Paul Beckmann
Kinderspiel
und Kriegsgeschrei
Ein Roman
Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Paul Beckmann,...
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Paul Beckmann
Kinderspiel
und Kriegsgeschrei
Ein Roman
Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Paul Beckmann, Kinderspiel und Kriegsgeschrei.
Ein Roman.
Vechta-Langförden, Geest-Verlag, 2004
ISBN 3-937844-21-X
Geest-Verlag
Lange Straße 41 a
49377 Vechta-Langförden
Tel. 04447/856580
Fax: 04447/856581
Internet: http://www.Geest-Verlag.de
Das Buch erzählt die Geschichte eines Erwachsenwerdens in Deutschland. Zwischen Kommunionunterricht und HJ-Dienst wachsen die Freunde Peter und Thomas auf. Ihr unschuldiges Kinderspiel beinhaltet fast immer auch das Militaristische. Auch wenn die Eltern keine Freunde des Regimes sind, die Lektüre der Heranwachsenden heimlich auch Remarques ‚Im Westen nichts Neues’ umfasst, ist der Tod und die Vernichtung nicht verdrängbarer Teil ihrer Kindheit. Dem Autoren gelingt es, ein getreues Bild des Lebens von Kindern in diesen Jahren zu zeichnen, so wie es sich überall abgespielt hat. Das Buch versucht damit einen Beitrag zu leisten für jenen Prozess, den der Vater eines der Jungen seinem Sohn eines Tages erklärt: „Wenn alle Frontkämpfer gesagt hätten: Nie wieder Krieg, nie wieder einen Kaiser oder Alleinherrscher. Wenn sie mit Überzeugung zur demokratischen Grundauffassung der Weimarer Republik gestanden und dafür gekämpft hätten.“
Die Toten wohnen im großen Saal der Erinnerungen.
Sie leben, solange wir an sie denken.
Erst wenn das Band der Erinnerungen zerrissen ist,
stehen sie auf und gehen hinaus.
Und niemand weiß wohin.
Rautenberg
„Rautenberg“, eine befehlende Stimme jagte durchs Haus, die Treppe hinauf. „Rautenberg“, drang durch die Tür eines der oberen Zimmer und erreichte das Ohr des Namenträgers. Ich muss, als der auffordernde Befehl aus der Kehle scholl, irgendwo im Haus gewesen sein. Vielleicht stand ich am Treppengeländer gelehnt, unten, in der Mitte oder oben. Vielleicht war ich auch in der Küche. Vielleicht sogar in der Veranda, dem Raum mit den großen Fenstern zum Garten hin. Vielleicht saß ich auch oben im Kinderzimmer, las ein Buch oder baute mit dem Stabilbaukasten. Vielleicht war ich auch gar nicht im Hause, sondern irgendwo draußen im Schnee, der im ersten Kriegswinter 1939 sehr hoch lag, vielleicht auf der Eisrutsche neben dem Haus. Ich habe diesen Ruf regelmäßig gehört oder zu hören gemeint, oftmals gehört, so eindringlich gehört, dass ich den Namen „Rautenberg“ bis heute nicht vergessen habe, auch nicht das Lied, das dazugehörte und das meine älteren Schwestern, 17, 14 und 12 Jahre, spöttischer Weise in Anlehnung an einen alten Schlager sangen: ,Ist er nicht hübsch, ist er nicht nett, ist er nicht schön, der Leutnant Lehmann.’ Ursprünglich handelte der Schlager von einem Fräulein Gerda, aber seitdem der Leutnant bei uns im Quartier lag, wurde die Neufassung gesungen. Natürlich nur, wenn der Besungene außer Haus war. Doch nun stand dieser an der Garderobe und formulierte laut den Namen ,Rautenberg’.
Ich müsste schon einmal in meinen, mir damals geschenkten, Kriegs- und Heldenbüchern nachsehen, wie nach der damaligen Sprachregelung der deutsche Offizier sich laut zu äußern pflegte: Schrie er, brüllte er, befahl oder kommandierte er laut? Jedenfalls wird es diesen Ton, den er bei der Kommunikationsaufnahme aus stieß, auch heute noch geben und sicher auch eine Bezeichnung dafür. Vielleicht war sein Ruf schneidend, durchdringend und mit Befehlskraft versehen. Jedenfalls war der einfache Name ,Rautenberg’ mit so viel appellativem Sprengstoff in den Zielbereich abgefeuert worden, dass dort die Wirkung eine ungeheure gewesen sein musste, denn nun begann es oben zu poltern, als habe eine Granate eingeschlagen. Eine Tür schlug krachend zu, etwas hastete auf dem roten Sisalteppich heran, polterte dann – wie ,Lützows wilde verwegene Jagd’, dachte ich, mit der ich mich abends zusammen mit anderen vaterländischen Liedern immer in den Schlaf sang – mit den eisenbeschlagenen Knobelbechern die mit einem Läufer nur schwach lautgebremste Holztreppe herunter. Er rutschte unten auf dem glatten Terrazzoboden des Flurs heran, stand stramm und antwortete gleichzeitig: „Zu Befehl, Herr Leutnant.“ Er ergriff, ohne einen weiteren Befehl abzuwarten, den Leutnantsmantel und half seinem Besitzer hinein. Er reichte ihm Koppel, Mütze und Handschuhe, zupfte am rückwärtigen Mantel noch etwas gerade, stand stramm und grüßte erneut, während der Herr Leutnant, nach einem kurzen Blick in den Spiegel, mit festem Schritt durch den Flur, die Schwingtür und die Haustür nach draußen marschierte. Rautenberg atmete tief durch. Was für ein Ritual! Es erinnerte mich an gewisse Zeremonien beim Hochamt in der Kirche, wenn die Messdiener um den Geistlichen herumwuselten, ihm Gewänder umhängten oder
ihm sakrale Gegenstände andienten, mit genau einstudierten Kniefällen und Verbeugungen. Bestimmt habe ich einmal an seinem Weg gestanden, vielleicht unten am Treppenabsatz. Ob er mir wohl mit der Hand durchs Haar gefahren ist? Schließlich war ich ein Junge, der genau Führers Idealen entsprach: blond, blauäugig, rank und schlank wie ein Windhund, wenn mich auch eine bequeme pludrige Trainingshose und eine entsprechende Jacke ziemlich aufbeulten. Hart wie Krupp stahl war ich wohl nicht und hatte Angst vorm Dunklen, deshalb meine Einschlafgesänge. Doch vor ,Lützows wilder verwegener Jagd’ verkrochen sich die Nachtgespenster. Klar, ich bewunderte ihn, diesen Leutnant. Er entsprach genau den Bildern aus meinen Kriegsbüchern: Das kantige Gesicht, die hohe Stirn, die hellen Augen unter dem Stahlhelm, siegessicher dem Feind entgegenblickend. Ich bewunderte ihn, weil er mit gezogener Pistole an der Spitze seiner Kompanie die polnischen Stellungen erobert hatte und das in knapp 18 Tagen! Mein Gott, wie lange hatten Hindenburg und Vater gebraucht, damals 1914, um die Russen aus Russisch-Polen zu vertreiben. Einmal war er beim Hinausmarschieren über meinen kleinen Schlitten gestolpert, den ich vor den Stufen unserer Haustür abgestellt hatte, und dabei lang in den Schnee gefallen. Ich bekam natürlich mächtig Schimpfe von meinen Eltern, wie ich nur den Schlitten dort abstellen könnte, aber bislang war noch niemand darüber gestolpert, nicht ein einziger Patient, der aus Vaters Praxis kam. Rautenberg hatte eine Menge Schnee abzuklopfen und Falten am Mantel geradezuziehen gehabt. Nachher drückte er mir ein kleines Stück Schokolade in die Hand. Das versöhnte mich immerhin mit der mir widerfahrenen Ungerechtigkeit. Nur wusste ich nie recht, warum Rautenberg mir seitdem immer so zuzwinkerte, wenn
wir uns sahen. Natürlich bewunderte ich den Leutnant, wie er Schritt für Schritt deutschen Boden zurückerwarb. So jedenfalls stand es in meinem Buch ,Infanteriesturm durch Polen’. Leider wurde der Leutnant aus dem Buch kurz vor Schluss der Aktion noch von einer Handgranate tödlich verletzt. Seine letzten Worte waren, als sein Unteroffizier ihn verbinden wollte: „Mit mir ist es doch aus. Greift weiter an!“ Ein letzter dankbarer Blick und seine Augen brachen. Wuterfüllt über den Tod ihres Leutnants eroberte die Kompanie die Barrikade – ob mit weiteren Verlusten wurde nicht mitgeteilt – und machte den Weg frei nach Lodz. ,Lodz – heute Litzmannstadt im deutschen Warthegau’ stand als Fußnote darunter. Vater erzählte häufig von Litzmann. Das musste ein tollkühner General gewesen sein. Für mich war das eine traurige Geschichte. Ich erfuhr, dass ein Leutnant immer dann fällt, wenn der Angriff zu Ende ist oder fast. Zuerst fällt der einfache Soldat, dann der Unteroffizier und erst am Schluss darf der Offizier sterben, wobei er noch Gelegenheit erhält, letzte wegweisende Worte zu sprechen. Ein Sieg war kein Selbstläufer, da musste man schon Opfer bringen. In einsamen Minuten eines Zimmer- oder Dachbodenwinkels, in Lauerstellungen im Gebüsch, beim Einschlafen im Bett oder bei längeren Sitzungen auf dem Klo erfand ich unzählige Sterbeszenen als krönende Abschlüsse großer Heldentaten. Es waren erhebende Augenblicke, die mir teilweise selber die Tränen in die Augen trieben. Einmal ließ ich meinen Leutnant sterben, nachdem dieser mit einem Stoßtrupp im Handstreich Paris erobert hatte. Mir flossen nur so die Tränen, so dass meine Schwester, die unvermutet vor der Gartenbank auftauchte, schon ins Haus rennen und familiären Beistand holen wollte. Ich konnte sie mit Mühe davon abhalten, indem ich ihr zu erklären versuchte,
dass ich barfuß, wie ich nun einmal war, gegen den Fuß der Gartenbank gestoßen sei. Hart wie Krupp stahl war ich ja nicht. Der Totenkult lag im Trend, wie man heutzutage sagen würde. Eindrucksvoll, diese Totenfeiern an bestimmten Gedenktagen. Sie wurden im Radio übertragen und wenn das Deutschlandlied und das Horst Wessel-Lied erklangen, dann lief es mir ganz gruselig den Rücken herunter. Am nächsten Tag suchte ich in der Zeitung nach Bildern dieser Gedenkveranstaltung. So gefeiert zu werden, das war schon was! Dafür lohnte es sich zu sterben. Der Marsch auf die Feldherrnhalle am 11. November. Damals war Hitler auf dieses Bauwerk zumarschiert und die Polizei hatte auf die Marschierenden geschossen, wobei einige ums Leben kamen. Warum der damalige Hitler das gemacht hatte, hat uns niemand zu erklären versucht. Architektonische Gründe schienen es jedenfalls nicht gewesen zu sein. Wichtig war wohl nur, dass einige dabei gefallen waren und nun den Anlass zu dieser Feier bildeten. Die hatten bis dahin eigentlich nichts geleistet, waren nur marschiert und urplötzlich verehrte man sie als Helden. Auch in den Soldatenliedern wurde ständig auf den Tod verwiesen, ob es sich nun um das Englandlied oder um das Mädchen Monika handelte. Die Toten schliefen fest im Meer oder in der Erde, aber das Leben darüber ging unbeirrt weiter. Dies stand immer in der letzten Strophe und die pflegte ich mit besonderer Hingabe zu singen. Vielleicht habe ich manche Heldentaten nur erfunden, um hinterher eine noch schönere Sterbe- und Totenehrungsstunde inszenieren zu können. Doch momentan lebte mein Leutnant ja noch. Er hatte diese Heldentaten in Polen vollbracht, ohne schon sein Leben dafür opfern zu müssen. Ich nahm mir vor, ihn für meinen quergestellten Schlitten um Verzeihung zu bitten.
Wer solche hehren Ziele vor Augen hat, die Erstürmung einer Barrikade, die Eroberung des Kemmelberges, des Toten Mann, von Lodz, Warschau, Paris oder der ganzen Welt, der kann nicht dauernd mit seinen Augen die Erde nach kleinlichen Hindernissen absuchen. Ja, das war der Leutnant, wie er in meinen Kriegsbüchern stand, allerdings lebend. Was mich jedoch befremdete, war, dass er wegen jeder Kleinigkeit, z. B. wegen des Mantelanziehens, seinen Burschen herbeizitierte. Und das auch sehr lautstark, als wenn er den Befehl zum Angriff gäbe. Einer, der für Führer, Volk und Vaterland den Angriff befahl, wobei er das eigene Leben und das anderer höchster Gefahr aussetzte, wie konnte der seine Befehlsgewalt für läppische Dienstleistungen missbrauchen? Keinem Heiligen der katholischen Kirche – so lehrte man uns – wäre es eingefallen, die eigene Wunderkraft für die Erfüllung niedriger körperlicher Bedürfnisse einzusetzen. So hatten sich die Leutnants meiner Bücher nie verhalten. Sie waren eisern und bei Ausübung ihrer hohen Aufgaben unnahbar, sonst aber menschlich, hilfsbereit und verständnisvoll, auch dem einfachsten Soldaten gegenüber. Selbst Vater hatte nach beiden Weltkriegen noch jahrelang freundschaftliche Beziehungen zu seinen ehemaligen Burschen. In dieser Hinsicht war Kritik an meinem Leutnant angebracht. Hier konnte man von einer Unverhältnismäßigkeit der Mittel sprechen, wenngleich es diesen Ausdruck noch nicht gab. Meine älteste und sehr hübsche Schwester hatte doch tatsächlich einmal die Dienste des, durch den Leutnant herbeibefohlenen, Burschen abgelehnt. Sie sei alt genug, sich den Mantel allein anziehen zu können. Warum hat der Leutnant nicht selbst meiner Schwester in den Mantel geholfen? Stand die Uniform dem Höflichkeitskodex im Weg? Welche Beleidigung für meine Schwester! Ein Subalterner
führt eine Dienstleistung aus, die eigentlich von dem – ich muss es zugeben – umschwärmten Idol erwartet wurde. Jedenfalls war das eine im Hause immer wieder erzählte Szene. Auch in den Bekanntschaftskreisen, wo man die provokante Antwort meiner Schwester stets lobend kommentierte – was immer man sich über meinen Leutnant erzählte, es ging um seinen charakteristischen Befehlsschrei nach Rautenberg. Wir haben ihn wohl mehrmals am Tag vernommen, doch wir gewöhnten uns daran, wie man auf einem Bauernhof das Krähen eines Hahns hört oder auch schon nicht mehr, denn Gewöhnung macht taub. Erst als mein Leutnant mit seiner Kompanie siegessicher nach Frankreich zog, fiel uns das Fehlen militärischer Daseinsbekundungen auf. Aber dafür bliesen uns liszt’sche Fanfaren fast tägliche Sondermeldungen ins Haus – auch mit entsprechendem Gewöhnungseffekt Die Hellhörigkeit setzte bei den meisten erst sehr viel später ein. Was mag sich Agnes, unser Hausmädchen, in der Küche gedacht haben, wenn sie den Rautenberg-Schrei hörte? Vielleicht dachte sie an ihren Vater, der im 1. Weltkrieg Sergeant und also auch befehlshaftig war. Ich stritt mich immer mit ihr, ob es nun Serschant oder S/e/r/g/e/a/n/t heiße. Letzteres behauptete ich als buchstabengetreuer Leser. Doch mit der Zeit lernte ich, dass zwischen der Aussprache eines Wortes und seinem Buchstabenkleid ein Unterschied bestehen konnte, besonders bei ausländischen Namen und die kamen ja jetzt bei Vergrößerung des Kriegsschauplatzes in Mengen auf mich zu. Auf die Rangbezeichnung ,Sergeant’ stieß ich häufig bei meiner Lektüre eines dicken Buches, das Soldatenbriefe und viele Bilder aus dem 1. Weltkrieg enthielt. Ja, diese Kriegsberichte und Kriegsbilder begeisterten mich, besonders das dreibändige Werk ,Der Krieg 14-18 in Wort und Bild’ mit großformatigen Bildern und Zeichnungen. Als es mir
nach 50 Jahren wieder in die Hände geriet, konnte ich beim Durchblättern noch genau angeben, was auf der nächsten Seite für eine Abbildung folgte. Heutzutage hätte ich als Kind wahrscheinlich Comics gelesen, doch die gab es damals noch nicht. Also habe ich meinen Bild- und Lesehunger zum Teil mit Kriegsbüchern stillen müssen. Da war mehr Action als in den Andachtsbildern des dicken katholischen Standardwerks ,Helden und Heilige’. Sicher, dort fand auch mal eine interessante Hinrichtung statt, wurden grausame Folterungen oder Selbstgeißelungen beschrieben und gezeigt und umkreisten wilde, hungrige Löwen im Circus Maximus vorbestimmte Märtyrer. Das Erscheinen des Fingers Gottes oder des Heiligen Geistes in Form einer Taube mit Palmzweig im Schnabel, am oberen Bildrand, verwandelte die Szene sofort in ein Andachtsbild ohne Realitätsbezug. Zwar stand auf den Koppeln meiner Soldaten auch ,Gott mit uns’, aber das demonstrative Erscheinen göttlicher Mächte auf den frommen Gruselbildern löste keine begeisterte oder mitfühlende Reaktion aus. Dagegen die Kriegsbücher! Großartig, die Trümmer, die Ruinen, die zerfetzten Landschaften, das ganze chaotische Umfeld der kämpfenden Soldaten. Genauso realistisch wie die Trümmerfelder der Städte nach dem 2. Weltkrieg. Diese Ruinen in Frankreich, alle bestätigt von Vaters eigenen Fotografien. Ich besitze noch heute die Glasnegative. Trümmer müssen ihn fasziniert haben. Die zerstörerische Wirkung der modernen Waffen, das war wohl neu. 1870/71 blieb ja noch vieles heil für die Träumereien an französischen Kaminen. Vater hatte sich immer für technische Neuerungen interessiert und nun stand er am Operationstisch vor zerstörten Menschen, inmitten von Trümmern. Was hast du dir nur dabei gedacht, Vater, damals?
Was mich besonders befriedigte: Immer waren wir Sieger. Errungen durch eigene Tapferkeit, nicht durch den Finger Gottes. Doch nicht minder interessant waren die Nebenerscheinungen der Schlachten: die Beute, die Toten, die Verwundeten und Gefangenen. ,Gott sei Dank!’ war immer die Gegenseite im Minus an Überlebenden. Damals habe ich, wenn das Bild detailliert genug war, die Toten und Verwundeten auf beiden Seiten gezählt und auch schon mal die Linie eines Gewehrlaufs verlängert, um festzustellen, ob der Schuss wohl treffen könnte. Natürlich trafen die Deutschen immer. Bei den Feinden zog ich diese Linie nicht ganz so genau, besonders wenn sie auf Offiziere zielten. Was das Töten anging, so hatte der Zeichner stets die Wirklichkeit den ästhetischen Gesetzen untergeordnet. Selbst bei einem Bajonettangriff verharrte die Waffe blinkend und funkelnd vor dem Körper des Gegners, der meist gerade noch rechtzeitig die Hände zur Ergebung in die Höhe streckte. Die Toten lagen immer still und malerisch herum und nicht so unmenschlich verstümmelt, z. B. durch Panzerketten, wie auf den Bildern der Nachkriegszeit (ich meine des 2. Weltkriegs), die sie uns zur Abschreckung zeigten. Wenn ein deutscher Soldat einmal fiel, so tat er es mit ausgebreiteten Armen oder mit der üblichen ,Hand-aufs-Herz-Gestik’, wenn die unsichtbare, tödliche Kugel ihn ins Herz getroffen hatte. Natürlich nur ins Herz. Schrecklich, wie Remarque die Bajonettangriffe ausgemalt hatte und überhaupt, war das der deutsche Soldat? Ich legte das Buch zunächst wieder dahin, wo ich es gefunden hatte, in den hintersten Winkel des Dachbodens, bis Thomas kam. In diesem Winkel lag auch das Buch ,Krieg’ von Ludwig Renn. Fasziniert hatte mich darin die Stelle, wo der Ich-Erzähler bei währendem Angriff und großer Notdurft einfach in seine Hose macht. Das gab mir tiefe Befriedigung. Es hatte mich nämlich schon immer interessiert, wo denn Soldaten im Felde konkret
ihr Geschäft verrichten, z. B. bei Sturmangriffen. Schließlich – ich liebte das stille Örtchen, wo ich bequem, mit Lektüre versehen und meinen Gedanken nachsinnend, ungestört sitzen konnte. In dieser Hinsicht fand ich die Kriegsberichte und Bilder nicht wirklichkeitsgetreu. Ein Soldat musste nicht nur essen, was ich auch gerne tat, er musste auch müssen. Bei hunderttausend Mann auf dem Schlachtfeld sollte man bei der Darstellung des kriegerischen Handwerks die menschlichen Ausscheidungsbedürfnisse nicht unterschlagen. Dieser Erfahrungsbereich war doch auch schon Kindern geläufig und man hätte ihnen die Beschreibung der Notdurftbefriedigung bei der Schilderung des Kriegslebens durchaus zumuten dürfen. Das war genau der Punkt, wo die Berichte nicht meinen Erfahrungen entsprachen, denn bei eigenen abenteuerlichen Feldzügen zog es mich sofort nach Hause zurück, wenn sich ein großer Ausscheidungsprozess ankündigte. Ein solcher Rückzug war den Soldaten natürlich nicht gestattet. Deshalb hegte ich anerkennende Bewunderung für Ludwig Renn, weil er diese natürliche Regung in seine Schilderungen mit einbezog und mir die diversen Verrichtungstechniken mitteilte. Leider habe ich das Buch an einen Lese- und Spielkameraden verliehen und seine Familie machte damals, in den papierknappen Zeiten, Klopapier daraus. Kommen wir auf die Küche zurück, in der Agnes, unser Hausmädchen, für unser leibliches Wohl schaltete und waltete. Ihr Vater stand, als Meister, in der Schmiede ein paar Häuser weiter. Oft habe ich vor der Schmiede gestanden und zugeschaut, wie die Pferde beschlagen wurden, aus sicherer Entfernung zugeschaut und dass ich nur keinem im Wege stand. Mich schreckte das Laute, Schrille, Kantige, Eisenhafte. Und überall der Schmutz, der Ruß und das Öl, auch die verschmierten, schweißüberströmten Gesichter, die durch das
Rot der Lippen und das Weiß der Augäpfel zu Dämonenmasken wurden. Ich kannte sie während der Arbeit gar nicht wieder, die Gesellen und Lehrlinge, die nach Feierabend, gewaschen und sauber angezogen, vor dem Haus standen und häufig noch mit mir Fußball spielten. Die unruhigen, stampfenden Pferde, die sich drehten und nach hinten auskeilten, machten mir auch Angst. Ich hielt mich auf Distanz, bis da, wo das Herz ruhiger schlug und das hässliche und laute Detail verschwand, bis die Szene jenem Bild von der Dorfschmiede glich, die im Lesebuch stand. Klar, sauber und mit idealen Substantiven beschreibbar. So ähnlich gestaltet war auch der Linolschnitt auf der Feldpostkarte ,Hitler als Schmied der Nation’. Der hatte mit der einen Hand das Eisenstück ,Deutschland’ fest in der Zange und in der erhobenen anderen den schweren Hammer, der gleich zum letzten Mal auf das Werkstück niedersausen würde. Er trug eine gewaltige Lederschürze, die von Macht und Kraft kündete, aber sie wirkte noch ganz adrett ohne hässliche Brandflecken und Rußspuren. Die Hände und Arme waren sehnig, kräftig und angespannt, nicht so verdreckt, verhornt, verbrannt und verstümmelt wie bei meinem Schmiedemeister. Aber dafür konnte dieser das glühende Eisen fast mit bloßer Hand aus dem Feuer holen. Wie oft habe ich diese Hand betrachtet, sonntags, wenn ich mit Agnes zu ihren Eltern ging, wo es Kuchen, selbstgebackenes Brot und Geschichten vom Krieg gab. War das noch eine Hand? Eine Schuppen- und Hornhand, je ein Finger fehlte, verkrümmt die Handfläche und nach innen gebogen, die Klaue eines Bären, aber auch mit einer Bärenkraft. Mein Schmiedemeister konnte doch tatsächlich noch Hufeisen verbiegen. Seine Hände machten mir die Geschichte vom hünenhaften Siegfried verständlich. Eine solche Hornhaut vermochte kein Speer zu durchschlagen. Ich
konnte es selbst nicht begreifen, warum ich jedes Mal wieder diese Hände ansehen, anfühlen, auch streicheln wollte, doch da ging wohl nichts mehr durch. Mir selbst liefen Schauder über den Rücken, wenn ich sie berührte. Wie hässlich konnte Leben werden! Sie waren doch früher genauso gewesen wie meine Hände. So sollten meine nie werden, so sollten sie nie werden. Was richtete die Hände so zu? Wer zwang sie eigentlich, das zu ergreifen, was sie hässlich machte? Drei Jahre später kam ein Bekannter unserer Mädchen aus dem Lazarett zu uns zu Besuch. Mit ihm hatte ich früher immer viel Spaß gehabt und er fragte stets nach dem kleinen Peter, sollte ich nicht selbst sofort aufgetaucht sein. Ihm fehlten die rechte Hand und der rechte Unterarm. Ich habe mich den ganzen Nachmittag bis zu seiner Abreise nicht mehr blicken lassen und saß unauffindbar zwischen den Holzstämmen der nahen Sägerei. Was dachten eigentlich, wenn der Ruf nach Rautenberg erscholl, meine Schwestern und ihre Freundinnen, die im Spielzimmer oder Wohnzimmer saßen? Wahrscheinlich haben sie gekichert und eine bezeichnende Geste zum Kopf gemacht. Oder waren sie doch heimlich fasziniert? Denn schließlich waren sie Hitlers Jungmädel, der Sieg der deutschen Waffen gegen Polen war überwältigend gewesen und sie wussten, wer befahl, hatte auch solche, die gehorchten. Gehorsam war eine Haupttugend in den Herrschaftssystemen, ob sie nun braun oder schwarz waren. Was dachte meine Mutter, die eigentlich immer zu Hause war und nur selten und dann am Abend mit Vater ausging, soweit man in unserem Dorf überhaupt von gesellschaftlichen Großereignissen sprechen konnte. Mutter war wohl mehr aus praktischen Gründen nicht ganz einverstanden mit Rautenbergs Husarenritt abwärts, denn viel Durchsetzungsvermögen hatten unsere Teppiche auf dem oberen Flur und der Treppe nicht mehr gegen die
eisenbeschlagenen Stiefel. Aber der herrische Befehl kündete von Macht, löste den Schauder des Überwältigtseins aus, riet zur Hingabe, unbewusst, höchste Lust, der Zauber der Montur, Bewunderung, ohne diese keine Hingabe. Frauen mit emporgereckten Händen, Blumen darin, der aufwärtsgerichtete bewundernde Blick: Soldaten ziehen ins Feld, kehren als Sieger heim. Ach, verdammt, das sind wieder diese Bilder aus den Büchern. Natürlich können keine jubelnden Männer am Straßenrand stehen, die marschieren ja. Frauen um Hitler, sie himmeln ihn an, das kleine Hütchen auf dem Kopf, den Feldblumenstrauß in der linken Hand, die rechte zum deutschen Gruß erhoben: da blieb nicht viel für Reflexion und Fäuste ballen. Die alte Bewunderung für die Macht. Da hätte sich Zeus nicht eigens in einen Stier verwandeln müssen, um Europa zu verführen. Ein krähender Hahn hätte es auch getan. Mein ältester Bruder, was dachte der? Vorgezogenes Abitur, erstes Semester Medizin. Er war ja eine höhere Charge in der dörflichen Hitlerjugend gewesen, ein bisschen weniger nordisch als ich, weil Brillenträger. Auf den Fotos, die ihn als Pimpf in einem Zeltlager zeigten, machte er einen eher verdrossenen Eindruck. Da hätte ich natürlich ganz anders gewirkt, die blonde, strahlende Frohnatur. Obwohl ich mir beim Betrachten dieser Fotos jedes Mal vornahm, niemals solchen Zeltveranstaltungen beizuwohnen. Ich war ein glühender Verehrer der Soldaten und des Militärischen überhaupt, aber marschieren und Massenkameradschaft mochte ich nicht. Leider gehörten diese zeremoniellen Gepflogenheiten zum Hauptprogramm des Jungvolks, dem ich später, mit zehn Jahren, beitreten musste. Woher kam bei aller Bewunderung für das militärische Schauspiel meine tiefe Abneigung gegen Zeltlager, Marschieren und Geländespiele, obwohl ich doch anerkannterweise der findigste Spielkamerad, Spurenleser und
Kundschafter war? Old Shatterhand und Winnetou in Reih und Glied? Warum waren Karl May-Bücher nur noch unter der Hand zu bekommen? ,Gott sei Dank!’ hatte mein Bruder diese noch aus der Weimarer Republik herübergerettet. Meine heiß verehrten Fliegerhelden, z. B. Mölders, Galland und Baumbach, mussten die denn auch marschieren? Wobei ich gerne verschweigen möchte, dass mir auf einem fünf Meter hohen Ast schon schwindlig wurde. Und doch träumte ich wilde Träume, wie ich als siegreicher Jagdflieger, nach 250 Abschüssen und dekoriert mit dem Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten – bei längerer Kriegsdauer natürlich mit einem weiteren Orden – um jubelt in mein Heimatdorf zurückkehrte. Am besten am Vormittag, denn dann war Müllers Karl, der Ortsgruppenleiter, gerade beim Briefaustragen und konnte infolgedessen am jubelnden Empfang nicht teilnehmen. Denn ich – als Junge und als Fliegerheld – hatte etwas gegen diese braunen Uniformen, die so gar nicht zum Feldgrau der Soldaten passten, wie mein Vater meinte. Hitlers Kleiderträger hätten bei uns sicher mehr Zustimmung erhalten, wenn er sie in eine dem Volksgeschmack farblich zusagende Tracht gewandet hätte. Doch das helle Gelbbraun war weder eine Farbe noch hatte es Tradition. So war es kein Wunder, dass der realistische Farbsinn des Volkes diese Tönung als kackgelb bezeichnete. Ich liebte es, solche Träume im Liegestuhl und apfelessenderweise zu träumen, wobei ich gleichzeitig mächtiges Unbehagen verspürte vor den in den weiteren Kriegsjahren über uns hinwegdröhnenden Bomberströmen. In der damaligen Zeit waren Taten gefordert, nicht Fantasie und irgendwie stehen sich beide nun mal im Wege. Deshalb bin ich kein Held geworden, nirgendwo, auf keiner Stufe des Daseins. Das große Gemeinschaftserlebnis, das meist durch Reih und Glied gefördert wird, erlebte ich nie, weil Träume
niemals rechtwinklig sind. Selbst im Sport – wo ich doch eine mittelgroße Kanone war – konnte ich mich nicht zum Helden entwickeln. Von einem Gausportfest, wohin man mich befohlen hatte, riss ich nach dem Vorkampf aus, weil mir alles zu laut, zu massenhaft und zu reglementiert war. Deshalb bin ich auch nie über den kurzen Sprint beim Kriegen- oder Fußballspielen hinausgekommen. An einer Linie entlang zu laufen war nicht mein Fall. Auch der wöchentliche, nachmittägliche Religionsunterricht bei einer Ordensschwester bot allen Grund zum Schwänzen. Sollte man das einfach unterbrechen und mit sauberen Knien, gekämmten Haaren und relativ sauberen Händen in das katholische Jugendheim trotten: nämlich das Spiel auf den Holzstämmen der Sägerei, das Drachensteigenlassen auf den Stoppelfeldern, den Bau von regensicheren Unterschlüpfen und Festungen inmitten von Oldtimer-Wracks, die Konstruktion einer Vorderachslenkung mit dem Stabilbaukasten, die Verfolgungsjagden und den Hinterhalt zwischen den Feldern und Büschen eines langgestreckten Walls, das faule Herumliegen und Geschichtenerzählen im Versteck, das Schlittschuhlaufen auf den unendlich weiten zugefrorenen Überschwemmungswiesen und die Wasserschlachten im nahen Fluss während der heißen Sommermonate? Erst als Schwester Klementine in ihrer ganzen gebieterischen Breite bei meiner Mutter erschien und diese in die Verlegenheit brachte, auf die Schnelle glaubhafte Entschuldigungen für das Nichterscheinen ihres Sohnes bei den ach so wichtigen religiösen Unterweisungen zu erfinden, musste ich mich leider häufiger an diese Stätte katholischer Vorprägung begeben. Als ich dann beim ersten Antreten des Jungvolks auf dem Sportplatz fehlte, weil ich wirklich krank war und mit Fieber im Bett lag, erschien auch jemand im Haus. Diesmal war es ein Polizist. Was meinen Bruder nun angeht, so war er als Zivilist
ja noch gut gegen irgendwelche Schikanen des Leutnants geschützt, aber als künftiger Soldat – er kam glücklich, wenn auch mit einem steifen Bein, vom Kriegsschauplatz Leningrad, heute St. Petersburg, zurück – musste er doch eine tiefe Abneigung gegen diese Befehlsgewalt haben. War es nun die Flucht nach vorne oder – wahrscheinlich – die Faszination. Er wollte sich doch tatsächlich als Offiziersanwärter freiwillig melden. Dass er es dann nur zu einem Überlebenden des Krieges, zum Gefreiten, zu einem steifen Bein und zum EK 2, Sturmabzeichen in Silber und Verwundetenabzeichen in Schwarz brachte, verdankte er wohl dem Realitätssinn meiner Mutter, welche die künftigen Zeiten weniger glorreich und den künftigen Umfang ihrer eigenen Leidensund Leistungsfähigkeit richtig einschätzte und ihm dieses Vorhaben strikt verbot. „Wir haben mit Luise“ – das war meine älteste Schwester – „und ihrer schweren Mittelohrentzündung gerade genug ausstehen müssen. Sie ist dem Tod noch so eben von der Schüppe gesprungen und nun will ich deinetwegen nicht auch noch Sorgen haben.“ Roma locuta, causa finita. Alle Macht den Müttern. ,Gott kann nicht überall sein. Deshalb schuf er Mütter’, sagt ein jüdisches Sprichwort. Der schneidende Ruf nach Rautenberg mit dem nachfolgenden Getrappel und Heranrutschen, das Jawoll, Hackenklappen, Marschtritt, Schwingtür auf, Schwingtür zu, machte im Augenblick sowieso jede weitere Diskussion unmöglich. So kehrte mein Bruder denn aus dem Krieg zurück. Das war aber das Äußerste, was mein Bruder zugestand. Als er dann später zwecks Ableistung einer halbjährigen Frontbewährung als Voraussetzung für weiteres Studium’ zum Militär eingezogen wurde, machte Vater ihm einen Vorschlag.
„Ich habe Beziehungen zum Wehrbezirkskommando. Ich könnte dir eine Stelle als Sanitäter auf einem Flugplatz vermitteln.“ Er lehnte ab und sagte hinterher zu meinen Schwestern: „Was Vater geleistet hat, das kann ich auch.“ In welchem Buch hatte er nur diesen Satz gefunden? Was dachte mein Vater in seiner Praxis, wenn der Befehl ,Rautenberg!’ durchs Haus schallte? Vater schien, obwohl er Oberfeldarzt der Reserve war und zwei Weltkriege von Anfang bis Ende als Arzt mitmachte, alles andere als ein Soldat. So schien es. Er war humanistisch gebildet, redete wenig, aber beobachtete genau. Dazu kam der zweifelnde, skeptische und etwas melancholische Grundzug seines Wesens. In dieser totalkatholischen Gegend, in der wir lebten, gehörte er nicht zu den Anhängern kirchentreuen Brauchtums. Er fuhr am Sonntag mit seinem Auto spät von zu Hause weg zur Messe, erreichte während der Opferung den Marktplatz, erklomm bei währender Predigt den Orgelboden, wo er mit ähnlich Gesinnten die neuesten Nachrichten austauschte – solange ich noch nicht zur Schule ging, begleitete ich ihn – und ging dann nach der Wandlung zum Auto zurück. Wenn das ,Ite missa est’ ertönte, hatte er seine Visite im Krankenhaus schon halb beendet. Später, als er alt war und ich mich mit ihm über die neuesten Reformbestrebungen der Kirche unterhielt, stellte sich heraus, dass er von der Lehre der Kirche nur weniges glaubenswert fand. Vielleicht lag es daran, dass er nach seinem Abitur zwei Semester Theologie studiert hatte. Er machte in einer Sternennacht eine große Handbewegung von einem Horizont zum anderen und sagte: „Wenn die Erde mit ihren Menschen eine göttliche Schöpfung ist, dann hätte sie vollkommener sein müssen.“ Was er nie verwunden hat – und das muss ein großer Bruch in seinem Leben gewesen sein – war das Ende des kaiserlichen
Deutschlands. Die Niederlage 1918 und der Kaiser, der Kaiser gefangen. Wer, so wie er, im kaiserlichen Deutschland aufgewachsen war, der konnte mit der Weimarer Republik nicht viel anfangen. Sie verstärkte, seiner Meinung nach, nur noch die Demütigungen durch die Siegermächte nach der bitteren Niederlage. Hitler war auch nur ein notwendiges Übel, eine List der Vernunft, hegelianisch betrachtet, um die alte Größe Deutschlands wiederherzustellen. Aber getilgt hatte die Schmach von Versailles der deutsche Soldat 1940. Ihm gebührte der Ruhm. Rückblende: Erstes Garde-ReserveRegiment, 3. Bataillon, Mobilmachung 1914, ein Festgottesdienst im Lustgarten im Beisein S. M. des Kaisers und Königs und der gesamten Königlichen Familie. Ihre Majestät die Kaiserin überreichte jedem Offizier eine Rose, auch meinem Vater. Er hat die Rose bestimmt in einem transportablen Büchlein aufbewahrt, aber sie ist dann doch bei den vielen Stellungswechseln im Krieg verloren gegangen. Man sagt, es habe während des 2. Weltkriegs im Lazarett immer eine kleine Vase mit einer Rose auf seinem Schreibtisch gestanden. Als im April 1945 der amerikanische Colonel kaugummikauend in das Reservelazarett kam, zur Übergabe aufforderte und das sofortige Verlassen des Büros befahl, da ist die Vase wohl stehen geblieben. Was dachte nun mein Vater, wenn er den Leutnant nach seinem Burschen rufen hörte? Fand er es albern und unangebracht? Er lächelte nur, wenn die Rede darauf kam. Einmal sind sie sich als Uniformträger begegnet, mein Vater und mein Leutnant. Mein Vater, groß, aber sehr korpulent, die Uniformjacke umspannte seinen Bauch, aber an dieser Jacke, da steckte das EK1 aus dem Ersten Weltkrieg. Die Verleihungsurkunde, künstlerisch mit vaterländischen Motiven ausgeschmückt, unterschrieben vom Kaiser, hing eingerahmt im Sprechzimmer. Neben dem EK1 hingen das
Verwundetenabzeichen und andere Ehrenzeichen des Krieges, das EK2 sowieso. Dann der Leutnant, in der Tat rank und schlank, das schlichte Bändchen des EK2 aus dem Polenfeldzug im Knopfloch. Der Leutnant stand stramm, wie ich das nur von dem Burschen gesehen hatte. Ich dachte, jetzt muss mein Vater doch zupacken und ,Hinlegen – Auf, Hinlegen – Auf – brüllen, um ihm die Macht zu zeigen – aber das ist unter Offizieren nicht üblich. Das wusste ich aus meinen Büchern. Mein Vater legte lässig die Hand an die Mütze, sie lächelten sich zu und daneben stand der Oberleutnant der Kompanie, der auch stramm stand. Das war jener Oberleutnant, der so genial Kirschkerne in weit entfernte Gefäße spucken konnte. Beide waren häufig in unser vornehmes Esszimmer geladen worden, in dem nur gesiezte Gäste und das Christkind Platz nehmen durften. Vater hätte gefragt und selber erzählt – wie mein Bruder mir später mitteilte – schließlich war er im 1. Weltkrieg genau dort gewesen, wo auch diese Kompanie gekämpft hatte und beide Offiziere hätten mit Respekt und Bewunderung – das behauptete mein Bruder, der einige Male voller Stolz dabei war – auf Vater gesehen, den Kaiserlichen, wie sie ihn nannten. Jetzt war der Tag, an dem die Kompanien abmarschieren sollten an die holländische Grenze. Der Angriff gegen Frankreich stand bevor. Deshalb hatte Vater die Uniform angezogen, um als standortältester Offizier des Dorfes den Abmarsch der Kompanien auf dem Marktplatz abzunehmen. Deswegen standen die drei sich im Flur gegenüber und lächelten sich zu. Ich hörte, wie mein Vater sagte, als er den beiden die Hände schüttelte: „Auf Ihnen ruht meine ganze Hoffnung.“ Dann fuhren sie mit dem schweren Geländewagen zum Marktplatz. Die Soldaten marschierten bei uns vorbei, allerdings nur eine
Gruppe pferdebespannter Artillerie und zwei Kompanien. Das übrige Kriegsmaterial, samt Pferden und Menschen, war schon vorher in die Eisenbahnwaggons verladen worden. Der Oberleutnant an der Spitze seiner Soldaten, im Geländewagen, neben dem Fahrer stehend, fast so wie der Führer, wenn er in seinem schweren Benz an dem Spalier jubelnder Menschen vorbeifuhr. Dahinter, an der Spitze seiner Kompanie marschierend, mein Leutnant. Beide legten grüßend die Hand an den Stahlhelm, wenn sie Bekannte oder Winkende unter den vielen Zuschauern am Straßenrand sahen – und es winkten viele. So wie Mutter, die mit meinen Geschwistern, Agnes und einigen Nachbarn auf dem Balkon unseres Hauses stand. Ich brauchte Distanz und beobachtete vom Schlafzimmerfenster, halb hinter den Gardinen versteckt, den Vorbeimarsch. Ich wollte allein sein und keiner sollte mich sehen. Nur Rautenberg vermutete mich wohl hinter dem Gardinenversteck und winkte genau zu mir herüber. Ich winkte zögernd zurück, indem ich nur die Hand vorsichtig aus der Gardine schob. Ob er mir auch wieder zugezwinkert hat? Während die Kompanien mit gleichem Schritt und Tritt hart und dröhnend vorbeizogen, zitierte ich, das war wohl der Grund für mein verborgenes Schauen und ich weiß nicht, warum ich es tat. Ich zitierte, wie als Weihe- und Zauberspruch, das alte preußische Exerzierreglement: ,Die Infanterie ist die Hauptwaffe. Sie bricht den letzten Widerstand des Feindes. Sie trägt die Hauptlast des Kampfes und bringt die größten Opfer. Dafür winkt ihr aber auch der größte Ruhm.’ Dann sang ich ganz leise: ,Ich hatt’ einen Kameraden…’ und merkte, dass ich weinte. So marschierte die Kompanie zum Dorf hinaus. Ich sah fünf Jahre später von der gleichen Stelle zu, als die alliierten Eroberer den gleichen Weg nahmen, nur umgekehrt in Richtung Marktplatz, mit
rasselnden Panzern und auf dem vorderen saß der Bürgermeister mit weißer Fahne. Als ich später nach dem Tode meines Vaters seinen Nachlass ordnete, fand ich eine Postkarte aus jener Zeit. Sie war von Vater an Leutnant Lehmann adressiert und darauf stand: ,Es bereitet mir höchste Genugtuung, dass die deutschen Truppen siegreich vordringen. Ich bedaure es, dass ich beim Einmarsch in Paris nicht dabei sein kann. Sie haben die Schmach des verlorenen 1. Weltkriegs wieder vom deutschen Volk genommen.’ Die Karte war zurückgekommen. Ein Stempel stand darauf: Adressat für Führer, Volk und Vaterland gefallen. Leutnant Lehmann war zusammen mit seinem Oberleutnant bei der Erstürmung einer Brücke tödlich getroffen worden. Sie hatten versucht, mit dem Geländewagen die Brücke im Handstreich zu nehmen und waren in Maschinengewehrfeuer geraten. „Mit mir ist es doch aus. Greift weiter an!“ Und wo ist Rautenberg geblieben?
