, zu den Nomaden zu flüchten und zu versuchen, dort Menschen zu bekehren, aber wir sind nur wenige, und die Wilden hören nicht lange zu, bevor sie ihre Gefangenen 232
töten. Sogar der Tempel hat es aufgegeben, Missionare zu ihnen zu schicken. Seine Eminenz hat uns befohlen, bei ihm zu bleiben, bis wir sicher waren, daß es keinen Weg gibt, die Tempelpriesterschaft zu gewinnen.« Nathan nickte und füllte erneut sein Weinglas. Es war ihm nur recht, daß ihr Sender verloren war, denn sonst hätte er selbst ihn zerstören müssen. Es war nicht unbedingt nötig, daß die Marine zu derselben Zeit, in der sie mit Prinz Samuals Welt beschäftigt war, auch an den Tempel erinnert wurde. Aber vielleicht konnten diese Imperialen ganz nützlich sein. Zumindest würde er einiges von ihnen erfahren können. »Es ist Ihnen also nicht gelungen, die Tempelpriester davon zu überzeugen, daß ihre heiligen Reliquien nichts weiter als Überreste des alten Imperiums sind?« Deluca schüttelte den Kopf. »Wir haben extra Bruder Le Moyne mitgebracht, der Bibliothekswissenschaft und Physik studiert hat, weil wir hofften, sie würden sich von ihm überzeugen lassen, doch man läßt uns nicht zu ihren heiligen Reliquien vor. Nur die Priesterschaft darf sie berühren? Und wir, die Vertreter der wahren Kirche, werden wie Pharisäer abgewiesen.« Der Bischof lächelte. »In dieser Situation liegt eine gewisse, eh, Komik, Mylord. Ich meine, daß wir vom Zentrum der Religion dieses Planeten abgewiesen werden. Oder besser von dem, was früher einmal ihr Zentrum war, denn die Autorität der Priesterschaft nimmt merklich ab. Ich bin heute der Ansicht, daß wir es besser zuerst in Jikar versucht hätten, aber damals konnten wir das natürlich noch nicht ahnen.« 233
Hal klopfte an der Tür. »Sir, diese Diakone sind hier, um die Ladung zu begutachten. Sie wollen mit dem Kapitän des Schiffes und auch mit seinem Besitzer sprechen. Wir müssen eine Gebühr für die Hafenbenutzung entrichten, und außerdem wollen sie unseren ganzen Vorrat an Wein und Nahrungsmitteln kaufen.« Nathan erhob sich, wobei er umsichtig genug war, Kontakt mit den Deckenbalken zu vermeiden. Schmerzhafte Erfahrung auf der Reise hatten ihn gelehrt, vorsichtig zu sein. »Bitte entschuldigen Sie mich. Ich muß die Tempelvertreter begrüßen. Betrachten Sie die Annehmlichkeiten auf meinem Schiff als die Ihren, Eure Exzellenz«, fügte er mit einer Verbeugung hinzu. »Zeigen Sie sich als harter Geschäftsmann«, brummte der Bischof und entließ Nathan mit einer Handbewegung. Auf Deck fand MacKinnie drei feierlich gekleidete Tempeldiakone vor, die von zwei uniformierten Wachoffizieren begleitet wurden. Unten auf dem Pier warteten zehn Krieger in blauen und roten Uniformen, die mit silbernen Tressen besetzt waren. Die Hüte der Offiziere waren mit Federn geschmückt, und der Wachsergeant hielt einen Stock mit goldenem Knauf in der Hand. Angesichts der strammstehenden Männer und ihrer Waffen bestand kein Zweifel daran, daß der Tempel über eine gut ausgebildete Kampftruppe verfügte. Zumindest konnten sie Befehle befolgen, überlegte MacKinnie. Wieso war es ihnen dann, bei dieser Disziplin, nicht gelungen, die Wilden zu schlagen? Wahrscheinlich waren sie in ihren Taktiken zu unbeweglich, schloß er, als er an Vanjynk und das Gefecht mit den Piraten dachte. 234
Einer der Offiziere trat aus der Gruppe um Captain MacLean und Loholo heraus. »Sind Sie der Besitzer dieses Schiffes?« wollte er wissen. MacKinnie nickte. »Eure Exzellenz, Sindabaya, Junior Erzdiakon des Tempels der Wahrheit«, fuhr der andere fort, worauf sich einer der grau gekleideten Männer zu Wort meldete. »Friede und seid gegrüßt. Es ist üblich, sich vor mir zu verbeugen, wenn ich den Segen spreche, Händler. Sind Sie nicht mit den angemessenen Umgangsformen vertraut, oder sind Sie einfach ein Heide?« »Ich bitte um Entschuldigung«, verteidigte sich MacKinnie. »Meine Gedanken waren gerade bei der Misere unserer Zivilisation und nicht bei den naheliegenden und so viel wichtigeren Dingen.« Er verbeugte sich und empfing daraufhin ein zweites Mal den Segen des Erzdiakons. »Ich entschuldige, Händler. Wir haben Sie noch nie in Batav gesehen, und als wir Ihren Kapitän das letzte Mal getroffen haben, hatte er noch sein eigenes Schiff. Was ist geschehen?« »Piraten, Eure Exzellenz. In ganz Jikar sind nur noch wenige Handelsschiffe zu finden und genausowenig Händler, die in der Lage sind, eines zu kaufen, denn die Armee von Jikar hat alle Waren für die große Expedition gesammelt. Sie beabsichtigt, sich einen Weg durch die Wilden zu schlagen, bevor man die Flotte losschickt, um die Piratennester auszuheben.« Der Offizier, der vorher gesprochen hatte, sah hastig auf, um sich dann leise mit einem anderen Diakon zu 235
unterhalten. »Jikar ist nicht groß genug, um eine solche Armee oder eine so große Flotte aufzustellen«, meinte er dann tonlos. »Sicher, das stimmt, Sir«, gab MacKinnie zu. »Aber die Gilden haben sich mit anderen Städten verbündet, und viele der Menschen, die in den Ebenen oder den Bergen gelebt haben, sind nach Jikar geflohen, weil sie sich von dort Beistand erhoffen. Durch Zufall ist es der Flotte gelungen, eine Reihe von Piratenschiffen einzunehmen, die sich zu nahe in den Hafen gewagt haben und bei Ebbe aufgelaufen sind. Nach dem Gefecht auf dem Sand war das Wasser der Gezeiten zweimal rot. Die Gilden haben jetzt eine große Flotte, aber nicht genug Leute, um die Schiffe zu bemannen. Wenn ihr Krieg zu Land beendet ist, werden sie junge Männer zu Seeleuten ausbilden, und es heißt, daß eine Flotte von Handelsschiffen unter dem Schutz von fünfzig Kriegsschiffen nach Norden, vielleicht auch nach Osten aufbrechen soll. Doch was nützt es mir, wenn ich mit so vielen Schiffen segele? Wenn so viele Güter angeboten werden, fallen die Preise. Jetzt dagegen, wo noch keine Schiffe von Jikar kommen, ist der Handel günstig, habe ich mir gedacht, und meine Freunde werden mich nicht vergessen, wenn die große Flotte kommt. Zudem hatte man mir gesagt, daß der große Tempel, das Haus der Weisheit, in Not sei, und so wollte ich ihm mit meiner Ladung und Nahrungsmitteln zu Hilfe kommen. Ich werde alles dem Tempel verkaufen und nur behalten, was ich brauche, um meine Männer zu ernähren, und was ich dafür verlange, ist ein Hungerlohn im Vergleich zu dem, was es mich gekostet hat, sie herzubringen.« 236
Die grau gekleideten Männer begannen, sich leise zu bereden. Schließlich ergriff der Anführer das Wort. »Wir erkennen Ihr Mitleid an. Was haben Sie für den Tempel an Bord?« Trotz MacKinnies bekundeter Großzügigkeit dauerte es Stunden, bis sie sich über den Preis für die Ladung geeinigt hatten. Die Diakone waren so daran gewöhnt, zu handeln, daß sie selbst jetzt noch feilschen mußten. Währenddessen inspizierten ihre Offiziere das Schiff, spähten in die Frachträume und überprüften die Decks. Die Priester notierten die Menge der Nahrungsmittel an Bord und begannen augenblicklich eine hitzige Diskussion, als MacKinnie ihnen erklärte, wieviel er davon für seine Leute brauchen würde. Sie drängten darauf, daß er dem Tempel mehr lieferte, als beabsichtigt. Aus ihrem Verhalten schloß Nathan, daß ihre Situation ernster war, als sie zugeben wollten. »Sie müssen ziemlich verzweifelt sein«, flüsterte Longway. »Ich habe mit einem der Wachmänner gesprochen. Sie holen alles Eßbare aus den Schiffen, die hier einlaufen – und mit jedem Monat werden es weniger.« Schließlich kam man doch zu einer Einigung, und eine Gruppe von Tempelsklaven schwärmte unverzüglich an Bord, um das wegzutragen, was die Priester gekauft hatten. Die ganze Aktion wurden von den Soldaten überwacht, die jeden nach gestohlenen Lebensmitteln oder nach Waffen durchsuchten. Die Diakone ihrerseits beobachteten die Soldaten und notierten auf Schiefertafeln, was mitgenommen wurde und was an Bord blieb, wieviel MacKinnie blieb, wie viele Sklaven an Bord kamen und wie viele das 237
Schiff wieder verließen. Als auch die letzten Waren an Land waren, gesellte sich Sindabaya zu MacKinnie und seinen Leuten. »Wir bewachen mehr als nur den wahren Glauben«, begann der Priester und deutete auf die Stadt und den Hafen. »Solange unsere Aufzeichnungen bestehen, ist der Tempel die Quelle der Weisheit und Hoffnung für die Menschen auf diesem Planeten gewesen. Wenn andere Städte fallen, verfügen wir über die Mittel, sie wiederaufzubauen. Aber wenn der Tempel fällt, woher soll dann das Wissen kommen? Als Gott Menschen von den Sternen hierhergebracht hat, hat Er den Tempel errichtet, um über sie zu wachen und ihnen die Wahrheit zu geben. Den Tempel zu schützen, das ist unsere Aufgabe, und wir werden nicht versagen.« MacKinnie, der zusah, wie ein Offizier einen der Sklaven an seinen Platz in den Reihen zurücktrieb, schwieg. Als Sindabaya Nathans Ausdruck bemerkte, verzog er das Gesicht. »Die Welt hat sich verändert. Früher gingen die Menschen singend an ihre Arbeit. Schiffe brachten Reichtümer, die zu den Stufen von Gottes Tempel niedergelegt wurden. Jetzt kommen immer weniger Schiffe, und draußen vor den Mauern warten die Wilden, und meine Männer schlagen vor meinen Augen die Sträflinge. Aber es gibt keinen anderen Weg! Ohne Schläge arbeiten sie nicht, und die Arbeit muß getan werden! Der Tempel muß gerettet werden!« Er wandte sich der Gruppe zu, hob segnend die Hand und betrachtete sie noch einen Moment intensiv, bevor er dann das Schiff verließ. Deluca kam vorsichtig auf das Achterdeck, während MacKinnie zusah, wie die Tempelleute die schwerbelade238
nen Sklaven und Ayuks über die gepflasterten Straßen auf die Warenhäuser zutrieben. »Jetzt, nachdem sie das Schiff inspiziert haben, dürfen Sie von Bord gehen. Werden Sie nun dem Erzbischof einen Besuch abstatten?« wollte Deluca wissen. MacKinnie nickte und wählte dann Longway, Kleinst und Todd zu seiner Begleitung aus. Deluca versicherte ihnen, daß seine eigene Wache genügen und sie nach der Unterredung auch wieder zum Schiff zurückbegleiten würde. »Die Wache ist nötig«, erklärte Deluca, »denn auf den Straßen ist man nicht mehr sicher. Diebe haben sich zu großen Banden zusammengeschlossen und greifen jeden an, der unbewaffnet ist. Sie machen sogar vor bewaffneten Passanten nicht Halt. Auf unsere eigenen Wachen kann man sich nur verlassen, wenn sie zusammen sind, obwohl es doch nichts zu stehlen gibt und man mit dem erbeuteten Gold auch nichts kaufen kann. Die Stadt hat keine Hoffnung mehr für die Zukunft. Nur der Tempel hat noch den Willen zu kämpfen. Die Bewohner dieser Stadt haben früher einmal die Welt regiert. Heute werden sie vom Tempel regiert.« Während sie die breite Hafenstraße entlanggingen, betrachtete MacKinnie die leeren Werften, Lagerhäuser, deren Tore weit offenstanden, die vielen Bettler die überall waren und Massen von griesgrämigen Männern, die früher einmal Hafenarbeiter, Seeleute, Ladenbesitzer oder Farmer vor den Mauern der Stadt gewesen waren. Stadteinwärts war es kaum besser. Sie gingen durch enge, verschlungene Gassen, die von fast leeren Läden gesäumt wurden. Auf 239
den Straßen lagen Männer in Lumpen herum, und oft versperrten sie den Weg. Das Gewirr der Gassen führte auf breitere Straßen, in deren Mitte gepflasterte Gräben liefen. Sie waren teilweise mit Abfällen gefüllt, doch für ein so primitives System war es erstaunlich wenig. »Die Männer von der Tempelwohlfahrt bringen den Abfall weg«, erklärte Deluca, »und waschen in den wenigen trockenen Wochen im Jahr die Abwässer fort. Es regnet hier fast täglich heftig, aber die Regenfälle dauern nie lange an. Batav ist die sauberste Stadt auf ganz Makassar.« MacKinnie mußte an Jikar denken, das tagtäglich von den Lehrlingen der Gilden ausgefegt wurde, doch er entgegnete nichts. Batav war mit Sicherheit sauberer, als man es von einer so primitiven Stadt erwarten würde, jedenfalls sauberer als die von Unrat überquellenden Straßenlabyrinthe auf dem Südkontinent. Unterwegs begegneten ihnen Stadtbewohner, die zum Teil durch die ebenerdigen Geschäfte streiften, obwohl es nicht viel zu kaufen gab. Über der Tür eines jeden Ladens hing ein großes Kruzifix und ein Mobile, das den Tempel darstellen sollte und von dem Muscheln und andere klingende Dinge hingen. Die meisten Bewohner waren klein und dunkel, es gab allerdings auch eine Reihe von großen, blonden Männern wie Vanjynk. Der größte von ihnen war aber immer noch kleiner als MacKinnie und die beiden Priester, und ab und zu drehte sich jemand um, der neugierig auf die Gruppe starrte, bevor er sich wieder abwandte und ins Leere sah. 240
Einmal entdeckte MacKinnie eine Gruppe von uniformierten Tempelwächtern, in deren Mitte ein leuchtend gelb gekleideter Mann marschierte. »Ein Steuereintreiber«, antwortete ihm Deluca auf seine Frage nach dem Fremden. »Es sind keine richtigen Priester, da diesen nicht erlaubt ist, die Bevölkerung direkt auszupressen. Also bedienen sie sich eines Tricks und üben Ämter wie das des Steuereintreibers aus, bis sie schließlich ihr letztes Gelübde ablegen.« Sie hatten einen kleinen Hof erreicht, hinter dem sich ein massives Gebäude aus Stein und Holz erhob. Zwei Krieger kamen heran, als sie den Bischof erkannten, um die Eisentore zu öffnen. Dann kehrten sie auf ihre Posten zurück, wo sie gleichgültig an den Torpfeilern lehnten. »Ihnen steht noch für zwei Wochen Lohn aus«, stellte Deluca fest. »Es ist seltsam. Viele Menschen in dieser Stadt haben nichts zu essen, und man sollte glauben, daß sie sich über Arbeit freuen würden, wenn sie zu essen und wenigstens etwas Geld bekommen, doch immer mehr leben von der Tempelwohlfahrt, arbeiten in den Straßen, wenn sie überhaupt arbeiten und lehnen ehrliche Arbeit ab. Die Stadt hat ihren Lebensmut verloren.« MacKinnie nickte. Die Wilden standen vor den Toren, aber die Bewohner hielten sich entweder bereits für verloren, oder sie weigerten sich, darüber nachzudenken. Nur der Tempel hielt den Feind auf Abstand und sorgte für so viel Kampfesmut, wie Batav eben aufbringen konnte. Nathan bezweifelte, daß die entschlossenen Tempelanhänger noch lange durchhalten konnten. Das Innere des Hauses war spärlich eingerichtet und 241
spiegelte sowohl den Mangel an Mitteln wider wie möglicherweise auch das asketische Wesen des Erzbischofs. MacKinnie wurde in eine große Halle geführt, wo Seine Eminenz in ärmlicher Pracht vor einem Feuer saß und in die erlöschenden Flammen starrte. »Wie wir vermutet haben, Eure Eminenz«, begann Laraine, »kommt das Schiff von Westen. Und mehr noch, als wir zu hoffen gewagt haben: Es ist mit Männern des Imperiums bemannt, obwohl sie allerdings ihrem Akzent nach aus einem Teil kommen müssen der mir unbekannt ist. Eine Kolonie?« fragte er, an MacKinnie gewandt. »Ich habe auch nicht nach Ihrer Herkunft gefragt, als ich Ihnen meine Hilfe angeboten habe, Mylord«, erwiderte MacKinnie. »Ist es nötig, über die meine zu sprechen? Das Imperium umschließt viele Welten, und die Bürger der einen haben mehr Glück als die anderer. Aber trotz der Verachtung, die das Imperium meiner Welt entgegenbringt, sind es mein Schiff und mein Gold, die Ihnen das Leben retten können. Vielleicht können wir Ihnen sogar bei der Erfüllung Ihrer Mission helfen, derentwegen Sie hergekommen sind.« Deluca schnappte nach Luft, aber bevor er noch etwas sagen konnte, mischte sich der Erzbischof ein. »Er spricht gut. Laß ihn fortfahren, denn oft schickt Gott Hilfe in den seltsamsten Verkleidungen. Unsere Arbeit dient den Seelen aller Menschen.« Der alte Mann deutete auf einen Stuhl. »Ich nehme an, daß Sie über keine Möglichkeit verfügen, die Marine um Beistand zu rufen?« »Man hat uns nicht erlaubt, ein solches Gerät mitzunehmen, Mylord.« 242
Der Erzbischof nickte. »Eine Kolonie also.« Wieder nickte er. »Die Marine könnte nichts tun, selbst wenn Sie sie herrufen könnten. Wenn wir tot sind, werden sie eine Strafexpedition losschicken, und der Imperiale Händlerverband wird am lautesten Vergeltung für den Tod der Priester des Herrn fordern. Die Kirche ist mehr als einmal als Vorwand für das Imperium benutzt worden.« »Ich verstehe nicht, Mylord.« »Der Imperator hat nicht das Verlangen, diese Welten zu erobern.« Angesichts MacKinnies verwirrtem Gesichtsausdruck zögerte der alte Mann. »Bring unseren Gästen etwas zu trinken.« Dann wandte er sich wieder an MacKinnie. »Sie wissen nichts von Imperialer Politik. Gehören Sie der Kirche an?« »Das Neue Rom ist noch nicht auf unsere Welt gekommen, Mylord. Wir sind alle mehr oder weniger Christen. Ich wurde in der orthodoxen Kirche getauft, die, wie ich mir habe sagen lassen, vom Neuen Rom akzeptiert wird.« »Vergeben Sie mir meine Neugier, aber ich habe nicht grundlos danach gefragt. Es beweist mir, daß Sie nichts von imperialer Politik wissen. Was tun Sie hier auf Makassar?« »Mein König hat mich auf eine Handelsmission geschickt, Mylord. Er regiert das größte zivilisierte Land auf meinem Heimatplaneten und ist mit dem Imperialen Botschafter verbündet. Die Marine hilft ihm bei der Unterwerfung des Planeten.« Der Erzbischof nickte. »Aber Sie sind kein Händler. Genausowenig wie Ihre Begleiter. Einen Mann meines 243
Alters kann man nicht so leicht täuschen. Bitte, protestieren Sie jetzt nicht. Sie sind ein Soldat. Und diese anderen? Was sind sie? Spione? Es ist unwichtig. Da stehen Sie, auf diesem primitiven Planeten, kommen von einer Welt, die selbst primitiv ist und reden davon, uns zu helfen! Ich erkenne Ihren guten Willen an, aber ich kann mir nicht vorstellen, was Sie tun könnten. Trotzdem, so viel Mut muß belohnt werden, und sei es nur mit Informationen.« Er hielt inne, als Diener Wein und Stühle für die anderen brachten. »Es ist kein besonders guter Wein«, entschuldigte sich Deluca. »Aber etwas Besseres haben wir hier nicht. Der Händler hat auf seinem Schiff weitaus besseren.« »Wein ist nicht alles«, belehrte ihn der Erzbischof. »Er ist nur ein Medium. Sehen Sie sie sich an, Vater Deluca. Kaum in der Lage, die imperiale Sprache zu sprechen, sie wissen nichts von unserem Hauptplaneten und sind in Schiffen durch den Raum gereist, die sie nicht verstehen können … Könnte doch die Kirche mit ihren Lehren so viel Glauben in den Menschen wecken, wie diese Männer an sich haben!« Er probierte den Wein und verzog das Gesicht. »Sie und ich, wir haben die gleiche Mission, Mylord Händler«, stellte er fest. »Wir sind Lockspitzel, ausgesandt, um dem imperialen Händlerverband zu helfen. Der Unterschied zwischen uns besteht darin, daß ich es weiß, und Sie nicht.« »Ich verstehe nicht.« »Das habe ich auch nicht erwartet. Sie glauben, daß Sie 244
aus irgendeinem anderen Grund hier sind, vielleicht mit irgendeiner großen Mission, mit der Sie Ihr Königreich retten sollen, auf jeden Fall ist es wichtiger als nur Gold für Ihren König zurückzubringen. Und wir sind hier, um diese Menschen zu Gott zurückzubringen. Aber wir beide dienen dem IHV genauso, als hätten sie uns angeworben.« Es war still im Raum, während alle darauf warteten, daß der Erzbischof fortfuhr. »Die Marine erlaubt nicht, daß die Händler einen Planeten einfach erobern. Ich bin überzeugt, Sie wissen, daß keine gute Militärmacht nur für den Lebensstandard kämpft – weder für den eigenen noch für den anderer. Nicht mit Gold, sondern mit Gott weckt man in einem Soldaten Kampfesmut. Die Marine kämpft für eine Sache, für den Imperator und für die Kirche, für Neu Annapolis und für den Wiedervereinigungseid, nicht aber für den IHV. Die Marine wird nicht einfach hierherkommen und Königreiche für die Händler errichten. Und hier kommen wir ins Spiel. Sie schicken uns her und hindern die Marine daran, uns zu beschützen … aber nachdem wir abgeschlachtet worden sind, werden die Vertreter des IHV am lautesten nach Vergeltung schreien. ›Wir müssen den Bettlern eine Lektion erteilen‹, werden sie sagen. Und das gleiche gilt für euch Kolonialisten … auf eurem Planeten gibt es eine Opposition gegen das Imperium. Um das zu wissen, muß ich nicht erst Ihren Heimatplaneten kennen. Und Imperialismus garantiert nicht Loyalität. Der IHV wird die Opposition als lästig empfinden. Aber die wirklich lästigen Leute sind die wirklichen Patrioten … Glauben Sie, daß Sie ablehnen, wenn der IHV sie für eine Handelsarmee zur Bestrafung 245
dieses Planeten einziehen will? Um Sie zu rächen? Und damit lösen sie auf saubere Art und Weise gleich zwei Probleme: einmal die Eroberung von Makassar und zum zweiten die Entledigung von Führern und Soldaten von wo immer Sie auch herkommen mögen. Es ist ein altbewährtes Mittel, und es wirkt immer.« »Warum erlauben Sie denn, daß man Sie benutzt, Mylord?« wollte MacKinnie wissen. »Wie auch immer die Gründe aussehen, hätten Sie sich geweigert, herzukommen, wenn Sie es vorher gewußt hätten?« erwiderte der Erzbischof. »Ich glaube nicht. Und ebensowenig konnte ich mich weigern, den Heiden das Wort Gottes zu bringen.« Der alte Mann wurde von einem Husten geschüttelt, der seine mageren Schultern heftig erzittern ließ. »Und jetzt gehen Sie zurück an Ihren Plan, ganz gleich, wie er aussieht, aber denken Sie an den IHV. Sie verfügen über große Mittel, und sie haben Macht, aber ihnen fehlt die Tapferkeit. Eines Tages wird die Marine es müde sein, ausgenutzt zu werden und sie alle töten, aber an ihre Stelle werden neue treten. Den IHV wird es immer geben.« »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Mylord. Akademiker, möchten Sie noch etwas sagen?« wandte sich MacKinnie an Longway. »Im Augenblick nicht. Ich brauche Zeit, um über all das nachzudenken, obwohl ich schon jetzt fürchte, daß der Erzbischof recht hat. Man kann die Pendants zum IHV an König Davids Hof finden. Die Geldgierigen sind überall.« »Mylord«, fragte MacKinnie, »wenn wir Ihnen dabei 246
helfen, diese Menschen in Ihre Kirche zu bringen, ohne daß die Händler Grund haben werden, die Marine um Intervention zu bitten, werden Sie uns dann auch helfen?« »Womit?« »Das kann ich Ihnen im Moment noch nicht sagen. Es ist nicht mein Geheimnis, und ich weiß nicht genau, was Sie überhaupt tun können.« »Im Prinzip bin ich nicht abgeneigt, Ihnen zu helfen … aber bevor Sie fragen, denken Sie daran, mit wem Sie sprechen. Ich bin ein Erzbischof der Kirche. Ich bin vielleicht nicht einverstanden mit einigen Kirchenleuten und vielen der imperialen Ratgeber, aber ich lasse mich nicht täuschen. Ich bin ein ergebener Untertan des Imperators und ein Diener der Kirche.« MacKinnie nickte. »Ich würde Sie nie um etwas Unehrenhaftes bitten. Wir können später noch über diese Dinge sprechen; jetzt kehre ich wohl besser zu meinem Schiff zurück.« Der alte Mann stand auf und hielt seine Hand hin, und nach kurzem Zögern kniete sich MacKinnie hin, um den großen Ring zu küssen. Als sie hinausgingen, sah Nathan noch, wie der Erzbischof segnend seine Hand hob und Worte in einer Sprache murmelte, die MacKinnie noch nie zuvor gehört hatte.
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15 Der Kriegsminister MacKinnie stand hoch auf den Mauern von Batav und wünschte, jetzt ein Fernglas zu haben. Er hatte ein primitives Teleskop gekauft, aber die Linsen waren schlecht, und die Bilder waren so verzerrt, daß er es vorzog, die Wilden ohne optische Hilfsmittel zu beobachten. Er hielt fünf Tage lang Ausschau, sah über die niedrigen, langgestreckten Berge und wurde Zeuge, wie die Maris flink von Tor zu Tor eilten. Sie hatten ihre Zelte und Wagen fast in Bogenschußnähe von der Stadt und verächtlich dicht bei den Toren aufgebaut. Unaufhörlich verspotteten sie die Verteidiger der Stadt, forderten sie auf, herauszukommen und riefen so lange Beleidigungen und Obszönitäten, bis die Tempelkrieger blind vor Wut waren. Am vierten Tag ritt eine kleine Gruppe bewaffneter Männer aus der Stadt hinaus, um das nächstgelegene Feindeslager anzugreifen. Die schwere Tempelkavallerie ritt durch den Feind, ihre Kriegsrosse trampelten die leichtbewaffneten Wilden in den Staub, ihre Schwerter hieben Lücken in die Reihen der Verteidiger, und die Tempelkrieger triumphierten. Nichts und niemand konnte der Wucht ihres Angriffs standhalten. Doch langsam wurde die Attacke schwächer. Die großen Schlachtrosse ermüdeten, und ihren Reitern erging es nicht anders. Als sich diese Nachricht unter den Maris verbreitete, rüstete sich Gruppe 248
für Gruppe zum Kampf. Nun griffen die Wilden ihrerseits an, bis die Tempeltruppen umzingelt und überwältigt waren. Sie verschwanden in einem Meer von dunkelhäutigen Männern, und der Kriegslärm erstarb. In jener Nacht gesellten sich zu den Verspottungen, die den in der Stadt verbliebenen Truppen entgegengeschleudert wurden, noch das Klagen und Stöhnen der sterbenden Kameraden. Am Tag nach der mißglückten Attacke bat MacKinnie um eine Audienz mit der Tempelführung, unter dem Vorwand, daß er wichtige Informationen über Krieg und Kriegsführung besäße, Informationen, die er nur einer wirklich hochgestellten Person anvertrauen könnte. In der Zwischenzeit drillte Stark die Mannschaft der Subao, ließ sie mit Schwert, Pike und Schild üben, in Formation zu den Schlägen von Trommeln marschieren, Speere werfen und Pfeile abschießen, und immer wieder marschieren und ihre Formation einhalten, während sie im Schnellschritt über den Pier eilten. Ihre Aktivitäten zogen die Aufmerksamkeit der Tempeloffiziere auf sich, und an ihrem zehnten Tag in Batav näherte sich eine kleine Gruppe dem Schiff. »Wir sollen Sie zum Tempel bringen«, wurde MacKinnie gesagt. Ein Offizier führte ihn zu den Toren, wo ihn zwei buntgekleidete Diener in Empfang nahmen und ihn durch verschwenderisch ausgestattete Hallen führten, die mit Wandteppichen und Fahnen behängt waren. Der Tempel war ein Wirrwarr aus gegensätzlichen Zimmern und Gängen, wo leuchtende Farben plötzlich in rohe Steinwände übergingen und prunkvolle Räume neben spartanisch eingerichteten lagen. Sie stiegen eine Steintreppe hinauf, die vor einer Reihe von Zellen in der 249
Mauer hoch über dem Tempelhof endete. Der Offizier kratzte respektvoll an der geschlossenen Tür einer der Zellen. »Herein.« Der Offizier öffnete die Tür und trat beiseite. Ein schwarzgekleideter Priester saß an einem kleinen Tisch, vor sich Federkiel und Tintenfaß. Überall lagen unordentlich Pergamente herum, und an der Wand hinter dem Priester hing eine große Karte von der Stadt und der näheren Umgebung, auf der Straßen und Dörfer bis zu einer Entfernung von fünfzig Kilometern von den Stadtmauern detailgetreu nachgezeichnet waren. »Vater Sumbavu, der Ausländer, den Sie zu sprechen wünschten«, meldete der Tempeloffizier. »Er nennt sich Händler Captain MacKinnie.« Er stolperte über der Aussprache, schaffte es aber trotzdem, den Namen korrekt zu nennen. Nathan hatte sich sagen lassen, daß Vater Sumbavu das Amt des Kriegsministers des Tempels innehatte. Es gab zwar noch andere, die höhergestellt waren als er, aber nur wenige hatten mehr Macht. Sumbavu schien nicht viel von bischöflicher Kleidung und Mitra und noch weniger für andere Machtinsignien übrig zu haben, doch seine Männer dienten ihm bedingungslos. Nathan fiel der Gegensatz zu der spartanisch eingerichteten Zelle und den reich ausgestatteten Räumen der großen Halle des Tempels auf; offensichtlich war für Sumbavu die Realität und nicht Symbole maßgebend. Die kahle Zelle lag hoch über den Außenzinnen, und das 250
schmale Fenster erlaubte einen Blick über die Stadt auf die Mauern und die dahinterliegenden Lager der Wilden. Nathan konnte kleine Gruppen von Maris erkennen, die unermüdlich an den Stadttoren vorbeiritten, aber stets darauf achteten, daß sie nicht in Schußweite kamen. Niedrige, sanft geschwungene Hügel, die mit Gras und den gelben Punkten von Kornfeldern bedeckt waren, erstreckten sich bis weit an den Horizont. Einige wenige Straßen zogen sich durch die Ebene, und an den Wegkreuzungen erblickte Nathan die Ruinen von niedergebrannten Dörfern. Der Priester hob mechanisch die Hand zum üblichen Segen, worauf sich MacKinnie verbeugte. »Warum stehlen Sie meine Zeit?« wollte der Priester wissen, noch bevor er sich wieder aufrichten konnte. »Aber Sie wollten mich doch sprechen, Vater.« »Sie wollten ein Mitglied der Priesterschaft sprechen. Sie geben an, Informationen über den Krieg zu haben. Und jetzt sind Sie hier. Was haben Sie mir zu sagen?« »Euer Hochwürden, ich habe einige Erfahrung im Kampf gegen diese Wilden. Im Osten hat man sie von der Stadttoren zurückschlagen können. Obwohl ich nur ein Händler bin, habe ich doch Männer im Kampf gegen diese Präriebewohner geführt, und ich wollte wissen, ob unsere Taktiken auch hier schon versucht worden sind. Wir haben sie im Süden von den Toren zurücktreiben können.« MacKinnie blieb so steif stehen, als hätte er einen Ladestock verschluckt, während er auf eine Antwort seines Gegenübers wartete, doch der Priester schwieg, und Nathan hatte Zeit, ihn ausgiebig zu studieren. 251
Sumbavus Alter war schwer zu schätzen. Das Gesicht war faltenlos, und das kurzgeschnittene Haar zeigte noch keine Spuren von Grau, aber die Hände waren von der Arbeit, und vielleicht auch vom Alter müde und verbraucht. »Was gibt Ihnen Anlaß zu der Annahme, daß Sie schaffen könnten, was uns nicht gelungen ist? Wir haben die besten Soldaten auf Makassar, und doch haben sie nichts gegen diese Horden ausrichten können. Wir haben sie in der Vergangenheit schon zurückschlagen können, aber jetzt sind es zu viele geworden.« Er erhob sich und starrte aus dem steinernen Fenster hinaus. Seine Hände waren so hart verkrampft, daß die Fingerknöchel weiß unter der Haut heraustraten. »Es liegt nicht an der Qualität der Soldaten, Euer Hochwürden, sondern daran, wie sie kämpfen. Ihre Wachen sind sehr diszipliniert, aber es sind nicht genug. Ihre Lords kämpfen phantastisch, aber die Kavallerie weiß nicht richtig gegen die Wilden anzugehen. Ich habe bisher nur wenig von Ihrer Kavallerie zu sehen bekommen – die Reiter sind zum größten Teil getötet worden, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie ungefähr fünfzig von ihnen überwältigt worden sind.« »Wer nicht tot ist, lebt in der Stadt. Es sind noch nie sehr viele gewesen, aber jetzt haben sie auch noch den Mut verloren. Dreimal sind die bewaffneten Diener des Tempels mit den Reitern zu jenem Tor hinausgeritten. Dreimal attackierten sie, und nichts konnte sich ihnen entgegenstellen. Und dreimal wurden sie besiegt, abgeschnitten, aufgerieben, wie Spreu in alle vier Winde zerstreut, und die wenigen Überlebenden kehrten schamerfüllt in die Stadt 252
zurück. Es werden immer mehr Wilde, während die Söhne der großen Familien immer weniger werden. Und Sie behaupten, Sie könnten das vollbringen, was unseren Kriegern nicht gelungen ist? Haben Sie vielleicht tausend Schiffe im Rücken? Kommen Sie mit einer neuen Flotte?« Nachdem er MacKinnie einen Augenblick intensiv angesehen hatte, ging er hinüber zu einem harten Holzstuhl. »Machen Sie Gebrauch von den Annehmlichkeiten, die ich mir und meinen Gästen erlaube«, murmelte er. »Wenig genug sind es ja. Und erzählen Sie mir mehr darüber, wie die Männer des Südens die Barbaren geschlagen haben.« MacKinnie nahm Platz und suchte vorsichtig nach Worten. »Es geht darum, die Fußsoldaten und die berittenen Männer so einzusetzen, daß sie sich gegenseitig beistehen. Wenn sie richtig eingesetzt werden, können die Wilden sie nicht schlagen.« »Wir haben nicht genug Soldaten«, gab Sumbavu zu Bedenken. »Wie klug Sie es auch immer anfangen mögen, Sie können nicht mit ein paar wenigen einige tausend besiegen.« »Das stimmt nicht ganz, Vater. Wir können dafür sorgen, daß jeder Mann für zehn kämpft. Und Sie vergessen die Müßiggänger in der Stadt, die herumlungernden Krieger, die Diebe, die Bürger der Stadt. Auch sie können kämpfen.« Der Priester zuckte die Achseln. »Wenn sie wollten. Für jeden von ihnen, den Sie in den Kampf schicken, brauchen Sie einen loyalen Mann, der ihn nicht aus den Augen läßt und ihn daran hindert, davonzulaufen. Das ist es nicht wert.« 253
»Wenn sie als Männer behandelt und richtig ausgebildet werden, dann können sie auch kämpfen. Wir brauchen nicht viele. Aber man darf sie nicht wie Vieh oder wie Sklaven behandeln. Sie müssen als freie Soldaten kämpfen.« »Was schlagen Sie vor? Diesen Leuten Waffen zu geben? Damit würden Sie den Tempel zerstören.« »Nein. Ich würde ihn retten. Der Tempel ist dem Untergang geweiht, Vater Sumbavu. Das wissen Sie genausogut wie ich.« MacKinnie zeigte auf das Fenster. »Die Stadt wird innerhalb von einem Jahr fallen. Ich habe die leeren Docks gesehen und von den geschlossenen Häfen gehört. Ich sehe, wie die Leute in den Straßen schlafen, während die Wilden das Getreide ernten. Sie können den Feind nicht vertreiben, solange er auf den Feldern noch etwas zu essen findet. Seine Vorräte werden länger halten als Ihre. Ihr Tempel ist dem Untergang geweiht, es sei denn, Sie können den Feind zurücktreiben, und zwar schnell.« Sumbavu hatte sichtlich Mühe, seine Ruhe zu bewahren, und seine Hände fuhren ruhelos über den Tisch. »Und nur Sie können das verhindern? Sie sind wirklich von Gott gesegnet. Wir haben diese Stadt nun schon fünfhundert Jahre gehalten. Und was haben Ihre Vorfahren getan? In Lehmhütten gelebt?« »Was ich getan habe, ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, was wir tun können.« »Und wie wollen Sie bei der Rettung der Stadt vorgehen? Welchen Preis fordern Sie dafür?« »Ich verlange keinen Preis dafür, die Quelle aller 254
Weisheit auf Makassar zu retten. Ich verlange nur, was ich brauche. Waffen, Piken und Schilde. Die Ermächtigung, Männer zu rekrutieren. Und ich werde die Soldaten inspizieren und mit den schweren Kavalleristen sprechen müssen. Ich brauche einen Exerzierplatz, um mit meinen Männern zu üben. Wir brauchen auch die Männer von der Tempelwohlfahrt. Ich habe keinen Preis, aber ich habe viel zu tun. Wenn Sie nur tun, was ich sage, werden wir die Stadt und den Tempel retten können.« Der Priester spreizte die Hände und sah auf seine Handflächen. »Vielleicht ist es der Wille Gottes. Einen anderen Plan gibt es nicht. Es kann kein Unheil anrichten, wenn ich Ihnen erlaube, diesen Mob auszubilden, denn wenn Sie und ihre Soldaten getötet werden, kommen wir mit unseren Rationen nur um so länger aus. Ich werde dafür sorgen, daß Sie alles bekommen, was Sie brauchen.« Auf dem Paradeplatz vor dem Tempel formte sich allmählich eine Armee, auch wenn sie nicht viel mit einer richtigen Armee gemein hatte. In der ersten Woche mußten die Männer auf den Exerzierplatz getrieben werden; sie stolperten beim Marschieren und verstanden weder Befehle, noch wollten sie arbeiten. Aber als man ihnen dann Waffen gab, erfüllte mit fortgesetzter Ausbildung ein neues Gefühl der Selbstachtung langsam die Gruppe. Männer, die vor kurzem noch Bettler gewesen waren, fanden sich auf einmal neben kräftigen Bauern wieder oder sahen sich jüngeren Söhnen von Kaufmannsfamilien gegenüber, die durch die Belagerung ruiniert worden waren. Unter MacKinnies Bitten und Starks Anfeuerungen 255
hielten sie bald die Köpfe höher, warfen ihre Piken mit mehr Selbstvertrauen in die aufgestellten Strohpuppen und ließen sogar Kriegsrufe hören. Nach der dritten Ausbildungswoche berief MacKinnie eine Zusammenkunft ein. »Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, wandte er sich an die Gruppe. »Sumbavu will unbedingt wissen, was wir tun, und ich muß ihm Bericht erstatten. Ihr müßt euch vor diesem Mann in acht nehmen. Er ist viel scharfsichtiger, als es nach außen hin den Anschein hat. Wie sieht es aus mit unserer Armee?« »Der Zustand der Infanterie ist so lala«, berichtete Hal. »Die Tempeltruppen machen ihre Sache gut, aber sie wissen nicht so recht, was sie tun sollen und sind so selbstsicher, daß sie nichts Neues lernen wollen. Die Bürgerarmee kann inzwischen ihre Piken tragen und auch die Schilde hochhalten, wenn es nicht für allzulange ist. Die meisten von ihnen sind schwach wie neugeborene Kinder. Bogenschützen werden wir aus ihnen nicht machen können. Der Tempel hat ein paar, das ist alles.« »Können sie einem Angriff leichter Kavallerie standhalten?« wollte MacKinnie wissen. »Ich weiß es nicht, Sir. Gegen schwere Geschütze werden sie nie etwas ausrichten können, aber wenn sie genug Selbstvertrauen haben, könnten sie unter Umständen einem Angriff der Wilden standhalten. Nur fehlt ihnen dieses Selbstvertrauen, Colonel.« MacKinnie bemerkte, wie Longway bei Hals Ausrutscher zusammenzuckte, sagte aber nichts. »Und wie steht es mit der Kavallerie?« wandte er sich an Brett. »Können 256
sie in Formation kämpfen? Haben Sie ihnen ihren Hochmut austreiben können und eine disziplinierte Truppe aus ihnen gemacht, oder werden sie den Feind einfach wild angreifen und sich dann aufreiben lassen?« »Vanjynk und ich haben versucht, mit ihnen zu reden, Händler«, erwiderte Brett. »Aber ihre Ehre ist alles, was ihnen noch geblieben ist. Doch trotz allem, es sind Männer, die schon geschlagen worden sind, und letztlich sind es ja nur Wilde, gegen die sie kämpfen … Aber es wird schwierig sein, sie vom Sieg zurückzurufen.« »Das wird unerläßlich sein. Es ist die einzige Chance, die wir haben. Man muß diesen Männern beibringen, wie sie sich nach einem Angriff neu formieren und wieder hinter die Schildmauern zurückkommen. Jeder, der sich da draußen allein beweisen will, wird allein seinem Schicksal überlassen. Versucht, das den Männern einzutrichtern. Und versucht sie damit anzuspornen, daß ihre Stadt fällt, wenn sie sterben. Greift auf ihren Ehrenkodex zurück, auf den sie so stolz sind. Sie kämpfen zur Rettung ihrer Ehre.« »Sicher, aber mit Mitteln, die in ihren Augen unehrenhaft sind«, wandte Vanjynk ein. »Sie hören mir zu, weil sie in mir einen der Ihren sehen, und ich habe ihnen voller Überzeugung das gesagt, was ich sollte. Ich glaube inzwischen sogar selbst daran. Aber für sie muß es sich sehr ungewöhnlich anhören.« MacKinnie nickte. »Ungewöhnlich oder nicht, sie werden es lernen müssen. Und jetzt zu der Verpflegungsabteilung. Wie sieht es da aus?« Mary Graham lächelte stolz. »Alles in bester Ordnung«, 257
meldete sie. »Wir haben jetzt genug Wagen.« »Ich dachte, uns fehlten noch Tiere«, warf MacKinnie ein. »Genaugenommen trifft das auch zu, aber es lag hauptsächlich daran, daß sie die Tiere falsch eingeschirrt hatten. Mit Lederriemen. Ich habe richtige Holzgeschirre anfertigen lassen, und nun ermüden die Pferde nicht mehr so schnell. Wir haben zwar immer noch nicht genug, aber die Tiere, die wir haben, können jetzt mehr tragen.« »Ausgezeichnet.« »Wir haben zwar Wagen, aber kaum Getreide«, fuhr sie fort. »Wenn Sie unseren Versorgungszug sichern können, dann können wir Ihre Leute ein paar Tage verpflegen. Wir haben zwar nicht viel zu essen, aber es ist besser als nichts. Danach müssen wir uns da draußen nach Eßbarem umsehen. Vielleicht könnten wir sogar einen Teil des Getreides ernten, wenn unsere Farmer beschützt werden.« »Wir haben also eine halbwegs disziplinierte Infanterietruppe, Kavallerie, die uns vielleicht helfen kann, vielleicht aber auch nicht, ein paar Tempelbogenschützen und Wachen, die unsere besten Soldaten sind, aber nicht verstehen, worum es geht, und schließlich eine ganze Menge Wilder. Eine interessante Situation.« Er überlegte einen Augenblick, blickte auf die Kopie von Sumbavus Karte, die der junge Todd in sorgfältiger Arbeit angefertigt hatte und kam dann zu einem Entschluß. »Was wir brauchen, ist eine Demonstration. Ich werde jedem von euch eine Woche Zeit geben, die besten Leute auszusuchen, Leute, die eurer Meinung nach nicht davon258
laufen werden und die wissen, wie man Befehlen gehorcht. Ich brauche für ungefähr zwei Tage Proviant für doppelt so viele Leute, und eine Gruppe der diszipliniertesten Köche und Lagerarbeiter«, fügte er, an Mary Graham gewandt, hinzu. »Wir werden einen ersten Angriff gegen den Feind starten, dessen Hauptziel es ist, unsere eigenen Truppen davon zu überzeugen, daß wir die Wilden schlagen können.« Er erhob sich, um die Versammlung aufzulösen. »Hal, bleibe bitte noch einen Moment.« »Das mit dem Ausrutscher tut mit leid, Colonel«, entschuldigte sich Stark, nachdem die anderen gegangen waren. »Das Ganze erinnert mich zu sehr an unsere Dienstzeit, und ich bin einfach nicht an die Rolle als Spitzel gewöhnt.« »Wir werden es schon schaffen. Haben wir genügend Soldaten?« »Ja, Sir. Mit den Männern, die wir mitgebracht haben, als Kerntruppe haben wir genügend loyale Kämpfer. Ich glaube, sie würden sogar gegen die Tempelkrieger kämpfen, wenn sie wüßten, daß sie gewinnen können. Auf jeden Fall haben wir sie inzwischen unter Kontrolle. Führen Sie sie zum Sieg, und sie werden hundertprozentig auf unserer Seite stehen.« »Ausgezeichnet. Schön, Sergeant, Sie können jetzt abtreten.« Hal stand grinsend auf und salutierte. »Wie in alten Zeiten, Colonel. Andere Wölfe, aber die gleichen Zeiten wie früher.« MacKinnie kleidete sich mit Bedacht, bevor er Sumbavu 259
aufsuchte. Mühsam zwängte er sich in seinen Kettenpanzer, warf sich einen leuchtendroten Umhang über die Schultern, schmückte sich mit goldenen Armreifen und einer goldenen Kette und befestigte seinen Mantel mit einer juwelenbesetzten Nadel, bevor er zum Schluß ein auf Prinz Samuals Welt geschmiedetes Schwert umschnallte. Kettenpanzer und Schwert ähnelten in ihrem Äußeren den auf Makassar angefertigten Waffen, waren jedoch wesentlich besser als alles, was sie bisher auf Makassar angetroffen hatten und verliehen MacKinnies Gruppe einen gewissen Sonderstatus. Sumbavu stand an den Zinnen über seiner Zelle, als Nathan zu ihm geführt wurde. »Ihre Farben verraten Sie, Händler«, bemerkte der Priester. »Sie sind eher ein Soldat als ein Händler, habe ich recht?« »Im Süden, Vater, gibt es keinen Unterschied zwischen Händler und Soldat. Zumindest, wenn man als Händler überleben will. Denn dort herrscht fast ständig Krieg.« »Nicht nur bei Ihnen im Süden. Auch hier. Aber es war nicht immer so.« Der Kriegspriester blickte hinaus auf die große Ebene, die sich außerhalb der Stadtmauern ausdehnte. »Heute sind es mehr als sonst. Das Getreide ist reif, und sie haben sich formiert, um es vor uns zu schützen. Wir könnten die Ernte zwar verbrennen, aber nur auf Kosten unserer Leute. Ich glaube nicht, daß einer von ihnen lebend zurückkommen würde.« »Und doch gibt es vielleicht einen Weg, Vater«, ließ sich MacKinnie vernehmen. »Ich möchte mit einer kleinen Gruppe vor die Stadt ziehen«, fuhr er fort, als der Priester ihn erstaunt ansah. »Wir werden uns nicht allzuweit von 260
der Stadt entfernen.« »Sie können von Ihren nutzlosen Essern so viele mitnehmen, wie Sie wollen. Sie haben sie dazu gebracht, erhobenen Hauptes zu marschieren, aber Sie können keine Soldaten aus ihnen machen. Sie sind und bleiben keine Soldaten.« »Ich brauche mehr als nur meine Bauern«, gab MacKinnie zurück. Können Sie mir fünfzig der Bogenschützen des Tempels sowie fünfzig Reiter geben?« »Ein Viertel meiner gesamten Bogenschützen? Und fast der gleiche Anteil an Berittenen? Sie sind verrückt. Das kann ich nicht erlauben.« »Der Einsatz wird sich lohnen, Vater. Wir werden Ihnen demonstrieren, wie man die Wilden besiegt. Und dabei werden wir uns nicht weit von den Mauern der Stadt entfernen. Die Bogenschützen und Reiter können in Sicherheit fliehen, wenn meine Männer den Wilden nicht standhalten – das wäre nicht unehrenhaft, denn es waren ja andere, die versagt haben.« »Und wo werden Sie sein?« »Bei der Vorhut.« »Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel, um es diesen Leuten zu beweisen? Sie glauben also wirklich an das, was Sie sagen. Seltsam.« Als MacKinnie den Blick über die Ebene schweifen ließ, sah er, wie sich eine weitere Gruppe von Wilden den Stadtmauern näherte. Allein in dieser Gruppe schienen Hunderte von Männern zu sein. »Und dahinein wollen Sie Ihre Leute führen? Das 261
werden Sie nicht überleben.« »Und wenn doch? Ich werde den anderen schon noch Mut machen. Vergessen Sie nicht, wenn wir nichts unternehmen, dann ist der Tempel dem Untergang geweiht.« »Wenn aber meine Bogenschützen und Reiter abgeschlachtet werden, verlieren wir den Tempel noch schneller …« Der Priester betrachtete die Lager unter ihnen und sah zu, wie Reiterhorden auf die Mauern zustürmten und unmittelbar außerhalb Schußweite abdrehten. Er griff nach seinem Emblem, einem goldenen Tempel, über dem sich ein ebenholzschwarzes Kreuz erhob und drehte sich plötzlich um. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich halte Sie für verrückt, aber es gibt ja Leute, die glauben, daß in Verrückten der Geist Gottes steckt. Eins weiß ich sicher: In mir steckt dieser Geist offensichtlich nicht.« Dann wandte er sich ab und schritt mit hängenden Schultern, die sein wahres Alter verrieten, davon.
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16 Die mobile Mauer Eine Woche ließ MacKinnie die ausgewählten Männer für den bevorstehenden Ausfall exerzieren, bevor er sie schließlich auf dem Hof unmittelbar vor den Toren zusammenrief. Mit wallendem Umhang bestieg Nathan das kleine Podest, um sich noch einmal an seine Leute zu wenden. »Ihr werdet heute einen Sieg erringen, wie er noch nie auf dieser Welt gesehen worden ist«, rief er. »Von diesem Tag werden noch eure Enkel und Urenkel erzählen. Eure Familien werden gerettet werden, und ihr kommt heute zu großem Ruhm. Was ist das denn für ein Leben, sich hinter Mauern zu verkriechen? Was ist das für ein Mann, der sich hinter Mauern versteckt, wenn er hinausgehen und den Feind besiegen kann? Heute seid ihr alle richtige Männer. Und nie wieder werdet ihr Sklaven sein.« Schwache Hochrufe erklangen, die in erster Linie von Hals Wachleuten kamen. »Es muß einfach klappen«, meinte MacKinnie zu seinem Sergeanten. »Sie werden wahrscheinlich nicht eher an das glauben, was ich ihnen erzähle, bis sie mit eigenen Augen sehen, daß sie den Feind schlagen können. Glaubst du, daß sie lange genug kämpfen werden, um es herauszufinden?« »Keine Ahnung, Colonel«, erwiderte Stark. Wir haben unser Bestes getan, aber sie haben ihren Kampfesmut ver263
loren, bevor wir hierherkamen. Vielleicht schaffen wir es.« »Sie wissen, was zu tun ist. Jetzt liegt es nur an uns, sie dazu zu bringen, es auch wirklich zu tun. Laß sie sich formieren und öffne das Tor.« Die Armee stellte sich in Keilformation auf, wobei die Speer- und Schildträger die Außenflanken bildeten, während Kavallerie, Bogenschützen und Verpflegungswagen im Innern Aufstellung nahmen. Ausgesuchte Männer formten die Spitze, die so weit abgerundet wurde, wie das Tor es erlaubte. Sie sollten in einer Kolonne marschieren, bei der sich die Flanken rasch schräg bewegten, um so die Dreiecksformation einzugehen, die sie auf dem Exerzierplatz eingeübt hatten. Die karmesinroten Uniformen der Bogenschützen des Tempels und die farbenprächtigen Panzer der Reiter bildeten einen leuchtenden Kontrast zu der schmutzigbraunen Kleidung der Pikeure. Soweit als möglich waren die Männer mit Brustpanzern, Helmen und Beinschienen ausgerüstet, doch es waren nicht genügend vorhanden, um alle damit auszustatten. Einige waren nur mit Speer und Schild bewaffnet und hatten einen kleinen Dolch im Gürtel stecken. MacKinnie inspizierte seine Truppen ein letztes Mal. Er schluckte den harten Kloß, der sich immer in seiner Kehle bildete, wenn es in den Kampf ging und fragte sich vergeblich, ob es überhaupt einen Soldaten gab, der nicht von dieser Spannung befallen wurde. Schließlich winkte er, und das Tor wurde geöffnet. »Rückt aus!« rief Stark. »Marschformation einhalten. Genau wie auf dem Exerzierplatz. He, nicht aus dem Tritt kommen.« 264
Junge Trommler, die unter der Reserve verteilt waren, gaben den Takt an, als die kleine Truppe aus dem Tor marschierte. Als genügend Speerträger vor den Mauern waren, um eine Schutzwand zu bilden, gab MacKinnie der Kavallerie das Zeichen zum Aufbruch und begab sich dann auf seinen Posten an der Spitze der Formation. Unter dem Schutz der Bogenschützen auf den Stadtmauern formierten sie sich dann. Ein paar Barbaren griffen an, wurden jedoch niedergemacht, noch bevor sie die ausmarschierende Truppe erreichen konnten. Zu Tausenden näherte sich der Feind dem Tor, blieb aber außerhalb Schußweite und begnügte sich vorerst mit Zusehen. »Ganz schön viele da draußen«, bemerkte Stark. »Es sieht fast so aus, als hätten sich heute alle versammelt. Schade, daß wir keine zweite Truppe vor dem anderen Tor haben.« »Wir haben zuwenig Leute dafür«, entgegnete MacKinnie. Düster beobachtete er, wie der Rest seiner Armee aus dem Tor hervorkam und herumschwang, um die Basis des Keils zu bilden. »Also los, Hal, vorwärts.« Stark machte den Trommlern ein Zeichen, worauf sich die Kadenz veränderte und ein Trommelsignal durch die Reihen lief. Langsam marschierten die Männer vorwärts, die Schilde erhoben, die Speere nach vorn gerichtet. Hinter jedem Schildträger schritten zwei Reihen Pikeniere. Sie bewegten sich über die Ebene auf das nächstgelegene Feindeslager zu und waren so beschäftigt damit, vorauszuschauen, daß sie nicht bemerkten, wie sie den schützenden Bereich der Stadtmauern verließen. 265
Die Maris ritten vor ihnen her und versuchten, sie von den Mauern wegzulocken, blieben jedoch auf Distanz. Ein paar vereinzelte Wilde ritten auf die Formation zu, drehten dann ab und schlugen sich verächtlich auf die Schenkel. Aus den vereinzelten Angreifern wurden kleinere Gruppen. Immer mehr sammelten sich in sicherer Distanz, um dann gegen MacKinnies Truppe vorzurücken. »Da kommt die erste Abteilung«, rief Stark. »Sie schwenken herum, genau auf Todds Gruppe zu. Soll ich die Bogenschützen auf sie ansetzen?« »Zwei Gruppen, Hal. Die anderen sollen im hohen Bogen feuern, um den Rest auf Abstand zu halten. Todds Männer können mit den Angreifern allein fertig werden.« »Verstanden, Sir.« Ein Pfeilregen der Tempelbogenschützen mähte die ersten Barbaren aus ihren Holzsätteln, dann stürzten die Feinde entschlossen auf den Angreifer zu, gingen aber nicht geschlossen vor, sondern näherten sich MacKinnies Armee in einzelnen Gruppen. Bevor sie aufeinanderprallten, schrie Todd seine Befehle, worauf sich der Rhythmus der Trommelschläge veränderte und die Männer, mit nach unten gerichteten Speeren auf ein Knie heruntergingen, während die Pikeniere über ihnen standen. Schreiend und jubelnd galoppierten die Maris heran. Ein Reittier der Wilden heulte laut auf, als es von einer Lanze aufgespießt wurde. Andere Tiere wirbelten vor den auf sie zeigenden Speerspitzen herum und liefen dabei den folgenden Reitern in den Weg. Schließlich stieß die 266
Gruppe der Barbaren mit dem rechten Flügel des Dreiecks zusammen. Die Bogenschützen eröffneten das Feuer auf Mann und Tier, doch trotzig stürmte der Feind immer wieder gegen die Schildmauer an. »Sie fliehen, sie fliehen!« rief jemand. »Ihnen nach!« hörte MacKinnie eine andere Stimme. »Keiner verläßt seine Position!« kommandierte MacKinnie. »Beim Tempelgott, ich werde von den Bogenschützen jeden niederschießen lassen, der aus den Reihen bricht! Brett, halten Sie Ihre verdammten Reiter unter Kontrolle!« »Jawohl, Sir«, vernahm er von der Kavallerie im Zentrum des Dreiecks. Die Reiter stürmten in ihrem Eifer, den fliehenden Feind zu verfolgen, hin und her, während die Maris unter Hohnrufen davondonnerten, bis ihnen niemand mehr folgte. Als Ruhe in seine kleine Armee zurückgekehrt war, bestieg MacKinnie einen Wagen. »Ihr habt gerade eine kleine Gruppe zurückgeschlagen. Es war zwar kein großer Kampf, aber ihr seht doch, daß ihr es schaffen könnt. Aber jetzt heißt es vernünftig sein. Wenn ihr aus der Formation ausbrecht oder die Schildmauer verlaßt, dann werden sie sich auf euch stürzen. Bleibt in euren Reihen, und ihr werdet sie niedermähen. Und vergeßt nicht, das Leben eines jeden hängt von jedem einzelnen ab. Niemand darf ausbrechen, weder aus Feigheit noch aus Mut. Und jetzt will ich Jubelgeschrei hören!« Diesmal fand MacKinnies Aufforderung gute Aufnahme. Als er vom Wagen abstieg, sah er zum erstenmal 267
den Fahrer: eine kleine, in einen Kettenpanzer gehüllte Person, die aus Leibeskräften mitschrie. »Freelady!« rief er. »Was suchen Sie hier?« »Sie haben mir doch den Auftrag gegeben, den Nachschub zu organisieren, Colonel. Das habe ich getan. Und da ich niemanden gefunden habe, der geeignet war, meine Gruppe zu befehligen, habe ich diese Aufgabe selbst übernommen. Ich will nämlich nicht, daß meine ganze Arbeit von Unfähigen zunichte gemacht wird. Ihr Sergeant hat selbst diesen Idioten vom Tempel entlassen, der meine Männer wie Sklaven angetrieben hat.« Er sah sie an und mußte unwillkürlich an ein anderes Mädchen denken, das genauso halsstarrig gewesen war, doch er schüttelte den Gedanken schnell wieder ab. Genaugenommen war Laura anders gewesen als Mary Graham. Es war schwer, sich Laura in einer Rüstung vorzustellen – obwohl sie sicher ein Schwert hätte tragen können. Marys Schwert lag auf dem Bock neben ihr. Während Nathan sie noch betrachtete, kam plötzlich ein Mann der Verpflegungstruppe auf ihn zu. Es war ein Koch, der ein gewaltiges Schlachtbeil in den Händen hielt. »Lassen Sie die Dame in Ruhe«, brummte der stämmige Mann. »Sie ist eine Heilige vom Himmel. Kommandant oder nicht, wenn Sie sie berühren, sind Sie ein toter Mann.« »Danke, Sumba, aber ihr braucht mich nicht zu beschützen«, protestierte Mary Graham. »Jedenfalls nicht vor ihm.« »Wie Sie meinen, Madam, aber wir werden sie trotzdem alle im Auge behalten.« MacKinnie zuckte die Achseln 268
und machte sich dann wieder daran, seine Armee zu organisieren. Langsam marschierten die Soldaten zum Takt der Trommeln vorwärts. Von Zeit zu Zeit galoppierte eine feindliche Gruppe auf sie zu und schoß ihre Pfeile ab, wurde jedoch jedesmal von den Bogenschützen des Tempels abgewehrt. Die stumpfen Pfeile der Barbaren konnten selbst gegen die Lederwamse der ungeschützten Männer nichts ausrichten, es sei denn, aus nächster Nähe, doch so weit wagten sie nicht heranzukommen. »Sie werden sich neu formieren und es noch einmal versuchen«, meinte MacKinnie leise. »Diesmal werden sie einen Massenangriff starten, mit allem, was sie haben.« Stark nickte. »Die Männer haben jetzt Selbstvertrauen, Colonel. Ich glaube, sie werden dem Angriff standhalten. Es war gut, daß der Feind zuerst mit einer kleinen Gruppe attackiert hat.« »Rivalität unter den Clans«, ließ sich Longway hinter ihnen vernehmen. »Ich habe so etwas schon auf dem Südkontinent erlebt. Jeder Clan will der erste sein, der den Feind zurückschlägt. Aber sie werden wiederkommen.« »Am meisten Sorgen macht mir die Nacht«, bekannte Stark. »Werden wir die ganze Nacht über hier draußen bleiben?« MacKinnie nickte. »Der eigentliche Zweck dieser Demonstration ist es doch, die Moral der in der Stadt zurückgebliebenen Soldaten aufzubauen. Einfach nur auszuziehen und dann wieder zurückzukehren reicht nicht. Wir müssen einen richtigen Sieg erringen.« 269
»Ich verstehe immer noch nicht, was wir eigentlich erreichen wollen«, mischte sich Longway ein. »Nehmen wir an, Sie beweisen, daß Sie gegen die Barbaren ins Feld rücken und in Formationen ziehen können, die sie nicht durchbrechen können. Was hilft uns das weiter? Alles, was sie dann zu tun haben, ist, uns aus dem Weg zu gehen.« »Darauf komme ich später noch«, murmelte MacKinnie. »Sie greifen wieder an, Hal. Halte deine Männer bereit.« Wie eine Sturmflut brandete der Feind über die Ebene heran. »Es sind Tausende«, rief jemand. »So viele werden wir niemals aufhalten können!« »Ruhe im Glied!« brüllte Stark. »Gebt das Signal zu den Waffen, Trommler!« Der Schall der Trommeln donnerte durch die kleine Formation. Wieder ließen sich die Schildträger auf ein Knie herunter, und diesmal gingen alle drei Seiten in die Hocke, während die Pikeniere ihre Waffen über die Schilde hinweg nach außen richteten. An jeder Ecke des Keils stand eine kleine Gruppe von Pikenieren, die die Reserve bildete. Die Bogenschützen feuerten in die anstürmende Horde, während Köche und Marketender neue Pfeile einlegten und den Bogenschützen die Waffen anreichten. Jeder Pfeil fand sein Ziel, und reiterlose Pferde liefen kopflos umher und brachten Verwirrung in die Reihen der Angreifer. »Von Formationen haben diese Wilden wohl noch nicht viel gehört«, stellte Stark gelassen fest. »Es wäre doch viel besser, wenn sie gemeinsam angriffen statt in kleinen Grüppchen.« 270
»Nicht genügend Disziplin«, antwortete Longway. »Sie sind zwar zahlenmäßig die Überlegenen, aber das will nicht unbedingt etwas sagen.« Mit einem wilden Trommelwirbel näherte sich der Angriff dem entscheidenden Punkt. Von allen Seiten stürmten die Wilden gegen die Mauer aus Schilden, die sie nicht durchbrechen konnten, und ritten vor den Außenlinien herum, während aus dem Innern des Keils Pfeile auf sie abgefeuert wurden. »Schwertkämpfer! Schwertkämpfer!« rief MacLean von seiner Position als Kommandant der Nachhut. Auf seinen Befehl liefen ein Dutzend Männer mit Kurzschwertern und kleinen Rundschilden herbei und warfen sich in eine Lücke in den Reihen. Eine Gruppe Pikeniere bezog hinter ihnen Stellung, während sich die Formation über den Leichnamen von fünf Schildträgern schloß, die getötet worden waren, als einer von ihnen fliehen wollte. Die Maris riefen sich etwas zu, zogen sich ein Stück zurück und griffen dann erneut die Schwachstelle in den Reihen der Soldaten an. »Sie stürmen geschlossen gegen MacLean an«, meldete Stark. »Wird ziemlich schwierig werden, die Stellung zu halten.« »Halte die Kavallerie bereit«, befahl MacKinnie leise. »Ich werde mich um MacLean kümmern.« MacKinnie lief die dreißig Yards von der Spitze zur Basis des Keils zurück. »Halten Sie sich bereit, die Reihen zu öffnen, Mr. MacLean.« »Jawohl, Colonel. Trommler, schlagt zum Bereithalten.« 271
Der Trommelrhythmus veränderte sich kaum merklich. »Führer, haltet eure Männer im Schritt!« Die Stimme des Seemanns übertönte den Gefechtslärm, und man konnte hören, wie die Befehle durch die Reihen gingen. »Jetzt, Mr. MacLean«, befahl MacKinnie. »Öffnet die Reihen!« Die Schildträger traten einen Schritt zur Seite und öffneten so eine nicht zu übersehende Lücke in der Mitte. Triumphierend brüllte der Feind auf und stürmte darauf zu. Aus der Mitte der Formation erklangen die Töne einer Trompete. Langsam, doch mit zunehmendem Tempo trottete die schwere Kavallerie von ihrem Sammelpunkt an der Spitze durch das Dreieck auf die Lücke zu. Mit gesenkten Lanzen ritten sie dem herankommenden Feind entgegen, wobei sie zusätzlich zu ihrer eigenen Geschwindigkeit die Wucht der anstürmenden Maris ausnutzten und den Feind unter den Hufen ihrer Tiere zu Boden trampelten. Brett und Vanjynk, die sich an jedem Ende der ersten Reitergruppe befanden, stießen ein Jubelgeschrei aus, als sich die Kämpfer in ihren schweren Rüstungen den leichtbewaffneten Maris überlegen zeigten. Die Wilden stoben auseinander, und in die Lücken stießen jetzt die Schwertkämpfer vor, die an der Seite der Reiter liefen, schlugen die Feinde von ihren Reittieren und töteten die Unbewaffneten. Als sich die Attacke nach vorn ausweitete, zerstreuten sich die Reiter, um den Feind zu verfolgen. Die dichte Formation brach auseinander, und die Maris zogen sich in Gruppen zurück. »Trompeter, das Signal zum Sammeln«, bestimmte MacKinnie. Wieder waren die Klänge der Trompete zu 272
hören, diesmal jedoch zögernd und enttäuscht. »Noch einmal.« Er wandte sich an Stark. »Jetzt kommt es darauf an. Wenn Vanjynk und Brett diese hirnlosen Wunder nicht unter Kontrolle bekommen können, dann ist es aus.« Er sah, wie seine Offiziere die Reiter anbrüllten, die daraufhin langsam, zuerst einer, dann ein anderer und schließlich die ganze Gruppe, umdrehten. Einen Moment hielten sie an, und der Colonel konnte feststellen, daß Brett tatsächlich ihre Reihen ausrichtete, bevor sie stolz und verächtlich herangeritten kamen. Von ihren Lanzen flatterten die Wimpel, und als sie das Dreieck erreicht hatten, schloß sich hinter ihnen die Schildwand über den Leichen von sicher hundert Feinden. MacKinnie trieb sie gnadenlos vorwärts, quer über die Ebene auf das erste Nomadenlager zu. Noch zweimal hielten sie einem Massenangriff der Maris stand, bei denen die Kolonne jedesmal ihre Speere in den Boden setzte. Die zweite Attacke war so heftig, daß MacKinnie erneut die Kavallerie zur Hilfe rufen mußte. Die Kämpfer in ihren Rüstungen brachen durch die Reihen des Feindes und drehten dann ab, um auf ihren Posten innerhalb der Formation zurückzukehren. Nach jedem Gefecht ließen sie zahlreiche getötete Feinde zurück, die unter den Wagenrädern zermalmt wurden, als das kleine Heer weiterzog. Schließlich erreichten sie das feindliche Lager, das aus einer Ansammlung von Lederzelten bestand, die über Holzgestelle gebreitet waren, und einigen Wagen, die die Wilden in Sicherheit brachten, bevor die Armee eintraf. Vor dem Lager erwartete sie eine kleine Mauer aus 273
Männern mit leichten Schilden. Brett und Vanjynk ritten auf MacKinnie zu. »Wir können sie in einem Angriff vernichten!« rief Brett. »Öffnet die Reihen!« »Nein. Ich will unsere Kavallerie keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Dazu haben wir zuwenig Männer, und wenn etwas schiefläuft, kommen wir nicht wieder in die Stadt zurück. Wir marschieren zusammen oder sterben zusammen. Würden Ihre Reiter uns im Stich lassen?« »Wir würden Sie nicht zurücklassen, und wenn Sie allein inmitten von tausend Feinden stehen würden«, stellte Vanjynk ruhig fest. »Ich habe mit den Reitern gesprochen. Niemand von uns hat einen Tag wie den heutigen erlebt. Wir haben mehr tote Feinde hinter uns gelassen, als wir selbst zählen. Wenn wir vorher gegen sie gekämpft haben, trieb sie unser Angriff so lange vorwärts, bis sie plötzlich über uns herfielen und uns niedermähten. Wir werden bei Ihnen bleiben.« Vorsichtig, aber unerbittlich bewegte sich die Formation zum langsamen Takt der Trommeln vorwärts. MacKinnie ließ die Armee herumschwenken, bis die Spitze des Keils direkt auf das Feindeslager zeigte und sammelte dann seine Reservepikeniere hinter den führenden Männern. Seine Bogenschützen, deren Vorrat an Pfeilen fast erschöpft war, verhielten sich ruhig. Leise gab MacKinnie dem Tempeloffizier, der sie kommandierte, seine Anweisungen. »Eine geschlossene Salve auf die Männer rechts von unserer Spitze. Ich möchte eine Lücke in ihrer Formation. Als Infanterie können sie nicht kämpfen, dazu sind sie 274
nicht ausgebildet und es wird ihnen auch nicht gefallen. Wir werden ihre Reihen durchbrechen und sie von den Flanken her aufrollen.« Als sie nahe genug heran waren, gab MacKinnie das Signal zum Angriff. Die Bogenschützen feuerten ihre Pfeilsalve, während Todd eine Gruppe von Kämpfern vorwärts führte, die ihre Speere auf die Feinde vor ihnen schleuderten und sich dann hinter den Wald aus Lanzen zurückzogen. Die Führungsreihen der Formation drängten nach vorn und setzten über die Lanzen, als die erste Reihe von Pikenieren plötzlich in einen verborgenen Graben hinter den Maris fiel. Ihre Schreie echoten aus der Tiefe herauf. »Genau das wäre passiert, wenn Sie mit den Reitern vorgerückt wären«, erklärte MacKinnie Brett leise. »Ich habe geahnt, daß es einen Grund für eine solche Formation des Feindes gibt. Er hat auf einen massiven Angriff unserer Kavallerie gehofft.« Die Wilden brachen auseinander, liefen auf ihre Pferde zu, die sie hinter den Zelten versteckt hatten und galoppierten davon. Mary Grahams Hilfstruppe half den verwundeten Männern aus dem Graben, doch für fünf von ihnen gab es keine Rettung mehr; sie waren von den eingepflanzten Pfählen aufgespießt worden. Mary Graham wurde bei dem entsetzlichen Anblick blaß, doch MacKinnie hatte keine Zeit für Mitleid. »Begrabt sie dort«, ordnete er an. »Es ist ein ehrenvolles Grab. Und holt den Kaplan.« Dann umrundete er die Formation, ordnete die Reihen und ließ die Schildträger Aufstellung nehmen. 275
Ein kleiner Erkundungstrupp drang in das feindliche Lager ein. Aufgeregt kehrten die Männer nach einer Weile zurück. »Es gibt genug zu essen«, meldete einer von ihnen. »Aber wir müssen sehr vorsichtig sein; sie haben nämlich Skarpias an Wände und Balken gebunden.« Der Skarpia war ein warmblütiges, eidechsenähnliches Tier von acht bis zwanzig Zentimeter Länge. Es besaß eine schwache Ähnlichkeit mit dem Skorpion auf der Erde, und sein Biß war fast immer tödlich. »Wir werden unser Lager vor den Zelten der Feinde aufschlagen«, ordnete MacKinnie an. »Nehmt ihre Pfähle für unsere Palisaden, und achtet darauf, daß ihr sie richtig einsetzt. Vielleicht greifen sie heute nacht wieder an. Und holt so viel Nahrungsmittel für die Stadt, wie ihr tragen könnt.« Unter Starks Anweisungen errichtete das Batallion ein befestigtes Lager. Die Männer hoben Gräben aus, warfen die Erde ins Innere des Kreises und pflanzten Pfähle auf den Wall, den sie aufhäuften. Sie arbeiteten in Schichten, und während die einen gruben, hielten die übrigen mit den Schilden und Waffen der Grabenden Wache, doch die Wilden griffen nicht wieder an. Die Maris ritten unermüdlich um das Lager herum, kamen hin und wieder heran, um ihre Pfeile abzuschießen und drehten ab, bevor eine Gegensalve abgefeuert werden konnte. MacKinnie befahl, das Störfeuer zu ignorieren. »Sie werden noch nahe genug zum Kampf herankommen, bevor die Nacht vorüber ist«, wandte sich MacKinnie an die Männer. »Aus dieser Distanz können sie nicht viel Unheil anrichten. Eure Chance kommt später.« 276
Es war bereits dunkel, als die Feuer endlich entzündet wurden, denn MacKinnie ließ keine Ruhepause zu, bis das Lager fertig war. Als auch der letzte Pfahl in die Erde getrieben war, war die Sonne schon am Horizont verschwunden, und eine dicke Wolkendecke verdunkelte die Monde. Von seinem Kommandoposten auf Mary Grahams Wagen konnte MacKinnie in der Ebene Dutzende von Lichtpunkten erkennen: die Feuer der Barbarenlager, von denen jedes Hunderte von Männern umfaßte. »Sie sind sich ihrer Überlegenheit ziemlich sicher«, bemerkte er. »Mir ist nicht klar, wie wir gegen so viele gewinnen sollen«, erwiderte Mary. »Wie viele Sie auch töten, es werden doch immer neue nachkommen.« »Nicht, wenn sie nichts zu essen mehr finden. Sie müssen ihre Streifzüge schon ziemlich weit ausdehnen, und nur dank der Getreideernten können sie noch hierbleiben. Ohne sie müßten sie sich weiter ins Landesinnere zurückziehen. Wir werden sie schon schlagen, keine Sorge.« »Wer sind Sie eigentlich?« wollte sie plötzlich wissen. »Ich habe mir schon gedacht, daß Sie kein Händler sind, deshalb kam der Ausrutscher Ihres Sergeanten für mich nicht gerade überraschend.« »Sie haben bestimmt schon von mir gehört«, entgegnete er. Draußen vor den Palisaden waren Bewegungen auszumachen. Für einen Augenblick wurde das nächstgelegene feindliche Lagerfeuer verdunkelt, dann noch einmal. »Wollen Sie etwa sagen, Sie heißen MacKinnie? Lassen Sie mich –« Überrascht sah sie auf. »Der Eiserne 277
MacKinnie? Der Kommandant von Orleans? Eigentlich müßte ich Sie jetzt hassen.« »Warum?« »Mein Verlobter war bei den Truppen am Blantern-Paß. Als Subaltern in der Fünften.« Mühsam kletterte MacKinnie vom Wagen herunter; er war erstaunt, wie müde er trotz der geringeren Schwerkraft war. »Die Fünfte war eine gute Truppe.« »Ja. Sie hätten gegen jeden gewonnen, nur nicht gegen Ihre Leute. Ich glaube, nach jener Schlacht hat Sie jeder in Haven gleichzeitig gehaßt und bewundert.« »Das ist jetzt Vergangenheit. Heute sind wir alle loyale Untertanen König Davids. Es tut mir leid für Ihren Verlobten.« »Sie müssen sich nicht entschuldigen.« Sie rückte näher an ihn heran und versuchte, im schwachen Licht des Lagerfeuers sein Gesicht auszumachen. »Aus einer Entfernung von Millionen von Meilen erscheint einem die so bedeutende Politik auf Prinz Samuals Welt auf einmal ziemlich unbedeutend. Bis heute war ich überzeugt, daß wir nie wieder zurückkehren. Selbst jetzt halte ich es noch für kaum wahrscheinlich. Aber wenn es jemand schaffen kann, dann sind Sie es.« Nathan lachte. »Sie hören sich fast so an wie Hal, wenn er zu den Rekruten spricht, Mary Graham. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie allmählich die Männer versorgen. Es wird uns nämlich nicht mehr viel Zeit bleiben, bis die Barbaren ihr Glück mit einem Nachtangriff versuchen. Ich werde die Leute in einzelnen Gruppen herschicken, damit 278
genügend zur Verteidigung bleiben. Die Innentruppe kommt als letzte an die Reihe, denn die Pikeniere und die Schildträger brauchen wir als erste wieder.« »Und wann essen die Reiter?« »Nachdem sie wie jede gute Kavallerie ihre Tiere versorgt haben. Und nach meinen Pikenieren. Entschuldigen Sie mich, Freelady. Ich muß mich jetzt um meine Leute kümmern.« Der Abend schleppte sich voran. MacKinnie war froh, daß die Wilden sie nicht angegriffen hatten, als seine Außenwachen gegessen hatten, aber er wagte es nicht, aufzuatmen, bis auch der letzte wieder auf seinem Posten war. Während die Schwertkämpfer Wache hielten und aufmerksam in die Dunkelheit starrten, ruhten sich die übrigen neben ihren Waffen aus. »Sie kommen«, meinte der Colonel schließlich zu Stark. Ich habe Bewegungen gesehen, und irgendwie spüre ich, daß sie angreifen wollen. Du nicht?« »Doch, Sir. Und wie Sie sagen, es kommt Bewegung in ihre Lager. Wir werden noch vor Morgengrauen mit ihnen rechnen müssen.« Es war fast Mitternacht, als ein Wachposten Alarm rief und dann unter einer Woge unberittener Männer verschwand, die auf die Palisaden zustürmten. »Trompeter!« rief MacKinnie. »Das Signal zum Alarm! Auf die Beine, Männer!« Er konnte sehen, wie eine Gruppe von Pikenieren, die Wache gehalten hatten, auf das Angriffsfeld zuliefen. »Zu mir! Zu mir!« hörte er Vanjynk rufen. »Laßt eure 279
Pferde und kommt her zu mir!« Mit einer Gruppe von Reitern, die ihre Schwerter über ihren Köpfen kreisen ließen, eilte Vanjynk an den Rand des Lagers, wobei er die Schildträger beiseite drängte, die sich auf die Füße kämpften. Die gepanzerten Männer standen hoch auf den Palisaden und teilten gewaltige Schläge an die Feinde aus, die versuchten, aus dem Graben zu klettern. Schreie und Rufe erfüllten die Nacht, und endlich hatte MacKinnie seine Schildmauer soweit formiert, daß er die gepanzerten Soldaten in die Reserve zurückbeordern konnte. »Sie haben das Lager umkreist«, stellte Stark fest. »Sie versuchen es an verschiedenen Stellen, ohne richtige Koordination, aber so, daß wir keine Ruhe bekommen, Colonel.« MacKinnie nickte. »Keine schlechte Taktik. Sie hoffen, uns zu ermüden und uns dann von der Stadt abzuschneiden. Es wird sie einiges kosten.« In weniger als einer Stunde erstarb das Gefecht, und bis auf das Stöhnen der Verwundeten war es still ringsumher, doch der Feind ließ ihnen keine Ruhe. Die ganze Nacht hindurch wurde an der einen oder anderen Stelle der Palisaden angegriffen, und willkürlich abgefeuerte Pfeile surrten durch das Lager. Das Licht des heranbrechenden Morgens holte Hunderte von toten oder verwundeten Feinden aus der Dunkelheit, die die Gräben füllten oder lang ausgestreckt auf dem Boden lagen, wohin sie sich vor dem Kampf geflüchtet hatten. Nomadengruppen umkreisten langsam das Lager und beobachteten schweigend die Mauer aus Schilden. »Jetzt könnte es heikel werden«, meinte MacKinnie. 280
»Aber ich glaube, sie haben vorerst genug. Sie werden abwarten, was wir als nächstes unternehmen.« Vorsichtig ließ er seine Männer vor die Palisaden marschieren und brachte zuerst die Wagen und die inneren Truppen aus dem Lager, bevor er seine Leute von den Schutzwällen abziehen ließ. Die Maris beobachteten diese Aktivitäten aus sicherer Entfernung, griffen aber nicht an, als der Colonel mit seiner Formation langsam durch das Feindeslager zurückmarschierte und alles verbrennen ließ, was sie nicht mitnehmen konnten. Während die Besitztümer der Maris hinter ihnen in Flammen aufgingen, marschierte das Bataillon im Eilschritt zurück zur Stadt.
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17 Die entscheidende Schlacht Der Kriegsminister stand erzürnt vor den versammelten Bischöfen des Tempels. »Er hat bewiesen, daß er die Wilden besiegen kann. Er ist einen Tag und eine Nacht vor den Mauern der Stadt geblieben. Er hat Hunderte von ihnen getötet. Dafür sind wir ihm dankbar. Aber ich sage, daß es blanker Wahnsinn ist, mit unserer gesamten Armee ins Feld zu rücken. Soll er doch weiter mit den alten Truppen kämpfen und unsere Mauern nicht ihrer Verteidiger berauben.« Der Rat murmelte beistimmend, und die Stimmen der Versammelten hallten leise von den Wänden des großen Raumes wider. MacKinnie erhob sich, um sein Wort an die Anwesenden zu richten. Er schritt nach vorn zum Podest vor dem Ratstisch und sah sich noch einmal um. Die Wände des Versammlungsraumes waren mit Wandbehängen bedeckt, über denen Steinfiguren thronten, die Helden eines vor so langer Zeit untergegangenen Imperiums darstellen sollten, daß seine Existenz jetzt nur noch Legende war. Auf seinem Podest hoch über dem Ratstisch schlummerte Seine Äußerste Heiligkeit Willem XL, der gelegentlich aus seiner Senilität erwachte und einen Augenblick interessiert zuhörte, bevor sein Kopf wieder heruntersank. Sein Wort war Gesetz, aber der Rat der Bischöfe schrieb ihm diese 282
Worte vor und sprach sie auch oft genug selbst aus. »Euer Heiligkeit«, begann MacKinnie, »ich würde sicher tun, was Vater Sumbavu verlangt, wenn es möglich wäre. Unsere Expedition war allerdings nur eine Demonstration. Ohne eine ausreichende Zahl von Soldaten, die die Schildträger ersetzen können, die im Kampf fallen und die anderen Männer ablösen, wenn sie müde werden, könnten wir uns gegen den Feind nicht länger als einen Tag halten. Mit genügend Männern dagegen könnten wir ihre Verpflegungsbasen zerstören, sie zum Kampf herausfordern, viele von ihnen vernichten und den Rest ins Landesinnere zurückdrängen. Und lassen Sie sich nicht täuschen, hoch wohllöbliche Herrn. Die Präriebewohner haben unsere Kampftaktiken studiert. Jetzt, in diesem Augenblick, werden sie damit beschäftigt sein, Mittel und Wege zu ersinnen, wie sie ihre zahlenmäßige Überlegenheit und Mobilität ausnutzen können, um uns zu besiegen. Die nächste Schlacht wird über das Schicksal der Stadt entscheiden. Sollen wir es jetzt versuchen, oder schlagen Sie vor, zu warten, bis der Hunger unsere Reihen gelichtet hat? Wollen Sie wie Männer vor den Stadtmauern kämpfen oder sich verkriechen und darauf warten, abgeschlachtet zu werden?« »Er spricht gut, Sumbavu«, mischte sich der Erzdiakon ein. Er wandte sich an MacKinnie. »Und woher wollen Sie wissen, daß Sie gewinnen? Was für ein Händler sind Sie, daß Sie Kampftaktiken kennen, von denen niemand auf unserer Welt je gehört hat?« »Euer Ehrwürden, meine Methoden sind die der Gildeleute im Süden und Westen. Wir haben schon früher gegen 283
diese Wilden gekämpft, allerdings noch nie gegen so viele. Und was unseren Sieg betrifft, was sollte einer Armee Gottes mißlingen? Wenn wir kühn ins Feld ziehen, müssen wir gewinnen, denn Gott ist mit uns.« »Er war auch früher mit uns, aber es hat unserer Armee nicht helfen können«, murmelte Sumbavu. Der alte Priester sah sich ängstlich um, weil er ketzerisch gesprochen hatte. »Sie wollen alle Reiter, die Bogenschützen und ihre Bettler«, stellte der Erzdiakon fest. »Das kann ich verstehen, seit ich vor fünf Tagen Ihren Kampf beobachten konnte. Aber warum brauchen Sie auch die Schwertkämpfer des Tempels? Wie sollen sie Ihnen helfen?« »Die gepanzerten Schwertkämpfer werden unser Lager bewachen«, erklärte MacKinnie. »Sie sollen nachts kämpfen, wenn uns die Schildträger nicht viel nützen können. Sie kämpfen dann gegen die Wilden, wenn diese von ihren Reittieren absteigen und uns zu Fuß angreifen. Die Bürgerarmee kennt nur eine Art zu kämpfen, weil es keine ausgebildeten Soldaten sind. Wir müssen schlagkräftige Kämpfer haben, wenn wir den Feind endgültig besiegen wollen.« »Und was haben Sie zu sagen, Sumbavu, abgesehen davon, daß wir es nicht erlauben sollten? Welche Gründe haben Sie vorzubringen?« fragte der rotgekleidete Kirchendiener. »Er hat geschafft, was Ihnen nicht gelungen ist.« Der Erzdiakon wandte sich an die anderen. »Ich für meinen Teil sehe einen Wink Gottes in der Ankunft dieses Mannes. Wer kennt schon Gottes Wege?« Sumbavu wägte seine Worte sorgfältig ab und sprach so 284
leise, daß die anderen sich vorneigen mußten, um ihn zu verstehen. »Ich weiß keine Antwort und kann nur sagen, daß mir das Ganze nicht gefällt. Diesen Mann umgibt etwas, das ich nicht ergründen kann, und ich bin der Meinung, daß man ihm unsere Tempeltruppen nicht anvertrauen sollte.« »Dann begleiten Sie ihn doch«, schlug der Erzdiakon vor. »Was uns betrifft, so wissen wir genug. Möge der Händler die Wilden töten, und möge Gottes Segen auf ihm ruhen.« Sumbavu verneigte sich ergeben, aber als MacKinnie den Raum verließ, spürte er den Blick des Kriegsministers auf sich ruhen. MacKinnie brauchte zwei weitere Wochen, um alles für die Schlacht vorzubereiten. Seine Truppen aus Bürgern und Bauern waren so gut wie möglich gedrillt, und zwischen ihre Reihen hatte er die Männer seiner ursprünglichen Truppe als Führer verteilt. Stark exerzierte unaufhörlich mit ihnen im Tempelhof und ließ sie immer wieder die komplizierten Bewegungen der verschiedenen Marschformationen, das Öffnen und Schließen der Reihen und das Präsentieren der Piken üben. Brett und Vanjynk beschäftigten sich mit den Reitern und versuchten, ihnen mit Schreien und Flüchen verständlich zu machen, daß ihre große Stärke in einem Massenangriff lag und daß sie nach jedem Angriff zur Neuformierung hinter die Schildmauer zurückkehren mußten, oder sie würden aufgerieben und getötet werden. Am Ende eines jeden Tages sprachen sie über die Fortschritte, und am nächsten Morgen ging das Exerzieren in aller Frühe wieder los. 285
Am Abend vor dem Ausmarsch der Armee hielt MacKinnie eine letzte Besprechung ab. Eindringlich sah er seine Offiziere an, die an dem schweren Holztisch vor ihm saßen. »Mr. MacLean, wie sieht es mit meiner Infanterie aus?« »Besser als bei unserem ersten Ausfall, Händler. Sie wissen jetzt, was zu tun ist, und Stark hat sie so lange gedrillt, bis sie fit waren. Sie sind zwar auch jetzt noch keine Kampfveteranen, aber sie werden schon durchhalten. Es hat übrigens auch keinem geschadet, daß die Rationen verdoppelt worden sind.« »Das haben wir dem Händler zu verdanken«, meldete sich Mary Graham zu Wort. »Er hat jemanden im Lagerhaus gefunden, der sich bestechen ließ.« MacKinnie schüttelte den Kopf. »Schon wieder Stark, obwohl auch ich daran gedacht habe. Ich habe noch keine Verpflegungstruppe erlebt, in der nicht ein paar Leute bestechlich waren.« »Ich will hoffen, daß dies nicht auf meine zutrifft«, meinte Mary beleidigt. »Ich muß Sie leider enttäuschen«, warf Stark ein. »Man muß nur hoffen, daß ihr Preis hoch genug ist und sie so eingeschüchtert sind, daß sie die Verpflegungswagen nicht mit Sand auffüllen. Es wäre nicht der erste Feldzug, bei dem das passiert.« »Und Ihre Reiter, Vanjynk?« erkundigte sich MacKinnie. »Sie hören auf die Signale der Trompeten, aber es fällt ihnen immer noch schwer, sich auf Befehl vom Kampf 286
zurückzuziehen. Genausowenig wie ich, obwohl ich die Notwendigkeit einsehe.« Vanjynk ergriff seinen Becher und trank. »Auf Ihrer Welt kämpft man seltsam, Sternenmann.« »Überlegen Sie lieber, was Sie sagen«, murmelte Stark. »Wir haben ohnehin schon genug Schwierigkeiten mit den Tempelleuten.« MacKinnie nickte. »Hal hat recht. Sagen Sie, werden die Reiter den Trompeten gehorchen?« »Ich glaube schon«, antwortete Brett. »Sie dürften nämlich kaum Lust dazu haben, von den Wilden getötet zu werden. Trotzdem, diese Männer kennen keine Furcht, höchstens vor der Schande.« »Das stimmt, und deshalb hat Brett auch ein Lied über ungehorsame Reiter gedichtet, die ihren Kommandanten verließen und daraufhin für immer in Unehre fielen«, erklärte MacLean. »Ziemlich einfältig, aber äußerst wirkungsvoll. Es scheint geholfen zu haben.« »Wenn Lieder helfen, dann singt aus Leibeskräften«, wies MacKinnie sie an. »Der Schlüssel zum Sieg bei dieser Schlacht liegt darin, daß die schwere Kavallerie die Wilden beschäftigt, bis sie eingekesselt sind. Nichts und niemand auf dieser Welt hat einem Angriff der gepanzerten Kämpfer etwas entgegenzusetzen, aber sobald sie ihren Antrieb verlieren und sich teilen, können die Maris sie ohne große Mühe überwältigen.« Er wandte sich an Mary Graham. »Haben Sie den Nachschub, den wir angefordert haben?« Sie nickte. 287
»Wir haben tausend Pfeile für die Bogenschützen anfertigen lassen, und die Getreidewagen stehen auch bereit. Aber viel Verpflegung haben wir nicht mit.« »Ich weiß. Sie führen aber eine Reihe von leeren Wagen mit. Entweder finden wir etwas, mit dem wir sie füllen können, oder wir müssen in die Stadt zurückkehren, um weitere Verpflegung zu holen. Diese Formation ist auch ohne schwere Verpflegungswagen langsam genug.« »Dann wären wir bereit«, antwortete Mary Graham. »Sie nicht. Sie werden uns diesmal nicht begleiten«, stellte MacKinnie fest. »Doch. Ich bin hier genausowenig sicher wie da draußen. Wenn Sie die Schlacht verlieren, ist auch die Stadt verloren, und das wissen Sie.« Sie sah sich um und blickte die anderen Männer von ihrer Welt an. »Ich habe ein Recht auf seinen Schutz, und ich möchte mich nur ihm persönlich anvertrauen. Habe ich dieses Recht oder nicht?« »Ein interessantes Argument«, erwiderte Longway. »Sie können sie nicht ohne einen geeigneten Schutz hier zurücklassen. Und ohne Zweifel hat sie das Recht auf jemanden aus ihrer Heimat. Bei wem wollen Sie sie zurücklassen? Sicher, Kleinst bleibt hier, aber er dürfte kaum der geeignete Vormund für sie sein.« »Offensichtlich bleibt mir keine andere Wahl, obwohl ich einfach nicht verstehen kann, warum Sie unbedingt eine Armee auf ihrem Feldzug begleiten wollen, Freelady.« MacKinnie sah sie erwartungsvoll an. »Warum sollte ich hierbleiben?« gab sie zurück. »Es gibt wenig genug auf diesem gottverlassenen Planeten, mit 288
denen ich reden kann, und bei den Tempelmönchen will ich nicht bleiben. Außerdem kann ich mich doch ganz nützlich machen, oder können Sie einen Mann entbehren, der den Nachschub organisieren soll?« »Der Punkt geht an Sie.« Nicht schlecht, dachte Nathan. Sie war bisher fast so nützlich wie Hal gewesen. Niemand sonst hätte die Logistik auch nur halb so gut organisieren können wie sie. Aber – Er wandte sich wieder an die Versammlung. »Der ausschließliche Zweck dieser Expedition wird es sein, die Präriebewohner entweder zum Kampf herauszufordern, und zwar nach unseren Spielregeln, oder ihre Nachschubbasis zu zerstören. Beides für sich reichte aus, doch ich bezweifle, daß sie uns einfach kampflos hinausmarschieren und ihr Getreide verbrennen lassen …« Er deutete auf die Karte, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Soweit man ihren Schritten nach urteilen kann, ernten sie seit drei Wochen das Getreide. Die nächstgelegenen großen Getreidefelder sind hier, rund dreißig Kilometer vor den Toren der Stadt, vorausgesetzt, sie benutzen die Wege. Und das nehme ich stark an. Meine Erfahrungen haben es mir gezeigt. Also werden wir direkt darauf zu ziehen und verbrennen, was wir nicht aufladen können.« »Und dann?« wollte MacLean wissen. »Wir werden ja sehen, ob sie kämpfen. Wenn nicht, marschieren wir von Ort zu Ort, bis ihnen die Vorräte ausgehen. Aber ich bin überzeugt, daß sie kämpfen werden.« »Vielleicht kämpfen sie schneller, als uns lieb ist«, warf 289
Longway ein. »Auf Ihrem letzten Zug haben Sie ihren Stolz verletzt, und sie werden beweisen wollen, daß es nur Zufall war. Das nächstemal werden sie mit allem angreifen, was sie auf die Beine bringen können.« »Und das ist genau das, worauf ich hoffe«, antwortete MacKinnie langsam. »Es wird sie Zeit kosten, sich zum Kampf zu sammeln, und noch mehr, bis sie sich entschieden haben, wer sie anführen soll. Bis dahin müßten wir an unseren Zielpunkt gelangt sein und unser Lager errichtet haben. Sie werden die ganze Nacht hindurch ihre Truppen sammeln und wahrscheinlich versuchen, uns am Morgen in einem Handstreich zu überwältigen.« »Sie haben es also auf eine große und entscheidende Schlacht abgesehen«, meinte Mary. »Genau. Eine einzige und endgültige Schlacht. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.« Er blickte vielsagend auf die Makassarer um den Tisch und erhob sich dann, um die Versammlung aufzulösen. »Schlafen Sie gut, und bereiten Sie sich für morgen auf alles vor. Vielleicht lassen sie uns noch nicht einmal bis zum ersten Dorf kommen. Bei Tagesanbruch formierte sich die Armee vor den Mauern der Stadt. Wieder ließ MacKinnie seine Truppen in einer Dreiecksformation Aufstellung nehmen, doch diesmal mit der breiten Basis nach vorn, während die Spitze nach hinten zeigte. Er verdoppelte die Männer auf der rechten Flanke des Keils und setzte alle linksseitigen Kämpfer in die vordersten Reihen; an die Spitze stellte er eine große Reservetruppe. Als er mit der Aufstellung 290
endlich zufrieden war, begannen die Trommeln mit ihrem langsamen Rhythmus, und die Armee rückte aus. Schwärme von Maris umkreisten sie, stürmten auf sie zu, um sich dann wieder zurückzuziehen, während sie auf die kleinste Öffnung in den Schildwänden warteten. Das Wissen, daß die Stadtarmee sie niemals würde verfolgen können, machte sie geduldig und sicher. Die Trommeln behielten ihren langsamen Takt bei, Wagenräder quietschten und knarrten, und Männer brüllten die Ochsen an, die die Verpflegungswagen zogen, während die Reiter in der Mitte ungeduldig ihre Pferde führten. Kilometer um Kilometer legten sie zurück, und je näher sie dem feindlichen Lager kamen, desto mehr Wilde gesellten sich zu den schon versammelten Gruppen, bis die Armee vollständig eingekreist war. »Glauben Sie, die Stadt wird sich mit den paar Männern halten können, die zurückgeblieben sind?« fragte Stark, als er auf die Stadt am Horizont zurückblickte. »Viel Leute haben Sie ihnen ja nicht gelassen.« »Sie werden schon durchhalten«, beruhigte ihn MacKinnie. »Die Feinde verfügen über keine schwere Belagerungsausrüstung, und solange die Mauern besetzt sind, können die Barbaren nicht viel ausrichten. Gib ihnen genügend Zeit, und sie könnten Leitern aufstellen oder sogar ihre Sättel gegen die Mauern aufstapeln, aber erstens können die Verteidiger diese Aktionen hinauszögern, und zweitens habe ich nicht die Absicht, ihnen so viel Zeit zu geben. Wir scheinen sowieso die meisten von ihnen auf uns zu ziehen. Was macht Sumbavu?« »Er reitet mit den Reitern, Colonel. Außerdem hält er ein 291
Auge auf die uniformierten Schwertkämpfer und die Bogenschützen. Er scheint Ihnen nicht zu vertrauen.« »Ich kann es ihm nicht verdenken, Hal. Ich würde mir auch nicht über den Weg trauen, wenn ich er wäre. Was soll er auch sonst tun? Paß auf ihn auf; wenn die Feinde angreifen, kann ich ihn nicht gebrauchen.« »In Ordnung, Sir. Sie haben sich nicht gerade heftig dagegen gewehrt, daß er mitkam.« »Vielleicht weil ich nichts dagegen hatte. Und jetzt geh und paß auf ihn auf.« »Jawohl, Sir.« Sie marschierten weiter und waren schließlich bis auf einen Kilometer an die Zelte der Feinde heran. MacKinnie blickte auf die Ansammlung von Barbaren vor ihnen. »Sie versuchen, zu einem Entschluß zu kommen. Sie wollen das ganze Getreide nicht kampflos aufgeben. Paßt auf diese Gruppe da vorn auf«, fügte er hinzu. »Da kommen sie! Schlagt Alarm!« Ein Trommelwirbel ertönte, dann schlugen die Trommeln wieder ihren gewohnten Takt. Die Formation bewegte sich weiter vorwärts, bis der Feind in Schußweite war. »Bereitet euch auf die Attacke vor«, ließ sich MacKinnie ruhig vernehmen, während er die Distanz zu den vordersten Barbaren abschätzte. »Formiert euch zur Schildwand.« Wieder schlugen die Trommeln, und die Bogenschützen des Tempels eilten an den Rand des Dreiecks, um in die Feinde zu feuern. Die Angreifer stürmten gegen die breite Front des Keils an und wirbelten dann herum, um die linke Seite der Basis zu attackieren. Pikeniere eilten in die Ecke, 292
während feindliche Staffeln nacheinander gegen den linken Flügel des umgedrehten Dreiecks anrannten. Doch die Schildwand hielt ihrem Angriff stand. Ein paar Barbaren sprangen über die erste Reihe hinweg und landeten mit kreisenden Schwertern zwischen den Pikenieren, doch die Tempelwachen mähten sie rasch nieder. Das Gefecht war kurz, und am Schluß lagen sicher hundert Feinde vor der Formation. Ein Jubelgeschrei erhob sich unter den Soldaten, das jedoch schnell von den Trommlern unterdrückt wurde, die Befehl zum Weitermarsch gaben. »Eine ziemlich schwache Leistung«, kommentierte Stark. »Ich dachte, sie würden entschlossener vorgehen.« »Sie wollten uns nur testen«, erklärte MacKinnie. »Jetzt haben sie einen Weg gefunden, wie sie ein paar Männer in unsere Reihen bringen können. Sie werden es wieder versuchen. Erstaunlich anpassungsfähig, diese Burschen.« »Das müssen sie auch sein«, mischte sich hinter ihnen Brett ein. Als MacKinnie sich umdrehte, sah er den Sänger, der geduldig hinter ihnen her marschierte. »Ich habe mein Pferd bei Vanjynk gelassen. Meinen Sie, daß es zu weiteren Gefechten kommen wird?« »Ja, das meine ich. Aber wie viele es sein werden, das hängt nicht nur von ihren Absichten ab. Im Augenblick werden wir uns zuerst daranmachen, ihnen ihre Vorräte zu nehmen.« Das feindliche Lager war verlassen. Man hatte zwar die Zelte fortgeschafft, aber große Berge von Getreide zurückgelassen. Vor kurzem noch war es mit Häuten bedeckt gewesen, die aber jetzt entfernt worden waren, so daß der 293
Wind die Körner ungehindert davontragen konnte. Einen Teil der Ernte hatten die Wilden überdies mit Exkrementen verdorben. Mary Grahams Versorgungstrupp machte sich an die langwierige Arbeit, das Getreide in Säcke zu füllen und aufzuladen. Um sie herum lagen verstreut die Überreste des feindlichen Lagerlebens, und Spuren ließen darauf schließen, was mit den Dorfbewohnern geschehen war, die das Unglück hatten, den Maris in die Hände zu fallen. Stark schickte Bestattungskommandos los, sie zu beseitigen. Vater Sumbavu untersuchte die Überreste eines jungen Mädchens. »Bestien«, konstatierte er. »Das sind keine Menschen. Sie müssen ausgerottet werden.« »Dazu dürften wir kaum in der Lage sein«, erwiderte MacKinnie. »Aber vielleicht können wir sie trotzdem überraschen. Sie entschuldigen mich, Vater, aber ich muß jetzt nach unseren Verteidigungsanlagen sehen.« Gräben, Wälle und Palisaden wurden um das Lager gezogen, während der Verpflegungstrupp Lagerfeuer entfachte. Ein Dutzend Sänger schlenderten umher. MacKinnie ging durch das Lager und sprach hier und da mit einer Gruppe Soldaten, um sich ein Bild über ihre Kampfmoral machen zu können. Es war schwer zu glauben, daß diese Männer noch vor wenigen Monaten stumpfsinnige Sklaven und Bettler in den Straßen von Batav gewesen waren. Jetzt brüllten sie vergnügt über seine Scherze, verhöhnten den Feind, den sie nicht sehen konnten und hielten wild entschlossen ihre Waffen umklammert, als wollte sie ihnen jemand abnehmen. MacKinnie bedauerte jeden, der unvorsichtig genug sein 294
würde, es zu versuchen. In dieser Nacht kamen sie nicht zur Ruhe. Als beide Monde hoch am Himmel leuchteten, stürmten die Wilden in Massen heran, teils beritten und teils zu Fuß, in der Hoffnung, irgendwo eine schwache Stelle zu finden. Immer wieder griffen sie an, um die Männer im Lager nicht zur Ruhe kommen zu lassen, zogen sich dann jedesmal zurück, bevor die Soldaten zurückschlagen konnten, um dann wieder von neuem zu attackieren. MacKinnie schickte kleine Abteilungen in die Mitte ihrer Befestigung und ließ ihren Posten von anderen besetzen, so daß sich jeder eine Zeitlang ausruhen konnte. Gegen Morgen hörten die Attacken auf, und er ließ die Männer bis spät in den Morgen hinein schlafen. Die Schwertkämpfer des Tempels hatten die Hauptlast des Angriffs zu tragen gehabt und waren am meisten ruhebedürftig. MacKinnie rief sie erst zum Frühstück, als alle anderen fertig waren. Einen Kilometer vom Lager entfernt sammelte sich eine große Gruppe Barbaren, die einen Halbkreis zwischen MacKinnies Armee und der Stadt bildete. Der Colonel hatte noch nie so viele Präriebewohner zusammen gesehen. Als er oben auf dem Verpflegungswagen stand, um einen besseren Überblick über den Feind zu bekommen, gesellte sich Stark zu ihm. »Das wird die Entscheidung, nicht wahr, Colonel?« »Möglicherweise. Sehen wir zu, ob wir aus diesem Lager herauskommen können. Sie wollen uns wahrscheinlich angreifen, sobald sie so viele sind, daß sich eine Attacke lohnt.« MacKinnie rief von oben herab seine Befehle, ließ die Männer in Reihen antreten und machte 295
einem Trompeter ein Zeichen. Die Klänge des Instruments riefen seine Offiziere zu ihm. Augenblicke später öffnete sich das Haupttor. MacKinnie schickte eine starke Abteilung von Schildträgern nach vorn und ließ sie zur linken Seite des Lagertores abschwenken. Eine zweite Gruppe wandte sich nach rechts, während andere hinausmarschierten, um eine Linie zwischen ihnen zu bilden, deren Enden von zwei Gruppen ausgesuchter Männer stabilisiert wurden. Als die linke Gruppe eine ausreichend große Öffnung innerhalb der Schildmauer gelassen hatte, formierte sich in der äußersten linken Ecke des umgedrehten Dreiecks die Armee. Dann schickte MacKinnie die Tempelbogenschützen nach vorn und ließ sie in einer Reihe an jeder Flanke der Dreiecksformation Aufstellung nehmen. Als sich die Maris den beiden Seitenflanken näherten, wurden sie von einem Pfeilregen begrüßt, der sie zwang, auf Distanz zu gehen. Schließlich gruppierten sie sich und bewegten sich auf die Mitte zu, wo der Widerstand am geringsten war. MacKinnie nickte zufrieden. »Jetzt kommt der schwierige Teil«, murmelte er. Eine Gruppe Wilder griff das Zentrum des Dreiecks direkt vor den Lagertoren an. Die Schildmauer hielt der Attacke zwar stand, wich aber langsam zurück, wurde dünner und dünner und bog sich nach innen auf die Tore hin durch, während die schwereren Formationen an den Enden der Linie standhielten. Weitere Kämpfer wurden nach vorn geschickt, um die Lücken zu füllen und eine gleichmäßige Linie zu bilden, doch der Feind drängte immer mehr nach vorn und zwang sie zurück, immer 296