Backtag
Wann begann die Weihnachtszeit eigentlich – damals? Wenn in der Kirche die ersten Adventslieder erklangen? ,Tauet, Himmel, den Gerechten’ oder ,Oh komm, oh komm, Emmanuel’ – Nein, noch nicht! Wenn der erste Schnee fiel? Ach, der taute schon bald wieder! Oder wenn sich im Westen ein riesiges Abendrot ausbreitete und Mutter sagte: „Da, schau hin, die Engel backen Kuchen fürs Christkind!“ Ja, dann begann die Weihnachtszeit. Um für all die vielen Kinder dieser Welt die Kuchen zu backen, dafür brauchte man schon einen unendlich großen Backofen und dieses mächtige Feuer am Himmel verriet es uns: Das Christkind traf seine Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Wenn also das Abendrot am westlichen Himmel aufflammte und Mutter ihre Erklärung dazu gab, dann, ja dann begann die Weihnachtszeit. Man ging mit glücklicher Gewissheit zu Bett, dass das Christkind bald seine Reise auf die Erde antreten werde. Das himmlische Beispiel machte Schule auf der Erde. Irgendwann in dieser Zeit, vielleicht eine Woche vor dem Weihnachtsfest, begann an einem Nachmittag im Hause die größte Kuchenbackaktion des Jahres. Kleingebäckherstellung war die Aufgabe des Tages, aber was für ein Aufmarsch von Materialien und Kräften, von Menschen und Material – um in der Sprache der damaligen Zeit zu bleiben – war dazu erforderlich: Milch und Mehl, Butter und Eier, Zimt und Nüsse, Mandeln und Rosinen, Zucker und Salz, Safran macht den Kuchen geel. Dazu die Geräte:
Kuchenplatten und Backblech, Schüsseln und Siebe, Waffeleisen und Blechtrommeln, Schleifs und Teigrollen, Pergamentpapier und Küchentücher. Das gesamte Gerätearsenal wurde in Stellung gebracht. Alle weiblichen Hausmitglieder hatten sich in der Küche zu versammeln. Die Jungen durften auch helfen, brauchten aber nicht. Doch der Duft, der nach dem ersten Backvorgang das ganze Haus erfüllte, zog die restlichen Hausbewohner magisch in die Küche, wo sie zwar im Wege standen, sich aber nur ungern vertreiben ließen. Sie boten sich für kleinere Hilfsdienste an, z. B. die Schüssel beim Rühren festzuhalten oder Mehl aus dem Vorratsraum zu holen. Alles waren sehr kurzfristige Tätigkeiten, die aber ihre Anwesenheit rechtfertigten. Verlassen wollten sie die Küche nicht, denn wenn die ersten Plätzchen aus dem Backofen gezogen wurden, bekamen sie kleine Kostproben, doch nur das, was beim Backvorgang verunglückt war, z. B. schwarzgebrannt, zerbrochen oder schief und krumm. Danach aber mussten sie endlich aus der Küche verschwinden, denn es wurde dort unerträglich eng. So trollten sie sich davon, waren aber nach einer halben Stunde wieder da. Man hatte sich in der Küche mittlerweile darauf eingestellt und man sah die ,Schnauker’, wie Agnes, unsere Haushaltshilfe, sie nannte, nicht einmal ungern. Denn schließlich war es für die Bäckerinnen eine Bestätigung ihrer Backkünste, wenn ihre Werke gelobt wurden. Dass man bisweilen ein feines Stückchen Stoff in den Neujahrskuchen mit einbackte und diesen einem mehr oder minder geliebten Freund des Hauses oder dem eigenen Bruder wie zufällig in die Hand drückte, gehörte zum Ritual des Backtages. Es gab großes Gelächter, wenn der Beschenkte verdutzt und unermüdlich an dem zähen Stück herumkaute.
Es war das Jahr 1939. Im September hatte Hitler Polen überfallen und nach kurzer Zeit besiegt. Der Krieg war zu einer Art Stillstand gekommen, doch im Westen sammelten sich schon die deutschen Armeen, um im Mai nächsten Jahres Frankreich anzugreifen. Die Ernährungslage in Deutschland war noch gut. Zwar wurde jetzt das meiste rationiert und Lebensmittelkarten wurden ausgegeben, aber Grundnahrungsmittel gab es noch reichlich. Die Stimmung in Deutschland war hervorragend. Das NSRegime war auf dem flachen Land als Unterdrückung kaum zu spüren. Die militärischen Erfolge der deutschen Wehrmacht hatten der braunen Herrschaft zu mehr Ansehen verholfen. Gefährdung durch feindliche Flieger gab es noch nicht und die Zahl der Gefallenen in der Gemeinde war gering. Trauer gab es nur vereinzelt. Die jungen Männer wurden einberufen oder warteten auf ihre Einberufung in den Reichsarbeitsdienst oder in die Wehrmacht. Manche durften erst ihre berufliche Ausbildung zu Ende bringen und manche weiter studieren, z. B. die angehenden Mediziner. Deshalb konnte unser Bruder Franz bis 1941 studieren. Er hatte einige Freunde, die er vom Fußball, von der Schule, von der HJ oder aus anderen Interessengruppen kannte. Sie kamen häufig in unser Haus, wobei sich die Frage ergab, ob sie sich wegen der freundschaftlich-kameradschaftlichen Beziehung zu meinem Bruder einstellten oder aus gänzlich anderen Gründen, z. B. wegen meiner Schwester Luise, von der die damaligen Fotos zeigen, dass sie ein hübsches Mädel war. Die beiden jüngeren Schwestern Mareike und Judith waren zu dem genannten Zeitpunkt noch jenseits von Gut und Böse und „unwise Wichter“, wie Agnes zu bemerken pflegte.
Aber gehen wir doch in die Veranda. Dort saßen die jungen Herren und unterhielten sich. Vermutlich über den Krieg, die Wirkung der neuen Waffen, über Flugzeugtypen und Fliegerhelden und über die bisherigen Kriegserfolge. Systemgegner waren sie nicht. Noch nicht. Die Erfolge der Wehrmacht würden den größten Teil der Bevölkerung noch eine Zeitlang blenden. Andere Themen waren Fußball, Beruf und Studium, der Klatsch und Tratsch im Dorf, vermutlich auch wohl die Mädchen und was sich sonst noch alles in der kleinen Welt des Dorfes ereignet hatte oder ereignen würde. Wahrscheinlich hörten sie auch Schallplatten, von denen wir eine Menge besaßen. Luise und Franz würden noch zwei Tage vor Heiligabend in die nächste Großstadt fahren und die neuesten Platten kaufen. Wer wusste schon, ob das in den nächsten Jahren noch möglich war. So schallten denn Rosita Serranos ,Roter Mohn’, ,Ich möchte einen Kuss von dir’ oder Zarah Leanders sündhaftiges Lied ,Kann denn Liebe Sünde sein?’ sehnsüchtig in die weihnachtliche Arbeitsstimmung der Küche hinüber. Manche Melodie wurde zum Boten eines Herzens, das sich nicht aussprechen konnte oder mochte. Wer den Krieg überlebte, mag in seiner eigenen ,Sentimental journey home’ Bruchstücke von Erinnerungen wiederfinden, die sich mit diesen Melodien verbinden. In der Veranda pflegte auch Vater nach dem Mittagessen zu sitzen, in einem Sessel unter dem großen Ölgemälde vom Berchtesgadener Watzmann. Das hatte er aber schon gekauft, bevor Hitler auf dem Obersalzberg einzog. Hier las er die Zeitung, rauchte eine Zigarre, trank seinen Kaffee und machte ein kleines Nickerchen. Dann kamen schon die ersten Patienten für die Nachmittagssprechstunde. Wenn diese vorbei war, stieg er in seinen Opel Super 6 und begann seine Krankenbesuche, die er
meist mit einem kurzen Besuch in einer Wirtschaft des Ortes oder der Gemeinde beendete. Dort saß er dann, trank sein Bier und hörte sich an, was die Leute so erzählten, und wenn es sein musste, funktionierte er den Thekenraum um in ein Sprechzimmer. „Doktor, min Faut, dei kellt all woll veiertain Daoge.“ „Na, dann wies mi eis dinen Faut.“ Ein weiterer Stuhl wurde herangerückt, der meist ungewaschene Fuß darauf gelegt, besichtigt, eine Diagnose gestellt und eine Therapie vorgeschlagen. Solche Behandlungen pflegten meist kostenlos oder krankenscheinfrei zu sein. Doch versetzen wir uns einmal in einen solchen Backtag hinein. Sagen wir, es war ein Freitag – acht Tage vor Heiligabend. Mutter und Agnes hatten am Vormittag neben der Mittagessenvorbereitung – es gab Erbsensuppe mit Hering – schon den Teig für die Plätzchen und den Rührteig für die Neujahrskuchen angerührt. Gegen zwei Uhr ging es dann los. Judith und Mareike halfen Mutter bei der Plätzchenherstellung. Agnes und Luise backten die Neujahrskuchen. Mutter brach von dem Teigberg ein handliches Stück ab und rollte es über die eine Hälfte des Küchentisches aus. Die beiden Mädchen drückten die Blechformen eng nebeneinander in den Teig und hoben die Rohplätzchen ab. Es waren Sterne, Herzen, Tannenbäume und Vögel. Sie wurden sorgfältig auf die Backbleche gelegt. Drei dieser Bleche waren vorbereitet. Sie wurden mit Mehl bestäubt, damit die Figuren nicht festklebten, festbrannten und beim Herausnehmen zerbrachen. Der Backofen war schon vorgeheizt und nun wurden die drei Bleche eingeschoben. Meine Mithilfe war nur gering. Deshalb konnte ich meine ganze Aufmerksamkeit darauf verwenden, in einem unbewachten Augenblick ein Stückchen Kuchen zu stibitzen.
Wenn das misslang, stand ich quengelnd an der Tischkante, über die ich gerade mal gucken konnte und bettelte um ein winziges Stück. Ich bekam es meistens, nicht ohne gleichzeitig Agnes’ Spruch zu hören: „Drinsen Kauh krigg immer wat!“ Während dieses Exkurses haben die Mädchen den vom Ausstanzen übrig gebliebenen Teig mit einem neuen Stück vermengt und wieder ausgerollt. Erneut werden die Figuren ausgestochen und auf Pergamentpapier gelegt. Auch einige Holzmodels, in die drei verschiedene Hohlformen eingeschnitzt sind, liegen nun auf dem Tisch. Mittlerweile machen Mareike und Judith die Arbeit ohne Mutter, ganz allein – aber gewissenhaft – wie es sich gehört. Mutter muss gelegentlich durch die Küchentür auf den Flur hinausgehen, um mit Patienten zu schnacken, die in Vaters Sprechstunde wollen. Häufig steht sie eine Weile mit ihnen auf dem Flur. Sie bespricht auf Plattdeutsch die neuesten Begebenheiten oder das Leiden des Patienten, wobei sie nicht den Hinweis auf besonders wirksame Hausmittel vergisst. Bei so viel Zuspruch kommt der Patient meist schon halb geheilt in Vaters Sprechzimmer. Doch jetzt wird es Zeit, uns den beiden Neujahrskuchenbäckerinnen zuzuwenden. Sie sind schon eine Stunde fleißig am Werk und produzieren auf der anderen Hälfte des Küchentisches. Agnes sitzt vor dem Waffeleisen, und zwar unmittelbar an der Tür zur Waschküche, denn hier gibt es die einzige Steckdose der Küche. Neben sich hat sie die große Kumme mit dem Rührteig. Luise sitzt neben ihr, vor sich zwei ausgebreitete Küchenhandtücher. Darauf werden die runden und dünnen Oblaten aus dem Waffeleisen zu einer Tüte gerollt und zum Abkühlen abgelegt. Dann kommen sie in die großen Blechtrommeln. Agnes gießt einen halben Schleif Teig auf den heißen und immer wieder mit einer Speckschwarte
eingeriebenen unteren Teil des Eisens, dann wird der obere Teil darüber geklappt. Nun sitzt der Teig in der Klemme. Er wird gekniffen und gepresst – ein Kniepkauken entsteht. Es zischt und dampft und ein verführerischer Kuchenduft erfüllt die Küche. Es darf nicht zu viel genommen werden, denn dann quillt der Teig seitlich unbrauchbar heraus, aber auch nicht zu wenig, denn dann wird das Stück zu mickerig. Aber Agnes kennt das Maß. Sie hat schon so viele Neujahrskuchen gebacken, dass sie mit geschlossenen Augen die richtige Portion aus der Kumme schöpfen könnte. Heute werden sogar zwei Waffeleisen eingesetzt. Dann entfällt die Wartezeit und die beiden Bäckerinnen haben buchstäblich alle Hände voll zu tun. Jeden Augenblick legt Agnes mit einer Gabel ein neues Stück auf den Tisch und Luise formt mit spitzen Fingern die heiße Oblate zu einer Tüte. Das muss schnell gehen, sonst wird die Oblatenscheibe hart und die empfindlichen Fingerspitzen zeigen Verbrennungserscheinungen. Sind die Tüten einigermaßen abgekühlt und fest geworden, legen Mareike und Judith, die sich ja wegen der langen Backzeiten der Plätzchen noch Pausen gönnen dürfen, die Neujahrskuchen in die großen Blechtrommeln. Diese und ähnliche Blechbehälter hatten früher zum Transport von Aachener Printen und Nürnberger Lebkuchen gedient, die jedes Jahr in einem großen Paket ins Haus geliefert wurden. 1939 zum letzten Mal. Irgendwann gegen 16 Uhr wird eine Pause gemacht und Kaffee getrunken. Für die Kinder gibt es Kakao oder Muckefuck. Während die Bäckerinnen sich vorher schon mal hastig einige Stückchen verunglückter Plätzchen oder Neujahrskuchen in den Mund gesteckt hatten, dürfen sie jetzt in Ruhe und voller Stolz auch die gelungenen Erzeugnisse genießen. Sie schmecken vorzüglich.
Die jungen Herren auf der Veranda bekommen auch einen Teller mit Kleingebäck gebracht, aus lauter Zweckmäßigkeit, damit sie nicht in der Küche herumlungern und die friedliche Kaffeestimmung mit blöden Bemerkungen stören. Ein Nachschlag wird abgelehnt. Doch sie wollen ohnehin aufbrechen und ziehen ab ins Dorf. Dort überlassen wir sie ihren eigenen Angelegenheiten. Freilich – wenn man gewusst hätte, was in den folgenden Jahren auf sie zukommt, dann hätte man sie gerne festgehalten und ihnen alle Herzen und Kuchen dieser Welt geschenkt. Wie viele gerieten in den Feuerofen des Krieges und wurden verletzt, verformt, unkenntlich gemacht und ausgelöscht? Nur die Erinnerung bewahrt noch ihr Bild. Drei Namen mögen stellvertretend für die vielen stehen: Rudolf, der Nachbarssohn, gefallen 1944 bei den Rückzugskämpfen in Polen. Gerrit, der Freund meines Bruders, gefallen als Fallschirmjäger 1940 in Holland. Jan, auch ein Freund meines Bruders, vermisst Ende 1944 in Kurland (Lettland). Lassen wir uns Zeit und schauen wir diesen jungen Männern auf ihrem Weg noch einen Augenblick trauernd nach, ehe wir uns wieder dem Haus zuwenden. Die Sprechstunde ist gerade zu Ende gegangen und Vater kommt über den Flur in die Küche. Dort darf er zwei Kniepkauken, wie er sie nennt, probieren. Heute erzählt er den Kindern nicht, wie früher in seiner Heimat diese Kuchen gebacken wurden. Die Zeit drängt. Nur kurz informiert er Mutter über die Fahrtroute, die er heute nehmen wird. Zunächst nach Burlage zu Anhoffs, dann Brehm – Beiderholte und weiter nach Eckhorn. Doch dort gibt es ein schwarzes Informationsloch. Die drei Bauern, die er besucht, haben kein Telefon. Er würde also bei der Wirtschaft Holthüsen vorbeifahren und nachfragen, ob Mutter ihn zu einem Notfall zurückgerufen habe.
Anschließend nach Aufbergen zu Beiermanns und Wolkens Heinrich. Telefon hatte Kors Mariechen, eine Kneipe mit kleiner Landwirtschaft. Dort würde er sich nicht lange aufhalten, weil er noch Holtmanns Job in Anhausen aufsuchen wolle. Das war sein Jagdgenosse und mit ihm würde er noch einen Jagdtermin abmachen. Vor Weihnachten mussten sie noch einmal jagen, vielleicht kommenden Mittwoch. Die anderen Jäger hatten dann sicher auch Zeit. Ob er zuletzt noch bei Nadlers einkehren würde, weiß er noch nicht. Möglicherweise säßen da die betrunkenen Viehhändler und lärmten herum. Dann fährt er ab. Wenn jetzt noch ein verspäteter Patient erscheint, dann wird er zu hören bekommen: „Der Dokter is all wäge, hei is up Praxis.“ Es würde wohl sieben bis acht Uhr werden, bis er zurück war. Er ließ sich Zeit bei seinen Patienten. Er saß an ihrem Bett oder in der Küche und man erzählte sich etwas. Niemand wusste so gut wie er über die familiären Verhältnisse in der Gemeinde Bescheid, aber auch niemand war so verschwiegen wie er. Mancher heilsame, vielleicht auch unkonventionelle Rat kam aus diesem Wissen um die familiären Umstände. Für Mutter war es wichtig, die Fahrtroute zu kennen. Denn Notfälle, die Vaters Erscheinen dringend erforderten, kamen immer wieder vor, vor allen Dingen schwere Verletzungen bei der Arbeit auf dem Hof oder in der Werkstatt. Schwere Verletzungen in ihrem Ausmaß zu erkennen und entsprechend zu behandeln, das hatte Vater im 1. Weltkrieg auf den Schlachtfeldern Russisch-Polens und Frankreichs lernen müssen. Wenn dann ein Notfall eintrat, stand Mutter aufgeregt am Telefon und versuchte, ihren Mann zu erreichen. „Hei is geraode wegfäuert!“ Ach Gott, wo finde ich ihn jetzt? Der nächste Patient hatte kein Telefon. Welcher Bauer mit Fernsprecher lag denn in der
Nähe? Ach ja, Meyer-Bur, ein bisschen weit, aber ich versuch’s. „Du, Heinrich, kannst du woll einen nao Holtkamps schicken, dei Dokter mott ganz ilig nao Pigge-Bävern henfäuern. Dei Söen hett sik mit dei Bielen inne Hand schlaon.“ „Jao, wisse woll, dat maokt wi, dat is doch selbstverständlik“, und noch am Telefon hört man ihn bölken: „Hinnerk, nimm din Rad un fäuer nao Holtkamps!“ Mutter sinkt erleichtert in den Schreibtischsessel. Eine solche Situation erfordert eine genaue Kenntnis der Topografie der Gemeinde. Wie viele sind im Dienste der Medizin und der Nächstenliebe unterwegs gewesen – zu Fuß, mit dem Rad, ja sogar beritten, häufig weit mehr als drei Kilometer, um dem Doktor Bescheid zu sagen, dass jemand auf seine Hilfe warte. Wie viele Bauern haben ihre Pferde aus dem Stall geholt, sogar nachts, um Vaters Auto aus einem besonders schlammigen Loch eines Sandweges herauszuziehen, in dem er hoffnungslos stecken geblieben war. Wie viele Kuchen müsste das Christkind backen, um diese Hilfen zu belohnen? Feste Straßen zu den Bauern waren damals selten, aber an diesem heutigen Backtag ist die Erde hart gefroren und der Himmel frostklar. Der Schnee lässt auf sich warten. Vater kann also ohne Komplikationen seine Route abfahren und das gibt uns Zeit zu erklären, wie er auf solche Notrufe reagiert. Nein, keineswegs springt er auf und eilt zu seinem Wagen, um dann mit unsichtbarem Blaulicht über die holprige Sandpiste zu fliegen. Im Gegenteil, zuerst trinkt er den Schnaps aus oder den Kaffee, den ihm die Angehörigen des Kranken möglicherweise angeboten haben. Dann wird das Gespräch ordentlich zu Ende geführt, noch einmal die Anweisung wiederholt, noch einmal beim Kranken
vorbeigeschaut und dann geht er ruhig und gelassen zu seinem Auto. Die Sandwege lassen ohnehin kein hohes Tempo zu. Er wird rechtzeitig ankommen. Er ist immer rechtzeitig angekommen. Vater hat beide Weltkriege als Arzt mitgemacht. Den letzten als Chef verschiedener Reservelazarette in Wildeshausen, Warschau, Passau und Münchberg, wo er bei Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft geriet. Unter den Notfällen befanden sich nur ganz selten werdende Mütter und zu früh einsetzende Geburten. Die Geburtstermine (und davon gab es in der Woche wenigstens zwei und meistens nachts) lagen in etwa fest und waren auf einige Stunden bei Rücksprache mit der Hebamme überschaubar. Allerdings kam es vor, dass Vater sich nicht weit von zu Hause entfernen durfte oder leicht erreichbar sein musste, wenn nämlich eine Geburt überfällig war. Dann saß er da und wartete. Zuhause hieß das: Vater sitzt auf der Wartburg. Aber lassen wir nun unseren Vater seine Krankenbesuche machen und seinen Jagdtermin besprechen und freuen wir uns, dass Mutter an diesem Tag keinen Besuch bekommen hat. Das hätte sie fuchtig gemacht. Doch im Augenblick arbeitet sie gar nicht mehr richtig mit in der Küche. Sie sieht ja, dass alles läuft und außerdem ist ja Agnes da, die sanft, aber mit Autorität, Anweisungen geben kann. Schließlich gibt es noch andere Dinge im Haus zu erledigen. Dann konnte es sein, wenn Mutter über die Flure schritt oder in den Zimmern etwas herrichtete, dass plötzlich Weihnachtslieder durchs Haus klangen, z. B. das Lied ,Süßer die Glocken nie klingen…’, wo die Engel von Frieden und Freude singen. Mutter sang diese alten Melodien mit ihrer wunderschönen, glockenreinen Sopranstimme. Jedes Mal, wenn ich sie hörte, dachte ich: ,Nein, Engel können nicht schöner singen.’ Als Mutter mit 83 Jahren starb, hat sie nach
all den traurigen und turbulenten Kriegs- und Nachkriegsjahren noch lange eine Zeit erlebt, in der es Frieden und Freude gab. Bleiben wir noch einen Moment und hören wir Mutters Gesang zu, der zusammen mit dem Kuchenduft das ganze Haus durchzieht. ,Alle Jahre wieder…’ oder ,Oh, du fröhliche…’ Es wird Abend, der Teig ist verbraucht und die letzten Plätzchen sind in den Herd geschoben. Es ist eine wunderbare Kuchenvermehrung eingetreten. Zu Anfang gab es nur zwei feste und einen flüssigen Teig und nun sind sämtliche Trommeln mit Kleingebäck gefüllt und stapeln sich in der Vorratskammer. Außerdem ist soviel übrig geblieben, dass alle Beteiligten davon noch satt geworden sind. Das Abendbrot kann ausfallen. Nur für Vater werden noch zwei Schnitten auf einem Teller zurechtgemacht und zwei Kniepkauken dazugelegt. Die Mädchen binden ihre Schürzen ab und gehen nach oben auf ihre Zimmer. Sie sind müde, der Nacken schmerzt, aber sie sind stolz. Heute haben sie viel geleistet und irgendwo ganz innen breitet sich ein helles Glücksgefühl aus, Vorfreude auf Weihnachten. Ganz leise klingen noch Mutters Lieder nach, aber wir wissen nicht, ob sie nun selbst ein Weihnachtslied angestimmt haben. Am letzten Schultag wird noch einmal gebacken, denn die Weihnachtsteller müssen gefüllt werden. Auch gibt es an den Feiertagen viele Gäste, große und kleine. Die Torten allerdings werden erst zwei Tage vor dem Fest gebacken. Das machen Agnes und Luise. Das ganze Haus ist noch immer durchzogen von Kuchenduft. Agnes macht das Küchenfenster weit auf und lässt die frische Winterluft herein. Wer da jetzt hinaus schaut, der kann die Sterne funkeln sehen und ganz hinten im Westen einen kleinen rötlichen Schimmer. Auch die Engel sind müde geworden.
Heiligabend
Der 24. Dezember ist gekommen. Am Vortag hatte ganz sanfter Schneefall eingesetzt, der sich bis zum Abend verstärkte. Auch in der Nacht hörte man die Schneeflocken an die Fenster schlagen. Am Morgen ist der Garten tief verschneit. „Juhu!“, schreit Peter, „Weihnachten im Schnee!“ Aber dann steht er doch ganz regungslos am Küchenfenster und schaut andächtig in die weiße Pracht. Die Äste und Zweige sind schwer beladen vom Schnee, die Pfosten der Gartenpforte tragen eine weiße Haube, die Wege sind kaum zu erkennen, keine Spur führt in den Garten. Nach dem kurzen und eiligen Frühstück wird Peter warm eingemummelt: die Gummistiefel werden angezogen, die gefütterte Lederkappe mit den Ohrenklappen wird aufgesetzt und der graue, dicke Engländerschal um den Hals geschlungen. So geht er nach draußen. Vorsichtig, ganz langsam, Schritt für Schritt, wo er sonst zu rennen pflegte, geht er den rechten Längsweg bis zur Laube. Es ist still und Peter ist es auch, damit der Zauberer ihn in sein Reich einlässt. Er geht und staunt. Es ist wie auf den Bildern, auf denen das Christkind mit seinem Schlitten durch die tiefverschneite Welt fährt. Mit diesem Schnee ist ein Versprechen in Erfüllung gegangen. Das Christkind, es kommt heute. Mit seinem Schlitten fährt es durch den Wald, über alle Felder und Wiesen, die Peter aus Vaters Jagdrevier kennt, durch die Gehölze und über den Fluss. Die Glöckchen am Schlitten klingeln und es durchflutet ihn ein Glücksgefühl, so dass er aufschreien möchte. Aber leise doch, ganz leise, nicht ein Laut soll stören, nur der
Schnee knurpst unter den Stiefeln. Aber unmerklich werden die Schritte schneller und beim Rosenrondell fangt Peter an zu laufen. Er ruft und singt: „Es liegt Schnee, es liegt Schnee!“ Als er wieder auf dem Hof ankommt, hat Agnes den Schlitten vorsorglich bereitgestellt. Nun schiebt und zieht er ihn über die Wege, Anlauf nehmen, sich lang auf den Schlitten werfen und sich ein kurzes Stück gleiten lassen. Auch die Seitenwege werden abgefahren, manchmal läuft er, manchmal geht er im Schritt. Der Schlitten schwankt hin und her und die wegbegrenzenden Buchsbaumbüsche haben schon viel von ihrer Schneelast verloren. Hin und her zieht er und nun möchte er auch einmal gezogen werden. Von Pohls aus hat man ihn beobachtet. Rudolf, der so alt ist wie Peters Bruder, kommt heraus und wird zum großen Schlittenpferd ernannt. Mal geht es langsam, mal im Galopp und häufig stellt es den Schlitten plötzlich quer, so dass Peter lang in den Schnee fällt. Da liegt man wie in einem weichen Bett, nur das Gesicht spürt die Kühle der weißen Decke. Jetzt kommen auch Mareike und Judith dazu. Nun müssen ihn zwei Pferde schleppen. Auch er versucht seine beiden Schwestern über die Wege zu ziehen, doch die Last ist zu schwer. Dauernd rutscht er aus und liegt lang im Schnee, aber das will er ja gerade. Jetzt muss noch der große Adler gemacht werden. Dazu stapft man auf die großen, noch unberührten Gartenflächen entlang der Wege und legt sich rücklings in den Schnee. Dann legt man die Arme eng neben den Körper und bewegt sie anschließend bis in Kopfhöhe, wobei man sie regelmäßig in den Schnee drückt. So entsteht das ausgebreitete Gefieder eines Adlers. Mit den Beinen macht man es ähnlich. Man spreizt sie ein wenig, so dass der Abdruck eines gefächerten Schwanzes entsteht. Peters Adler ist der kleinste, aber selbstverständlich der schönste. Da noch viele weiße
unberührte Flächen vorhanden sind, wird immer wieder ein neuer Versuch gewagt. Irgendwann fliegt der erste Schneeball und es dauert nicht lange, bis die vier weiß gepudert und außer Atem sind. Die anderen drei verschwinden sich schüttelnd und sich gegenseitig abklopfend ins Haus. Peter steht noch einen Augenblick da. Wie glücklich er ist. Wie wird die Freude noch wachsen, bis es endlich am Abend klingelingeling macht und die Tür zum Esszimmer, zum strahlenden Tannenbaum und zur Bescherung aufgeht. Ist das eine lange oder eine kurze Zeit? Dann stapft auch er zum Haus zurück. Der Schnee auf den Wegen und Beeten ist zerfurcht und niedergedrückt von Schlittenspuren, Fußstapfen und Adlerfiguren. Von den Zweigen fallen schon die ersten Schneelasten. Heute wird er nicht mehr in den Garten gehen. Er wird Zuhause warten. Der Zauber ist verflogen, aber es bleibt ja noch der Abend mit der Bescherung. Ganz leicht fängt es wieder an zu schneien. Wie ein Versprechen. Gegen sechs Uhr morgens ist Agnes, die Hausgehilfin, im Haus erschienen. Sie wohnt ein paar Häuser weiter bei ihren Eltern in der Schmiedemeisterwohnung. Zunächst geht sie in den Keller und bringt die Zentralheizung wieder in Gang. Tüchtig die Heizroste ruckein, die Asche herausnehmen, neuen Koks auf die verbliebene Glut schüppen, die Luftzufuhr weit öffnen – dann kommt die Heizung in Fahrt. Das Schüppen und Ruckeln hört man durch alle Heizkörper bis in die entferntesten Schlafzimmer. Wach wird man davon kaum, im Gegenteil, man kuschelt sich noch tiefer in die Kissen hinein. Es sind Ferien, man darf ausschlafen, und es ist beruhigend zu wissen, dass jemand dafür sorgt, dass alles für den Tag vorbereitet wird. Außerdem ist Heiligabend. Was man wohl geschenkt bekommt? Während die Geräusche des erwachenden Hauses durch die Zimmer
laufen, gleitet man noch einmal in einen sorglosen, tiefen Schlaf hinein. Als nächstes fegt Agnes den gepflasterten Weg von der Haustür zur Straße frei. Nachher wird sie das auch bei der Garageneinfahrt machen, aber das hat noch Zeit. Vielleicht wird auch eines der Kinder diese Aufgabe übernehmen. Mareike und Judith wahrscheinlich. Luise wird mit feineren Arbeiten betraut. Dann setzt Agnes das Kaffeewasser auf. Mittlerweile ist auch Mutter nach unten gekommen. Gegen halb sieben Uhr pflegt sie aufzustehen, Vater erst gegen halb acht. Mutter und Agnes trinken zunächst einmal ihren Kaffee. Dabei werden die heute anfallenden Arbeiten besprochen. Danach geht Mutter ins Esszimmer, um die Heizungskörper anzudrehen und alles zu inspizieren. Gestern Abend hat sie schon mit Vater die Weihnachtsteller mit Plätzchen, Schokolade, Marzipan und anderen Süßigkeiten gefüllt, auch mit Nüssen und Mandeln. Vater hat den Tannenbaum geschmückt. Aber das geschah erst, als Mareike, Judith und Peter zu Bett lagen. Mareike und Judith glauben zwar nicht mehr an das Christkind, aber die Vorfreude auf den silbrig schimmernden Tannenbaum und die vollen Teller will man ihnen doch noch erhalten. Warum sollen sie auch schon so genau hinter die Kulissen der großen Weihnachtsillusion blicken? Luise durfte noch lange aufbleiben und half bei der Arbeit. Es machte ihr Spaß, Vater den Silberschmuck zuzureichen. Alle Kugeln, Tannenzapfen, Kerzenhalter und die Spitze mit dem Federbusch waren silberfarben. Dazu kamen weiße Kerzen und auf die Zweige wurde Silberlametta gelegt. Alles das befand sich in einem festen, sogenannten Weihnachtskarton, in dem man nach der Weihnachtszeit den Christbaumschmuck wieder sorgfältig verstaute. Dann kam er auf den Dachboden und wartete dort wieder ein Jahr auf das Fest. Wie häufig noch? Vater hatte einen hohen und schön
gewachsenen Tannenbaum ausgesucht. Diesen auf den Ständer zu stellen, kostete einige Mühen und Schweißtropfen. Das gebückte Arbeiten war wegen Vaters Bauchumfang sehr anstrengend, doch mit Mutters Hilfe gelang es schließlich. Nun stand der Baum in der Zimmerecke gleich links neben der Tür. Sorgfältig und mit Bedacht schmückte Vater den Baum, der wie jedes Jahr Staunen und Bewunderung auslösen wird. Es war immer die gleiche Verzauberung, wenn man vor ihm stand und er mit Kerzenschein und Silberglanz den ganzen Raum verwandelte. Es ist nicht auszuschließen, dass die drei bei der Vorbereitung dieser großen Weihnachtsillusion auch eine Flasche Wein geleert haben. Franz kam gegen 22 Uhr dazu. Er war noch bei Freunden im Dorf gewesen. Am heutigen Nachmittag musste er für Peter die Burg mit den vielen Soldaten aufstellen und zwar in der Nähe des Tannenbaumplatzes. Doch viel wichtiger war der Aufbau der elektrischen Eisenbahn. Die hatte er zusammen mit Luise vor zwei Tagen aus Osnabrück geholt und, wie er sagte, sei sie die letzte gewesen. Die Spielzeugindustrie hatte schon auf Rüstung umgestellt. Franz freute sich schon auf diesen Aufbau und er hatte seine Freunde Gerrit und Jan dazu eingeladen. Drei große Jungs von 18 Jahren, die mit der Eisenbahn spielten und sie am liebsten selbst geschenkt bekommen hätten. Peter würde sich in den nächsten Tagen nach Heiligabend wundern, dass fortwährend die jungen Männer im Spielzimmer auftauchten, wo jetzt die Bahn aufgebaut war. Augenblicklich aber nimmt die elektrische Eisenbahn fast den gesamten ausgezogenen Esszimmertisch ein, was Schwierigkeiten bei der Verteilung der Teller und Geschenke für die anderen bereitet. Aber sie wirkt mit ihren Signalen und dem fahrenden Zug auf dem Tisch besser als in der Ecke auf dem Fußboden. Sie ist eben ein Mittelpunkt und so von allen
einsehbar und zu bewundern. Man wird für die Aufstellung der anderen Geschenke schon eine Lösung finden, denn heute soll Peter seine große Freude haben. Wer weiß, ob er das nächste Mal noch an das Christkind glaubt. Zu Hause konnte man ihn wohl vor einer Desillusionierung bewahren, aber in der Schule gab es immer einige, die nichts lieber taten, als das Weihnachtsgeheimnis vor den Naivlingen zu entschleiern. Alle Hausbewohner waren sich bewusst, wie schön und geheimnisvoll es doch war, einen kleinen Menschen mit einem treuherzigen Christkindglauben unter sich zu haben. Ein bisschen schwang da noch die selige Erinnerung an die eigene Kinderzeit mit und ein wenig Neid. Doch diese Zeiten waren vorbei, unwiederbringlich. Die Geschenke liegen noch nicht auf dem Tisch. Sie sind noch in den Schränken des Esszimmers oder des elterlichen Schlafzimmers versteckt. Bei aller Neugier, die den Menschen so eigen ist, hätte keines der Kinder vorzeitig erfahren wollen, was es denn wohl geschenkt bekam. Vorfreude ist die beste Freude. Man hätte das Esszimmer also auch nicht zu verschließen brauchen, aber dadurch bekam es ja gerade etwas Geheimnisvolles. Auch Peter hätte sich nie getraut, dort hineinzugehen oder durchs Schlüsselloch zu gucken. Es hätte ja sein können, dass das Christkind in diesem Augenblick im Zimmer gewesen wäre. Wie hätte man dann die göttliche Lichtgestalt dieses Kindes überhaupt ertragen können? Aus seinen Weihnachtsbüchern mit den vielen farbigen Abbildungen wusste Peter, dass eine goldene Helligkeit von dem Christkind ausging und es eine göttliche Allmacht besaß. Stell’ dir vor, es hätte dich an die Hand genommen und dich angesprochen. Oh nein, da hätte man einfach die Augen zumachen und weinen müssen. Genauso wie beim Nikolaus oder bei der bösen Hexe in dem Märchenspiel ,Hänsel und Gretel’, als sie auf die Bühne trat.