weiter zurück, je mehr Maris an der Attacke teilnahmen. Die Formation gab noch immer nach, bis sie einem gewaltigen »U« ähnelte, das seine Basis fast an den Palisaden hatte. Hunderte, tausend, viertausend Wilde drängten jetzt auf das Tor zu. »Jetzt!« rief MacKinnie. Über den Gefechtslärm hinweg ertönten die Trompetensignale und das Donnern der Trommeln. Die Reiter formierten sich innerhalb ihrer Bastion, und dann, als sich die Formation öffnete, griffen sie am Flügel an und rollten den Feind von der Flanke her auf. Hinter ihnen schloß sich die Schildwand, und die Enden des U zogen sich zusammen. Die Bogenschützen standen jetzt mit dem Gesicht nach innen und feuerten in die Reihen der Feinde, während die schwere Kavallerie über die Barbaren hinwegdonnerte, sie niederritt und aufrieb, bis sie schließlich direkt in das Lagertor hineinstürmten. MacKinnie winkte Brett wie wild. »Sie sollen sich neu formieren und sich bereit halten, um die Außenflanken zu verteidigen!« rief er. »Die Bogenschützen und Speerträger werden schon allein mit den Eingeschlossenen fertig.« Das Schlachtfeld vor dem Tor war blutbedeckt. Die Wilden drängten sich immer enger zusammen, während sich die Schildwand, gespickt mit Speerspitzen, um sie zusammenzog. Bogenschützen des Tempels schossen immer neue Salven auf den hilflosen Feind ab, der so eng zusammengedrängt war, daß er noch nicht einmal mehr Gebrauch von seinen Waffen machen konnte. Ein paar von ihnen rannten verzweifelt zum Ende der Falle, bevor die schweren Gruppen von Kriegern, die MacKinnie als erste 297
hinausgeschickt hatte, aufeinandertrafen und jeden Fluchtweg abschnitten. Die restlichen Barbaren außerhalb der Falle versuchten, ihren Kameraden zu Hilfe zu kommen, wurden aber von den nach außen gerichteten Schildträgern gestoppt, die sich langsam mit den vorwärts ziehenden Innenreihen zurückzogen. Der Feind wurde von den wiederholten Attacken der Kavallerie auseinandergetrieben, die über die Eingeschlossenen hinwegdonnerte, am Ende der Falle umdrehte und zurück ins Lager kehrte, um sich neu zu formieren. Die Schwertkämpfer des Tempels verteidigten unterdessen die Schutzwälle. Die große Masse der Barbaren hätte die dünneren Reihen des Lagers oder sogar die äußeren Verteidigungstruppen der Falle durchbrechen können, aber es gab keine Flucht vor dem Kampf. Die wenigen, die sich nicht in der Falle befanden, konnten ihnen nicht helfen und fielen höchstens in die Speere der Schildwand oder wurden von den Reitern zu Boden getrampelt, während ihre glückloseren Kameraden gnadenlos niedergemacht wurden. Das Gemetzel dauerte bis in die frühen Nachmittagsstunden an. Gegen Ende des Kampfes warfen sich Gruppen unseliger Barbaren selbst in die Speere oder kletterten die Verteidigungswälle hinauf, um oben von den Schwertkämpfern aufgespießt zu werden. Verzweifelte Schreie wurden laut, und angesichts der Masse von Schwertern und dem unaufhörlichen Pfeilregen verloren sie bald den Mut. Als die Pikeniere über die Toten hinwegschritten, schlitzten die Marketender jedem Feind die Kehle auf und zogen die Pfeile heraus, damit sie wiederverwendet werden konnten. Eingefangene Tiere wurden durch die Reihen in 298
das Lager geführt, wo man sie neben den Ochsen anband, die die Verpflegungswagen zogen. Die Reihen rückten immer enger zusammen, bis sie sich endlich berührten. Es waren keine Feinde mehr in der Falle. »Was schlagen Sie für morgen vor?« wollte Sumbavu vom Rat wissen, der sich um MacKinnies Lagerfeuer zusammengefunden hatte. »Sie haben Tausende von Toten auf dem Schlachtfeld zurückgelassen, und noch mehr sind von unseren Reitern auf der Flucht niedergemacht worden. Wir können doch nun in die Stadt zurückkehren.« »Nein.« MacKinnie erhob sich, einen Becher mit Wein in der Hand. »Solange wir nicht ihre Versorgungsbasis zerstört haben, gibt es keine Sicherheit für die Stadt. Wir müssen weiter ihr Getreide verbrennen.« »Es ist nicht ihr Getreide, sondern unseres!« blitzte Sumbavu. »Sie können nicht die gesamte Ernte verbrennen. Sie muß in die Stadt zurückgebracht werden. Sicher können Sie diesen Marsch so lange aufschieben, bis wir den Tempel mit genügend Nahrungsmitteln versorgt haben! Die Getreuen sind hungrig, und man muß ihnen von diesem großen Sieg erzählen.« »Sie vergessen, daß es noch viel mehr Feinde gibt als die, die wir getötet haben«, erinnerte MacKinnie den Priester. »Und wir dürfen ihnen keine Zeit zum Ausruhen geben. Wir müssen sie unaufhörlich verfolgen, bis sie aus Furcht ins Landesinnere zurückkehren.« »Das verbiete ich«, sagte Sumbavu ruhig. »Wir müssen diese Getreidevorräte zurück in die Stadt bringen. Sie werden sie nicht verbrennen.« 299
»Dann schlage ich vor, daß Sie selbst sie dort hinbefördern, Euer Hochwürden«, riet ihm MacKinnie. »Jetzt, da wir ihre Reihen gelichtet haben, kommen wir wohl ohne die Schwertkämpfer des Tempels aus. Ich brauche ein paar Transportwagen für die Verpflegung der Armee, aber die Hälfte kann ich Ihnen geben, und dazu noch dreihundert Lagerhelfer. Es sind ja nur dreißig Kilometer; jeder Mann kann sicher einen Zentner Getreide tragen. Da bleibt nicht mehr viel zum Verbrennen übrig.« »So soll es sein. Wir werden uns sofort auf den Weg machen.« »Jetzt, so spät am Abend, Euer Hochwürden?« fragte MacKinnie. »Halten Sie das für klug?« »Es ist sicher besser, als ihnen am Tag in die Arme zu laufen. Ich akzeptiere, daß Sie mich nicht mit Ihrer Armee eskortieren wollen, obwohl es Sie nur einen Tagesmarsch Zeit kosten würde. Es bleibt mir ja nichts anderes übrig. Aber ich werde dem Rat von Ihrer Weigerung berichten.« »Zwei Tagesmärsche, Vater«, verbesserte MacKinnie ihn gelassen. Hin und zurück. Nicht zu sprechen von dem Chaos, das herrschen würde, wenn alle in die Stadt liefen, um ihren Freunden von unserem Sieg zu berichten. Wir würden viele Tage verlieren, und wozu das? Wenn die Stadt endgültig vom Feind befreit werden soll, so muß das jetzt sofort geschehen.« »Wozu soll es gut sein, die Wilden zu vertreiben, jetzt, da wir Proviant sammeln können?« zischte Sumbavu. »Wir könnten zurückkehren, unseren Tempeloffizieren zeigen, wie man die Soldaten führt, und dann noch einmal 300
losziehen. Nur wäre das nicht so gut für Sie und Ihre Ausländer, nicht wahr? Sie wollen den Sieg für sich allein, doch warum, das weiß ich nicht. Aber ich sage Ihnen noch einmal: Ich weiß, daß Ihnen das Wohl des Tempels nicht als vorrangigstes am Herzen liegt, Soldat aus dem Süden. Wenn ich nicht von den Getreuen des Tempels beschützt würde, würde ich wahrscheinlich nicht lebend von diesem Marsch zurückkehren.« Er wandte sich abrupt ab und verschwand in der Dunkelheit, gefolgt von seiner Leibwache. »Suchen Sie die Sklaven aus Ihrer Gruppe aus, die am ehesten entbehrlich sind«, wies MacKinnie Mary Graham an. »Nehmen Sie die Tölpel, die ermüdeten Tiere und diejenigen, für die Sie keine neuen Geschirre haben anfertigen lassen sowie die Wagen, die bald auseinanderfallen werden, für Sumbavu.« Sie musterte ihn aufmerksam. »Ich würde fast annehmen, daß Sie genau aus diesem Grund all diesen nutzlosen Plunder mitgeschleppt haben. Und Sie haben auch jene Gruppe von Sträflingen zu meinen ausgesuchten Männern eingeteilt … Haben Sie etwas Ähnliches erwartet?« »Freelady, sorgen Sie nur dafür, daß die Gruppe bald aufbricht«, unterbrach sie Stark. »Der Colonel hat schon genug Probleme.« Er begleitete sie zu den Getreidevorräten und beauftragte dann Männer damit, die Wagen zu beladen, die zurück zur Stadt fahren sollten. Zwei Stunden später war Sumbavu zum Aufbruch bereit. Er stand neben MacKinnie am Lagerfeuer und sah hinauf zum Himmel. »In einer Stunde werden die Monde verschwunden sein. Sie haben die Feinde nicht wiedergesehen?« 301
»Nein, Vater. Aber sie werden da draußen ihre Männer haben.« »Die Chancen stehen günstiger, da sie nachts nicht angreifen«, fuhr der Priester fort. »In der Dunkelheit können sie nicht sehen, daß uns nur die Tempelsoldaten begleiten. Sie werden vor uns Angst haben.« Schweigend beobachtete er den Untergang der Monde, bis sich Dunkelheit über die Ebene breitete. »Ziehen Sie mit meinem Segen«, meinte Sumbavu schließlich zu MacKinnie. »Vielleicht habe ich Ihre Absichten doch falsch beurteilt. Möge Gott Sie begleiten.« »Danke, Vater.« MacKinnie befahl, die Tore zu öffnen und sah zu, wie Wachen und Wagen das Lager verließen. Jeder Schwertkämpfer trug zusätzlich zu seinen Waffen noch einen Sack mit Getreide auf dem Rücken, und die Wagen ächzten unter der schweren Last. Sträflinge und Sklaven, die mit Versprechungen von Freiheit auf diese Expedition gelockt worden waren und nun wieder zurück in die Stadt geschickt wurden, alte Ochsen, Karren mit quietschenden und krachenden Rädern, sie alle zogen mit den stolzen Tempelwachen hinaus in die Ebene. Tausend Soldaten und dreihundert Träger marschierten aus dem Lager, bevor die Tore wieder geschlossen wurden. MacKinnie kehrte zu seinem Zelt zurück, wo sich Minuten später auch Stark und Longway einfanden. »Sie werden nie im Leben bis zum Morgen auch nur zehn Kilometer schaffen«, meinte Stark. »Nicht so, wie die Männer beladen sind.« »Ich habe angenommen, der Priester würde sie mit 302
Verstand beladen«, mischte Longway sich ein. »Sie schleppen doch viel zuviel mit sich. So gierig kamen sie mir gar nicht vor.« »Mag sein, aber nachdem ihnen der Händler erlaubt hat, sich von der Beute so viel zu nehmen, wie sie wollten, gab es für sie kein Halten mehr. Ich habe keinen gesehen, der nicht mindestens fünf bis zehn Kilo an Sachen trug, die er den Toten abgenommen oder im Lager aufgesammelt hat.« »Sehr großzügig von Ihnen«, erwiderte Longway. »Außergewöhnlich großzügig sogar.« »Wir werden noch mehr Beute machen«, erklärte MacKinnie. »Es werden noch mehr Chancen für uns kommen, reich zu werden, nicht aber für sie. Sie haben ihren Anteil bekommen.« »Darauf wette ich«, murmelte Stark. MacKinnie blickte ihn flüchtig an und starrte dann schweigend ins Feuer, als sich Mary Graham zu der kleinen Gruppe gesellte. »Sie sehen am besten zu, daß Sie etwas Schlaf bekommen«, riet ihr MacKinnie. »Wir brechen morgen früh zeitig auf, und es ist schon ziemlich spät.« »So dringend habe ich eine Ruhepause nicht nötig«, lachte sie. »Wissen Sie nicht, ich fahre doch auf einem Wagen?« »Lady, wenn Sie wirklich auf dem Marsch in diesem Karren schlafen können, dann sind Sie die großartigste Soldatenfrau, die mir je vorgekommen ist«, bemerkte Stark. »Wenn ich daran denke, wie diese Dinger durch jedes Loch rumpeln, gehe ich hundertmal lieber zu Fuß.« Mary Graham lachte, sah sich verstohlen um und meinte 303
dann: »Meinen Sie, das Imperium wird auseinanderbrechen, wenn wir ihnen zeigen, wie man Federn in die Karren einbauen kann? Aber jetzt ist es ja doch zu spät.« Sie betrachtete nachdenklich das Lager. Die Speer- und Schildsoldaten lagen schlafend entlang der Außenbegrenzung, die Schilde hinter den Palisaden aufgestellt und Piken und Speere alarmbereit in den Händen, während Wachen um das Lager patrouillierten. »Ich glaube, ich könnte allmählich mit dem Frühstück anfangen. Für die Köche gibt es keine Verschnaufpause.« »Das ist nicht nötig«, lehnte MacKinnie ab. »Es wird nicht gefrühstückt. In einer Stunde werde ich die Männer wecken, die mich begleiten sollen. Die übrigen können Sie versorgen, wenn wir aufgebrochen sind. Das heißt, falls Ihnen der Feind Zeit dazu läßt. Ich werde MacLean als meinen Stellvertreter hierlassen.« »Wollen Sie Ihre Armee aufteilen, Händler?« fragte Longway. »Das erscheint mir ziemlich unvernünftig. Wie lange werden Sie fortbleiben?« »Ein Tag dürfte ausreichen, so oder so. Machen Sie sich keine Sorgen, Akademiker, wir werden Sie nicht lange allein lassen.« »Was soll das Ganze?« wollte Mary wissen. »Irgend etwas Seltsames geht hier vor. Und es will mir ganz und gar nicht gefallen.« »Ruhen Sie sich ein bißchen aus«, empfahl ihr MacKinnie noch einmal. »Und wenn Sie das nicht wollen, dann gönnen Sie wenigstens mir noch etwas Schlaf. Wir müssen in aller Frühe aufbrechen, Hal. Gib den Wachen 304
Anweisung, mich eine Stunde vor Tagesanbruch zu wecken. Sie werden mich entschuldigen, aber wenn ich nicht geschlafen habe, kann ich einfach nicht klar denken, und der Feind ist so gefährlich, daß ich mir das nicht erlauben kann.« Er ging hinüber zu seinem Zelt und schloß die Plane hinter sich. Nach einigen Augenblicken begab sich auch Longway zu seinem Quartier. »Hal, da stimmt doch etwas nicht mit ihm«, drängte Mary Graham. »Da geht doch etwas vor, oder nicht?« »Freelady, es gefällt ihm nicht, was er tun mußte. Und ich kann auch nicht sagen, daß es mir ganz wohl dabei war, aber wir haben keinen anderen Weg gesehen. Und jetzt tun Sie, was er gesagt hat und versuchen Sie, ein bißchen zu schlafen. Ich glaube, ich lege mich besser auch etwas hin.«
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18 Der Preis der Beute »Es ist Zeit, Colonel.« »Uh.« Mühsam öffnete MacKinnie die Augen. »Eine Stunde vor Tagesanbruch«, meldete Stark. »Hier.« Er reichte Nathan eine Tasse mit dampfendem Tee, die dieser dankbar entgegennahm. »Danke.« Wieder bedauerte er, daß es auf Makassar weder Kaffee noch Chickeest gab. Aber es hätte auch schlimmer sein können, überlegte er. Zumindest kannte man hier Tee. Die Nacht war dunkel. Beide Monde waren untergegangen, und niedrige Wolken verdeckten die meisten Sterne. Vom Lager selbst konnte MacKinnie nicht viel sehen, aber er hörte an den Geräuschen, daß die Männer ebenfalls wach wurden. Sie unterhielten sich flüsternd, und gelegentlich wurden die leisen Stimmen von lauteren Flüchen und den Befehlen, zu schweigen, durchbrochen. Nathan zog seine Stiefel an und ging hinüber zum Küchenlager, wo sich seine Offiziere und Unteroffiziere langsam einfanden. Leise wandte er sich an die versammelte Gruppe. »Ich mache mir Sorgen um Vater Sumbavus Gruppe. Wir werden mit dem Ersten und Zweiten Bataillon und den Reitern aufbrechen, um sie abzusichern. Die übrigen 306
werden hierbleiben und das Lager bewachen. Ich habe für die Zeit meiner Abwesenheit MacLean als Kommandant eingesetzt. In zehn Minuten ziehen wir los.« »Ist es ratsam, die Armee aufzuteilen?« warf MacLean ein. »Ob ratsam oder nicht, ich tue es trotzdem«, funkelte ihn MacKinnie an. »Ich bin es nicht gewohnt, daß man meine Anweisungen in Frage stellt, Mister MacLean.« »Sir«, gab dieser zurück. »Also auf jetzt«, ließ sich Stark vernehmen. Er wartete, bis sich die anderen zerstreut hatten. »Gute Soldaten«, meinte er dann. »Ich habe kaum Proteste gehört. Der Sieg gestern hat bestimmt nicht geschadet. So etwas wirkt Wunder für die Disziplin.« Als sich die Soldaten versammelt hatten, beorderte MacKinnie die Hälfte der Speerträger zu den Schutzwällen. Die andere Hälfte marschierte gemeinsam mit den Reitern aus dem Lagertor, von wo aus sie in einem rechten Winkel zu der Straße, die zur Stadt führte, nach Osten schwenkten. Aus den Reihen war Stimmengemurmel zu hören, aber es kamen keine lauten Proteste auf. Ungefähr einen Kilometer vom Lager entfernt nahm der Colonel Kurs auf die Stadt und ließ seine Männer in zwei Viererformationen marschieren, mit der Kavallerie in der Mitte. Schweigend und ohne die Klänge der Trommeln zogen sie vorwärts, während Stark die Linie kontrollierte und darauf achtete, daß sich alle ruhig verhielten. Der Himmel wurde grau, dann purpurrot. Als es so hell geworden war, daß man fünfzig Meter voraussehen konnte, 307
holte Hal den Colonel ein, der an der Spitze der Formation schritt. »Sie kommen ziemlich schnell voran, ohne Wagen und das ganze Zeug«, stellte er fest. »Eigentlich müßten wir dieses Tempo den ganzen Morgen durchhalten können.« »Das wird auch nötig sein.« MacKinnie bereitete es einige Schwierigkeiten, die Fähigkeiten der einheimischen Truppen richtig einzuschätzen, und seine eigenen Erfahrungen als Führer konnte er nicht einsetzen; die Monate auf Makassar hatten sie weicher werden lassen, obwohl die Samualiten im allgemeinen doch noch kräftiger und stärker als die Makassarer waren und praktisch alle Aufgaben leichter ausführen konnten, genau wie Midshipman Landry vorausgesagt hatte. Die Sonne war fast aufgegangen, als Stark nach MacKinnie schickte, um ihm die tiefen Spuren zu zeigen, die Sumbavus Lastkarren im Boden hinterlassen hatten. »Schwer zu sagen, wie weit sie uns voraus sind«, brummte er. »Höchstens eine Stunde, würde ich sagen.« »So schwer beladen können sie noch nicht sehr weit gekommen sein. Schön, ich will, daß die Flanken gedeckt werden. Dadurch werden wir zwar langsamer vorankommen, aber das Gebiet hier ist günstig für einen Angriff aus dem Hinterhalt.« Schweigend marschierten sie weiter und wechselten hin und wieder ihre Position, um frische Männer an die Flanken zu schicken. Mühsam kämpften sie sich durch die hüfthohe, grasähnliche Vegetation. Um sie herum lagen die niedrigen Hügel der Ebene, und jedesmal, wenn sie eine Anhöhe erreicht hatten, eilte MacKinnie voraus. Dann, als 308
sie sich wieder einem flachen Hügel näherten, hörten sie von der anderen Seite Rufe und Geräusche, die sich bei weiterem Vorrücken als Kampflärm entpuppten. »Die Truppen sollen Gefechtsformation annehmen«, befahl MacKinnie leise. »Gruppen von vier auf jeder Seite.« Die parallelen Formationen teilten sich, um zwei Reihen zu bilden und setzten dann schweigend ihren Aufstieg den Hügel hinauf fort. Die Männer hielten ihre Waffen bereit und halfen sich gegenseitig, die Schilde richtig zu befestigen. »Zieht die Schwerter«, wies MacKinnie seine Leute an. »Verdoppelt das Tempo.« Sie überwanden die letzten zehn Meter der Anhöhe. Die Kampfgeräusche wurden lauter, und jetzt konnten sie auch in das Tal vor ihnen sehen. Rund tausend Barbaren waren über Sumbavus kleine Armee hergefallen und hatten sie vernichtet. Es gab so wenig Überlebende, daß MacKinnie zuerst niemanden sah. Doch dann bemerkte er ein paar Schwertkämpfer des Tempels, die sich in Grüppchen von zehn oder zwanzig hinter einem provisorischen Schutzwall aus Transportkarren verschanzt hatten. Die Maris stürmten über sie hinweg, feuerten ihre Pfeile auf sie ab und gingen mit den Schwertern auf sie los. Während MacKinnie mit Stark zusah, verschwand eine weitere Gruppe rotgekleideter Männer in der Masse der angreifenden Präriebewohner. »Greift direkt an«, wies MacKinnie Vanjynk an. »Durchbrecht ihre Reihen, dann formiert euch hinter ihnen 309
neu und greift wieder an. Versucht nicht, euch einzeln mit ihnen einzulassen. Bleibt zusammen, wie ihr es gelernt habt. Und nun los.« Brett und Vanjynk gaben den Reitern das Zeichen zum Angriff. Die schwerbewaffneten Männer nahmen Tempo auf, als sie den Hügel hinunterstürmten und vom Schritt in Galopp überwechselten. Sobald sich die Reiter in Bewegung gesetzt hatten, begann die Schildwand der Infanterie ihren Vormarsch. Trommeln gaben Schnellschritt an, dann verdoppelten sie das Tempo, während die Führer Befehle schrien, sich zu formieren und in der Reihe zu bleiben. Die Wand bewegte sich vorwärts. Als die Maris die Masse der Reiter sahen, die auf sie zu galoppierten, stürzten sie Hals über Kopf zu ihren Reittieren und ließen die Beute fallen, die sie gierig aufgesammelt hatten. Doch es war schon zu spät. Die Lanzenspitzen zeigten auf sie, und jetzt, da man sie gesehen hatte, gab MacKinnie den Trompetern das Zeichen zum Einsatz. Weit waren die Klänge über die taunasse Ebene zu hören, als die Reiter angriffen. Lanzen klirrten, Schwerter wurden gezogen, und die Reiter schrien triumphierend auf. Ein paar hielten zögernd an, um zu kämpfen und galoppierten zwischen den Wilden herum, bis sie von den Lassos der Feinde aus dem Sattel gerissen oder die Pferde unter ihnen weggeschossen wurden. Der Rest donnerte vorbei und stampfte die gesamte Linie des Feindes in den Boden, bevor sie auf dem nächsten Hügel wieder herumwirbelten. Als die Schildträger das Kampffeld erreicht hatten, war der Feind schon aufgerieben. Wieder schlossen sich die 310
Flügel der Schildwand und kreisten die Maris ein, während die Reiter erneut angriffen und alle Barbaren zurück in die Falle drängten, die versucht hatten, zu entkommen. Ein Widerstand war zwecklos. Wer zwischen die Reihen der Soldaten geraten war, hatte keine Chance mehr. Ihnen blieb nur die Wahl, sich in die Speere über der Schildwand zu stürzen oder zu warten, bis sie von den Reitern niedergeritten wurden. Diesmal war das Gemetzel schnell beendet, weil niemand versuchte, die Infanterie von hinten anzugreifen. Die wenigen Feinde, die entkamen, konnten froh sein, mit dem Leben davongekommen zu sein. Sumbavu fanden sie an der Spitze der Formation, umgeben von einer Gruppe toter Schwertkämpfer. Noch im Tod hielt er das Schwert in der einen und das Kruzifix in der anderen Hand, und seine gebrochenen Augen starrten hinauf zum Himmel. Es gab nicht mehr als fünfzig Überlebende im ganzen Kommando. MacKinnie ließ seine Soldaten mit düsterer Miene Marschformation annehmen und kehrte ins Lager zurück. Die Wagen rumpelten über den unebenen Boden, und weithin war das Stöhnen der Verwundeten zu hören. MacKinnie ließ seine Männer den ganzen nächsten Tag über ausruhen. Am späten Nachmittag näherte sich eine kleine Gruppe Barbaren, die in sicherer Distanz anhielten und befederte Lanzen über ihren Köpfen schwenkten. »Er will mit Ihnen reden«, erklärte Brett. »Eine seltene Ehre für Stadtleute. Barbaren haben ihre eigenen Möglichkeiten, Kriege zwischen Clans zu beenden. Er betrachtet 311
Sie als Anführer eines sehr mächtigen Clans. Die Männer da hinter ihm sind Familienoberhäupter.« »Wie soll ich mich mit ihm treffen?« wollte MacKinnie wissen. »Gehen Sie mit ein paar Männern vor das Tor. Ich bezweifle, ob er Ihnen traut, daß Sie ihn nicht über den Haufen schießen. So sieht es nämlich jedesmal aus, wenn sie mit Stadtleuten verhandeln wollen.« »Können Sie mit ihm sprechen? Kennen Sie ihre Sprache?« »Ja, Sternenmann, und Sie wissen auch, warum. Ich werde mitkommen, wenn Sie es wollen.« MacKinnie nahm Brett und Todd mit und überließ das Lager dem Kommando von Stark und MacLean. Longway wollte sie ebenfalls begleiten und ließ nicht eher locker, bis MacKinnie es erlaubte. Sie verließen das Lager und blieben knapp in Bogenschußweite stehen. Drei Gestalten lösten sich von der Gruppe gegenüber, stiegen von ihren Reittieren und kamen zielstrebig auf MacKinnie zu. Wenige Schritte vor ihm stießen sie ihre Lanzen in den Boden und breiteten die Arme aus. Einer von ihnen begann dann in einer melodischen Sprache zu sprechen, die MacKinnie noch nie zuvor gehört hatte. »Er sagt, er ist gekommen, um mit Ihnen zu reden«, übersetzte Brett. »Er sagt, Sie kämpfen wie ein großer Häuptling. Er sagt, nie zuvor hätten die Dummköpfe vom Tempel so gut gekämpft.« »Sagen Sie ihm, auch er habe gut gekämpft, und wir bewundern den Mut seiner Männer.« 312
Brett übersetzte, und bevor der Marishäuptling antworten konnte, fuhr MacKinnie fort: »Und jetzt sagen Sie ihm, ich sei ein großer Prinz aus dem Süden, der mit einem Schiff gekommen ist. Sagen Sie ihm, daß tausend weitere Schiffe mit Männern wie den meinen kommen, und viele Pferde, und daß wir über die Ebene ausschwärmen werden. Sagen Sie ihm, seine tapferen Männer werden viele von uns töten, aber es werden immer mehr kommen, und bald wird es viele Tote in diesem Land geben.« »Es ist üblich, mehr Höflichkeiten auszutauschen.« »Dann sagen Sie ihm eben ein paar. Sagen Sie ihm, wie tapfer seine Männer wären und wie gut sie gekämpft haben. Und dann berichten Sie ihm, was ich Ihnen gerade gesagt habe.« Brett redete sehr lange, wartete auf die Antwort und übersetzte sie dann für MacKinnie. »Er sagt, er fühle sich geehrt, einem großen Prinzen aus dem Süden gegenüberzustehen. Er sagt, er wußte, daß Sie nicht aus der Stadt kommen konnten. Er fragt, wie Sie ihn besiegen wollen.« »Sagen Sie ihm, daß wir mitten im Winter zu seinen Zelten kommen werden. Wir werden seine Nahrung verbrennen und seine Tiere töten. Aber wir tun dies nur ungern, denn viele meiner starken Männer werden dabei ihr Leben lassen, und viele seiner tapferen Krieger werden getötet werden, und das alles für nichts.« »Das müßte genügen, ihn zu beeindrucken«, erklärte Brett, bevor er sich an den Stammesführer wandte. Diesmal überlegte der Mari eine Zeitlang, bevor er antwortete. 313
Brett hörte aufmerksam zu. »Sie haben ihn beeindruckt. Er hat Angst vor Ihrer beweglichen Wand. Er glaubt, daß Sie mit Ihren Soldaten im Winter kommen könnten, und das beunruhigt ihn. Sie kämpfen nicht gern im Winter, und er meint, daß auch Sie nicht gern im Winter kämpfen. Er möchte wissen, warum Sie so viele Umstände auf sich nehmen.« »Sagen Sie ihm, ich wäre verrückt. Glauben Sie, das funktioniert?« »Vielleicht. Sie wissen, wie Fanatiker sind.« »Schön. Ich bin also ein Fanatiker, der unbedingt den Tempel retten will.« Wieder sprach Brett mit dem Häuptling und übersetzte dessen Antwort. »Er sagt, daß er bereit ist, alles über Sie zu glauben. Er sagt, Sie sollen noch einmal sprechen. Was heißt, daß er noch keine Antwort weiß.« »Sagen Sie ihm von mir aus, was Sie wollen«, erwiderte MacKinnie, »halten Sie sich nur an meine Bedingungen, die wären: Ich gebe ihm zwei Tage, um von hier zu verschwinden. Sie dürfen nichts verbrennen, aber sie können mitnehmen, was sie tragen können. Nach Ablauf der Frist werden wir jeden töten, den wir finden. Und sollten sie irgendwelche Schritte gegen uns unternehmen, werden wir ihn bis zum Ende des Kontinents verfolgen und seine sämtlichen Dörfer zerstören und sein Vieh töten. Und verleihen Sie dem Ganzen ein bißchen Nachdruck, damit er nicht am Ende glaubt, es wären nur leere Drohungen.« »Er ist nicht für alle Maris verantwortlich«, erläuterte Brett. »Nur für seinen eigenen Clan. Für die übrigen kann 314
er nichts versprechen.« »Ist er der Führer der größten Gruppe?« »Eines der größten Clans, ja.« »Dann soll er sich überlegen, wie er die anderen dazu bringen kann, abzuziehen. Es müßte ihm doch irgendwie gelingen. Aber das ist sein Problem, nicht meins. Sagen Sie ihm das.« Brett wurde einen Augenblick blaß. Er schien etwas sagen zu wollen, doch MacKinnies Blick stoppte ihn. Langsam wandte er sich an den Marishäuptling und berichtete ihm von den Forderungen des Colonels. Der sehnige Häuptling antwortete, dann begann einer seiner Begleiter etwas zu schreien. Brett schrie zurück, und es dauerte eine ganze Zeit, bis sich die aufgebrachten Männer wieder beruhigt hatten und der Häuptling ruhiger weitersprach. Schließlich wandte sich Brett an MacKinnie. »Er will es versuchen. Einige der anderen sind schon abgezogen. Er wird versuchen, auch die übrigen zur Umkehr zu bewegen. Sie wollen mehr Zeit, aber ich habe ihnen gesagt, Sie wären wirklich ein Verrückter und hätten sich geschworen, den Krieg entweder sofort oder überhaupt nicht zu beenden. Sie diskutieren noch immer, doch es ist nicht zu übersehen, daß sie große Angst vor Ihrer Armee haben. Ich glaube, sie werden abziehen.«
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19 Die heiligen Reliquien Im Triumphmarsch zogen sie in die Stadt ein. Obwohl MacKinnie keine Boten vorausgeschickt hatte, sagten die mit Getreide beladenen Wagen genug, und als die Armee die Stadttore erreichte, säumten Tausende die Straßen. Hunderte mehr strömten aus den Toren und liefen den Soldaten entgegen, um sie zu begrüßen. Ihr Jubelgeschrei hätte Tote erwecken können. Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie vor dem riesigen Hof des Tempels standen. MacKinnie schickte eine Gruppe voraus, die den Innenhof von Zivilisten freihalten sollten, und schließlich hielt er mit seinen Truppen und den Verpflegungswagen Einzug. »Es wird noch genug gefeiert werden«, wandte er sich an seine Offiziere. »Für den Augenblick sollen die Männer erst einmal zu essen bekommen und sich ausruhen.« »Aber wir haben doch einen großen Sieg errungen«, wagte einer der Reiter einzuwenden. »Und das wollen wir feiern …« »Schön«, gab MacKinnie nach. »Die Reiter dürfen gehen, doch wir können die Armee nicht ganz auflösen. Sicher, es sieht ganz so aus, als zögen die Maris ab, aber wir müssen in der Lage sein, meinen Drohungen Nachdruck zu verleihen, falls sie doch noch ihre Meinung ändern sollten. Sie können auch hier feiern. Ich habe nach 316
einem ganzen Lagerhaus voll Wein schicken lassen. Einer von euch wird gleich die Tempelsoldaten einladen, die zum Schutz der Stadt zurückgeblieben sind. Sie waren bereit, mitzukommen und sollten jetzt auch ihren Anteil an der Siegesfeier haben.« Er entließ die Offiziere und hielt nur Stark zurück. »Ich brauche jetzt die Stabskompanie.« »Verstanden, Sir. Sie stehen bereit. Es ist alles vorbereitet.« »Gut. Schick sie hinein. Und schick auch einen Läufer nach diesen imperialen Kirchenleuten.« »Euer Ehrwürden«, wandte sich MacKinnie an Casteliano. »Sie sind jetzt der Vorsteher des Tempels.« Der Erzbischof sah ihn verwirrt an. »Aus welchem Grund?« wollte er wissen. »Die einzigen Militärkräfte, die noch in dieser Stadt sind, sind ein paar hundert Bogenschützen, ungefähr gleich viele Schwertkämpfer, die Reiter und meine Armee. Die meisten von ihnen – einschließlich der Schwertkämpfer des Tempels – betrinken sich gerade draußen im Hof. Einzig und allein meine Stabskompanie ist noch verhältnismäßig nüchtern.« »Aber – was soll das heißen?« fragte Laraine. »Es heißt, daß wir jetzt das Sagen haben. Wer sollte sich uns widersetzen? Die Reiter können in einem Straßenkampf nichts gegen die Pikeniere ausrichten, und die Pikeniere werden mir zumindest eine Zeitlang noch treu ergeben sein.« »Sie haben doch sicher nicht die Absicht, gegen den 317
Tempel zu kämpfen«, protestierte Laraine. »Wir möchten nicht durch Blut zum Hochaltar schreiten.« »So weit dürfte es nicht kommen. Wir haben ausgewählte Leute an den Schlüsselpunkten postiert. Der Tempel selbst ist schon in unserer Hand. Jetzt müssen wir nur noch ihrem herrschenden Rat und ihrem Papst erklären, wer jetzt die Zügel in der Hand hält.« »Würden Ihre Männer wirklich gegen den Tempel kämpfen?« fragte Casteliano. »Die meisten von ihnen sicher«, antwortete Stark. »Denken Sie doch nur daran, wen wir rekrutiert haben. Fast nur Sklaven und Bauern, die Pech hatten. Und sie haben ihre Siege unter dem – eh, dem Händler gewonnen. Sie würden auch jetzt für ihn kämpfen.« »Es würde mir allerdings ganz und gar nicht gefallen«, warf MacKinnie ein. »Es wäre schwer, sie am Plündern zu hindern, und letztendlich würde noch die ganze Stadt in Flammen stehen. Bürgerkriege sind nie schön –« »Nein, sicher nicht«, mischte sich Casteliano ein. Nachdenklich strich er über sein Kinn. »Und Sie haben den herrschenden Rat noch nicht über die veränderte Lage informiert? Gut.« Er wandte sich an Laraine und Deluca. »Geht schnell und holt Gewänder. Die besten, die wir haben, und unseren prunkvollsten Staat. Händler MacKinnie, würden Sie uns ein paar Ihrer Männer als Gefolge ausleihen? Und wenn Sie Ihre prächtigsten Kleider bringen lassen, würde das auch sehr hilfreich sein. Ich glaube, es gibt einen Weg, wie wir das Dilemma ohne Blutvergießen lösen können.« 318
»Das hoffe ich«, entgegnete MacKinnie. »Hal, kümmere dich um das, was gebraucht wird.« »Ausgezeichnet.« Casteliano ging zu den Zinnen und sah in den Hof hinunter. Die Wachposten an den Toren waren verschwunden. Zivilisten, Tempelkämpfer, Bogenschützen, Reiter und Verpflegungstrupps, sie alle tanzten in großen Kreisen und hielten nur hin und wieder inne, um Wein aus den offenen Fässern zu schöpfen. »Sehen Sie dort«, meinte MacKinnie ruhig. Er deutete auf die breiten, befestigten Mauern über dem Hof, auf denen Gruppen von Pikenieren und Schildträgern mit grimmig entschlossenen Mienen an allen Kreuzungspunkten aufgestellt worden waren. »Ich verstehe.« Casteliano wandte den Blick nicht vom Hof. »Mir ist jetzt auch bewußt, daß keiner der Schwertkämpfer des Tempels und nur ein Teil der Bogenschützen mit Ihnen zurückgekehrt ist. Wie ist Vater Sumbavu gestorben?« »Er und seine Männer kamen bei einem Angriff aus dem Hinterhalt ums Leben«, erklärte MacKinnie langsam. »Und Sie konnten entkommen?« »Sumbavu war auf dem Weg in die Stadt, um Vorräte zu bringen. Ich bin ihm zur Hilfe gekommen, aber es war bereits zu spät. Wir konnten ihn zwar rächen, ihm aber nicht mehr helfen.« »Ich verstehe. Tausend tapfere Männer, die ihnen gut gedient haben. Ein hoher Preis für eine Stadt.« »Verdammt hoch«, murmelte MacKinnie. »Gott möge mir beistehen, aber es gab keinen anderen Weg. Sie haben 319
doch diese Tempelfanatiker selbst erlebt. Wir hätten jeden der Soldaten töten müssen, bevor man uns zu ihren heiligen Reliquien gelassen hätte.« Casteliano drehte sich um. »Die Reliquien. Was für ein Interesse könnten Sie an ihnen haben?« Er betrachtete Nathan eingehend. »Wie auch immer der Grund aussehen mag, Sie haben der Kirche einen Dienst erwiesen, und das werden wir Ihnen nicht vergessen.« »Ich danke Ihnen.« »Und jetzt müssen wir mit ihrem Rat reden. Sie entschuldigen mich, Händler, ich muß einen Raum finden, wo wir uns der Unterredung angemessen umkleiden können – und ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie ein Dutzend Ihrer loyalsten Männer mitbringen könnten.« Er zögerte. »Ich bezweifle, daß es zu einem Kampf kommen wird. Die meisten Ratsmitglieder sind praktisch veranlagte Männer. Wie wir auch. Unsere Forderungen werden nicht übertrieben sein, aber wir müssen darauf achten, daß wir sie nicht demütigen. Und natürlich sind die Maris auch noch nicht abgezogen –« »Exakt.« »Also sprechen die Argumente für uns«, stellte Casteliano fest. »Und wenn das nicht hilft –« MacKinnie deutete auf eine Gruppe von Pikenieren auf den Zinnen. »Ein weiteres Argument, das für uns spricht.« Zwei Tage später bat MacKinnie um eine Audienz bei Seiner Äußersten Heiligkeit, dem Primas von ganz Makassar, dem Statthalter Christi und Erzbischof des 320
Neuen Roms. Er wurde in ein kleines Büro hinter dem Versammlungsraum geführt, wo Casteliano in Hemdsärmeln hinter seinem Schreibtisch saß und Tempelberichte überprüfte. Bei MacKinnies Eintreten sah der Erzbischof lächelnd auf. »Es war einfacher, als Sie dachten, nicht wahr?« »Ja, Euer Hochwürden. Ich kann es immer noch nicht glauben, daß alles ohne Blutvergießen vonstatten gegangen ist. Trotzdem halten sich meine Männer auch weiterhin bereit, nur für den Fall.« »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß es kaum doktrinäre Differenzen geben würde, und diese Männer sind nicht nur Realisten, sondern auch Gläubige. Wenn wir hier mit einem Boot der Marine gelandet wären und von ihnen die Unterwerfung unter das Neue Rom gefordert hätten, hätten wir ihnen zwar vermutlich einen Beweis unserer Macht liefern müssen, aber unsere Mission wäre sicher erfolgreich gewesen. So wie wir allerdings als Bettler in diese Stadt gekommen sind, hätten wir nie etwas ausrichten können. Wieso hätten sie glauben sollen, daß wir die großen Vertreter der wahren Kirche von den Sternen sind? Aber mit Ihnen an unserer Seite blieb ihnen kaum eine Wahl.« »Sie waren äußerst überzeugend, Euer Hochwürden.« »So überzeugend wie Ihre Aktionen. Es war nicht schwierig, sie von der Fügung Gottes in Ihrem Sieg und Seiner Vergeltung in Sumbavus Tod zu überzeugen. Haben Sie das auch vorausgesehen?« »Neun, Euer Hochwürden.« »Nun gut. Was kann ich für Sie tun?« 321
»Ich weiß nicht recht, wie ich anfangen soll. Aber ich brauche Ihre Hilfe, denn ich sehe keinen anderen Weg.« »Colonel – sehen Sie mich nicht so überrascht an. Colonel – so nennen Ihre Soldaten Sie doch –, also, Sie sind es, der den Tempel in der Hand hat, nicht ich. Sie könnten mich ebenso schnell wieder absetzen, wie ich in mein Amt gekommen bin, besonders, wenn Sie den Rat gegen mich unterstützen würden. Was kann ich für Sie tun, das Sie nicht selbst tun können? Möchten Sie zum König der Stadt gekrönt werden? Die Bürger würden bestimmt keine Einwände dagegen haben.« MacKinnie lachte. »So einfach ist mein Problem nicht. Aber – darf ich ganz im Vertrauen zu Ihnen sprechen? Habe ich das Recht, Ihnen eine Bitte vorzutragen, an deren Erfüllung Sie mich auch dann nicht hindern werden, wenn Sie sie ablehnen sollten?« Der Erzbischof nahm eine schmale Schärpe, die auf dem Schreibtisch lag, küßte den Stoff und legte sie dann über seine Schulter. »Mein Sohn, solange ich weiß, ist das Beichtgeheimnis noch nie gebrochen worden. Gemäß Traditionen, gemäß den Gesetzen Gottes und den strengsten imperialen Edikten darf ich niemandem berichten, was Sie mir in der Beichte anvertrauen. Haben Sie mir etwas zu beichten?« Nathan MacKinnie holte tief Luft, starrte den alten Mann an und überlegte einen Augenblick, bevor er begann. »Also gut. Wie Sie schon vermutet haben, kommen wir von einem neu entdeckten Planeten, der bei der Klassifizierung als Kolonie eingestuft werden wird. Zuerst jedoch müssen wir eine funktionsfähige planetarische Regierung 322
haben, und König Davids Ratgebern ist es gelungen, dies hinauszuzögern. Viel länger werden sie dazu jedoch nicht mehr in der Lage sein. Wir wollen ein Raumschiff bauen, bevor man aus uns eine Kolonie macht.« »Ein Raumschiff! Wie hoch sind Sie denn auf technischem Gebiet entwickelt? Was gibt Ihnen Grund zu der Annahme … nein, was habe ich mit dieser Sache zu tun?« »Vater, ich bin hergekommen, um Kopien von jedem Technikbuch zu bekommen, das ich in der Bibliothek finden kann. Unsere Leute glauben, daß wir es schaffen können, wenn wir nur wissen, wie. Ich bin ein Soldat und kein Wissenschaftler, und ich weiß nicht, ob wir es schaffen können, aber ich finde, wir sollten es versuchen!« Der Erzbischof nickte. »Das verstehe ich. Sagen Sie mir, Colonel MacKinnie, sind Sie typisch für die Bewohner Ihres Planeten?« »Ich weiß nicht. Irgendwie schon, glaube ich. Warum?« »Weil, und das sage ich voll Ehrfurcht, Gott den Kolonisten beistehen möge, die man auf Ihre Welt schickt, wenn Sie es sind. Sie wissen nie, wann Sie aufgeben müssen. Ja, ich werde Ihnen helfen.« Er überlegte einen Moment und begann dann zu lachen. »Und wir werden im Rahmen der Vorschriften bleiben. Obwohl ich bezweifle, daß sich ein Marinegericht davon beeindrucken ließe, wenn man herausfinden würde, daß Sie Kopien von technischen Büchern geschmuggelt haben. Makassar wurde klassifiziert, bevor sie die Bibliothek entdeckt haben, und bisher ist sie noch nicht auf den neuesten Stand gebracht worden. Makassars Klassifizierung lautet »primitiv«. Deshalb darf 323
alles, was man hier finden kann, in jeden anderen Teil des Imperiums gebracht werden. »Wir werden Ihnen also helfen, und das mit Vergnügen. Denken Sie nur, was für einen vorzüglichen Streich wir damit dem imperialen Händlerverband spielen können!« Er schlug auf einen kleinen Gong auf dem Schreibtisch und befahl dem daraufhin eintretenden Diener: »Geh zu den heiligen Reliquien und hole Bruder Le Moyne her.« Le Moyne war ein kleiner Mann mit sandfarbenem Haar und leuchtendblauen Augen. Vorschriftsmäßig kniete er sich vor Casteliano, küßte dessen Ring und meinte dann: »Und was kann ich für Seine Heiligkeit noch tun, außer davon Abstand zu nehmen, das Neue Rom seinen derzeitigen Titel wissen zu lassen?« Der Erzbischof lachte. »Verstehen Sie, warum er es nie zum Bischof bringen wird? Sagen Sie mir, können Sie die heiligen Reliquien schon sprechen lassen?« »Die Bibliothek ist in erstaunlich gutem Zustand, Euer Hochwürden. Die Techniker der Marine haben die meisten Einrichtungen repariert, als sie die Bänder kopiert haben. Das frühere Imperium verwendete nahezu unverwüstliches Plastik, und alles ist mit dem heiligen Siegel erhalten. Wir brauchen nur noch eine Energiequelle, um die Systeme in Betrieb zu setzen.« »Was für eine Art von Energie?« wollte MacKinnie wissen. »Irgendeine gute Stromquelle würde schon reichen. Viel ist dazu nicht nötig. Sehr tüchtige Leute, die alten Imperialen. Sie haben den gesamten Palast mit Strom aus einem 324
kleinen Direktumwandlungssystem versorgt, das Wärme aus heißen Quellen bezog. Es funktioniert immer noch, nur die Regulatoren nicht. Das System gibt jetzt nur noch so wenig Strom ab, daß es höchstens für einen kleinen Teil der Anlage reicht – trotzdem, wir bekommen ein paar Watt, und das nach mehr als dreihundert Jahren! Die Leute von damals haben besser gearbeitet, als sie ahnen konnten.« Casteliano nickte traurig. »Ihre Ausrüstung war hervorragend. Aber das hat sie auch nicht retten können.« »Nein, wie dem auch sei, zusätzlich zu der alten Stromquelle haben wir noch einen kleinen Generator, den die Marine zurückgelassen hat. Wir haben den Lesekopf schon angeschlossen, und es dürfte nicht mehr lange dauern, bis auch alles andere halbwegs funktioniert. Es wäre überhaupt nicht schwierig, einen größeren Generator zu bauen, nur dürften ihn die Einheimischen nicht sehen.« »Das kommt im Augenblick nicht in Betracht«, schüttelte Casteliano den Kopf. »Die Kirche hat zwar schon öfter die technologischen Transporteinschränkungen umgangen, aber es handelt sich dabei im Grunde doch um eine schwerwiegende Angelegenheit, über die man zuerst gründlich nachdenken sollte. Wir brauchen die Kooperation der Marine.« Er schwieg nachdenklich. »Händler MacKinnie möchte sich die Bibliothek ansehen, wenn das möglich ist.« »Sicher. Jetzt sofort?« »Ja«, erwiderte MacKinnie. »Und wenn Sie vielleicht vorher noch nach einem meiner Leute schicken könnten. Kleinst heißt er –« 325
»Oh, der hat mir schon den ganzen Morgen über da unten geholfen«, antwortete Le Moyne. »Möchte Eure Höchste Heiligkeit uns vielleicht begleiten?« Casteliano blickte naserümpfend auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Nur allzugern, aber diese Arbeit hier hat Vorrang.« Er seufzte. »Weiche von mir, Satan –« Le Moyne zuckte die Achseln und führte MacKinnie aus dem Büro. Sie stiegen eine steile Wendeltreppe hinunter, die vor massiven Türen endete. Sie wurden von vier Pikeuren und einem rotgekleideten Tempeldiener bewacht. Die Pikeure standen stramm, als sie MacKinnie sahen. Der rotgekleidete Wächter blickte sie zweifelnd an. »Er ist ein Laie. Nur die Geweihten dürfen eintreten –« »Wer wagt es, den Colonel aufzuhalten?« mischte sich einer der Pikeniere ein. »Er ist von Seiner Äußersten Heiligkeit geschickt«, erklärte Le Moyne. »Mann Gottes, wissen Sie denn nicht, daß die heiligen Reliquien jetzt in den Händen der Maris wären, wenn dieser Mann nicht gewesen wäre?« »Das stimmt«, gab der Tempeldiener zu. Er nahm Fackeln von den Wänden und reichte sie MacKinnie und Le Moyne, bevor er beiseite trat. Sehr glücklich sah er allerdings nicht gerade aus. Sie kamen noch an zwei weiteren Wachräumen vorbei, die aber leer waren. Schließlich stiegen sie eine breite Marmortreppe hinunter. »Dieser Teil stammt fast mit Sicherheit noch aus der Zeit des alten Imperiums«, erläuterte Le Moyne. »Nach 326
den Kriegen haben die Überlebenden darüber das Tempelgebäude errichtet. Da wären wir. Hinter dieser Tür ist es.« Sie hatten es geschafft. Endlich, dachte MacKinnie. Ich habe einen langen Weg zurückgelegt, um dies hier zu sehen – Der Raum war nicht besonders groß, und die Lampen verbreiteten einen Geruch nach Fischtran. Die Wände waren unzählige Male vom Ruß der Lampen gereinigt worden, und es gab kaum noch Spuren von früherem Muster oder der ursprünglichen Farbe. Viel war nicht zu sehen. In der Mitte des Raumes stand ein kleiner Kasten mit Kurbelgriffen, davor ein Stuhl. Drähte liefen von diesem Kasten zu einem Tisch an einer Wand. Über dem Tisch befand sich etwas, das wie eine dunkle Fensterscheibe aussah. Davor saß Kleinst, in eine Mönchskutte gekleidet. Als MacKinnie eintrat, erhob er sich. Nathan blickte sich verwirrt um. »Und wo ist jetzt dieser Wunderapparat?« Le Moyne gluckste. »Ihr Freund da hat mir die gleiche Frage gestellt.« Er deutete auf den Tisch. »Das ist er.« »Das ist alles?« Le Moyne nickte. »Das ist alles. Sie könnten das gesamte Wissen der menschlichen Rasse in vier solcher Einheiten speichern.« MacKinnie glaubte ihm zwar nicht, hielt es aber für zwecklos, sich mit Le Moyne zu streiten. »Haben Sie inzwischen Fortschritte gemacht?« wandte er sich an Kleinst. 327
Die Augen des Wissenschaftlers glänzten. »Ja! Möchten Sie es sehen?« »Natürlich …« »Was denn? Die Tonanlagen vielleicht?« Kleinst sah Le Moyne an. Als dieser nickte, setzte er sich wieder an die Konsole und berührte einige kleine Vierecke, die sich darauf befanden. Von den Wänden erklang eine Stimme. MacKinnie blickte sich erstaunt um. »Und wenn jene Tage nicht kürzer werden, wird kein Lebewesen überleben«, sagte die Stimme. »Matthäus«, erklärte Le Moyne. »Wer immer als letzter hier unten war, hat dieses Band eingelegt. Seitdem haben die Tempelpriester nichts anderes gehört. Sie wissen nämlich nicht, wie man die Speichereinheiten auswechselt. Die Toneinheit entlädt die Akkumulatoren in weniger als einer Stunde, und das Energiesystem ist so schwach, daß es Tage dauert, sie wieder aufzuladen.« MacKinnie schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie das?« fragte er Kleinst. »Ja. Jedenfalls fast alles. Es ist zwar ein neues Konzept, unterscheidet sich aber im Prinzip kaum von Fotografieund Aufzeichnungsgeräten, mit denen wir zu Hause arbeiten. Nur sind diese hier kompakter. Alles verstehe ich natürlich nicht. Ich weiß auch nicht, ob wir die Bänder und Würfel zu Hause an unserer Universität lesen könnten.« »Und wenn nicht?« »Dann muß ich lernen, was für uns nötig ist«, erwiderte Kleinst. »Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Übrigens 328
einer der Gründe, warum ich für diese Expedition ausgewählt wurde.« »Ich fürchte, Ihr Freund hat recht«, meinte Le Moyne. »Die Apparaturen, die Sie zum Lesen dieser Aufzeichnungen brauchen, sind sehr komplex.« Er ging zu einem kleinen, reichverzierten Schränkchen neben dem Tisch und begann zu lachen. »Daraus haben sie einen Tabernakel gemacht.« Er öffnete es und nahm einen kleinen Block heraus. »Das meiste, was Sie brauchen, könnten wir auf zwei oder drei dieser Blöcke speichern, wenn Sie nur über die Mittel verfügen würden, die Informationen abzurufen.« »Das Kopieren dürfte nicht schwer sein!« rief Kleinst aus. »Wenn wir erst mehr Strom haben, können wir alles kopieren – es ist ja alles da! Lehrbücher für Kinder, in denen physikalische Gesetze behandelt werden, die keiner von uns zu Hause verstehen konnte. Handbücher, Wartungsbücher für Apparate, die ich nicht verstehe – sehen Sie hier! Setzen Sie sich dort hin.« Er zeigte auf den Kasten mit den Griffen. »Setzen Sie sich da hin und drehen Sie an der Kurbel. Ich werde Ihnen Wunderdinge zeigen –« MacKinnie gehorchte Kleinst achselzuckend. Als er an den Kurbeln drehte, gab der Kasten wimmernde Geräusche von sich. Das dunkle Glas über dem Tisch erhellte sich, und ein seltsames Diagramm über irgendeine komplexe Apparatur erschien. Dann Worte. »Sehen Sie nur!« rief Kleinst. »Ist es das, wonach wir suchen?« wollte MacKinnie wissen. 329
»Ich weiß es nicht. Aber – mit der Zeit werde ich es schon herausbekommen. Und wenn nicht, können wir ein paar jüngere Studenten damit beschäftigen. Wir werden es herausfinden.« »Das müssen wir auch.« »Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind«, warf Le Moyne ein, »aber wenn Seine Hochwürden zufriedengestellt ist, bin ich es auch.« »Wie lange?« fragte MacKinnie. »Wie lange wird es dauern, bis wir alles kopiert haben?« Le Moyne verzog den Mund. »Wie lange können Sie diese Kurbel drehen?« »Es ist ziemlich anstrengend. Vielleicht eine Stunde –« »Es wäre ganz nützlich, einen Generator zu bauen, aber das ist hier unten gar nicht so einfach. Wenn wir das Ganze nach oben bringen könnten, wo wir es an Wasserkraft anschließen können –« »Unmöglich«, wandte MacKinnie ein. »Wir halten den Tempel zwar in unserer Hand, aber die Bewohner dieser Stadt werden sich nicht alles gefallen lassen. Wenn wir die heiligen Reliquien aus dem Tempel bringen, werden sie entsetzt sein, und der Himmel weiß, wozu sie in diesem Zustand fähig sind.« »Dann stellen Sie besser Ihre eigenen Offiziere als Wachen vor den Türen auf«, riet Le Moyne. »Wir können die Kopien in vier Stunden anfertigen, aber –« »Gut. Und wie lange brauchen Sie zum Lernen?« wollte MacKinnie von Kleinst wissen.
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»Ich könnte hier Jahre studieren und wüßte immer noch nicht alles –« »So viel Zeit haben wir nicht. Uns bleiben höchstens Wochen.« »Ich weiß«, erwiderte Kleinst. »Ich werde tun, was ich kann. Zuerst werden wir die Kopien machen …« »Die wir möglicherweise nie werden lesen können«, seufzte der Colonel. »Die Zeit der Winterstürme steht bevor, und wir wissen nicht, was inzwischen zu Hause passiert. Ich weiß, daß Sie Ihr Bestes tun werden.«
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20 Juramentado Das Licht des Feuers spiegelte sich im Gesicht eines alten Mannes. Heimliche Tränen verdunkelten die Augen von Datu Attik, als er den beiden Juramentados bei ihrer rituellen Waschung zusah. Die Frauen streckten die purpurroten Tücher für das Binden empor. Die Körper der jungen Männer schimmerten im gelben Licht des Feuers. Sie sangen. Die Totengesänge hallten ringsherum im Lager wider. Sonst war es totenstill. Später würden auch die anderen der Gruppe, Krieger und Frauen gleichermaßen, die Totengesänge für diese beiden anstimmen, aber im Augenblick hatte der Stamm zuviel mitgemacht. Achthundert Männer des Clans lagen auf dem Stoppelfeld hinter dem Feuer begraben. Achthundert steife und kalte Körper, achthundert von den Tausenden, die von der Tempelarmee getötet worden waren. Wie sollte der Clan ohne die jungen Männer weiterleben? Und jetzt würden zwei weitere hinzukommen, einer davon Datus Sohn. Umsonst. Umsonst, dachte Datu Attik. Mein Sohn wird sterben, für nichts, für weniger als nichts. Der Tempel ist stark. Die Tempeldummköpfe haben in ihrem neuen Sultan neue Stärke gefunden. Wütend knirschte er mit den Zähnen. Fast hätten sie es 332
geschafft! Die Schwarzgekleideten des Tempels von Batav waren besiegt gewesen, verdammt, in ihrer Stadt zu verhungern, während die Maris vor den Stadttoren alles plünderten, die Ernte der Stadt aufaßen, verächtlich bis an die Stadtmauern heranritten, um die Schwarzgekleideten zu verhöhnen … Und dann war der neue Sultan aus dem Westen gekommen, ein Riese von einem Mann, der Mauern marschieren ließ und die größte Armee zerstört hatte, die die Maris je aufgestellt hatten. Es war vorbei, aus und vorbei. Es war Allahs Wille gewesen, und jetzt mußten die Maris in ihre kahlen Berge zurückkehren, aber zuerst sollten sie trauern und wehklagen, wie es nun die Maris taten. Niemand sollte sagen dürfen, daß sein Triumph vollständig war. Sollte der Tempel trauern, wie Datu Attik trauerte. »Daraus kann nichts Gutes werden«, vernahm er eine Stimme zu seiner Rechten, wo sein zweiter Sohn zu Füßen seines Vaters lag. »Der Sultan kann nicht getötet werden. Mein Bruder will wieder in den Krieg ziehen, ein Krieg, den wir nicht gewinnen können.« »Schweig. Dein Bruder singt sein Lebewohl.« Aber er hatte recht, dachte Datu Attik. Der Sultan hat gesagt, daß wenn es weiter Krieg zwischen den Maris und dem Tempel gibt, die marschierenden Mauern im Winter auf die Felder kommen und die Maris bis ans Ende der Welt verfolgen werden. Er wird sein Wort halten, und meine Söhne werden sterben, und mein Volk auch. Warum hält Allah nicht mehr sein Auge auf mich? Haßt Er mich denn so sehr? 333
Die Gesänge der Juramentados wurden plötzlich laut und trafen Attik wie ein Schlag ins Gesicht. Der alte Mann wußte, daß es zu spät war. Diese Boten des Todes konnten nicht an ihrer Aufgabe gehindert werden, weder von ihm noch von irgend jemand anders. »O Gott, Du bist Allmächtig, Allah, Du bist Allmächtig, wir bekennen, daß es nur einen Gott gibt, wir bekennen, daß Allah Allmächtig ist!« »Wenn die Blätter des Buches entrollt werden, wenn die Hölle aufflammt, wenn das Paradies nahe ist, dann soll jede Seele wissen, welche großen Wundertaten Er vollbracht hat! Wir bekennen, daß es nur einen Allah gibt, wir bekennen, daß Allah Allmächtig ist!« Verschleierte Frauen eilten nun den Juramentados zur Hilfe. Sie umwickelten die Körper der jungen Männer stramm mit blutroten Binden, stramm, um das Blut zurückzuhalten, blutrot, damit die Feinde es nicht sehen konnten. Junge, so junge Männer. Sein Sohn war ein junger Mann, und jetzt würde er sterben, aber er würde für die Ehre Allahs sterben – »Dann soll jede Seele wissen, welche Wundertaten er vollbracht hat«, sang Attik. »So spricht Allah, so spricht der Allmächtige, jeder muß sich dem Willen Allahs unterwerfen. Wir bekennen, daß es nur einen Allah gibt, wir bekennen, daß Allah Allmächtig ist.« »Preist Allah laut.« Die Totengesänge hingen noch über dem Lager, lange 334
nachdem die Juramentados hinter den gelben Kreisen des Feuers in der Nacht verschwunden waren. Sie waren nicht mehr da, eilten auf die Stadt Batav zu. Von der Stadt her drangen schwache Laute zum Lager herüber: Geräusche von Singen und Freunde; Geräusche triumphierender Männer und Frauen. Datu Attik hörte sie und schüttelte drohend die Faust gegen den schimmernden Tempel, der sich hoch über den Stadtmauern erhob. Der Tempel! Der Tempel Gottes, der Tempel, in dem sich die Stimme Gottes befand. Der Tempel, den die schwarz gekleideten Priester von Batav gestohlen hatten, der Tempel, der fast in Reichweite der Maris gewesen war. Seit Generationen hatten die falschen Priester falscher Götter den Tempel vor den wahren Gläubigen geschlossen. Attiks Großvater war alt gewesen, als er gestorben war, und selbst die ältesten Männer, die sein Großvater in seiner Jugend gekannt hatte, konnten sich nicht daran erinnern, daß der Tempel einmal in den Händen der Anbeter des Propheten Jesus gewesen war. Aber Attik wußte es. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als Menschen über die Ebenen von Makassar und sogar zu den Sternen geflogen waren. Damals war Gott mit den Menschen noch nicht zornig gewesen, und zu jener Zeit hatte der Tempel allen offengestanden, damit jeder das Wort Gottes vernehmen konnte. Sicher würde Allah sein Volk nicht für immer von seinem Wort fernhalten. Sicher würden die Juramentados den Sultan MacKinnie finden, und dann, und dann – dann 335
würden die Maris vielleicht sogar den Tempel einnehmen können! Sie waren noch genug, und ohne die Führung des Sultans würden die Schwarzgekleideten vielleicht zu ihren aussichtslosen Kriegsmethoden von früher zurückkehren – »Allahs Wille geschehe«, sagte Attik laut. »Ich füge mich dem Willen Allahs.« Und dann, weil er ein praktischer Mann war, befahl Attik seinem Clan, sich für ihre Reise zu rüsten. Es wäre vielleicht ganz gut, weit genug von der Stadt entfernt zu sein, wenn die Juramentados zuschlugen. Der Sultan hatte ihnen befohlen, innerhalb von drei Tagen die Ebene zu verlassen, und die Frist war fast verstrichen. Wenn die Juramentados Erfolg hatten, würde noch Zeit genug sein, die Clans zu vereinen und zurückzukehren. Ohne den Sultan würden die Tempelpriester ihre Kämpfe wie in der Vergangenheit verlieren, und der Tempel würde fallen. Den Tempel für Allah und die Stadt Batav für die Maris. Die Stadt, diese wunderbare Stadt –
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21 Der vergessene Krieg Die Feiern zogen sich über Tage hin. Die Zellen der Mönche in den Mauern des großen Tempels waren leer, denn selbst die schweigenden Orden wurden auf Zeit von ihrem Gelöbnis entbunden. Von den massiven Mauern stiegen Triumphgesänge auf, die sich mit dem Tedeum mischten, das im Tempelheiligtum gesungen wurde. MacKinnie stand auf der höchsten Tempelzinne und sah hinauf in den Himmel, wo irgendwo, zwölf Lichtjahre entfernt, seine Heimat sein mußte. Unzählige Sterne standen am Himmel, die es schwierig machten, den zu bestimmen, der auf seiner Heimat geschienen hatte. Die Sterne gehörten dem Imperium der Menschheit, und als MacKinnie jetzt zu den Myriaden von Lichtern hinaufblickte, konnte er die Probleme der Imperialen Marine durchaus verstehen. Wie konnte unter so vielen der Friede bewahrt und ihnen doch gleichzeitig ihre Freiheit erhalten werden? Man sprach von der legendären Zeit, als Prinz Samuals Welt vereint war und es keine Kriege gab, als das goldene Zeitalter, und doch war die Vereinigung ein Traum geblieben und Anlaß für viele Kriege; und das war nur eine Welt. Das Imperium umfaßte Hunderte, vielleicht Tausende – er konnte es nicht sagen. Mehr Welten, als es auf Samual Nationen und Stadtstaaten gab. »Sir?« 337
Er wandte sich um, als Stark herankam. »Ja, Hal?« »Hier ist der Kapitän.« Wieder einmal staunte MacKinnie über die Verschiedenheit der Menschheit. Die Bewohner von Prinz Samuals Welt waren schon sehr verschieden, aber das war nichts gegen das, was er auf Makassar zu sehen bekommen hatte. Da waren die großen, blonden Männer wie Vanjynk und die dunklen, stämmigen wie Loholo; bei der Imperialen Marine hatte er schwarze Männer und Frauen kennengelernt. Auf Samual waren die »Schwarzen» legendäre Monster, die in den Bergen lebten und kleine Kinder verschlangen … Loholo stand ehrerbietig vor MacKinnie und wartete darauf, daß dieser zu sprechen begann. »Captain, ich muß zurück nach Jikar. Wann können wir segeln?« wollte der Colonel wissen. Loholo zuckte die Achseln. »Sie ist bereit zum Auslaufen. Es wird allerdings keine angenehme Fahrt werden. Die meiste Zeit über wird der Wind von vorn kommen. Im Süden oder Osten wäre es günstiger … es wird starke Stürme geben.« »Hm.« MacKinnie fröstelte. Jetzt, an Land, konnte er zugeben, daß er Angst gehabt hatte. Aber es gab keinen anderen Weg. Oder vielleicht doch? »Könnten wir nach Osten segeln, um nach Jikar zu kommen?« »Nach Osten? Sie glauben also an die Erzählungen, daß Makassar rund ist – aber Sie müssen es ja wissen, Sternenmann. Sie müssen es wissen.« Als Loholo die Achseln zuckte, begann der Goldschmuck, den er trug, zu 338
klirren. Der Griff seines Dolches war mit neuen Juwelen besetzt, und an den Fingern trug er neue Ringe. »Ich habe Männer gekannt, die daran geglaubt haben, daß die Welt rund ist und nach Osten gesegelt sind, um die Westküste zu erreichen«, fuhr er fort. »Aber ich weiß von keinem, der angekommen ist. Händler, im Westen von Jikar gibt es Untiefen, und überall lauern Piraten auf den Inseln. Sicher, die Subao ist schneller als sie, aber es sind viele. Die westlichen Gewässer kenne ich, das wissen Sie. Was aber sonst zwischen hier und dort liegt –« Wieder zuckte er die Achseln, und es klimperte leise. »Das weiß nur der Himmel.« Der Himmel und die Imperialen, dachte MacKinnie. Den Karten nach zu urteilen, die man ihm gezeigt hatte, war im Osten des Hauptkontinents offenes Gewässer. Vielleicht hatte Loholo recht, und sie nahmen doch besser die alte Route. »Ich habe mir etwas Ähnliches schon gedacht«, erwiderte er. »Den Vorschlag könnten wir also vergessen. Nun gut, wir segeln in fünf Tagen.« »So bald? Sie werden aber kaum genügend Zeit haben, bis dahin eine Ladung einzukaufen. Es wäre sicher besser, noch zu warten.« »Unmöglich. Ich muß Jikar in zweihundert Tagen erreicht haben«, widersprach MacKinnie. Loholo grinste. »Das wird aber eine höchst unerfreuliche Reise werden. Zweitausend Klamaters in zweihundert Tagen.« Der Kapitän lachte wieder. »Und das zu dieser Jahreszeit. Die Subao wird es verkraften – aber Sie? Und warum wollen Sie Batav überhaupt verlassen? Sie sind doch jetzt hier der Herrscher. Der Priester von den Sternen 339
ist zwar jetzt die Höchste Heiligkeit, aber er ist doch nur durch Sie auf seinen Thron gekommen, und wenn Ihre Pikeniere nicht die Stadt besetzt halten würden, dann würde der alte Rat innerhalb von drei Tagen eine neue Heiligkeit gewählt haben.« »So sieht es nun einmal aus«, fügte Stark hinzu. »Es gibt zwar einige im neuen Rat, die für Casteliano sind, aber Sie können nicht im Ernst erwarten, daß die alten Erzdiakone den imperialen Missionaren freundlich gesinnt sind, die hier einfach so hereinplatzen. Mister Loholo hat recht, wenn unsere Soldaten nicht alle entscheidenden Stellen besetzt hielten, würde es bald zu einem Bürgerkrieg kommen.« »Was bedeutet, daß ich nicht mit der ganzen Armee losziehen kann. Und wenn doch, müßte ich die imperialen Missionare mitnehmen –« »Sie werden aber kaum freiwillig mitkommen«, stellte Stark fest. »Nein, das ist kaum anzunehmen. Und sie werden uns auch kaum weiterhin helfen, wenn wir sie zwingen, mitzukommen.« MacKinnie blickte hinauf zu den Sternen und mußte wieder an die Probleme des Imperiums denken. »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als den Weg über das Meer zu nehmen. Und die Pikeniere hierzulassen in der Hoffnung, daß die Missionare etwas mit ihnen anzufangen wissen. Danke, Mr. Loholo, das wäre im Augenblick alles.« »Händler?« Loholo machte keine Anstalten, zu gehen. »Ja?« 340
»Händler, Sie haben mir die Subao versprochen, wenn wir nach Jikar zurückkehren.« »Sie wird Ihnen gehören, Mr. Loholo.« »Dann werde ich jetzt mit Ihrer Erlaubnis zu ihr zurückgehen. Es gibt noch eine Menge Arbeit. Der Rumpf muß gescheuert werden, neue Wasserfässer und Proviant an Bord gebracht werden – aber wenn es irgendeinen Ort auf diesem Planeten gibt, den Sie über Wasser ansteuern wollen, werde ich Sie dorthin bringen, und wenn wir gegen noch so viele Piraten und Stürme kämpfen müßten!« Loholo griff nach seinem goldenen Ohrring am linken Ohr. »Sie sind der seltsamste Mann, der mir je begegnet ist, Händler. Sie haben uns gezeigt, wie man mit Schiffen besser segeln kann. Sie haben aus dem Stadtpöbel eine Armee gemacht, mit der Sie ausgezogen sind und die Barbaren geschlagen haben, obwohl die Tempelpriester schon aufgegeben hatten. Und jetzt, wo der Tempel und ganz Batav unter Ihrem Befehl stehen, wollen Sie nach Jikar zurückkehren! Die meisten Männer würden es vorziehen, als König hierzubleiben – und das ist kein bloßes Gerede. Ein Wort von Ihnen genügt, und …« »Und Sie wären mein Großadmiral, Mister Loholo?« »Nein, Sir. Ihr Sternenmann Captain MacLean würde diesen Posten bekommen. Ich bin nicht so ehrgeizig. Die Subao genügt mir, Sternenmann. Ein gutes Schiff und freie Fahrt, das ist alles, was sich mein Vater für seine Söhne gewünscht hat.« Loholo machte sich an den langen Abstieg die Steintreppen hinunter auf die Straße, und MacKinnie wandte 341
sich ab. Batav unter ihm war ein einziges Lichtermeer, und überall loderten Freudenfeuer. Jeder der dreißigtausend Bewohner der Stadt schien auf der Straße zu sein, und zu ihnen gesellten sich noch einmal dreißigtausend Landarbeiter und Bauern, die hinter den Mauern Zuflucht gesucht hatten. Die Farmer würden bald wieder auf ihre Felder zurückkehren, und die Überlebenden der großen Feudalfamilien von Batav, all jene, die bei den vergeblichen Attacken gegen die Barbaren mit dem Leben davongekommen waren, würden wieder ihre Reiterturniere abhalten können – Und dann? »Die Bibliothek in unsere Hände zu bekommen war ein Kinderspiel«, meinte MacKinnie. »Sorgen machen mir nur die Missionare. Können sie die Stellung halten, wenn wir Batav verlassen?« »Das bezweifle ich. Nicht ohne einen guten Kommandanten, der kämpfen kann.« »Ob Brett wohl den Tempel halten könnte?« Stark zuckte die Achseln. »Erfahren genug ist er, aber sie würden ihm nie vertrauen. Es steht fest, daß er als Mari aufgewachsen ist. Niemand würde ihn als Kommandanten einsetzen.« »Wer sonst kommt noch in Frage?« »Sie.« »Sonst keiner, Sergeant?« »Nicht, daß ich wüßte, Colonel. Sie haben diese Armee aufgestellt, und Sie wissen, was Sie ihr zutrauen können. Die anderen denken anders als Sie.« »Und das beunruhigt dich?« wollte MacKinnie wissen. 342
»Dafür werde ich nicht bezahlt«, erwiderte Stark mechanisch. »Nur –« Er ist in einer eigenartigen Stimmung, dachte der Colonel. Er scheint sich wirklich Sorgen zu machen. So habe ich ihn noch nie erlebt – »Wissen Sie, Colonel«, fuhr Stark fort, »Mister Loholo hat irgendwie recht. Noch vor einem Jahr waren wir völlig am Ende, bemühten uns darum, irgendwo kämpfen zu können und mußten uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir die nächste Miete in dieser Absteige bezahlen sollten, bis wir Arbeit gefunden hatten. Und wer hätte damals gedacht, wie gut es uns jetzt geht.« »Ich habe Dougal mein Wort gegeben, und ich habe König David die Treue geschworen«, erinnerte MacKinnie seinen Sergeanten. »Nachdem Haven mit Hilfe dieses gottverdammten Imperiums die Hälfte unserer Wölfe getötet hat, Colonel! Ohne die Imperiale Marine hätten sie das nie geschafft … und Sie haben sie wie einen nutzlosen Gaul vor die Tür gesetzt! Was schulden wir Haven denn wirklich? Wem schulden wir überhaupt etwas, Colonel?« MacKinnie sah seinen Sergeanten überrascht an. »Wir sind Soldaten, Hal. Unser ganzes Leben lang sind wir beide Soldaten gewesen –« »Soldaten für wen, Colonel? Schulden Sie Haven mehr, als Sie Batav schulden? Hätten wir nicht die Bauern gehabt, die wir ausgebildet haben, wäre es uns nie im Leben gelungen, die Maris zu schlagen. Die Jungs würden Ihnen bis in die Hölle folgen, und was wird aus ihnen, 343
wenn wir einfach alles stehen- und liegenlassen und uns aus dem Staub machen? Und wenn wir nach Haven zurückkehren, wird uns dieser Dougal höchstwahrscheinlich die Kehle aufschlitzen, um uns zum Schweigen zu bringen. Was soll er denn noch mit uns, wenn wir ihm erst die Bücher oder was immer es auch sein mag, zurückgebracht haben? Auf Samual erwartet uns nichts, so sieht es doch aus –« Stark drehte sich plötzlich um und griff nach seinem Schwert. »Vorsicht, Colonel, da kommt jemand die Treppe hoch.« »Sieh nach, wer es ist.« Am Fuß der Treppe, die zu MacKinnies Quartier hinaufführte, waren Wachen postiert, und den Schritten nach zu urteilen handelte es sich nur um eine Person, die sich näherte. Mit einem einzelnen Mann würde Hal schon fertig werden. Nathan drehte sich wieder zu den Zinnen um. Unten in der Stadt wurde noch immer gelacht und gefeiert. Betrunkene torkelten von Geschäft zu Geschäft und verlangten, die Schaufenster zu beleuchten, anders würden sie aus Mangel an Licht das ganze Gebäude in Brand setzen. An jeder Straßenecke standen Fässer mit Wein und Bier, an denen sich jeder kostenlos bedienen konnte. Doch zwischen den Feiernden standen MacKinnies Pikeniere in disziplinierten und einschüchternden Gruppen an allen strategisch wichtigen Punkten und warteten geduldig auf ihre Ablösung, um sich dann selbst in die jubelnde Menge stürzen zu können … Sie folgen mir bis in die Hölle, dachte MacKinnie. Warum auch nicht? Als ich herkam, waren sie nicht viel mehr als Sklaven, und jetzt haben sie die schrecklichste 344
Gefahr abgewendet, der diese Stadt je ausgesetzt war. Warum eigentlich sollte ich nicht König werden? Weil mich eine andere Pflicht ruft … Sein ganzes Leben war vom Kodex des Soldaten beeinflußt gewesen, und wie bei den meisten kämpfenden Zivilisationen stellte man auch auf Prinz Samuals Welt die Ehre über das Leben … aber welche ehrenhafte Sache stand im Augenblick im Vordergrund? Wem bin ich Loyalität schuldig? überlegte er. Dougal, der ein Dutzend Männer und Frauen hat umbringen lassen, nur um ein Geheimnis zu schützen, das ein betrunkener Offizier der Imperialen Marine ausgeplaudert hat? Casteliano, der seinen Titel nur meinen Pikenieren verdankt? Oder den Burschen da draußen? Ich weiß genau, was Hal denkt. »Es ist Freelady Graham, Colonel«, meldete Stark. Mary Graham hatte ihre Rüstung ausgezogen, und das lange braune Haar fiel ihr jetzt in weichen Wellen lockig bis über die Schultern. Ein blaues Leinenkleid mit engem Mieder unterstrich ihre schlanke Figur, und sie kam MacKinnie jetzt viel hübscher vor als damals, als er sie zum erstenmal gesehen hatte. »Nathan, Sie verpassen ja die Feier«, meinte sie vorwurfsvoll. »Können Sie sich denn noch nicht einmal für einen Abend entspannen? Kommen Sie, amüsieren wir uns!« Der besitzergreifende Ton in ihrer Stimme überraschte den Colonel. Hatte er sich das nur eingebildet, oder – Himmel, heute abend ist sie eine wahre Schönheit. Und mit 345
dem offenen Haar sieht sie Laura sehr ähnlich. Fast ganauso hartnäckig ist sie auch. Aber sie ist vierundzwanzig, und du bist fünfzig, und sie ist dein Mündel. Trotzdem – Lange verdrängte Erinnerungen zogen vor seinem geistigen Auge vorbei. Es hatte einmal ein anderes Mädchen gegeben. Eine Freelady, nicht eine von den unzähligen Marketenderinnen, die jeder Kommandant kannte. Sie war erst dreißig gewesen, und es war erst drei Jahre her … Ein düsteres Bild nahm in MacKennies Gedanken Gestalt an. Haven, das sie am Blantern-Paß besiegt hatten, war wieder auf dem Feldzug und drang mit unzulänglichen Truppen und einer gefährlich schwachen Versorgungslinie in Orleans ein. Der Eiserne MacKinnie hielt sich mit seinen Wölfen bereit, diesmal der Bedrohung Orleans durch Haven endgültig ein Ende zu machen. Wenn diese Schlacht geschlagen war, würde der Ausschuß von Orleans für Öffentliche Sicherheit David II. seine Forderungen diktieren können! Die Wölfe lagen in Lechfeld im Hinterhalt. Zwei Bataillone warteten, genug Soldaten, um die Armee von Haven zum Kampf zu zwingen. Sie konnten Lechfeld nicht umgehen, denn sonst wäre Havens Armee ohne eine Nachschubverbindung gewesen. Zwanzig Kilometer entfernt war eine Schwadron orleanischer Dragoner mit ihren Pferden durch die dichten Wälder unterwegs, um offenes Land zu erreichen. Weiter vor, hinter den Hügeln über der Ebene von Lechfeld, wartete MacKinnie mit seinen Wölfen, um die Falle zuschnappen zu lassen – auf die sich die Armee von Haven geradewegs zubewegte. Der Ausschuß hatte sich gegen den Plan gewandt, weil 346
er es für zu gefährlich hielt, daß die Truppen aufeinander zumarschieren sollten. Es gab keine zuverlässige Verbindungsmöglichkeit zwischen ihnen, auch wenn die Universitätsprofessoren fest davon überzeugt waren, bald zuverlässige Sender entwickeln zu können. Die zeitliche Abstimmung erforderte äußerste Präzision, wenn man verhindern wollte, daß die Armee von Orleans getrennt geschlagen werden würde. Der Ausschuß hatte zwar protestiert, doch letztendlich hatte sich MacKinnie durchgesetzt. Er kannte seine Truppen bis ins kleinste Glied, und seine Scouts würden im gesamten Kampfgebiet postiert sein. Es würde keine Überraschungen für Orleans geben – nur für Haven. Die Wölfe würden erst dann eingreifen, wenn Haven in der Falle saß. Und jetzt marschierten sie heran, zum Untergang verurteilt. Freelady Laura wartete mit ihm in den Bergen von Lechfeld. Er hatte versucht, sie zurückzuschicken, doch sie war wiedergekommen – und mit Ausnahme von Stark gab es keinen Offizier oder Unteroffizier in seinem Kommando, der sich den Anweisungen der Lady des Colonels selbst auf seinen direkten Befehl hin widersetzt hätte. Aber es konnte ihr nichts passieren. Heute würde Haven endgültig verlieren! Trotzdem war er beunruhigt, denn ihr Versteck in den Bergen war nicht ungefährlich, und sie einer Gefahr auszusetzen, das durfte er nicht zulassen. »Geh nach Lechfeld, solange die Straßen noch offen sind«, hatte er ihr gesagt. »Major Armstrong hat sich gut 347
verschanzt, und bei ihm bist du in Sicherheit. Wir sehen uns dann in Lechfeld.« Sie hatte protestiert, doch weil er jemand brauchte, der eine Botschaft überbringen sollte, hatte sie schließlich eingewilligt. »Wir werden die ganze Zeit über angreifen, Laura«, hatte er ihr erklärt. »Das ist nichts für dich! Wir müßten uns so oder so trennen. Wenn du dich schon nicht der Nachhut anschließen willst – warum hat dich dein Vater auch bloß aus dem Haus gelassen? –, dann sollst du wenigstens in Lechfeld in Sicherheit sein.« »Also gut. Ich will nicht, daß du dir über mich den Kopf zerbrichst, wenn du dabei bist, eine Schlacht zu führen.« Sie saß stolz in dem Ambulanzwagen. Die begleitende Kavallerie salutierte, und Kornett Blair saß auf, stolz, zum Beschützer der Verlobten des Colonels ausgewählt worden zu sein. »Und wenn die Schlacht vorbei ist, gehen wir beide zum Kaplan«, versprach er ihr. »Reiten Sie los, Blair.« »Sir.« Ambulanz und Eskorte ritten in einer Staubwolke davon, und MacKinnie wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Armee von Haven im Tal vor ihm zu. Nach einer Stunde tauchte ihre Vorhut auf. Man war keineswegs überrascht, bei Lechfeld auf Widerstand zu stoßen und zog sich zurück, um auf die Haupttruppen zu warten. Die Armee Havens bildete eine Schützenlinie und stellte sich dann zur Hauptgefechtslinie auf, um zu attackieren, die Artillerie vorneweg. Trompeten tönten über die gepflügten Felder, als sich Havens letzte Armee auf den Kampf vorbereitete, der ihnen Frieden bringen sollte. 348
Nathan war beunruhigt. Haven konnte doch nicht wirklich so dumm sein. Es hatte bessere Soldaten als die vor ihm! Sie spazierten geradewegs in eine klassische Militärfalle hinein und hatten noch nicht einmal Wachen an den Flanken und im Rücken postiert! Aber MacKinnies Scouts, die den Feind umkreist hatten, hatten nichts gesehen. Es gab keine nennenswerten Vorsichtsmaßnahmen von Seiten des Feindes, keine Unterstützung für die Truppen, die so blindlings in MacKinnies Falle liefen. Haven war nicht mehr zu retten. Wieso? fragte sich MacKinnie. Eigentlich war es nicht wichtig, wieso. Vielleicht hatte der Feind irgendeinen klug eingefädelten Gegenzug geplant, doch jetzt gab es nichts mehr, was ihn noch hätte retten können … Die orleanischen Dragoner besetzten in Minutenschnelle das Schlachtfeld. Sie rückten vor, schlossen der Armee von Haven den Fluchtweg ab und bildeten einen soliden Amboß, gegen den die attackierenden Wölfe den Feind zerdrücken konnten, und nun, nun war es Zeit! »Laß aufsitzen, Hal. Vorwärts marsch. Die Männer von Fox und Dragon werden die Batterien auf der rechten Flanke angreifen. Die übrigen steigen in einer Entfernung von fünfhundert Metern ab und rücken zu Fuß vor. Wir haben sie, Hal, diesmal haben wir sie endgültig!« Die Wölfe stürmten den Berg hinunter, brüllend wie die Barbaren des Südkontinents, während die jungen Trompeter alle Signale bliesen, die sie gelernt hatten. Sie hatten es geschafft. Aus dieser Position heraus konnten die Wölfe Havens Flanke aufrollen – und plötzlich fiel der Tod aus dem Himmel auf sie herab. Über ihnen brüllte etwas 349
Schwarzes auf, und als es vorbeigezogen war, war Lechfeld nur noch ein schwarzer Aschehaufen. Und immer wieder tauchte dieses Etwas über ihren Köpfen auf, und blendende Lichtfinger schossen auf die Dragoner zu, um sie zu verbrennen! Jetzt schwebte das schwarze Ding über dem Schlachtfeld und schickte seine tödlichen Strahlen hinunter auf MacKinnies Armee. »Absteigen! Feuert auf dieses Ding da! Kommandanten, die Truppen sollen feuern, was ihre Waffen hergeben! Trompeter, Signal an die Artillerie! Wo zum Teufel stecken die Geschütze? Kanoniere, an die Geschütze!« Irgendwie hatten sie es geschafft. Das schwarze Etwas fiel vom Himmel herunter in die Kornfelder, und als die graugekleideten Soldaten in der Himmelsmaschine ausstiegen, machten die Wölfe sie nieder und stimmten ein Triumphgeheul an. Doch es war zu spät. Die Armee von Haven war noch nicht besiegt. Die Dragoner waren tot oder auf der Flucht, Lechfeld war verschwunden, und die Wölfe mußten nun für ihre Nachlässigkeit büßen. Die Armee von Haven schwenkte rechts um, und zum ersten Mal in seinem Leben mußte Nathan eine Niederlage hinnehmen. Als die Trompeter zum Rückzug bliesen, bedeutete dies das Ende seiner Karriere, das Ende von allem. Laura war in Lechfeld gewesen … »Colonel.« Stark faßte MacKinnie am Ellbogen. »Colonel, Sie dürfen nicht mehr daran denken. Es ist vorbei.« »Wie?« Die Schlachtfelder von Prinz Samuals Welt 350
verblaßten. Verlegen drehte er sich herum und entspannte sich. »Entschuldigen Sie, Mary, ich war – ich war gerade mit den Gedanken woanders. Sie haben recht, wir wollen uns amüsieren.«
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22 Gnade und Absolution Mary Graham sah zu, wie das irre Funkeln aus MacKinnies Augen verschwand. Ich weiß, dachte sie. Ich weiß, was er gesehen hat. Wenn Hal diese Geschichte erzählt, ist es, als wäre man selbst dabei. MacKinnies Stimme schien aus einem tiefen Brunnen von Emotionen zu kommen, und Mary versuchte, ihm beruhigend zuzulächeln, doch es war ihr unmöglich. Wie ist es, fragte sie sich. So viel für jemanden zu empfinden? Und wie mochte sie gewesen sein, jenes Mädchen, an das er dachte? Hal wollte nicht viel über sie erzählen. Ich kenne noch nicht einmal ihren Namen. Wie muß sie gewesen sein, um in einem Mann wie MacKinnie ein solches Gefühl zu wecken? Ich werde eine so starke Zuneigung wohl nie von jemandem erfahren. Habe ich überhaupt so viel zu geben? Ja. Ja, das habe ich. Ich weiß, daß irgendwo, irgendwie – Die Träume eines kleinen Mädchens. Nein. Keineswegs. Als ich klein war, habe ich von einem schönen und reichen Prinz geträumt, und auch später habe ich mir den Mann meiner Träume oft als reich und gutaussehend vorgestellt, aber die Hauptsache für mich ist jetzt, daß ich ihm mehr sein darf als meine Mutter meinem Vater sein durfte. 352
Sie blickte hinauf in den von Sternen übersäten Himmel. Der winzige Punkt dort, das ist meine Sonne, dachte sie. Ein Punkt unter tausend anderen, winzig, unbedeutend, und doch war er bis vor einem Jahr noch alles, was ich bis dahin kannte – Eine Welt, die ihr inzwischen gleichgültig geworden war. Sie hatte sich über die Einschränkungen geärgert, die ihr die Gesellschaft von Haven auferlegte, aber ihr Groll war vage, fast unbewußt gewesen. Heute hatte sie dazugelernt. Es gab andere Möglichkeiten, zu leben, andere Kulturen auf anderen Welten, unzählige Welten, und was war angesichts dieser Vielzahl schon Prinz Samuals Welt oder seine Bewohner? Wir sind das, was wir selbst aus uns machen. Und es liegt in unseren Händen, ganze Welten zu verändern. Das, was wir gerade jetzt tun. Ist das nicht genug? Sie hatte erfahren, was es heißt, zu befehlen, zu wissen, daß sich andere auf ihr Urteil verließen. MacKinnie hatte zwar die Schlacht gewonnen, aber ohne ihre Köche und Verpflegungswagen hätte er nicht ins Feld rücken können. Er hatte es gewußt, und er hatte ihr vertraut, hatte ihr das Leben seiner Männer anvertraut, und seine Soldaten bedeuteten ihm mehr als sein eigenes Leben – »Diesmal sind Sie aber die Nachdenkliche«, unterbrach Nathan sie in ihren Gedanken. »Ich glaube, wir brauchen Gesellschaft.« Sie nickte und ließ sich von Nathan und Hal die Stufen zur Straße hinunterführen, doch die nachdenkliche Stimmung wollte sie nicht loslassen. Brauchen wir wirklich 353
Gesellschaft? fragte sie sich. Vielleicht haben wir schon zuviel. Hal würde sicher nichts dagegen haben, sich ohne uns den Feiernden anzuschließen … Fast hätte sie laut aufgelacht. Noch vor einem Jahr wäre sie bei diesem Gedanken wahrscheinlich schockiert gewesen. Oder zumindest hätte sie es vorgegeben, sogar vor sich selbst. Anständig erzogene junge Damen wußten genau, was Anstand hieß. Anständige junge Damen führten ein langweiliges Leben. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Wo man früher Bettler und leere Läden angetroffen hatte, scharten sich jetzt die Menschen, um die Verbitterung über Monate der Niederlage in Wein und Bier zu ertränken. Die Barbaren waren von den Toren der Stadt vertrieben worden! Wer seinen Schmuck und seine Sonntagskleider nicht während der Belagerung versetzt hatte, der trug sie jetzt. Ein paar der Pfandleihen waren geplündert worden, so daß jetzt auch viele andere in prächtige Wollkleider, Seide und selbst bedruckte Baumwollstoffe gehüllt waren. Ein Wirrwarr aus Farben bildete in den Straßen ein buntes Muster. Es schien, als wäre die ganze Stadt auf den Beinen. Sogar die safrangelb gekleideten Mitglieder der untergeordneten Orden, die grauen Diakone und die schwarz gekleideten Priester hatten sich zu den Feiernden gesellt. Nur MacKinnies diensthabende Pikeniere hielten sich zurück, und viele von ihnen tranken hastig einen Becher mit Wein oder Bier leer, der ihnen angeboten wurde. 354
»Ohne die Schwertkämpfer des Tempels sieht es ganz anders aus«, bemerkte Hal. »Ich sehe schon, daß die Tempelleute Männer rekrutieren, die die in der Schlacht Gefallenen ersetzen sollen …« »Ja.« MacKinnie verspürte keine Lust, das Thema anzusprechen. »Es war schrecklich«, mischte sich Mary Graham ein. »Daß Vater Sumbavu und tausend Schwertkämpfer nach unserem Sieg getötet worden sind … Ich verstehe immer noch nicht, wie das passieren konnte.« »So etwas kann immer passieren«, erwiderte MacKinnie. »Das ist eben der Preis, der gezahlt werden muß.« Aber was ist wirklich passiert? fragte sich Mary. Hatte MacKinnie so viel von Sumbavu gewußt, daß er den Priester absichtlich dazu benutzt hatte, die Tempelarmee zu vernichten? Ein solcher Gedanke war etwas erschreckend. Wenn er Sumbavu so gut gekannt hatte, wieviel weiß er dann über mich? Was, wenn er Sumbavu und seine Männer vorsätzlich in den Tod geschickt hatte? Gab es einen anderen Weg, wie er sich sonst des Tempels hätte bemächtigen können? Wahrscheinlich nicht. Aber war es den Einsatz wirklich wert? Eine wichtige Frage. Was tun wir hier? Und was mache ich hier? Wie ich es jetzt sehe, möchte ich lieber in der imperialen Gesellschaft statt in meiner eigenen leben – Aber die imperiale Gesellschaft hat keine Verwendung für uns, weder für uns Frauen noch für die Männer. Haven jedoch braucht uns. Diese Mission ist wichtig für Haven, und ich bin wichtig für die Mission, und das dürfte genug 355
sein. Es ist jedenfalls mehr, als ich mir hätte erträumen lassen. Nur ist jetzt mein Teil der Aufgabe erfüllt … MacKinnie fand einen Becher Wein, den er ihr reichte. Es war ein starkes Getränk, das leicht zu Kopf stieg, und sie wußte, daß sie besser nicht alles trank, doch es war schwer, sich der festlichen Stimmung in den Straßen zu entziehen, und so leerte sie den Becher halb. Nathan nahm unterdessen einen Becher Bier von einem seiner dienstfreien Soldaten. »Danke, Hiaro«, meinte er. »Was wirst du jetzt tun, wo der Krieg vorbei ist?« »Ich weiß nicht, Colonel.« Der kleine Pikenier stand aufrecht da, und seine gespannten Muskeln waren der deutliche Beweis für Starks gnadenlose Exzerzierübungen. Mary konnte sich noch daran erinnern, als sie ihn zum erstenmal gesehen hatte: Als Hiaro MacKinnies Armee beigetreten war, war er ein ausgemergelter Geist gewesen, der von der Tempelwohlfahrt lebte, in der Gosse schlief und auf den Tod wartete. »Meine Farm ist verbrannt, meine Frau und meine Kinder sind tot … der Herr unserer Felder möchte, daß wir zurückkehren, und es scheint die einzige Lösung zu sein, denn für die Tempelwachen bin ich nicht groß genug.« MacKinnie trank aus und wandte sich ab, doch der Krieger folgte ihm. »Colonel – Händler – Sir, es geht das Gerücht um, daß Sie mit einer Armee nach Westen marschieren. Es gibt viele wie mich, die Sie gerne begleiten würden. Einige denken auch daran, zusammenzubleiben und als Soldaten für eine andere Stadt Beschäftigung zu suchen, aber am liebsten würden wir mit Ihnen gehen.« »Danke, Hiaro. Ich werde es nicht vergessen«, sagte 356
MacKinnie. Was hat er nur an sich, daß ihm so schnell Loyalität sichert? überlegte Mary. Nicht nur Hiaro. Auch Stark. Die anderen Wachen. Es ist wie eine Macht, die man berühren kann. Auch ich fühle es, aber ich glaube, es könnte bei mir etwas anderes sein, etwas eher Körperliches. Attraktiv genug ist er ja. Und manchmal sieht er mich so an – Sie trank ihren Becher leer. Jemand aus der Menge kam auf sie zu, um ihn erneut zu füllen. Sie spazierten durch die hell erleuchteten Straßen. Vor jedem Eingang klirrten Mobiles mit einer Kopie des Tempels in der Mitte. Sie bogen um eine Ecke, und als sie auf dem holprigen Pflaster ausrutschte, fing MacKinnie sie auf. Einen Augenblick lehnte sie an ihm und fühlte die Wärme seines Körpers. Am liebsten hätte sie sich nicht wieder von ihm gelöst, doch er stellte sie vorsichtig auf die Füße zurück. Er nahm sich dabei allerdings Zeit, und sie hatte das Gefühl, als wäre ihm der körperliche Kontakt durchaus nicht unangenehm. »Die Pikeniere wären nicht schlecht als Söldner«, begann Stark. »Sie können alles und jeden auf diesem Planeten schlagen, mit Ausnahme schwerer Kavallerie, und selbst das könnten sie unter der richtigen Führung fertigbringen. Aber da sie ohne die richtigen Führer sind, werden sie sich wahrscheinlich an irgendeinen Idioten verkaufen, der ihre Fähigkeiten verschwenden wird. Niemand in diesem Teil von Makassar weiß eine gute Infanterie zu schätzen. Ein Jammer, was aus den Burschen nach all der guten Ausbildung werden wird, die wir ihnen haben zukommen lassen …« 357
»Ich weiß schon lange, was du mir sagen willst, Hal«, entgegnete MacKinnie kalt. »Ja, Sir.« »Was?« fragte Mary. »Hal ist der Meinung, daß ich lieber als König in Batav bleiben als nach Jikar zurückkehren sollte.« »Aber das können Sie nicht! Haven und Prinz Samuals Welt vertraut auf sie – Nathan, das würden Sie doch nicht tatsächlich fertigbringen!« Warum nicht, dachte sie im stillen. Wir könnten bleiben. Sie dachte an Hiaro, wie sie ihn zum erstenmal gesehen hatte. Und an die Kinder von Batav. Das Imperium würde ihnen nicht helfen. Aber irgend jemand sollte es tun. Aber nicht wir! Wir müssen unsere eigene Welt retten, und auch wenn ich für Haven nicht mehr so viel empfinde wie früher, ist es immer noch meine Heimat, und ich habe eine Pflicht zu erfüllen. »Würde ich nicht? Wer sollte mich davon abhalten?« entgegnete MacKinnie. Sie machte sich von ihm frei und begann dann zu lachen. »Sie haben recht, Eiserner MacKinnie. Wahrscheinlich kämen Sie tatsächlich damit durch. Es würde der Imperialen Marine zwar sicher nicht gefallen, aber mit dem Erzbischof auf Ihrer Seite kann Ihnen nicht viel passieren.« Ihre Stimme hatte jetzt einen spöttischen Klang. »Weiter, Eure Majestät. Vergessen Sie, was Sie geschworen haben. Warum verschleppen Sie mich eigentlich nicht in das nächste Haus und fallen über mich her, wenn Sie schon mal dabei sind? Wer sollte Sie daran hindern? Ich habe hier 358