So viel Pracht, Macht und schreckliche Hässlichkeit wirklich zu sehen, das war zu viel für einen kleinen Menschen, bei dem die Flammen der Fantasie rasch aufloderten und die dürren Erklärungsversuche zu Asche verbrannten. Das Mittagessen solle heute sehr karg ausfallen. Am Abend gäbe es ohnehin Kartoffelsalat und Würstchen und natürlich die Süßigkeiten vom Teller. Die Gefahr, an einem solchen Tag zu verhungern, war geringer als die, sich den Magen zu verderben. Mutter machte der Schnee Sorgen. Vater musste heute noch mit dem Auto zum Krankenhaus und zu einigen Patienten und natürlich in die Nachbarstadt zur Gärtnerei Overhagen, hinter der katholischen Kirche. Dort holte er jedes Jahr zwei große Blumengestecke für das Krankenhaus ab. Diese wurden dann von Luise und Franz dort hingebracht, mit einem weihnachtlichen Gruß von ihren Eltern. Als Gegenleistung erhielt die Familie, meist am gleichen Tag, von einem Küchenmädchen gebracht, eine Torte, aus mehreren Schichten bestehend und mit viel süßlicher Marmelade dazwischen. Verziert war sie mit einer undefinierbaren Buttercreme. Diese sogenannte Krankenhaustorte wurde ganz hinten in den Kühlraum gestellt und war sehr dauerhaft. Niemand wollte davon essen. Erst wenn der letzte Krümel Kuchen nach Weihnachten verzehrt war, schnitt man diese Torte an. Das war dann für alle das Zeichen, dass nun die Weihnachtszeit endgültig vorbei war und der Alltag begann. Nur Peter, der sogar Stacheldraht gegessen hätte, wenn er nur süß gewesen wäre, erhielt sich mit dieser Torte noch lange die weihnachtliche Illusion. Mittlerweile waren die Blumengestecke im Krankenhaus angekommen und die Mutter Oberin lud die beiden Geschwister in das Besucherzimmer ein, wo ihnen ein paar Plätzchen und ein Likör vorgesetzt wurden.
Nach einem etwa 10-minütigen Gespräch gingen die beiden wieder fort, nicht ohne vorher einen Blick auf das Christkind zu werfen, das mit seinen Engelchen von Station zu Station, von Zimmer zu Zimmer zog, fröhliche und gesegnete Weihnachten wünschte und ein Gedicht über Friede und Freude dabei aufsagte. Die Engelchen in ihren weißen Gewändern machten ,ernsthaftige Gesichter und wedelten mit ihren goldverbrämten Pappflügeln, die mit einem sinnreichen Mechanismus auf ihren Rücken geschnallt waren. Jedes Jahr wurde ein neues Christkind im Dorf auserwählt. Es musste ganz jung, klein, lieblich und imstande sein, einen längeren Text auswendig zu lernen und aufzusagen. Christkind zu werden war das Höchste und bedeutete Ruhm für ein ganzes Jahr. Ach, was flossen Tränen, wenn man bei der Entscheidung nicht berücksichtigt wurde. Kinderund Familienfreundschaften gingen auseinander, man fühlte sich in der Ehre gekränkt, zurückgesetzt, beleidigt und böse Nachreden hielten sich noch jahrelang. Peters Schwestern haben sich klugerweise nie für dieses Amt gemeldet, sondern sich mit der Rolle der Begleitengel zufrieden gegeben. In diesem Jahr machten sie nicht mehr mit. Es war also denkbar, dass Luise und Mareike oder Mareike und Judith die Blumengestecke zum Krankenhaus brachten. Franz war diese Tätigkeit ohnehin lästig gewesen, obwohl er – seitdem er den Führerschein besaß – mit Vaters Auto dorthin fahren durfte. Das würde er auch diesmal tun, aber er würde im Wagen sitzen bleiben und auf die Rückkehr der beiden Mädchen warten. Als sie aus dem Krankenhausportal herauskamen, stand Franz mit dem Super 6 wartend davor. Das war etwa gegen 16:30 Uhr und um 18 Uhr würde der Küster den Heiligabend einläuten. Aber bis es soweit ist, bleibt noch Zeit zu erzählen,
was denn nun am Vormittag dieses 24. Dezember so alles passierte. Vater sitzt mittlerweile am Frühstückstisch. Nur Mutter ist bei ihm und informiert ihn über den geplanten Tagesablauf. Ein gemeinsames Frühstück gab es nicht im Hause. Während der Schulzeit waren die Kinder schon früh fort, weil einige mit dem Zug in die Kreisstadt zur Schule fahren mussten. Während der Ferien, sofern nicht besondere Aufgaben vorlagen, durften sie länger schlafen. Vater schätzte die Ruhe am Tisch. Meist warf er auch einen ersten Blick in die Zeitung. Gegen neun Uhr kommen die ersten Patienten, die von Mutter begrüßt und ins Wartezimmer gewiesen werden. Die meisten wollen über die Feiertage ein Rezept erneuert haben. Bei einigen bahnt sich eine Erkältung an oder es gibt Lungenaffektionen unklarer Herkunft. Lieber noch den Doktor befragen, bevor es während der Feiertage ernsthaft wird. Bei drei Patienten müssen Verbände erneuert werden. Einer mit einer schweren Schnittwunde in der Hand, einer mit einem offenen Bein. Dem dritten war neulich beim Holzhacken ein Stück Holz so unglücklich gegen den Kopf geflogen, dass eine große Schnittwunde entstand, die genäht werden musste. Dann ist es Zeit zum Krankenhaus zu fahren. Mareike und Judith haben nach dem Frühstück die Garagenauffahrt bis zur Straße frei gefegt. Langsam stößt der Wagen zurück, um jetzt mit Schwung rückwärts auf die schneebedeckte Straße zu fahren. Es knurpst, rutscht und schaukelt und jetzt nach vorn Richtung Dorf Einen Moment drehen die Räder durch, aber dann setzt sich der Wagen langsam in Bewegung. Der Schnee auf der Straße ist mittlerweile von den vielen Pferdefuhrwerken, besonders den Milchwagen, die aus den Bauernschaften kamen, zerfurcht und auch plattgedrückt. Es ist glatt bei dem runden Straßenprofil. Doch Vater wird gut beim Krankenhaus, bei einigen Kranken, die er heute, möglichst am Vormittag,
noch besuchen will und natürlich auch beim Gärtner ankommen. In die Sandwege braucht er diesmal nicht hinein. An zwei Stellen lässt er das Auto stehen, nimmt seine Tasche und geht quer übers Feld zu den Patienten. Im Krankenhaus macht er seine Visite auf der Männer- und auf der Frauenstation. Auf der Frauenstation liegen drei Wöchnerinnen, die anfangs der Woche entbunden haben. Es geht ihnen und ihren Neugeborenen gut. Sie sind in der sicheren Obhut der Hebamme und der Ordensschwestern. Den beiden Lungenentzündungen geht es den Umständen entsprechend zufriedenstellend. Im sogenannten Sterbezimmer liegt eine alte Frau, die das neue Jahr wohl nicht mehr erleben wird. Altersschwäche. Sonst gibt es leichtere Fälle, die aber im Krankenhaus besser aufgehoben sind als zu Hause. Das gilt besonders für einige ältere Frauen. Auf der Männerstation liegt einer mit schweren Brandverletzungen und zwei Männer mit Beinbrüchen, auch ein Krebspatient ist dort. Auf dieser Station gibt es weniger Krankheiten, mehr Verletzungen. Teilweise müssen Verbände im Operationssaal gewechselt werden, doch dank der vorsorgenden Operationsschwester geht dies schnell. Geburten wird es heute nicht geben, obwohl doch heute der wichtigste Geburtstag der Welt ist. Vielleicht wollen die Frauen das Einmalige und Einzigartige von Christi Geburt im Stall zu Bethlehem nicht durch eine einfache Allerweltsgeburt entweihen. Vermutlich ist alles Zufall. Denn, ob so viel nüchterne Vorausplanung möglich war vor neun Monaten, ist bei der unberechenbaren Entflammbarkeit der menschlichen Natur mehr als fraglich. Die nächste Niederkunft steht am 30. Dezember an. Vater ist zufrieden und beginnt seine vormittägliche Tour zu den Kranken und natürlich zum Gärtner.
Gegen 13 Uhr fährt er pünktlich in die Garage. Wenn das Wetter so anhielte, müsste Franz doch wohl die Schneeketten über die Reifen ziehen. Doch das Wetter scheint sich zu bessern. Die Wolken reißen auf und dann und wann wird ein Stückchen blauer Himmel sichtbar. Zu Mittag gibt es Steckrüben mit Rippchen. Weshalb die Erwachsenen für diesen Eintopf so schwärmen, ist Peter unklar. Er braucht viel Zucker, um dieses Zeug überhaupt herunterzukriegen, aber am Nachmittag gibt es ja schon Kuchen und erst am Abend…! Ja, was macht man am Nachmittag des Heiligabend? Vater würde schon früh ins Dorf gehen, wenn da nicht noch ein Patient käme. Zwar hat er auf einem im Wartezimmer ausgelegten Zettel mitgeteilt, dass am Heiligabendnachmittag keine Sprechstunden stattfänden, aber man kann nie wissen, zumal auch die Geschäfte noch bis 16 Uhr geöffnet haben. Doch heute kommt niemand und so geht er ins Dorf zu Hoeper Job, der das Hotel zur Post betreibt, und in die Turmstube. Um sechs Uhr beginnt im Dorf die Bescherung und gegen fünf Uhr wird er wieder zu Hause sein. In den vergangenen Jahren trat meistens am Nachmittag oder gegen Abend noch ein medizinischer Notfall ein und brachte das ganze häusliche Programm durcheinander. Aber heute, ja heute soll Peter seine große und wahrscheinlich letzte Weihnachtsillusion erleben und da gibt es keinen Notfall. Der Himmel ist mittlerweile ganz klar geworden. Es ist ein viel zu schönes Winterwetter, um im Haus zu bleiben. Auch wollen die Mädchen unbedingt zu ihren Freundinnen, um gemeinsam die Vorfreude auf Heiligabend zu erleben. An jedem anderen Tag wäre man mit dem Schlitten zum Schneewall oder zu den Sandloher Hügeln gezogen, um dort die flachen Hänge herunterzurodeln, aber dafür reicht die Zeit heute nicht. Außerdem steht um 16 Uhr der
Krankenhausbesuch an. Luise geht zu ihrer Freundin Atta; Mareike und Judith zu Gerhild und Ute. Franz hält sich vermutlich bei irgendeinem seiner vielen Freunde auf. Nur Mutter und Agnes sind noch im Haus – und Peter. Missmutig schaut er in den Garten, dort will er heute nicht mehr hinein. Dann entdeckt er draußen den Nachbarjungen Alfred. Zu dem geht er und gemeinsam versuchen sie einen Schneemann zu bauen, aber der Schnee ist zu trocken geworden und backt nicht richtig. Auch die Schneebälle halten nicht zusammen und so geht Peter wieder ins Haus. Dort zieht Mutter ihn erst mal um. Nein, nicht die kratzigen Wollstrümpfe und den steif kratzigen Matrosenanzug von Bleyle. Er bekommt etwas ganz Weiches angezogen, in dem er sich gut bewegen kann. Im Augenblick ist Peter allein und er setzt sich oben in dem Kinderzimmer auf den Tisch, die Füße auf der Heizung und blickt aus dem Fenster in den dunkler werdenden Garten. Der Schneefall heute Vormittag war nicht sehr stark gewesen und so sieht man noch immer die Spuren des Spiels deutlich im Schnee. Nein, das ist kein Zaubergarten mehr. Der Himmel ist klar geworden und die Baumspitzen heben sich schwarz dagegen ab. Dort also würde sich nachher der Himmel öffnen und das Christkind mit seinem Schlitten und seinen vielen Engeln herausfahren. Es fällt ihm nicht auf, dass es schon tagelang im verschlossenen Esszimmer gewirkt hat. Hat er doch selbst nicht gewagt durchs Schlüsselloch zu gucken! Aber nur ein Kinderglaube ist so groß, dass auch Widersprüchliches darin Platz finden kann. Es ist so still im Haus, auch von draußen dringt kein Laut ins Zimmer. Wie groß der Himmel ist! Wenn er Vater auf die Jagd begleitete, dann waren das Land und der Himmel auch so weit gewesen, wenn die Wildenten ganz hoch und unerreichbar für die Gewehre vorbeiflogen. Einmal zog eine Schar Wildgänse dahin, keilförmig geordnet und er hatte
ihnen atemlos nachgesehen, bis sie am Horizont verschwanden. Dann fühlte er sich immer so weit und leicht wie jetzt und ein kundiger Mensch hätte es vielleicht als Glücksgefühl beschrieben. Aber das, was ihn heute erwartete, das war noch größer. Es war eine Verheißung von etwas, was ungeheuer groß war und nie zu Ende ging. Das erste Zeichen war der Schnee am Morgen gewesen und nun der weite Himmel, aus dem das Christkind zu ihm kommen würde. Schnee konnte schmelzen, doch das Christkind war etwas Allmächtiges, was ewig war und immer nur Geschenke für die Kinder bereit hatte. Allerdings, wenn sich nun der Himmel aufgetan und das göttliche Kind dicht vor sein Fenster getreten wäre, dann hätte er wohl die Augen schließen und in eine Ecke flüchten müssen. Vor so viel Glanz und Göttlichkeit konnte man nicht bestehen. Dabei war er doch auf ein Erscheinen dieses Gottkindes vorbereitet. Immer zur Weihnachtszeit kramte er ein schon älteres und reichlich verschlissenes Buch hervor, mit dem seine Geschwister schon aufgewachsen und in dem auf jeder Seite die wunderschönsten Szenen vom Christkind mit seinen Engeln gemalt waren: Das Grün und das Weiß des verschneiten Waldes und darin in goldgelben Farben das Erscheinen des Christkindes, umgeben von Engeln und Geschenken. Am Weg standen die Tiere des Waldes einträchtig beisammen. Der Fuchs neben dem Hasen und schauten zu. Der Fuchs neben dem Hasen, das war zwar gegen alle Erfahrungen, aber die Allmacht des göttlichen Kindes gab auch ihnen einen verträglichen Platz in dem treuherzigen Kinderglauben. Peter dachte, dass es kein Kind zum Fürchten war und wenn es ihn mitnehmen würde in seinem Schlitten und um ihn herum schwebten die Engel, nein, da hätte er keine Angst. Aber das waren Bilder. Auch in seinen Märchenbüchern waren Bilder,
auch von der schrecklichen Hexe, davor fürchtete er sich nicht. Doch als in einem Märchenspiel diese auf der Bühne erschien, da hatte er in Panik die Hände vor die Augen gehalten und schrecklich geweint. Mittlerweile sind die Mädchen von ihrem Krankenhausbesuch und ihren Freundinnen wieder im Haus eingetroffen und ziehen sich lachend und singend um. Peter geht die Treppe hinunter, über den Flur, rasch an der Esszimmertür vorbei, durch die Stube und auf die Veranda. Dort sitzen die Eltern mit seinem Bruder. Das Gespräch verstummt und nimmt schnell einen neuen Verlauf. Als Peter in den Garten blickt, ist dieser schon schwarz. Man kann nach oben hin kaum noch Konturen erkennen. Nun kommen auch seine Schwestern hinzu und sie beginnen ein Gespräch, das nur ihn und das Christkind zum Mittelpunkt hat. Es geht um die Frage, was denn das Christkind wohl bringen werde. Man erinnert ihn an die Wunschzettel, die er abends auf die Fensterbank gelegt hat und die am Morgen verschwunden waren. Stattdessen lag dort eine Süßigkeit oder ein Stern. Das war ein Engel gewesen. Er hatte durch das verschlossene Fenster das Zettelchen herausgeholt und die kleine Gabe wieder hingelegt. Ein Wunder! Welche Macht hatte dann erst das Christkind! Es könnte ihm wohl die ganze Welt schenken. Man neckt ihn. Seine im vorigen Jahr geschenkte Burg hatte das Christkind abgeholt, ob denn das wohl ein gutes Zeichen sei? Ja, denn er hatte Soldaten auf den Wunschzettel geschrieben und ein Auto, das man aufziehen konnte und das eine Lenkung hatte. Einen Brummkreisel hatte er sich nicht gewünscht, aber Mutter meinte, er solle ihn doch aufschreiben. Vor ihm lagen Spielzeugkataloge. Da waren die Stofftiere und die Spielesammlungen, Burgen und Soldaten, überhaupt viel militärisches Gerät, Eisenbahnen, Bauklötze und
Stabilbaukästen. Er schaute auf alle diese Schätze. Das durfte man sich nicht alles wünschen. Das Christkind musste die anderen Kinder ja auch beschenken – und wer sich zu viel wünschte, bekam am Ende nur wenig. Dass sich das Christkind irgendwelcher Spielzeugkataloge bediente, störte ihn nicht. Man hatte ihn darüber aufgeklärt, dass sich das Christkind die Geschenke aus den Geschäften hole und in den Himmel bringe. Dort überlege es, welches Geschenk das jeweilige Kind verdient habe und das hänge wiederum davon ab, wie brav und lieb es im Laufe des Jahres gewesen sei. Das bravste Kind erhielt am meisten, sofern der Umfang des väterlichen Geldbeutels es zuließ. Aber solche Relativierungen wurden nicht geäußert. Sie hätten auch den arglosen Kinderglauben überstiegen. Ganz heimlich schaute er immer wieder auf das große Metallflugzeug, das rollen konnte und die beiden Propeller flirren ließ. Ob es wohl auch fliegen konnte? Nein, das schrieb er nicht auf. Nein, das wäre zu viel gewesen. Oder fürchtete er, es könnte in Wirklichkeit doch nicht halten, was die Abbildung versprach? Er schrieb überhaupt nicht viel auf. Das Christkind würde wohl wissen, was denn für ihn am besten sei. Das Gespräch geht auch über die möglichen Geschenke der Mädchen. Obwohl sie nicht mehr an das wundersame Himmelskind glauben, hat dieser Abend immer noch etwas Geheimnisvolles an sich. Fast als könnte ihnen doch noch plötzlich das göttliche Wunderwesen entgegenschweben. Mareike und Judith erzählen ihrem kleinen Bruder, was es denn bei ihnen fort geholt habe und steigern bei ihm noch mehr die Vorfreude und Erwartung: Beide Puppen sind verschwunden und die Puppenstube. Ob sie wohl mit einem neuen Kleid oder Mantel auf dem Gabentisch liegen, vielleicht in einem neuen Puppenbett? Ob die Puppenstube wohl eine neue Einrichtung bekommt? Ob es ein neues Puppengeschirr
gibt, richtige kleine Teller und Tassen und winzige Löffel und Gabeln? Die Schwestern versprechen ihm, dass er wieder mitspielen darf, wie in den Jahren zuvor. „Wisst Ihr noch, wie vor’ges Jahr es am Heiligabend war?“ Gab es überhaupt noch eine Steigerung? Und dann die neuen Kleider, die Strümpfe, die Schuhe, vielleicht ein neuer Mantel und die Bücher! Ja, und dann dieses Licht, diese Helligkeit, der strahlende Tannenbaum und der mit Weihnachtspapier und Weihnachtstellern geschmückte Tisch, über den man ganz schnell seine Augen wandern ließ, wo denn wohl die eigenen Geschenke lagen. ,Wisst Ihr noch mein Räderpferdchen, Malchens nette Schäferin, Jettchens Küche mit dem Herdchen und dem blankgeputzten Zinn? Heinrichs bunten Harlekin mit der gelben Violin?’ Wenn dann die ersten Geschenke besichtigt, ausgepackt, bestaunt und bejubelt waren, setzten sich Vater und hinterher auch Franz ans Klavier und alle sangen ,Stille Nacht, heilige Nacht’ und ,Oh, Tannenbaum’. Das war der einzige Tag im Jahr, an dem Vater Klavier spielte. ,Oh, Tannenbaum’ war das einzige Lied, dessen Tastenfolge er noch kannte. Anschließend rannten alle Kinder schnell in die Küche, wo sie ihre kleinen Geschenke für die Eltern und Geschwister bereitgelegt hatten und die sie jetzt mit einem ,Fröhliche Weihnachten’ und einer Umarmung übergaben. Nur Peter hatte nichts in den Händen. Die Geschenke brachte ja das Christkind und die erkennbaren Widersprüche wurden in einem treuen Kinderglauben aufgehoben.
Plötzlich ist Franz aus der Veranda verschwunden. Für die Mädchen ist es ein Zeichen, dass es bald losgehen wird. Franz muss die Vorbereitungen für die Ingangsetzung der elektrischen Eisenbahn treffen. Gleich nach dem Klingelzeichen wird er den Trafo aufdrehen, die Lichter einschalten und den Zug in Bewegung setzen. Dafür reicht ihm eine Minute. Geübt ist eben geübt! Seine Geschwister kämen ohnehin nur zögernd nach und seinem Bruder Peter würde es nicht einmal auffallen, dass er schon im Esszimmer stände. Nun verlässt auch noch Mutter mit ihren drei Töchtern die Veranda. Sie müssten in der Küche noch etwas herrichten. Peter will mit, wird aber zurückgewiesen. Die Mädchen sausen derweil in ihre Schlafzimmer und holen die Geschenke für die Eltern und Geschwister. Peter ist mit Vater allein. Beide stehen sie schweigend vor den Fenstern der Veranda und sehen über den schwarzen Garten in den sternenfunkelnden Himmel. Ein Stern leuchtet besonders hell. Peter fragt: „Ist das jetzt das Christkind, das vom Himmel kommt?“ Vater blickt eine Zeitlang auf diesen hellen Stern und dann nickt er und sagt: „Ja, das ist das Christkind.“ In diesem Augenblick kommen alle zurück, eifrig durcheinanderredend. Mutter meint, sie habe im Esszimmer verdächtige Geräusche gehört und draußen habe es nach Schlittenklingeln gelautet. Peter bebt das Herz. Ja, er hatte es vom Himmel herabfahren sehen, nun war es ganz in seiner Nähe und gleich würde er die Geschenke vorsichtig berühren, die aus unermesslicher Ferne gekommen waren und die eben noch das Christkind in der Hand gehalten hatte. Vater meint, da müsse er doch wohl nachsehen und er bleibt lange fort, denn er muss ja noch die Kerzen anzünden. Die Mädchen sitzen ganz gespannt da und erzählen Peter den Vorgang: Gleich wird das Christkind klingeln, um anzuzeigen,
dass es den Raum verlassen und seinen Schlitten bestiegen hat und dass jetzt die Kinder kommen und das Wunder bestaunen dürfen. Ja, und dann klingelt es. Erst ganz leise und zaghaft und dann lauter und lauter. Die Kinder erheben sich zögernd und genauso zaghaft, wie das Klingeln eben war, gehen sie auf den Flur. Ein wenig ängstlich gar, weil doch noch das Gewand des Christkindes oder eines Engels durch den Hausflur flattern könnte. Aber da ist nichts mehr von den himmlischen Heerscharen. Vor dem Esszimmer steht Vater und öffnet die Tür. Was Peter zunächst wahrnimmt, ist eine blendende Lichtfülle, die vom Tannenbaum ausgeht. Er steht und staunt. Bei dem Baum ist seine Burg aufgebaut mit vielen Soldaten und Militärgeräten. Dann fasst eine der Schwestern ihn am Arm und zeigt zum Tisch. Da rollt doch tatsächlich ein Zug, eine moderne Diesellok mit Personen- und Güterwagen. Er fährt eine Runde, dann bewegt sich ein Signal und der Zug biegt auf eine Nebenstrecke ab, die zum anderen Ende des Schienenovals führt. Einen Augenblick steht Peter ganz gebannt da, dann tritt er zögernd näher und lässt den Zug ganz nahe an sich vorbeifahren. An der anderen Seite des Tisches stehen ein Transformator und ein Stellwerk. Franz bedient die Anlage. Er verstellt die Weichen, lässt die Signale auf ,Halt’ oder ,Fahrt’ nieder oder hinauf. Tatsächlich, wenn das Signal auf ,Halt’ steht, wird die Lok, wie von Geisterhand festgehalten, davor gestoppt. Dann lässt Peter sich von seinem Bruder in die Handhabung von Transformator und Stellwerk einweisen. Nur langsam aufdrehen und den Zug in der Kurve nicht zu schnell fahren lassen, weil er sonst umkippen könnte. In der nächsten Viertelstunde vergisst Peter völlig den Gabenteller und die übrigen Geschenke beim Tannenbaum. Unter Anleitung von Franz koppelt er die Güterwagen vom
übrigen Verband ab, er rangiert, hängt einzelne Güterwagen an den Personenzug, lässt anhalten, aussteigen und den Zug in der Unterführung verschwinden. Die Signale gehorchen auf Knopfdruck. Er vergisst alles ringsum und man hört von ihm nur die jubelnden Ausrufe, wenn alles so gelaufen ist, wie er es sich vorgestellt hat. Alle im Raum sehen immer wieder auf sein Spiel und lächeln sich zu. Die Überraschung ist gelungen und Peters Freude und Begeisterung überträgt sich auf die anderen. Doch dann ist die Zeit gekommen, erst einmal die Weihnachtslieder zu singen. Andächtig und fröhlich geschieht dies und danach wenden sich die Kinder wieder ihren Geschenken zu. Jemand lenkt Peters Blick auf seinen Gabenteller und auf die Burg neben dem Tannenbaum. Fast nebenbei nimmt er von seinem Teller zwei Marzipankugeln, steckt sie sich in den Mund und kniet bei der Burg nieder. Darauf und davor stehen viele Soldaten, meist in schießender Haltung, dazu ein Offizier auf einem Pferd, so ähnlich wie Vater auf dem Kriegsfoto von 1914. Das Besondere sind die neuen militärischen Fahrzeuge und Geräte: Ein Panzer, ein Funkwagen, ein Kettenfahrzeug mit neun stramm darin sitzenden Soldaten, ein Kommandeurswagen mit vier Insassen, eine 8,8 cm Flak und eine Pak. Neben der Burg ist ein Hauptverbandsplatz aufgebaut mit zwei Zelten, mehreren Ärzten, Schwestern, Trägern und einem Sanitätsauto. Peter nimmt seine neuen Spielzeuge in die Hand. Er betrachtet sie genau, ob sie wohl realitätsnah sind, um sie dann neu aufzustellen oder zu bewegen oder mit den Geschützen zu schießen. Die Integration des Sanitätswesens in die Schlacht ist zunächst schwierig. Einige der umgefallenen Soldaten werden zu Verwundeten erklärt und dann eilen die Sanitäter mit ihren Tragen herbei, doch der Transport der Verwundeten ist
umständlich. Sie lassen ihre Gewehre gegen alle Erfahrung nicht los und verharren in der schießenden Haltung. Deshalb liegen sie nur sehr unsicher auf den Tragen und passen nicht in das Sanitätszelt hinein. Daher muss der Operationstisch mitsamt den beiden Chirurgen draußen aufgestellt werden. Es sieht schon komisch und unrealistisch aus, wenn diese sich um einen noch weiter geradeaus schießenden Soldaten medizinisch bemühen. Auch ist er viel zu sperrig, um in das Sanitätsauto zu kommen. Deshalb tauscht Peter diese schießenden Figuren gegen echte Verwundete aus, von denen er mehrere bekommen hat. Sie haben ihren Kombattantenstatus abgegeben und liegen malerisch-blutbefleckt, still und handlich auf Trage und Operationstisch. Die Schießfigur wird in die Schlacht zurückbeordert. Bei diesem Spiel vergisst Peter seine Eisenbahn. Er spürt jetzt schon, dass sie nur wenige Spielmöglichkeiten bietet und irgendwann langweilt, weil sich doch alles in kurzen Abständen wiederholt und in ihrem Schematismus wenig die Fantasie anspricht. Das Aufbauen der Anlage würde sich später als das Interessanteste erweisen. Danach wendet sich Peter einem Teddybären und einem Brummkreisel zu, den er in Bewegung setzt, aber aufregend ist das nicht. Ein Metallflugzeug ist nicht unter den Geschenken. Ob da das Christkind seinen geheimen Wunsch doch nicht so genau in ihm abgelesen hatte? Aber es hat ja die elektrische Eisenbahn gebracht. Die stand weder auf seinem Wunschzettel noch in seinem Herzen und sie ist mehr. Zum Schluss betrachtet er ganz genau die Bücher, die er erhalten hat. Sie handeln fast alle von der Jagd und sind zum Teil als Bilderbücher aufgemacht. Er überfliegt zwar nur ihre Titel und blättert sie einmal durch, aber er weiß jetzt schon, dass sie für ihn das Kostbarste sein werden, weil sie seine Fantasie in bekannte und in neue Welten spazieren lassen.
Er legt sie neben die Tür aufeinander. Er will sie mit in sein Bett nehmen und dort werden sie auf dem Nachttischchen liegen, griffbereit, vor allen Dingen für morgen früh, wenn er noch nicht zu seinen anderen Geschenken ins Esszimmer kann. Während Peter mit seinen Spielsachen beschäftigt ist und sich nur dann und wann erhebt, um einen Raubzug zu den Weihnachtstellern der Geschwister zu machen, entdecken diese ebenfalls ihre Geschenke. Erstaunte und jubelnde Rufe, Fragen, Antworten und Erklärungen klingen durch den Raum. Mareike und Judith haben zu ihrer dreiteiligen Puppenstube eine neue Einrichtung bekommen. Sogar ein Badezimmer mit einem winzigen Klo ist dabei. Das müssen sie unbedingt Peter zeigen und sie zerren ihn herbei. Die Puppen sitzen in neuen Kleidern da und für die Mädchen selbst gibt es Kleidung, Schmuck und Schuhe. Das gilt besonders für Luise. Sie bekommt unter anderem zwei paar Schuhe. Oh, Wunder, sie passen sogar. Wenn sie selber Schuhe kaufte, passten sie meistens nicht. Ja, ja, das Christkind weiß und kennt alles. Sogar die genaue Schuhgröße 42. Auf Franz’ Platz liegt eine Leica, die man allerdings im Frühjahr schon gekauft hatte. Außerdem ein Fotoalbum, ein medizinisches Fachbuch und das Übliche: Schlips, Oberhemd und Socken. Die Geschenke der Kinder für ihre Eltern bestehen aus selbstgestrickten Handschuhen und Schals, einer selbstgehäkelten Tischdecke, einem Nadelkissen und einem Kissen für die Auto sitze. Darauf ist ein Automodell abgebildet. Die Benz Benzinkutsche. Dazu kommen die Versprechen, immer lieb und brav zu sein, aber nur von den drei Mädchen. Es ist schon schwierig, Eltern zu beschenken. Aber die sind froh, wenn die eigenen Geschenke gelungen und die Kinder glücklich sind. Das ist das Größte.
Doch dann wird der Trubel unterbrochen. Die erste Serie Kerzen ist fast abgebrannt und es müssen neue aufgesteckt werden. Diese Gelegenheit wird genutzt, um einmal die Eisenbahn bei einer Nachtfahrt zu zeigen. Das Deckenlicht wird ausgeschaltet und nun fährt die Lokomotive mit dem vornehmen Salonwagen ihre Runden. Die Lichter der Lok strahlen nach vorne auf die im Dunkel liegenden Gleise. Nur die einzelnen Signalmasten und Weichen sind beleuchtet oder scheinen rot auf. Den allergrößten Eindruck hinterlässt der hellerleuchtete Salonwagen. Franz bedient den Transformator und auf Anweisung darf Peter auf einige Knöpfe im Stellwerkhäuschen drücken. Es klappt hervorragend. Alle rufen Ah und Oh und sind von diesem Lichtexpress im Dunkeln beeindruckt. Dann wird das Licht wieder angemacht und zum Abendessen gerufen. Es gibt traditionsgemäß Kartoffelsalat mit Würstchen und dazu Heringssalat. Peter isst nur wenig. Er hat schon viel zu viele Marzipankugeln, Schokoladenstückchen, Spekulatius und sonstige Süßigkeiten gegessen, meist von den Tellern der anderen und sein Bauch ist rappelvoll. Es geht laut her bei Tisch. Jeder will etwas sagen. Peter schweigt, er will möglichst schnell wieder zu seinen Spielsachen. Doch als man ihn zu seinen Geschenken befragt, da beginnt er sehr ausführlich zu erzählen und in seiner Erinnerung wird alles noch größer, strahlender und schöner, als er es noch vor zehn Minuten gesehen hat. Alle hören ihm aufmerksam zu und freuen sich über seine Freude. Aber nicht ohne den Hinweis, wie dankbar er doch dem Christkind sein müsse, und er erwidert, dass er es sei. Er verspricht, beim Zubettgehen noch einmal mit einem Zusatzgebet zu danken. Nach dem Essen gehen die Kinder zunächst zu den Nachbarn, zu Onkel und Tante Pohl und Rudolf. Dort brennt ebenfalls ein hoher, schöner Tannenbaum, allerdings mit
bunten Kugeln. Auch hier gibt es Geschenke und Peter entdeckt eine Militärkapelle aus neun Figuren, die geradewegs unter dem Tannenbaum hervormarschiert kommt. Außerdem steht da ein übergroßer Teller, gefüllt mit Marzipankugeln, Schokolade, Kuchen und sonstigen Süßigkeiten. Nur für ihn. Man kennt seine Vorliebe oder genauer gesagt, das Christkind kennt sie. Außerdem ist er der Sunnyboy, wie Tante Pohl es zu sagen pflegt, der Familie. Er lässt es sich nicht anmerken, dass er statt der neun Musikanten lieber eine kämpfende Truppe gehabt hätte, z. B. einen weiteren liegenden MG-Schützen oder einen vorwärts stürmenden Offizier mit gezogenem Degen. Der militärische Wert dieser Musici war gleich Null. Vielleicht konnte man sie bei einer Ordensverleihung oder bei einem Vorbeimarsch einsetzen, aber dafür fehlten ihm wiederum die entsprechenden marschierenden oder strammstehenden Soldaten. Das Christkind hatte wohl wenig Erfahrung im Kriegswesen. Doch auch hier verspricht er, dem Christkind für seine Geschenke noch besonders zu danken. Angesichts des übervollen Tellers fällt ihm ein solches Versprechen nicht schwer. Dann kehrt man ins Esszimmer zurück, wo jetzt die zweite Serie Kerzen angezündet wird. Noch einmal wird gesungen und dann kann jedes Kind ohne Unterbrechung mit den Geschenken spielen, sie betrachten und an- und ausprobieren. Vater hat eine Flasche Wein aus dem Keller geholt und sitzt an dem kleinen runden Tisch vor dem Fenster in dem riesigen Schlachtschiff von Sessel, ihm gegenüber Mutter. Franz und Luise gehören schon zu den Großen und dürfen ein Gläschen Wein mittrinken. Mareike und Judith inszenieren Familienleben in der Puppenstube. Sie laden auch Peter dazu ein, aber er will nicht. Irgendwann hat Peter keine Lust mehr zu spielen. Irgendwann entzündet das Spielzeug nicht mehr seine Fantasie.
Er ist leer. Er nimmt seine fünf Bücher und setzt sich damit in eine Ecke an der Seite des brennenden Tannenbaums. Er nimmt eins heraus. Es ist das Jägerkinder-ABC und zeigt auf dem Umschlag ein Mädchen auf einem Baumstumpf sitzend und mit fragender Gestik auf die Tiere blickend, die es umgeben. Für Peter ist es klar: Ein kleiner Bär, ein Hase, ein Elchkalb, ein Frischling und ein Eichhörnchen. Auf jeder Seite gibt es ein oder zwei Bilder von jagdbaren Tieren in ihrer natürlichen Umwelt und dazu einen passenden Vers: ,Der Adler schlägt den Auerhahn, ein Alttier führt das Rudel an.’ Die meisten Tiere kennt er, hat sie aber noch nicht alle in Vaters Revier angetroffen. Den Elch gibt es hier nicht. Manchmal sind auch Szenen abgebildet, die er von der Jagd her kennt und dann schweifen seine Gedanken ab. ,Der Rehbock schreckt: Bö, bö, böbö; das Rebhuhnvolk strebt in die Höh.’ Im nächsten Jahr wird er mit Vater wieder auf die Jagd gehen. Ansitzen auf den Rehbock oder Rebhuhnjagd auf dem Anhauser Esch. Es gibt nichts Schöneres! Oder doch, Heiligabend? Als er beim letzten Bild angekommen ist, fühlt er die Müdigkeit. Das Bild ist auch danach: Ein kleiner Junge – das könnte er sein – im Pyjama geht er auf sein Bettchen zu, unter dem Arm und in der Hand einen Teddy und einen Clown, der ganz müde die Gliedmaßen hängen lässt. Am Bett angebunden, ein Dackel auf vier Rädern neben einem Bauernhof. Vor dem Bett liegt eine Wildschweinschwarte und unter dem Stuhl steht ein kleiner Elefant. Oberhalb des Bettes an der Wand ein ausgestopftes Eichhörnchen mit einer Nuss in den Vorderpfoten und daneben die Kinderzeichnung von einem Hirsch. Links oben im Bild sitzt vor der untergehenden Sonne ein Vogel auf einen Baumstumpf gedrückt. Peter gähnt, das Bettchen zieht ihn an.
Unter dem Bild steht der Vers: ,Der Ziegenmelker schnurrt und spinnt, nun geh’ zu Bett, mein liebes Kind.’ Eigentlich weiß Peter gar nicht mehr, wie er ins Bett gekommen ist. Es war wohl so: Mutter hat ihn auf den Arm genommen und in sein Schlafzimmer getragen. Dort hat sie ihn ausgezogen und in sein Kinderbett gelegt, mitsamt dem Jägerkinder-ABC. Das hielt er fest umklammert. Ob er von der Jagd geträumt hat? Oder von dichten weißen Flocken, die noch einmal einen weißen Zaubermantel über den Garten legten?