keinen Beschützer. Keinen, außer Ihnen.« MacKinnie wandte sich schweigend ab. Sie näherten sich einer großen Gruppe von Bauern, dienstfreien Soldaten und Reitern in Kettenhemden, die sich um einen Karren scharten, der auf einem öffentlichen Platz stand. Hoch auf dem Wagen stand ein Krieger im Kettenhemd, der mit zurückgeworfenem Kopf lauthals sang. »Seht mal, da drüben ist Brett«, zeigte Nathan auf den Mann. »Gehen wir doch hinüber und hören ihm zu.« Zwei Pikeniere sahen MacKinnie kommen und öffneten ihm sofort eine Lücke durch die dichtgedrängte Menge vor dem Wagen. »Im Gasthaus zu sterben, das ist mein Wille, reicht Wein mir, wenn mich langsam umgibt die Stille! Auf daß Engel weinen und mit beredten Zungen bitten Gottes Sohn. ›Gewähre, o Herr, diesem Trunkenbold deine Gnade und Absolution!‹« Brett beendete sein Lied und griff nach einer Flasche Wein. Als er sie ansetzte, erblickte er MacKinnie. »He, Leute, da kommt der Colonel und seine Lady, unsere Lady Mary, die uns so gut versorgt und unsere Verwundeten gepflegt hat. Ein Lied auf den wirklichen Sieger unserer Schlacht!« »Oh, meine Gebieterin und Geliebte, wo bist du –« 359
Er hatte kaum begonnen, als er unvermittelt abbrach und vor Entsetzen zu erstarren schien. »Hal! Hinter dir! Paß auf den Colonel auf!« Brett riß sein Schwert aus der Scheide und sprang vom Wagen. Alles geschah so schnell, daß Mary keine Zeit hatte, zu reagieren. Ein stämmiger, braunhäutiger Mann drängte sich durch die Menge, in der Hand einen Krummdolch. Alle schrien wie wild durcheinander, während der Störenfried in tödlichem Schweigen weiterlief. Als sich ihm ein Pikenier in den Weg stellen wollte, blitzte der Kris kurz auf und durchtrennte den Arm des Soldaten am Ellbogen. Rufe des Entsetzens wurden laut. Der Kris schwang immer wieder durch die Luft, und weitere Krieger fielen auf den weindurchtränkten Boden. »Haigh!« Einer der Soldaten warf seinen Speer, und die anderthalb Meter lange Waffe drang dem Angreifer unterhalb der Brust in den Körper. Der braunhäutige Mann zog sie jedoch mit einem Ruck heraus und stürmte weiter, wobei er immer noch schreckliche Hiebe an jeden, der sich ihm in den Weg stellte, austeilte. Und dann war nur noch Stark zwischen ihm und dem Colonel. Hal hatte keine Zeit, sein Schwert zu ziehen. Kurz entschlossen baute er sich schützend vor MacKinnie und Mary auf. Wieder blitzte der Kris. Er traf Stark an der rechten Schulter und schmetterte ihn zu Boden, doch MacKinnie hatte Zeit gewonnen, in der Zwischenzeit seine eigene Waffe zu ziehen. Und noch immer stürmte der braune Mann vor; mit hoch 360
erhobenem Dolch kam er jetzt direkt auf Nathan und Mary zu. Nathan baute sich auf, und mit entschlossener, aber ruhiger Miene, die keine Spuren von Furcht aufwies, hielt er die Spitze des Schwertes genau auf den Feind gerichtet – Der Mann lief genau in die Waffe hinein, doch auch jetzt noch konnte sie ihn nicht stoppen, bis sie ihm bis zum Griff in den Körper gedrungen war. Noch einmal schwang er den Kris, und Mary sah den Tod auf sie zukommen. »Haigh!« Brett stieß einen Schrei aus, wie sie ihn vorher bei dem Attentäter gehört hatten. Sein Breitschwert blitzte auf und durchtrennte die Hand mit dem Kris am Gelenk. Noch einmal erhob Brett seine Waffe und schlug mit aller Wucht nach dem Kopf des Angreifers, um dann erneut auszuholen. Der untersetzte Krieger fiel in sich zusammen, und das Gewicht seines zu Boden stürzenden Körpers riß MacKinnie das Schwert aus der Hand. »Haigh!« rief Brett noch einmal. »Das war knapp. Hal, lebst du noch?« »Ja.« Stark kämpfte sich auf die Füße, wobei er seine rechte Schulter mit der linken Hand umklammert hielt. »Mann, der hatte aber einen ganz schönen Schlag drauf! Gott sei Dank hat er mich nur mit der Flachseite erwischt. Bin ich froh, daß ich mein Kettenhemd heute ausnahmsweise nicht ausgezogen habe …« Vorsichtig versuchte er, seinen Arm zu bewegen. »Wird wohl eine Woche steif bleiben.« »Besser steif als ab«, erwiderte Brett gelassen. Die Menge drängte hin und her, und Männer und Frauen riefen durcheinander. »Der Colonel lebt!« Brett sprang auf 361
den Wagen und rief es noch einmal. »Er lebt! Der Colonel lebt!« »Gepriesen sei Gott!« schrie jemand. Ein Tempelpriester begann laut zu beten. Erst jetzt setzte bei Mary die Reaktion ein. Sie zitterte noch immer, als MacKinnie auf den Karren kletterte, um zu zeigen, daß er unverletzt war. Er kam gerade rechtzeitig, denn schon kamen seine Pikeniere mit erhobenen Waffen heran, bereit, den Tod ihres Kommandanten mit einem Blutbad zu rächen … Nathan stieg vom Wagen herunter. Das war haarscharf, dachte er. So knapp bin ich dem Sensenmann noch nie entwischt. Jetzt, da es vorbei war, konnte er nur mit Mühe ein Zittern unterdrücken. Es war fast immer so. Wenn es etwas zu erledigen gab, machte ihn der Anblick der Gefahr nur noch ruhiger, aber wenn es dann vorbei war … Er fand Mary in der Menge. Sie schien sich beruhigt zu haben, machte aber einen etwas verwirrten Eindruck, und er nahm sie bei der Hand. Ein hastig zusammengesetzter Trupp von Pikenieren eskortierte sie zum Tempelkomplex zurück. Schweigend betraten sie MacKinnies Quartier, und während Mary sich auf die Suche nach den Tempelärzten machte, halfen Brett und MacKinnie Stark, seinen Panzer und die dicke Wattierung auszuziehen. Die Schulter war angeschwollen und hatte sich verfärbt. »Ich glaube nicht, daß etwas gebrochen ist«, erklärte 362
Stark. Vorsichtig bewegte er seinen Arm. »Aber angenehm fühlt es sich auch nicht gerade an. Könnten Sie mir vielleicht ein Glas Wein eingießen, Colonel?« »Natürlich.« MacKinnie holte die Flasche und Gläser. »Ich glaube, wir können jetzt alle einen Schluck gebrauchen. Wer war der Mann, Brett?« »Ein fanatischer Mari. Er sollte Sie töten. Die Juramentados sind im allgemeinen hochgestellte Mitglieder des Clans, und sie kehren nie lebend zurück. Sie sollten sich eigentlich geehrt fühlen. Man hält Ihren Tod für sehr wichtig.« »Sie haben gar nicht so unrecht«, meinte Stark. »Ohne den Colonel …« Brett nickte. »Wäre der Tempel in einem Jahr in ihrer Hand. Vielleicht sogar noch früher.« »Verflucht, jetzt seid ihr beide hinter mir her«, schimpfte MacKinnie. »Und was soll ich nun tun?« »Sie können überhaupt nichts tun, Colonel«, antwortete Stark. »Sie haben eine Aufgabe übernommen, und Sie müßten nicht der sein, der Sie sind, wenn Sie ihre Pflicht ohne weiteres vergessen würden. Trotzdem ist es ein Jammer. Es sind prima Burschen.« Darauf herrschte lange Zeit Schweigen, bis Hal schließlich vorschlug: »Vielleicht könnten Brett und ich die Stadt gemeinsam halten.« »Aber –« »Sie brauchen mich doch eigentlich nicht mehr«, fuhr Stark fort. »MacLean und Loholo werden allein mit dem Schiff fertig. Und es wartet ja doch nichts auf mich, wenn wir zurückkehren.« 363
Nathan fand noch immer keine Worte. »Es gefällt mir ja genausowenig wie Ihnen, Colonel. Aber – wir haben aus diesen Bauern richtige Soldaten gemacht. Glauben Sie nicht, daß wir ihnen etwas schuldig sind?« »Es könnte unsere Rettung sein«, mischte sich Brett ein. »Ich kenne die Maris. Wie Sie vermutet haben, bin ich in einem ihrer Clans groß geworden, auch wenn ich kein geborener Mari bin, und ich kenne sie genau. Wenn sie erfahren, daß Sie die Stadt verlassen haben, werden sie zurückkommen, und wer soll dann gegen sie kämpfen? Ich kann es nicht, und Vanjynk auch nicht. Aber wir können die Reiter führen, und wenn Hal hier das Kommando führt – an Ihrer Stelle, natürlich. Wir müssen sagen, daß wir bis zu Ihrer Rückkehr Ihre Stellvertreter sind, und daß Hal in Ihrem Namen handelt.« Stark grinste gequält. »Wie in alten Zeiten. Genau das, was ich immer getan habe. Und genaugenommen das, was ich immer tun wollte. Wir hätten eine gute Chance.« »Vielleicht hättest du Zeit, eine gute Armee aufzubauen«, erwiderte Nathan. »Gut genug, um die Maris aufzuhalten. Aber wie ist es mit der Politik? Sergeant …« »Colonel, befehlen Sie mir nicht, mit Ihnen zu kommen.« Ich glaube, das ist das erstemal, daß er mich unterbricht, dachte Nathan. Er sah Stark an und wandte sich dann ab. Es hatte immer die Möglichkeit bestanden, daß Stark in einem Kampf getötet würde, den er, MacKinnie, überlebte, doch nach 364
Lechfeld war diese Überlegung in weite Ferne gerückt. Nach Lechfeld war Hal alles, was ihm noch von seinem früheren Leben geblieben war. Er hatte nie überlegt, wie es sein würde, allein zu sein. Und jetzt werde ich es wohl bald feststellen können. Mary kam mit zwei gelb gekleideten Priestern herein. Sie sahen sich Hals Schulter an, tauschten dann Blicke aus und beugten sich vor, um sie vorsichtig abzutasten. »Ich glaube nicht, daß sie gebrochen ist«, stellte einer von ihnen seine Diagnose. »Die Verletzung wird heilen. Aber es kann sein, daß die Schulter ausgerenkt ist. Wir müssen sie einrenken und dann bandagieren. Es wird sehr schmerzhaft sein. Wenn Sie mit uns kommen wollen …« »Ich werde auch mitkommen«, erklärte Brett. »Sicher ist sicher.« MacKinnie erhob sich ebenfalls, doch Stark schüttelte den Kopf. »Sie können ruhig hierbleiben, Colonel. Wir sehen uns dann morgen früh.« Und es ist dir lieber, wenn ich nicht zusehe, dachte MacKinnie. Ich habe die Tempelpriester bei der Arbeit gesehen, sie sind äußerst tüchtig – und Hal möchte mich nicht in seiner Nähe wissen, wenn sie anfangen, an seiner Schulter herumzuzerren. Es fällt leichter, Mord und Brand zu schreien, wenn seine Freunde nicht dabei sind. »Schön.« Schweigend sah er zu, wie die Priester mit Hal und Brett hinausgingen. Nathan folgte ihnen und schloß die Tür. Als er sich umdrehte, saß Mary immer noch da, so hübsch wie vorher, 365
und sie machte keine Anstalten, zu gehen – »Freelady, es gehört sich nicht …« »Sei nicht albern. Du zitterst ja …« »Ja, zum Teufel. Ich …« »Ich auch.« Sie hob ihre Hände. MacKinnie lachte verzerrt. »Bei mir ist es etwas anderes. So sehe ich immer aus, wenn es vorbei ist.« »Und du überlegst, ob ich jetzt weniger von dir halte? Nur weil deine Hände zittern?« Sie fröstelte. Warum ist sie hier, überlegte MacKinnie. Hier, nur zwei Schritte von mir entfernt, und alles, was ich zu tun habe, ist… Aber sie ist dein Mündel, und du bist fünfzig, und sie ist halb so alt. Und verdammt hübsch dazu. Was soll ich jetzt tun? »Möchten Sie – möchtest du etwas zu trinken?« »Wenn du etwas da hast …« Er goß zwei Becher Wein ein. Sie tranken schweigend. Plötzlich lachte Mary auf. »Was gibt's?« wollte Nathan wissen. »Ich lache über uns beide. Du wärst heute abend um ein Haar getötet worden. Oder sogar wir beide. Und jetzt stehen wir hier, anstatt – Nathan, es ist wirklich zu kindisch!« »Aber –« »Nichts aber! Beschützer. Nie mit einem Mann allein sein. Nathan, das hier ist eine andere Welt. Eine Welt, die unvorstellbar weit von Prinz Samuals Welt entfernt ist – und du siehst mich schon lange nicht mehr wie ein Vater 366
seine Tochter an …« Sie rückte näher an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Wir sind hier, Nathan. Hier und heute, und wir leben. Morgen vielleicht nicht mehr.« In der grauen Morgendämmerung konnte MacKinnie gerade seine Umgebung erkennen, als er erwachte. Einen Augenblick lag er still da und versuchte, sich an den Traum zu erinnern. Er war allein im Bett – Aber nicht im Zimmer. Mary saß in einem großen Sessel, die Knie bis zum Kinn heraufgezogen. Sie hatte sich in einen großen Pelz gehüllt. »Du bist wach«, stellte sie fest. »Du auch – warum sitzt du da?« »Ich konnte nicht schlafen, und ich wollte dich nicht stören.« »Bist du – bist du in Ordnung?« Sie lachte hell auf. »Natürlich, du Dummerchen. Natürlich bin ich in Ordnung. Warum fragst du? Glaubst du, ich brüte gerade über meine verlorene Unschuld? Wenn du es unbedingt wissen willst, ich habe daran gedacht, wieviel Zeit wir vergeudet haben.« »Das habe ich mir auch schon überlegt.« Lächelnd stand sie auf. Unter dem Pelz, den sie jetzt fallen ließ, war sie nackt. »Dann wollen wir nicht noch mehr Zeit vergeuden. Auf der Subao werden wir kaum Zeit für uns haben.«
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Es war heller Tag, als er wieder wach wurde. MacKinnie drehte sich vorsichtig zur Seite und küßte sie sanft. Sie lächelte und öffnete träge die Augen. »Guten Morgen«, begrüßte Nathan sie. »Du hast recht. Es ist ein guter Morgen.« Träge streckte sie sich. »Er wäre noch besser, wenn wir jetzt Kaffee hätten. Oder Chickeest. Oder von mir aus auch diesen gräßlichen Tee, den man hier trinkt.« »Ich werde welchen bringen lassen, ja?« Sie wich in gespieltem Entsetzen von ihm. »Und deine Wachen schockieren?« »Ich glaube, das wären sie wirklich. Oder sie würden zumindest so tun.« »Du bist schon wieder so ernst.« »Irgend jemand muß doch ernst sein.« »Du hast wohl recht. Und wir haben beide noch eine ganze Menge Arbeit vor uns. Ich glaube, wir stehen jetzt besser auf.« »Zum Teufel mit der Arbeit …« »Das meinst du doch nicht im Ernst?« »Wer weiß. Aber je härter ich arbeite, desto schneller können wir zurückkehren. Vorausgesetzt, Kleinst findet etwas, das für uns nützlich ist, und da bin ich mir noch nicht so sicher. Mary – wir könnten wirklich hierbleiben.« »Du willst doch nicht wieder damit anfangen? Ich weiß nicht, warum wir hier sind. Es hat irgend etwas mit der Bibliothek zu tun, das kann ich raten. Und Lord Dougal hat gesagt, daß es die wichtigste Mission in der Geschichte von 368
Haven und wichtig für den ganzen Planeten ist.« »Er hat recht. Und es ist an der Zeit, daß ich dir erzähle, warum wir hier sind. Ihr alle sollt es wissen, damit ihr nicht aus Versehen den Marineleuten etwas Falsches sagt.« Er begann, ihr ihre Mission auseinanderzusetzen. »Aber inzwischen glaube ich, daß das ganze Unternehmen sinnlos ist«, beendete er seine Erklärung. »Wieso?« »Wieso? Du hast doch selbst ihre Schiffe gesehen. Wie sollen wir so etwas bauen können?« »Was sagt Kleinst, jetzt, da er die Bibliothek gesehen hat?« »Hm. Weißt du, er ist so hingerissen von diesen neuen physikalischen Gesetzen, daß er nicht mehr daran denkt, wie wir ein Schiff bauen könnten. Außerdem weiß er nicht, ob wir die Kopien der Bänder auf Samual überhaupt lesen können, selbst wenn es uns gelingen sollte, sie zurückzuschmuggeln. Er kann es lernen, meint er. Aber wie lange braucht er dazu? Ich glaube, wir haben die ganze Zeit einem Traum nachgejagt, Mary. Ein edler Traum, aber mehr ist er auch nicht.« Sie starrte auf die Muster, die das Sonnenlicht auf die Wände zeichnete. Als sie antwortete, klang ihre Stimme ernst. »Traum oder nicht, wir müssen es versuchen. Nicht nur für uns. Für alle. Das Imperium ist im Unrecht, Nathan. Sieh dir ihre Politik an, sieh dir an, was sie aus dieser Welt machen. Mit dem wenigen, das wir wissen, könnten wir ihnen so viel Elend ersparen.« »Oder sie vernichten«, wandte MacKinnie ein. 369
»Das klingt aus deinem Mund seltsam.« »Denk jetzt nicht, daß ich die Imperialen mag. Ich weiß nur einfach nicht, wie ich ihnen ihre Arbeit abnehmen soll.« »Das brauchst du nicht. Alles, was du zu tun hast, ist, deine Arbeit zu erledigen.« »Aber –« »Irgend etwas stimmt nicht, habe ich recht?« Er nickte. »Hal wird nicht mit uns zurückkommen.« »Weißt du das genau?« »Ja. Er wird bei Brett bleiben. Er glaubt, daß er diesen Bauern, die er ausgebildet hat, etwas schuldet. Ich glaube das übrigens auch.« »Ihr beide wart eine lange Zeit zusammen, nicht wahr?« »Seit meiner Unteroffizierszeit. Mary, ich kann ihn doch nicht hier allein lassen. Und wofür? Ich habe nichts mehr mit der ganzen Sache zu tun. Jetzt hängt alles von Kleinst ab, und auch er hat keine Ahnung, wie man ein Raumschiff baut.« »Der Eiserne MacKinnie gibt auf«, sagte sie. »Der furchtbare Kämpfer – nein, ich mache mich nicht über dich lustig. Ich glaube, ich werde nie die Art Freundschaft verstehen, die Hal und dich verbindet. Aber die Mission ist erst mit unserer Rückkehr beendet, und, sei ehrlich, Nathan, welche Chancen hätten wir ohne dich?« »Sie stünden sicher besser, wenn ich mitkäme.« Es klang, als formte sein Mund die Worte gegen seinen Willen. »Wozu sind wir überhaupt noch hier?« 370
»Nathan, wir haben doch noch die Bibliothek. Als wir aufgebrochen sind, haben wir uns nicht träumen lassen, daß wir so weit kommen würden. Und jetzt tun wir, was wir können.« »Warum ist das wichtig für dich?« wollte MacKinnie wissen. »Sie haben mir vertraut, Nathan«, antwortete sie. »Für dich ist das nichts Neues. Aber für mich – Nathan, ich kann sie nicht enttäuschen.« Sie rückte dichter an ihn. »Ich hoffe …« »Was?« »Ich bin egoistisch genug, zu hoffen, daß du mich nicht vor die Wahl stellst.« In ihren Augenwinkeln schimmerten Tränen, und Nathan wußte, daß sie nicht schauspielerte. Pflicht, Ehre und Liebe. Was er auch tat, irgend etwas würde er opfern müssen. Aber als er sie ansah, wurde ihm bewußt, daß er im Grunde keine Wahl hatte.
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Teil Drei Prinz Samuals Hoffnung
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23 Arindells Schloß Angus Volker, vierzehnter Dekan der Prinz-SamualUniversität, sah seufzend auf die Einladung. Es war eine einfache Karte, die von jemandem mit einer sehr schönen Handschrift geschrieben worden war, und die Botschaft schien völlig harmlos. »David IL, von Gottes Gnaden König von Haven und Grand Duke von Orleans, Mayor von Halmarch, Prinzmagnat von Startford, bittet um die Ehre, Sie bei einer Audienz begrüßen zu dürfen, die am kommenden Mittwoch um 1664 Uhr in der Residenz von Lord Arindell stattfindet.« Natürlich war die Karte formell gesehen völlig korrekt. Es war kein Befehle. Aber es hätte genausogut einer sein können. Akademiker Volker blickte sich in seinem großzügig ausgestatteten Turmbüro um und seufzte wieder. Als ihn die Fakultät zum Dekan gewählt hatte, war er sicher gewesen, auch noch bei den Universitätsfeiern zum zweihundertfünfzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit den Vorsitz zu führen. Und jetzt sah es ganz so aus, als ob diese Feierlichkeiten nicht stattfinden würden. Schon die Titel, die König David auf seiner Einladung angegeben hatte, waren bedeutsam: Orleans, Startford und Halmarch waren herausragende Vertreter der Allianz der Freistaaten, die in einem Vertrag die Unabhängigkeit der Prinz-Samual-Universität garantiert hatten. 373
Und jetzt waren sie in das Königreich von Haven integriert worden, sie wie auch einige andere, die stillschweigend eingenommen worden waren und in Davids Titeln nicht mehr existierten. Ich könnte ablehnen, dachte er. Ich könnte eine höflich formulierte Absage schicken … Doch die nächste Einladung würde dann mit Sicherheit nicht mehr so höflich sein. Vielleicht würden sie sogar havensche Wachen überbringen. Die Universitätsprotektoren konnten bewaffnete Soldaten kaum davon abhalten, den Campus zu betreten. Ein Teil der Studenten würde sich sicher gegen solche Maßnahmen wehren, aber das Ende war unvermeidlich. Die Unabhängigkeit der Universität hatte nie auf etwas so Schwachem wie der Stärke der Selbstverteidigung beruht. Und nun war die Allianz, die seine wirkliche Verteidigung gewesen war, nur noch eine hohle Schale. Nein. Es war besser, die Einladung anzunehmen. Bisher verhielt sich David noch korrekt, und so lange bestand immerhin die Chance, daß die Universität ihre Unabhängigkeit vielleicht doch noch behalten konnte. Wenn erst die Samthandschuhe abgelegt wurden, war es endgültig zu spät. Volker ließ sich die ganze Sache immer wieder durch den Kopf gehen, als ihn sein Chauffeur zu Lord Arindells Palast fuhr. Arindell. War auch die Wahl gerade dieses Treffpunkts bedeutsam? Arindell war einer der bekanntesten 374
Prominenten, und es war nichts Ungewöhnliches an der Tatsache, daß der König ein Treffen im Palast eines anderen arrangierte – aber Arindell war auch Justizminister. Es waren einige Geschichten über ihn und die Königliche Polizei von Haven im Umlauf; zum Beispiel, wie unliebsame Gegner König Davids plötzlich spurlos verschwunden waren. Natürlich kursierten solche Geschichten immer, aber in letzter Zeit häuften sie sich doch. War der Grund nur die Tatsache, daß niemand die Rolle der Imperialen verstand, oder steckte mehr dahinter? Volker wußte es nicht. Sicher würde niemand es wagen, den Dekan der PrinzSamual-Universität in aller Öffentlichkeit zu verhaften! Die Universität war die wichtigste Institution auf Prinz Samuals Welt, älter als die meisten Nationen und von keiner abhängig und hielt sich von politischen Dingen distanziert. Sicher brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Das ist völlig unnötig, sagte er sich immer wieder. Dann faltete er seine Hände, legte sie in den Schoß und zwang sich dazu, sie dort zu lassen, während der Wagen über die holprigen Straßen fuhr. Lord Arindells Palast war früher einmal eine Festung gewesen. Der Burggraben war inzwischen angefüllt worden, und die Kanonen auf den Terrassen, deren Mündungen mit Blumen bepflanzt waren, dienten ausschließlich dekorativen Zwecken. Trotz der festlichen Dekorationen lag etwas Drohendes über dem Ort, und Volker zögerte, sein Dampfauto zu verlassen. Am liebsten hätte er den Chauffeur jetzt angewiesen, ihn zurück zum Campus zu bringen, wo er sich sicher fühlen konnte. Doch 375
wenn er das wirklich tat, wie lange würde der Campus dann wohl noch ein Zufluchtsort für ihn bleiben? »Immer schön eins nach dem anderen«, murmelte er, bevor er sich entschlossen an den Chauffeur wandte. »Fahren Sie zurück zur Universität. Mrs. Volker hat noch einige Aufträge für Sie. Und schicken Sie mir bitte einen anderen Fahrer. Er soll hier auf mich warten.« »Es macht mir nichts aus, wenn ich warten muß, Herr Dekan. Ich könnte ein Telegramm schicken und Andrew auftragen, Mrs. Volker zu helfen.« »Nein. Tun Sie bitte, was ich Ihnen gesagt habe.« Er zögerte. »Ich bin nicht unzufrieden mit Ihnen, Felix. Ich habe meine Gründe für mein Verhalten.« Der Chauffeur blickte an den massiven Steinmauern hinauf. »Das kann ich mir vorstellen. Wenn ich in dieses Gebäude müßte, würde mir wahrscheinlich auch wohler sein, wenn jemand wüßte, zu welcher Zeit ich es betreten hätte. Jemand von draußen.« Volker lächelte gequält. »Ich hätte nicht gedacht, daß man mir das ansieht. Aber seien Sie beruhigt: Ich glaube nicht, daß etwas passieren wird.« »Auf dem Campus wären Sie sicherer«, erwiderte Felix. »Ich habe einen Cousin, der Protektor ist …« »Das ist nicht nötig. Aber trotzdem danke für das Angebot.« Er wartete, bis das Dampfauto außer Sichtweite war, bevor er den mit Rosenbüschen flankierten Weg einschlug, der zum Palast führte. 376
Hundert der berühmtesten Persönlichkeiten von Haven hatten sich in dem alten Ballsaal des Palastes eingefunden. Angus wurde von einem Butler angekündigt und dann von Lord Arindell persönlich begrüßt. Es schien sich um ein rein gesellschaftliches Ereignis zu handeln, doch Volker blieb weiterhin auf der Hut. »Der König ist oben«, gab Arindell ihm zu verstehen. »Er wird sich aber gleich der Gesellschaft anschließen. Ich hoffe, Sie werden sich gut unterhalten.« Er verbeugte sich und überließ Angus sich selbst. Eigenartig, dachte der Dekan. Es scheint sich um eine ganz normale und vergnügliche Gesellschaft zu handeln. Aber warum hat man mich dann eingeladen? Nun, wahrscheinlich würde er das noch früher, als ihm lieb war, herausfinden … Die Unterhaltung der Gäste beschränkte sich im großen und ganzen auf zwei Themen: Den Einigungskrieg, der bisher erfolgreich gewesen war, und die Wirtschaft, die zwar im Augenblick blühte, die aber von der daraus resultierenden Inflation betroffen werden konnte und zudem noch durch die Tatsache instabil war, daß niemand wußte, was die Imperialen vorhatten. Der imperiale Handel würde die einen reich und die anderen arm machen, doch niemand wußte, wer zu welcher der beiden Gruppen gehören würde. Eine ernsthafte Diskussion gab es allerdings nicht, und auch diese beiden herausragenden Themen wurden nur oberflächlich behandelt. Eine Reihe der Anwesenden hatten Söhne auf der Universität, und folglich kannte Volker die meisten Gäste. Die Universität mochte zwar unabhängig sein, aber es war trotzdem 377
ratsam, sich vor den Studenten, die aus den bekannten Familien von Haven kamen, in acht zu nehmen. Also machte er sich an die Aufgabe, charmant zu sein, Anekdoten von Studentenstreichen zu erzählen und so zu tun, als würde er die Einladung genießen. Da die Aufgabe eines Dekans unter anderem darin bestand, sich um Spenden zu bemühen, fiel ihm die jetzige Rolle nicht schwer. Er war seit einer halben Stunde im Palast und hatte inzwischen zweimal sein Bowleglas gefüllt, als ein Mann in Butlerlivree auf ihn zu kam, der aber sonst keineswegs nach einem Butler aussah. Er hielt sich zu gerade, und für einen Soldaten im Ruhestand war er noch zu jung …« »Wenn Sie bitte mit mir kommen würden«, forderte der Bedienstete den Dekan auf. »Sie haben eine Verabredung…« »Natürlich«, nickte Volker. Er folgte dem Butler durch eine Seitentür hinaus und ließ sich von ihm über eine Treppe in den dritten Stock führen. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür, vor der drei weitere Bedienstete in Livree standen, die alle noch jung waren und sehr militärisch aussahen. Als Volker herankam, öffneten sie ihm die Tür. »Hier herein bitte, Sir«, wies ihn sein Begleiter an. Es war ein großer Raum, dessen Wände mit Büchern bedeckt waren. Vor dem Kamin entdeckte Volker König David, Sir Giles Og und einen Mann, den er nicht kannte. Vor dem König, der sitzenblieb, verbeugte sich der Dekan. David war zwar nicht sein König, aber es konnte nichts schaden, die Höflichkeitsformen zu wahren. Rechtmäßig 378
waren sie Gleichgestellte, denn beide waren sie Souveräne, und es entging Angus nicht, daß der König dies ebenso wissen mußte wie er selbst. »Eure Majestät.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie gekommen sind«, nickte David. »Sie kennen den Premierminister. Und hier möchte ich Ihnen Bürger Dougal vorstellen, ein Minister ohne Geschäftsbereich.« Sie erhoben sich und verbeugten sich vor Volker. Zumindest sie verhielten sich protokollgemäß, und diese Tatsache beruhigte Angus wieder etwas. »Möchten Sie nicht Platz nehmen?« fragte der König. »Kann ich Ihnen einen Grua anbieten?« »Ja, gern –« Volker hatte erwartet, daß der König nach einem Diener läuten würde, doch statt dessen bediente ihn Dougal. »Danke.« »Dieses Treffen ist streng vertraulich«, erklärte ihm David. »Ich möchte, daß Sie mir Ihr Wort darauf geben.« »Selbstverständlich. Allerdings muß ich natürlich die Mitglieder des Aufsichtskomitees über alle Fragen, die für die Universität von Bedeutung sind, in Kenntnis setzen …« »Genau deshalb sind Sie hier«, warf Dougal ein. »Reden wir einmal offen, Professor. Sie wollen Ihrer Universität ihre Unabhängigkeit erhalten. Nun, das ließe sich machen, allerdings unter gewissen Bedingungen.« »Aber das Aufsichtskomitee –« »Nichts von dem, was wir hier besprechen, soll an das Komitee weitergegeben werden«, unterbrach ihn Dougal. Er machte den Eindruck eines Mannes, der es gewohnt war, daß man ihm gehorchte. »Wenn es zu einem formalen 379
Treffen mit dem Komitee kommt, wird unsere Unterhaltung ganz anders aussehen. Und ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen kaum gefallen würde. Besser, wir regeln die Dinge hier an Ort und Stelle.« »Offenheit ist ja gut und schön«, meldete sich Sir Giles zu Wort. »Aber wir könnten wenigstens höflich bleiben. Doch wir kommen vom Thema ab, meine Herren. Wir sprachen von Ihrem Wort darauf, daß Sie dieses Treffen geheimhalten.« Die Entscheidung konnte ihm nicht schwerfallen, genausowenig, wie ihm die Einladung eine Wahl gelassen hatte. Er glaubte, Dougals nächsten Schritt schon im voraus zu wissen. Dessen Anrede »Professor« bewies es ihm nur allzu deutlich. Der Titel »Professor« wurde von der Fakultät benutzt, wenn sie ihren Dekan anredeten, aber alle anderen gebrauchten im allgemeinen Ehrentitel. Angus seufzte und fügte sich in das Unvermeidliche. »Sie haben mein Wort. Dieses Treffen bleibt vertraulich.« »Ausgezeichnet«, meinte Sir Giles. »Also. Fassen wir die Situation zusammen. Die Prinz-Samual-Universität ist eine unabhängige Universität seit der Zeit vor den Jahren der Plage. Sie haben Ihre eigenen Gesetze und Gerichte, Sie machen Ihre eigene Politik, und Sie teilen Ihr Wissen gleichermaßen mit allen. Das hat sich gut bewährt, und wir wollen an diesem Zustand nichts ändern, auch wenn Sie sich mitten in Haven befinden. Jeder weiß, daß es eine Zeit gegeben hat, als man Ihre Privilegien der Unantastbarkeit in schlimmstem Maße mißbraucht hat, doch wir haben uns immer daran gehalten. »Aber die Zeiten haben sich geändert. Als man auf Prinz 380
Salmuals Welt noch nicht von einer Einigung sprach, waren übernationale Institutionen wie die Universität und die Bruderschaften nur logisch. Doch wir wollen die Zeit der Einzelstaaten beenden. Havens Verträge, die Ihnen Unabhängigkeit garantierten, bestanden zum größten Teil mit Staaten, die jetzt zu Haven gehören. Und die übrigen werden auch sehr bald Teil unseres Königreiches sein. Es ist also an der Zeit, über die Zukunft der Universität unter den neuen Gegebenheiten zu sprechen.« »Ich verstehe«, erwiderte Volker. »Wir haben etwas Ähnliches erwartet. Was ich aber nicht verstehe, ist, warum Sie damit nicht zum Aufsichtskomitee kommen …« »Weil wir Ihre Hilfe brauchen«, unterbrach ihn David. »Und wir sind alle der Meinung, daß wir Ihnen vertrauen können.« »Und es dürfte in Ihrem eigenen Interesse liegen, mit uns zusammenzuarbeiten«, ergänzte Dougal. »Sie können mit uns verhandeln, und ich glaube, wir werden uns schon einigen. Ihre Alternative sind die Imperialen – und die werden Ihnen kaum etwas von Ihrer Unabhängigkeit lassen.« Die Imperialen. Interessant, dachte Volker. Sicher hatten Sie auch ein Wort bei Havens Herrschaft über Prinz Samuals Welt mitzusprechen. Seltsam, daß sie nie jemandem von ihren Absichten erzählt hatten. Und noch seltsamer, daß ein havenscher Minister so sprach … »Es sind Ihre Verbündeten, nicht meine«, entgegnete Volker. »Sie werden natürlich wahrscheinlich wissen, daß das Aufsichtskomitee den Imperialen erlaubt hat, mit unseren Gelehrten zu sprechen. Sie kommen auch oft in unsere Bibliothek.« 381
»Das wissen wir«, meinte Dougal. »Was Sie nicht wissen, ist der Grund, warum die Imperialen hier sind.« Irgend etwas stimmt doch nicht mit dem Mann, wunderte sich Volker. Er sieht aus, als sollte er jeden Moment hingerichtet werden. Kein erfreulicher Gedanke, wenn ich mir überlege, wo ich mich im Augenblick befinde … »Nein, das weiß ich wirklich nicht. Wir haben immer angenommen, die Absichten der Imperialen seien ein Staatsgeheimnis Havens.« »Ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig, als es ihm zu sagen, Sire«, wandte sich Dougal an den König. »Darauf haben wir uns doch schon vor einiger Zeit geeinigt«, erwiderte dieser. »In dieser Angelegenheit bleibt uns keine Wahl.« »Nein, Sie haben wohl recht. Also gut …« Volker hörte mit wachsendem Staunen zu. Es gab vieles zu überlegen. Sollte er den Teil über die Absichten des Imperiums mit Prinz Samuals Welt glauben? Warum eigentlich nicht? Es hört sich doch eigentlich logisch an, dachte er. Sie haben immer so geheimnisvoll getan, wenn es um ihre Regierung ging, und sie haben sich intensiv mit unserer Wissenschaft beschäftigt, uns aber umgekehrt kaum etwas gegeben … »Ich verstehe«, nickte er, als Dougal fertig war. »Aber was hat das alles mit mir zu tun?« »Viel. Ich kann Ihnen zwar nichts Genaues sagen, aber wir erwarten in Kürze eine Reihe von Informationen über ihre Wissenschaft und Technologie. Jede Menge Bücher, 382
die zum Teil so komplizierte und hochentwickelte Dinge behandeln, daß sie die meisten von uns nicht verstehen werden. Trotzdem, wir müssen sie verstehen. Wenn sie jemand verstehen kann, dann sind es Ihre Leute an der Universität – aber wir müssen dafür sorgen, daß alles geheim bleibt. Wir müssen sogar die Tatsache verbergen, daß wir ein Geheimnis zu bewahren haben.« »Und wie wollen Sie das erreichen?« wollte Volker wissen. »Einige Ihrer Gelehrten und Wissenschaftler sind doch sicher vertrauenswürdig, und Sie sollen uns bei der Wahl helfen. Wir werden allerdings noch weitere benötigen, auch wenn sie kein Geheimnis bewahren können. Sie werden zu einer der Forschungsstationen Seiner Majestät gebracht werden. Zu unseren Marineanlagen oder anderswohin. Sie müssen freiwillig gehen, oder zumindest muß es nach außen hin den Anschein haben. Ihre besten Studenten werden von den anderen abgesondert werden, um diese neue Wissenschaft zu studieren. Und –« »Mein Gott, das bedeutet das Ende der Universität!« entfuhr es Volker. »Sehen Sie eine andere Lösung?« fragte Sir Giles. »Was, glauben Sie, wird aus Ihrer Universität, wenn unsere Welt kolonisiert wird?« Eine gute Frage, dachte Volker. Ob die Imperialen wohl mit sich handeln ließen? Würde es ihnen etwas wert sein, wenn sie von diesem Komplott erführen? Aber das war kaum wahrscheinlich. Was nützt die Unabhängigkeit einer Universität auf einem versklavten Planeten? Unter 383
ständiger Beobachtung imperialer Agenten, die alle Erfindungen unterdrücken würden… Und dann war da das neue Wissen, neue Erkenntnisse, neue Entdeckungen, die Haven dem Imperium stehlen wollte. Das allein war schon ein entscheidender Faktor. Aber zuerst – »Es bliebe die Frage, ob Sie die alten Privilegien der Universität anerkennen werden«, wollte Volker wissen. »Ja, ja, wir garantieren Ihnen Ihre Privilegien, jedenfalls die meisten«, brauste Dougal auf. »Alle«, beharrte Volker. »Wenn wir Erfolg haben«, schränkte König David ein. »Wenn wir Erfolg haben, werde ich Ihre Privilegien bestätigen.« »Und wenn nicht?« »Das wäre schlecht für uns alle«, erwiderte Dougal. »Dann können Sie von mir aus mit den Imperialen verhandeln, auch wenn es Ihnen kaum etwas nützen wird. Aber wir werden Erfolg haben.« »Ich wünschte, ich wäre so überzeugt wie Sie«, ließ ihn Volker wissen. »Ich habe die Landeboote der Imperialen gesehen. Wir werden nie in der Lage sein, so etwas nachzubauen.« Und damit hätte ich einen wunden Punkt berührt, dachte er. Auf jeden Fall in Sir Giles. »Nichts ist sicher«, warf König David ein. »Aber wir müssen es versuchen. Werden Sie uns helfen?« Im Grunde ist es gar nicht so übel, überlegte Volker. Die Universität könnte bei diesem Plan durchaus gut 384
abschneiden. Ob der König es nun verspricht oder nicht, wenn Haven erst die ganze Welt regiert, wird die Universität zwar nicht alle ihre alten Privilegien behalten, aber wir werden eine ausgezeichnete Verhandlungsposition haben. Und wir haben dann all ihr neues Wissen … »Natürlich, Eure Majestät.«
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24 Protektion In Malcolm Dougals Büro hing eine große Karte von Prinz Samuals Welt an der Wand. Sie mußte in regelmäßigen Abständen geändert werden. Viel zu oft, dachte Dougal. Der Einigungskrieg – wenn man die Aufräumaktionen überhaupt als Krieg bezeichnen konnte – verlief unproblematisch und reibungslos. Es wurde nur noch wenig gekämpft. Seit dem Sturz von Orleans war es überhaupt ruhiger geworden, obwohl es im ersten Jahr noch erforderlich gewesen war, die Armee von Haven an der Landesgrenze eines Staates aufmarschieren zu lassen, damit dieser bereit war, politischen Selbstmord zu begehen. Aber inzwischen waren viele der Opfer Havens kampflos bereit, zu verhandeln. Es war eigentlich kaum überraschend. Mehr als ein Jahrhundert lang war Orleans der Felsen gewesen, an dem Havens Expansionstrieb gescheitert war, und als dann dieses Hindernis endlich aus dem Weg geräumt war, war zu erwarten gewesen, daß sich auch eine Reihe von anderen Staaten ergeben würden. Trotz allem war es erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit sich Havens Sonnenbanner mit dem Kreuz über den Planeten ausbreitete. Dougal konnte es den anderen keineswegs verdenken, daß sie so schnell kapitulierten. Einer der Hauptpunkte in 386
den Einigungsverträgen unterstellte die militärische Macht eines jeden absorbierten Staates der Führung Havens. Die Truppen wurden dann meistens aufgelöst, aber in jeder Armee gab es Berufssoldaten, und die wurden rekrutiert. Und nicht zu vergessen die militärische Ausrüstung, die Artillerie und die Kriegsschiffe … Ein sehr effektiver Weg, um eine Machtposition auszubauen. Die Verträge wurden von den Angehörigen des imperialen Oberkommissariats ausgearbeitet. Natürlich wollten sie nur helfen – und es war unmöglich, diese Hilfe zurückzuweisen. Malcolms Plan, Zeit zu gewinnen, indem sie die endgültige Einigung von Prinz Samuals Welt hinauszögerten, wollte einfach nicht funktionieren. Havens Streitkräfte waren inzwischen so wirkungsvoll, daß niemand mehr etwas gegen sie ausrichten konnte. Und für den Fall, daß sie doch einmal versagen sollten, stand die Imperiale Marine bereit, jeden Widerstand zu brechen. Lechfeld war allen noch gut in Erinnerung, auch wenn die Imperialen seit damals nur noch selten zu ihren Raumwaffen greifen mußten. Das Exempel, das sie an Lechfeld statuiert hatten, war mehr als eindrucksvoll gewesen. Die Pazifizierung des von Barbaren bewohnten Südkontinents würde wahrscheinlich noch eine Generation in Anspruch nehmen, aber innerhalb von zwei oder drei Jahren würde Prinz Samuals Welt weitgehend unter König David vereinigt sein. Und damit unter dem Imperium. Wieder sah Dougal auf die Mappe und fluchte. Es ging alles viel zu schnell. Natürlich hatte es auch seine positiven Seiten, dachte er. 387
Sie verfügten jetzt über ausreichende finanzielle Mittel. Das geheime Forschungszentrum in den Corliss-GrantBergen und all die anderen, die Schiffswerften und die Gießereien konnten ausreichend unterstützt werden. Und die Universität erhielt ebenfalls Zuschüsse, denn sie war eine Einrichtung von unschätzbarem Wert. Dougal nickte zufrieden. In den Monaten, seit sie Angus Volker für sich gewonnen hatten, hatte er sich an seinen Teil der Abmachungen gehalten. Havens Forschungszentren waren mit guten Leuten besetzt. Sie wagten es zwar noch nicht, große Raketen zu starten, aber man hatte schon verschiedene kleine Modelle abgefeuert. Statische Tests mit größeren Motoren waren zur vollsten Zufriedenheit ausgefallen. Auf den Schiffswerften waren luftdichte Kammern entwickelt worden, und jetzt ging es darum, sie leichter zu machen. Man war schon fast so weit, ein Schiff bauen zu können, in dem Menschen im Raum überleben konnten. Fast. Fast konnte alles zwischen drei und dreißig Jahren bedeuten, je nachdem, mit wem man darüber sprach. Drei konnten unter Umständen genügen, aber Malcolm hatte da so seine Erfahrungen mit den Behauptungen übereifriger Ingenieure und hegte entsprechend gewisse Zweifel, was den Termin von drei Jahren betraf. Mehr als fünf Jahre würden jedenfalls mit Sicherheit zuviel sein. So viel Zeit blieb ihnen nicht mehr. Als die Imperialen damals gelandet waren, hatte es nicht so ausgesehen, als hätten sie es eilig; dann, auf einmal jedoch, setzten sie alles daran, den Planeten so schnell wie möglich zu vereinigen. Gleich388
zeitig hielten sich jetzt weniger imperiale Beamte im Regierungsgebäude auf. Sir Alexei Ackoff war zwar so umgänglich wie immer, doch schien er irgendwie abgelenkt, als hätte Prinz Samuals Welt an Bedeutung verloren – und er hatte es plötzlich sehr eilig. Wir brauchen entweder mehr Zeit oder Hilfe, überlegte Dougal. Und da wir nicht mehr Zeit bekommen können, müssen wir auf Hilfe warten. Hilfe, das heißt MacKinnie. Es war jetzt ein Jahr her, seit sie die Mitteilung erhalten hatten, daß MacKinnie mit seinen Leuten in einem kleinen Schiff von Jikar aus zu einer Überfahrt über die Meere von Makassar ausgelaufen war. Sie waren gegen den ausdrücklichen Rat und viele eindringliche Warnungen seitens der Marine aufgebrochen, das hatte der imperiale Oberkommissar ausdrücklich betont. Es war nicht die Schuld des Imperiums, wenn die Expedition verschollen war … Malcolm glaubte nicht, daß sie tatsächlich verschollen war, aber trotzdem fiel ihm das Warten schwer. Schwer oder nicht, etwas anderes blieb ihm gar nicht übrig. Wochen vergingen. Die große, viereckige Metallbox in Malcolm Dougals Büro quäkte nervenzermürbend. Verärgert stand Dougal auf, um die kleine Skala, die sich auf ihrer Vorderseite befand, zu justieren. Er wußte zwar nicht genau, wie dieser Apparat funktionierte, aber man hatte ihm gezeigt, wie er damit umgehen mußte, und als er jetzt etwas an der Anzeige drehte, formten sich die unverständlichen Geräusche zu klaren Worten. 389
»Ich rufe Bürger Dougal, ich rufe Bürger Dougal. Antworten Sie bitte.« Er beugte sich zu dem Drahtgitter vor dem Gerät hinunter und rief: »Hier spricht Dougal.« Nichts geschah. Fluchend drückte er den Knopf an der Oberseite. »Hier spricht Dougal.« »Die Marine läßt ausrichten, daß die Makassarexpedition auf dem Rückweg ist. Sie wird ungefähr in zwanzig Tagen auf Prinz Samuals Welt landen«, meldete die Stimme. Diesmal dachte Malcolm daran, zuerst den Knopf zu drücken, bevor er sprach. »Danke. Lassen Sie mir weitere Einzelheiten durch einen Boten schicken. Noch etwas?« »Das wäre alles, Sir.« »Danke.« Dougal kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Wahrscheinlich wußte der Funker noch mehr Details, aber Malcolm wollte den Sender für solche wichtigen Meldungen nicht gern benutzen. Vielleicht hörten die Imperialen ja gerade nicht zu, doch wenn sie wollten, konnten sie es sicher. Dougal mußte über sich selbst lachen. Der einzige Weg, wie sie alle von der Rückkehr der Expedition erfahren konnten, war ja über die Imperialen. Sie würden alles wissen, was Malcolm erst durch einen Boten erfahren würde. Es war zwar ratsam, vorsichtig zu sein, aber man konnte alles übertreiben. Im Grunde war es auch nicht sonderlich wichtig. Was wirklich für sie alle von Bedeutung war, das würde er erst erfahren, wenn MacKinnie und seine Leute gelandet und in ein sicheres Versteck gebracht worden waren. 390
Einzelheiten. MacKinnies Mannschaft würde eine Sensation sein. Jeder würde sie sehen und mit ihnen sprechen wollen. Das Parlament, die Zeitungen, die Universität; es gab unzählige Möglichkeiten, daß einem von ihnen ein Ausrutscher unterlief, und schon der kleinste Hinweis konnte die Imperialen aufmerksam machen und ihren Hoffnungen ein Ende setzen. Sie mußten etwas unternehmen. Doch zuerst gab es noch einige andere Dinge zu erledigen. Er nahm ein Sprechrohr von der Wand hinter seinem Schreibtisch und pfiff hinein. »Sir.« »Schicken Sie Captain Gregory zu mir.« »Sir.« Dougal wartete ungeduldig. Es vergingen nur ein paar Minuten, bis an der Tür geklopft wurde, doch Dougal hatte das Gefühl, als wären es Stunden gewesen, und er verfluchte sich selbst wegen seiner Ungeduld. Hans Gregory war ein unbedeutend und harmlos aussehender Mann in den mittleren Jahren, und sein nichtssagendes Äußeres erinnerte an Dougal. Vor dem Schreibtisch blieb er stehen. »Ja, Sir?« »Sie sehen gut aus«, begrüßte ihn Malcolm. »Ich wollte Sie so oder so sprechen, doch es gab einige Gründe, dies etwas zu beschleunigen. Bitte nehmen Sie doch Platz.« »Danke, Sir –« »Ich nehme an, das alles glattläuft und es keine Probleme bei Ihrer Freundschaft mit Bürger Liddell gibt?« »Nein, keine, Sir. Jetzt, da ich dafür gesorgt habe, daß er 391
als Mitglied in meinen Club gewählt worden ist, sehe ich ihn mindestens einmal die Woche. Er zeigte sich sehr geschmeichelt, daß ich mich für ihn eingesetzt habe.« »Ausgezeichnet. Es ist jetzt an der Zeit, daß er uns auch einen Gefallen erweist. Die Dinge haben eine kritische Stufe erreicht, und wir benötigen viel mehr Informationen über die Imperialen. Wie gut kennen Sie Elaine Liddell?« »Kaum, Sir. Sie ist allerdings sehr freundlich. Ich habe sie früher des öfteren gesehen, wenn ich bei Liddell zu Hause war – wissen Sie, wir spielen ziemlich oft Go zusammen. Leider geht sie, wie ich schon berichtet habe, in letzter Zeit öfter aus dem Haus.« »Sie wissen also nicht, ob sie mit uns zusammenarbeiten würde?« »Nein, Sir.« Gregory zuckte die Achseln. »Sie hat viel für diesen jungen Imperialen übrig. Ich wüßte nicht, ob sie sich für ihn oder für ihr Vaterland entscheiden würde, wenn sie vor der Wahl stünde.« »Auch wenn sie der König um ihre Hilfe bitten würde?« »Ich kann es nicht sagen, Sir. Die beiden sind ziemlich dick befreundet.« Er warf Dougal einen wissenden Blick zu. »Sie haben ja sicher die Berichte gelesen.« Dougal nickte. »Wenn sie noch nicht in diesen Leutnant Jefferson verliebt ist, dann wird es sicher nicht mehr lange dauern, bis sie es ist. Ich verstehe nicht, wie ihr Vater das erlauben kann.« »Was bleibt ihm denn anders übrig, Sir«, meinte Captain Gregory. »Er kann doch schlecht einen imperialen Offizier herausfordern. Und Freelady Elaine nennt Leutnant 392
Jefferson – natürlich nur inoffiziell – ihren ›Verlobten‹.« »Aber eben nur inoffiziell. Wie denkt Jefferson über ihre Beziehung?« »Das Ganze verhält sich etwas komplizierter, als man annehmen sollte«, erklärte Gregory. »Bisher hat er nichts dagegen gehabt, wenn ihn Elaine vor ihrem Vater so nennt. Aber ohne die Erlaubnis seines Kommandanten darf er sich nicht offiziell mit einer Einheimischen verloben – oder wenigstens behauptet er das.« »Das hört sich so an, als hätte Jefferson die Ideallösung gefunden. Privilegien ohne Obligationen.« Gregory nickte zustimmend. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dem Mädchen diese Situation gefällt.« »Sicher nicht, Sir. Ich weiß jedenfalls, daß ihr Vater nicht gerade begeistert von der Beziehung ist.« »Wissen Sie das genau?« Gregory lächelte. »Ja. Laurence Liddell und ich sind sehr gute Freunde – so gut, daß ich der einzige unter seinen Freunden bin, der über die Situation im Bilde ist.« »Aber warum duldet er es dann?« »Was soll er denn sonst tun, Sir? Als Elaine damit anfing, Jefferson heimlich zu treffen, war Liddell natürlich entsetzt und hat versucht, es ihr zu verbieten, doch dann hat sie ihm damit gedroht, sich eine Stelle bei den Imperialen zu suchen und sich eine Wohnung in ihrem Gebäudekomplex zu nehmen. Wenn sie das getan hätte, hätte er überhaupt keine Kontrolle mehr über sie gehabt…« 393
»Kann sie das immer noch tun?« wollte Dougal wissen. »Ich nehme es doch an.« »Wir könnten eine ganze Menge Informationen bekommen, wenn – nein, das wird nicht funktionieren. Liddell würde sie dazu verleugnen müssen, und dann würden wir sie wahrscheinlich überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Dougal machte ein nachdenkliches Gesicht. »Aber wir brauchen ihre Mitarbeit. Haben Sie irgendeinen Vorschlag, wie wir es anfangen können, sie dazu zu bewegen?« Captain Gregory hatte den Finger an sein Kinn gelegt und schien zu überlegen. »Haben Sie sich schon einmal überlegt, wie sie sich fühlen muß? Sie hat sich gründlich kompromittiert, ohne daß sie dafür ein Versprechen von Jefferson bekommen hat. Wenn sie unter diesen Umständen herausfinden würde, daß er sie betrügt –« »Hmmm. Es ist bekannt, daß sich Jefferson Animiermädchen gegenüber nicht abgeneigt zeigt. Ein guter Vorschlag, Captain. Merken Sie ihn sich. Aber – bevor wir uns direkt an sie wenden, wäre es vielleicht besser, wenn wir – nun, wenn wir mit Beweisen aufwarten könnten –« »Das läßt sich einrichten.« »Ausgezeichnet. Und vielleicht läßt sich auch bei Jefferson ein wunder Punkt finden«, sinnierte Dougal. »Ich glaube kaum, daß seine Vorgesetzten nicht von seinen Abenteuern wissen. Eins mehr oder weniger macht da auch nicht mehr viel aus.« »Ich dachte eigentlich nicht an seinen ziemlich freizügigen Umgang mit Animiermädchen«, wandte Dougal 394
ein. »Sagen Sie mir, Captain, gibt es einen Grund zu der Annahme, daß Freelady Elaine steril ist?« »Nein, Sir –« »Aber wenn sie sich ein Verhütungsmittel besorgt hat, ist sie dabei außerordentlich diskret gewesen. Ob Jefferson ihr vielleicht irgend etwas von den Mitteln der Imperialen gegeben hat? In dem Roman, den wir gefunden haben, ist da hauptsächlich von etwas die Rede, das sie als ›die Pille‹ bezeichnen. Sollte er ihr also eine dieser technischen Neuentwicklungen der Imperialen gegeben haben, hat er damit unter Umständen gegen eine ihrer Regeln verstoßen.« »Sind das nicht zu viele Mutmaßungen?« warf Gregory ein. »Es sind nicht alles Mutmaßungen. Ich habe ein paar Agenten auf die beiden angesetzt. Einer von ihnen ist der Hausmeister in dem Apartmentblock, in dem Jefferson eine Wohnung gemietet hat.« »Auch wenn Sie recht haben, würde er es wahrscheinlich seinen Vorgesetzten melden, wenn wir ihn ansprechen. Soweit ich ihn inzwischen kenne, ist er dem Imperium erstaunlich treu ergeben.« »Ja. Leider. Vermutlich haben Sie recht, es war auch nur so ein Gedanke. Nun, kehren wir zu unserem eigentlichen Thema zurück: Bürger Liddell. Glauben Sie, daß er mit uns zusammenarbeiten wird?« »Ja. Er ist sehr loyal. Ein Befürworter der Einigungskriege und alldem. Und die Sache mit Jefferson hat ihm das Imperium nicht gerade sympathischer gemacht.« Dougal blickte nachdenklich auf die Akte auf seinem 395
Schreibtisch. »Straßenwesen und öffentliche Arbeiten«, überlegte er. »Gute Empfehlungen von seinen Vorgesetzten. Ein ehrlicher Beamter – sagen Sie, glauben Sie, er könnte sich für den Posten eines Kommissars für Straßenwesen eignen?« »Sicher.« »Gut. Den Posten soll er bekommen.« Dougal kritzelte eine Notiz auf den Block, der vor ihm lag. »Sir Giles Ogs politische Manager werden zwar nicht gerade erfreut darüber sein, aber daran läßt sich nichts ändern. Es ist an der Zeit, Liddell zu zeigen, daß er Freunde besitzt, die seine Fähigkeiten zu schätzen wissen – und sorgen Sie dafür, daß er erfährt, daß er seinen Aufstieg Ihnen zu verdanken hat. Was könnte er sonst noch wünschen?« »Die Erhebung in den Ritterstand, wenn er pensioniert wird, aber er hat keinen Grund, darauf zu hoffen –« »Gut. Bieten Sie ihm auch das an. Falls sich seine Tochter bereit erklärt, mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn nicht –« Dougal zuckte die Achseln. »Wenn nicht, nun, dann wird auch ein Adelstitel nicht mehr viel wert sein, aber das können wir ihm natürlich nicht sagen. Captain, Elaine Liddell ist möglicherweise eine unserer besten Informationsquellen über Imperiale Politik, und ich brauche diese Informationen dringend. Ganz besonders jetzt.« »Ja, Sir. Ich werde mein Bestes tun.« »Das weiß ich. Das wäre vorläufig alles.« »Sir.« Gregory erhob sich. »Ich sehe Sie noch, Kommandant.« 396
Gregory blieb auf dem halben Weg zur Tür stehen und drehte sich überrascht um. »Kommandant?« »Richtig. Ich habe Sie gerade befördert. Sehen Sie zu, daß Sie es sich verdienen.« Dann wandte sich Dougal ab, um sich eine weitere Notiz zu machen. Es ist gefährlich, dachte Dougal. Die Expedition ist auf dem Rückweg, und wir brauchen Informationen über die Aktivitäten der Imperialisten. Elaine Liddell könnte sich von unschätzbarem Wert für uns erwiesen, sie ist unsere einzig gute Quelle, aber sie könnte auch den Argwohn der Imperialen wecken. Uns bleibt einfach nichts anderes übrig, dachte er. Es ist das Risiko wert, aber wir müssen sehen, daß wir das Risiko so gering wie möglich halten. Von seinem Schreibtisch nahm er einen Bericht, den er flüchtig durchblätterte. Freelady Elaine und Leutnant Jefferson segelten gern. Sie fuhren öfter in einem kleinen Boot hinaus, allerdings nur am Tag. Irgendwie bemühten sie sich also doch, den Anstand zu wahren … Er blickte wieder auf den Bericht. Bürger Liddell hielt sich zwei Mannheimpferde, und Jefferson ritt mit Elaine mindestens einmal die Woche aus. Mannheimer, dachte er. Sehr temperamentvolle Tiere. Sie brauchten eine starke Hand. Man konnte sich das Genick brechen, wenn man von einem Pferd stürzte. Der imperiale Oberkommissar würde von dem Verlust betroffen sein, aber wer würde bei einem Sturz vom Pferd schon etwas anderes als einen Unfall vermuten? Er nickte. Am besten, er würde gleich Inspektor 397
Solon aufsuchen. Nur für den Fall, daß die Unterredung mit dem Mädchen nicht so lief wie geplant. Und dann gab es noch eine endlose Reihe anderer Dinge, um die er sich kümmern mußte, bevor die Expedition zurückkehrte. Dougal trommelte nervös auf dem polierten Holztisch und mußte lächeln. Die Zeit des Wartens war vorbei. Endlich konnten sie an die Arbeit gehen.
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25 Vorentscheidungen Das kleine Boot tanzte über das Wasser, geriet direkt in einen Fallwind und schaukelte wie wild hin und her. Es kostete Jefferson all seine Konzentration, das Boot geradezuhalten. Breitbeinig stand er im Cockpit, hinter sich das Ruder, und fühlte, wie sich das kleine Schiff unter dem Ansturm der Wellen hob und senkte. »Es scheint dir Spaß zu machen.« Elaine lehnte am Süll des Kabinenvorraums, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. »Muß es doch schon. Sieh nur, wie ich grinse.« Nachdenklich blickte er von dem aufgeblähten Spinnaker auf das Kielwasser. »Wir machen bestimmt zwölf Kilometer! So schnell bin ich noch nie gesegelt …« Sie lachte. »Du fährst in diesen Sternenschiffen und bist von einem kleinen Boot so beeindruckt?« »Das ist etwas anderes«, verteidigte er sich. Warum mußte sie ihn ausgerechnet jetzt an Sternenschiffe erinnern? Und wie sollte er es ihr nur beibringen? Warum eigentlich nicht sofort? Es ihr einfach sagen. »Und vielleicht habe ich nicht mehr oft Gelegenheit dazu.« Ihr Blick bohrte sich ihm förmlich ins Herz. »Wieso?« fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte. »Da draußen im Trans-Coalsack-Sektor ist irgend etwas 399
passiert«, erklärte Jefferson. »Es scheint sich um eine große Sache zu handeln. Sie haben eine fremde Zivilisation entdeckt.« Sie runzelte die Stirn. »Aber du hast mir doch selbst gesagt, daß es außer uns Menschen keine intelligenten Lebewesen gibt …« Das Boot geriet in eine hohe Welle, und er kämpfte einen Augenblick mit der Ruderpinne, bevor er antwortete. »Das Universum ist groß. Wir haben uns eben geirrt. Genaugenommen sind sie schon vor einiger Zeit entdeckt worden, aber die Nachricht hat uns erst jetzt erreicht.« »Und was hat das mit uns zu tun?« fragte sie. »Es soll eine Expedition zu den fremden Planeten geschickt werden. Ich weiß nicht, was sie entdeckt haben, jedenfalls haben sie eine Kampfflotte in das TransCoalsack-Gebiet beordert.« »Krieg?« Sie fröstelte. »Wir kennen die Erzählungen über die letzten Kriege. Und die fanden zwischen Menschen statt.« »Ich weiß es nicht«, antwortete ihr Brett. »Vielleicht. Wofür sonst brauchten sie eine Flotte?« Eine große Flotte, die von Kutuzov geführt werden sollte! Kutuzov, der Schlächter, Kutuzov, der Held … es hing vom Standpunkt des jeweiligen Betrachters ab. »Sie schicken eine ganze Reihe Schiffe dorthin, so daß die übrigen ein größeres Gebiet überwachen müssen. Ich weiß nicht, wohin Tombaugh beordert wird. Vielleicht sogar in den TransCoalsack-Sektor.« »Ist das weit?« 400
»Ja. Sehr weit. Noch hinter Coalsack – das ist eine Ansammlung von interstellarem Staub, die so dicht ist, daß sie sogar die Sterne dahinter verdeckt. Von hier aus ist der Hauptplanet des Sektors nicht zu sehen.« »Ich habe geahnt, daß es so kommen würde. Mein Vater hat mich davor gewarnt, mich in einen Marinemann zu – zu verlieben. Du verläßt mich also.« »He, he, noch bin ich ja da«, versuchte er zu scherzen. »Kannst du denn doch bleiben?« »Ich habe keine Ahnung.« Vielleicht, dachte er. Dann müßte ich meinen Abschied von der Marine nehmen und in die Zivilverwaltung gehen. Will ich das wirklich? Verflucht. Was wäre denn schlimmer: die Tombaugh und seine Kameraden oder Elaine zu verlassen? Seit zwei Jahren war er jetzt auf diesem Planeten, abgesehen von kurzen Flügen mit der Tombaugh, die auf einer Umlaufbahn kreiste. Es war eine angenehme Abwechslung vom Schiffsdienst. Aber wenn er sich dazu entschloß, seinen Abschied zu nehmen, würde er höchstens noch als Passagier in den Weltraum kommen. Er hatte gewußt, daß er eines Tages vor dieser Entscheidung stehen würde, aber er hätte sich nicht träumen lassen, daß dieser Tag schon so bald kommen würde. Er versuchte, sich sein Leben als Regierungsbeamter vorzustellen, der half, eine Industriegesellschaft aufzubauen. Er würde mit Sicherheit zu Ehre und Titel kommen. Vielleicht sogar zu einer Baronie. Fast sicher jedenfalls bei seiner Pensionierung. Noch ein Titel in der Familie. Sein Vater würde stolz auf ihn sein. Und er hätte Elaine. 401
Aber würde das genügen? Er war davon überzeugt gewesen, als er Elaine kennengelernt hatte. Doch jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Das unbezähmbare Verlangen, bei ihr zu sein, war erloschen, und wenn er jetzt nicht mehr wie früher andere Frauen suchte, fühlte er sich auch auf einmal nicht mehr von ihnen abgestoßen. Ganz im Gegenteil. Zum Beispiel dieses Tavernenmädchen, das er neulich kennengelernt hatte, und das so freundlich und zuvorkommend gewesen war – er schob den Gedanken von sich. Jeff glaubte zwar nicht an Telepathie, doch es wäre nicht das erstemal, daß Elaine ihn überraschte. Sie sah heute ausgesprochen hübsch aus. Der Wind hatte ihre Wangen rosig gefärbt, und ihr Haar, das sie mit hellen Bändern zusammengebunden hatte, flatterte im Wind hin und her. Seine Augen begegneten den ihren. Er lächelte, und auch sie lächelte, warm und vertrauensvoll. Vertrauensvoll. Das war sie wirklich. Viel zu sehr vertrauensvoll nach den Vorstellungen dieser Welt. Du bist ihr etwas schuldig, dachte Jefferson. Eigentlich nicht. So etwas passiert doch jeden Tag. Warum sollte ich eine Riesensache daraus machen? Weil sie es tut, sie, und ihr Vater, alle ihre Freunde, und weil du es die ganze Zeit gewußt hast, und – Eine neue Welle schüttelte das kleine Boot durch, und er versuchte, seine Sorgen und Zweifel zu verdrängen, um sich ganz auf das Ruder zu konzentrieren. Und fast gelang es ihm auch.
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Jefferson sah auf den überfüllten Schirm, der ihm die unerledigten Arbeiten aufzeigte, und runzelte die Stirn. Es waren hauptsächlich unbedeutende Dinge, die aber Zeit in Anspruch nahmen, und es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Auch die Erinnerung an die heftige Szene mit Elaine, nachdem sie am vergangenen Abend von Bord gegangen waren, half nicht. Sie hatte seine Zweifel gefühlt, und auch wenn sie ihm nicht vorgeworfen hatte, nichts für sie übrig zu haben, hatte er gewußt, daß sie es im stillen dachte. Und sie hatte ja recht. Oder jedenfalls fast. Oder zum Teil. Er mochte sie wirklich, aber nicht genug, als daß er für sie seine Kameraden und seine Karriere aufgegeben hätte. Darauf lief es nun mal hinaus. Sie würde nie in das gesellschaftliche Leben auf dem Hauptplaneten passen. Er würde sich noch in diesem Jahr endgültig entscheiden müssen. Im Augenblick versuchte Oberkommissar Ackoff, Marineoffiziere für den Staatsdienst zu begeistern, wozu ihn die Marinepolitik ermutigte, doch wenn die Tombaugh Kriegsorder bekam, war es zu spät. Unter solchen Umständen würde Captain Greenaugh niemals einen seiner Offiziere aufgeben. Er gab gerade Daten über die Platinproduktion ein – die auf einer so kupferarmen Welt erstaunlich groß war –, als sich die Tür öffnete und Leutnant Adnan Clements hereinkam. »Hast du eine Minute Zeit?« »Mehr aber auch nicht. Was gibt's?« »Blivit natürlich mal wieder. Der Alte hat einen neuen Job für dich …« 403
Jeff deutete auf den Schirm. »Ich habe auch so schon Arbeit genug.« »Dann hast du jetzt eben noch mehr. Diese Makassarexpedition ist wieder zurück, und jemand von der Marine muß dabeisein, wenn Ladung und Passagiere von Bord gehen. Die Wahl ist auf dich gefallen.« »Mist. Warum ausgerechnet auf mich?« »Weil der Captain keine Lust hat und ich auf den Südkontinent geschickt werde, wo ich irgend so eine Piratenflotte zerschlagen soll. Darum.« »Hey, das hört sich ja toll an –« »Sicher, wenn du es toll findest, Holzschiffe abzuschießen, die nicht zurückschießen können.« Clements Gesicht drückte Widerwillen aus. Jeff nickte verstehend. »Schätze, ich ziehe es doch vor, nach Schmuggelwaren zu suchen.« Er wandte sich dem Tastenfeld zu und gab die zusätzliche Aufgabe ein. Der Schirm schien noch nie so überfüllt gewesen zu sein. »Holst du mir einen Kaffee?« »Klar. Bin in einer Minute wieder da.« Ich werde mal nachsehen, was zu dem Job gehört, überlegte Jeff. Er drehte sich wieder zur Tastatur um. »Mal sehen«, murmelte er. »Codewörter ›Makassar‹ und ›Exportschmuggel‹. Und jetzt den Suchtaster …« »Makassar Exportschmuggel: Keine Gegenstände registriert« erschien auf dem Hauptschirm. »Aha«, brummte Jefferson. »Zeit für einen Kaffee.« Clements kam mit zwei Plastik404
bechern herein, von denen er einen auf Jeffs Schreibtisch stellte. »Mir ist gerade eingefallen, du bist ja schon auf Makassar gewesen. Ein solcher Job ist doch wie geschaffen für dich.« Er sah auf den Schirm. »Sieht ganz so aus, als hättest du es diesmal ziemlich einfach.« »Vielleicht. Aber ich will lieber auf Nummer Sicher gehen.« Er tippte »Weitere Einzelheiten Handels/Verkehrspolitik« ein und wartete. Makassar ist als »Klasse fünf primitiv« klassifiziert Keine nennenswerte Technologie Keine Exportbeschränkungen. Ausreichende Tests lassen auf keine epidemischen Krankheiten schließen. Für Landung oder Abflug vom Planeten ist eine Vollimmunisierung notwendig. »Drei süchtig machende Drogen sind auf Makassar im Gebrauch. Sie sind jedoch wertlos, und es gibt keinen Markt für sie. Für weitere Einzelheiten siehe »Makassar – Allgemeines«. Importbeschränkungen: Strikte Im – Die Wörterkette brach ab, als Jeff auf andere Tasten drückte. »Was habe ich dir gesagt?« meinte Clements. »Ein einfacher Job.« »Trotzdem erfordert er Zeit, die ich nicht habe.« »Du Ärmster. Und wie steht's mit der Liebe?« Jefferson zuckte die Achseln. »Ich habe ihr von den Fremden erzählt. Und dem möglichen Alarm.« »Ich kann mir vorstellen, daß sie nicht gerade erfreut war.« Jeff schnaubte. »Was hättest du denn an ihrer Stelle 405
getan? Du wärst sicher auch nicht vor Freude in die Luft gesprungen.« »Und was willst du jetzt tun?« »Verflucht, Adnan, ich habe keine Ahnung. Mir gefällt es bei der Marine.« »Vor fünfhundert Stunden noch hast du von nichts anderem als von deinem Abschied gesprochen. Du wolltest heiraten und ein Kolonist werden. Wenn ich daran denke –« »Du hast ja recht«, nickte Jeff. »Aber jetzt muß ich mich wirklich entscheiden.« Clements lachte. »Was ist denn da das Problem? Hast du Angst, zuzugeben, daß du im Grunde von Anfang an nichts Ernstes mit ihr im Sinn hattest? Himmel, Jeff, ich wußte die ganze Zeit, daß du die Marine nie im Leben verlassen würdest.« »Vielleicht hast du recht«, gab Jeff zu. »Aber verdammt noch mal, dieses Mädchen ist anders –« »Sicher. Das sind sie alle.« Clements trank seinen Kaffee aus. »Mein Schirm sieht zwar nicht so schlimm aus wie deiner, aber er ist auch noch voll genug. Am besten, ich mache mich wieder an die Arbeit.« »Hm, ja.« Auch Jefferson wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Immer neue Berichte. Gruben- und Raffinierungskapazitäten. Einrichtungen zur Dampferzeugung. Alles wichtige Dinge, das wußte er ja, aber – Wenn ich die Marine verlasse, wird das hier mein Beruf werden, dachte er. Gütiger Himmel, konnte jemand wirklich sein ganzes Leben mit so etwas zubringen? Da war doch eine Marineschlacht viel besser. Oder sogar eine 406
lange, langweilige Patrouille. Fast alles war besser als das hier. Die Tage vergingen, und Jeff war immer noch nicht weiter. Sobald er die eine Aufgabe erledigt hatte, gab man ihm eine neue. Er hatte fünf Einheimische, die für ihn die Daten zusammentrugen, und sie brachten sie schneller herein, als er sie speichern konnte. Zweimal hatte er eine Notiz an das Büro des Oberkommissars geschickt, in der er vorschlug, doch Einheimische für Büroarbeiten wie diese einzustellen und auszubilden. Es konnte dem Planeten kaum schaden, wenn ein paar seiner Bewohner lernten, wie man die Maschinen mit Daten fütterte oder sie ablas. Aber bisher hatte er keine Antwort erhalten. Was immerhin, philosophierte er, noch besser war als ein endgültiges »Nein«. Und Elaine war – irgendwie seltsam. Sie hatten ihren Streit begraben. Er sagte nichts davon, wie bald er zu einer Entscheidung kommen mußte, und sie schnitt das Thema nicht mehr an. Sie ermutigte ihn aber zu seiner Arbeit und zeigte Interesse an dem, was er tat. Vorher hatte sie sich nie darum gekümmert, aber jetzt, auf einmal, ermutigte sie ihn, über seine Arbeit zu sprechen, als ob – »Das Landeboot ist jetzt in der letzten Landestufe, Leutnant.« »Ach ja. Danke, Hawley.« Er ging hinaus auf den Pier, um die Ankunft der Fähre abzuwarten. Nach wenigen Augenblicken hörte er ein immer lauter werdendes 407
Donnern, in das sich ein scharfes Pfeifen mischte. Als er auf das Wasser blickte, konnte er am Horizont einen kleinen Punkt ausmachen, der direkt auf ihn zukam und in einer langen Gleitbahn auf das Wasser zu raste. »Da ist es!« hörte er jemand hinter sich rufen. Jeff verzog das Gesicht. An die tausend Zivilisten hatten sich am Pier eingefunden, die alle ihre Mitbürger sehen wollten, die im Weltraum gewesen waren. Sie durften zwar nicht auf den Pier selbst, drängten sich aber dicht um ihn herum. Viele von ihnen begannen jetzt zu rufen. Das Landeboot setzte auf dem Wasser auf. Jeff nickte beifällig. Eine saubere Landung. Zwei kleine Dampfschlepper tuckerten nun hinaus, um es an den Pier zu ziehen. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis das Boot angelegt hatte. Jeff fragte sich, wessen Idee es wohl gewesen sein mochte, die Schlepper hinauszuschicken. Die Fähren waren zwar schwierig zu lenken, aber doch wieder nicht so schwierig, daß sie auf die Unterstützung der Einheimischen angewiesen waren. Vielleicht wollte man damit ein paar Einheimischen Arbeit geben. Vielleicht hatte auch nur der Hafenmeister Angst gehabt, das Boot könnte außer Kontrolle geraten und auf die Docks stürzen. Ungeduldig wippte er mit dem Fuß auf und ab. Endlich hatte das Boot angelegt, und die Gangway wurde heruntergelassen. Zuerst stiegen drei Marineoffiziere aus. Unterleutnants, sehr jung noch. Wahrscheinlich gerade vom Midshipman befördert. Wie Pfauen kamen sie herausstolziert. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie er diesen Streifen auf seinen Rockärmel genäht hatte. Es war ein gutes Gefühl gewesen. 408
Die drei sahen sich unsicher um, und Jeff ging auf sie zu. Obwohl sie den gleichen Rang wie Jeff besaßen, salutierten zwei der Neuankömmlinge. Jeff grinste. »Sind Sie hierherbeordert worden?« erkundigte er sich. »Ja, Sir – Ja. Sollen Sie uns abholen?« Jeff lachte. »Kaum. Aber wenn Sie solange warten wollen, werde ich zusehen, daß ich Quartiere für Sie finde. Wissen Sie, weshalb man Sie hergeschickt hat?« »Nicht so genau«, antwortete ihr Wortführer. »Wie ist es hier denn so?« »Es braucht seine Zeit, bis man sich an das Leben hier gewöhnt hat, aber so übel ist es gar nicht. Eh, Entschuldigung, aber da ist meine Mannschaft.« Er ließ sie stehen und ging auf die Gangway zu. Die Gruppe, die jetzt ausstieg, mußte die Expedition sein. Jeff wußte zwar nicht, wieso er sich so sicher war, aber sie sahen irgendwie nach Samualiten aus. Angeführt wurden sie von einem großen, breitschultrigen Mann mit strohblondem Haar, das an einigen Stellen bereits stahlgrau war. Eine markante Persönlichkeit, dachte Jefferson. Den Akten nach zu urteilen ist er Händler, aber dieser Mann mußte ganz offensichtlich einmal Soldat gewesen sein. Er musterte die übrigen Teilnehmer der Expedition. Das Mädchen war ganz in Ordnung, aber keine atemberaubende Schönheit. Es gab wesentlich hübschere in Haven. Sie machte allerdings einen sehr selbstbeherrschten und sicheren Eindruck, und das wiederum machte sie attraktiv. Bei den anderen gab es nichts, was ihm besonders aufgefallen wäre. 409
»Händler MacKinnie?« wandte er sich an den Anführer. »Ja. Sir.« Ein Wort, das dieser Mann sicher nicht ernst meinte. Jedenfalls nicht, wenn er mich so anredet, durchzuckte es Jeff unwillkürlich. »Ich bin Leutnant Jefferson, Sir. Ich habe den Auftrag, die Inspektion vorzunehmen.« »Wird es lange dauern?« »Ich glaube kaum«, schüttelte Jefferson den Kopf. »Es sind nur Formalitäten. Gehen wir hinein?« Er ging voraus und führte MacKinnie zum Besprechungsraum. »Setzen Sie sich doch bitte«, forderte er ihn auf, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Dann schaltete er seinen Rekorder ein und legte den Taschencomputer auf den Schreibtisch. »Ich muß Ihre Akte hier irgendwo haben – ach ja, hier. ›Jameson MacKinnie, Händler, Bürger von Haven. Expeditionsleiter.‹ War die Reise erfolgreich?« MacKinnie zuckte die Achseln. »Nicht das, was man im allgemeinen unter erfolgreich versteht. Ich nehme an, daß die Ladung gerade unsere Ausgaben decken wird, aber mit viel Profit können wir kaum rechnen.« Jefferson nickte. »Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß ich dort etwas Interessantes gefunden hätte. Wo sind Sie denn auf Makassar gewesen?« »Nun, wir sind auf der Marinebasis in Jikar gelandet und von dort aus weitergereist«, gab MacKinnie Auskunft. Lieber Himmel, ist der Mann nervös, dachte Jefferson. Gibt es irgendeinen besonderen Grund dafür? Oder hat er einfach etwas gegen imperiale Offiziere? »Aus dem Bericht von der Garnison auf Makassar geht hervor, daß 410
Sie in Batav gewesen sind.« MacKinnie nickte. »Ich bin auch einmal dort gewesen. Haben Sie auch den Tempel gesehen?« »Sicher. Das markanteste Gebäude auf dem ganzen Planeten.« »Das ist es zweifellos. Sind Sie auch im Innern gewesen?« »Man hat uns nicht weiter als bis in den Hof vorgelassen«, antwortete MacKinnie. »Es ist ein heiliger Ort, und Nichtgeweihte haben keinen Zutritt zu den inneren Gebäuden.« Jefferson mußte grinsen. »Stimmt genau.« Es war genauso gewesen, als Jefferson dort gewesen war. Was hätte dieser Bursche vor ihm wohl getan, wenn er gewußt hätte, was sich im Inneren befand? Oder wußte er es vielleicht doch? »Warum ist der Ort denn heilig?« wollte Jefferson wissen. »Ich bin damals nicht lange genug geblieben, um es herauszufinden.« »Wegen der Reliquien, habe ich mir sagen lassen. Das Gebäude ist sehr alt. In Batav haben wir eine Gruppe imperialer Missionare getroffen, die uns irgend etwas von Dingen erzählt haben, die noch vom Ersten Imperium übriggeblieben sind.« Jefferson blickte auf seinen Computer. »Da war sie. Eine Mitteilung des Kommandanten in Jikar. ›Erzbischof Casteliano bedankt sich für die Hilfe seitens der Gruppe und übersendet ein Empfehlungsschreiben.« Ach so. Sie hatten Freunde in der Kirche. Na ja, er würde sehen, daß er 411
das Ganze so schnell wie möglich hinter sich brachte. »Irgendwelche Verletzungen oder Krankheiten?« fragte er. »Und ich brauche Ihr Ladungsverzeichnis …«
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26 Heimkehr Als MacKinnie sah, was sie an der Gangway erwartete, war seine erste Reaktion Entsetzen und Panik. Sie mußten es irgendwie herausgefunden haben … Doch die einzigen bewaffneten Marinesoldaten, die zu sehen waren, waren zwei Wachleute, und die machten einen sehr gelangweilten Eindruck. Im übrigen konnte er nichts Verdächtiges feststellen. Jefferson schien ihn nicht wiederzuerkennen, was im Grunde eigentlich kaum überraschend war, wenn man bedachte, wie kurz sie nur in ein und demselben Raum zusammen gewesen waren. Auch seine Begrüßung fiel höflich aus. Alles schien Routine zu sein. Trotzdem war Nathan nervös, als er dem imperialen Offizier in das Lagerhaus folgte, in dem die Imperialen ihr Zollbüro untergebracht hatten, doch er bemühte sich, während der Befragung einen entspannten Eindruck zu machen. Es sah so aus, als würde alles problemlos vonstatten gehen, und Jeffersons Interesse für den Tempel war natürlich. Wirklich riskant würde es erst bei der Inspektion der Ladung werden. Die sorgfältig kopierten Aufzeichnungen aus der Bibliothek befanden sich in einer handgearbeiteten Statue. Es war nicht gerade ein originelles Versteck, aber Nathan hatte kein besseres finden können. Fast hätte er sie auf Makassar zurückgelassen, 413
wenn Kleinst nicht gesagt hätte, er könnte sich nicht ausschließlich auf sein Gedächtnis verlassen, und da war ihm kaum eine andere Wahl geblieben, als sie doch mitzunehmen. Schließlich mußte MacKinnie zu seiner großen Erleichterung feststellen, daß er sich völlig umsonst Sorgen gemacht hatte. Die Ladung wurde nur oberflächlich inspiziert. Jefferson ließ zwar ein paar Kisten öffnen, aber er schien hauptsächlich neugierig zu sein, was sie mitgebracht hatten. »Kupferstatuen«, nickte Jefferson. »Als ich auf Makassar gewesen bin, habe ich so etwas aber nicht gesehen.« MacKinnie lachte. »Wir auch nicht. Aber Kupfer ist dort so billig, daß wir einfach ein paar Künstler damit beauftragt haben, ihre Werke in diesem Material zu kopieren.« »Ganz schön schlau von ihnen. Müßte eigentlich einen guten Preis bringen.« Er machte sich wieder daran, in die Kisten zu schauen. »Ah. Ich hätte mir auch eine von denen hier mitbringen sollen.« Er hielt ein Seetier mit großen Fangzähnen hoch, das aus einem der ultraharten Makassarhölzer geschnitzt war. »Was verlangen Sie für das hier?« MacKinnie zuckte die Achseln. »Wir werden die Sachen wahrscheinlich auf Auktionen verkaufen, denn wie sollen wir einen Preis für solche seltenen Kunstwerke festsetzen? Behalten Sie es doch, wenn es Ihnen gefällt.« »Ich sollte es Ihnen eigentlich bezahlen –« MacKinnie hob die Schultern. »Dann sagen Sie mir irgendeinen Preis.« »Ich glaube nicht, daß ich es mir zu dem Preis leisten 414
kann, den Sie auf einer Aktion dafür bekommen würden –« »Wahrscheinlich nicht. Trotzdem, behalten Sie es ruhig, wenn Sie möchten.« »Lieber nicht. Aber danke für das Angebot.« Er machte sich ein paar Notizen auf seinem Taschencomputer. »Tja, das wär’s dann. Sie sind fertig.« »Danke.« »Das gilt natürlich nur für die Marineinspektion«, erklärte Jefferson. »Sie werden später noch eine Rechnung des Zollamtes bekommen.« Er blickte auf den kleinen Schirm seines Taschencomputers. »Aber da die Expedition von einem verbündeten Herrscher unterstützt wurde, wird sie nicht sehr hoch ausfallen. Vielleicht wird sogar ganz darauf verzichtet. Haben Sie sich schon um den Weitertransport der Ladung gekümmert?« »Nein, aber ich glaube, dafür wird Seine Majestät sorgen.« »Gut.« »Und was kommt jetzt?« wollte MacKinnie wissen. »Die Einwanderung. Das ist nur eine Formalität. Nur eine Identifizierung. Um sicherzugehen, daß Sie auch dieselben Personen sind, die ausgereist sind. Sind Sie wieder vollzählig hier?« »Nicht ganz. Barstonic, Danvers und Stark kamen auf Makassar ums Leben.« Er war überrascht, wie einfach es ihm über die Zunge ging. Natürlich war Hal nicht tot. Jedenfalls war er noch sehr munter gewesen, als sie Batav verlassen hatten.