Das Paradies
Er war ein Frühaufsteher, besonders in den Ferien und besonders an den hellen Sommertagen. Er erschien in der Küche, kurz nachdem das Hausmädchen Agnes ihre Arbeit begonnen hatte. Ihn zum sogenannten Ausschlafen zu bewegen, hatte man längst aufgegeben. Sein erster Weg nach einem raschen Frühstück führte in den Garten. Der lag noch im Schatten des zweistöckigen Hauses und der noch höheren, davor stehenden Linden. In seiner kurzen Hose, den Knie Strümpfen und dem leichten Polohemd fühlte er unangenehm die Kühle des Morgens. Aber die Sonnenstrahlen hatten die Laube hinten im Garten schon erreicht. Dorthin begab er sich, zu der weißgestrichenen Bank, nachdem er seinen Inspektions- und Begrüßungsgang durch den Garten beendet hatte. Seitdem er im Religionsunterricht gelernt hatte, dass das Paradies ein Garten gewesen sei, erklärte er eines Tages den elterlichen Garten zu seinem Paradies. Er durchschritt mit straffem Marschtritt alle Wege, manchmal auch zweimal, wobei er mit rechtsgewendetem Kopf die reglos dastehenden Büsche und Bäume streng fixierte. Am Ende stand er stramm und legte die rechte Hand salutierend an die Stirn. Er sagte laut: „Hiermit ernenne ich euch zum Paradies!“ So kannte er das aus seinen Kriegsbüchern und aus den Zeitungen. In der Folgezeit erhielten sämtliche Pflanzen einen Rang, den er ihnen in einer feierlichen Zeremonie verlieh. Bäume wurden meistens Generäle. Allerdings, da er sich in der Hierarchie auskannte, in Abstufungen. Ein besonders breit ausladender Apfelbaum wurde in den Rang eines
Reichsmarschalls erhoben. Aber auch niedere Pflanzen hatten ihren Marschallstab im Tornister. So konnte er nicht umhin, einen Johannisbeerstrauch wegen seiner reichen und wohlschmeckenden Früchte zum Generalleutnant zu ernennen. Selbst die Spargelbeete erhielten ihren Rang nach Verdienst und jedes konnte es, je nach Produktionsergebnis, bis zum Oberfeldwebel bringen. Die Offiziersränge blieben den niederen Bodenpflanzen jedoch verwehrt. Das galt auch für die Erbsen, Dicken Bohnen oder Kartoffeln. Er selbst war innerhalb dieser Hierarchie so etwas wie der Führer, obwohl er sich das nicht eingestehen wollte, denn im Religionsunterricht hatte man ihn gelehrt, dass der Mensch sich nicht gottähnlich machen dürfe. Das führe zu einer Katastrophe und zur Vertreibung aus dem Paradies. So begnügte er sich damit, seinen Paradies Soldaten Ränge zuzuteilen, ohne einen eigenen zu haben. Erst als Thomas, sein Freund, diese Soldatisierung des Gartens und die damit verbundenen militärischen Zeremonien entdeckte und sich darüber lustig machte, ließ er davon ab. Mehr noch, er erschrak und schämte sich. Es war, als habe sich etwas Unpassendes, ja Unrechtes in sein Paradies gedrängt und wolle ihn daraus vertreiben. Thomas hatte ihm gerade noch rechtzeitig die Augen geöffnet. Oftmals allerdings fragte er sich, wo sich denn Adam und Eva nach ihrem Sündenfall wohl hätten verstecken können. So hoch und dicht waren die Beerensträucher und Stangenbohnenspaliere nicht. Auch nicht die hoch geschossenen Erbsen- und Dicke Bohnenreihen, die von abgehauenen, dürren Baumzweigen am Umfallen gehindert wurden. Erst recht waren die kleinen Kartoffelfelder ungeeignet, um zwei erwachsene Menschen zu verstecken. Für Erwachsene war dieses Paradies wohl zu klein. Er dagegen fand für sich selbst Deckung genug. Keiner im Hause war sich sicher, ob er beim Aufenthalt im Garten vom Jüngsten der
Familie belauscht und belauert wurde, unsichtbar, unauffindbar und doch anwesend. Alle wussten, dass dieser Garten Ohren hatte, ziemlich große sogar. Aber keiner, der in den Garten ging, weil er mit dem anderen etwas Geheimes oder Wichtiges bereden wollte, nahm diese beiden Menschenohren ernst. Der Mitteilungszwang ließ sie vielleicht auch nicht daran denken. Ihm aber machte nichts mehr Spaß, als sich sofort zu verstecken, wenn jemand den Garten betrat. Meistens endete es so, dass er ,Husch!’ aus dem Versteck hervorbrach und den Ahnungslosen erschreckte. Kamen aber zwei oder mehr in den Garten, dann bezog er einen Horchposten, den er freiwillig nicht verließ. Es war schon sonderbar, wie häufig sein Paradies zum Ort geheimnisvoller Gespräche wurde. Immer zu zweit, ganz ernsthaft und manchmal mit Tränen. Letzteres verstand er überhaupt nicht. Im Hause lief alles bestens, ringsum war Friede, Freude, Eierkuchen und Deutschland siegte an allen Fronten. Mutter sprach mit der Nachbarin, sein Bruder mit einem Freund und bisweilen auch Vater mit dem Nachbarn, der als Polizeileutnant beim SD im Generalgouvernement eingesetzt war. Hier im Garten trafen sich die beiden und sprachen über politische Vorgänge. Er hörte viel von den privaten Geheimnissen seiner Schwestern, aber er lernte auch genau, was er davon, um die Geschwister zu necken, beim gemeinsamen Essen preisgeben durfte und was ein Geheimnis bleiben sollte. Seine Schwestern dankten es ihm mit Sachleistungen und mit liebevollen Gefühlszuwendungen, die er wohlwollend in Empfang nahm. Sie umhüllten ihn wie ein weiches Federbett. Bisweilen aber kam er in die unangenehme Situation, unfreiwillig Ohrenzeuge zu sein. Er konnte sich aber nicht mehr davonschleichen oder sich einfach verraten. Unfreiwillig Dinge zu hören, deren Bedeutung er nicht ganz erfasste, die aber in ihrer wörtlichen Aussage einfach in ihm stecken
blieben und ihn in ihrer Undurchschaubarkeit beunruhigten. Doch er konnte auch nicht fragen und sich verraten. Er wusste nicht einmal, ob den Belauschten eine Frage recht gewesen wäre. Er hatte eigentlich nur seinen Freund Thomas, der ein großartiger Erzähler und Erklärer war, mit dem er das Gehörte besprechen konnte. Aber der, über zwei Jahre älter, konnte selbst nicht alle Zusammenhänge erklären. Manches geheimnisvolle Gespräch drehte sich um die Liebe. Dann tat Thomas so, als wenn er davon auch nichts verstünde. Ob nun jemand trinkt, krumme Geschäfte macht, sich vor dem Wehrdienst drückt, wer Beziehungen hat und vor allen Dingen, was man alles den Nazis nachsagt und wie man auf sie schimpft – über solche Themen wollte Thomas wohl genauer Auskunft geben. Beide wunderten sich, wie wenig doch die Nazis bei der Bevölkerung beliebt waren. „Schizophren“, sagte Thomas. „Und was heißt das schon wieder?“, fragte Peter. „Weiß ich nicht genau. Aber es ist so was Ähnliches wie, jemand denkt so und handelt ganz anders. Die Leute schimpfen auf die Nazis, aber wenn die Wehrmacht wieder einen großen Sieg errungen hat, dann strömen sie in Massen vor die Reichskanzlei und schreien Heil.“ Peter interessierte dieses Thema aber nicht. Schließlich schimpfte man im Hause gelegentlich über den Pastor und die Kirche. Aber man setzte doch alles daran, die Gebote der Kirche zu erfüllen: mit Morgen-, Mittag- und Abendgebet, mit dem Besuch der Sonntagsmesse und mit Beichte und Kommunion. Denn es wurde als Sünde angerechnet, wenn man durch Unterlassen gegen diese Kirchengebote verstieß. Für Verfehlungen gegen die Gebote der Kirche drohten jenseitige Strafen. Für Verfehlungen gegen das Naziregime gab es irdische Strafen, ganz genau welche, wusste er nicht. Man
flüsterte von ,abgeholt’ und ,Gestapo’. Da waren die Strafandrohungen der Kirche genauer: Fegefeuer oder Hölle. Peter spürte, dass es im Hause eine unausgesprochene Antipathie gegen die Nazis gab. Unter den vielen Bildern an den Wänden befand sich kein Hitlerbild. Wohl Hermann Göring als Reichsjägermeister inmitten von ausgestopften Vögeln und Rehgehörnen. Auch ein Bild von Franz Seldte, der der Anführer des ,Stahlhelm’ war, und natürlich Paul von Hindenburg, den Vater noch aus dem 1. Weltkrieg so sehr verehrte, dass er seinen jüngsten Sohn auf den Namen Paul taufen lassen wollte. Aber Mutter wollte einen zweisilbigen Namen, und so bekam er aus dem Apostelpaar Peter und Paul den Namen Peter. Das war noch vor 1933, hinterher nannten die Familienväter ihre Zukunftsträger häufig Adolf. Peters drei Schwestern und sein Bruder waren alle in der Hitlerjugend. Wenn sie vom Dienst kamen, sprachen besonders die Mädchen ganz begeistert davon, was sie heute alles getan hätten und wie toll ihre Führerin sei. Das widersprach zwar der allgemeinen Antinazistimmung, aber wo gab es denn sonst Sport und Spiele in aller Öffentlichkeit und ohne beengende klerikale Kleidervorschriften. Das Sporthemd hatte zwar den HJ-Blitz auf der Brust, aber dafür nur zwei schmale Schulterträger. Peter hörte aber nur mit halbem Ohr hin, denn er ahnte, dass hier etwas streng Organisiertes ablaufe und das war ihm zuwider. Seine Spiele und Unternehmungen waren spontan. Der Augenblick und Lust und Laune diktierten den Ablauf Spielzwänge waren ihm verhasst. Sein Paradies bot ihm alle Freiheit, wie es sich eben für ein richtiges Paradies gehört. Daraus würde ihn auch niemand vertreiben. Vermutlich hätten sich Adam und Eva hinter der Gartenlaube versteckt, die nach hinten zum Nachbargrundstück dicht von Lebensbäumen umgeben war. Aber was half eigentlich alles Verstecken? Gott sah alles und hätte die beiden Sünder auch
hinter den dicken Betonwänden des Westwalls entdeckt. Ihn würde man nicht finden, denn alle Büsche, Bäume und Pflanzen standen auf seiner Seite, das wusste er. Sie würden ihn in einen Baum verwandeln und in ihrer Mitte aufnehmen. Da würde man vielleicht dumm gucken, wenn sich nach dem Ruf: ,Peter, wo bist du?’ niemand meldete und der ehemalige Reichsmarschall-Apfelbaum dem Rufenden womöglich noch höhnisch einen Apfel auf den Kopf schmetterte. Das war natürlich nur im Herbst möglich. Bäume waren mächtige Beschützer. Wie hoch und breit sie dastanden! Er lehnte sich gegen ihren Stamm und stellte sich vor, wie sie ihren mächtigen Arm um seine Schultern legten. So wie viele Freunde des Hauses es machten und dabei sagten: ,Na, Peter, wir beide schaffen das!’ Es blieb ihm allerdings unklar, was sie beide schaffen wollten. Doch es machte ihn bei all seinen – zugegeben – kleinen Vorhaben zuversichtlich und gab ihm Vertrauen. Wer hatte schon so starke Verbündete? Diese Freunde waren wie die Bäume im Garten oder die Bäume bildeten einen Teil der Freundesrunde. Er stand in ihrer Mitte und sie schauten wohlwollend und hilfsbereit auf ihn herab. Wohl merkte er mit der Zeit, dass mancher Besucher es darauf angelegt hatte, das Wohlwollen oder sogar die Zuneigung seiner Schwestern zu erringen, aber ohne ihn als Bundesgenosse musste eine solche Offensive völlig misslingen. Sein Bruder legte nur selten den Arm um seine Schulter. Allzu häufig sahen sich die beiden ja nicht. Der Bruder studierte in einer Universitätsstadt bis zum Physikum und dann kam das Übliche: Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht. Peter war im Hause nur beim Mittagessen anwesend und greifbar und wenn er es wollte. Auch Vater war nur noch am Wochenende zu Hause. Man hatte ihn mit Beginn des Krieges in einer 30 km entfernten Stadt zum Leiter eines
Reservelazaretts ernannt. Hauptsache, er war samstags da. Dann ging’s auf die Jagd und dann war Peter sofort zur Stelle. Ach, die Mediziner! Wenn Peter mal wieder mit einer Bronchitis im Bett lag, kam Mutter mit einem mit heißem Öl getränkten Wattebausch und legte ihm diesen auf die Brust und darüber den grauen Engländerschal. Oh, wie das zunächst brannte! Aber Mutter blieb hart. Sie hatte die Temperatur des Öls am Handgelenk kontrolliert, es war erträglich. Doch war es nicht die Wärme, die heilte, sondern Mutters tröstliche Versicherung, das sei das Fett von den Gusegänsen mit den weißen weichen Federn. Wenn sie dann noch ein Weilchen bei ihm sitzen blieb und die Hand auf seine Stirn legte, dann war er bald eingeschlafen und am anderen Tag gesund. Die Mediziner, auch Vater, rückten gleich mit Tabletten und Spritzen an und verschwanden sofort wieder nach stattgehabter Medikation. Wenn Peter einmal Arzt war, dann wollte er nur mit Handauflegen heilen. Jesus, im Neuen Testament, konnte das. Er legte seine Hand auf den Kranken und sprach ein paar Worte und der Kranke erhob sich oder sogar der Tote. Aber Jesus war ein Gott, der hatte ja allmächtige Kräfte, doch Mutters Hand und die weißen Gänsefedern mit dem Öl bewirkten ja auch etwas. Auch Bäume waren mit gewaltigen Kräften ausgestattet. Man musste diese nur auf den Menschen überleiten. Deshalb lehnte er sich gern an einen Baum oder berührte ihn mit der Hand. In seinen Märchen- und Sagenbüchern kamen viele Geschichten vor, in denen Bäume Menschen halfen, aber auch als Rächer auftraten. Sie konnten sich selbst verwandeln, aber auch andere Lebewesen. In seinem Sagenbuch fand er die Geschichte von JungSiegfried. Der geht bei einem Schmied Mime in die Lehre, entwickelt dort gewaltige Kräfte und schmiedet ein wunderbares Schwert. Deshalb wird Mime neidisch und
ängstlich und möchte Siegfried loswerden. Er schickt ihn in den Wald, in der Hoffnung, dass der dort lebende Drache ihn töte. Doch es kommt gerade umgekehrt. Siegfried erschlägt den Drachen und ab da nimmt die Mord- und Totschlagserie ihren Lauf, an deren Ende die hinterhältige Ermordung Siegfrieds steht. Gegen diesen Heldentod hatte Peter etwas, obwohl doch manche seiner Leutnants einen solchen sterben mussten. Aber das war doch nur Spiel, um der Totenfeier willen. Er wehrte sich dagegen, dass diese glänzenden und unschuldigen Helden immer früh sterben mussten und niemals normal in Rente gehen konnten. Jung-Siegfried war doch auch ganz harmlos von Vaters Burg hinab geritten, in eine Lehre eingetreten und dann kommen all diese bösen Menschen und Mächte. Sie schubsen ihn auf einen Weg, der ihn zuletzt ins Verderben führt. Peter fand eine andere Lösung. Der Drache konnte sich in einen Riesenwald verwandeln und dieser wieder in einen Drachen, doch dieses Ungetüm tötete keine reinen, unschuldigen Menschen. Nur böse, die es nur auf Macht und Vernichtung abgesehen hatten und habgierig, neidisch und hinterhältig waren. So irrt denn Siegfried durch den Wald, ohne auf den Drachen zu stoßen. Ringsum riesige Bäume, von denen Schlingpflanzen mit bunten Blüten herabhängen. Jetzt stolpert er über eine Baumwurzel, das ist eine Kralle des Drachens. Nun streift ihn eine Orchidee, das ist ein winziges Haar vom Augenlid des Ungeheuers. Nun setzt er sich erschöpft auf einen Hügel und darunter liegt die Schwanzspitze des Waldtiers. Zwischen den Bäumen Büsche mit Blüten und wohlschmeckenden Früchten. Alles ist voller Schönheit und von einer Großartigkeit, die man nur andächtig bewundern kann, so dass Siegfried den Wald schon bald so lieb gewinnt, dass er am liebsten dageblieben und darin gewohnt hätte. Als er am Abend müde wird, legt er sich unter den gewaltigen
Wurzelballen eines umgestürzten Baumriesen. Das gerade war der mächtige offene Rachen des Drachen. Aber dieser schnappt nicht zu. Der Drache lässt ihn am nächsten Morgen wieder aus dem Wald zurückkehren, nicht ohne Siegfried noch einmal über eine Krallenwurzel so stolpern zu lassen, dass dieser sich die Nase blutig fällt. Mime ist sehr enttäuscht, lässt sich aber nichts anmerken. Er schickt Siegfried mit der Bemerkung, er habe nun ausgelernt, wieder zu seinem Vater zurück. Dort wird er dann Kronprinz und später König. All die blutigen Nachfolgetaten bleiben ungetan, nur Mime wird später von einem fallenden Baum im Wald erschlagen. Da piept die Maus, das Märchen ist aus. Manchmal verstieg sich Peter ernsthaft zu dem Gedanken, dass sein Paradiesgarten sich in einen Drachen verwandeln könne, der ihm beistehen würde, wenn er in Not geriete. Aber wie sollte er jemals in Not geraten? Um ihn herum standen die Bäume und die Menschen. Sie alle waren die Bäume seines Lebens. Auf eine solche mythisch-märchenhafte Deutung des Gartens verlegte er sich, seitdem Thomas ihm den Unfug mit der Militarisierung seines Paradieses ausgetrieben hatte. Das fiel ihm nicht immer leicht. Seine Kriegsbücher ließen ihn nicht los. Seine Begeisterung für Soldaten und Waffen brach immer wieder durch. Selbst bei den fantastischen Geschichten, die Thomas um die Silberpappel entwarf. Der schoss ihm einen bösen Blick zu, wenn Peter die Blätter dieses Baumes in Stukas verwandelte, die in Scharen über England herfielen und es zur Kapitulation zwangen. Aber jetzt waren erst einmal Sommerferien. Wenn er am Morgen in den Garten ging, begrüßte er als erstes die Bäume. Er klatschte mit der Hand gegen die Stämme, so ähnlich wie man das bei Pferden machte. Er strich im Vorübergehen über die Blätter der Johannisbeersträucher oder einzelner hochgewachsener Blumenstauden, wobei mit fortschreitender Reife schon mal
ein paar Beeren probiert wurden. Bisweilen steckte er auch seine Nase in einige geöffnete Blumenkelche. Jede Staude duftete anders und manchmal hatte er den Eindruck, als ob die Blumen von einem Tag zum anderen ihren Duft veränderten. Mit den Füßen, häufig war er schon barfuß, streifte er über den Buchsbaum, der die Wege begrenzte. So geriet er bei seinem ersten Rundgang häufig – besonders wenn der Morgen kühl war – in eine laufende, hüpfende und tanzende Bewegung, nur dann und wann unterbrochen, wenn er neublühende Blumen entdeckte oder das Hinke-Pinke-Spielfeld, das er gestern auf den Weg geritzt hatte. Dann mussten die Felder erst einmal durchsprungen werden. Wie groß der Garten war! Oder war es das Gefühl der Freiheit, das diesen Garten so groß machte? Dann setze er seinen Inspektionsgang fort. Im Mai suchte er gewissenhaft die Spargelbeete nach Durchbruchstellen ab. Er machte vorsichtig die Spargelköpfe frei, so dass sein Vater sie später leicht entdecken und den Spargel heraus stechen konnte. Im Herbst legte er die abgefallenen Äpfel und Birnen säuberlich an den Wegrand, damit man sie leichter einsammeln konnte. Nun wurde der Garten aufgeräumt und winterfest gemacht. Immer größer wurden die Flächen, die nun leer und brach dalagen. Die ersten Blätter fielen von den Bäumen. Der Garten richtete sich zum Schlafen ein. Peter kam nur noch selten in sein Paradies. Eicheln mussten gesucht werden für Eichelböller, mit denen man sich gegenseitig beschoss. Papierdrachen wurden gezimmert und geklebt. Die Kinder standen lange Nachmittage auf den Stoppelfeldern zwischen den Getreidehocken und ließen sie aufsteigen. Schulhefte wurden zweckentfremdet. Man riss Seiten heraus und fertigte daraus Papierflieger. Sieger war, wessen Flugzeug am längsten in der Luft blieb oder am weitesten flog oder sie spielten Luftkampf. Etwa zehn Kinder warfen ihre Flieger gleichzeitig in die Luft. Drei davon waren
als feindliche Bomber, der Rest als deutsche Jäger bezeichnet. Da gab es Zusammenstöße, vorzeitige Landungen oder auch ein langes schwebendes Absentieren vom Kampfplatz. War er ein Feind, nun gut, dann hatte er sich gerettet. War er ein Deutscher, kam er wegen Feigheit vor ein Kriegsgericht. Passierte dem Flieger das dreimal, wurde er zur Strafe zerrissen. Und jedes Mal der ungeheure Jubel, wenn wieder mal die deutschen Flieger am längsten oben und in der größeren Zahl Übriggeblieben waren. Doch ins geradezu Unermessliche vergrößert wurde sein Paradies, wenn er seinen Vater auf der Jagd begleiten durfte. Bald wurde ihm dieses Jagdrevier so vertraut, dass er es aus dem Gedächtnis genau hätte aufzeichnen können. Mit allen Wegen, Feldern, Wiesen und Weiden, Waldstücken, Wallhecken und Stacheldrahtzäunen, mit dem Wild, das man hier und dort gesehen oder erlegt hatte. Nach einem Jagdtag zeichnete er einen Plan vom Gelände und dem Weg, den er mit Vater gegangen war, und der Beute natürlich, bezeichnet mit einem roten Kreuz: Zwei Hasen, ein Kaninchen, eine Taube, ein Rebhuhn und ein Fasan und daneben ein Herz, sein Zeichen für Glück. Ein Herz bekam auch der Bauernhof des Jagdgenossen Job, weil alle Jäger dort am Schluss der Jagd immer zu essen bekamen. Reichlich, mit Milch, Butter und Schinken, was es zu Hause nur selten gab. In diesem Revier waren genug Plätze, an denen er sich vor dem lieben Gott hätte verstecken können. Aber es gab doch keinen Anlass, ihn aus diesem Paradies zu vertreiben. Hier würde er immer leben und glücklich sein. Jetzt noch als Jagdbegleiter und später, später mit der Büchse in der Armbeuge als Jäger. Im Winter kam er selten in den Garten, nur wenn man bei hohem Schnee Schneemänner bauen konnte. Die Wege waren matschig, die Bäume schliefen und es hatte keinen Sinn, sie aus ihrem Winterschlaf zu wecken. Von seinem Zimmer schaute er oft
hinab, und es war unheimlich anzusehen, wie sich die Schönheit des Gartens in ein erbärmliches Hutzelweib verwandelt hatte. Nichts war mehr so wie in den glücklichen Sommertagen. Ob es im Paradies auch Winter gegeben hatte? Er konnte sich manchmal nicht mehr vorstellen, dass er in diesem Garten gespielt hatte und glücklich gewesen war. Nur der Schnee verwandelte für kurze Zeit den Garten in ein Zauberreich. Aber nur für kurze Zeit, dann fiel der Regen und der Garten sperrte sich wieder zu. Doch dann schob der Frühling die Riegel auf. Der Frühling begann mit dem Erscheinen von Jupp, der an einem angekündigten Morgen mit den notwendigen Gartengeräten auf der Schulter im Garten erschien. Zusammen mit Agnes begann er das Land umzugraben. Jupp war ein ehemaliger Bergmann. Bei der Franzosenbesetzung verließ er das Ruhrgebiet. Mehrere Jahre durchwanderte er als Tippelbruder und Gelegenheitsarbeiter Deutschland, bis er schließlich in diesem kleinen Dorf hängen blieb, wo er mit Gartenarbeiten und Aushilfen bei Bauern und Landhändlern seinen Unterhalt verdiente. Als er an jenem Morgen erschien und bedächtig in den Garten hineinging, war es, als ob das Leben im Garten neu begann. Peter war nicht mehr daraus zu vertreiben. Nach und nach verwandelte sich der braune mit Laub und Dung bedeckte Boden in schimmerndes Schwarz. Kanten wurden akkurat abgestochen. Peter musste in den nächsten Wochen aufpassen, dass er bei seinem Spiel nichts beschädigte, bis die Natur durch ihr Wachsen diese künstliche Ordnung allmählich durchwucherte und verdeckte. Jupp erzählte Peter viele Geschichten und er machte viele Späße. Wo er war, brachte er die Leute gern zum Lachen, deshalb mochten ihn alle. Aber seinen Geschichten konnte man wohl nicht immer glauben.
Jupp war Skagerrakkämpfer und Samoa-Fahrer. Er war auf dieser deutschen Kolonie gewesen, wie er behauptete. Im Zustand der Volltrunkenheit, der nicht selten vorkam, erzählte er in den Kneipen wilde Geschichten über die Mädchen von Samoa. Solche Erzählungen, die im Dorf weiterverbreitet wurden, interessierten Peter aber nicht. Er wollte lieber von der Seeschlacht im Skagerrak hören. Doch davon wollte Jupp nie erzählen, obwohl Peter, informiert durch ein eifriges Studium seiner Kriegsbücher, ihm einmal den ganzen Aufmarschplan der deutschen und englischen Flotte auf dem Gartenweg aufgezeichnet hatte. Doch wollte er sich dazu nicht äußern. Es war sogar schwierig, ihn darauf festzulegen, auf welchem Kriegsschiff er gewesen war. Peter dachte, vielleicht war er ja nur Heizer gewesen. Die saufen entweder mit dem Schiff ab oder sie erblicken das Tageslicht erst nach der Schlacht. ‘ Merkwürdig war nur, dass er den Namen des Schiffes nicht nennen wollte. Peter empfand es als wenig ehrenhaft, sich mit dem Namen dieser ruhmreichen Schlacht zu schmücken, wenn man nicht dabei gewesen war. Nach dieser Erfahrung ging er in Zukunft zu Jupp auf Distanz. Nach drei Tagen war die Arbeit meist beendet und Peter hatte sein Paradies wieder für sich allein. Dies war eben der Ort, an dem er für sich spielte und an dem er nur selten Spielkameraden zuließ. Hierher zog er sich zum Träumen und auch zum Lesen zurück. Nach Tagen ausgedehnter Spiele mit anderen Kindern hatte er das Gefühl, wieder für sich allein sein zu müssen. Dann verschwand er und war nicht mehr erreichbar. Mochten die anderen Kinder noch so sehr pfeifen und rufen. Dann saß er vielleicht auf der Bank in der Laube und stellte sich vor, wie er nun im Maul des Drachen sitze, sicher wie in Abrahams Schoß. Nur Thomas hatte freien Zugang.
Immer, wenn er aus seinen einsamen Spielen oder seinen Büchern wie aufwachend wieder auftauchte, hatte er das Gefühl, so gestärkt zu sein, dass er sich erneut in das Gerümmel der gemeinsamen Kinderspiele stürzen konnte. Nun, ein richtiges Paradies hat auch seine Wächter, Engel mit Flammenschwertern davor. In diesem Fall war es die Silberpappel. An dem Zaun zum Nutzgarten stand dieser mächtige und weitverzweigte Baum. Im Sonnenlicht blinkte er silbern in der leichten flirrenden Bewegung seiner Blätter, die nie zur Ruhe kamen. An heißen Tagen vermittelte er den angenehmen Eindruck von Kühle. Aber an den anderen Tagen – und diese waren in der Mehrzahl – verwandelten sie jeden leichten Luftzug in einen rauschenden Wind und ließen frösteln. Vielleicht war das die Ursache, weshalb die Familienmitglieder so selten im Gartenrondell beim Haus saßen, sondern lieber hinten im Garten in der Laube. Peters Bruder sprach von einem aufgeregten Huhn, das sich aufplustert und wichtig macht. Aber Peter dachte, der ist dem Baum nur böse, weil dieser mächtig aufrauschte und die Taube warnte, wenn das Bruderherz mit dem Flobert um die Hausecke geschlichen kam. Es gab Überlegungen, den Baum zu fällen, weil sein geräuschverstärkendes Blattwerk die Sommerstimmung störte, doch es schien wohl zu kompliziert, den riesigen Baum zu Fall zu bringen. Mit zu viel Arbeit, aber auch Bedrohung des Verandadaches verbunden, bis der Sturm die Aufgabe übernahm und die Menschen zum Eingreifen zwang. Nützlich war die Silberpappel überhaupt nicht. Sie trug keine essbaren Früchte wie all die anderen Bäume im Garten und sie machte nur Arbeit. Im Frühjahr fielen lange gelbe Blütentrottel auf den Rasen und mussten weggeharkt werden. Im Herbst sanken die riesigen Blätter schwer zu Boden. Hässlich und nass wurden
sie als Dünger auf die Felder gekarrt und flüchtig untergegraben. Dann dieses Frösteln, das der Baum auslöste, selbst an heißen Sommertagen. Ein Frösteln, wie es in schönen Zeiten durch eine schlimme Prophezeiung ausgelöst werden kann. Peter jedoch liebte diesen Baum. Es schien ihm, als winke er ihm tausendblättrig und hundertarmig zu. Der Baum flüsterte, auch wenn sich kein Lüftchen regte, als wolle er ihm Geschichten des Windes erzählen. Die Geheimnisse, die er von weither mitbrachte. Es war kein Zweifel, die Blätter sprachen mit ihm. Nur – er verstand sie nicht. Dabei hätte er so gerne erfahren, was bevorstand. Ob in der Nacht mit einem Einflug der Tommys zu rechnen sei. Dann müsste er aufstehen und müde im Keller hocken. Ob es morgen, wenn er mit seinem Vater auf die Jagd ginge, wohl regnen würde und ob der Nachbarsohn Rudolf, mit dem er sich so gut verstand, bald auf Urlaub käme. Weil er wusste, dass derartige Orakelsprüche auch Opfergaben verlangten, versprach er, am Abend im Bett nur ein klein bisschen zu singen – Einschlafgesänge waren seine Leidenschaft – und stattdessen zehn ,Vaterunser’ zu beten, sofern er nicht einschliefe, auch noch zehn ,Gegrüßetseistdumaria’ obendrein. Als Einleitung natürlich das gewohnte Abendgebet: „Oh, heiliger Schutzengel mein, lass mich dir anbefohlen sein, in allen Nöten steh mir bei und halte mich von Sünden frei. In dieser Nacht, ich bitte dich, beschütze und bewahre mich. Amen.“
Rauschte nach solchem Versprechen der Baum nicht gleich anders? Konnte man das nicht als ein gutes und sicheres Zeichen deuten? Allerdings – was die Feindeinflüge anging, die verhinderte am besten der Nebel. An Nebelabenden verschob er sein Versprechen, auch wurde er zunehmend unsicherer, ob Gebete überhaupt halfen. Oh, wie hatte er für Gerrit, den Freund seines Bruders, gebetet, der über Holland als Fallschirmjäger abspringen sollte. Eine Woche lang hatte er nicht gesungen, jeden Abend im Bett heimlich einen Rosenkranz gebetet, so dass seine Geschwister schon fragten, ob er seine Stimme verloren habe. Aber denen konnte man nichts erzählen, die lachten einen nur aus. Dann hatte Gott seine Opfergaben doch nicht angenommen. Gerrit war gefallen und seine Fotografie kam, mit einem schwarzen Bändchen versehen, auf das schwarze Klavier. Dort blieb das Foto nicht lange allein, bald kamen andere hinzu: Andreas, Dirk, Karl, Jan, Ludger und Rudolf. Bei Kriegsende standen 15 Fotos mit Trauerbändchen da. Bisweilen stand er am Klavier und sah sich die Bilder an. Diese jungen Männer hatte er alle gut gekannt. Sie waren im Haus ein- und ausgegangen. Richtig, und dem Ludger hatte er einmal, als dieser im Flur stand und zur Tür hinausgehen wollte, von der Treppe aus einen Damenstrumpfhalter auf den Hutrand gelegt. Ludgers Begleiter hatten es wohl gesehen, aber nichts gesagt, sondern nur gegniffelt und Peter zugezwinkert. Und so war Ludger mit diesen weiblichen Accessoires ins Dorf gegangen und muss dabei ziemliches Aufsehen erregt haben. Keiner hat etwas gesagt, nur immer gelacht. Der Belachte mag sich über die freundlichen Mienen sehr gewundert haben, bis dann in seinem Elternhaus die Ursache herausgefunden wurde. Peter war natürlich der Held des Tages und Ludger war ihm nicht böse. Ihm war man nie böse, der Sunnyboy, der er war. Für manche dieser Gefallenen hatte er genau so viel gebetet
und Opfer gebracht wie für Gerrit. Sie würden nicht wiederkommen. Sie waren einfach weg. Er stand nur und schaute sich die Fotos an. Mit ihnen noch einmal durch den Garten zu gehen oder im Wohnzimmer zu sitzen. Was sie ihm wohl zu erzählen hätten? ,Na, Peter, wir beide schaffen es!’ Ohne den Krieg wären sie noch da. Sie hätten um ihn herum gestanden wie seine Bäume und auf ihn herunter geblickt, den kleinen Peter. Dieses verkleinernde Beiwort setzten sie immer vor seinen Namen, wenn sie nach ihm gefragt hatten, und sie hatten jedes Mal gefragt, wenn sie gekommen waren. Es war vermutlich wohl nur als zärtliches Beiwort gedacht, denn schließlich war Peter für sein Alter recht groß, schlank und rank. Sie kamen nicht wieder und würden nie in Rente gehen. Diesen Ausdruck gebrauchte Gerrit häufig. Peter hatte Thomas befragt, was das mit der Rente bedeute. Dieser meinte, das sei so etwas wie ein verdienter Vorhimmel auf Erden. Gerrit konnte, wenn er in Stimmung geriet, schnurrige Geschichten erzählen. Einige von seiner Tätigkeit bei der dörflichen Sparkasse. Dann fiel häufig der Satz ,… und wenn ich dann in 40 Jahren in Rente gehe…’, was immer das Gelächter der Zuhörer auslöste. Womöglich fing er auch noch an zu singen: ,Sind wir alt und grau, dann ist es aus und dann geh’n die Kinder aus. Und die Omama und der Opapa sind dann beide nur noch für die Enkel da.’ Das stammte aus dem Schlager ,Die Landpartie’, und meist ging dann einer von den jungen Leuten hin und legte diese Platte auf. Für einen Augenblick versuchte Peter, sich den Gerrit als Opa vorzustellen. Nein, das war unmöglich. Er musste hellauf lachen. Peter zögerte lange, ob er Thomas von dem Wahrsagebaum erzählen sollte. Besonders von den Misserfolgen bei der Deutung der
geflüsterten Mitteilungen. Vielleicht würde er ihn wieder auslachen. Thomas meinte: „Warum willst du wissen, wie es kommt. Stell dir vor, deine Silberpappel erzählt dir, dass morgen ein feindlicher Bomber genau auf dich eine Bombe werfen wird. Wohin willst du fliehen?“ Seitdem sang sich Peter wieder regelmäßig in den Schlaf. Allerdings wurde nun Thomas von der Magie des Baumes angezogen. Er entdeckte, wie schön es sei, auf der kleinen Bank unter der Silberpappel zu sitzen und Baumgeschichten zu erfinden. Es war für Thomas nicht immer einfach, sie bis zu Ende zu führen. Irgendetwas kam immer dazwischen. Besonders Peter zerstörte mit seinen militärischen Wunschträumen manche stimmungsvoll aufgebaute Märchenwelt. „Es war an einem schönen Sommernachmittag“, begann Thomas. „Gerade hatten die letzten norwegischen Kräfte kapituliert“, setzte Peter fort. „Das lass mal lieber“, meinte Thomas. „So kommen wir nie in ein Märchen. Wir saßen auf unserer Holzbank unter der Silberpappel. Kein Luftzug, aber die Silberblätter flirrten leise, als müssten sie uns Kühlung zufächeln. Kein Laut sonst – “, plötzlich ertönte aus dem weitgeöffneten Wohnzimmerfenster das Englandlied, so mittendrin. In der Nachbarwerkstatt wurde es laut. „Hertha, stell das Radio an, es kommt eine Sondermeldung“, schrie eine Stimme zur Wohnung über der Autowerkstatt. „Oh Gott“, stöhnte Thomas, „schon wieder ein Sieg.“ Peter blieb ruhig sitzen. „Da ist nichts. Wir haben die Schallplatte mit dem Englandlied, und wenn mein Bruder unserem Nachbarn mal
einen Streich spielen will, stellt er diese Platte ganz laut an. Und unser Nachbar fällt drauf rein.“ „Kein Wunder“, meinte Thomas, „jeder Tag ist Sondermeldungstag.“ Mittlerweile hatte man in der Wohnung festgestellt, dass auf dem einzigen Sender, den man auf dem Volksempfänger bekommen konnte, nur ganz normale Musik schallte. Der Nachbar kam aus seiner Werkstatt und stellte sich lachend vor das Wohnzimmerfenster, in dem mittlerweile Peters Bruder erschienen war: „Du Deubel uk, hest mi wedder rinleggt!“ Dann folgte noch ein kurzes Gespräch, der Nachbar kehrte in seine Werkstatt zurück. Das Fenster wurde geschlossen. Es war wieder still. Plötzlich fiel ein großes Silberblatt vor die Füße der beiden Jungen, ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit. Thomas hob es auf und hielt es sich ans Ohr. Er sagte: „Es wispert mir etwas zu: Wenn ihr mich gemeinsam anfasst und dabei den Wunsch aus sprecht, in den inneren Teil des Baumes zu gelangen, dann werdet ihr in winzig kleine Wesen verwandelt werden.“ „Oh, nein“, rief Peter dazwischen, „nicht schon wieder in kleine mickrige Wesen verwandelt werden. Warum nicht einmal in Riesen, die mit einem Schritt fünfzig Kilometer hinter sich bringen.“ „… und feindliche Bomber wie Godzilla aus der Luft greifen können“, ergänzte Thomas. „Lass mich weitererzählen und halt den Mund. Wir fassten also das Blatt an, sprachen unseren Wunsch aus und waren im nächsten Moment winzig klein. Ein Tor tat sich auf und dahinter begrüßte uns ein Männlein, das jetzt unser Führer und Begleiter sein sollte. Mit Hilfe geheimnisvoller Kräfte gelangten wir an alle Stellen des Baumriesen.“ Thomas hatte eine Vorliebe dafür, auf die ungeheuren Energieströme in den Pflanzen, natürlich besonders in der Silberpappel, hinzuweisen. Dieser Reichtum
faszinierte auch Peter, er machte ihn sofort für die Panzer, Flugzeuge und Munition nützlich. Wenn man diese Energie einmal mitten in einem feindlichen Bombengeschwader zur Explosion brächte, dann blieb kein Flugzeug am Himmel. Aber davon erzählte er Thomas nichts. Thomas’ Erzählungen versetzten die beiden in die Blätter der Apfelbäume im Garten. Von dort schauten sie zu, wie sich im Zeitraffer ein Baum rundete. Auch blickten sie aus den unzähligen Augen der Silberpappel in die Welt hinaus, waren selber der Baumriese und unterhielten sich mit anderen Bäumen der Welt. Vielleicht, um Peters militärischer Leidenschaft entgegenzukommen, führte Thomas ihn in die Blätter englischer Bäume. Die französischen waren ja schon in deutscher Hand. Während Thomas dort einem Kricket-Spiel auf der gepflegten Rasenfläche eines Colleges zusah, donnerten für Peter tausend und wieder tausend He 111 über ihn hinweg, Richtung London. Kein feindlicher Jäger wagte sich an sie heran. Doch davon erzählte er Thomas nichts, der gerade anfing die Schuluniform eines Collegemitgliedes zu beschreiben. Woher er das alles wusste? Für Peter war es selbstverständlich, was Thomas sagte: ,Die Bäume sind das Erste der Welt. Wenn sie sterben, stirbt auch alles andere Leben auf der Erde.’ Wenn nicht gerade militärische Siegesträume dazwischenkamen, waren Peter die Bäume, der Garten und Vaters Jagdrevier nichts anderes als der verwandelte, ihn beschützende Drachen. Doch das erzählte er Thomas nicht. Am Ende würde er ihm das auch noch ausreden. Misstrauisch jedoch stand er Thomas’ Aussage gegenüber, Kranke brauchten nur ihre Hand auf die Rinde zu legen und schon würden sie gesund. Eigentlich war das auch Peters Traum, doch war er sich ziemlich sicher, dass von den vielen Kranken in Vaters Praxis nicht ein einziger geheilt worden wäre. Schließlich war er schon mal bei einem Selbstversuch gescheitert. Als er sich mit einem Messer in die
Hand ritzte, hatte er sie am Morgen dreimal gegen die Rinde der Silberpappel gedrückt, aber die Eiterung hatte sich nur verstärkt. So war er nach der Sprechstunde ins Behandlungszimmer marschiert, hatte Ichtyol-Salbe auf die Wunde geschmiert und ein Pflaster draufgepappt. Fertig! Von der beschützenden Macht der Bäume jedoch war er überzeugt. Nachdem nun auch die individuellen Gebete nicht mehr halfen, brauchte er unbedingt einen starken Geist, der ihm gegen alle Widerwärtigkeiten und Verluste des Lebens half. Deshalb waren ihm Thomas’ Verwandlungsgeschichten ganz recht. Sie bestärkten ihn in dem Glauben an die Macht der Bäume. Bisher hatten sie ihn noch nicht enttäuscht. Zwar konnten sie nicht verhindern, dass einige Freunde des Hauses gefallen waren, doch wie sicher spielte er unter dem Laubwerk in seinem Paradies. Wenn die beiden Freunde unter der Silberpappel saßen, konnte Peter meinen, im beschützenden Maul des Drachen zu sitzen. Dieser blinzelte ihnen mit den blinkenden Silberblättern zu. In diesem Augenblick brüllte es durch das wieder geöffnete Fenster laut aus dem Radio:… denn wir fahren gegen Engelland, Engelland, ahoi.’ „Ein zweites Mal versucht mein Bruder das nicht“, rief Peter und sprang auf, „das ist echt!“ Nun schmetterten auch schon die Siegesfanfaren. „Die haben wir nicht!“, rief Peter und rannte ins Haus. „Hier spricht das Oberkommando der Wehrmacht…“ Dann durfte Thomas sich draußen anhören, dass Frankreich sich nun endgültig geschlagen gegeben hatte. Thomas stand auf und ging nach Hause. Mit Peter war heute doch nichts mehr anzufangen. Dann kam der Wirbelsturm. Es war noch früh im Herbst und die Blätter saßen noch fest an den Zweigen. Die Bäume im Hauptgarten, nicht ganz so hochragend, verloren zwar einige Äste, aber die Silberpappel in ihrem majestätischen Wuchs und ihrem vollen silbrigen Blätterschmuck wurde durch den
Aufprall des Sturms aus ihrem Wurzelbett gerissen und fast auf den Boden geworfen. Bedrohlich hing sie mit einem Teil ihres Astwerks über der Veranda. Der Feuerwehr gelang es, die unteren dicken Äste abzusägen und diese im Augenblick ihres Sturzes mit Seilen vom Dach in den vorderen Hausgarten zu ziehen. Es goss in Strömen, dazu das flatternde Rauschen der Blätter und das Johlen des Sturms, der den Baum endgültig niederzwingen wollte. Schließlich waren die schwersten und dicksten Äste abgesägt. Vorsichtshalber entfernte man noch weitere, und nun ragte nur noch ein langer entasteter Baumstumpf schräg in den Himmel. Doch wie sah der vordere Hausgarten aus! Wie riesig können belaubte Äste werden, wenn sie erst einmal am Boden liegen. Übermannshoch bedeckten die Reste der Silberpappel den Ziergarten. Der Rasen zertreten und zerstampft, die Büsche und kleineren Bäume, auch die Stauden und Rosen zerschlagen. Man konnte nicht einmal mehr in den Hauptgarten gehen. Dahin wurde in den nächsten Wochen mit Heckenschere und Handsäge ein Weg freigeschnitten. Der Rest blieb liegen, wie er lag. Den ganzen Winter über blickte die Familie auf die Baumtrümmer. Nur wenn viel Schnee fiel, war der Anblick erträglich. Peter hatte dem Untergang des Silberbaums oben vom Fenster des Kinderzimmers allein zugesehen. Die anderen hatten ihn weggeschickt und halfen alle mit, den bedrohlichen Baum vom Haus wegzuziehen. Nachdem die größte Gefahr beseitigt war, setzte Peter sich in eine Ecke und blätterte in einem Kriegsbuch. Er hätte wohl weinen mögen, aber da war keiner, bei dem er es hätte tun können.