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»Das tut mir leid.« Jefferson sah auf seinen Computer. »Stark war Ihr Wachführer?« »Ja. Ihre Leute auf Makassar haben den Bericht aufgenommen…« Leutnant Jefferson seufzte. »Anscheinend haben sie ihn noch nicht hergeschickt.« Er hantierte mit seinem Computer herum und sah wieder auf den Schirm. »Nein, noch nichts da. Sie werden mir also die ganze Geschichte noch einmal erzählen müssen. Es sei denn – einen Augenblick.« Mit einem kleinen Schreiber kritzelte er etwas auf die Front des Gerätes. »Aha. Sie haben es also doch übermittelt. Mit Satellitenphotos.« Er vertiefte sich einen Augenblick in das, was er auf dem Computerschirm sah und wandte sich dann an MacKinnie. »Sie haben wohl einen richtigen kleinen Krieg in Batav ausgefochten.« »Na ja, da waren ein paar Barbaren«, erwiderte Nathan. »Mmmh.« Leutnant Jefferson las weiter. »Keine überlegenen Waffen –« »Natürlich nicht. Wir sind doch bei unserer Landung auf Makassar inspiziert worden.« »Ich weiß.« Was weißt du sonst noch? fragte sich MacKinnie. »Was gibt es denn da noch für ein Problem?« »Ich habe mich nur gerade gefragt, ob taktische Verbesserungen auch in den Rahmen der Gesetze über den technologischen Transfer fallen«, antwortete Jefferson. »Aber das ist nicht meine Sache. Wenn die Garnison auf Makassar keine Beschwerden gegen Sie hat, gibt es für mich keinen Grund, das Thema aufzubringen.« Das 416
Runzeln auf seiner Stirn verschwand, und er lächelte. »Übrigens, was ich ganz vergessen habe: Willkommen zu Hause.« Vor dem Gebäude hatte sich eine große Menge versammelt, und ein Dutzend Reporter warteten auf die Ankömmlinge. Alle schrien zur gleichen Zeit Fragen durcheinander, dann plötzlich breitete sich Schweigen aus. Inspektor Solon bahnte sich einen Weg durch die Menge, und seine schwarze Uniform öffnete ihm wie durch Zauberei einen Weg. »Willkommen zu Hause, Händler. Freelady. Meine Herren.« Obwohl er freundlich lächelte, klang seine Stimme kalt. »Seine Majestät bittet darum, Sie als erster sprechen zu dürfen«, fuhr Solon fort. »Sie haben doch sicher nichts dagegen, meine Herrn«, wandte er sich an die Reporter. »Sie werden noch Gelegenheit dazu bekommen, die Expeditionsteilnehmer zu befragen, aber ich habe den Auftrag, sie zuerst einmal zum Palast zu bringen.« Unter den Reportern erhoben sich murmelnde Stimmen, doch niemand wagte es, offen zu protestieren. Solon führte die Gruppe über die breite Straße zu den wartenden Dampfautos. »Wir fahren direkt zum Palast«, teilte er seinen Schutzbefohlenen mit. Es war, als stünde Stark direkt hinter ihm, und Nathan glaubte, seine Stimme zu hören. »Glauben Sie, daß wir hier lebend wieder herauskommen werden, Colonel? Wenn ich diesen Typ da sehe, läuft es mir kalt den Rücken runter. Und sein Boß ist auch nicht besser.« 417
Drei Wagen warteten auf sie. »Händler, Sie, Freelady Graham, und unsere Wissenschaftler werden mit mir in dem ersten Fahrzeug fahren«, bestimmte er; während er ihnen die Tür aufhielt. Nathan und MacKinnie stiegen in den Wagen ein. Es war ein neues Modell, das Nathan noch nicht kannte, und das Innere war luxuriös ausgestattet. Als sie Platz genommen hatten, reichte Solon jedem von ihnen ein Blatt. Reden Sie nur von oberflächlichen Dingen. Sprechen Sie erst dann über die Expedition, wenn Ihnen mitgeteilt wird, daß Sie sicher sind. MacKinnie las die Botschaft und nickte. Solon wartete, bis alle ihre Zettel gelesen hatten, nahm sie ihnen dann wieder ab und steckte sie in seine Tasche. »Hatten Sie eine angenehme Reise?« erkundigte er sich höflich. »Der Rückflug war recht eintönig«, gab MacKinnie Auskunft. »Ja«, mischte Mary sich ein. »Wir waren die einzigen Passagiere, außer drei jungen Marineoffizieren, die aber die ganze Zeit über vorn in den Mannschaftsräumen geblieben sind. Um uns hat man sich überhaupt nicht gekümmert.« »Nicht wie auf dem Hinflug«, ergänzte Longway. »Das Marineschiff, mit dem wir zurückgekommen sind, hatte wenig Annehmlichkeiten an Bord. Noch nicht einmal Fenster zum Hinausschauen.« Kleinst hatte die ganze Zeit geschwiegen und mischte sich erst jetzt in das Gespräch ein. »Bei unserem Abflug habe ich Prinz Samuals Welt vom Raum aus gesehen«, 418
meinte er sehnsüchtig. »Ein unbeschreiblicher Anblick! Genau wie Makassar, als wir dort gelandet sind. So viele verschiedene Welten. Ich glaube, wir könnten viel über Wetter und Klima lernen, wenn wir andere Welten vom Raum aus beobachten würden. Kein Wunder, daß die Imperialen in der Lage sind, das Wetter so genau vorauszusagen. Sie wissen so vieles –« Solon gestikulierte mit der Hand. »Sicher, sicher. Nun, Sie werden Seiner Majestät wohl viel zu erzählen haben.« MacKinnie blickte durch die Heckscheibe des Wagens zurück, die übrigen Fahrzeuge folgten ihnen. »Die Marine hat unsere Ladung freigegeben«, bemerkte er. »Es müssen entsprechende Transportvorbereitungen getroffen werden –« »Natürlich, sofort. Wenn wir am Palast angekommen sind, werde ich mich persönlich darum kümmern.« Der Palast war von einem Gerüst umgeben. Auch das war neu. Sie wurden ins Innere des Gebäudes geführt und rasch zu ihren Quartieren im hinteren Teil gebracht. »Ich darf sicher annehmen, daß Sie sich ein wenig frisch machen und sich umziehen wollen«, meinte Solon, bevor er ihnen Zettel mit weiteren Instruktionen reichte. MacKinnie nickte zustimmend. Es waren seine Sachen, aber sie fühlten sich viel zu weit an. Wie er schon erwartet hatte, lagen keine Waffen dabei. Er kleidete sich eilig an und folgte der Wache nach oben in einen kleinen Salon. Malcolm Dougal war allein in dem Zimmer. Als MacKinnie eintrat, stand er auf, und sein Begrüßungslächeln schien nicht gespielt. »Da wären Sie also wieder. 419
Nun, war Ihre Mission erfolgreich?« »Sie werden mir meinen Argwohn verzeihen, aber darf ich fragen, wo die anderen sind?« Dougal runzelte die Stirn; er schien tatsächlich verblüfft. »Sie ziehen sich ebenfalls um; was dachten Sie denn? Ach so – Sie machen sich Sorgen, weil ich Sie von Inspektor Solon habe abholen lassen? Wie hätte ich Sie denn sonst der Menge entreißen sollen?« »Man hat uns gesagt, König David würde uns zu einer Unterredung erwarten.« »Das wird er auch, wenn alles vorbereitet ist«, entgegnete Dougal. »Ihre Wachen brauchen Sie hier nicht. Sie sind Gäste unserer Leute.« »Gäste?« »Ja, sie können tun und lassen, was ihnen Spaß macht. Warum sind Sie so argwöhnisch? Erwarten Sie, bestraft zu werden? Ist Ihre Mission denn gescheitert?« »Eigentlich nicht. Ich habe mich nur gefragt, was Sie mit uns vorhaben. Immerhin haben Sie eine ganze Reihe Menschen umbringen lassen, um Ihr Geheimnis zu schützen – und jetzt brauchen Sie ja meine Soldaten und mich nicht mehr.« »Das war doch damals«, wandte Dougal ein. »Inzwischen wissen viele von unseren Plänen. Es blieb uns einfach nichts anderes übrig, als sie einzuweihen. Zwei Ihrer ehemaligen Offiziere arbeiten sogar für uns. Als Angehörige der Sicherheitskräfte in unserer Forschungsstation. Und genau das habe ich eigentlich auch mit Ihnen und Ihren Leuten vorgehabt. Sie enttäuschen mich, 420
Colonel. Ich bin kein blutrünstiger Teufel, sondern nur jemand, der entschlossen ist, nicht zu versagen. Nun, waren Sie erfolgreich?« MacKinnie spreizte die Hände. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Wir haben die Kopien aus der Bibliothek, und Kleinst hat eine Reihe von alten Büchern gelesen. Wir haben alles kopiert – aber Kleinst wußte nicht, ob wir die Kopien hier auf Samual überhaupt lesen können. Und als wir Batav erst verlassen hatten – Batav ist die Stadt, in der sich die Bibliothek befindet –, hatten wir keine Möglichkeit mehr, uns darüber zu unterhalten. Es waren zu viele Einheimische an Bord. Und auf der Marinebasis in Jikar und an Bord des Raumschiffes war es noch schlimmer. Ich habe schon Angst gehabt, Kleinst könnte platzen, weil er mit niemandem sprechen konnte.« »Ich verstehe. Und Sie können mir nicht sagen, ob wir jetzt ein Raumschiff bauen können?« »Ich weiß sehr gut, daß wir nie im Leben so etwas wie ihre Schiffe fertigbringen«, erwiderte MacKinnie. »Dougal, Sie können sich einfach nicht vorstellen, über welche technischen Ausrüstungen sie verfügen. Sogar in der Bibliothek. Da war ein Kasten, der nicht größer als dieses Sideboard da war – und dieses Ding könnte, so hat man uns gesagt, jedes Buch auf Prinz Samuals Welt aufnehmen und hätte immer noch Platz. Die Dinge, die wir von Makassar mitgebracht haben, sind ungefähr so groß.« MacKinnie versuchte, mit Daumen und Zeigefinger die ungefähre Größe der Kopien anzugeben. »Und in jedem befindet sich das Wissen einer ganzen Bibliothek. Wenn wir sie lesen können.« 421
»Sie haben also nichts erfahren?« »Es war auch nicht meine Aufgabe, etwas herauszufinden. Sie haben mich beauftragt, die Gruppe sicher dorthin- und wieder zurückzubringen. Und das habe ich getan. Das heißt, wir haben zwei Wachleute verloren.« »So müssen wir uns also ganz auf Kleinst verlassen.« »Auf Kleinst und Todd. Sie haben eine lange Zeit in der Bibliothek verbracht. Sie wären zwar noch gerne länger geblieben, aber es war mir zu riskant. Uns blieben nur fünf Tage bis zum Auslaufen des Schiffes, und es wird wohl eine ganze Weile kein anderes kommen. In irgendeinem Teil des Imperiums geht etwas Seltsames vor. Sie wollten mir zwar nicht verraten, was, aber es scheint sie doch ernstlich zu beunruhigen.« »So?« Dougal setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Mal sehen, ob wir es herausfinden können. Vielleicht betrifft es uns doch irgendwie.« Er ist ein guter Lügner, dachte MacKinnie. Aber ich sehe, daß er mir etwas verschweigt. Ich frage mich nur, ob es wichtig ist … »Noch etwas zu der Unterredung mit König David«, fuhr Dougal fort. »Es werden eine ganze Reihe von Leuten anwesend sein, die nichts von dem wahren Zweck Ihrer Reise wissen, und wir haben die Vermutung, daß die Imperialen unsere Gespräche im Audienzraum abhören können. Deshalb sollen Sie weiterhin so tun, als hätte es sich bei Ihrer Reise nur um eine ganz gewöhnliche Handelsmission gehandelt.« »Weiß etwa auch der König nichts davon?« wollte 422
MacKinnie wissen. Dougal lachte. »Seine Majestät weiß natürlich alles. Aber einige der Regierungsangehörigen sind nicht informiert, und das wollen wir auch weiterhin so beibehalten. Kommen Sie, bringen wir es hinter uns. Ich möchte unbedingt mit Ihnen allen sprechen, und mir wird erst wohler sein, wenn wir aus Haven heraus sind.« »Wohin bringen Sie uns?« »Wir haben eine große militärische Forschungsstation in den Corliss-Grant-Bergen eingerichtet«, erklärte Dougal. »Wir betreiben dort hauptsächlich Waffenforschung, und darüber sind die Imperialen im Bilde. Aber es ist ein großes Gelände, auf dem auch einiges vorgeht, von dem wir ihnen nichts erzählen.« »Ich verstehe. Sie haben alles bestens organisiert, wie mir scheint.« »Jedenfalls haben wir unser Möglichstes getan. Aber alles Weitere hängt jetzt davon ab, was Sie mitgebracht haben. Und langsam wird uns die Zeit knapp.« Ihre Quartiere in der Corliss-Grant-Forschungsstation waren komfortabel, doch das änderte nichts an der Tatsache, daß sie Gefangene waren. »Ich würde es vorziehen, wenn Sie es anders sähen«, meinte Dougal zu MacKinnie. »Sie haben immerhin Waffen. Sie sind alle im selben Gebäude untergebracht. Alle, sogar Ihre Soldaten. Von Zeit zu Zeit wird sich einer von Ihnen – ich ziehe Akademiker Longway vor, weil er sehr gerne redet – in Haven sehen lassen und sich der 423
Presse stellen. Überlegen Sie doch mal, Colonel. Wenn man Sie zu oft sieht, besteht die Gefahr, daß Sie wiedererkannt werden. Und wenn niemand da ist, dem Sie ihre Geheimnisse erzählen können, werden Sie sie auch nicht aus Versehen preisgeben.« Er warf in gespielter Bestürzung die Hände hoch. »Ich habe so gut wie möglich für Ihre Sicherheit gesorgt. Es ist mir völlig klar, daß Sie mir mit Ihren Männern und bei Ihren Fähigkeiten jederzeit entkommen könnten. Aber ich vertraue auf Ihr Wort, Colonel. Sie haben Haven und Prinz Samuals Welt die Treue geschworen. Oder darf ich Ihnen nicht vertrauen?« Er hatte keine Antwort auf diese Frage gegeben, wie MacKinnie später Mary erzählte. »Wir sind also unsere eigenen Aufseher«, stellte sie fest. »Darauf läuft es hinaus. Mich hat er sogar im Sicherheitsdienst eingestellt, was ich ihm im Grunde nicht verdenken kann. Ich selbst würde es genauso machen. Aber, wie Hal sagen würde: das Agentengeschäft wird ziemlich schnell langweilig.« Er versuchte, zu lachen, doch es klang recht gezwungen. »Tut es dir leid?« fragte sie. »Was? Daß ich Hal verloren habe? Das wird mir immer leid tun.« Sie rückte näher an ihn heran, und er hielt sie fest. Lange Zeit standen sie so unbeweglich da, bis er sie schließlich wieder losließ. »Aber es tut mir nicht leid, daß ich dafür dich gefunden habe. Das erinnert mich übrigens daran, daß ich ja noch mit deinem Vater sprechen muß –« »Nein.« 424
Er runzelte die Stirn. »Was meinst du mit ›Nein‹?« »Du mußt überhaupt nichts«, antwortete sie. »Das wollen wir beide nicht. Haven wird von Formen und Pflichten bestimmt – das brauchen wir beide nicht, wo wir uns haben.« Er schwieg einen Augenblick, bevor er einschränkte: »Na gut, dann sagen wir: Ich möchte mit deinem Vater sprechen. Es ist an der Zeit, daß ich eine anständige Frau aus dir mache –« »Oder einen anständigen Mann aus dir.« Sie lebten luxuriös, aber es gab nichts zu tun. Die Forschungsstation lag isoliert, weit von jeder Stadt entfernt und von der übrigen Welt abgeschlossen, so daß es nicht schwierig war, die »Geheimhaltung« zu bewahren. Da niemand etwas dagegen hatte, nahm Nathan an Technikkonferenzen teil. Die Diskussionen drehten sich zum größten Teil um Kräfte, spezifische Impulse und andere Ausdrücke, die MacKinnie nicht verstand. Was er aber verstand war die Tatsache, daß Kleinst keine Möglichkeit gefunden hatte, wie sie die Würfel lesen konnten, die sie mitgebracht hatten. »Ich könnte verrückt werden«, brummte Kleinst. Eine Reihe älterer Ingenieure, die um den Konferenztisch herumsaßen, nickten verständnisvoll. »Es ist alles hier drin.« Er hob einen der kleinen Plastilinwürfel hoch. »Und wenn ich nichts anderes zu tun hätte, wäre ich vielleicht in zehn Jahren in der Lage, das hier zu lesen. Theoretisch weiß ich es –« 425
»Wir arbeiten an dem Problem«, erklärte Akademiker Tylor, der Kopf einer Gruppe war, die sich mit Fernkommunikatoren und anderen elektrischen Dingen beschäftigte. Sie glaubten, eine Methode entwickelt zu haben, mit der man die Daten von Makassar lesen konnte, aber bisher hatte es noch nicht funktioniert. »Aber ich muß mich auch um die Entwicklung des Schiffes kümmern. Ich fürchte, es ist alles aussichtslos.« »Wir haben Ihr flüssiges Oxygen bekommen«, berichtete Todd. Der junge Mann sah sehr selbstzufrieden aus, und MacKinnie fand, daß er das mit Recht sein konnte. In den Tagen, die er in der Bibliothek von Makassar verbracht hatte, hatte Todd Bücher über frühere Technologien gefunden – die sogar in den Tagen des Ersten Imperiums schon längst veraltet gewesen waren – und sie gründlich studiert. MacKinnie hatte nicht gewußt, daß man Luft verflüssigen konnte, aber Todd hatte es fertiggebracht, indem er Sauerstoff unter hohen Druck gesetzt und ihn dann rasch expandieren und abkühlen lassen hatte. Es schien alles so einfach, wenn man nur wußte, wie… »Mit der Zeit können wir mit Sicherheit auch die Größe reduzieren«, bemerkte Douglas Starr. »Aber Zeit haben wir nicht«, unterbrach ihn MacKinnie. Starr funkelte ihn an. »Meine Techniker arbeiten bis zur Erschöpfung. Es geht nicht schneller, und der Tag hat nun einmal nicht mehr Stunden!« »Ich weiß. Ich wollte Ihnen auch keinen Vorwurf machen«, beschwichtigte MacKinnie ihn. Eigentlich 426
gehöre ich ja noch nicht einmal hierhin. Aber was sollte ich sonst tun? Jeden Tag überprüfte er die politischen Karten. Haven dehnte sich jetzt weit nach Osten bis an die Küste aus. Innerhalb von vier Tagen hatten sich nicht weniger als sieben Stadtstaaten König David ergeben. Nur noch ein großes Königreich an der Ostküste wehrte sich noch, und obwohl es ganz so aussah, als könnte es in einem einzigen, kurzen Feldzug unterworfen werden, hatte MacKinnie um einen Kommandantenposten in der Armee von Haven gebeten. Natürlich hatte Dougal sich strikt geweigert, diese Bitte auch nur in Erwägung zu ziehen. »Zurück zu den Grundprinzipien«, unterbrach ihn Kleinst in seinen Gedanken. »Ein richtiges Raumschiff können wir nicht bauen. Wir bringen noch nicht einmal so etwas wie die imperialen Landeboote zustande.« »Also werden wir Raketen bauen«, stellte Kleinst fest. »Und große Flüssigkeitsraketen sind sehr kompliziert –« »Warum gerade Raketen?« wollte Todd wissen. Kleinst runzelte die Stirn. »Was käme denn sonst noch in Frage?« »Das hängt doch in erster Linie davon ab, was man unter einem Raumschiff versteht«, antwortete der Midshipman. »Oder genauer gesagt, was die Imperialen noch als ›Raumschiff‹ akzeptieren …« »Wenn es uns in den Raum bringen kann, dann ist es ein Raumschiff«, murmelte Kleinst. »Wir haben keine Zeit, endlos über Definitionen zu debattieren. Woran hatten Sie gedacht?« »In der Bibliothek habe ich ein altes Dokument 427
gefunden«, begann Todd. »Ich wage kaum, Ihnen zu sagen, wie alt –« Er sah, wie ihn die anderen gespannt ansahen und lachte selbstbewußt. »Es stammt aus einer Zeit vor dem zweiten Jahrtausend nach christlicher Zeitrechnung. Aus den Anfängen der Raumfahrt auf der Erde.« Schweigen senkte sich über den Raum. Die Erde, dachte MacKinnie. Vor dem Imperium, vor der Co-Dominion, vor dem Raumflug. Jene Zeiten waren heute nur noch Legenden, und doch hatte Todd Kopien von Büchern gesehen, die damals geschrieben worden waren. »In den Anfängen der Raumfahrt hat man Raketen benutzt«, beharrte Kleinst. »Ja, sicher, aber es gab noch ein anderes Konzept«, wandte Todd ein. »Es kam nicht zur Anwendung, obwohl es sich durchaus geeignet hätte. Und was noch wichtiger ist: es ist etwas, das wir nachbauen können …«
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27 Der Zeuge Leutnant Jefferson klopfte nervös an die Tür zum Büro des Oberkommissars Ackoff. Er konnte sich nicht vorstellen, warum ihn der Oberkommissar zu sprechen wünschte. In den vergangenen Monaten hatte er eine ganze Reihe Arbeiten erledigt, alles Routinejobs und alle ziemlich langweilig, und soweit er wußte, hatte er sie zufriedenstellend erfüllt. Ackoff konnte nichts an ihm auszusetzen haben. Auf der anderen Seite hatte er aber auch nichts Herausragendes geleistet. Jeff mochte die Büroarbeit nicht und sehnte sich nach einem Raumauftrag. »Herein.« Ackoffs Büro war das Musterbeispiel eines Büros, wie es sein sollte. Da war einmal der große Schreibtisch aus Holz mit den Ledersesseln; dann der Konferenztisch und die dazugehörenden Stühle sowie in einer Ecke eine Sitzgruppe mit einem Sofa und tiefen Sesseln. Die Computerschirme und die Speicherkonsole waren diskret hinter dem Schreibtisch versteckt. An der Wand hing ein Bild des Imperators, daneben die Flaggen des Imperiums. An einer anderen Wand sah Jefferson Regale mit Kuriositäten und den Modellen der Schiffe, auf denen Ackoff gedient hatte. Darunter ein großes Sideboard, das als Bar diente… Ackoff war nicht allein in seinem Büro. Neben ihm, am 429
Konferenztisch, saß Captain Greenaugh. »Kommen Sie herein, Jefferson«, forderte Ackoff ihn auf. »Setzen Sie sich.« »Danke, Eure Exzellenz –« »Ich habe Sie ja schon eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen«, stellte Sir Alexei fest. »Ich vermisse diese Seminare. Man sollte wirklich wieder damit anfangen. Es ist offensichtlich die einzige Möglichkeit, meine Offiziere zu sehen.« Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Zuviel Arbeit und zuwenig Leute. Ich fürchte, wir haben da noch einen Zusatzauftrag für Sie.« »Sir?« Jeff sah fragend zu Greenaugh hinüber. »Nicht im Raum«, fügte Greenaugh hinzu und mußte lachen, als er Jeffersons Gesichtsausdruck sah. »Sind Sie den Planeten schon leid? Man hat mir gesagt, Sie seien so gut wie verlobt mit einem einheimischen Mädchen –« »Noch nicht, Sir«, antwortete Jefferson nachdrücklich. »Aber Sie sehen sie doch noch.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ja, Sir.« »Sehr oft.« »Ja, Sir.« Sie sahen sich wirklich sehr oft, und Elaine würde ihre Beziehung sicher als »so gut wie verlobt« bezeichnen. Auch ihr Vater hatte gewiß recht zu dieser Annahme. Je weniger Worte also über diese Angelegenheit verloren wurden, desto besser. »Ich will mich gewiß nicht in Ihre Privatangelegenheiten einmischen«, erklärte Greenaugh. »Aber ich verstehe doch 430
richtig, daß Sie nicht die Absicht haben, sich um eine Position im Beamtendienst zu bewerben.« »Nein Sir, das habe ich nicht. Ich bin bereit für den Raum, sobald sich ein entsprechender Auftrag ergibt –« Greenaugh gluckste. »Und Sie würden jetzt sicher gern wissen, wann. Das würden wir alle, Leutnant. Doch das weiß leider noch nicht einmal Sir Alexei. Aber für die Zwischenzeit haben wir hier einen Auftrag für Sie. Was wissen Sie über Havens militärische Forschungsbasis.« »Nun, nicht viel –« »Eine ganze Menge, würde ich sagen«, unterbrach ihn Ackoff. »Denn erst Ihre Wirtschaftsanalyse hat uns neugierig gemacht. Haven unterhält eine große Forschungsstation in den Corliss-Grant-Bergen. Soweit wir wissen, verschluckt sie einen ziemlich großen Teil ihres Budgets, und es sind auch eine ganze Reihe von Technikern dort hingebracht worden. Nur können wir uns nicht vorstellen, wozu das gut sein soll.« »Haben Sie vielleicht eine Idee?« fragte Greenaugh. »Nein, Sir. Offen gesagt, ich sehe keine Notwendigkeit für eine große Militärforschungsstation. Haven hat gerade den Zusammenschluß dieses Kontinents beendet, und das bedeutet im Grunde, daß der ganze Planet jetzt vereinigt ist. Sie hätten es auch schneller schaffen können, wenn sie sich nicht immer zurückgezogen hätten. Ich wüßte nicht, gegen wen sie jetzt noch kämpfen sollten.« »Exakt«, pflichtete ihm Greenaugh bei. »Und gerade das macht uns Sorgen. Zum einen, daß sie die Einigung immer wieder hinausgezögert haben. Soweit wir aus ihrer 431
Geschichte schließen können, ist die Einigung des Planeten Havens Traum, seit die gegenwärtige Dynastie auf den Thron gekommen ist. Wir haben ihnen die Chance gegeben, diesen Traum zu erfüllen, trotzdem haben sie nur sehr zögernd zugegriffen. Und dann, ganz plötzlich, haben sie die Dinge beschleunigt und die Übernahme des Kontinents mit einem großen Schlag beendet. Zum zweiten, daß sie so viel Geld und die Elite ihrer Techniker und Ingenieure in einer Forschungsstation für die Entwicklung von Waffen investieren, die sie nie im Leben brauchen werden. Schnellfeuerkanonen. Kriegsraketen – auch sehr große. Die Tombaugh hat mit ihrem Radar eine von ihnen sechshundert Kilometer weit verfolgen können. Ballons. Und sie versuchen auch gar nicht, es zu verheimlichen. Was geht da draußen sonst noch vor?« Jefferson runzelte die Stirn. »Keine Ahnung, Sir –« »Nein, das haben wir auch nicht erwartet. Aber wir wollen es unbedingt herausfinden. Sie verstehen sich doch gut mit den Einheimischen. Drücken wir es anders aus: Sie pflegen mehr rein gesellschaftliche Kontakte in Haven als jeder andere von uns.« »Ich verstehe, Sir. Aber Elaines Vater ist Kommissar im Straßenwesen. Was sollte er über die Corliss-Grant-Station wissen?« »Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß er etwas weiß, aber darauf wollte ich auch nicht hinaus«, erwiderte Greenaugh. »Sie besuchen doch auch oft gesellschaftliche Zusammenkünfte. Wie ist die allgemeine Stimmung dort? Nach außen hin bekunden sie ja ihre heiße Sympathie für uns, aber was denken sie wirklich?« In einer hilflosen 432
Geste spreizte er die Hände. »Halten Sie sie für so verrückt, daß sie versuchen könnten, Waffen zu entwickeln, um gegen uns zu kämpfen?« »Davon weiß ich nichts«, protestierte Jefferson. »Das kann ich glauben«, sagte Ackoff freundlich. »Himmel«, schnaubte Greenaugh. »Fremde im TransCoalsack. Die halbe Flotte ist in diesen gottverlassenen Winkel unseres Universums abgezogen worden. Eine fremde Rasse keine zwanzig Parseks von hier entfernt, und wir haben nicht annähernd genug Schiffe, um mit ihnen fertig werden zu können. Wir sind so weit, daß wir den Bericht über die endgültige Pazifizierung dieses Planeten abfassen können. Alles, was uns jetzt noch fehlt, wäre eine Revolte.« Er schüttelte wütend den Kopf. »Was sollten wir in diesem Fall tun? Wir haben nicht genügend Leute, um den Planeten zu besetzen.« »Sie könnten kaum eine Bedrohung für das Imperium darstellen, Sir«, wandte Jefferson ein. »Und wenn sie sich mit den Fremden verbündet haben?« »Aber – haben Sie Grund zu dieser Annahme …« »Nein«, beruhigte Ackoff ihn. »Wir haben zu keiner Annahme Grund. Aber Tatsache bleibt, daß sie uns unverständlicherweise enorme Summen verschwenden, und ihre Erklärungen keinen Sinn ergeben.« »Hätten wir doch diesen verdammten Planeten bloß nie entdeckt«, schimpfte Greenaugh. »Aber das steht ja jetzt nicht zur Diskussion. Jedenfalls ist die ganze Angelegenheit äußerst fragwürdig. Und jetzt wollen sie uns offensichtlich berichten, was sie wirklich da draußen gemacht haben.« 433
Jefferson sah ihn verblüfft an. »Wie, Sir?« »Sie haben um einen offiziellen Beobachter gebeten«, erklärte Ackoff. »Sie möchten einen imperialen Offizier als offiziellen Zeugen irgendeines wichtigen Tests, den sie durchführen wollen.« »Wozu könnten sie denn einen Zeugen brauchen?« überlegte Jefferson. Ackoff schüttelte den Kopf. »Wir haben nicht die geringste Ahnung. Aber solche Leute sind ja bekanntlich zu den seltsamsten Dingen fähig.« »Ich gebe zu, daß mich die Sache so neugierig gemacht hat, daß ich mir schon überlegt habe, die Aufgabe selbst zu übernehmen«, meinte Greenaugh. »Aber der Gouverneur will mich nicht gehen lassen.« »Nicht ohne eine Eskorte«, mischte sich Ackoff ein. »Und da wir eher Grund zu der Annahme haben, daß die ganze Sache harmlos ist, wäre es politisch gesehen unmöglich, wenn der Captain dort mit einer Kompanie Soldaten eintreffen würde.« Wohingegen Leutnants, dachte Jefferson, viel leichter ersetzbar sind. »Sie wissen doch sicher, wie das Imperium mit Kidnappern verfährt.« »Das müßten sie eigentlich. Wir haben es ihnen oft genug erzählt«, nickte Greenaugh. Die Verfahrensweise des Imperiums in solchen Fällen war äußerst einfach. Von dem Augenblick an, in dem sie gekidnappt wurden, galten die Geiseln als tot. Also würden die imperialen Streitkräfte rücksichtslos den Ort stürmen, wo die Geiseln gefangengehalten wurden, oder sie 434
bombardierten ihn sogar. Was sie nicht tun würden, war, sich auf irgendwelche Verhandlungen einzulassen. Dadurch wollte das Imperium jedes Motiv für Kidnapping von vornherein ausschließen, und bisher hatte Jefferson dieser Politik voll und ganz zugestimmt. Aber plötzlich war er sich da nicht mehr so ganz sicher … »Es ist natürlich möglich, daß sie uns nicht glauben«, fuhr Greenaugh fort. »Doch das nehme ich kaum an. Einen imperialen Offizier an ihren geheimsten Ort einzuladen, nur um ihn zu kidnappen? Das könnten sie viel einfacher, wenn sie sich einen von Ihnen nach einer durchzechten Nacht in irgendeiner Kneipe greifen würden. Tja, und dann wäre da noch die Frage des Wetters.« »Des Wetters?« »Ja«, nickte Greenaugh. »Sie möchten so bald wie möglich einen Beobachter, aber nur an einem Tag, an dem wir ihnen gutes Wetter ohne Sturm oder Wind garantieren können, und zwar im Corliss-Grant-Gebiet.« Der Captain zuckte die Achseln. »Was natürlich zu dieser Jahreszeit nicht schwer sein dürfte.« »Aber haben sie Ihnen denn keine Erklärungen dafür gegeben?« »Nein.« »Was immer sie auch vorhaben«, meinte Ackoff, »es handelt sich um eine günstige Gelegenheit, herauszufinden, was sie wirklich da draußen machen. Ich werde Ihnen – natürlich wertlose – Referenzen mitgeben, die Sie als offiziellen Zeugen bestätigen. Sie werden also dort hingehen. Nach Aussagen des Computers müßte sich das 435
gute Wetter dort unten noch mindestens fünf oder sechs Tage so halten. Sie können morgen schon abreisen.« »Nehmen Sie ein paar Jungs von der Marine mit«, riet ihm Greenaugh. »Und bleiben Sie mit dem Hauptquartier in Verbindung. Ich werde dafür sorgen, daß immer jemand am anderen Ende der Leitung sitzt. Nur für den Fall. Wir werden Sie herausholen, wenn es uns möglich ist.« Die Corliss-Grant-Berge lagen auf einer langgestreckten Halbinsel rund tausend Kilometer südlich von Haven und bildeten den südlichsten Teil des Königreiches Haven. Jeff saß im Erste-Klasse-Abteil eines überraschend schnellen Zuges und betrachtete die Landschaft, die draußen an ihm vorbeiraste. Viel mehr blieb ihm auch nicht zu tun. Der Palastbeamte, den man zu seiner Begleitung bestimmt hatte, war nicht gerade gesprächig. Unglücklicherweise gab es auch nicht viel zu sehen. Dieser Teil Havens war zum größten Teil Ackerland, in dem sich hier und da ein Sumpfgebiet ausdehnte. Einmal tauchte etwas groß und gefährlich Aussehendes aus dem Sumpf auf, doch es machte keine Anstalten, den Zug anzugreifen, der leider so schnell fuhr, daß Jeff das Tier nicht richtig sehen konnte. Nach einer Weile bogen die Schienen ins Landesinnere ab und liefen jetzt auf die braunen Berge zu, die mit niedrigem Gebüsch überzogen waren. Jeff schüttelte erstaunt seinen Kopf. Im Abteil wurde es immer heißer, je weiter sie nach Süden vorstießen, und langsam empfand er die Hitze schon als ungemütlich. Als Platz für eine Forschungsstation hatten die Corliss-Grant-Berge außer völliger Isolation nichts zu bieten. Warum, fragte er sich, 436
warum sollte die Regierung Havens einen so großen Teil ihres Budgets und eine steigende Zahl sorgfältig ausgebildeter Leute in diese gottverdammte Gegend schicken? Mit quietschenden Bremsen kam der Zug endlich zum Stehen und stieß eine Dampfwolke aus. Jefferson rief die beiden Soldaten, die Greenaugh ihm mitgegeben hatte, und stieg aus. Auf dem Bahnsteig erwartete ihn schon eine kleine Gruppe, die von einem Offizier der Königlichen Armee von Haven angeführt wurde. Der Offizier – seinen Abzeichen nach mußte er im Rang eines Colonels stehen – kam ihm irgendwie bekannt vor. Jeff runzelte die Stirn und versuchte, sich daran zu erinnern, wo er den Mann schon einmal gesehen hatte. »MacKinnie«, stellte er dann fest. »Händler MacKinnie. Ich wußte nicht, daß Sie in der Armee von Haven sind.« Aber ich hätte es mir eigentlich denken können. »Hat dieses geheimnisvolle Ereignis, daß wir beobachten sollen, etwas mit Ihrer Expedition nach Makassar zu tun?« MacKinnie lächelte unverbindlich. »Weniger, als uns lieb ist. Aber ich nehme an, man könnte es wohl so ausdrücken. Willkommen in Corliss Grant, Leutnant. Der Wagen wartet schon –« Das Dampfauto war luxuriös ausgestattet. Jefferson lehnte den Drink ab, den MacKinnie ihm aus der eingebauten Bar anbot und versuchte, sein Gegenüber auszufragen, doch der ließ sich nicht darauf ein. »Alles zu seiner Zeit«, bekam Jeff zu hören. »Alles zu seiner Zeit. Glücklicherweise ist das Wetter gut –« »Das wußten Sie doch von uns.« 437
»Ja, danke«, lächelte MacKinnie. Viermal passierten sie bewachte Tore. Die Soldaten waren in Alarmbereitschaft, so schien es Jefferson, und ihm fiel auf, daß sie sich MacKinnie gegenüber sehr respektvoll verhielten. Das wird ja immer seltsamer, dachte er. »Darf ich annehmen, daß Sie nicht die Hauptperson bei diesem Schauspiel sind?« MacKinnie nickte. »Das dürfen Sie. Sie werden in Kürze mit einigen Ministern Seiner Majestät zusammentreffen, und meine Aufgabe ist es, Sie zu Ihrem Standort zu bringen und Ihnen einen Imbiß zu servieren.« »Vergessen Sie den Imbiß. Kommen wir gleich zur Sache.« »Das geht leider nicht«, erwiderte MacKinnie. »Die Zeit ist nämlich der kritische Faktor.« Ein etwas verzerrtes Lächeln lag um MacKinnies Mund, und Jeff spürte die Spannung, die vom Colonel ausging. Colonel MacKinnie ist über irgend etwas besorgt, dachte Jeff. Besorgt und bemüht, es nicht zu zeigen. Ich möchte nur wissen – Vor irgendwo erscholl eine Reihe lauter Explosionen, und Jeff fuhr kerzengerade in die Höhe. Seine Hand flog an seinen Gürtel, als er plötzlich merkte, daß MacKinnie sich nicht gerührt hatte. »Stecken Sie sie weg, Donivtsky« forderte Jeff seinen Marinebegleiter auf. »Es freut mich, zu sehen, wie schnell Sie Ihre Waffe ziehen können.« »Sir.« »Was zum Teufel war das, Colonel?« »Eine Versuchskanone. Sie feuert ein paar hundert 438
Salven in der Minute ab«, klärte MacKinnie ihn auf. »Sie wird gerade getestet. Sie werden sie bald zu sehen bekommen.« »Haben Sie mich etwa in diese Hitze verschleppt, um mir eine Kanone zu zeigen?« »Nein, nicht nur. Ach, da sind wir ja schon.« Der Wagen hielt vor einem großen Holzgebäude an, vor dem bewaffnete Soldaten Wache schoben. Andere eilten herbei, die Wagentüren zu öffnen. Wieder hatte Jeff das unbestimmte Gefühl von Spannung, die Vorahnung, daß etwas in der Luft lag, aber er wurde sich nicht klar, was es sein konnte, und etwas Bedrohliches schien die Situation nicht an sich zu haben. Er wurde in einen reichdekorierten Speiseraum geführt, wo ihm Messestewards in weißen Uniformen ein ausgezeichnetes Essen servierten. Jeff lehnte den Wein ab, den man ihm anbot, ließ sich aber nach dem Essen zu einem kleinen Glas Grua überreden. Die Unterhaltung am Tisch beschränkte sich auf das Notwendigste, und auch diesmal wich MacKinnie allen konkreten Fragen aus. Schließlich erhob MacKinnie sich. »Und jetzt ist es Zeit, Sie zu Lord Dougal zu bringen, dem für diese Station verantwortlichen Beamten aus dem Kabinett Seiner Majestät. Wenn Sie bitte mitkommen –« Sie hatten nicht weit zu gehen. Jeff war insgeheim amüsiert. Es war nicht unbekannt, daß Einheimische oft ihre Bedeutung zeigten, indem sie auf gewissen Rangordnungen bestanden. Offensichtlich war ein einfacher Leutnant für einen Kabinettsbeamten nicht wichtig genug, 439
um mit ihm gemeinsam zu essen. Vor der Bürotür kam es fast zu einer Szene, weil sich Jeffs Marinebegleiter weigerten, von ihm getrennt zu werden. »Ich bitte um Entschuldigung, Colonel«, wandte Jeff ein, »aber die Männer sind zu meinem Schutz abkommandiert …« »Aber doch sicher nicht vor uns«, erwiderte MacKinnie. »Hier ist das jetzt meine Aufgabe.« Und ziemlich beleidigt sieht er jetzt auch noch aus, dachte Jeff. Oh, verflucht. »Schon gut, Sergeant«, nickte Jeff Donivtsky zu. »Bitte warten Sie hier auf mich.« Der Soldat war nicht gerade erfreut, das ließ sein »Sir!« deutlich erkennen. Während Jeff in das getäfelte Büro hineinging, dachte er daran, wieviel Ausdruck doch ein Unteroffizier in eine einzige Silbe legen konnte. Der Mann, der hinter dem großen Schreibtisch saß, sah gewiß nicht gefährlich aus. Jeff erinnerte sich daran, ihn bei verschiedenen Gelegenheiten schon gesehen zu haben. »Mylord Dougal, Minister ohne Amtsbereich«, stellte ihn MacKinnie vor. Während sich die beiden Männer die Hand gaben, schloß der Colonel die Tür. »Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie hergekommen sind«, begrüßte Dougal den Marineoffizier. »Bitte nehmen Sie doch Platz. Grua?« »Ich bin sehr gut bewirtet worden, Mylord«, lehnte Jeff ab. »Wenn Sie mir meine Offenheit entschuldigen, aber ich brenne darauf, zu erfahren, warum ich hier bin.« »Das kann ich mir vorstellen. Wenn Sie mir jetzt vielleicht zuerst Ihre Bestätigung als offizieller Beobachter 440
für das Imperium zeigen könnten?« Jeff reichte ihm die gewünschten Dokumente, die mit Amtssiegeln versehen waren. »Blendwerk« hatte Ackoff sie scherzend genannt. Da es kein Amt für »offizielle Beobachter« gab, war der entsprechende Text für die Dokumente von Ackoffs Sekretär aufgesetzt worden. Es war immerhin möglich, daß die Einheimischen die imperiale Sprache lesen konnten – ihre eigene unterschied sich nämlich nicht so grundlegend vom Anglikanischen –, deshalb sagten die Papiere in umständlichen Umschreibungen aus, daß Leutnant Jefferson ein bevollmächtigter Beobachter war und befugt, einen offiziellen Bericht abzugeben. Nachdem Dougal die Papiere geprüft hatte, legte er sie in seinen Schreibtisch. »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden?« Er nahm ein kleines Rohr von seinem Schreibtisch, horchte hinein und hielt es dann vor seinen Mund. »Ausgezeichnet. Bitten Sie Seine Majestät jetzt, hereinzukommen, wenn ich Bescheid gebe.« Er legte das Rohr auf seinen Schreibtisch zurück und wandte sich wieder an Jefferson. »Ich glaube, es ist jetzt wirklich Zeit zu einem ausführlichen Gespräch, Leutnant. Es wäre mir zwar lieber gewesen, wenn Ihre Führung einen älteren Offizier hergeschickt hätte, aber es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben, als uns nun mit Ihnen zu begnügen. Zuerst allerdings muß ich Sie um etwas bitten. Würden Sie mir erlauben, Ihre Waffe in meinen Schreibtisch zu schließen?« »Keine unbedachten Schritte, bitte«, hörte Jefferson den Colonel von hinten sagen. 441
»Ich bedaure, aber der Colonel ist bewaffnet«, erklärte Dougal. »Genau wie ich. Und natürlich steht dieses Büro unter der Beobachtung einiger meiner Agenten. Glauben Sie mir, Leutnant, wir haben Sie nicht gekidnappt. Wir werden Ihnen keine Forderungen stellen, und Ihre Waffe wird Ihnen in Kürze wieder zurückgegeben werden. Aber im Augenblick muß ich darauf bestehen, daß Sie sie mir aushändigen. Sehen Sie, bei uns gibt es dieses dumme Gesetz, daß nur die Beamten des Königs in seiner Gegenwart bewaffnet sein dürfen, und Seine Majestät wartet darauf, einzutreten.« Und hinter mir steht Colonel MacKinnie, dachte Jeff. Diese hirnverbrannten Idioten werden sich ganz schön Ärger einhandeln. Oder besser, sie hatten ihn sich schon eingehandelt. Er konnte sich vorstellen, was im Hauptquartier passierte. Der diensthabende Offizier, mit dem er direkt in Verbindung stand, konnte alles mithören und würde sofort Greenaugh kommen lassen – falls Greenaugh nicht schon dort war, was Jeff hoffte. Noch mußte er ja nicht gerettet werden. »Schon gut«, erwiderte Jeff. »So dramatisch hätten Sie es nicht machen müssen. Eine einfache Bitte –« »Haben Sie es als etwas anderes verstanden?« Jeff zog vorsichtig seine Pistole aus dem Gürtel und hielt sie vor sich. MacKinnie trat vor und nahm sie ihm ab. Dougal griff wieder nach dem Sprechrohr. »Alles klar«, sagte er liebenswürdig. Die Tür wurde geöffnet, und König David trat ein.
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Dougal erhob sich, als der König hereinkam, und Jeff folgte seinem Beispiel. Und wie soll sich ein entwaffneter imperialer Beamter verhalten, wenn er vor dem König einer Koloniewelt steht? fragt sich Jeff. Es kann auf jeden Fall nicht schaden, höflich zu sein. »Eure Majestät.« Jeff verbeugte sich respektvoll. »Es handelt sich nicht um eine offizielle Audienz«, klärte ihn David auf. »Behalten Sie deshalb ruhig Platz.« Jeff wartete, bis sich der König und auch Dougal gesetzt hatten, bevor auch er wieder Platz nahm und nutzte die Gelegenheit, sich König David näher anzusehen. Sieht nicht schlecht aus, dachte er. Und dumm ist er auch nicht, wenn man Greenaughs Aussagen glauben darf. Ein ziemlich dummer Zug von ihnen, aber sie werden nie erfahren, wie dumm. Inzwischen wird Greenaugh sicher schon persönlich mithören – Als ob er Jeffs Gedanken lesen könnte, fragte König David unvermittelt: »Mylord, wissen Sie genau, daß wir nicht abgehört werden?« »Ich bin mir ziemlich sicher«, nickte Dougal. »Während des ganzen Essens haben unsere Techniker eine Art Funkwelle ausmachen können. Nachdem der Leutnant in dieses Büro gekommen ist und die Tür geschlossen wurde, konnten sie sie nicht mehr feststellen. Es ist natürlich möglich, daß sie noch über eine andere Art der Geheimkommunikation verfügen, die wir nicht unterbrechen können, aber das halte ich kaum für wahrscheinlich.« »Wieviel Zeit haben wir?« wollte König David wissen. Dougal zuckte die Achseln. »Soweit wir wissen, 443
imitieren wir dieses Signal genau. Im Augenblick tauschen drei Leute, die sich ähnlich wie MacKinnie, ich selbst und der Leutnant anhören, bedeutungslose Höflichkeiten aus.« »Was zum Teufel bedeutet das alles?« wollte Jeff wissen. »Bitte, Leutnant«, beruhigte ihn König David. »Sie haben mein Wort, daß Ihnen nichts passieren wird und daß wir Ihnen in Kürze auch Ihre Waffe zurückgeben werden. Dann bringen wir Sie auch an einen Ort, wo Sie mit Ihren Vorgesetzten sprechen können. Wir werden sogar darauf drängen, daß Sie Ihre Vorgesetzten informieren. Wir wollen im Augenblick nur ganz sichergehen, daß Sie den Ablauf unseres Tests nicht stören.« »Darf ich dann vielleicht vorschlagen, daß Eure Majestät den Test durchführt, und dabei nicht einen diensthabenden imperialen Offizier behelligt?« erwiderte Jeff. »Bitte«, beschwichtigte Dougal ihn, »wenn Sie einen Moment zuhören würden, könnten wir die ganze Angelegenheit sofort klären. Es gibt da nur eine Frage, die Sie uns unbedingt beantworten müßten.« Er blickte MacKinnie verdrießlich an. »Der Colonel besteht darauf, bevor wir die Erlaubnis zum Flug geben. Leutnant, wir wissen, daß Ihr Raumschiff auf einer Umlaufbahn um den Planeten kreist. Wir haben seine Bahn verfolgt.« Jeff stand abrupt auf. »Wenn ihr Dummköpfe etwa eine Rakete auf die Tombaugh abfeuern wollt, dann müßt ihr schon komplett verrückt sein –« »Setzen Sie sich wieder.« MacKinnie stand dicht neben Jeff. »Sie waren gerade ehrlich, jetzt wollen wir es auch 444
sein. Wir haben nicht im entferntesten die Absicht, Ihr gottverdammtes Raumschiff anzugreifen. Was wir einzig und allein wissen wollen, ist folgendes: Wenn wir jemand in den Weltraum schießen, könnte Ihr Schiff sie dann retten?« »Retten? Was – Eure Majestät, was haben Sie heute wirklich vor?« »Das dürfte sich doch aus der Frage des Colonels ganz klar ergeben haben«, entgegnete König David. »Wir werden ein Raumschiff abschießen. Unser einziges Problem ist nur, daß es nicht zurückkehren kann. Deshalb müssen wir wissen, wie lange Ihr Schiff dazu brauchen wird, unseren Piloten zu retten.« »Pilotin«, verbesserte MacKinnie ihn. »Die Verlobte des Colonels«, ergänzte König David. »Verständlicherweise macht er sich um sie Sorgen.« »Ich verstehe.« Jeff setzte sich wieder. »Darf ich meinen Computer herausnehmen?« »Bitte.« Jeff kritzelte Zahlen auf den Schirm. »Sie wollen das Schiff in östliche Richtung abfeuern?« Dougal nickte. »Man hat mir gesagt, es sei am besten, obwohl ich, ehrlich gestanden, keine Ahnung habe, wieso.« »Aber ich.« Also östlicher Kurs von diesem Breitengrad aus … auf welcher Umlaufbahn kreiste gerade die Tombaugh? Nicht exakt polar, aber doch steil gewinkelt. Es durfte kein Problem sein, ein Schiff von Prinz Samuals Welt abzufangen, aber auf die gleiche Umlaufbahn zu gehen … »Eure Majestät, ich bitte Sie, den Plan aufzugeben. Die 445
Verteidigungssysteme der Tombaugh funktionieren automatisch, und es könnte sein, daß man Ihr Schiff abschießt –« »Wir haben den Zeitpunkt des Abschusses genau berechnet«, widersprach Dougal. »Ihr Schiff wird sich dann genau auf der anderen Seite von Prinz Samuals Welt befinden. Wir haben nämlich etwas Ähnliches schon vermutet. Sobald unser Schiff gestartet ist, können Sie Ihre Leute warnen.« »Ich verstehe.« Jeff schrieb weitere Zahlen auf den Computer. »Nehmen wir an, Ihr Schiff schafft es tatsächlich, auf eine Umlaufbahn zu gehen – was ich übrigens bezweifle, denn diese Prozedur ist komplizierter, als Sie wahrscheinlich glauben –, dann dürfte die Tombaugh in etwas mehr als drei Stunden die entsprechende Umlaufbahn erreicht haben.« »Sehen Sie«, wandte sich Dougal an MacKinnie. »Der Spielraum ist groß genug.« »Ich will es hoffen«, brummte MacKinnie. »Wenn Eure Majestät mir eine offene Frage verzeihen«, sagte Jeff, »aber ich würde zu gern wissen, wozu das alles gut sein soll.« »Aber sicher, das ist verständlich. Seit vergangener Woche ist praktisch der ganze Planet unter meiner Herrschaft vereint. Vermutlich wird man uns aber so nicht in das Imperium aufnehmen. Und da wir Ihnen gleich demonstrieren werden, daß wir in der Lage sind, ein Raumschiff zu bauen, möchten wir hiermit einen etwas höheren Status als den einer Kolonie beantragen.« »Bei allen Heiligen«, stieß Jeff hervor. 446
28 Start frei Rund ein Dutzend Beamte warteten auf einer Terrasse hinter dem Bürogebäude. Im Büro selbst war es zwar sehr heiß gewesen, aber die Ventilatoren hatten die Hitze doch etwas gemildert, während es draußen windstill war. Hoch stand die grelle Sonne am Himmel, und Jeff fühlte augenblicklich, wie ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann. Instinktiv griff er nach seiner Waffe, um sich zu vergewissern, daß sie noch da war. Sobald er das Gebäude verlassen hatte, begann er zu sprechen. »Wer immer gerade Dienst hat, rufen Sie augenblicklich Captain Greenaugh.« Auf dem Schirm seines Taschencomputers erschien ein Signal, und Augenblicke später erklang Captain Greenaughs Stimme aus dem Gerät. »Hier spricht Greenaugh.« »Captain, hier ist eine ganze Menge los. Das Wichtigste: Hier soll gleich ein Raumschiff gestartet werden.« »Leutnant, haben Sie getrunken?« Jeff erklärte geduldig, was er erfahren hatte. »Es soll jeden Augenblick gestartet werden«, beendete er seinen Bericht. »Ich habe es zwar noch nicht gesehen, aber –« »Können Sie den Start nicht irgendwie verzögern?« unterbrach ihn Greenaugh. »Es sind rund fünfhundert Soldaten hier, und wir sind nur zu dritt, Sir«, erwiderte Jeff. 447
»Ich verstehe.« Für einen Moment war es still. »Und ihr König ist auch da«, fuhr der Captain schließlich fort. »Ich werde wohl besser Seine Exzellenz informieren lassen. Übrigens, was für ein Raumschiff ist es überhaupt?« »Man hat es mir nicht gesagt, Sir. Ich nehme an, es handelt sich um eine primitive Rakete. Ich sehe zwar noch kein Schiff, aber alle stehen hier ziemlich erwartungsvoll herum. Sie kommen gerade wieder zurück; man hat mich allein gelassen, damit ich ungestört mit Ihnen sprechen kann, aber da sie wissen, was für eine Art Sender ich benutze, ist das Gespräch kaum geheim. Wahrscheinlich hören sie sogar mit.« Wieder herrschte langes Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Wir wußten noch nicht einmal, daß sie eine Ahnung davon hatten. Was wissen wir sonst noch nicht?« Jeff war versucht, zu erwidern, daß sie auch nichts von dem Raumschiff gewußt hatten, ließ es dann aber bleiben. »Sehen Sie dort«, unterbrach ihn Dougal. »Da am Berg.« Jeff vernahm einen brüllenden Donner, dem eine Reihe von Explosionen folgte. Sie kamen so dicht aufeinander, daß es unmöglich war, die eine von der nächsten zu unterscheiden, aber es mußte sich um eine ganze Reihe handeln, da die Explosion für eine einzelne viel zu lange anhielt. Wie eine große Rakete klang es überhaupt nicht. Das Schiff, das sich nun über dem Berg erhob, sah völlig anders aus, als Jeff es sich auch nur im entferntesten hätte vorstellen können. Es erinnerte an eine auf eine umgestürzte Tasse montierte Geschoßhülse, und aus dieser 448
Tasse schossen unwahrscheinlich grelle Blitze heraus. Sie folgten so dicht aufeinander, daß sie wie eine einzige lange Feuerzunge aussahen, und doch hatte Jeff irgendwie den Eindruck, als handelte es sich nicht um eine einzelne Verbrennung, sondern um viele kleinere Explosionen. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Es waren keine Schutzvorkehrungen getroffen worden, falls das – Schiff? – explodierte, und er konnte nicht verstehen, daß sie ihren König einer so großen Gefahr aussetzten. »Was um Himmels willen soll das sein?« fragte er schließlich. »Ein bemanntes Raumschiff«, erklärte Dougal stolz. »Es sieht aber nicht gerade wie ein Raumschiff aus«, wandte Jeff ein. »Es sieht ja noch nicht einmal wie eine Rakete aus.« »Es ist ja auch keine Rakete.« Die Stimme des Neuankömmlings klang schrill und fast nörgelnd, war aber unverkennbar mit Stolz erfüllt. »Darf ich Ihnen Akademiker Kleinst vorstellen«, sagte Dougal. »Kleinst«, überlegte Jeff laut. »Sie waren doch mit auf der Makassarexpedition.« »Ich hatte das Privileg.« Kleinst drehte sich um und blickte dem schnell emporsteigenden Schiff nach. Auch Jeff sah ihm nach und wünschte ihm innerlich Erfolg. Er war irgendwie hochdramatisch, dieser Start, bei dem sich ein Schiff mit brüllendem Feuer erhob. »Wenn es explodiert, könnten wir alle getötet werden«, gab er zu bedenken. »Haben Sie nicht an Schutzbunker für die Beobachter gedacht?« 449
»Wissen Sie«, lächelte Dougal, »der König war der Meinung, daß, wenn der Pilot schon ein solches Risiko auf sich nimmt, wir es mit ihm teilen sollten. Natürlich hatten wir kein Recht, von vorherein anzunehmen, daß Sie darüber genauso denken. Es ist ja schließlich nicht Ihr Schiff –« »Sicher. Übrigens, wie funktioniert das Schiff überhaupt?« »Gütiger Himmel«, unterbrach ihn Greenaughs Stimme. »Nennen Sie es von mir aus Flugzeug, eine Sonde oder was weiß ich, aber bezeichnen Sie es um Himmels willen nicht offiziell als Raumschiff! Seine Exzellenz ist vor Wut in die Luft gegangen, als ich ihm berichtet habe, was Ihre Freunde da unten vorhaben.« »Also Flugzeug«, verbesserte sich Jeff. »Wie funktioniert es, wenn es sich nicht um eine Rakete handelt?« Kleinst warf sich in die Brust. »Eine eingebaute mehrläufige Schnellfeuerkanone feuert nach unten explosive Raketen ab, die dann in der darunterliegenden halbkugelförmigen Kammer explodieren. Die Explosion treibt das Schiff aufwärts.« »Davon habe ich noch nie gehört«, schüttelte Jeff den Kopf. »Captain, haben Sie …« »Ich sehe gerade nach«, ertönte Greenaughs Stimme. »Primitives Raumfahrzeug, Antrieb durch Explosion – Gütiger Himmel!« »Ja, Sir?« »Der erste bekannte Hinweis darauf datiert aus dem Jahr 1899.« 450
»Sagten Sie 1899, Sir?« »In der Tat. Wir haben zwar nicht den Text vorliegen, aber den Verweis darauf habe ich vor mir. Und 1957 bewarb sich Goddard für eine Lizenz, um ein solches Schiff zu bauen. Dyson hat ebenfalls damit experimentiert.« Goddard. Dyson. Namen aus der alten Geschichte, Leute, die in einer legendären Zeit gelebt hatten. Jefferson war einmal an Bord eines Luxuskreuzers mit dem Namen Goddard gewesen, und er glaubte, sich auch an ein Patrouillenschiff erinnern zu können, das Freeman Dyson geheißen hatte. Das Schiff war jetzt fast nicht mehr zu sehen, und sein Donner verhallte immer mehr, während es in östliche Richtung in den ultrablauen Himmel von Prinz Samuals Welt eintauchte. »Wie stabilisieren Sie es?« erkundigte sich Jeff. »Es stabilisiert sich größtenteils selbst«, entgegnete Kleinst. »Aufgrund der Geometrie der Explosionskammern. Zusätzliche Peroxidraketen korrigieren den Kurs.« »Und Ihr Pilot ist ein Mädchen …« »Freelady«, berichtigte MacKinnie ihn kühl. »Die Gyroskopen übernehmen den Hauptteil der Steuerung«, fügte Kleinst hinzu. MacKinnie starrte angestrengt nach Osten, wo das Schiff inzwischen nur noch als winziger Punkt auszumachen war. Jeff kümmerte sich nicht um den Ausdruck auf seinem Gesicht. »Captain, Sie würden jetzt am besten die Tombaugh warnen, damit sie es nicht abschießt.« 451
»Schon geschehen«, meldete sich Greenaugh. »Ist es unverschämt, Colonel«, wandte sich Jeff an MacKinnie, »wenn ich Sie jetzt frage, warum man ausgerechnet Ihre Verlobte als Piloten gewählt hat?« »Gewichtsgründe«, gab MacKinnie widerwillig Auskunft. »Masse«, korrigierte ihn Kleinst. »Wir brauchten einen Piloten, der Erfahrung im schwerelosen Zustand hat. Von den wenigen, die in Frage kamen, wiegen Freelady Graham und ich am wenigsten. Und mich brauchte man für andere Aufgaben.« »Und wie soll es nun weitergehen?« »An Bord des Raumschiffes befindet sich ein Sender. Sobald das Schiff die Umlaufbahn erreicht hat, wird er eingeschaltet und gibt ein Signal ab, so daß Prinz Samuals Hoffnung im Raum lokalisiert werden kann. Wir hatten gehofft, daß Ihr Schiff uns dann weiterhelfen würde.« »Keine Möglichkeit zum Wiedereintritt in die Erdatmosphäre«, bemerkte Jefferson. Kleinst sah ihn einen Augenblick verwirrt an, bevor er antwortete. »Genau. In der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand, war es uns nicht möglich, das Schiff für eine Rückkehr auszurüsten.« »Und das Ding nennen Sie ein Raumschiff?« König David hatte stillschweigend zugehört. »Das dürfte eine Angelegenheit sein, die zwischen Ihren Vorgesetzten und meinen Beratern diskutiert werden sollte, nicht wahr, Leutnant? Prinz Samuals Hoffnung hat jemanden in den Raum gebracht. Ist es damit nicht ein Raumschiff?« 452
»Antworten Sie nicht«, befahl Greenaugh. »Und lassen Sie sich auf keine Diskussionen ein!« »Verstanden, Sir.« Er versuchte, sich an Mary Grahams Gesicht zu erinnern, doch es wollte ihm nicht gelingen. Es war zu lange her, seit er die Expeditionsgruppe nach ihrer Rückkehr von Makassar inspiziert hatte. Mut hat sie, das muß man ihr lassen, dachte Jeff. Nicht für ein Königreich wäre ich in diesen fliegenden Sarg gestiegen. Hoffentlich schafft sie es. Er drehte sich herum und starrte wie die anderen in den jetzt leeren indigoblauen Himmel.