Spiele, Bücher und Geschichten
Im Frühjahr wurde der zerstörte vordere Garten aufgeräumt und wiederhergestellt. Jupp kam schon sehr früh und zersägte die Äste und dickeren Zweige. Anschließend zerkleinerte er sie mit Axt und Beil zu handlichen Brennholz stücken. Auch der noch immer schräg in den Himmel ragende Stamm der Pappel wurde mit Hilfe von Keilen und einer langen Säge abgesägt. Über den Stumpf warf man dicke Felssteine. Der tote Stamm wurde mit Seilwinden auf einen Leiterwagen gehievt und zum nahe gelegenen Sägewerk gefahren. Dort warf man ihn am Fuß der Holzstapel aus Eichenbäumen nieder, hier sollte er verrotten. Sein Holz taugte nicht für Bretter. Jedenfalls war man ihn los. Tagelang war das Sägen und das Krachen der Axt zu hören. Wenn Peter aus der Schule kam, war wieder ein Stück Garten freigeworden. Dafür stapelten sich an einer Ecke die Holzscheite und wuchsen zu einem riesigen Berg. Der Eigenbedarf war gering. Im Haus gab es eine Zentralheizung und einen elektrischen Herd. Der Kohleherd und der Kohleofen in der Stube für die Übergangszeit verbrauchten nicht viel. Deshalb verschenkte man den größten Teil des Holzes und täglich kamen Leute und holten das Brennmaterial ab, kostenlos. Die Familie war froh, dass man auf diese Weise den Baum los wurde. Schließlich, im Sommer, gab es keine Spur mehr von der Silberpappel. Rasen, Beete und Büsche waren neu, das Sonnenlicht flutete ungehindert über sie dahin. Die Familienmitglieder saßen nun häufig im Rondell und sagten: Jetzt ist es viel schöner hier.’
Thomas war gleich am nächsten Tag nach der Sturmkatastrophe erschienen. Er starrte wortlos in das Chaos und schaute lange dorthin, wo sich vor zwei Tagen noch die Krone ihres Erzählbaums entfaltet hatte. Dann zog er ein Messer aus der Tasche und schnitt sich ein fingerlanges Stück aus einem etwas dickeren Zweig. Das teilte er mittendurch, steckte die eine Hälfte in die Brusttasche seiner Jacke und gab die andere Peter. „Komm, lass uns woanders hingehen.“ Unterwegs sagte er: „Eigentlich müssten wir nun auch ein Foto der Silberpappel auf euer Klavier stellen. Mit einem schwarzen Bändchen.“ Aber es gab keine Baumfotografie. Anfänglich hatten beide geglaubt, sie könnten sich einen neuen Erzählbaum im hinteren Garten suchen. Aber die Blätter rührten sich nicht. Es war, als müssten sie nur noch dafür sorgen, dass die Äpfel und Birnen dicker und dicker würden und als hätten sie keine Zeit mehr, etwas zu erzählen. „Sie produzieren nur für den Magen“, sagte Thomas. So zogen sie um zu den Baumstämmen der nahegelegenen Sägerei. Dort hatte man die Stämme gefällter Bäume, meistens mächtige Eichen, kreuz und quer haushoch aufgetürmt. Es gab große Zwischenräume, Lücken, Nischen, in die man hineinkriechen und sich verstecken konnte, richtige Höhlen waren entstanden. Bei der großen Sommerhitze war es drinnen angenehm kühl. Zunächst hatten sie sich auf den riesigen Silberpappelleib gesetzt, der schon allmählich von Brennnesselfeldern umschlossen wurde. „Hier kommt Moby Dick, der uns über die Weltmeere führt!“, rief Thomas. „Nein, der Wal, der Jonas verschlang und vor Ninive wieder ausspuckte“, prahlte Peter mit seinen allerneuesten Bibelkenntnissen.
Doch irgendwie ließen sich daraus keine Geschichten entwickeln. Es waren zwei zu menschenfeindliche Wale, als dass sie den beiden Jungen wohlgesinnt hätten sein können. Sie wären sicher bald weggetaucht. Peter verlegte sich auf das Militärische, hier war er in seinem Element. Sie bestiegen als Besatzung eine Me 110 oder einen Stuka, einer war Flugzeugführer, der andere Beobachter und Heckschütze. Peter schoss mit seiner Me 110 die Engländer zusammen, die am Strand von Dünkirchen auf die rettenden Schiffe warteten. Davon hatte er eine begeisternde Zeichnung in seinem Buch ,Die Wehrmacht’ von 1940. Thomas als Heckschütze bewährte sich überhaupt nicht. Fortwährend sah er sich einer Übermacht von Spitfires gegenüber, die es doch gar nicht mehr gab, weil am Boden vernichtet. Sein Maschinengewehr ratterte auch nur sehr zögerlich. Schon bald rief er: „Ich bin getroffen. Ich bin tot!“ Das war sehr ärgerlich, hatte Peter doch gerade ein mit Soldaten voll beladenes Landungsschiff im Visier gehabt. Nun musste er zum Feldflughafen zurückkehren, damit der schwerverwundete Thomas ins Lazarett kam. Viel schlimmer war es, wenn Thomas vorne als Flugzeugführer eingesetzt war. Während Peter erfolgreich vereinzelt angreifende Spitfires zum Absturz brachte, fand Thomas vorne einfach keine Ziele. „Oh, französische Zivilbevölkerung auf der Flucht.“ Er zog die Maschine hoch. „In den Straßen von Rotterdam suchen Angehörige nach Opfern.“ Schon bald rief er: „Treffer im Motor, Propeller verbogen, Motor brennt, wir müssen aussteigen.“ Aber statt die Maschine jetzt hochzuziehen, damit sich ordnungsgemäß noch die Fallschirme entfalten konnten, ließ er sie einfach geradeaus fliegen oder den Stuka mit heulenden
Sirenen weiter auf den Boden stürzen. „Oh, da ist ein Moorloch! Weicher Aufprall!“ Sie ließen sich dann doch aus der Maschine kippen, aber nur andeutungsweise. In die Brennnesseln wollten sie nicht fallen. Peter merkte bald, dass Thomas diese Spiele keinen Spaß machten. Dieser meinte: „Das hat unser Silberbaum nicht verdient, dass wir auf seiner Leiche herumtanzen und wüste Militärgeschichten nachspielen. Eigentlich müssten wir ihn begraben.“ Mittlerweile begann auch schon die Rinde abzuplatzen und der Stamm kam nackt und bloß zum Vorschein. „Bei den alten Völkern gab es die Vorstellung, dass der Verstorbene begraben werden müsse, und sei es auch nur, dass man eine Schaufel Sand auf ihn wirft. Sonst kommt seine Seele nicht zur Ruhe“, sagte Thomas. Es war ganz unmöglich, einen so langen und tiefen Graben auszuheben, dass der Riesenstamm darin Platz fand. Das ging über ihre Kräfte, und so brachten die beiden unauffällig zwei kleine Sandschaufeln mit und streuten dunkle Muttererde auf den hellen Baumleib. Sie achteten darauf, dass niemand sie bei dieser Zeremonie sah. Die beiden Kinderschaufeln vergruben sie tief unter dem Baumstamm. Dann kletterten sie die aufgetürmten Eichenstämme hinauf und suchten sich dazwischen eine Höhle. Da saßen sie stumm. Sie vermissten das Rauschen der Silberpappel, das Thomas zu seinen fantastischen Geschichten angeregt hatte. Peter war es deshalb ganz angenehm, als man draußen plötzlich Kinderstimmen hörte. Der Baumberg gehörte ihnen nicht allein. Er war auch für die anderen Kinder der Nachbarschaft ein gern aufgesuchter Spielplatz. Peter nichts wie raus in sein Widerstandsnest, Thomas hinterher. Ratatatat. Die Kinder unten nahmen das Spiel an, suchten Deckung und schossen zurück. Handgranaten krachten. Aber es war nur ein Geräuschkrieg. Es dauerte nicht
lange, und alle Kinder saßen oben auf den Baumstapeln. Zehn Jungen, etwa gleichaltrig, nur zwei davon waren erst vier Jahre alt und Thomas war bei weitem der älteste. Die beiden Jüngsten ließ man selbstverständlich beim Spielen teilnehmen. Man musste sie doch anlernen. Sie waren mit Eifer bei der Sache. Mit den Großen spielen zu dürfen! So hatten alle angefangen. Die Gruppe überlegte, welches Spiel zunächst drankommen sollte. Also, erst mal Verstecken! Die Jüngsten erhielten den ehrenvollen Auftrag zu suchen. Sie kannten die Verstecke und Anschleichwege zum Treffpunkt noch nicht so gut wie die anderen. Sie suchten fleißig und gründlich und entfernten sich dabei weit vom Abschlagmal. Kein Wunder, dass alle sich freischlagen konnten und die Kleinen erneut suchen mussten. „Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein…“ Die Größeren setzten sich meist weitab in irgendein unauffindbares Versteck und erzählten sich was. Bis irgendwann der klagende Laut des Suchenden an ihr Ohr drang: „Wo seid ihr denn, ich kann euch nicht finden.“ Dann war es Zeit, sich anzuschleichen und sich freizuschlagen. Manchmal wurde auch einfach Kriegen gespielt, häufig in militärischer Form, als Luftschlacht. Die Kinder verwandelten sich in Flugzeuge, und wer schnell startete, leichtfüßig war, gelenkig und gut zu kurven verstand, war eine Messer Schmitt Me 109 und schoss leicht seine Gegner ab. Peter gehörte zu den erfolgreichen Jägern. Manchmal wurde die Jagd auch erschwert. Die drei oder vier englischen Vickers-Wellington, langsam und plump in ihrer Beweglichkeit, wurden begleitet von zwei oder drei Spitfires. Diese versuchten, die deutsche Messerschmitt abzuschießen, bevor sie die Bomber erreicht hatte. Bei der Überzahl musste sie fünfmal angetickt werden, dann erst galt sie als abgeschossen. Peter gelang es meistens, wenigstens zwei
Bomber abzuschießen, ehe er selbst mit langer Rauchfahne ins Gras stürzte. Gern gespielt wurde auch: Abwehr von Tieffliegerangriffen durch die 2 cm Flak. Dazu brauchte man einen festen, aber elastischen Stock von etwa einem Meter Länge. Dieser erhielt unten eine spatenförmige Spitze von etwa zwei Zentimetern Breite, so dass er leicht in die Erde zu stoßen war. Beim Losschnellen des nach vorne gedrückten Stocks konnte er die vor ihm liegende Erde wie eine Schaufel nach vorne schleudern. Wer geschickt war und einen guten elastischen Stock hatte, konnte in schneller Reihenfolge den Stock in den Boden hineinstechen und ihn dann losschnellen lassen. Das tack-tack-tack wurde mündlich formuliert Die Angreifenden mussten versuchen, im Zickzacklauf den Geschossgarben zu entgehen und an den Schießenden möglichst ungetroffen vorbeizukommen. Besonders wirksam waren Treffer im Augenbereich. Eindeutig abgeschossen war, wer stehen blieb, um sich den Sand aus den Augen zu reiben. Ein Spiel, das eine gewisse Organisation und vorherige Absprache verlangte, war ,Der Kampf um den Kemmel-Berg’. Diese Schlacht kannte Peter aus seinen Kriegsbüchern und er hatte diesen Namen vorgeschlagen. Gemeint war die Verteidigung und Eroberung des Holzstapels. Dafür war eine aufwendige Munitionierung notwendig. Lehmkugeln wurden als Handgranaten zusammengepappt, Papiergeschosse für die Gummibänder gefaltet und gekniffen und Papierkügelchen für die Blasrohre hergestellt, die jeder Junge ohnehin in seinem Waffenarsenal besaß. Die Angreifer waren immer in der Mehrzahl. Treffer im Brust- und Kopfbereich waren tödlich, der Kämpfer schied aus. Gefährlich waren die Handgranaten. Wenn sie auseinander spritzten und man nicht rechtzeitig in Deckung lag, war man total lehmüberkleckert und das ,Hurra’ der Angreifer zeigte, dass wieder einmal ein Widerstandsnest ausgeräuchert war. Aber auch die Angreifer hatten Verluste.
Mehrere Geschosse gleichzeitig mit dem Gummiring, dagegen konnte er gar nicht wegtauchen. Waren die Angreifer erst einmal im Holz, dann konnte eine wohlgezielte Lehmkugel beim Zerplatzen auf einem Baumstamm wohl zwei Angreifer ausschalten. Der Besitzer des Sägewerks hatte nichts gegen die Umfunktionierung seines Holzlagers in einen Spiel- und Kampfplatz einzuwenden. Einmal schaute er während der gesamten Kampfhandlung zu. „Schneidig, schneidig!“, meinte er. Er verteilte Äpfel an die Kinder. Er saß in ihrer Runde und erzählte lebhaft und begeistert von den Übungen, die er bei der Jugendwehr während des vorigen Krieges mitgemacht hatte. Diese hatte es in jedem Dorf gegeben und sollte die heranwachsende Jugend kriegstüchtig machen. Leider löste sie sich – wie er sagte – bei Kriegsende auf. „Aber jetzt haben wir ja die Hitlerjugend mit ihren Geländespielen. Doch was ihr hier selbst organisiert habt, das ist schon prima!“ Dann holte er noch einen Korb mit Falläpfeln. Thomas beteiligte sich nur ungern an den Kriegs spielen. Er war schon zu alt, um sie ernst zu nehmen. In den Gesprächen mit Peter wehrte er sich dagegen, dass man den Krieg zum Vorbild für Spiele mache. Außerdem sei das, was an der Front geschehe, kein Spiel. Peter hörte sich das an. Mein Gott, Thomas mit seinen Hintergedanken. Es war doch alles nur ein harmloses Spiel und damit basta! Um Peters Willen machte Thomas dann doch mit, aber nicht mit dem selbstvergessenen Einsatz der anderen. Doch seine Stunde sollte noch kommen. Irgendwann kam aus der Gruppe die Bitte: „Erzähl uns eine Geschichte, Thomas!“ Dann legte man sich ins Gras oder setzte sich auf die Baumstämme und Thomas begann zu erzählen, mal sitzend, mal stehend, mit verschiedenen Stimmen, wie es die
Szene gerade erforderte. Meist waren es ,Die Abenteuer des Tom Sawyer und des Huckleberry Finn’, die er auswendig zu kennen schien. So genau gab er alle Einzelheiten und Dialoge wieder. Er vergaß sich dabei selbst und war voller Hingabe an die Geschichte. Seine Zuhörer saßen andächtig und staunend da. Eine ganz andere Welt fasste sie an. Wenn auch die Geschichten im fernen Amerika spielten, spürten sie doch, wie der Held da drüben etwas ausleben durfte, was sie auch empfanden, aber nicht leben durften. Und während Huck Finn seine Freiheit sucht, weil er die Lüge und Scheinheiligkeit seiner Umgebung nicht mehr erträgt, dröhnen oben am Himmel die Motoren zurückkehrender amerikanischer Bomber auf ihrem Weg zu den Heimatflughäfen in England. Auch Szenen aus dem ,Lederstrumpf’ kannte Thomas fast auswendig und das Leben des Robinson fand ebenfalls großen Anklang. Besonders gern hörten sie die Geschichte von ,Kai aus der Kiste’. Wenn Thomas mit seinem Erzählen zu Ende war, hatte man den Eindruck, als ob er plötzlich auftauche aus einer anderen Welt, so hatte er sich hineinversetzt in das Leben seiner Helden. Danach ging man gemeinsam nach Hause, wobei sich die Kinder noch ganz aufgeregt über die geschilderten Begebenheiten unterhielten. Thomas war nun stumm, das Erzählen hatte ihn angestrengt. Peter beneidete ihn. Er merkte, wie Thomas der Held der Kinder wurde. Verständlich, war er doch selbst in seinen Bann geraten. Er hätte gern sein Lauftalent gegen Thomas Erzählkunst eingetauscht. Ja, Thomas. Wie war der eigentlich in dieses Dorf gelangt? Thomas kam aus dem Ruhrpott, genauer aus Gelsenkirchen, ich habe Schalke spielen sehn, woll. Dort besaß sein Vater eine Bäckerei, die er aber hatte verpachten müssen, weil man ihn dringend als Hauptmann bei der Flakabwehr brauchte.
Daraufhin war seine Mutter mit ihrem einzigen Sohn zu Verwandten in dieses Dorf gezogen. Hier glaubte man sich sicherer vor Luftangriffen, auch war die Beschaffung von zusätzlichen Lebensmitteln leichter. Sie wohnten schräg gegenüber von Peters Elternhaus. Peter war beruhigt, als er irgendwann bei den Gesprächen hörte, dass Thomas’ Vater nur Hauptmann war. Da reichte er ja an den eigenen Vater nicht heran, denn der war schließlich Oberstleutnant der Medizin. Kennen gelernt hatten sie sich gleich nach seiner Ankunft, als die Kinder beim Schwarzen Weg, der zur Sägerei führte, versammelt waren. Sie wollten 60 Meter laufen, um den Wochensieger zu bestimmen. Diese Strecke war exakt ausgemessen und bisher war immer klar gewesen, wer Sieger war: Peter. Das blieb er auch diesmal, Thomas kam nicht an ihn heran. Peter atmete auf, er hatte seinen Ruf als schnellster Läufer verteidigt. Und das, obwohl Thomas fast zwei Jahre älter war. Aber dem machte die Niederlage offensichtlich nichts aus. Er suchte auch keine Entschuldigungsgründe dafür, was die anderen immer taten. Er ging auf Peter zu und sagte: „Du kannst verdammt schnell laufen.“ Der wollte sich bestimmt nicht damit anbiedern. Peter merkte, dass Thomas seine Selbstsicherheit aus ganz anderen Quellen bezog, die für Peter noch nicht erkennbar waren. Sie setzten sich auf einen Baumstamm. „Du müsstest beim Sportfest eine ziemlich hohe Punktzahl erreichen. Hast du schon einmal daran teilgenommen?“ Nein, in diesem Jahr das erste Mal, und Thomas meinte, dafür könne man auf dem Sportplatz trainieren. Zum Beispiel Weitsprung und Weitwurf. Peter spürte, dass hier jemand war, der ihm etwas geben wollte. Der wollte nicht konkurrieren. Es war eher so, dass sie gemeinsam etwas erreichen wollten. Hier warb jemand um Freundschaft – und Peter wusste plötzlich, dass neben ihm ein Freund saß. Nicht so einer wie die
Hausbekannten im Alter seiner Geschwister. Na, Peter, wir beide schaffen das!’, sondern jemand, der in seine Welt hineinpasste und sie verstand. Und gleichzeitig war er doch ein wenig älter und in einer unerkennbaren Hinsicht auch überlegen. Er versprach Schutz und Rat, einer, der mitspielte und doch auch über das Spiel wachte, wie seine Bäume. Peter war stolz. Er hatte einen Freund und er schämte sich über seinen Lauftriumph. Wie unwichtig das jetzt war! Am nächsten Tag erschien Thomas in Peters Elternhaus. Er sagte, wer er sei, woher er komme und warum. Schon das war ungewöhnlich. Die anderen Kinder kamen nie ins Haus, um Peter abzuholen. Sie blieben draußen stehen und pfiffen, auch Peter machte es bei seinen Spielkameraden so. In der Hand trug Thomas ein Büchlein, ,Kai aus der Kiste’. Er sagte zu Peter: „Ich dachte, wir könnten Bücher austauschen.“ Das war was für Peter. Er war eine Leseratte. Zwar kaufte man für ihn viele Bücher, aber sie waren bald ausgelesen und dann fiel er über den Bücherschrank mit den Erwachsenenbüchern her. Am liebsten waren ihm dann natürlich Bücher vom Krieg, möglichst bebildert. ,Der rote Kampfflieger’, Jagd in Flanderns Himmel’, sämtliche Romane von Ettighofer, dann Ernst Jüngers ,In Stahlgewittern’, ,Wir Kämpfer im Weltkrieg’, ,Wehrhaft Volk’, ,Der Krieg 1914-18 in Wort und Bild’, das aber von Peter mehr als Bilderbuch genutzt wurde. Mit Beumelburgs ,Sperrfeuer um Deutschland’ tat er aber einen Missgriff. Der Titel versprach mehr kriegerische Aktion, als drin war. Komisch, man ließ ihn alle diese Bücher lesen. Aber keiner sprach mit ihm über das, was da drin stand. Nie erfuhr er von seinem Vater etwas über den Weltkrieg. Dabei hätte er so gerne einmal ein packendes Fronterlebnis von ihm erzählt bekommen, aber der sagte nichts. Alles musste Peter sich aus Büchern holen.
Er erinnerte sich an Mutters Geschichte von dem Molkereimeister der elterlichen Molkerei. Der erzählte seinen neugierigen Zuhörern vom Krieg 1870/71, an dem er teilgenommen hatte. Doch über die geschilderten Grässlichkeiten hatten die jungen Männer nur gelacht und den Erzähler als Spinner abgetan, bis dann nach Beginn des neuen Krieges einer davon aus Frankreich in den Urlaub gekommen war. Der Meister hatte ihn gefragt: „Na, Heinrich, wie ist es denn nun an der Front, habe ich gelogen?“ Der winkte ab: „Schweig still, ich mag nichts davon hören.“ Ein halbes Jahr später fiel er bei Bixschoote. Es musste wohl einen Unterschied zwischen dem geben, was man in Büchern las und dem, was der einzelne erfahren hatte. Ob Vater deswegen nichts erzählen wollte? Aber er war doch wieder Soldat geworden und sein Sohn konnte es nicht abwarten, eingezogen zu werden. Oder hatte der auch nur Bücher gelesen? Neben den Kriegsbüchern standen breit, ehrfurchtgebietend und Leselust dämpfend ,Die Barrings’, ,Die Enkel’ und von Ina Seidel ,Das Wunschkind’ und ,Lennacker’, von Guido Kolbenheyer etwas, Bismarcks Erinnerungen und auch sämtliche Werke Ebner-Eschenbachs und Ganghofers. Dazu die dicke Schwarte ,Helden und Heilige’, ein weiteres Heiligenbuch und die massive Wand ,Geschichte der Päpste’. Also alle Panzerkreuzer der Literatur waren versammelt in diesem Hafen des bürgerlichen Bücherschranks. Als Begleitschutz die schmalen Bände von Carossa ,Der Arzt Gion’ und ,Geheimnisse des reifen Lebens’. Und dann in Massen Jagd- und Hundegeschichten unterschiedlicher Dicke, z. B. ,Mit Blitzlicht und Büchse’ und sämtliche Bände Löns. Thomas’ Interesse richtete sich besonders auf Peters eigene Bücher. Peter rechnete die Jungmädchenromane seiner Schwestern und die übernommenen von seinem Bruder dazu.
Sie lagen überall verstreut im Haus und er musste mit Thomas alle Räume durchwandern, um sie zu finden. ,Häsi und Hosi’ und andere Kleinkinderbilderbücher, wie das ,Tier-ABC, die ihren Zweck erfüllt hatten, wurden von Peter natürlich sorgsam in dem ihm zugedachten Teil der Bücherschränke und in seinem Nachtschränkchen aufbewahrt. Bücher waren ihm heilig und davon durfte ihm keines verloren gehen. Er zeigte stolz seine Schätze vor. ,Infanteriesturm durch Polen’, ,In Ost und West wir stehen fest’, ,Die Wehrmacht’, ,Sturmmarsch zur Loire’, ein Bildband ,Entscheidende Stunden’, ein weiterer ,Mit Hitler im Westen’, ein Sammelband Junge Welt’ und mehrere Bände ,Durch die weite Welt’. Auf ein Buch war er besonders stolz: ,Die Helden der Naukluft’. Das hatte er geschenkt bekommen mit Widmung von einem Feldwebel mit Dr.-Titel. Er wohnte als Einquartierung im Haus und musste nachts, von einem Holzturm aus, die Scheinwerfer und Nachtjäger gegen die einfliegenden Tommys dirigieren. Im Zivilleben war er ein hohes Tier an der Bayrischen Staatsbibliothek, aber das erfuhr Peter erst später. Natürlich gab es auch Jagdbücher wie ,Winterferien im Försterhaus’ oder sogenannte Lausbubengeschichten ,Trotzi mit dem grünen Käppi’, ,Lausbuben unter sich’ und ,Gerd und die Bramkamps Jungen’. Thomas prüfte eingehend und musste feststellen, dass Peter aber auch viele Märchenbücher besaß. Abgesehen von den Märchen der Gebrüder Grimm und Bechsteins Märchen gab es die klassischen Sagen des Altertums, Sagen aus der germanischen Helden- und Götterwelt, ,Nordische Märchen’, ,Pilgerfahrt ins Märchenland’, ,Das königliche Herz’ und ,Der goldene Schlüssel’. Thomas nahm jedes Buch in die Hand und blätterte darin, während Peter fast vor Ungeduld platzte, wann denn wohl das Lob seines Freundes ausgesprochen würde. Dieser
sagte endlich: „Ihr habt eine sonderbare Bibliothek.“ Peter starrte ihn entgeistert an. Sie waren vermutlich die einzige Familie im Dorf, die so viele Bücher besaß. Thomas merkte seine Verwirrung. Kein Goethe, kein Schiller, Eichendorff, Heine, Fontane, Keller und Meyer, die Klassiker meine ich. Oder habt ihr die sonst wo versteckt? Das hätte Peter gewusst, aber was sollten sie mit Büchern, die man nicht kennt und nicht liest? Die Bücher hier in der ersten Reihe waren doch tadellos. Sauber und gut eingebunden. Ich entdecke auch keinen Gedichtband. Aus der neueren Zeit habt ihr auch nichts: Hesse, Döblin, Mann, Bergengruen und Wiechert, nur Carossa. Eigentlich habt ihr nur was vom Krieg, als wenn es keine andere Welt gäbe. Peter kam sich vor, als wären plötzlich alle Rangbezeichnungen ungültig geworden und als müsse er neue lernen. Thomas wirkte keineswegs hochmütig oder altklug, eher ein wenig traurig. Seine Stimme war ganz leise und Peter spürte, wie Thomas dabei war, ihm wieder eine neue Einsicht zu öffnen wie gestern nach dem 60 Meter-Lauf. Weißt du, die besten Bücher der Welt zu kaufen, das kostet nicht einmal viel Geld. Es braucht ja nicht der beste Einband zu sein. Bei Reclam kannst du die ganze Weltliteratur in einer Aktentasche nach Hause tragen. Reclam – das war ein Stichwort für Peter, den Namen hatte er schon gehört, ja auch gelesen. Das waren die kleinen Heftchen, die oben auf dem Dachboden, ganz hinten im Winkel, in einer Reihe lagen. Peter hatte sie inspiziert, aber liegengelassen. Seine Schwestern machten immer ein saures Gesicht, wenn sie diese Hefte in die Hand nehmen und lesen mussten. Schulkram. ,Lektüre’, dieser Klageruf seiner Schwestern war ihm deutlich im Ohr. Es musste etwas ganz Schreckliches sein. Natürlich ohne Bilder und vom Krieg stand vermutlich auch nicht viel drin.
Die beiden Freunde betraten den Dachboden. Thomas staunte über die Ausmaße des Raums und über das viele Gerümpel. Na, hier darf keine Brandbombe reinfallen. Er untersuchte die Reclamhefte. Mensch, eine ganze Menge. Guck mal hier, Goethe und Schiller, hier ein Eichendorff und hier von DrosteHülshoff ,Die Judenbuche’, eine ganz dolle Geschichte. Hier, er fischte mit spitzen Fingern ein schmales kleines Heftchen aus der staubigen Reihe. ,Der zerbrochene Krug’, das muss eine ganz alte Ausgabe sein, sicher noch aus den zwanziger Jahren. 20 Pfennig. Lies mal, was hier hinten als Reklame steht: ,Heinrich von Kleists Sämtliche Werke in 2 Bänden in einem modernen biegsamen Ganzleinenband Mk 1,50’. Donnerwetter, den ganzen Kleist für 1,50. Wenn ich nächstens Geld verdiene, werde ich nur noch mit diesen Ausgaben eine Bibliothek aufbauen, sofern ich nicht sowieso Vaters Bücher übernehme. Peter staunte, wer hatte schon einmal mit ihm über Bücher gesprochen? Vorsichtig fragte er, du hast alle diese Bücher gelesen, die mit den Namen, die du genannt hast? Nein, dazu bin ich noch viel zu jung, damit müsste ich noch warten, hat mein Vater gesagt. Wir haben oft vor unserem Bücherschrank gestanden und er hat mir von den Dichtern und Schriftstellern erzählt. Deshalb kenne ich die Namen. Manchmal griff er auch ein Buch heraus, versuch’s mal. Zum Beispiel gab er mir ,Die Judenbuche’. Darin gibt es Stellen, die man sehr aufmerksam lesen muss, und auch wohl zwei- oder dreimal, bis man’s verstanden hat, aber dazwischen sind Szenen, ganz unmittelbar und direkt, wie auf dem Theater. Ein trauriges Schicksal, das dieser Friedrich Mergel hat, nur weil er in diese Umgebung hineingeboren wurde und nicht wieder herauskam. Manchmal glaube ich, wir sind wie Bäume, wir kommen nicht weg von der Stelle, wo wir aufgewachsen sind.
Er sah wieder ein wenig traurig vor sich hin. Die Verfasserin der Geschichte kommt übrigens aus der Umgebung von Münster. Münster, der Name war Peter auch geläufig. Dort studierte sein Bruder und er hatte mit seiner neuen Leica viele Dias im Münsterschen Zoo gemacht. Die führte er manchmal in einer Art Kinoabend vor. Peter würde Thomas mal dazuholen. Peter fragte sich, wie kommt ein Bäckermeister und Hauptmann dazu, sich eine solche Bibliothek anzuschaffen. Das passte doch gar nicht zu ihm. Natürlich kannte man im Haus Goethe und Schiller, die Namen waren ja sogar Peter geläufig. Wenn überhaupt, dann waren solche Bücher nur etwas für Studierte, wie Vater einer war. Da passte so eine Bibliothek hin, aber bei einem Bäckermeister? Nun gut, im Haus gab es keinen Goethe und Schiller oder die anderen Berühmtheiten, aber die waren doch von früher und hatten den Leuten von heute nichts mehr zu sagen. In dieser Hinsicht hatten sie viel Ähnlichkeiten mit den Heiligen der Katholischen Kirche. Die waren auch weit weg. Die standen oben auf ihren Podesten und guckten nach unten in die Kirche. Aber keiner der Leute unten konnte damit etwas anfangen. Aber wie kommt dein Vater dazu, sich diese Bücher anzuschaffen? Thomas lächelte in sich hinein. Er wusste, dass Peter die hohe Literatur und den Bäckermeister nicht in die Reihe bringen konnte. Weißt du, mein Vater hat ursprünglich auf Lehrer studiert. Zwei Jahre hatte er schon hinter sich. Da starb sein älterer Bruder, der die Bäckerei übernehmen sollte, an den Folgen einer Kriegsverletzung. Da ist sein Vater gekommen und hat gesagt: ,Ich brauche einen Nachfolger, komm du zurück. Brot brauchen die Menschen immer. Als Lehrer bist du meist abhängig von Menschen, von dem was sie denken und was sie glauben. Da musst du genau hineinpassen, aber als Bäcker backst du dein Brot für Gläubige und Ungläubige und keiner fragt danach, was du denkst.’ Ich
glaube nicht, sagte Thomas, dass er Recht hatte. Peter verstand von dieser Erklärung nur wenig. Immerhin: Thomas’ Vater war ein Studierter und da durfte er schon diese Bücher haben. Nur wurmte es ihn, dass sein eigener Vater solche Berühmtheiten nicht in seinem Bücherschrank hatte. Er nahm sich vor, bei Gelegenheit einmal danach zu fragen, wenn er die Namen genügend auswendig kannte. Thomas nahm zwei Bücher mit: ‚Pilgerfahrt ins Märchenland’ und ein Band ,Durch die weite Welt’ von 1930. Peter begann gleich nach Thomas’ Weggang in ,Kai aus der Kiste’ zu lesen und war aus dieser Kiste nicht wieder zu vertreiben. Für ihn war das zunächst eine fremde Welt: Ein amerikanischer Millionär, Zigarettenindustrie, Werbefeldzüge. Und dann, dass Kinder irgendwo in Kellern und Hinterhöfen leben mussten, sich zu Banden zusammentaten und meistens kein Zuhause hatten, das gab es heute ja wohl nicht mehr. Da hätte die HJ für Ordnung gesorgt. Aber Märchen spielten auch in einer anderen Wirklichkeit und so musste man wohl auch diese Geschichte nehmen. Jedenfalls, sie war spannend. Thomas’ Vater besuchte in unregelmäßigen Abständen für einige Tage seine Familie. Als er das erste Mal kam, war Thomas bei ihnen erschienen und hatte um den Handwagen für das Gepäck gebeten. Urlauber wurden immer mit Handwagen vom Bahnhof abgeholt, auch bat er Peter, ob er nicht mitkommen wolle. Peter tat’s ungern, aber er tat’s. Ein Bäckermeister bedeutete immerhin Brot und Kuchen, der wäre korpulent, gemütlich und nahrhaft gewesen. Aber ein Fast-Lehrer, das war Befehl, Strenge und man sollte einen weiten Bogen um ihn machen, wenn es ging. Aber nun ging es nicht mehr. Thomas’ Vater stieg aus dem Zug, in Uniform, groß und schlank, allerdings mit Brille. Er umarmte Frau und Sohn und dann kamen sie auf ihn zu. Er hatte sich mit seinem Bollerwagen etwas abseits gehalten. Plötzlich begann Thomas’
Vater zu lächeln. Das war, als ob sich das Gesicht von innen her erleuchtete, verklärte. Ganz jungenhaft wirkte er auf einmal, kein Fast-Lehrer und kein Offizier mit Befehlsgewalt. Er nahm Peters Hand und sagte: „Du bist der Peter. Thomas hat mir viel von dir geschrieben. Du bist ja eine große Sportskanone. Ihr beide seid dicke Freunde, das ist das Beste.“ Er stellte sich in die Mitte und legte seine Arme um die beiden und drückte sie an sich. Dann mussten die Koffer aufgeladen werden und die beiden Freunde zogen mit dem Bollerwagen voran. Das Ehepaar ging Arm in Arm hinter ihnen her, wobei sie sich fortwährend anschauten. Peter hatte in seiner Verwirrung und Beschämung nichts gesagt, was sollte er auch sagen. Er wusste nur, dass er sich in Thomas’ Familie mit diesem Vater wohlgefühlt hätte. Auch wenn es bei Peter mit den Kenntnissen über Goethe und Schiller und den anderen Säulenheiligen der Literatur noch etwas haperte. Thomas’ Vater kam in Uniform. Dann geht alles einfacher, hätte er gesagt, meinte Thomas später, und er trug ein EK 1 wie Peters Vater. Der Bäckermeister stieg immer höher in seiner Gunst. Thomas’ Vater hatte die letzten drei Kriegsjahre an der Front in Frankreich gekämpft und sich dabei ausgezeichnet. Mein Vater wundert sich noch heute, dass er das lebend überstanden hat, sogar ohne Verwundung. Nun ja, Peters Vater war ja immerhin auf seinem Verbandsplatz verwundet worden. Vor dem Haus wurden die Koffer ausgeladen und nach oben transportiert. Ein Koffer voller Bücher, erzählte Thomas später, aber noch keine für uns, schade. Ein Teil der Möbel ist bei anderen Verwandten. Die Luftangriffe nehmen zu, wer weiß, wie lange das Haus noch steht. Solange Thomas’ Vater zu Besuch war, sahen sich die Freunde selten. Der Vater ging viel mit seinem Sohn spazieren, in Zivil mittlerweile. Sie hatten sich wohl viel zu erzählen. Peter kam allmählich dahinter, woher Thomas sein
Selbstvertrauen und seine Kenntnisse bezog. Über den Inhalt der Gespräche sprach Thomas kaum. Es waren wohl große Geheimnisse, vermutete Peter. Traurig war Thomas, wenn der Vater wieder fortgefahren war. Aber nur kurze Zeit, dann wirkte er ganz zuversichtlich, hoffnungsfroh und zielbewusst. Es war, als ob eine Saat aufgegangen war. Irgendwann später fragte Peter seinen Freund, warum sein Vater denn nicht Bäcker geblieben sei. Peter hatte nämlich in seinem Lauschversteck mitgehört, wie Mutter und Tante Pohl, die Nachbarin, sich darüber beklagten, dass ihre Männer eingezogen worden seien, und die Bäcker im Dorf alle als unabkömmlich eingestuft waren und hier bleiben durften. Dabei waren sie alle noch jünger als ihre Männer. Thomas sah ihn lange an. Das ist für dich vermutlich kompliziert und schwer zu verstehen, weil du die Hintergründe nicht kennst. Aber es ist so. Vater hasst das Militär. Als er aus dem Krieg kam, hat er sich geschworen, dass er alles tun werde, damit es kein Militär, keine Aufrüstung und keinen Krieg mehr gäbe. Deshalb wirst du auch kein Kriegsbuch bei uns finden. Sie verherrlichen ja alle nur den Krieg und dabei ist er Mord, Mord. Das einzige Buch, das Vater mir zu lesen gab, war von Remarque ,Im Westen nichts Neues’. „Das haben wir auch“, rief Peter, „aber das liegt oben auf dem Dachboden beim Gerumpel. Das hol ich mir runter.“ „Aber lies es heimlich. Deine Angehörigen sind sicher nicht damit einverstanden.“ Peter nickte und Thomas fuhr mit seinem Bericht fort In seiner Jugend war Vater schon in der sozialdemokratischen Partei gewesen – ich erkläre dir das später – und jetzt, nach dem Krieg und nach dem Abbruch des Studiums, wurde er dort stark aktiv. Er hielt Wahlreden und wurde sogar zum Abgeordneten in den Stadtrat gewählt. Als die Nazis an die Regierung kamen, haben sie ihn abgeholt und ein Jahr in ein
Lager gesteckt. Er ist wieder herausgekommen, aber Mutter sagte, er sei ein ganz und gar veränderter Mensch gewesen. Irgendwie so ohne Kraft und ohne Hoffnung. ,Die Nazis sind Teufel und sie richten Deutschland zugrunde’. Hörst du, das darfst du niemandem erzählen. Peter versprach es, obwohl es hierzulande keinen verwundert hätte, noch eine weitere Negativnachricht über die Nazis zu hören. Mutter hatte in der Zwischenzeit die Bäckerei mit einem Gesellen weitergeführt und Vater übernahm wieder seine Arbeit. Aber Mutter erzählte, dass Vater sich bedroht gefühlt habe. Er fürchtete, wieder abgeholt zu werden. ,Ein zweites Mal halte ich das nicht aus.’ In dieser Zeit war einmal ein Frontkamerad bei ihnen erschienen, ein Hauptmann, in Uniform, mit Wagen. Sie haben sich lange über Vaters Situation unterhalten, sagte Mutter. Dann habe der Hauptmann gemeint: „Komm zu uns. Komm zum Militär. Da bist du sicher. Du kannst mit deinem letzten Rang als Oberleutnant wieder anfangen. Wir suchen Offiziere. Mit Uniform und mit dem EK1 darauf, da wagt kein Nazi dir etwas zu tun. Das Militär schützt dich vor den Braunen.“ Und so hat Vater das gemacht. Obwohl er das Militär hasste und nie wieder einen Krieg wollte. Oh nein, wie kompliziert doch alles war. Peter erschrak bei dem Gedanken, sein Vater könne wohl nicht gerne Soldat sein oder sein Bruder. Und wie das alles mit den Nazis zusammenhing. Wenn er nach solchen Gesprächen mit Thomas nach Hause zurückkehrte, dachte er, ob die wohl ahnen, was ich alles weiß oder gehört habe? Vor allen Dingen war er ein wenig neidisch auf Thomas, der so stark in das Vertrauen der Erwachsenen hineingezogen wurde und dem man klar und deutlich die Welt und die politische Lage erklärte.
Mit ihm sprach keiner. Er hatte nur die Bücher und die Zeitung und manchmal hörte er ein geflüstertes Geheimnis, das aber nicht für ihn bestimmt war. Nun ja, er war eben der kleine Peter. Ein glückliches Kind. Er nahm sich vor, darüber einmal mit Thomas zu sprechen. Die Erwachsenen, meinte Thomas, halten uns Kinder für glückliche Wesen. Genug zu essen und viel Zeit zum Spielen. Die freuen sich doch insgeheim, wenn wir am Abend nach Hause kommen, müde und so richtig vollgesaut. Das lässt sich alles abwaschen, denken sie. Was da ein wenig tiefer unter die Haut gelangt ist, das sehen sie nicht. Vielleicht wollen sie es auch nicht sehen, denn die Erwachsenen selbst stecken voller Sorgen und Ängste. Sie wollen das nicht zugeben, doch sie verraten sich fortwährend. Es vergeht kein Abend, an dem Mutter mich nicht mit ihrer Angst löchert. Ob das Haus wohl heil bleibt, ob Vater die Angriffe überlebt, wie der Krieg wohl ausgeht und was aus uns wird, wenn wir ihn verlieren. Ich muss sie dann beruhigen und trösten. Dann die Gespräche mit Vater, wenn er hier ist. Ich glaube, ich bin kein Kind mehr. Sei froh, wenn man dich aus allem raushält. Sie saßen bei diesem Gespräch in der Gartenlaube hinten im Garten. Peter hatte sein Luftgewehr auf den Knien. In günstiger Schussentfernung lagen die Erbsensträucher, die mittlerweile abgeerntet waren und braun und gelb in sich zusammensanken. Hierher kamen die Spatzen, um in dem trockenen, mehligen Sand zu hudern. Oh, wie angenehm war die Wärme. Der warme Sand drang zwischen die Federn und spülte die Milben und sonstige Blutsauger heraus. Die Vögel breiteten ihre Flügel weitgefächert aus, schüttelten dann und wann den Rumpf und lagen wieder ganz still. Wenn Peter dann vorsichtig das Gewehr hob, genau zielte und plopp, dann war die Sonnenbadidylle mit einem Schlag
vorbei. Die Spatzen schossen nur so mit Warngeschrei nach oben. Nur einer blieb liegen, vielleicht ein wenig mit den Flügeln zuckend und Peter rannte mit einem begeisterten Ja’ zu dem erlegten Vogel und trug ihn in die Laube. Warm lag die Beute in seiner Hand. Wieder einmal war ihm das Jagdglück hold gewesen – wie er es bei Löns vorformuliert fand – und er kam sich jedes Mal vor wie ein Jäger, der nach vielen vergeblichen Versuchen endlich den kapitalen Rehbock erlegt hatte. Thomas hatte zunächst versucht, ihm das Schießen auszureden. Die Spatzen seien doch sehr nützlich und lebten von Raupen und anderen Schädlingen, und überhaupt, wie man denn ein Tier töten könne. Gegen Peters Jagd- und Beutetrieb kam er nicht an. In den Köpfen dieser Jäger musste es Bezirke geben, die jenseits aller menschlichen Vernunft lagen. Für Thomas war es unverständlich, wie Peter, der doch um alle Wunden und Wehwehchen seiner Spielkameraden sich so fürsorglich kümmerte, Lebewesen töten konnte, der immer häufiger erlebte, wie im Bekanntenkreis der Familie Angehörige fielen oder als vermisst gemeldet wurden. Wie konnte einer, der diesen mörderischen Krieg genauso hasste wie Thomas, das Gewehr auf Lebewesen richten, die doch auch Geschöpfe Gottes waren, wie Thomas beiläufig zu bemerken pflegte. Wenn sie beide in der Laube saßen, ließ sich kein Spatz blicken. Sie verhielten sich zu auffällig und Thomas tat alles, um anfliegende Sonnenbadhungrige abzuschrecken. Er wollte auf keinen Fall Zeuge eines Vogelmordes sein, was er Peter auch deutlich sagte. Diesem machte die Mahnung nichts aus. In dieser Frage gingen ihre Meinungen weit auseinander. Thomas hatte eben keine Jagdpassion und die hatte man oder nicht. Nur den Schmetterlingen machte ihre Anwesenheit nichts aus. In diesem Jahr gab es sie reichlich, hauptsächlich Fuchs und Kohlweißling. Ihr unberechenbarer Taumelflug führte sie
zielsicher zu einem großen Busch am Ende der Rabatte, unmittelbar vor der Gartenbank. Dieser stand in voller Blüte und zog die Schmetterlinge magisch an. Deshalb hieß er im Haus auch Schmetterlingsbaum. Auf der blauen Blütenpracht saßen dicht an dicht die braungemusterten Füchse, dazwischen dann und wann ein heller Kohlweißling. „Ich möchte nur mal wissen, ob diese Schmetterlingsflügel schmerzempfindliche Nerven haben“, meinte Peter. „Vermutlich gefühllos“, überlegte Thomas, „ausgerechnet das Schönste an diesem Flatterding ist ohne Gefühl. Wahrscheinlich laufen stabilisierende Röhren durch die Flügel, so ähnlich wie bei den Flugzeugen.“ „Müsste man ausprobieren“, antwortete Peter. Ehe Thomas protestieren konnte, hatte er angelegt und plopp. In den Flügeln des Kohlweißlings, der vor ihm saß, riss die DiaboloKugel am oberen Rand ein ausgefranstes Loch. Für einen Moment kippte der Falter etwas zur Seite, richtete sich dann aber wieder auf und blieb sitzen, als sei nichts geschehen. „Experiment gelungen!“, rief Peter. „Du bist wohl vom wilden Hund gebissen!“, schrie Thomas ihn an, „wie kannst du das tun?“ „Es ist doch nichts passiert. Der hat nichts gespürt, nur einen leichten Schlag, als die Kugel auf die Flügel traf. Das brachte ihn etwas aus dem Gleichgewicht.“ „Aber schau dir das große Loch an. Die Diabolo-Kugel wirkt ja wie ein Dum-Dum-Geschoss. Das Fliegen wird schwierig“, und er scheuchte den Schmetterling auf. Nur mühsam konnte er sich in der Luft halten. „Da siehst du es. Der wird es nicht leicht haben in seinem weiteren Leben!“ Sie blickten ihm nach. Nur mühsam kam der Schmetterling über die Ligusterhecke. Dann war er verschwunden. Die Stimmung war heute gründlich verdorben. Thomas schützte irgendwelche Aufgaben zu Hause vor und ging. Eine Zeit lang
blieb Peter noch auf der Bank sitzen, dann brachte er das Gewehr ins Haus. Als er wieder draußen war, stand das Nachbarkind Alfred an der Gartenpforte. Sie gingen auf den Hinterhof der Werkstatt und spielten in den Autowracks. Nachmittags zog es die beiden Freunde Thomas und Peter häufig zu dem Baumstapel der Sägerei. Dort saßen sie ungestört, bis die anderen Jungs kamen. Das dauerte, denn sie mussten erst mal zu Hause mithelfen, ehe sie zum Spielen durften. Anfangs vermissten die beiden das Rauschen der Silberpappel, das sie in Fantasiewelten entführt hatte. Doch die Zeit schien vorbei zu sein, als winzige Männlein sie aufforderten, mit dem Baumsaftlift zu den Blättern zu fahren. Diese Bäume hier waren tot und ohne Sprache. Dafür umgaben jetzt andere Geräusche die Jungen: Das Kreischen der Gattersäge, das Quietschen und Poltern der Loren, die schwere Stämme herantransportierten, das Bremsen der einfahrenden Züge im benachbarten Bahnhof oder das rhythmische TuffTuff der anfahrenden Lokomotiven, besonders wenn sie viele Güterwagen zu ziehen hatten. Häufig hörten sie auch das Dröhnen der feindlichen Bombengeschwader, die am frühen Nachmittag von ihrem Angriffsziel zurückkehrten. Die Bombenlast war abgeworfen, zufällige Notabwürfe waren nicht zu befürchten. Die Jungen fühlten sich sicher. Sie lagen mit dem Rücken auf den Stämmen und beobachteten die kleinen silbrig glänzenden Punkte mit dem langen Kondensschweif, gebündelt zu weißen Bomberströmen, die ruhig und ungestört wieder nach Westen flogen. Angegriffen oder beschossen wurden sie nicht mehr. Die machen jetzt teatime da oben, meinte Thomas. „Oh, Mister Williams, do you like a cup of tea and a piece of cake?“ „Oh, thank you, Miss Gewitterziege, I am very delighted!“ Obwohl Peter erst im nächsten Jahr Englischunterricht bekam,
verstand er wohl Thomas’ spaßige Teestunde. Zumal dieser mit seinem komödiantischen Talent, mit passenden Gesten und Kopf- und Mundbewegungen die Zeremonie verdeutlichte. Ob die wohl wirklich Teetassen an Bord haben, fragte Peter. Ach Quatsch, die bewährte Thermosflasche mit Becher. Dem Flugzeugführer wird man allerdings wohl den Becher anreichen müssen. Die anderen haben die Hände frei. Aber ich gucke mal demnächst genauer in den Trümmern nach. Und dann findest du eine Tasse mit Widmung ,Meinem lieben Peter zum Geburtstag’. Das wäre doch noch mal was. Im Übrigen, es handelt sich um amerikanische Bomber, vermutlich B-17, und ihre Besatzungen trinken nicht tea, sondern coffee. Echten Bohnenkaffee. Dies war auch die Stunde der Tiefflieger. Die Bordwaffenmunition war kaum verbraucht, die deutsche Flugabwehr nirgends zu sehen und so strolchten sie herum, auf der Suche nach lohnenden Zielen. Und die gab es, Züge zum Beispiel. Plötzlich huschten die Mustangs im Tiefflug heran, mitten auf der Strecke, aber auch auf den Bahnhöfen, zerschossen in ein- oder zweimaligem Anflug die Lokomotive und verschwanden wieder. Die an die Personenzüge angehängte 2-cm Flak ballerte erfolglos gegen die Angreifer. Aber damals, als die Jungen auf den Baumstapeln saßen, waren solche Angriffe noch selten. Thomas war fest davon überzeugt, dass ein Tiefflieger gegen die 2-cm Flak keine Chance hätte. Ein zu hohes Risiko. Ein einziger Treffer im Motor genügt, und wenn sie die Maschine nicht mehr hochziehen können, reicht die Höhe nicht mehr für einen Fallschirmabsprung. Insgeheim hofften sie jedoch, dass einmal ein Angriff auf einen Zug im Bahnhof erfolgte und sie dabei aus sicherer Deckung den Angriff beobachten könnten. Hier sind wir sicher wie in Abrahams Schoß. Durch diese Stämme schlägt keine Kugel. Peter nickte.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass die amerikanischen Jäger ihre Schutzbefohlenen allein lassen und sich in gefährliche Bodennähe begeben könnten. Für die beiden Jungen wäre es eine Gelegenheit, eine Mustang, eine Thunderbolt oder eine Spitfire aus nächster Nähe zu sehen. Sie kannten sich gut aus in den gegnerischen Flugzeugtypen. Besonders, was ihre Bewaffnung und Höchstgeschwindigkeit anging. Die Messerschmitt kam da nicht so mit, aber die Focke-Wulff war ihnen allen überlegen. Nur die Mosquito war leider am Schnellsten. Es gab von den eingesetzten Kampfflugzeugen, auch von den gegnerischen, richtige Bausätze, bogenweise, man musste die Teile herausdrücken und zusammenkleben. Ein Onkel brachte sie Peter packenweise mit und dann saßen er und Thomas am Tisch und bauten ganze Geschwader zusammen, umnebelt vom Geruch des Klebstoffs Rudol 333. Anschließend hängten sie mehrere an Fäden unter die Zimmerdecke und spielten ,Terrorangriff auf das Ruhrgebiet’. Sie holten ihre Blasrohre, fertigten Papierkügelchen und verwandelten sich in 8,8 cm Batterien. Sie lagen mit dem Rücken auf dem Teppich und feuerten nach oben auf die anfliegenden Bomber. Nun wurde es laut, sie brüllten sich Befehle und Beobachtungen zu, als hätten sie einen Riesenlärm zu übertönen: ,Feuer frei, Treffer im linken Außenmotor, Volltreffer in der Kanzel, Bomber bricht auseinander, rechter Motor qualmt, Bomber verliert an Fahrt, sackt ab, Besatzung steigt aus, Achtung Notabwurf, Volle Deckung, Wumm, Wumm, Wumm’, die erste Welle zog über sie hinweg, die zweite kam heran. Jeder hatte sechs oder sieben Papierkügelchen im Mund und blies sie in rascher Reihenfolge nach oben. Es war ein Höllenlärm und sie agierten wie in Trance. Am Ende waren die 300 Terrorbomber abgeschossen. Der Angriff auf das Ruhrgebiet abgewehrt, wenngleich
natürlich die sechs Modelle noch oben unversehrt hingen. Als man sie herunterholte, waren sie gezeichnet von den feuchten Abdrücken der Papierkugeln. Das Zimmer war übersät damit und die Jungen lagen in ihren Batterien und beglückwünschten sich zu ihrem gewaltigen Abwehrsieg. Großzügige Ordensverleihungen wurden vorgenommen. Einmal haben sie, als es dunkelte, einen Bomber angesteckt. Er brannte, wie so ein Flugzeug in Wirklichkeit brennt, und sie schrien sich begeistert ihre Beobachtungen zu. Aus Mitgefühl ließen sie die Besatzung noch rechtzeitig aussteigen. Doch gerade als sie feststellten, dass sich vom Heckschießstand ein Fallschirm löste, verbrannte der Bindfaden in seiner Halterung und das Flugzeug stürzte brennend und sich um die eigene Achse drehend in die Tiefe, hart am Bett vorbei genau auf den roten Sisalteppich davor. Peter war wie erstarrt, aber Thomas griff zu der auf dem Tisch liegenden Illustrierten ,Das Heer’ und drückte damit die Flammen aus. Der Läufer war an der Absturzstelle leicht angesengt, aber sie drehten ihn einfach um. „Anders läuft’s in der Wirklichkeit auch nicht ab“, meinte Peter, „aus dem wäre nach dem Abschmieren keiner mehr rausgekommen.“ „Aber wir haben ja alle rechtzeitig aussteigen lassen oder fehlt da noch einer, ja richtig, deine Porzellantasse, guck doch mal nach, vielleicht hat sie den Absturz überstanden“, spottete Thomas, „und jetzt will ich ein zusätzliches Ritterkreuz haben, weil ich einen Großbrand verhindert habe.“ Doch Peter winkte ab, er war zu erschöpft zu einer Antwort. Meistens nach diesen Abwehrschlachten, die ihre Lungen erheblich strapaziert hatten, setzten sich die beiden, jeder stumm, in eine Ecke und versenkten sich in irgendetwas Lesbares. „So ein Quatsch“, meinte Thomas. Dann griff er nach dem roteingebundenen Prachtbuch Frankreich. Ein Erlebnis des deutschen Soldaten’. Das hatte
Peter von Rudolf geschenkt bekommen und es lag als ungelesene Dekoration auf Peters Nachttisch. ,Dieses Buch sei dir, mein lieber Peter, gewidmet zum steten Gedenken an deinen Rudolf. Im Felde, Weihnachten 1941.’ Nur Kunst, kein Krieg. Aquarelle von heilen französischen Städten und Landschaften, sowie eine Menge an hintersinnigen Artikeln ohne Artilleriefeuer und Spähtruppunternehmen. Grässlich! Thomas allerdings liebte dieses Buch. Peter hätte es ihm gerne geschenkt, wenn es nicht ein Erinnerungsstück an Rudolf gewesen wäre. Das musste man in Ehren hochhalten. Bisweilen nach diesen schweren Abwehrkämpfen tat sich noch die Tür auf und eine von Peters Schwestern steckte den Kopf ins Zimmer. Sie sagte: „Na, habt ihr euch ausgesiegt, Ihr Helden?“ Aber darauf reagierten sie nicht.
Helden und Heilige
Einmal in der Woche war nachmittags Religionsunterricht bei Schwester Klementine und einmal HJ-Dienst bei Jan. Den Religionsunterricht schwänzte Peter meistens, Thomas war sowieso evangelisch, aber der HJ-Dienst war eiserne Pflicht. Die Namen wurden aufgerufen und wer nicht da war, musste mit Nachforschungen über die Ursachen seines Fehlens rechnen. Eventuell durch die Polizei, aber das geschah selten und Entschuldigungen waren rasch gefunden: Erntedienst oder Mithilfe auf dem elterlichen Hof, Fronturlaub eines Bruders und Krankheit. Doch die meisten kamen gern zum wöchentlichen Dienst, besonders die Älteren. Hier konnten sie der Mithilfe zu Hause ausweichen, hier gab es Sportmöglichkeiten und hier traf man sich mit Gleichaltrigen, man hatte Spaß, Unterhaltung und Gespräche. In den Bauernschaften wohnte man doch weit auseinander. Der Fähnleinführer hieß Jan und war der Sohn kleiner Bauern. Er war eine Sportskanone, natürlich blond, blauäugig und groß. Jan sah den Dienst als eine Freizeit- und Sportveranstaltung an. Man hatte ihm eine Bauernstelle im Warthegau versprochen und da hatte er die Führerrolle angenommen. Heimabende gab es auch, aber das waren eher Bastelstunden oder Thomas erzählte Kriegs- oder sonstige Gruselgeschichten. Stunden mit ideologischer Ausrichtung waren sehr selten. Dazu war Jan überfordert. Zu Beginn einer Veranstaltung las er meist aus einem Schulungsbrief vor, wie das Evangelium in der Kirche, ein unumgängliches und kaum ernstgenommenes Ritual. Jan atmete auf, wenn er das hinter sich hatte und sich den zweckmäßigen Tätigkeiten des Tages zuwenden konnte.
Zu Weihnachten wurde eifrig für das Winterhilfswerk gebastelt. Peter und Thomas hatten die Endmontage von ZiehEnten übernommen. Auf ihrem Tisch liefen die per Laubsäge vorgefertigten Einzelteile zusammen. Thomas nagelte die Räder an das Standbrettchen und Peter steckte das Unterteil des Entchens in den dafür vorgesehenen Einschnitt und klebte es fest. Hierauf zog er durch ein Loch im Vorderteil des Brettchens einen Bindfaden zum Ziehen. Nach einem Proberollen wurde die Zieh-Ente zu den anderen gestellt. „Schon wieder ein Tiger für die Ostfront fertig!“, verkündete Thomas. „Der heutige Tagesplan wurde um 130 % überschritten.“ Doch irgendwann nach zwei Stunden forderten die Pimpfe und auch die älteren Hitlerjungen eine Geschichte. Natürlich von Thomas erzählt oder vorgelesen. Jan war von Thomas’ Erzählkünsten angetan. Mit dessen Kriegsund Gruselgeschichten glaubte er, die von den Nazis geforderte weltanschaulichideologische und wehrkrafterhöhende Ausrichtung des HJ-Dienstes erfüllt zu haben. Deshalb hatte Thomas bei ihm auch einen Stein im Brett. Auch Peter, weil der nach Thomas’ Aussagen die besten Soldatengeschichten zur Verfügung stellte. Im Sommer durften sie wochenlang die langweiligen Marschierübungen schwänzen. Sie kamen erst, wenn es mit dem Sport losging. Thomas erzählte einige Erlebnisse des Soldaten Paul B.: Die Feuertaufe, der Besuch bei einem sterbenden Kameraden im Lazarett, ein Bajonettangriff, das Trommelfeuer, mitsamt allen ‚nachdenklichen Teilen’, wie Thomas sagte. Peter fragte ihn anfangs: „Willst du ihnen den ganzen Remarque erzählen? Wenn die dahinter kommen, holen sie dich ab.“ „Ach was“, meinte Thomas, „keiner kennt das Buch und beweisen lässt es sich auch nicht, diese Szenen sind doch typisch gewesen im Krieg.“
„Sie werden davon den Eltern berichten…“ „… und dann wird der Vater sagen: Ja, so ist es gewesen. Das hab’ ich auch so erlebt. Das war schrecklich’, und wenn da ein mitteilungsfreudiger Vater ist, der wird das Erzählte noch mit eigenem Erlebten anreichern und in seinem erinnerungsverklärten Heldentum seinem Sohn noch mehr Angst einjagen vor dem Krieg.“ Im Sommer gab es meistens eine Arbeitsteilung. Die Jüngsten lagen im Gras und hörten Thomas’ ,wehrertüchtigenden’ Geschichten zu, während die anderen unter Jans Anleitung Sport trieben. Wenn Jan nicht unter den Zuhörern saß, versuchte Thomas, schon deutlicher den Wahnsinn und die Unmenschlichkeit des Krieges darzustellen. Er hoffte, dass sich bei den Zuhörern das Becken des Abscheus Tropfen für Tropfen füllte. Um die Weihnachtszeit bei den Bastelstunden wurden Thomas’ Erzählungen friedfertiger. Die Waffen schwiegen. Geschichten von einer Hallig bei Sturmflut, von Weihnachtsfesten im Schützengraben und von gruseligen Fahrtenabenteuern erhöhten die weihnachtliche Stimmung. Im Übrigen floss aus Peters Bibliothek reichlich militärischer oder märchenhafter Lesestoff. Thomas nahm die Bücher direkt mit zum Dienst und las daraus vor, natürlich nicht minder spannend als seine frei vorgetragenen Erzählungen. Der höchste der braunen Halbgötter, der über die Hitlerjungen im Kreisgebiet regierte, war der Bannführer. Der saß in der Kreisstadt in seinem Rattenfängerhaus mit vielen Büros und Angestellten. Auch Jan gehörte dazu. Der Bannführer musste mit Hilfe der bis zum letzten Einzelhof reichenden Flötentöne seiner Organisation die Kinder aus den Familien holen und so entfremden, dass sie mit Begeisterung dem obersten Braungott nachfolgten. Einmal sollte der Bannführer den Stamm
inspizieren und einen Schulungsabend geben. Und zwar über das Erbhofgesetz. Für die Gestaltung und vor allem für das richtige Verhalten an diesem so wichtigen Tag wurden mehrere Übungsstunden angesetzt. Weil Jan offensichtlich mit Thomas’ wehrertüchtigenden Geschichten vor dem Bannführer geprahlt hatte, wollte dieser sich von Thomas’ Künsten auch eine Vorstellung machen. „Die kann er haben!“, knurrte Thomas und er verfasste in den nächsten Tagen aus drei Vorlagen eine Frontgeschichte. Nicht ohne sich vorher über den Lebenslauf des Bannführers zu informieren: Mittlere Reife, Inspektorlaufbahn bei der Reichsbahn, große Verdienste beim Aufbau der Hitlerjugend im Kreis, Jahrgang 1918, 1936 freiwillig zur Wehrmacht, dann aus parteiinternen Gründen freigestellt und zum Bannführer aufgerückt. „Der interessiert sich nicht für Literatur“, meinte Thomas, „der hat ,In Stahlgewittern’ bestimmt nicht gelesen, geschweige denn Remarque.“ Die angesetzten Übungsstunden, von denen Thomas und Peter dispensiert waren, weil in Vorbereitung der Frontgeschichte, wurden dazu verwendet, zackig zu grüßen, geschlossen aufzustehen, sich zu setzen, gemeinsam zu antworten und sich grundsätzlich nicht herumzulümmeln. Dann kam der Nachmittag heran. 60 Jungen saßen dichtgedrängt in einem Klassenzimmer der dörflichen Volksschule. Als sich die Tür öffnete und der Bannführer mit Jan den Raum betrat, schrie jemand: „Achtung!“, worauf alle sich wie ein Mann ruckartig erhoben. Jan erstattete Meldung über die Anwesenheit von soundsoviel Jungen des Stammes ,Widukind’ und anderes mehr. Der Bannführer dankte, stellte sich dem Gedränge gegenüber, streckte den rechten Arm aus und rief: „Heil Hitler, Jungen!“ Diese antworteten unisono und kräftig: „Heil Hitler, Bannführer!“
Es mochten anschließend auch wohl noch andere Rituale abgewickelt worden sein, aber Peter nahm sie nicht mehr genau wahr. Er betrachtete das braune Wundertier eingehend. Schließlich hatte er solches noch nie gesehen. Der Bannführer war nicht sehr groß, weitaus kleiner als Jan, besonders als er seine Mütze abnahm und auf das Pult legte. Das dunkle Haar war streng gescheitelt. Er war breitschultrig, was durch Querstreben der gelben Uniformjacke noch betont wurde. Irgendwelche Metallabzeichen hingen daran. Ob es Orden waren, war nicht erkennbar. Woher sollte er sie haben? Der Bannführer hatte kleine Augen und einen schmaler Mund, der zackigehrgeizig redete. „Du wolltest auch nach oben“, dachte Thomas, „du abgebrochener Riese.“ Mit federndem Schritt sprang er nun ein weiteres Podest hinauf, hinter das Katheder. Eigentlich hätte er nun von unten riesig wirken müssen. Aber das Katheder war sehr hoch, so dass mehr oder weniger nur seine Schulterklappen und sein Kopf darüber hinwegsahen. Er ergriff einen Zeigestock und wies auf die Karte vom deutschen Lebensraum im Osten, die man schon vorher am Kartenständer aufgehängt hatte. Die deutsche Front befand sich mittlerweile außerhalb des Kartenbereichs, was dem Bannführer Gelegenheit gab, noch einmal auf die Leistungen der deutschen Wehrmacht und auf den baldigen Endsieg hinzuweisen. Dann kam er zur Sache. Die Söhne der großen Bauern begannen sich zu langweilen. Es war doch immer schon so gewesen, dass der älteste Sohn den Hof erbte. Nur wenn er erkennbare körperliche oder geistige Mängel aufwies, wurde er übergangen. Nur das bessere genetische Material darf zur Fortpflanzung kommen. Das war ihnen aus der Viehzucht doch bestens vertraut. Die Söhne der Kleinbauern und Heuerleute, aber auch die abgehenden Söhne der großen Bauern, hörten jedoch aufmerksam zu, als er von
dem unermesslichen Land im Osten sprach, das von deutschen Bauernfamilien besiedelt und germanisiert werden müsse. Zu diesem wohlfeil zu erwerbenden Besitz stellten die Jungen auch nach dem Vortrag ihre Fragen an den Bannführer. Voraussetzungen waren auf jeden Fall Bewährung in Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht, bäuerliche Ausbildung, Nationalsozialismus und Blutsreinheit. Uff, das waren ja Anforderungen! Man war doch gerade erst in der Hitlerjugend. Ob man auch als Katholik Land bekäme? Selbstverständlich, der Katholik sei Staats tragend, man müsse aber außerdem sich das nationalsozialistische Gedankengut zu eigen machen und nach außen vertreten. Manchen Jungen wurde nun erst klar, dass das Nazitum offensichtlich nicht nur aus Marschieren, Heil Hitler-Gruß, Gestapo und ,Die Fahne hoch’ bestand, was man bislang geglaubt hatte, sondern auch aus irgendwelchen weltanschaulichen Zielen und Inhalten. Man müsste Jan einmal danach fragen. Nach dem Referat dankte Jan dem Bannführer für seine richtungsweisenden Worte und forderte Thomas auf, den Abschluss mit einer vaterländischen Geschichte zu gestalten. Thomas hatte sich mächtig in Schale geschmissen. „Weißt du, das Kostüm muss auf der Bühne situationsgerecht sein“, meinte er bei der Anprobe zu Peter. Er hatte sein Braunhemd herausgesucht, das er sonst nur noch wegen der Erdnähe bei der Gartenarbeit trug, dazu die schwarze HJ-Bundhose. Ein schmaler Lederriemen zog sich quer über seine Brust. Auf der Brusttasche war natürlich das Sportleistungsabzeichen. „Mehr habe ich leider nicht.“ Dafür aber ließ er das Hemd exakt von seiner Mutter bügeln. Nun kam sein Auftritt. Er schritt von hinten heran, wo er gesessen hatte und stellte sich vorne neben die erste Reihe in den Mittelgang.
„Es wäre ein Fehler, sich auf eines der zum Katheder führenden Podeste zu stellen. Zu viel Distanz. Man muss die Leute mit Händen greifen können, zumindest mit den Augen. Und deswegen behalte ich auch die Brille auf, du Döskopp!“, sagte er zu Peter, der ihm riet, die Brille wegzulassen, weil dann mehr nordisch. „In dieser Hinsicht habe ich sowieso keine Chance, meine Haare sind zu dunkel. Himmler trägt auch eine Brille.“ Die Haare hatte er sich nicht schneiden lassen. Sie fielen schon bei stärkeren Kopfbewegungen über das rechte Auge. „Bewusst geplant. Wie bei Hitler. Hab’ ich mal in der Wochenschau gesehen. Wenn der nach einem besonders gewichtigen Satz den Beifall entgegennimmt und prophetisch drohend mit aufwärts gerichtetem Kopf in die Ferne blickt, dann streicht er sich mit der Hand die Haarsträhne aus der Stirn. Ganz langsam, als zöge er einen Vorhang vor neuen Perspektiven zurück. Das versuch’ ich auch mal.“ Thomas grüßte zackig den seitlich sitzenden Bannführer, dann wandte er sich zum Publikum: „Kameraden, ich möchte euch von der ruhmreichen Märzoffensive 1918 an der Somme erzählen. Ich folge dabei dem Bericht eines Pour le mérite-Trägers. Er war Leutnant und wurde insgesamt 14-mal von Geschossen aller Art getroffen.“ Er ließ ihn nicht alleine stürmen. Auf der linken Seite setzte er einen gewissen Paul ein. Der hatte zwar gerade ein mehrtägiges Trommelfeuer und einen Angriff überstanden, doch nun setzen sie zum Gegenangriff an. „Sie wollen töten, denn dort sind jetzt ihre Todfeinde. Vernichten wir sie nicht, dann vernichten sie uns.“ Das zitierte er wörtlich. Sie töten ihre Gegner mit Spaten und Bajonett, mit dem Gewehrkolben erschlagen sie eine Maschinengewehrmannschaft und dann sind sie in den
feindlichen Linien, wo sie sich zunächst nur mit Lebensmitteln versorgen und dann schnell den Rückzug auf die eigenen Stellungen antreten. Thomas deutete diesen Reichtum an Lebensmitteln bei den Gegnern nur an. Schließlich wurde die Ernährungslage hierzulande auch wieder sehr kritisch. Die nachdenklichen Teile ließ Thomas diesmal aus. Sie hatten sich darüber gestritten, aber er meinte, es sei zu riskant. „Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute. Wir sind roh und traurig und oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren.“ Dann ließ er den gewissen Paul weiterstürmen, in Richtung auf den Bahndamm zu, das erklärte Ziel des Leutnants. Denn Thomas hatte geplant, dass sie zusammentreffen sollten. „Die rechte Hand des Leutnants umklammerte den Pistolenschaft, die linke einen Reitstock aus Bambusrohr. Er kochte vor einem rasenden Grimm, der ihn und alle auf eine unbegreifliche Weise befallen hatte. Der übermächtige Wunsch zu töten, beflügelte seine Schritte. Die Wut entpresste ihm bittere Tränen.“ So durchschritten er und seine Mannen das Drahtgewirre. Einen Augenblick stand er mit wehendem Mantel auf der Walstatt, umsaust von Geschossen aller Art. Er zitierte in den Schlachtenlärm ein Wort Ariosts: „Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen, wann er auch kommt, wenn er nur rühmlich ist.“ Das hatte der wackere Leutnant zwar während einer schweren Beschießung vorher (nämlich auf S. 194) gemurmelt, was für ihn eine angenehme Art von Trunkenheit hervorrief. Und neben ihm saß sein Freund Klus und sang das schöne Lied vom schwarzen Walfisch zu Askalon. „Jeder hat eben seine eigenen Beruhigungsmittel.“ Doch dann riss der Leutnant den Mantel ab und schleuderte ihn von sich. Und hinfort rannte er, fortwährend mit der Pistole schießend, auf den Bahndamm zu, wobei er nicht müde wurde,
ganz buchhalterisch alle Einzelheiten des Geschehens zu registrieren und zu notieren. „Ein tellerförmiger Stahlhelm stieg kreiselnd hoch in die Luft.“ „Sonderbar“, meinte Thomas am Vortag, als er seinem Freund die Geschichte in einer Art Generalprobe vortrug, „wie man bei den vielen und detaillierten Beobachtungen, auf welche Weise Menschen umgebracht werden, nicht auf den Gedanken kommt, dass der Krieg etwas Hässliches und Menschenunwürdiges ist.“ Mittlerweile waren sich der gewisse Paul und der Leutnant nahe gekommen. Eine explodierende Handgranate führte sie dann endgültig zusammen. Dies war auch der Augenblick, wo Thomas sich die Haarsträhne aus der Stirn strich. Die beiden Jungen hatten sich einen erhebenden Abschluss ausgedacht, so wie bei Peters Totenfeiern von früher. Allerdings durften sie keinen sterben lassen. Der Leutnant musste ja noch sein Buch schreiben. So hatte Peter Thomas auf das Jugendbuch ,Infanteriesturm durch Polen’ verwiesen, das dieser dann auch als dritte Quelle nutzte. Also erhielt der gewisse Paul eine Schulterverletzung und der Leutnant einen dicken Splitter in die Lunge. Thomas gelang es meisterhaft, in diesem letzten Abschnitt eine Pietá aufzubauen. Der gewisse Paul saß auf einem erbeuteten Maschinengewehr und der Leutnant lag quer vor ihm in seinen Armen. Bevor dieser in Bewusstlosigkeit versank, sagte er noch: „Mit mir ist es aus. Greift weiter an!“, aber sein martialischer Träger glaubte noch nicht an dessen Ende. Trotz eigener Schulterverletzung nahm er ihn auf die Arme und trug ihn, umsaust von Geschossen aller Art, zum Hauptverbandsplatz, wo es ihm noch gelang, den Leutnant auf den Operationstisch zu legen, um dann selbst besinnungslos in die Arme eines herbeigeeilten Sanitäters zu fallen. Aber der Durchbruch war
geschafft und führte zu erheblichen Geländegewinnen. Das waren Thomas’ markante Schlusssätze. Das Publikum war wie immer hingerissen, der Bannführer beeindruckt. Vor der versammelten Mannschaft lobte er Thomas für seine gut erzählte Geschichte, die wieder einmal mehr zeige, wie schon unsere Väter heldenhaft für die Freiheit Deutschlands gekämpft hätten, aber erst der Führer und die nicht minder tapfere Wehrmacht hätten diese Freiheit nunmehr endgültig gesichert und die Schmach von Versailles gerächt. Diese Väter könnten nur ein Vorbild für die Söhne sein. Nach dem Schlusslied ,Siehst du im Osten das Morgenrot’ und einem donnernden ,Sieg-Heil’ auf den Führer befahl der Bannführer Thomas und Peter zu sich. Jan hatte ihm wohl erzählt, dass Peter die größte Kriegsbüchersammlung im Dorf hatte. Er wollte Persönliches von den beiden Jungen wissen. Thomas erzählte, dass er nach der Beschädigung des Elternhauses durch einen Terrorangriff mit seiner Mutter vom Ruhrgebiet hierher verzogen sei. Sein Vater halte dort als Hauptmann einer Flakabteilung gegen eben diese Terrorflieger weiterhin die Stellung. Peter berichtete kurz, sein Vater sei Oberfeldarzt und leite ein Reservelazarett in Warschau, auch besitze er aus dem 1. Weltkrieg das EK 1 und das Verwundetenabzeichen. Sein Bruder liege übrigens vor Leningrad, das ja bald erobert werde. Mit fremden Federn Eindruck schinden. Der Bannführer nickte: „Ja, ja, die Söhne unserer Offiziere. Ihr dürft stolz sein auf eure Väter!“ Damit wurden sie entlassen. Auf dem Heimweg konnten sich die beiden nicht einkriegen vor Lachen. „Aber weißt du“, sagte Thomas zuletzt ernster werdend, „was geht eigentlich in so einem Bannführer vor? Er sieht doch, wie alles ringsum eingezogen wird, sogar die Väter. Wie Gleichaltrige fallen oder verwundet werden und er sitzt da in
seinem Bann und spielt mit seinen Hitlerjungen wie du mit deinen Soldaten. Wenn er die sogenannte Ehre im Leib hätte, würde er sich freiwillig melden. Was hat er denn eigentlich in der Hand? Die künftigen Zeiten sehen für die Braunhemden nicht rosig aus. Ob er das wohl ahnt? Am Ende gehört auch er zu den Betrogenen.“ Beim nächsten Dienst zog Jan Thomas beiseite und sagte: „Du, einige Stellen in deiner Geschichte waren doch sehr grausam, das Bajonett im Rücken, das Schädelspalten mit dem Spaten und der abgerissene Kopf.“ „Ja“, meinte Thomas, „das stimmt, da waren noch viel schlimmere Sachen drin, aber es stand nun so im Text. Ich wusste auch nicht, wie ich diesen Angriff verdeutlichen sollte. Als Spaziergang konnte ich ihn ja auch nicht schildern.“ „Sicher, du hast Recht, aber am Ende glauben meine Jungen noch, das sei die Wirklichkeit Das wäre ja schrecklich.“ Im Übrigen verlief Peters Eintritt als Pimpf in die Hitlerjugend unter ganz unfeierlichen Umständen ab. Er war nämlich krank und konnte also die Zeremonien nicht miterleben. „Du hast nichts verpasst“, meinte Thomas, „das war weder schmissig noch feierlich. Das ganze Fähnlein war in U-Form aufgebaut. In der offenen Seite standen Jan und Theo mit der Fahne. Die Neulinge befanden sich in der Mitte, von dem Karree umschlossen. Jan hielt die übliche Rede, es sei die Ehre und Pflicht jedes deutschen Jungen, in der Hitlerjugend dem Führer und Vaterland dienen zu dürfen. Dann wurden die Namen aufgerufen und die Fehlenden registriert. Anschließend musste Udo vortreten, einen Zipfel der Fahne anfassen und dreimal geloben, dass er das und das tun oder einhalten werde. Die Neuen mussten jedes Mal unisono antworten: Ich gelobe! Dann folgte das Deutschlandlied mitsamt dem obligaten HorstWessel Lied. Nach einem ,Sieg-Heil’ ließ Jan wegtreten. Es regnete nämlich in Strömen. Kein Zuschauer, kein Ortsgruppenleiter, kein Bürgermeister und auch kein Lehrer,
aber ich glaube, Jan war ganz froh darüber. Der Ortsgruppenleiter musste Briefe austragen und beim Bürgermeister kalbte eine Kuh, hat Jan mir erzählt. Und besorg’ dir ein ärztliches Attest, die kommen und überprüfen. Das kenne ich noch von Zuhause.“ Und richtig, eine Woche später erschien der mit der Familie befreundete Polizist. Er sagte: „Es tut mir ja leid und ich glaube auch wohl, dass Peter krank war, aber ich habe einen dienstlichen Auftrag. Zehn Jungen haben gefehlt.“ Er sah das Attest an und schrieb erleichtert eine Notiz in seine Liste. Er erzählte: „Der Bramkamp-Bauer behauptete, sein Sohn habe ihm von dieser Veranstaltung nichts mitgeteilt und die Zeitung lese er wegen der vielen Arbeit nur sehr unregelmäßig. Wir haben uns dann auf eine Entschuldigung geeinigt: Mithilfe des Jungen beim Kuhkalben. Das habe ich mittlerweile schon viermal notiert. Doch je mehr solche Gründe angegeben werden, desto eher glauben die Stellen da oben, das liege um diese Jahreszeit in der Natur der Sache.“ Beim Dienst in der nächsten Woche war Peter dann selbstverständlich dabei. Nach der Anwesenheitskontrolle begann das Erlernen des Marschierens und zwar mit der Einübung von Grundtechniken: Aufstellen zu drei Linien, sich Ausrichten, Strammstehen, Augen rechts und Rührt euch. Zu diesem Zweck wurden sie auch mehrfach über den Platz gescheucht Es gab keinen Jungen, der ein Braunhemd trug oder sonstige nationalsozialistische Textilien oder Insignien. Dann kam das Marschieren dran. Wie man sich im gleichen Schritt und Tritt vorwärtsbewegt und wie man als Marschkolonne um die Ecke kommt. Eigentlich müsste man doch auch das Rückwärtsmarschieren im gleichen Schritt und Tritt üben, dachte Peter. Schließlich war Rückwärtslaufen eine
von ihm viel geübte Spezialität gewesen. Erstaunlich war, dass jeder Junge eine eigene Schrittlänge und einen eigenen Schrittrhythmus hatte. Diese individuellen Besonderheiten mussten erst einmal auf eine Norm vereinheitlicht werden. Wichtig war auch, dass diese neue Schreitbewegung immer mit dem linken Fuß begann. Links, zwo, drei, vier, links, zwo,… Dann dieses Abbiegen nach links oder rechts. Da musste der eine Flügelmann auf der Stelle marschieren, bis der andere auf der Außenbahn mit ihm parallel in der neuen Richtung stand. Das Anhalten wurde angekündigt. Und wenn das Halt ertönte, mussten sich beide Füße paarig zusammenfinden. Peter erkannte, dass man so einen großen Haufen von Menschen nur in dieser Dreierformation und mit diesem Marschschritt übersichtlich lenken und zum Anhalten bringen konnte. „Und der Marschtakt vereinheitlicht dann schließlich auch das Denken!“, fügte Thomas hinzu. Peter machte das Marschieren keine Schwierigkeiten. Er hatte es ja schon weit vorher in seinem Paradiesgarten spielerisch geübt. Besonders auf zackige Kehrtwendungen verstand er sich. Aber hier brauchte er diese Technik nicht. Er stand irgendwo in der Mitte der Formation und wandte sich wie die Übrigen ohne Fußtechnikeinsatz und verdrießlich mal nach links oder nach rechts, ganz wie der Befehl es verlangte. Seitdem das Marschieren nicht mehr ein Spiel, sondern todernster Zwang war, hasste er diese Form der Bewegung. Die Jungzugführer waren froh, wenn die jungen Kameraden die befohlene Richtungsänderung halbwegs hinbekamen. Die Marschierübungen dauerten meist nur eine knappe Stunde. Dann kam der Sport an die Reihe. Leichtathletik oder Spiele. Einmal im Monat wurde bei gutem Wetter auch ein Geländespiel durchgeführt.