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29 SOS Das Schiff erhob sich inmitten von Feuer und Donner. Mary Graham lag auf der Couch, unfähig, sich zu bewegen. Durch die Beschleunigung war ihr Gesicht zu einem verzerrten Grinsen verzogen. Obwohl die Couch durch spezielle Einlagerung die schlimmsten Stöße milderte, war die Vibration gewaltig, und Mary fühlte stechende Schmerzen in ihrem Bauch. Doch all das war immerhin noch besser als die Wartezeit bis zum Abschuß. Es war gräßlich gewesen, immer wieder waren ihr Zweifel gekommen, und aus Stunden schienen Jahre zu werden. Du wolltest doch immer bedeutend sein, sagte sie sich. Nun, altes Mädchen, das hast du endlich geschafft, wenn du nicht dabei sterben wirst. Nur wünschte ich, es täte nicht so schrecklich weh. Langsam erstarb der Lärm, als das Schiff die Atmosphäre verließ. Die Vibration jedoch blieb, und die Beschleunigung nahm immer mehr zu. Jetzt, da das Donnern der Kanone schwächer geworden war, konnte sie andere Geräusche ausmachen: das Rattern des Munitionszuführungsmechanismus, das unaufhörliche Schwirren der großen Gyros, das Klappern, wenn die gestanzten Stahlbänder in den Rädermechanismus eingeführt wurden. Offiziell war sie der Pilot, aber Mary wußte, daß es in 454
Wirklichkeit anders war. Diese Stahlbänder waren nämlich der wirkliche Pilot, und sie war nur ein Passagier. Wie lange soll es noch so weitergehen? Viel länger kann ich es nicht mehr ertragen. Was mache ich überhaupt hier? Ich erfülle eine Mission. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Selbst wenn ich es überleben sollte, gibt es immer noch keine Garantie dafür, daß das Imperium dieses Ding hier als Raumschiff akzeptiert. Aber es ist alles, was wir haben, und ohne einen Passagier würden sie es auf keinen Fall akzeptieren. Irgend jemand mußte in Prinz Samuals Hoffnung fliegen, und die logische Wahl war auf sie gefallen. Jung, stark, mit Raumerfahrung … Damals, als sie selbst mit diesem Vorschlag gekommen war, war es ihr als das Vernünftigste erschienen. Sie war damit zuerst zu Kleinst und dann zu Dougal gegangen. Nathan hatte sie nicht überzeugen können, aber er hatte sie nicht aufhalten können. Noch waren sie ja nicht verheiratet. Würden sie es überhaupt jemals sein? Wollte er sie denn noch? Er war so wütend gewesen, und konnte er denn mit jemandem zusammenleben, über den er nicht völlige Kontrolle hatte? Du bist albern, das weiß er doch seit Makassar, und er hat mich immer genausosehr gewollt wie ich ihn. O Gott, ich brauche ihn, gerade jetzt. Sie fühlte sich schwindlig, und die Beschleunigung wie auch die Vibration nahmen mit jedem Augenblick zu. Sie konnte ihre Augen nicht mehr öffnen. O Gott, laß es aufhören.
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Als sie erwachte, herrschte Stille um sie herum, und sie hatte das unbestimmte Gefühl, zu fallen. Es war keine totale Stille, denn die Gyros schwirrten immer noch, aber die Kanone war verstummt. Vorsichtig löste sie die Gurte, die sie an der Couch hielten. Ihr Körper schmerzte. Es war nicht der dumpfe Schmerz, den sie aufgrund der Beschleunigung erwartet hatte. Ein stechender Schmerz raste in ihrem Innern, der so intensiv war, daß rote Nebel vor ihren Augen tanzten, und der noch schlimmer wurde, wenn sie sich berührte oder wenn sie ihre Beine bewegte. Ich muß aufstehen. Ich muß diesen – Sender einschalten. Jedenfalls hat Kleinst ihn so genannt, obwohl er ganz anders aussieht wie der Kasten, der bei Leutnant Farr im Marinegebäude in Jikar stand. Aber zuerst muß ich es wissen. Sind wir auf der Umlaufbahn, oder… Sie schwebte hinüber zum Fenster. Ein Meer von Sternen zog an ihr vorüber, und dann sah sie Prinz Samuals Welt. Das Schiff drehte sich. Nicht schnell genug, um künstliche Schwerkraft zu schaffen, doch auf jeden Fall drehte es sich. Einmal pro Minute war ihre Welt unter ihr. Nicht eine ganze Welt, nur eine große Scheibe. Sie drückte den Kopf gegen das Fenster und wartete, während sie vorsichtig ihre Beine bewegte, um herauszufinden, ob es eine Position gab, in der die Schmerzen weniger schlimm waren. Allmählich bemerkte sie Bewegung. Das Schiff passierte das Große Meer, und plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie 456
sich von Prinz Samuals Welt entfernte. Später beschäftigte sie sich mit dem Sextanten und maß Winkel. Soweit sie feststellen konnte, verlief alles planmäßig. Die Hoffnung befand sich auf der Umlaufbahn. Vielleicht. Zeit für den Sender. Sie drückte sich zur Wand, an der sich der Apparat befand. Er war im Grunde nichts weiter als ein Oszillator mit ein paar Spulen und einer Lücke dazwischen, über die ein elektrischer Funke sprang, wenn sie die Tasten betätigte. Dit dit dit. Dah dah dah. Dit dit dit. Das Signal stand für SOS, und das war seinerseits so alt, daß niemand wußte, was es eigentlich bedeutete. Ob das Imperium SOS immer noch als Notsignal benutzte, so, wie zur Zeit des Ersten Imperiums? Longway war davon überzeugt gewesen. Es war im Grunde auch nicht so wichtig. Das Imperium wußte, daß sie hier war, dafür hatte Nathan schon gesorgt. Ihr Beobachter würde dem imperialen Marineschiff alles berichten, und dann würde man sie schon holen. Sie zog das Räderwerk auf, das die Funkenstrecke kontrollierte und durch das ein Endlosstreifen lief. Dit dit dit. Dah dah dah. Dit dit dit. Von der Funkenstrecke führte ein dicker Draht durch Isolatoren zu geschmolzenem Quarz und von dort aus zur Außenhülle des Schiffes. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie das Signal durch den Raum lief und die Tombaugh erreichte. Dit dit dit. Dah dah dah. Dit dit dit. Sie würden sie hören und sie holen – Aber sie konnte nur warten, und die Zeit verging unendlich langsam. Wenn es nur nicht so schrecklich weh täte. Das haben 457
wir nicht erwartet. Was stimmt nur nicht mit mir? Ist es die Beschleunigung? Die Vibration? Jedenfalls irgend etwas Schreckliches. Lieber Gott, es tut so weh … Doch langsam nahm der Schmerz ab. Es war nicht mehr so schlimm, wenn sie sich zu einer Kugel zusammenrollte. Sie schob sich hinüber zur Couch, schnallte sich einen Gürtel lose um und blieb ruhig liegen. Die Zeit verging langsam. An dem Bandmechanismus, der den Sender betätigte, befand sich ein Zählwerk. Es war zwar keine besonders genaue Uhr, aber immerhin könnte sie die ungefähre Zeit daran ablesen. Erst dreißig Minuten waren vergangen. Mary streckte versuchsweise die Beine aus. Es ging. Schmerzhaft, aber sie konnte es durchaus aushalten. Irgend etwas schien mit den Gyros nicht zu stimmen. Die Batterien wurden schwächer. Sie wurden langsamer. Wenn sie langsam genug waren, würde sie versuchen müssen, das Schiff selbst zu steuern. Neben einer der Luken waren große Holzhebel angebracht, mit denen sie die Düsen kontrollieren konnte, die ringförmig um das Schiff angeordnet waren. Wenn ihnen nicht das Peroxid für die Düsen ausging, war sie vielleicht sogar in der Lage, den Fall zu steuern. Aber sie hoffte, daß es nicht dazu kommen würde. Kleinst war nicht sicher gewesen, ob sie – oder überhaupt jemand – das mit dem bloßen Auge und nur den Aussichtsluken als Leiter schaffen konnte. Noch immer rollten die Sterne an ihr vorbei, erst sie, dann Prinz Samuals Welt. Das Schiff drehte sich weiterhin, aber noch taumelte es nicht. Sie überlegte, ob sie die Drehbewegung abstellen konnte. Kleinst war sich da nicht 458
sicher gewesen. Es war möglicherweise schwierig, aber das Imperium verfügte sicher über Mittel und Wege, das Schiff zu stabilisieren. Nein, zum Teufel, dachte sie. Wir werden selbst soviel wie möglich tun. Sie nahm die Schnüre ab, die die Steuerhebel an Ort und Stelle gehalten hatten und bewegte versuchsweise einen von ihnen. Augenblicklich vernahm sie ein dumpfes Geräusch, eher ein Rauschen als ein Donnern, und auf einmal veränderte sich die Bewegung der Sterne etwas. Überhaupt nicht schwer, dachte sie. Wirklich nicht. Sie bewegte den Hebel erneut, hielt ihn diesmal etwas länger fest und wartete, was passieren würde. Noch dreimal, und sie hatte es fast geschafft. Jetzt drehte sich das Schiff nur noch sehr langsam, und Prinz Samuals Welt war an jedem der drei Sichtfenster jedesmal für mehrere Minuten zu sehen. Das hätten wir, dachte sie. Sie schienen noch immer nicht zu taumeln, obwohl das Geräusch der Gyros deutlich schwacher geworden war. Wenn sie genau hinhörte, konnte sie das Zischen der Lufttanks vernehmen. Für fünf Stunden Luft, und dann – Denke nicht darüber nach. Worüber sollte ich denn sonst nachdenken? Es ist wunderschön hier oben. Prinz Samuals Welt sieht herrlich aus, eine große Untertasse mit Wattewolken, und darüber die Sterne, Meere von Sternen, und – Wo bleibt nur das Schiff? Dit dit dit. Dat dat dat. Dit dit dit.
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30 Definitionen Drei höhere Beamte waren bei Ackoff und Greenaugh, als Jeff das Büro des Oberkommissars betrat. Der massive Konferenztisch war übersät mit überquellenden Aschenbechern und schmutzigen Kaffeetassen. Ackoff schien mit den Gedanken woanders zu sein, und die Vorstellung verlief dementsprechend mechanisch. Das sagte alles, denn im allgemeinen war Ackoff die Höflichkeit in Person. »Leutnant, Sie kennen unseren stellvertretenden Botschafter, Dr. Boyd? Und das sind Madame Goldstein und Mr. Singh. Ich nehme an, Sie haben Ihre Inspektionen dieses einheimischen – Flugzeugs beendet?« »Ja, Sir.« »Eine offizielle Inspektion«, erklärte Greenaugh. »Durch unseren offiziellen Beobachter.« Jeff zuckte zusammen unter der Ironie, die in der Stimme des Vorgesetzten mitschwang. »Den Berichten nach soll die Pilotin nicht in allzu guter Verfassung sein. Geht es ihr besser?« »Sie war ziemlich schlimm mitgenommen, Sir. Sie befindet sich noch in der Krankenstation der Tombaugh. Aber sonst ist sie ganz munter. Ich glaube, sie ist ein bißchen geschmeichelt über die große Aufmerksamkeit, die man ihr zukommen läßt …« 460
»Kaum verwunderlich«, meinte Goldstein. »Wir brauchen Ihren Bericht, Leutnant«, wandte sich Ackoff an Jefferson. »Wir haben da nämlich ein Problem. Was sollen wir hiermit machen?« Er hielt ein Papier hoch. »Wie Sie sich denken können, handelt es sich um den formellen Antrag auf die Anerkennung dieses Planeten als Klasse-zwei-Planet. Es wird Sie auch kaum überraschen, daß er mit großen Loyalitätsbekundungen an das Imperium beginnt … Und dann folgen seine ›Vorschläge‹: Selbstverwaltung unter imperialen Schutz und die Beratung durch das Imperium bei außerplanetarischer Politik. Offizielle Beobachter am Hof. Vertretung im Unterhaus des Parlaments. Bereit, vernünftige Handelsbeschränkungen zu akzeptieren. Und obwohl er in diesem Brief noch nicht darum bittet, können wir bei dem nächsten darauf gefaßt sein, daß er um technologische Unterstützung ersucht. Es wäre ganz interessant zu wissen, woher sie so viel über die Politik des Imperiums wissen.« Dr. Boyd war ein großer rundlicher Mann, den man fast, aber auch nur fast, schon als dick bezeichnen konnte. »Genau gesagt, über die Struktur der imperialen Regierung in der Form, wie sie vor dem letzten Reformgesetz existierte«, präzisierte er. »Sie haben ausgezeichnete Informationen erhalten, die aber zum großen Teil etwas überholt sind. Eine Unzulänglichkeit, die Mr. Solon sicher bald beheben wird.« Jeff murmelte etwas. »Ja, Leutnant?« wandte sich Ackoff an ihn. »Nichts, Sir. Es ist mir nur unverständlich, denn Mr. 461
Solimans Firma würde sicher nicht glücklich darüber sein, eine Koloniewelt zu verlieren, für die sie die Handelskonzession bekommen haben.« »Ganz im Gegenteil«, erwiderte Dr. Boyd. »Mr. Solimans Vertreter auf diesem Planeten hat bereits in einem offiziellen Schreiben den Antrag König Davids unterstützt.« »Das verstehe ich nicht«, schüttelte Jeff den Kopf. Ackoff lächelte verzerrt. »Die Situation ist ziemlich kompliziert … Sagen Sie, Leutnant, inwieweit beruht dieses Flugzeug auf Technologie, die von außen kommt?« »Das ist schwer zu sagen, Sir«, begann Jeff vorsichtig. Er war bemüht, seine Worte sorgfältig zu wählen, da er sich nur allzu deutlich bewußt war, daß seine Karriere auf dem Spiel stand. Und nicht nur meine, dachte er. Es geht um unser aller Karriere. Sie haben die ganze Sache direkt vor unseren Augen entwickelt, ohne daß wir es bemerkt haben, und irgend jemand wird dafür bezahlen müssen – »Das, eh, das Flugzeug ist eine äußerst primitive Konstruktion. Ich habe mich gewundert, warum sie so massebewußt waren, aber der Grund dafür zeigt sich, sobald sie das Ding betreten. Nehmen Sie zum Beispiel die Gyros. Sie sind riesig. Das müssen sie sein, weil sie mechanisch an die Steuerdüsen gekoppelt sind.« »Mechanisch gekoppelt?« unterbrach Rosa Goldstein ihn. Ihre Stimme klang ungläubig. »Mechanisch?« »Ja. Sie wußten nämlich nicht, wie sie es elektronisch machen sollten. Das ganze Ding ist auf diese Weise konstruiert. Gute Ideen, aber sehr primitiv in der Aus462
führung. Ein Teil der Arbeiten ist einfach hervorragend, aber alles wurde von Hand hergestellt.« »Immerhin war es so gut konstruiert, daß es in den Raum starten konnte«, warf Ackoff ein. »Genau betrachtet ist es doch eigentlich zu lächerlich«, mischte sich der stellvertretende Botschafter ein. »Eine winzige, von Hand konstruierte Kapsel, die in der Lage ist, eine Person in den Raum zu befördern, ist kein Raumschiff!« »Haben Sie eine technische Definition eines Raumschiffs gefunden?« wandte Ackoff ein. Singh sah ihn verdrießlich an. »Nein, Eure Exzellenz.« »Ich nämlich auch nicht. Und ich nehme an, es gibt überhaupt keine«, nickte Dr. Boyd. »Und deshalb können wir ihre Definition akzeptieren oder auch nicht, ganz wie es uns beliebt. Wenn wir es nicht tun, werden sie gewiß Beschwerde einlegen.« Er schwieg nachdenklich. »Ich überlege gerade, wie wir wohl vor Gericht in dieser Sache dastehen würden.« »Ziemlich dumm«, entgegnete Goldstein. »Bestimmt haben einige der Herren Richter Sinn für Humor. Und natürlich würden wir erklären müssen, wie es dazu kommen konnte.« »Ganz zu schweigen vom Zeitverlust und dem Ärger bei der Vorbereitung für einen Prozeß«, fuhr Boyd fort. »Zeugentransport. Amtsenthebungen. Die Kosten wären sicher nicht unbedeutend.« »Um zu meiner Frage von vorhin zurückzukehren«, meinte Ackoff. »Leutnant, würden Sie schwören, daß das 463
Schiff hier auf dem Planeten von den Einheimischen und ohne das auf Makassar erworbene Wissen entworfen wurde?« »Nein, Sir. Ganz sicher nicht. Wird das behauptet?« »Nein«, antwortete Greenaugh. »Genau deshalb ist diese Angelegenheit auf keinen Fall unbedeutend«, sagte Ackoff. »Und deshalb wird Trader Solimans Firma ihnen auch den besten gerichtlichen Beistand zur Verfügung stellen, wenn es zu einer Verhandlung kommen sollte.« Er lächelte freudlos. »Sehr schlau, dieser Lord Dougal. Er hat Mr. Solimans Vertreter gegenüber betont, daß ihr Anspruch auf Raumfahrttechnologie völlig legal ist, wenn Prinz Samuals Welt als klassifiziertes Mitglied anerkannt wird. Wenn nicht – dann haben wir alle bei unseren Aufgaben versagt. Und ganz besonders Soliman.« »Und die Marine«, ergänzte Greenaugh. »Immerhin haben wir nach ihrer Rückkehr die Ladung inspiziert.« Jeff nickte. Er war auf diese Feststellung vorbereitet gewesen. »Ich habe sie inspiziert, um genau zu sein.« »Sie sind nicht der einzige, der den Kopf hinhalten muß. Ich werde nämlich für Sie geradestehen müssen«, brummte Greenaugh. Dr. Boyd räusperte sich. »Ich sehe sehr wenig Sinn darin, diese Angelegenheit großartig zu diskutieren. Es sieht doch so aus: Wenn wir ihren Antrag akzeptieren, stehen wir zwar etwas lächerlich da, aber unsere Entscheidung wird mehr oder weniger stillschweigend fallen. Nur wenige Familien sind bisher als Kolonisten ausgewählt worden, und sie sind ohne Ausnahme ziemlich unbe464
deutend. Der IHV wird ebenfalls keinen Ärger machen. Ganz im Gegenteil: es müßte nämlich in Solimans Interesse liegen, die ganze Angelegenheit nicht öffentlich bekannt werden zu lassen. Die Kirche ist noch nie für die Kolonialisierung gewesen, und soweit ich weiß, ist König David gerade mit der Vorbereitung der Dokumente beschäftigt, in denen er seinen Staat dem Neuen Rom unterstellt, ein Angebot, das seiner Heiligkeit kaum mißfallen dürfte.« Er zählte die Punkte an seinen Fingern ab. »Wenn wir ihren Antrag akzeptieren, werden wir kaum mit Gegenstimmen zu rechnen haben. Wenn wir ihn aber ablehnen, werden wir mit Klagen von allen Seiten zu rechnen haben, einschließlich einer persönlichen Beschwerde von König David an die königliche Familie, könnte ich mir vorstellen.« Er spreizte die Hände, um sie dann wieder zusammenzufalten. »Leutnant, wären Sie nicht bereit, zu bezeugen, daß Prinz Samuals Welt ein Raumschiff gestartet hat und deshalb als Welt mit eingeschränkten raumfahrttechnischen Fähigkeiten qualifiziert werden kann?« »Sir, ich weiß nicht, ob ich dieses Ding als Raumschiff bezeichnen würde, zumindest auf keinen Fall vor einem Gericht.« »Mit einigem Glück werden Sie das nicht vor Gericht bezeugen müssen«, erinnerte ihn Ackoff. Es liegt auf der Hand, welche Antwort sie hören möchten, dachte Jeff. Wie konnte ich nur in diesen Schlamassel hineingeraten? Und es sieht so aus, als gäbe es nur einen einzigen Weg heraus. »Ich weiß es nicht.« »Mal sehen, wie wir es aufsetzen könnten«, überlegte Rosa Goldstein. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. 465
»Die entsprechenden Dokumente müßten von Captain Greenaugh und auch dem Leutnant unterzeichnet werden. Captain, würden Sie diese Formulierung akzeptieren: ›Aus dem Fehlen von Einwänden seitens der Beteiligten schließen wir, daß die Konstruktion als Raumfahrzeug mit Mindestcharakteristika qualifiziert werden und als Beweis für begrenzte Raumfahrtfähigkeiten auf Prinz Samuals Welt zur Zeit der Antragstellung auf Mitgliedschaft akzeptiert werden kann‹?« Greenaugh dachte einen Moment nach. »Ja. Das kann ich unterschreiben. Und Sie, Jefferson?« »Natürlich, Sir.« »Wir sind uns also einig?« fragte Ackoff. »Gut. Madam Goldstein, wenn Sie so freundlich wären …« Ein leises Summen war zu hören, worauf aus dem Schlitz am Ende des Tisches neben Ackoff ein Papier erschien. Er nahm es, überprüfte es flüchtig und gab es dann an Greenaugh weiter. Greenaugh unterzeichnete es und reichte es Jeff. »Bitte, Leutnant. Danke.« Ackoff nahm das Dokument entgegen und deponierte es sorgfältig auf König Davids Akte. »Das wäre also erledigt.« »Da wäre noch etwas«, meldete sich Greenaugh. »Und zwar?« »Wir haben uns lächerlich gemacht. Jemand sollte dafür bezahlen.« »Ich würde an Ihrer Stelle nichts überstürzen«, gab Ackoff zu bedenken. 466
»Erlauben Sie, Sir Alexei«, mischte Dr. Boyd sich ein. »Captain, obwohl ich Ihren Wunsch durchaus verstehen kann, würde ich doch gern wissen, ob Sie sich auch die Konsequenzen eines solchen Schrittes überlegt haben. Und wozu sollte es gut sein?« »Man darf einfach nicht zulassen, daß solche Leute die Marine lächerlich machen und damit ungestraft davonkommen«, antwortete Greenaugh. »Es ist kaum wahrscheinlich, daß eine solche Situation noch einmal eintreten wird«, erwiderte Boyd. »Und ich meine, was Ihren Einwand betrifft, lieber lächerlich und großzügig, als lächerlich und gemein und kleinlich.« Greenaugh erhob sich und verbeugte sich kühl vor Ackoff. »Meine Anwesenheit hier dürfte wohl nicht mehr erforderlich sein«, stellte er fest. »Mit Ihrer Erlaubnis möchte ich mich jetzt zurückziehen.« Er drehte sich um und marschierte steifbeinig hinaus. »Das könnte noch problematisch werden«, überlegte Rosa Goldstein. »Er will unbedingt Blut sehen.« »Ich werde noch einmal mit ihm sprechen«, gab Ackoff ihr zu verstehen. »Immerhin sind wir es ja, die mit den Konsequenzen seiner Aktionen leben müssen.« Nach kurzem Überlegen wandte er sich an Jefferson. »Leutnant, ich halte es für ratsam, daß Sie vergessen, was Sie eben gehört haben.« »Ja, Sir.« »Sie werden wahrscheinlich noch einige Privatangelegenheiten zu regeln haben. Ich bezweifle, daß Ihr Schiff noch lange in diesem System bleiben wird. Angesichts der 467
veränderten Situation hier werden wir in Kürze eine andere Art von Marinebeistand nötig haben.« »Ja, Sir.« »Danke für Ihr Kommen.« »Ja, Sir. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen…« Als Jeff das Büro verließ, hörte er gerade noch Boyd sagen: »Es scheint mir möglich zu sein, den Wünschen des Captains nachzukommen und gleichzeitig ein anderes Problem zu lösen…« Dann war Jeff aus dem Büro, und bis er die Treppe erreicht hatte, pfiff er schon wieder leise vor sich hin. Reguläre Marinekräfte waren nicht mehr nötig. Auch Kolonisten kamen nicht mehr in Frage. Nun, damit wäre mir eine Entscheidung abgenommen, auch wenn ich sie allein hätte treffen können. Man wird kaum ein Überwechseln von der Marine in den Beamtendienst akzeptieren. Jedenfalls nicht mehr unter diesen Umständen. Und schon gar nicht, wenn es sich bei dem Bewerber um mich handelt! Und wie bringe ich das jetzt Elaine bei? Egal, wie du es ihr beibringst, dachte er. Das Wichtigste ist, daß es wieder ab in den Raum geht! Schwungvoll und immer zwei überschlagend, nahm er die Stufen der Treppe. Ein Wirrwarr von Drähten lief hinauf zu einer verwirrenden Anzahl von Knöpfen und Skalen. An einer Seite mündeten diese Drähte in Elektroden, die auf Marys Bauch befestigt waren, während die andere in einer Wand der 468
Krankenstation der Tombaugh verschwand. Schließlich nahm ihr der Marinearzt die letzte Elektrode ab. »Sie können sich jetzt wieder anziehen«, informierte er sie. Mary fand ihn ziemlich unpersönlich, obwohl er zwei Stunden zuvor in der Wachstation sehr freundlich zu ihr gewesen war. Er hielt eine dunkle Fotografie gegen das Licht, die er als Röntgenaufnahme bezeichnete, und er hatte Mary erklärt, daß es sich dabei um eine Aufnahme ihres Innersten zeigte. Sie hätte sich die Fotografie gerne angesehen, aber sie wußte nicht, wie sie ihn darum bitten sollte. »Wie sieht es aus, Doktor?« wollte sie wissen. »Ganz gut, soweit ich feststellen kann«, erwiderte Korvettenkapitän Terry. Er sah noch einmal auf die Röntgenaufnahme. »Die Behandlung müßte ausreichen. Wenn nicht, müßten wir ein bißchen schneiden.« Er sah, wie sie ihn entsetzt anblickte. »Ich wollte sie nicht erschrecken. Alles nur Routine. Sie sind ein Standardchromotyp. Ihr Körper spricht ausgezeichnet auf die Regenerationsstimulatoren an. Das Problem ist nur, daß es manchmal leichter ist, etwas abzunehmen und es wieder nachwachsen zu lassen, als die ursprünglichen Teile wieder zu heilen. Wie auch immer, Sie werden auf jeden Fall wieder in Ordnung kommen.« »Aber was hat mir denn gefehlt?« »Schuld war die Vibration. Sie hat einen Teil des Intestinalmesokolons beschädigt. Es wird wieder heilen, aber es macht mir doch etwas Sorgen.« »Das hört sich aber sehr geheimnisvoll und ernst an.« 469
»Halb so wild. Sie müssen sich nur eine Zeitlang ruhighalten. Keine Überanstrengungen.« »Ich…« Es fiel ihr schwer, aber es mußte gesagt werden. »Ich wollte eigentlich in nächster Zeit heiraten.« »Hmmm. Ihre Flitterwochen dürften ziemlich langweilig werden. Aber wir kriegen Sie schon wieder hin. Machen Sie sich keine Sorgen.« »Sind Sie sicher? Die Flitterwochen könnten warten. Aber – Sind Sie wirklich sicher, daß ich wieder gesund werde?« »Ja, ganz sicher.« Er lächelte ihr beruhigend zu. »Ich habe zwar keine allzu großen Erfahrungen in der Behandlung weiblicher Probleme, aber Ihres ist recht einfach. Mit dem Fortpflanzungssystem ist alles in Ordnung. Es handelt sich nur um Intestinalgewebe, das betroffen ist. In ein paar Wochen sind Sie wieder auf dem Damm.« »Ich wußte nicht, daß Sie Kolonialbewohner behandeln dürfen«, meinte Mary. »Das dürfen wir normalerweise auch nicht, aber diese Anweisungen gelten natürlich nicht für Gefangene.« »Gefangene? Aber…« »Das wußten Sie nicht? Es tut mir leid«, sagte er, »aber ich dachte, man hätte es Ihnen gesagt. Captain Greenaugh hat vor drei Stunden den Haftbefehl erlassen. Sie stehen unter der Anklage, sich in die planmäßige Entwicklung von Makassar eingemischt zu haben.«
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31 Kummets Der imperiale Marineoffizier war höflich, aber bestimmt. »Colonel MacKinnie, ich habe meine Befehle. Sie sollen mich sofort zum Imperiumsgebäude begleiten.« Er sah sich in Dougals Büro um und blickte dann auf Dougal selbst. »Draußen wartet eine Abteilung Marinesoldaten, und ich stehe außerdem in direkter Verbindung mit den Marinebaracken.« »Immer mit der Ruhe«, erwiderte Dougal. »Wir wollten keinen Widerstand leisten. Ich habe nur gefragt, wie die Anklage lautet. Ich darf doch annehmen, daß Colonel MacKinnie unter Arrest steht.« »Ich würde vorziehen, es nicht so auszudrücken«, antwortete der Offizier. »Obwohl ich es natürlich könnte.« »Und wessen bin ich nun angeklagt?« wollte MacKinnie wissen. Der Offizier zuckte die Achseln. »Was soll ich jetzt tun?« wandte sich der Colonel an Dougal. Dougal setzte eine ernste Miene auf. »Mir wäre lieber, wenn Sie mit ihm gingen. Bis diese Angelegenheit bereinigt ist, sollten wir uns bemühen, zu zeigen, daß wir zur Zusammenarbeit mit den imperialen Behörden bereit sind.« 471
MacKinnie hob die Schultern hoch. »Wenn Sie meinen.« »Wir werden sofort Protest beim Oberkommissar einlegen«, erklärte Dougal. »Dabei können Sie auch gleich versuchen, daß man Freelady Graham aus der Haft entläßt«, schlug MacKinnie vor. »Wir haben nämlich schon den Hochzeitstermin festgesetzt.« »Wir werden unser möglichstes tun«, versprach ihm Dougal. »Ich werde auf der Stelle mit dem König sprechen.« Nathan saß in einem reichverzierten Sessel im Arbeitszimmer des Regierungsgebäudes. Im Kamin brannte ein lustiges Feuer, doch Nathan bemerkte es kaum. Er war mit seinen Gedanken woanders. Wo ist Mary? Hat man sie hierhergebracht, oder ist sie immer noch an Bord dieses Schiffes? Zur Hölle mit Ihnen. Sie müssen sie gehenlassen. Sie können sie nicht festhalten. Schließlich ist sie die berühmteste Person auf Samual, noch bekannter als der König. Der Gedanke war beunruhigend. Auch Dougal würde zu dieser Erkenntnis kommen, und was würde er dann unternehmen? Er konnte es nicht erlauben, daß ein Untertan König Davids berühmter war als der König selbst, nicht, wenn er plante, die Entwicklung des Planeten zu kontrollieren. Aber ob ihm das gelingen würde? Er ist sicher, daß das Imperium seinem Antrag auf Klasse-zwei-Status zustimmen wird, dachte Nathan. Er scheint eine ganze Menge 472
über Ackoff zu wissen. Oder sagt er jedenfalls, und ich kann nicht sagen, was nun davon richtig ist. Angenommen, er hat recht, und sie bewilligen Davids Antrag und gliedern Samual in ihr Imperium ein. Was geschieht dann? Was haben sie mit Mary gemacht? Die Tür wurde geöffnet und ein großer, förmlich gekleideter Mann kam herein. »Colonel MacKinnie? Ich bin Dudly Boyd, stellvertretender Botschafter. Seine Exzellenz möchte Sie jetzt sehen.« Als MacKinnie aufstand, fiel ihm ein, daß er in diesem Raum zum erstenmal mit den Imperialen zusammengetroffen war. Es kam ihm vor, als wäre es eine Ewigkeit her. Sehr interessant, überlegte er, während er dem Diplomaten den Gang hinunter folgte. Den stellvertretenden Botschafter als Begleitung. Ich scheine Karriere gemacht zu haben … Als er das Büro des Oberkommissars betrat, sah er zuerst Mary. Ohne abzuwarten, daß man ihm dem Kommissar vorstellte, ging er zu ihr hinüber, doch dann blieb er plötzlich stehen. Er wollte sie in die Arme nehmen, aber er kam nicht gegen die alten Gewohnheiten an. »Bist du in Ordnung?« fragte er. »Du siehst blaß aus.« »Mir geht es gut …« »Der Marinearzt sagt, daß sie sich wieder erholen wird«, berichtete Boyd. »Sie hatte innere Blutungen, und es ist möglich, daß noch ein kleiner operativer Eingriff vorgenommen werden muß.« MacKinnie verzog entsetzt das Gesicht. Boyds Stimme klang freundlich, als er fortfuhr: »Was hatten Sie denn 473
erwartet? Die Vibration in diesem –« Er zögerte einen Moment bei dem nächsten Wort. »Die Vibration im Schiff muß gewaltig gewesen sein.« »War es schlimm?« wollte Nathan wissen. Mary grinste schief. »Nicht schlimmer als die Karren auf Makassar.« Plötzlich war es mit ihrer Selbstbeherrschung vorbei. Sie kam auf ihn zu, und Nathan öffnete die Arme, um sie festzuhalten. Broyd räusperte sich. »Eure Exzellenz, darf ich Ihnen Colonel Nathan MacKinnie vorstellen. Colonel, Oberkommissar Sir Alexei Ackoff.« »Zu Diensten«, erwiderte MacKinnie mechanisch. »Kaum«, entgegnete Ackoff. »Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie viele Stunden Arbeit Sie beide uns gekostet haben? Nein, sicher nicht. Nehmen Sie doch Platz, Freelady, Colonel. Wir haben eine ganze Menge zu bereden.« Er führte sie zu den bequemen Sofas, die in einer Ecke des Büros standen. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Das hier ist eine ziemlich zwanglose Zusammenkunft. »Zwanglos, aber trotzdem offiziell«, warnte Boyd. »Colonel, Sie und Freelady Graham stehen unter der Anklage, sich in die planmäßige Entwicklung einer primitiven Welt eingemischt zu haben, und zwar handelt es sich dabei um Makassar, wie Sie sich wohl denken können.« »Aber wir haben uns doch in nichts eingemischt«, protestierte Mary. Ackoff winkte ungeduldig ab. »Seien Sie nicht so voreilig. Eine Einmischung findet immer statt, wenn sich 474
weiterentwickelte Menschen unter Primitiven bewegen.« »Ich verstehe«, erwiderte MacKinnie. »Sie waren verärgert über unser Schiff und haben beschlossen, uns dafür bezahlen zu lassen.« »Pronomina«, wandte Dudly Boyd ein. »Wie bitte?« »Falsche Pronomina«, wiederholte Boyd. »Sie sagten ›Sie‹ und meinten damit uns, und das trifft nicht zu. Sie sind auf den Befehl der Marine hin verhaftet worden, nicht auf unseren.« »Makassar fällt unter die Gerichtsbarkeit der Marine«, erklärte Ackoff. »Es gibt dort keine Zivilverwaltung. Captain Greenaugh handelt völlig rechtmäßig, und es liegt in seinem Ermessensbereich, Sie vor Gericht zu stellen. Sie würden dann das Recht haben, sich an eine Zivilbehörde zu richten, das bedeutet, an mich. Wir versuchen, Ihnen das zu ersparen, indem wir direkt mit Ihnen sprechen.« »Aber was haben wir getan?« drängte Mary. »Captain Greenaugh ist noch dabei, den Fall aufzubauen«, antwortete Ackoff. Aber soweit ich es sehe, läuft das Ganze auf die Anklage ›Kummets‹ hinaus.« »Kummets?« MacKinnie runzelte die Stirn. »Pferdegeschirre? Ich hätte nicht gedacht, daß sich das Imperium mit Bagatellen befaßt.« Ackoff lachte. »Bagatellen? Colonel, das Kummet hat auf der Erde in den Tagen vor der Entdeckung des Atoms die Sklaverei beendet. Ich sehe schon, Sie verstehen nicht. »Betrachten Sie das Ganze einmal folgendermaßen: 475
Wenn Sie einem Pferd ein Geschirr anlegen, das aus einem Strick um den Hals besteht, dann kann das arme Tier nicht sehr fest ziehen, denn wenn es zieht, stranguliert es sich. Falsch eingespannte Tiere schaffen ungefähr fünfmal soviel wie ein Mensch. Aber ein Pferd ißt auch fünfmal soviel wie ein Mensch. Wenn Sie dann die Wahl zwischen einem Pferd und einem Sklaven hätten, wofür würden Sie sich dann wohl entscheiden? »Wenn Sie ihm aber einen starren Kragen anlegen, so daß das Gewicht auf die Schultern geht, dann schafft das Pferd zehnmal soviel wie ein Mensch, und ißt immer noch fünfmal soviel. In diesem Fall sind Pferde für schwere Arbeit dem Menschen eindeutig vorzuziehen. Vor der Einführung des Kummets, oder meinetwegen des Halskragens, gab es auf der Erde genau so viele Sklaven wie freie Menschen. Danach wurde die Sklaverei selten, und man machte nur noch die Menschen zu Sklaven, die man für minderwertig hielt. Und ich muß feststellen, daß ich wieder viel zu lange rede. »Also, das Ganze sieht so aus: Aus den Berichten – aus Ihren eigenen, übrigens – weiß ich, daß Sie starre Kragen eingeführt haben. Wahrscheinlich werden auch eine ganze Reihe anderer scheinbar unbedeutender Neuerungen grundlegende Veränderungen nach sich ziehen. Privat bin ich der Meinung, daß Sie den Bewohnern von Makassar viel eher geholfen als geschadet haben, doch wenn wir Sie wirklich anklagen wollen, besitzen wir ausreichend Beweise für Ihre Schuld.« »Und Sie können nicht sagen, daß Sie nicht gewarnt 476
worden sind«, warf Boyd ein. »Captain Greenaugh ist in diesem Punkt unerbittlich. Er selbst hat Sie nämlich gewarnt.« »Aber –« versuchte Mary zu protestieren. Nathan schüttelte den Kopf. »Sie sind offensichtlich noch nicht fertig, Mary. Hören wir Sie zuerst bis zu Ende an.« »Eine gute Einstellung«, lobte Ackoff. »Sie wissen sehr wenig über die Politik des Imperiums, Colonel. Das weiß ich mit Sicherheit, denn es trifft für jeden auf diesem Planeten zu. Natürlich wird sich das mit der Zeit ändern. Wenn Prinz Samuals Welt erst ein anerkanntes Mitglied ist, wird es hier Handel und Verkehr geben. Und Intrigen. Ich bezweifle, daß König David oder Lord Dougal auch nur die leiseste Ahnung davon haben, was auf sie zukommen wird oder wie schwierig es für sie sein wird, den Planeten unter Kontrolle zu behalten, wenn erst neue Technologien ungeschränkt ins Land hineinfließen. »Haben Sie einen Platz in diesem Kampf?« »Kaum«, verneinte MacKinnie. »Ich habe selbst schon daran gedacht. Auch daran, daß Dougal uns –« Er nahm Marys Hand. »Daß Dougal uns möglicherweise als Bedrohung sehen könnte.« »Wie klug«, nickte Ackoff. »Übrigens ist die Situation noch wesentlich komplizierter, als ich sie gerade beschrieben habe.« Er deutete nach oben, aus dem gebogenen Fenster über seinem Schreibtisch hinaus. »Da draußen im Trans-Coalsack-Sektor sind Fremde entdeckt worden. Die Flotte ist dorthin beordert worden, und es wird nicht lange 477
dauern, bis sich auch Spartas Aufmerksamkeit darauf richten wird. Für Samual bleibt da nicht mehr viel übrig. Meine Leute werden hierbleiben, und wir werden auch unsere Leute vom Nachrichtendienst nach Prinz Samuals Welt holen, aber trotzdem wird dieser Planet für die nächste Zeit nur eine unbedeutende Provinzwelt bleiben. Sie haben König David zu einem gewissen Maß an Unabhängigkeit geholfen, und er wird die Konsequenzen zu tragen haben.« »Ich verstehe immer noch nicht, was wir damit zu tun haben«, wandte MacKinnie ein. »Überlegen Sie doch mal«, erwiderte Boyd. »Der Eroberungs- und Machtkampf auf diesem Planeten ist gerade erst zu Ende gegangen. Sie beide werden in Kürze die berühmtesten Leute auf Prinz Samuals Welt sein. Unter diesen Umständen wird es sich kaum vermeiden lassen, daß Sie in die Politik hineingezogen werden.« »Politik liegt mir nicht«, widersprach Nathan. »Aber es ist sehr verlockend«, meinte Mary. »Wir könnten –« »Um ehrlich zu sein«, unterbrach sie Boyd, »entweder Sie arbeiten mit Dougal zusammen, oder man wird Sie töten; und es wird sehr schwierig sein, in Dougals Pläne zu passen. Ich möchte nur, daß Sie eins wissen: Wir haben keine Möglichkeit, Sie zu beschützen, selbst wenn wir es wollten. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe, aber an Ihrer Stelle würde ich mir ein paar weniger verlockende Alternativen überlegen.« »Wir könnten es aber auch nicht dulden, daß Sie zu 478
Ihrem Schutz eine Armee aus Ihren früheren Leuten zusammenstellten«, ergänzte Ackoff. »Wir werden keinen Bürgerkrieg auf diesem Planeten dulden.« »Sie wollen doch auf etwas hinaus«, konterte MacKinnie. »Also, ich höre.« Ackoff nickte. »Sie sind bewundernswert direkt. Aber schließlich sind Sie ja auch Soldat, und kein Diplomat. Es gibt noch einen anderen Punkt, den Sie wissen sollten. Captain Greenaugh mag Sie nicht besonders.« Mary Graham lachte. »Das hatten wir auch nicht anders erwartet.« »Die Angelegenheit ist ernst«, belehrte sie Dr. Boyd. »Die Marine ist sehr einflußreich, und Captain Greenaugh besteht auf seiner Forderung, daß jemand bestraft werden muß – und zwar empfindlich bestraft werden muß –, um sein gekränktes Ego zu besänftigen.« »Und dazu sind wir ausgewählt worden«, stellte Mary fest. »So sieht es aus.« »Der Haftbefehl der Marine kann nicht einfach ignoriert werden«, begann Ackoff vorsichtig. »Trotzdem wäre uns lieb, wenn sich eine Verhandlung vermeiden ließe.« »Warum?« fragte MacKinnie. »Weil niemand etwas dabei gewonnen hätte. Ihr König David würde Sie zwar verteidigen, aber ich glaube kaum, daß er es aus innerster Überzeugung tun würde. Er würde uns gewinnen lassen wollen, um so zu beweisen, daß wir 479
Tyrannen sind. Wir dagegen möchten den Prozeß verlieren und so die Gerechtigkeit der imperialen Justiz demonstrieren. Wenn wir der Beschwerde stattgeben, wird Greenaugh darauf bestehen, den Fall auf höherer Ebene vorzutragen. Im großen und ganzen reine Zeitverschwendung, denn es wird keinen Gewinner geben – aber unerfreulich wird es für Sie trotzdem werden. Aber glücklicherweise können wir Ihnen eine Alternative anbieten. Sie können sich schuldig bekennen und das Imperium um Milde bitten.« »Warum sollten wir das tun?« warf Mary ein. »Weil wir dann das Strafmaß bestimmen würden. Und das würde Ihre Verbannung in ein Exil sein.« »Exil?« echote Nathan. »Ja. Auf Makassar.« »Makassar?« wiederholte MacKinnie. »Ich verstehe nicht –« »Es ist im Grunde ganz einfach«, unterbrach ihn Boyd. »Wenn Sie freiwillig nach Makassar ins Exil gehen, wird Greenaugh damit zufrieden sein. Sie haben die Marine lächerlich gemacht, und dafür haben Sie bezahlt. Natürlich hätte Ihre Verbannung weitere positive Nebeneffekte. Sie werden auch als Faktor in der Politik dieser Welt beseitigt werden.« Der stellvertretende Botschafter sah prüfend auf seine Fingerspitzen. »Und das würde uns unsere Aufgabe etwas erleichtern.« »Makassar würde natürlich auch davon profitieren«, fügte Ackoff hinzu. Wenn wir noch nicht einmal einem Planeten wie Prinz Samuals Welt viel Aufmerksamkeit widmen könnten, wie sollten wir uns dann um eine Welt 480
wie Makassar kümmern können? Eine Welt ohne Bedeutung. Aber eine Welt, die von fast einer Million Menschen bewohnt wird, Menschen wie Sie und ich.« »Wollen Sie wirklich, daß wir zurückkehren?« fragte Mary ungläubig. »Genau.« »Die Priester waren sehr beeindruckt von Ihnen«, stellte Ackoff fest. »Und als Bürger einer klassifizierten Welt hätten Sie jetzt das Recht, eine offizielle Stelle innezuhaben. Als, sagen wir, weltlicher Berater des Erzbischofs. Sein Memorandum macht deutlich, daß er Ihre Unterstützung schätzen würde.« »Sie könnten eine Menge Gutes tun«, drängte Boyd. »Vorläufig wird es keinen Gouverneur auf Makassar geben. Jedenfalls nicht mit den wenigen Leuten, die uns zur Verfügung stehen. Aber Makassar wird zwangsläufig in Prinz Samuals Einflußbereich fallen, und irgend jemand muß doch dafür Sorge tragen, daß der IHV diese arme Welt nicht völlig ausräubert, bis sie in der Lage ist, sich selbst zu schützen. Sie könnten unter Umständen ihre Entwicklung beeinflussen.« Mary und Nathan sahen sich erstaunt an. Täuschten sie sich, oder baten diese beiden tatsächlich? »Sie würden sich logischerweise für diese Position anbieten«, sprach Ackoff weiter. »Sie wissen von Makassar genausoviel wie jeder andere im Imperium. Sie hatten sogar Zugang zur alten Bibliothek.« Ackoff lächelte gequält. »Nicht daß ich erwarte, daß Sie es zugeben, aber Ihr Schiff ist doch der beste Beweis dafür, nicht wahr? Und 481
während Sie nicht viel von moderner Technologie wissen, wird Makassar kaum moderne Technologie bekommen. Sie brauchen jemanden, der auch ohne Technologie zurechtkommt.« »Und woher wollen Sie wissen, daß Sie mir trauen können?« »Das ist nicht nötig«, antwortete Boyd. »Was Sie auch tun werden, Sie stellen keine Bedrohung für das Imperium dar.« Er zuckte die Achseln. »Im schlimmsten Fall könnten Sie sich zum König der Barbaren machen. Das Schiff, das Sie nach Makassar bringt, wird den größten Teil der alten Bänder aus der Bibliothek des früheren Imperiums entfernen. Was könnten Sie gegen uns unternehmen? Und Makassar wird es mit Ihnen kaum schlechter gehen als ohne Sie.« »Und wenn ich mich weigere?« fragte Nathan. Ackoff zuckte die Achseln. »Dann müßten wir auf unsere andere Alternative zurückgreifen.« »Ihre Drohung ist überflüssig«, mischte Mary sich ein. »Wir gehen gerne zurück. Nathan wollte Makassar nie verlassen.« MacKinnie nickte zustimmend. »Ich habe noch einige Verpflichtungen, die mich dort erwarten. Aber – Mary, bist du dir sicher?« »Warum solltest du der einzige sein, der gebraucht wird?« wollte sie wissen. »Einen Augenblick lang war ich verrückt genug, anzunehmen, daß ich ein gleichwertiger Partner für Dougal war, weil ich Passagier auf seinem Schiff war, aber das war ein Irrtum. Und außerdem – auch 482
ich bin auf Makassar gebraucht worden, Nathan MacKinnie. Und das nicht nur von dir.« »Wir werden Ihnen Zeit geben, über den Vorschlag nachzudenken«, lenkte Ackoff ein. »Das ist nicht nötig«, lehnte Mary ab. Sie wandte sich an MacKinnie. »Wollen wir, Eure Exzellenz?« Sie versuchte nicht, das Lachen zu unterdrücken. Ackoff nickte. »Wenn Sie sich also einig sind, dann bringen wir es am besten so schnell wie möglich hinter uns. Wir werden Ihnen für den Transport ein Schiff mit geeigneter medizinischer Ausrüstung bereitstellen. Wenn Sie auf Makassar ankommen, dürften Sie wieder völlig in Ordnung sein.« Er räusperte sich. »Eh, ein Kaplan wird auch an Bord sein. Dann darf man wohl gratulieren … Also, das wäre erledigt.« Ackoff lächelte freundlich und begab sich zu seinem Computer. Ein Problem wäre damit gelöst. Andere würden folgen. So würde es immer sein. ENDE
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