Sie marschierten in langer Marschkolonne zu einem zwei Kilometer entfernten, sehr weitläufigen Wald. Thomas und Peter gehörten zu den Jüngeren und wurden von den Älteren, die sich sehr wichtig nahmen, kaum beachtet. Sie trotteten wenig geordnet am Ende der Kolonne. Meist wurden bei diesem Marsch Lieder gesungen. Es war Pflicht, bestimmte Lieder auswendig zu können, wenigstens drei Strophen davon. Keine Schwierigkeit für Peter, da er ja ohnehin alle vaterländischen Lieder und Kampfgesänge der neueren Zeit kannte und beim Einschlafen sang. Er fasste eine Melodie rasch auf und konnte sie nachsingen. Eigentlich war das Elternhaus voller Lieder. Da waren einmal die wohl hundert Schallplatten mit instrumentalen oder vokalen Tonerzeugnissen, klassische Stücke, Balladen, Arien, Schlager und Märsche. Aus dem Radio kamen, von kernigen Soldatenstimmen geschmettert, marsch-, takt- und trittfeste Soldatenlieder. Ob das nun ,Erika’ war oder die ‚Landpartie’. Ob man nun in den Westen gegen Frankreich zog, gegen England fuhr, Panzer in Afrika anrollen ließ oder überhaupt ran an den Feind ging und dabei speziell Bomben auf Engelland warf. Im Übrigen besaß Peter davon auch Texthefte. Da nun seine Schwestern und seine Mutter sehr sangesfroh waren und dieser weibliche Chor durch die vielen Freundinnen noch vergrößert wurde, lernte er viele Volks- und Kinderlieder kennen, natürlich auch Kirchenlieder. Im Mai hielten die Mädchen vor einem eigens aufgestellten und geschmückten Marienaltar mit Mutter Gottes Statue aus Gips täglich halbstündige Maiandachten ab, immer abends. Peter liebte diese gefühl- und stimmungsvollen Marienlieder, aber er nahm an den Andachten nie teil. Er hörte aus der Ferne zu, ihm war das Knien und Beten zu langweilig und zu zeremoniell. Sollte man ihn durch allerlei Versprechungen doch einmal vor diesen Altar gezerrt haben, dann sang er nicht mit Erst
später, im Bett und wenn ihm danach war, sang er allein für sich, vielleicht ,Maria breit den Mantel aus’. Damals, als er noch daran glaubte, man könne mit Beschwörungen den Anflug feindlicher Flieger verhindern. Auch hatte er auf dem Dachboden ein Liederbuch für Jugend und Volk gefunden. Es hieß ,Der Spielmann’ und war im Christmond 1922 erschienen. Peter nahm es mit nach unten und es wurde sein Sing- und Lesebuch. Manche Lieder daraus kannte er von seinen Schwestern, die meisten aber nicht, doch der Text interessierte ihn. Da erfuhr er so manches von fremdartigen Währungen, vom Feinsliebchen, vom Jagen zu Pferd, vom Bergbau und von Kaisern und Königen. Häufig verlangte er von seinen Schwestern, sie sollten ihm ein Lied, das ihm textlich gut gefiel, einmal vorsingen, was sie nicht immer konnten. Zwar konnten sie Noten lesen, aber diese nicht singen. Singenlernen ging doch wohl nur über das Gehör und Nachahmen. Ein besonderes Kapitel im Büchlein war ,Wir zogen in das Feld’, Landsknechts- und Soldatenlieder. Nur wenige davon konnte er singen. ,Regiment sein Straßen zieht’ und ,Steh’ auf hohem Berge’. Das waren Beobachterlieder. Aber dann ,Die Reise nach Jütland’, das war ein trauriges Lied vom Abschiednehmen. Mutter sang es häufig, sie hatte es von ihrem Großvater gehört, der den Krieg gegen Dänemark 1866 mitgemacht hatte. Wenn Peter mal krank, aber singfähig im Bett lag, und er Mutter in der Nähe wusste, begann er dieses Lied zu singen. Dann kam sie sofort und sie beide sangen es zu Ende. Ein uraltes Lied, das er aber nicht singen konnte, machte ihn in der letzten Strophe nachdenklich: ,Wann der Feind überwunden ist, zeucht man dem Lager zu, sieht man was übrig ist zur Frist und hat die Welt kein Ruh; erst geht das Klagen an: wo ist blieben mein G’span? Wir haben begraben,
ihn gefunden tot allein. Hilft nichts! – Es ist einmal gewiss: es muss gestorben sein.’ Siege verlangten auch Opfer. Doch die Zeit war noch nicht so weit, zu erkennen, dass Niederlagen noch mehr Opfer forderten. Mit einem Lied stand er neuerdings auf Kriegsfuß: ,Ich bin Soldat vallera, hab’nen Bart vallera, hab’nen Säbel und Gewehr. Was wird mei’ Mutterl sagen, wenn ich aus’m Krieg heimkommen tu… ach ja, ich bin dei Jockeli, dei Bua und hab’nen Bart dazu.’ Oder ein Gewehr oder einen Säbel oder auch keinen Arm oder kein Bein mehr. Er musste dabei an den lustigen Bekannten seiner Schwestern denken, dem man den Unterarm abgeschossen hatte und dem er fortan aus dem Weg ging. Er beschloss, dieses Lied nie mehr zu singen. Da man wusste, dass Peter eine Menge an Marsch- und Kampftexten auf Lager hatte, fragte Jan ihn einmal bei einem Gruppenabend, welches Lied er denn vorschlage. Peter meinte: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“, aber Jan kannte das Lied nicht und die anderen auch nicht. Doch den oft beschrittenen Negerpfad, den kannten alle. Auf dem Marsch zum Geländespiel sang Peter nicht mit und Thomas auch nicht. Der war so unmusikalisch, dass die von ihm mitgesungenen Kampfgesänge bei den Kameraden zu Irritationen und Fluchtgedanken führten. In der Öffentlichkeit klangen für Peter die Lieder ganz anders als in seiner Kammer. Hier mochte er noch mit dem Heidekraut Erika die Gespenster- und Geisterwelt, die sein Bett dicht umlagerte, in Panik versetzen, aber draußen wirkten sie albern bei den vielen ernsten Leuten an der Straße. Es war ihm peinlich. Genauso wie das Marschieren. So bewegte sich der normale Mensch eigentlich nicht. Ein Jäger z. B. konnte pirschen, gebückt schleichen, konnte sich als Indianer oder Trapper fühlen, aber mit einem braunen Karnevalkostüm durch die Straßen marschieren – nein!
Die Zeiten, wo er im strammen Marschtritt durch den Garten geschritten war und ihn zu seinem Paradies ernannt hatte, waren doch längst vorbei, dank Thomas. Seitdem er nun Pimpf geworden war, fing er an, diesen Nazikram mit seinen zeitstehlenden und aufgeplusterten Zeremonien zu hassen. So marschierten sie denn dahin, vorbei an den wenigen Häusern an der Straße. Peter schämte sich, in geschlossener Reihe mit festem Schritt und Tritt und singend über die Straße zu marschieren. Es war Theater, das von den Leuten nicht ernst genommen wurde. Nur ein paar Kinder stellten sich an den Wegrand und staunten. Die Erwachsenen standen hinter den Gardinen und Peter konnte sich vorstellen, was sie dachten oder sagten. Das strengere Braun der vorderen Kolonne wechselte nach hinten allmählich zu einem farbigen Allerlei. Thomas trug stets ein blaues Hemd und Peter ein grünes. Die Braunen oder Kackgelben waren die Urheber für diesen Krieg, den die Soldaten jetzt gewinnen mussten, sonst Gnade uns Gott. Der erste Weltkrieg stand als ernste Warnung da. Peter wusste, in welchen Häusern Trauer herrschte. Da war der Ehemann gefallen oder der Sohn. Das Dorf war klein und die Nachricht von einem Gefallenen lief schnell durch den Ort. Und wenn sie mit ,Wildgänse ziehen durch die Nacht’ an diesen Häusern vorbeimarschierten – hier war das Morden schon eingetroffen und Peter fühlte sich ganz unwohl, als Mitglied dieser Marschsäule der Gegenstand heimlich geballter Fäuste zu sein. Als sie in einen Feldweg einbogen und die Kolonne in ihrer ganzen Länge zu sehen war, fiel Peter plötzlich das Wort ,Kanonenfutter’ ein. Er wusste nicht, weshalb. Er hatte es gestern in einem Buch gelesen, in dem man hämisch die Engländer und Franzosen anprangerte, ihre farbigen Völker aus den Kolonien als Kanonenfutter zu missbrauchen. Mit billigen Mitteln die Kräfte des Feindes binden und abnutzen, hatte Thomas anhand eines Lexikons
erklärt. Ob die Eltern wohl merkten, dass diese Rattenfänger ihnen unter Vorgaukelung hehrer nationaler Ziele die Kinder entführen wollten? Auf Nimmerwiedersehen. An einer Waldschneise angekommen, wurden die beiden Parteien aufgestellt und den einzelnen Untergruppen ihre Aufgaben zugeteilt. Die Kleinen bekamen dahinten irgendwo eine Stellung zugewiesen, die sie unter Einsatz aller Kräfte verteidigen sollten. Der deutsche Soldat gibt keinen Fußbreit Boden preis. Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen. Widerstand bis zum letzten Mann. Vermutlich mit viel Geschrei, denn sie hatten weder Waffen noch körperliche Kraft. Die Größeren hatten jedenfalls Knallpistolen oder sogar Revolver mit Platzpatronen. Der Vorteil der Pimpfe bestand darin, sich unsichtbar machen und schnell laufen zu können. Ersteres verstanden sie perfekt. Da Thomas und Peter den Wald kannten wie ihre Hosentaschen, führten sie eine Gruppe von sieben Kindern in ein undurchdringliches Versteck. Dort begann Thomas seine Erzählungen von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Während irgendwo im Wald unter Gebrüll, Geknalle und Hurra gekämpft und Gefangene gemacht wurden, saß hier eine Gruppe von Kindern. Sie erlebten, wie Worte sie aus den Zwängen des Alltags entführten und ihnen eine Welt zeigten, die zwar unerreichbar war, aber die Möglichkeit von Freiheit und Selbstverwirklichung des eigenen Ich ahnen ließ. Man musste nur auf seine eigenen Kräfte vertrauen, sich nichts vormachen lassen und selbst herausfinden, was hinter der Erwachsenenwelt steckte. Irgendwann war das Geländespiel dann zu Ende und die Truppe rückte mit einem Lied auf den trockenen Lippen wieder ab. Meistens ohne Thomas und Peter. Die waren schon längst zu Hause.
Bei einem dieser privaten Rückmärsche meinte Thomas: „Jedes Mal nach meinem Erzähltheater muss ich feststellen, dass man Menschen mit Worten verhexen kann und sie merken es nicht einmal. Guck dir Goebbels oder Hitler an, diese Zauberkünstler. Da jauchzt das Volk und hat sich ganz vergessen, aber so ein Wort fliegt wie der Wind vorbei. Unsere Kameraden müssten lesen lernen. Geschichten, die auch nach Jahren noch dastehen und überprüfbar sind. Natürlich das Richtige lesen“, und er blickte Peter ein wenig provozierend von der Seite an. „Aber sie haben das Lesen nicht gelernt. Sie schaffen ja nicht einmal die kürzeren Texte im Lesebuch. Das ist doch für sie ein Marterinstrument, jedes Wort eine Hürde. Wer die wenigsten Hürden beim Vorlesen reißt, hat gewonnen. Doch woher sollen sie das Richtige zum Lesen bekommen? Von den Nazis, von deiner Kirche oder von den Eltern? Guck dir doch euren Bücherschrank an. Remarque kommt auf den Dachboden und Ernst Jünger zu den eleganten Ledereinbänden neben der Bibel und der Geschichte der Päpste.“ Peter sagte nichts. Die Frage nach der geringen Qualität der väterlichen Bibliothek und auch seiner eigenen Bücher war geklärt. Darüber brauchten sie nicht mehr zu streiten. Aber er war traurig und Thomas merkte es. „Du kannst ja nichts dafür, und ob dein Vater was dafür kann, weiß ich nicht. Vielleicht war die Welt, in der er lebte, stärker als das eigenständige Denken: Das Elternhaus, die Kirche, die Schule, der Kaiser, die Korporationen, die Kollegen und die Kameraden. Mein Vater sagte: ,Als ich aus dem Krieg kam, war ich einsam und hatte alles verloren, woran ich geglaubt hatte. Aber ich sah neue Ziele und Werte: Kein Krieg mehr, Gerechtigkeit und Demokratie. Die wollte ich verwirklichen, doch da war ich noch einsamer. Verlassen sogar von einigen meiner eigenen SPD-Genossen.’ Ich bin meinem Vater
dankbar, dass er mir was anderes gezeigt hat als eine HurraNation und eine braune Kultur. Auch, dass er rechtzeitig zugepackt hat. Sonst wäre ich vielleicht auch diesen Rattenfängern gefolgt. Irgendwann macht es Klick und dann rastet eine Weltanschauung oder ein Glaube ein. Du musst schon Gewalt anwenden, um sie wieder abzusprengen und dabei geht auch so manches andere mit kaputt.“ Peter verstand von alledem kaum etwas. Thomas hatte heute wieder seinen philosophischen Tag, meistens dann, wenn er von seinem Vater einen Brief erhalten hatte. Und das war heute der Fall gewesen. Aber eins war doch sicher: Der deutsche Soldat war der beste der Welt. Da konnte Thomas reden, soviel er wollte. Peter wechselte das Thema: „Du solltest Schauspieler werden, das habe ich dir schon ein paar Mal gesagt.“ „Nee“, meinte Thomas, „warum dann nicht gleich Politiker. Nein, nein, ich habe ein wenig Angst vor diesem Verhexen. Ich möchte niemandem die Freiheit nehmen. Ich habe jetzt schon häufig ein schlechtes Gewissen, wenn ich meine Geschichten vortrage. Ich möchte keine Menschen formen. Nachher sitzen sie in einem Anzug, in dem sie sich nicht wohlfühlen. Mir fehlt das Talent zum Missionar. Lass mal, ich werde Bäcker, dann habe ich jedenfalls immer genug zu essen und die Leute um mich herum auch. Ich werde mit meinem Vater zusammenarbeiten. Und reden. Darauf freu ich mich schon.“ Peter gab es auf. Thomas schwebte wieder davon. Für Peter wäre es das Größte gewesen, Thomas als berühmten Schauspieler auf der Bühne zu sehen. Ein Gesangsstar wie Heesters konnte er leider nicht werden, dieser unmusikalische Thomas. Peter hätte dazu wenigstens Talent gehabt. Zu sein wie Heesters oder Schuricke oder sogar wie Peter Anders, aber
dafür reichte die Stimmhöhe wohl nicht ganz. Aber träumen durfte man doch davon, gell. So trotteten die beiden, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, nach Hause. Die Aufnahme in Führers zähes Pimpfenvolk vollzog sich also weit weniger feierlich und zeremoniell als die gut ein Vierteljahr vorher erfolgte Erstkommunion von Peter. In allen Ferien des Vorjahres wurde morgens nach der Messe geübt. Peter hatte ja nichts gegen das Frühaufstehen, allerdings wohl, wenn Kirche oder andere nichtschulische Institutionen es verlangten. Nach jeder Messe erschien der Pastor aus der Sakristei. Rotfarbige Texthefte wurden an die wartenden Kinder verteilt und dann entwickelte sich anhand dieser Broschüren ein Frage- und Antwortspiel, bei dem es auf exakten Einsatz und lautes unisones Sprechen ankam. Peter widersagte dem Teufel, beteuerte die Allmacht des Vaters und Jesus Christus, seines Sohnes. Auch der Körper kam zu seinem Recht, wann er zu knien, zu sitzen und zu stehen hatte. Ebenfalls das bankweise Gehen zur Kommunionbank, gemessenen Schrittes, wurde geübt. Gemeinsam aufstehen, mit dem Eintreten in den Mittelgang die Hände zeltartig vor der Brust zusammenfügen und sich vor der Kommunionbank genau aufstellen, aber hinter der vorderen Reihe, die bereits am Tisch des Herrn kniete. Peter, als Flügelmann, kannte seinen Platz genau, nämlich hinter dem knienden August. Dieser hinter dem knienden Fritz. Fritz hinter dem knienden Heinrich und dieser musste sich als erster ohne orientierenden Vordermann selbst seinen Standort suchen. Das war eine Fliese mit einer angeknackten Spitze. Ganz einfach. Peters Gefolgsleute mussten sich rechts neben ihn stellen, auf Tuchfühlung. Wenn nun die Reihe vor ihnen die Kommunion empfangen hatte, stand diese auf, trat einen Schritt zurück – und Kniebeuge, exakt und ohne Nachklapp.
Auch Peters Linie machte die Kniebeuge mit. Die Gleichzeitigkeit war nicht schwierig zu erreichen. Man orientierte sich an den niedersinkenden Köpfen der Vordermänner. Aber nun war man selbst dran. Einen Schritt vor, noch einen Schritt, niederknien, dass mir ja keiner nachklappt. Nun wurden die gefalteten Hände unter ein die Kommunionbank bedeckendes weißes Tuch placiert. Dies war eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass eine Hostie auf dem Weg zwischen der Hand des Priesters und der Zunge des Erstkommunikanten ihrer Schwerkraft folgend die Bodennähe suchte. Dann wurde sie von dem gesegneten Tuch aufgefangen. Beim Herannahen des Priesters sollte man, nachdem er seine Beschwörungsformel gemurmelt hatte, die auf ,Christi’ endete, deutlich das Wörtchen ,Amen’ sagen und danach die Zunge herausstrecken. Auf diese wurde dann die heilige Hostie gelegt. Und nun der Rückzug. Peter beglückwünschte sich zu seinen früheren Parademarschübungen im Garten. Er hatte doch was gelernt. Zu seinen Nebenmännern hatte er gesagt: Augen links und dann macht ihr das, was ich tue, und es klappte. Die Hände lösten sich gemeinsam aus der Decke, gemeinsames Aufstehen, Zurücktreten und jetzt die Kniebeuge. Hervorragend! Der Abmarsch war für Peter die Krönung. Zweimal mussten sie linksum, weil sie über den Seitengang in ihre Bank zurückgehen sollten. Das hatte Peter geübt. Im rechten Winkel knappe Kehrtwendung. Zunächst Linie links kehrt. Man stand jetzt mit der rechten Schulter zum Altar, einen Schritt vor in den Mittelgang und nun: links schwenkt! Peter warf mit Schwung den rechten Fuß herum, dabei musste man aufpassen. Der rechte Arm kam als Balancierstange nicht zur Hilfe, weil er ja zusammen mit dem anderen Arm die
fromme Zeltdachhand trug. Jetzt zwei Schritte nach vorn und wieder links schwenkt, hinter der rückwärtigen Linie und der ersten Bank entlang. Das Einschwenken in das Seitenschiff und in die Bank konnte weniger exakt vor sich gehen. Jeder hatte nun seinen Platz erreicht, noch einmal den Blick nach rechts und gleichzeitiges Niederknien. Jetzt durfte jeder ganz individuell seine Hände vors Gesicht schlagen und sich besinnen. Dieses von der Welt Verschwinden konnte bei späteren Gelegenheiten unterschiedlich lang pro Person sein, aber hier war ein zeitgleiches Aufwachen doch erwünscht. Also, etwa zwei Minuten und Peter zählte genau. Dann nahm seine Reihe gleichzeitig die Hände vom Gesicht. Natürlich war es bei dieser Versenkung nach innen nicht möglich zu beten, aber dazu war hinterher anhand der roten Büchlein gemeinsam Zeit genug. Übrigens war es auch die Aufgabe des Bankführers, sich mit der gegenüberliegenden Mädchenreihe über den gleichzeitigen Hin- und Rückmarsch zu verständigen. Aber auch das war abhängig von dem Zeitpunkt, in dem die vorige Bankreihe sich vor der Kommunionbank ausgerichtet hatte. In dem Moment, in dem diese Linie auf den Tisch des Herrn zuschritt und niederzuknien begann, setzten sich die jeweiligen Hintermänner und Hintermädchen von der Kirchenbank in Bewegung. Nicht eher, aber auch nicht später, und Peters Gegenüber, die Auguste, diese Gewitterziege, tendierte dazu, viel zu früh zu starten. Die hätte als Stuka jedes Ziel verpasst Der Pastor war übrigens beeindruckt von Peters schneidigen Kehrtwendungen. Schließlich war er selbst Soldat gewesen. Doch riet er ihm, seine Richtungsänderungen etwas weniger auffällig zu gestalten. Sie seien hier nicht auf dem Kasernenhof. Doch Peter machten diese Paradeübungen Spaß,
wenngleich er sie nun etwas fließender auf den Weg bringen musste. Er hielt sie auch nicht für fehl am Platze, denn in diesem Altar da hinten wohnte Gott und der war unbestritten der mächtigste Herrscher der Welt. Seit und in ewigen Zeiten. Das konnte man von Hitler ja nicht sagen. Peter fand es unangemessen, dass man Letzteren mit ähnlichen Zeremonien verehrte, die ihm und seinen Gefolgsleuten nicht zustanden. Wenngleich die Gebete, Anrufungen, Bitten und Beteuerungen alle fertig formuliert in den roten Büchlein standen und somit die eigenen Anliegen weniger zur Sprache kamen, hielt Peter dieses Massengebet doch für notwendig und wirksam. Das drang kraft der Lautstärke durch die Wolken und durch die dicke Tabernakeltür. Es war schon wichtig, sich einen starken Verbündeten zu suchen, nicht so einen italienischen Reißaus. ,Strenger Richter aller Sünder, der du uns so schrecklich drohst’, sang man in der Kirche. Gott sah alles, die Gedanken, Worte und Werke, und seine Strafe schwebte über den Sündern, die nicht wussten, wann und wie es sie treffen würde. Da waren die Nazis noch harmlos, die konnten wenigstens nicht Gedanken lesen. Überhaupt hatte Peter das Gefühl, dass Gebete, in der Kirche gesprochen, weitaus mehr Wirkung hatten als seine Beschwörungen im einsamen Kämmerlein. Vielleicht lag die Wirkungslosigkeit der eigenen Gebete ja auch darin, dass die Anliegen für Gott zu nichtig waren: Dass der Tommy nicht einfliegen möge, dass das Jagdwetter gut werde oder dass er einen einzelnen Soldaten beschützen solle. Überhaupt sollte man Gott mehr anbeten, bewundern, lobpreisen und die Bitten etwas allgemeiner halten. Er möge doch die armen Seelen aus dem Fegefeuer erlösen und die Menschen vor Sünden bewahren. Gott konnte bei seiner Weltregierung nicht auf jeden Einzelnen Rücksicht nehmen.
Vor der ersten heiligen Kommunion war die Ablegung einer Beichte notwendig, damit man ja nicht mit Flecken auf der Seele und im Zustand der schweren Sünde den Leib des Herrn empfing. Auch die Beichte wurde geübt. Nicht nur, was man an Formeln vorher und nachher im Beichtstuhl zu sagen hatte, sondern auch, wie man seinen Sünden auf die Spur kam. Das konnte man mit Hilfe eines Beichtspiegels, der nicht nur im Gebetbuch, sondern auch im Katechismus abgedruckt war. Der Pastor verwandte viele Stunden darauf, die Kinder in die richtige Sicht ihrer Fehler einzuführen. Peter befand sich in einem schweren Dilemma. Er war sich keiner Schuld bewusst, durfte aber in der Beichte nicht sagen, dass er es nicht sei. In der Unterhaltung mit seinen Kameraden wurde ihm klar, dass er schon einige Sünden nennen musste. Seine Kameraden hatten es ja teilweise ganz leicht. Sie hatten verschiedene Male Baumfrüchte aus Nachbars Garten geklaut, wenngleich niemand dahinter gekommen war. Manche hatten auch einfach ihren Eltern nicht gehorcht und dafür schon eine irdische Bestrafung in Form einer Tracht Prügel bezogen. Aber dieses Vergehen ließ sich durchaus noch als Sünde vor Gottes Angesicht bringen. Peter blätterte seinen Beichtspiegel durch. Beim 1. Gebot stand unter anderem, ob er freiwillig die Christenlehre versäumt habe. Die fand immer am Sonntagnachmittag statt und da war er noch nie gewesen. Er hatte es schon als peinlich empfunden, wenn sein Spielkamerad Heinz gegen 14.30 Uhr unter Führung der Eltern mitsamt Geschwistern in geschlossener Formation zur Nachmittagsandacht mit nachfolgender Christenlehre marschierte. Dann ließ er sich nicht auf der Straße sehen. Immerhin verlangten seine Eltern nicht seine Anwesenheit in dieser Christenlehre und so durfte er von sich behaupten, dass er sie freiwillig nicht versäumt habe. Beim 2. Gebot ging es
um die Verunehrung des Namen Gottes. Natürlich hatte er geflucht, aber immer irdische Begriffe dabei verwendet. Die Sabbatheiligung im 3. Gebot fiel ihm selbstverständlich schwer. Da wurde einem Sonntagszeug angezogen und den ganzen Tag durfte man nur schmutzfernen Beschäftigungen nachgehen. Aber ob man sich daran immer gehalten hatte, danach wurde ja nicht gefragt im Beichtspiegel. In der Kirche selbst hatte er sich ordentlich betragen. Er war nur in den ersten Kirchgängerjahren zu spät gekommen, weil er seinen Vater auf den Orgelboden begleitete, wo die meisten Männer ihrer Sonntagspflicht genügten. Also, Fehlanzeige. Im 4. Gebot hatte er Vater und Mutter stets geehrt. In seinem Abendgebet war ein Passus für die Eltern drin gewesen. Ungehorsam war bisher nie vorgekommen, da man seiner bei bestimmten Auftragserteilungen nicht habhaft werden konnte. War er irgendwo im Haus, so überhörte er das Rufen, es sei denn, man rief zum Mittagessen. Draußen war er ohnehin nicht erreichbar. Was nun das Tötungsverbot in Nr. 5 anging, so war er sich sicher, dass er noch niemanden umgebracht hatte. Aber der Beichtspiegel wollte auf etwas anderes hinaus: Das Beichtkind sollte darüber nachdenken, wie es sich zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu den Tieren verhalten hatte. Sein eigenes Leben hatte er noch nie ohne Not in Gefahr gebracht und unmäßig im Essen und Trinken war er auch nicht gewesen. Bei diesen knappen Zeiten! Nein, gezankt, geschimpft und geschlagen hatte er nicht. Wohl natürlich seine Schwestern geärgert, mit Schürzenzipfel lösen, Zopfspangen abziehen und zutiefst erschrecken. Aber die ließen sich das ja gefallen, höchstens dass sie mal schimpften und insofern hatte er sie zu einer Sünde verführt. Ja, wenn man die Sache genauer erforschte, konnten da tief im Verborgenen allerlei Sünden abgelagert sein, von denen man
nichts wusste. Immerhin, neidisch war er auf seine Mitmenschen nicht. Sicherlich war er mehrere Monate auf Hedwig neidisch gewesen, weil sie schneller laufen konnte als er. Aber das war erledigt. Seit 14 Tagen hatte er sie beim Wettlauf immer geschlagen. Ob er Tiere gequält hatte? Manchmal musste er Spatzen, die er mit seinem Luftgewehr nicht richtig getroffen hatte, den Hals umdrehen, aber das war jägerisch notwendig, nicht mutwillig. Das 6. und 9. Gebot waren zusammengefasst. Seines Nächsten Weib hatte er nicht begehrt. Seine Mutter war ihm die Allerliebste, obwohl Tante Pohl, die Nachbarin, einen herrlichen Pudding kochen konnte. Aber deswegen wollte er nicht die Stellung wechseln, zumal sie einen Reinigungs- und Putztick hatte. Bei ihr hätte er es sich nicht erlauben dürfen, mit ungewaschenen Beinen und Händen ins Bett zu klettern. Da hätte eine strenge Kontrolle mit gründlichem Waschzwang stattgefunden. Was nun die Schamhaftigkeit anging, so war diese allenfalls im Sommer gefährdet, wenn es zum Baden ging. Aber mit allerlei Versteck- und Verhüllungskünsten war es möglich, die unschamhaften Körperteile beim Umziehen in die jeweilig notwendigen Textilien einzuhüllen, so dass man niemand in die Versuchung brachte. Auch das 7. und 10. Gebot waren wieder zusammengefasst. Es ging um die Veränderung der Eigentumsverhältnisse zum eigenen Vorteil. Gestohlen hatte er nicht, auch nichts mutwillig zerstört. Heinz, sein anderer Spielkamerad, hatte mit der Zwille eine kleine Fensterscheibe im Schweinestall eines Nachbarn zerdeppert. Sie hatten ja beide abwechselnd aus 30 Metern darauf geschossen. Wer rechnet denn da mit einem Treffer, aber Heinz hatte doch getroffen und war Sieger gewesen. Dafür durfte er 14 Tage nicht nach draußen und spielen. Aber als Ersatz hatte er nun eine tolle Sünde zu bekennen, um die ihn alle bei dem allgemeinen Mangel an
Sünden beneideten. Es war ja klar: Bei den geringen Erfahrungen mit Sünden suchte man in Gruppengesprächen Anregungen für passende Bekenntnisse. Deshalb standen nach dem Unterricht oft sechs bis zehn jungen zusammen und erforschten gegenseitig ihre Gewissen. Hatte Peter wohl mal genascht? Auch das fiel unter das 7. Gebot. Naschen bezog sich für ihn auf das unmäßige Verzehren von Produkten der Schokoladenindustrie. Doch die arbeitete momentan nur noch für die kämpfende Truppe. Man hätte schon den ganzen Krieg ausfallen lassen müssen, um die Kinder Deutschlands zur Naschhaftigkeit zu verführen. Wozu ein Krieg nicht gut sein kann! Allerdings erinnerte er sich, dass er von einem Onkel, der wohl nicht so firm in den Forderungen des Kirchenjahres war, in der letzten Fastenzeit eine ganze Tüte Schokoladenstreuselbonbons geschenkt bekommen hatte. Die hatte er bei der Lektüre eines spannenden Buches genüsslich aufgefuttert. Naschen zur Fastenzeit, das war ja schon fast eine Todsünde! Gott sei Dank fiel ihm ein, dass er zu jener besagten Fastenzeit altersmäßig noch nicht die Grenze zum Sündenfall überschritten hatte. Erst im nächsten Jahr musste er aufpassen. Peter konnte sich im Übrigen gut erinnern, wie seine Schwestern vor dem Krieg während der Fastenzeit vor Ostern die ihnen geschenkten Süßigkeiten in großen Glasballons aufbewahrten. Sie traten mit dieser so sichtbaren Enthaltsamkeit untereinander in einen Wettbewerb, um dann ab Karfreitagabend alle diese Tugendschätze in mehr oder minder großen Mengen zu vertilgen. Das führte häufig zum Unwohlsein, das wie eine Seuche die gesamte fastenenthaltsame Kinderschar der Gemeinde erfasste. Häufig musste Vater noch heilend hinzugezogen werden. Peter erinnerte sich gerne, wie Vater über so viel Unverstand schimpfte und Mäßigkeit und Regelmäßigkeit beim Genuss
empfahl. Peter merkte sich das und er beschloss nun, bei den kommenden Fastenzeiten die Naschverbote außer Kraft zu setzen, weil medizinisch geboten. Das 8. Gebot war das schwerwiegendste und da wurde man hinsichtlich der Sünden leicht fündig. Du sollst kein falsches Zeugnis geben. Es ging um das Lügen. Kein Zweifel, da hatte er sich Verfehlungen zukommen lassen. Ihm fiel auf, dass er besonders dann zu lügen pflegte, wenn das Bild, das man von ihm hatte, in Gefahr geriet, ausgelöscht zu werden. So sagte er energisch nein, als er einmal die frischgestochenen Kanten der Beete zertreten hatte, als er einem Papierflieger nachrannte. Und der Lehrerin, die ihn fragte, ob er einen Ausschnittbilderbogen selbst gemacht hatte, antwortete er mit einem festen Ja. Er schämte sich mächtig, als sie dann zu der ganzen Klasse sagte: „Einem Jungen wie Peter, der immer ehrlich ist, dem glaubt man auch.“ Da hatte er sich geschworen, nie mehr fremde Lorbeeren als seine zu verkaufen. Einmal hatten Thomas und er faul auf dem Holz gesessen und sich etwas erzählt, als plötzlich Kurt und Hermann vorbeirannten und sich ängstlich umsahen. Kurz danach kam auch der Verfolger auf dem Fahrrad, ein Landhändler aus der Nachbarschaft, erkennbar voller Wut. Er rief im Vorbeifahren: „Habt ihr Kurt und Hermann gesehen?“ Aha, die Täter waren bekannt. „Ja, sie sind hier vorbeigelaufen!“ „Wohin denn? Wenn ich die erwische!“ „Nach links zum Bahnhof!“ Sie waren aber nach rechts zum Sportplatz gerannt. Beide hatten sich mal wieder mit Steinen beschmissen und dabei war eine Fensterscheibe des Wohnhauses durch einen unglücklichen Treffer zu Bruch gegangen. Ihrer Bestrafung
würden sie nicht entgehen, aber sie bekamen eine Galgenfrist, in der die Wut des Rächers ein wenig verrauchte. Es war eine Lüge zum Vorteil aller: Der Landhändler wurde daran gehindert, in seiner ersten Wut unangemessen und zornig zu bestrafen (5. Gebot). Die Jungen erhielten Zeit, Reue und Leid zu erwecken. Es war also eine Lüge, die eigentlich das Wohlgefallen Gottes finden musste. Also, was blieb für das Sündenbekenntnis? Peter entschloss sich zu folgenden Sünden und hoffte, mit diesen die Erwartungen des Beichtvaters voll zu erfüllen: 1. Ich habe meine Schwestern geärgert. 2. Ich bin nicht immer folgsam gewesen. (Das durfte er sagen, weil er manchen Suchruf bewusst unbeantwortet gelassen hatte.) 3. Ich habe gelogen. Als dann der Beichttag herangekommen war, fiel es ihm natürlich schwer, seine Sünden zu bereuen. Aber anhand eines gemeinsam gesprochenen Reuegebets bewältigte er auch dies. Nach der Beichte stellte sich heraus, dass alle als Buße drei Vaterunser und drei Gegrüßetseistdumaria aufbekommen hatten, auch die Mädchen. Peter dachte, da ist wohl hauptsächlich Zank, Neid und Nascherei im Spiel gewesen. Auch Thomas interessierte sich für Peters Katechismus und Beichtspiegel. Er lieh ihn sich in den Ferien aus und las ihn durch. „Junge, Junge“, sagte er, „ihr steht ja ganz schön unter Kontrolle. Man kann nur hoffen, dass Gott gnädiger, gütiger, barmherziger und liebevoller ist als eure Kirche.“ Diese Eigenschaften Gottes hatte er natürlich dem Katechismus entnommen. Als Evangelischer hatte er vermutlich von Gott nur sehr laxe Vorstellungen. Dann kam der große Tag heran. Die Kirche war rappelvoll, alle Honoratioren mit Zylinder vertreten und auch der Ortsgruppenleiter, allerdings in Zivil und als gewöhnlicher Gläubiger. Es klappte alles vorzüglich und als Peter, nach
Blickkontakt mit Auguste, mit seinen Mannen aus der Bank trat und zum Tische des Herrn marschierte, da dachte er sich für einen Augenblick in die Rolle des Günther Prien, des Helden von Scapa Flow, wie er mit seiner Mannschaft die Reichskanzlei betritt, um aus der Hand des Führers das Ritterkreuz zu empfangen. Einen weiteren Augenblick fühlte er sich auch als Werner Mölders, der eine weitere hohe Auszeichnung entgegennimmt, aber dann kehrte er mit seinen Gedanken doch entschlossen zu den frommen Anliegen dieses Tages zurück und versuchte, das Glück des Kommunionkindes zu empfinden, das nun mit Christus vereinigt ist. Man durfte Gott nicht erzürnen. Deshalb war es ratsam, keine fremden Götter neben ihn zu stellen. So schritt er dann als erlöstes Kommunionkind am Ende der Messe unter brausenden Orgelklängen durch den Mittelgang durch all das staunende Volk feierlich nach draußen. Dort standen die Kinder eine Weile auf dem Vorplatz herum, nahmen Glückwünsche des nun aus der Kirche drängenden Volkes entgegen und verschwanden nach und nach mit den Eltern nach Hause. Dort begann dann die weltliche Feier. Das Hauptgeschenk seiner Eltern war eine Armbanduhr. Lieber hätte er Soldaten gehabt und militärische Fahrzeuge, aber das war bei einem solchen Anlass nicht üblich. Eigentlich brauchte Peter keine Uhr. Bislang war er auch ohne Zeitmesser ausgekommen. Er wusste immer, wann etwas an der Zeit war. Außerdem war so eine Uhr hinderlich beim Spielen. Man musste stets aufpassen, dass ihr nichts passierte. Deshalb beschloss er, sie nur noch sonntags zur Messe anzulegen. Dann konnte er dort bei aufkommender Langeweile mit den anderen Jungen Zeitvergleich machen. Sein Vater war aus dem fernen Warschau herübergekommen, auch sein Bruder hatte für einen Tag Urlaub bekommen. Seine Grundausbildung in Dänemark war beendet und er kam jetzt an die Ostfront. Er war am
Vortag eingetroffen, in Uniform, die er auch am Sonntag anbehielt und mit der er auch zur Kirche ging. Peter fand dies unpassend. Uniform trug man zu solch feierlichen Anlässen allenfalls ab Leutnant und dann möglichst noch mit Orden. Da hätte Vater ganz anders gewirkt, doch der trug Zivil. Am Nachmittag musste Peter zunächst einmal zu einer Andacht. Es war das erste und letzte Mal. Dort erhielt man eine Urkunde über den Erwerb der heiligen Kommunion, farbig und mit einem Bild des Letzten Abendmahls darauf. Damit war der kirchliche Teil der Erstkommunion abgeschlossen. Ab nun war die Teilnahme an diesem heiligen Broterwerb in jedermanns Belieben gestellt. Zu Hause war mittlerweile die zahlreiche Verwandtschaft aus Vaters Sippschaft mit Fahrrädern angerollt. Alles Onkel und Tanten, deren Namen Peter nicht kannte. Ehrsame Handwerker und gestrenge Lehrer, die Vaters sechs Schwestern geheiratet hatten. Seine einzigen zwei Brüder fehlten. Der eine Bruder war Kaufmann in Amerika, der andere Unterarzt auf der gerade eroberten Krim. Sie konnten also nicht da sein. Außerdem erschien Mutters Bruder, sein Patenonkel, der als kritischer Geist bekannt und Bankleiter war. Selbstverständlich waren auch die Großeltern da, dazu kamen Freunde der Familie und die Nachbarn. Das Haus war voll. Die Geschenke häuften sich: Textilien aller Art, Schuhe, Haushaltsgeräte, die Peter alle wenig interessierten, jedoch von Mutter hocherfreut in Empfang genommen und in Sicherheit gebracht wurden. Aber jedes Paar schenkte zusätzlich, damit der religiöse Bezug nicht außer Acht geriet, einen höchst kunstvollen Rosenkranz oder ein Gebetbuch. Nicht ein solches, das üblicherweise für Gottesdienste eingesetzt wurde, sondern eines von höchst bibliophilem Wert. Peter staunte, als er am nächsten Tag zusammen mit Thomas, der ihm im übrigen 100 Diabolo-Kugeln für das Luftgewehr
geschenkt hatte, in Ruhe die insgesamt zehn Gebetbücher inspizierte. Er wunderte sich, wie man die Innerlichkeit frommer Gebete äußerlich mit so viel Kunstfertigkeit und kostbarer Raffinesse einbinden konnte. Da waren kleine und große Formate, manche noch unter Handflächengröße, allseits mit Goldschnitt, in feinem Leder. Bisweilen mit einer kunstvollen Schließe versehen. Eines sogar mit einem winzigen Schloss und mit einem noch winzigeren Schlüssel, als sei da ein Geheimnis zu verbergen. Dann die Schrift, jedes Gebetbuch hatte ganz unterschiedlich geformte Buchstaben, die nach Altertum aussahen und zu Beginn jedes Kapitels von aufwendigen Verzierungen umrankt wurden. Thomas war ganz hingerissen. Immer wieder nahm er ein Buch in die Hand, vorsichtig, und wendete es hin und her, als wollte er es erfühlen. Er blätterte auch darin und schien die Buchstaben in sich aufsaugen zu wollen. Geradezu verzückt starrte er auf diese Büchlein. Schließlich fragte er: „Schenkst du sie mir, wenn du sie nicht mehr brauchst?“ „Die Hälfte will ich dir wohl abgeben, aber erst muss ich sie ja durchlesen.“ Bei der Kaffeetafel ging es hoch her. Da Peter mit seinem schmutzempfindlichen Kommunionsanzug draußen nicht richtig spielen konnte, zumal viele Spielkameraden in der gleichen Situation waren, hielt er sich bei den Gästen auf und war ganz Ohr. Natürlich ging es um den Krieg, die Siege und die strategischen Erfolge. Bis auf den Patenonkel waren sich alle einig, dass Deutschland vor einem Triumph sondergleichen stehe. Die einzige Front, die es noch gab, lag Tausende von Kilometern entfernt, Eroberung der Krim, Leningrad eingeschlossen, Vormarsch auf den Kaukasus, Rommel erobert Afrika, die Japaner verhauen die Amerikaner im Pazifik. Es gab keine Zweifel, dass sein Bruder Franz in
spätestens einem halben Jahr in Moskau einmarschieren werde. Hoffentlich ist er dann Unteroffizier und trägt das EK 1, dachte Peter. Die Engländer würden durch die U-Boote ausgehungert und ihre Terrorbomber könnten aus Mangel an Benzin keine Angriffe mehr auf das Reichsgebiet starten. „An diesen Kommuniontag wirst du dich noch mal erinnern, Peter“, sagte einer der Onkel, dessen Namen er sich partout nicht merken konnte, „da war Deutschland auf dem besten Weg zum Endsieg.“ Nur sein Patenonkel äußerte Bedenken: „Ja, die Front ist Tausende von Kilometern entfernt. Aber nach oben, in der Luft, ist sie nur knapp 8 000 Meter entfernt. Sie kommt näher und näher und keiner hält sie auf.“ Da gab es Proteste. Er solle doch bitte bedenken, dass bei jedem Angriff mindestens 60 Feindbomber abgeschossen würden und dass die Engländer bald kein Benzin mehr besäßen. Die U-Boote machten das schon. Peter war ganz begeistert, dass seine Verwandtschaft bestätigte, was die Zeitungen und das Radio meldeten. Am anderen Tag berichtete er Thomas davon. Dieser hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts, sondern schlug vor, zum Sportplatz zu gehen, um Weitsprung und Weitwurf zu üben.
Bomber aus Engelland
Peters erste Erinnerungen an die Luftfahrt waren die elendig kratzigen langen Strümpfe, die man ihm am Nachmittag über die Beine zog. Es war um Ostern, aber kalt und in der Nachbarstadt sollte ein Flugtag stattfinden. Sein Vater fuhr mit den Kindern und dem alten NSU dorthin. Es muss um 1937 gewesen sein, Peter ging noch nicht zur Schule und sein Interesse für Flugzeuge war gering. Er kannte Abbildungen von Zeppelinen, aber auch von Flugzeugen, und zwar von den Zigarettenbildern her, die sein Bruder in ein Album einklebte. Es gab wohl hundert verschiedener Typen aller Nationalitäten, meist offene Zweisitzer mit ein-, zwei- oder dreipaarigen Flügeln, hoch im Blau schwebend. Sie waren so raffiniert gezeichnet und koloriert, dass der Betrachter unmittelbar daneben oder darüber zu fliegen schien und man durch den vermittelten Eindruck von Höhe schwindlig werden konnte. Jedenfalls nahm er sich bei Betrachtung dieser Bilder vor, niemals in ein solches Fluggerät zu steigen. Wenn ihm schon alleine bei der Vorstellung solcher Höhenflüge übel wurde, wie mochte ihm dann in der Wirklichkeit zumute sein? Schon damals erfuhr er, dass die vorauseilende leichtfüßige Fantasie bei der Bewältigung der realen Welt eher hinderlich sein konnte. Andererseits, warum sollte man die Leichtigkeit und Freiheit des Gedankenhimmels tauschen gegen eine bedenkliche, mühselige und unvollkommene Verwirklichung in Zeit und Raum? Auf dem Flugplatz ging es nicht um Zivilluftfahrt, sondern um die Vorführung von militärischem Fluggerät und um die Selbstdarstellung der jungen Luftwaffe. Aber das wusste Peter
damals nicht. Ihn interessierte das überhaupt nicht. Obwohl seine Schwestern sich den ganzen Vormittag bemüht hatten, bei ihm Begeisterung zu wecken. Vergebens. Vielleicht wurde seine Abneigung auch ausgelöst von einer Zeichnung in dem Reklamefaltblatt. Da hing jemand mit dem Fallschirm in einem Baum und zappelte mit den Beinen. Das sollte wohl lustig sein, aber Peter machte eine solche Vorstellung Angst. Wie kam der da wieder runter? Außerdem war es kalt und außerdem kratzten die Strümpfe. Die hätte er jedoch erduldet, wenn man den Kindern ein Eis in einem stadtbekannten Cafe versprochen hätte. Doch das war nicht eingeplant. Es war ein kaltes, trübes Wetter und Menschen drängten sich. Peter bekam wegen seiner geringen Größe mehr Mäntel als Luftwaffe zu sehen. Nur eine Vorführung blieb in seinem Gedächtnis haften. Das war zum Schluss der Veranstaltung und sollte wohl der Höhepunkt sein. Da wurde ein mitten auf dem Flugplatz aufgebautes Holzhaus mittels einer Bombe zerstört, die von einem Flugzeug zielsicher abgeworfen wurde. Es gab eine Explosion, das Haus brach auseinander und geriet in Brand. Welche Treffsicherheit und Zerstörungskraft! Nach dem Knalleffekt, der ein Raunen der Bewunderung auslöste, war Peter froh, als Vaters NSU die Kinder wieder nach Hause schaukelte. Nach dem Ausziehen der Kratz Strümpfe besserte sich auch seine Stimmung. Sein Desinteresse an den tollkühnen Männern in ihren fliegenden Kisten sollte sich ändern, als er lesen und schreiben lernte. Das Lesen kam seiner Fantasie entgegen und gab ihm die Möglichkeit, das fliegerische Leben ohne die kratzige Wirklichkeit kennen zu lernen. In den Zeitungen und Illustrierten, aber auch in seinen Jungenbüchern mit den Frontberichten von den ersten Kriegsschauplätzen in Polen, Holland und Frankreich, waren
Deutschlands erfolgreiche Jagd- und Bombenflugzeuge abgebildet. Noch wichtiger waren aber die Piloten, besonders die der Jagdflugzeuge, die jeden Tag viele feindliche Maschinen abschossen. Namen von Fliegerhelden erschienen in den Schlagzeilen. Einige verschwanden schnell wieder, der Moloch Krieg hatte sie gefressen. Der Bericht über ihr feierliches Begräbnis, wenn es denn möglich war, war das letzte, was von ihnen in der Zeitung stand. Neue Namen traten an ihre Stelle. Nun interessierten Peter auch die Fliegerhelden des 1. Weltkriegs, über die sein Vater mehrere Bücher besaß. Was waren das für Luftkämpfe, die Richthofen, Boelcke, Immelmann, Udet und Göring sich mit den Gegnern lieferten. Da saßen sie in ihrem Fokker mit den Dreierflügeln hinter ihrem Zwillingsmaschinengewehr, das auf raffinierte Weise durch die Propellerschrauben schießen konnte. Fallschirme gab es keine. Wer getroffen wurde und flugunfähig war oder in Brand geriet, der hatte nur noch die Möglichkeit, mit einer Notlandung sein Leben zu retten. So etwas gelang wohl nur selten. Die letzte Station eines abstürzenden Piloten wurde ohnehin nicht geschildert. Der Bericht endete meist mit dem kurzen Hinweis, wie sich das Flugzeug aus dem Himmel verabschiedete: Mit einer Rauchfahne, trudelnd oder wie ein Stein senkrecht abstürzend, brennend wohl auch, manchmal in Einzelteile zerrissen. Es gab ein Bild: Ein deutsches Flugzeug abstürzend. Etwas unterhalb der Pilot, herausgesprungen oder herausgeschleudert, frei durch den Himmel fallend, die Beine gespreizt, kopfüber, die Arme vom Körper wegschlenkernd: Ein Todgeweihter, in wenigen Sekunden wird er auf dem Boden aufprallen, so wie sein Flugzeug. Das ist ein Mensch, der leben wollte, der nicht den Tod suchte. Es war ein schreckliches Bild. Es ist nicht süß und ehrenvoll fürs Vaterland zu sterben. Es ist grausam. Wie
traurig machte der Tod Richthofens und wie häufig betrachtete Peter das Bild: Richthofen vor seinem letzten Flug. Warum musste der Held sterben? Er war doch der Unüberwindliche, immer Siegreiche und dann zuletzt dieser sinnlose Tod in einer wehrlosen Situation. Gab es da nicht Parallelen zu dem Siegfried aus seinem nordischen Helden- und Sagenbuch? Als er sich niederbückt zur Quelle, trifft ihn der Speer des Hagen. Jede Größe hat ihren Preis. Bei den strahlenden Kriegshelden war der Preis augenscheinlich der frühe Tod. Ob das als Glaubensartikel gedacht war für die heranwachsende Jugend? Auffällig war, dass die Kriegsschilderungen niemals den Punkt überschritten, wo der Tod schrecklich wird. Denn: ,Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben.’ Von den Jungen war Peter der schnellste und wendigste. Er war immer Sieger. Was konnte es Schöneres geben, als Jägerpilot zu sein? Kein Wunder, dass die Kinder die Fliegerhelden verehrten. Hier wurde die heldenhafte Leistung am einfachsten und augenscheinlich sichtbar. Der Einzelne gegen den Einzelnen, ganz unmittelbar mit der besonderen Waffe des Flugzeugs. Natürlich waren auch Prien und seine UBootleute Helden. Natürlich auch die Fallschirmjäger von Eben Emael oder der Unteroffizier, der einen Bunker ausräucherte. Aber diese Heldentaten der Jäger waren auf eine Minutenhandlung mit wirksamen Szenen beschränkt. Und dann diese Bilder: Mölders auf der Tragfläche seiner siegreichen Me 109, die schicke Fliegerkombination, das Ritterkreuz und das lässige Grüßen. Das waren Einzelkämpfer, die optisch etwas hergaben. Die hochfliegenden Bomber, z. B. HE 111 oder die Ju 88, waren nicht so populär. Sehr dagegen die Ju 87, der Sturzkampfbomber, der Stuka. Seine winklig angelegten Tragflächen, die ihn wie einen niederstürzenden Adler erscheinen ließen. Seine heulenden Bremssirenen, der kühne
Sturz bis auf 600 m auf das Ziel, das begeisterte die Jungen. Auch hier die optische Sensation. Zwar blieben ihre Piloten anonym, aber das Flugzeug selbst, der Stuka, war für die Kinder ein Inbegriff der Kampfmaschine überhaupt. Bei der Betrachtung von Bildern oder dem Lesen von Frontberichten aus dem 1. Weltkrieg dachte Peter häufig: Ja, wenn wir solche Stukas gehabt hätten, dann wäre die Front durchbrochen und der Krieg mit der Eroberung von Paris gewonnen worden. Als er später Thomas diese Überlegungen mitteilte, wies der nur stumm zum Himmel: Dort zogen seit zwei Stunden riesige Bomberströme der Alliierten wieder zurück nach Westen. Sie hatten gerade eine Stadt in Trümmer gelegt und eine gewaltige Bresche der Angst in die Bevölkerung geschlagen. Feindliche Überflüge am Tag gab es in den Jahren 1939/40 kaum. Die Engländer kamen, wenn auch nicht häufig und zahlreich, immer nachts. Dann wurden sie von Nachtjägern angegriffen, die auf den Flughäfen der Umgebung stationiert waren. In der Nähe von Peters Heimatort waren an verschiedenen Stellen Scheinwerferbatterien aufgestellt, zum Teil auch große Horchgeräte. Am Rand des Sportplatzes befand sich ein hoher Holzturm, auf dem ein Beobachter saß, der den Luftraum beobachtete und die Scheinwerfer und die Nachtjäger bei ihrem Einsatz koordinierte. In den hellen, wolkenlosen Nächten suchten die Finger der Scheinwerfer, gelenkt durch die Horchgeräte, den Himmel ab. Wenn ein feindliches Flugzeug in einen solchen Lichtfinger geriet, schwenkten die übrigen Scheinwerfer auch dorthin und das Flugzeug saß wie in einem Spinnennetz, aus dem es nur selten entkam. Dafür fehlte den Bombern die Beweglichkeit und die Geschwindigkeit. Meistens dauerte es nicht lange und der Nachtjäger erschien und schoss den Gegner ab. Es gab einen Leutnant Streib, der innerhalb weniger Nächte mehrere Flugzeuge abschoss. Sein Name wurde im Wehrmachtsbericht
genannt und sein Bild stand in den Zeitungen. Alle waren stolz auf diesen Piloten, der auf dem nahen Flugplatz stationiert und daher gewissermaßen ein Nachbar war. Nur Peter wurde an seine Kratzstrümpfe erinnert. Aber stolz war er auch. Für die Bevölkerung entwickelte sich diese Nachtjagd zu einer willkommenen Unterhaltung. Der Fliegeralarm hatte sie ohnehin aus den Betten getrieben. So standen die Leute auf der Straße oder an den Fenstern und schauten zum Himmel, wann denn nun ein englisches Flugzeug in die Fangnetze der Scheinwerfer geriet und abgeschossen wurde. Die Maschine war meist deutlich zu sehen. Man hörte das Tack-Tack-Tack der Bordwaffe, die Leuchtspurmunition zischte in ihr Ziel und bald stürzte der Feind, meist brennend, nach unten. Die Zuschauer sparten nicht mit Lob. „Nu givt em aober! Dat het hei gaut maokt! Hei brennt! Wedder einer weniger!“ Man war nicht wenig stolz über die neueste Waffentechnik und über das Geschick der Nachtjäger. Erfolge in der Luft, Erfolge an allen Fronten, Zuversicht breitete sich aus. Man würde den Krieg gewinnen. Klar doch! Da man derartige Einflüge nicht ernstnahm, ließ man Peter bei Alarm weiterschlafen. Einmal allerdings weckte man ihn auf, als nämlich deutlich sichtbar ein englisches Flugzeug im Scheinwerfernetz zappelte. Er sollte sich mit eigenen Augen ein Bild von der Wirkung der deutschen Waffen machen. Man stellte ihn ans Fenster und von dort sah er gerade noch, wie die Leuchtspurgeschosse in den Bomber zischten. Feuer flammte auf und plötzlich stand das Flugzeug in hellen Flammen und stürzte ab. Jubel ringsum. Nur hinter ihm sagte Mutter leise: „Die armen Jungs.“ Das spielte sich in einer Minute ab, und war doch eine Minute zu lang. Noch nie hatte er eine solche Zerstörung in der Wirklichkeit erlebt. Dieser schreckliche Anblick rannte hierhin
und dorthin durch seinen Kopf, konnte nicht raus und hing schließlich zappelnd in seinen Vorstellungen wie in einem Netz. Wo war das Triumphgefühl, das er sonst bei seinen Kriegsbildern und Frontberichten empfand? Warum war es so leicht, etwas anzuschauen, was auf dem Papier stand? Und dann Mutters Satz: ,Die armen Jungs.’ Die anderen sahen das Flugzeug, aber Mutter die Menschen, die darin verbrannten. Das waren wirkliche Menschen, wie sein Bruder, sein Vater, wie seine Mutter und seine Schwestern. Keine Menschen auf dem Papier. Peter legte sich ins Bett und schlief sofort ein. Am nächsten Tag erinnerte er sich wieder. Das Flugzeug brannte wie eine Fackel. Das war ein quälendes Bild. Das ließ sich auch nicht ändern. Das war kein Bild in einem Buch, das man zuklappen konnte. So etwas wollte er nie wieder mit eigenen Augen sehen. Er bat seine Mutter, ihn in Zukunft schlafen zu lassen. So etwas Besonderes sei so ein Abschuss ja nicht. Dass diese abstürzenden Flugzeuge auch irgendwo auf die Erde prallen mussten oder dass sie vorher ihre Bombenlast im Notabwurf loswerden wollten, um den Spinnenfingern der Scheinwerfer zu entgehen, bedachten die meisten zunächst nicht. Bis es dann eines Nachts gewaltig rumste, dass die Scheiben klirrten. Zwei Bomben waren gefallen, eine an der Straße hinter der Motormühle und eine hinter dem Schützenplatz. Peter blieb wie viele andere bei diesem Feindeinflug im Bett liegen. Was sollte denn auch passieren? Die deutsche Luftwaffe beherrschte die Lüfte. Plötzlich befand er sich unten in der Diele, um ihn herum Mutter, seine drei Schwestern und Onkel und Tante Pohl, die beide nach dem Bombenabwurf herübergelaufen waren. Peter drängte sich an den einzigen männlichen Schutz und versteckte seinen Kopf in Onkel Pohls offener Uniformjacke. Mutter betete laut den Rosenkranz, es war wohl der schmerzhafte.
Jeder glaubte, dass nun ein Angriff auf den Ort stattfinden und bald mehr Bomben fallen würden. Alle waren in Todesängsten. Manchem mögen die früheren Begeisterungsschreie beim Absturz eines Engländers leid getan haben. Doch dann hörte das Motorengebrumm auf und allmählich löste sich die Beklemmung. Nach der später einsetzenden Entwarnung ging man ins Bett. Am nächsten Tag besichtigte das ganze Dorf die Bombentrichter, die bei dem weichen Boden etwa zwei Meter tief waren und einen Durchmesser von acht Metern hatten. Die Luftfahrtschau in der Nachbarstadt hatte plötzlich Aktualität bekommen. In Zukunft hielt man sich bei Feindüberflügen nicht mehr in den Straßen auf. An klaren Abschussnächten stand man am Fenster. Obwohl es sich hier eindeutig um Notabwürfe gehandelt hatte, spukte es doch in den Köpfen der Leute herum, der Ort könnte von Bombern angegriffen werden und dies sei nur ein erster Versuch gewesen. Als Ziele kamen nur der Bahnhof mit seiner Abzweigung zum Nachbarort oder die Eisenbahnbrücke über den Fluss in Frage. Aber ob man wegen dieser unbedeutenden Plätze die Bomber in England anrollen ließ und Flugzeugbesatzungen in Gefahr brachte, das war ja doch wohl höchst zweifelhaft und zu viel der Ehre für das kleine Dörfchen. Für Peter bekamen diese nächtlichen Überflüge jetzt etwas unheimlich Bedrohendes. Die Nachtgespenster in seinem Zimmer konnte er durch Singen vertreiben. Doch gegen die brummenden Bomber gab es keine Beschwörungen, Gebete und Gesänge und auch das dicke Kopfkissen auf den Ohren halfen nicht viel. Sie saßen von nun an in seinem Kopf und jagten seine Fantasie hierhin und dorthin. Das war nicht ein fernes Ereignis auf dem Papier, sondern ein tatsächlicher
Bombenabwurf hier und jetzt. Wäre die Bombe 1000 Meter eher gefallen, hätte sie das Haus getroffen. Auch die Erwachsenen zeigten Angst. Auch sie hatten sich verkrochen, gebetet und gehofft, dass der Kelch des Todes an ihnen vorübergehe. In den ersten Tagen drehten sich die Gespräche nur um diese Bombenabwürfe und wie lebensbedrohend solche Überflüge seien. Peter stand dabei und hörte sich das ängstliche Gerede an. Kein Erwachsener bemühte sich, mit Peter über diesen nächtlichen Schrecken zu sprechen und ihn zu verharmlosen. Wie sollten sie auch Vertrauen ausstrahlen, wenn sie selbst kein Vertrauen mehr hatten? Plötzlich griff der Krieg nach den Kindern und kein Erwachsener merkte es. Zu sehr waren sie mit sich und der neuen Bedrohung beschäftigt. Nur Thomas lachte: „Die Leute machen sich in die Hosen, weil ein paar Bomben gefallen sind. Die wissen doch gar nicht, was richtige Luftangriffe sind. Ich hab sie mitgemacht, frag meine Mutter. Aber das hier, das ist doch reiner Zufall. Wären die Bomben zwei Kilometer weiter ins Moor gefallen, hätte keiner sich aufgeregt. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Nach dem Zufallsprinzip trifft dich die nächste Bombe erst in 5 000 Jahren. Was die Luftangriffe angeht, leben wir hier doch in einem Paradies. Du kannst ruhig im Bett liegen bleiben, sofern dich die Mutter lässt.“ Thomas sprach in einem überzeugenden Ton und Peter wollte seinem Freund so gerne glauben. Doch lieber wäre ihm gewesen, wenn Mutter ihm mit ihren Worten seine Angst genommen hätte. Doch das geschah nicht. Das war eine schlimme Erfahrung, allein gelassen zu sein. Sobald nun der Brandmeister, der ihnen gegenüber wohnte, in sein Feuerwehrhorn tutete und den Anflug feindlicher Bomber ankündigte, hielt es Peter nicht mehr im Bett. Erst wenn er mit den anderen unten im Flur bei der Garderobe saß,
wo man angeblich gegen Splitter geschützt war, verlor sich seine Panikstimmung. Mutter betete den Rosenkranz vor und in dem unisonen Gemurmel der Mitbeter vernahm man das Motorengeräusch nur noch schwach und auch Peters Fantasievorstellungen wurden sanft eingelullt. Nach der Entwarnung kroch Peter im Halbschlaf in sein Bett. Am anderen Morgen war alles vergessen. Er suchte in der Zeitung nach Siegesmeldungen und nach den Taten seiner Fliegerhelden. Unbekümmert spielte er mit seinen Kameraden die gewohnten Spiele. Doch gegen Abend entwickelte sich ein mulmiges Gefühl. Kommen sie heute Nacht wieder? Gebete und Beschwörungen hatten wenig Erfolg. Am besten half der Nebel. Wenn er hier auftrat, dann auch in England, was einen Start verhinderte, wie er glaubte. Oder der Nebel legte sich als Sichtschutz über die Landschaft. So hielt er vor dem Schlafengehen noch einmal Ausschau nach dem schlafsichernden und angstvertreibenden weißen Gewoge. Wie glücklich war er, wenn sich fern zwischen Busch und Tal weiße Nebelschwaden entwickelten. Zu Beginn des Krieges kamen strenge Verdunkelungsvorschriften heraus. Kein Licht durfte aus den Häusern nach draußen dringen. Für einige der Fenster fertigte der Tischler Holzläden an, die abends mit einer Holzklemme vor den Fenstern festgemacht und morgens wieder entfernt wurden. Das ging also nur von außen. Die beiden Seitenfenster im Eingang unter dem Balkon und die Riesenfenster der Veranda erhielten diese Holzläden, deren Anbringung und Entfernung viel Kraft erforderte. Im Winter ließ man sie auch tagsüber an Ort und Stelle, weil sie als zusätzliche Isolierung dienten. Bei den übrigen Fenstern gab es die ohnehin vorhandenen Rollos, die jetzt mit seitlichen Klemmen dicht an die Fensterrahmen gedrückt wurden. Außerdem mussten auf dem Dachboden ein Eimer mit Wasser samt Feudel, ein Eimer
mit Sand und eine Feuerpatsche bereitgestellt werden. Zusätzlich sollte man den Dachboden entrümpeln. Das geschah in Peters Elternhaus nicht. Was lag nicht alles auf dem Boden! Schulbücher, Hefte, ausrangierte Romane, Unmengen an alten Zeitungen und medizinischen Zeitschriften, abgelegte Schuhe und Stiefel, alte Kleider und Anzüge in wurmstichigen Schränken, Wäsche in Truhen und Koffern, Bilder und gerahmte Fotos, nicht mehr gebrauchte Geräte und Franz’ Dunkelkammer mit allen fotografischen Utensilien. Für Peter ein herrlicher Ort zum Stöbern und Entdecken, aber kein Ort zum Aufräumen. Wo auch hätte man die nutzlos gewordenen Sachen unterbringen sollen? Denn schließlich: Man bewahrte alles auf, man warf nichts weg. Wer weiß, ob man es nicht doch irgendwann gebrauchen konnte. Unten im Haus standen die Dinge nur im Wege. Wurde etwas ausrangiert, hieß es: Das kommt auf den Dachboden. So wartete das Gerumpel einen Krieg lang auf die alles verzehrende Brandbombe. Doch die kam nicht. Die Vergangenheit konnte ungestört ihren Dornröschenschlaf fortsetzen. Die Familie hat sich nie die Frage gestellt, wer denn wohl beim Einschlag einer Brandbombe nach oben rennen und sie löschen sollte. Wer hatte den Mut? Mutter hätte es getan. Ab 1943 erschien es doch ratsam, bei nächtlichem Fliegeralarm einen bombenfesten Keller aufsuchen. Es begann meist mit einem Voralarm, dem eine Viertelstunde später der Vollalarm folgte. Dann war mit einem Überflug in 5-10 Minuten zu rechnen. Im ersten Jahr versammelte sich die Nachbarschaft im Keller des Ortsbrandmeisters Alois, der ein paar Häuser weiter seine Schmiede betrieb. Bei Alarm zogen sich alle warm an. Peters Mutter nahm in einem Köfferchen noch wichtige Papiere und ihren Schmuck mit. Dann überquerten sie die Straße und stiegen in den Keller hinab, wo
sie auf Stühlen und Bänken sitzend, in Decken eingemummelt und halb im Schlaf auf Entwarnung warteten. Dort unten saßen sie also, kaum Gespräche, sie duselten vor sich hin, aber lauschten doch nach draußen. Das unablässige Dröhnen der Bomber war auch im Keller zu hören. Etwas beruhigte es zu wissen, dass der Angriff ja nicht dem Ort galt, sondern einer entfernten Großstadt, vielleicht Bremen, Hannover, Braunschweig oder Berlin. Sie wohnten in einer vielbeflogenen Einflugschneise. Wie direkt doch die Verbindung von England war. Peter saß meistens neben Thomas. Doch der war schon bald verschwunden und leistete Alois draußen Gesellschaft. Dieser musste in den ersten Kriegsjahren auf seinem Feuerwehrhorn Alarm oder Entwarnung blasen, bis 1943 eine auf dem Dach des Gemeindebüros installierte Sirene ihm diese Aufgabe abnahm. Ähnlich wie Alois standen in den anderen Ortsteilen und Bauernschaften Männer oder Frauen, die alle Vorgänge in der Luft oder am Boden beobachten sollten. Wenn es bei Abstürzen oder Bombenabwürfen Brände und andere Beschädigungen gab, dann wurde die Feuerwehr gerufen. Thomas erschien von Zeit zu Zeit im Keller und gab beruhigende Meldungen ab. Einmal aber stürzte er in Panik die Treppe herunter, hinter ihm Alois. „Da stürzt einer ab, der fällt auf uns runter!“ Ein heulendes und flatterndes Geräusch und dann knallte es. Alle schrien auf, jeder suchte Schutz beim anderen. Dann war es still. Alois rannte nach oben, kam sofort zurück und berichtete: Ein Flugzeug war brennend hinter dem Schneewall neben dem Friedhof abgestürzt. Plötzlich sei es wie eine riesige Fackel über ihm erschienen und genau auf ihn zugestürzt. Er konnte nur noch die Kellertreppe hinunterspringen und denken: Nun ist es aus, das fällt genau auf uns. Aber es stürzte dann doch 500 Meter weit entfernt hinter dem Wall ab, der die Bahnlinie
entlang führte, aufs freie Feld. Als man nach der Entwarnung wieder in die Häuser zurückkehrte, brannte das Flugzeug immer noch. Die Bäume auf dem Schneewall zeichneten sich vor diesem hellen Hintergrund deutlich ab. Kaum lag Peter im Bett und war schon fast eingeschlafen, da rumste es plötzlich so gewaltig, dass die Scheiben klirrten. Eine Bombe war noch in den Trümmern explodiert. Von dem Flugzeug blieb nichts übrig: verbrannt und die Reste von der Explosion waren in alle Winde zerstreut. Am nächsten Tag löcherte Peter seinen Freund mit Fragen. Aber der wollte so genau nicht antworten. Er habe nur den roten Schein gesehen und Alois hätte gerufen: „Rin in den Keller!“ Mehr wisse er nicht und mehr wollte er Peter auch nicht erzählen. Der Schrecken saß tief, noch deutlicher war das Bild der brennenden Viermotorigen, die im Sturzflug auf sie zuschoss. In diesem Flammenmeer war das Flugzeug genau zu erkennen gewesen, es beleuchtete sich gewissermaßen selbst, ein riesiges Ungeheuer, ein Flugdrache, der Feuer spie. Solche Angst hatte er nicht einmal im Bunker gehabt. Der war doch unzerstörbar. Aber dieser Absturz, wohin sollte er weglaufen? Die Viermotorige war gründlich zerrissen, es gab zwar einen Kratzer im Getreidefeld, aber ringsherum war alles durch die Wucht der Explosion abgebrannt und säuberlich weggefegt. Keine Mähmaschine hätte exakter arbeiten können. Thomas und Peter fanden nichts mehr. Nicht einmal ein Stückchen Plexiglas. Es gab Leute, die behaupteten, nach dem Absturz noch ein Schreien gehört zu haben, als ob noch ein Besatzungsmitglied überlebt, aber sich nicht mehr aus dem brennenden Wrack habe befreien können. Es war ein Absturz, kein Notlandeversuch, sagte Thomas. Die Maschine kam in einem sehr steilen Winkel nach unten, wie ein Stuka. Da mögen andere noch so sehr behaupten, der Flugzeugführer
habe die Viermot noch über das Dorf hinweggezogen und es somit vor der Vernichtung bewahrt. Oder hatte doch noch etwas die Landeklappen verstellt und den Sturz abgefangen? Thomas dachte, wir haben Glück gehabt. Doch er sägte Peter nichts davon. Sonderbar war, dass bei Überflügen am Tag sich die Dorfbewohner nicht von ihrem täglichen Arbeits- und Lebensrhythmus abbringen ließen. Sie empfanden das stundelange Gebrumm der amerikanischen Bomberströme höchstens lästig. Peter hatte beim Friseur den Bauern Pattkebernd sagen hören: Jeder in der Gemeinde hat wenigstens einen Verwandten in Amerika. Die werden uns doch wohl nicht Bomben auf den Kopf schmeißen.’ Deshalb spielte Peter draußen genau so unbekümmert wie in den tiefsten Friedens Zeiten. Allerdings flogen die Bomber oben auch ungestört dahin, als lebe man in tiefsten Friedenszeiten. Nur auf dem Rückflug zeigten sich Lücken in den Verbänden. An diesem Freitag in den Sommerferien gab es schon am späten Vormittag Alarm. Bald begann der Bomberstrom zu fließen. Erfreulich, der HJ-Dienst fiel aus. Am Nachmittag zogen die beiden Freunde zum Wald. Sie wollten das Erzählversteck noch besser tarnen, damit es beim nächsten Geländespiel nicht gefunden würde. Beim letzten Mal hatte ein Späher die Gruppe entdeckt, aber Thomas war es gelungen, ihn zu überreden, sich hinzusetzen und ihm ein paar Minuten zuzuhören. Und da war er gleich dageblieben. Sie gingen am Bahnhof vorbei und überquerten bei der Mühle die Gleise. Dann begann der lange und sehr breite Esch. Links und rechts des Weges stand die gelbe Wand des Roggens, vollreif. In den nächsten Tagen würde die Ernte beginnen. Ungefähr auf der Mitte ein großes Wegekreuz, ein breit ausgefahrener Sandweg lief vom Fluss herauf gerade
darauf zu. Ein Kornblumenstrauß steckte in einem Behälter und verdeckte die Füße des Gekreuzigten. Es waren zwei Stunden Arbeit, bis die beiden Jungen mit der Tarnung fertig waren. Das Versteck sah von weitem aus, als sei es ein aufgetürmter Verhau von umgekrachten Bäumen und Baum wurzeln. Nur kriechend gelangte man jetzt in das Innere. „Tom Sawyer hätte seine Freude daran gehabt. Dieses Versteck ist fast so gut wie die Insel im Mississippi“, meinte Thomas. „Und man kann von hier aus schnell nach Hause“, ergänzte Peter. „Ich glaube, dich kriegt man nicht einen Tag von zu Hause weg, es sei denn, Mutter geht mit“, spottete Thomas. Sie machten sich auf den Heimweg. Auch die Bomber befanden sich schon auf dem Rückflug, kleine silbrige Punkte hoch oben im blauen Himmel. „Rolling home, rolling home“, fing Thomas an zu singen. „Hör auf, mit deinem schrägen Gesang bringst du noch die B 17 zum Absturz“, unterbrach ihn Peter. „Na, wenn ich das könnte, dann wäre ich ein berühmter Mann. ,HJ-Pimpf vernichtet durch sein Singen die amerikanische Bomberflotte und bewahrt deutsche Städte vor dem Untergang’. Die Brillanten mit allen Ordensvorstufen müsste man mir auf einmal um den Hals hängen.“ „Und dann der Besuch beim Führer, du Brillenschlange. Und stell dir mal vor, du fängst dort an zu singen und der Führer fällt tot um. Wetten, dass sie dich aufhängen!“ „Wetten, nicht! Denen ist meine bomberzerrüttende Stimme wichtiger als der Führer.“ Er begann wieder zu singen: „Rolling home, rolling home, rolling home across the sea“, in die ein tiefes orgelndes Motorengeräusch hineingurgelte. Sie standen am Waldrand. Dann sahen sie vom Fluss her, knapp den am Eschrand lehnenden Hof überspringend, ein
Flugzeug, riesig, breit, eine Viermot. Ein Motor fehlte, ein Propeller stand, aber die anderen brüllten wie mit letzter Kraft, über den Friedhof hinweg, mit ausgefahrenem Fahrwerk. „Der versucht eine Notlandung!“, schrie Thomas, „der fällt auf die Nase.“ Und schon berührten die Räder die Ähren, nun brachen die Halme und sie legten sich nach vorn auf die nächsten, und nun berührten die Räder den Acker – und die Halme, diese Stangen, diese Röhren, die Ähren drückten sich in den Boden, wie Bohlen in einen Sumpf, und die federnde Matte trug einen Augenblick die Last, bis sie einbrach, aber da waren die Räder schon weitergerollt und nun senkten die Halme und Ähren sich langsamer, ein ganzes Feld wogte den Rädern, dem Flugzeug entgegen, bremste es und unterwarf sich gleichzeitig den rollenden Rädern, bis der Schub des Flugzeugs in dieser unendlich weiten gelben Wand seine Kraft verlor und es plötzlich stehen blieb. Zwanzig Meter vor dem Kreuz hielt es an. Die Propeller drehten sich nicht mehr. Es war ganz still. Der Riesenvogel stand in dem Kornfeld, unbeweglich, fremd. Während der leichte Wind nun schon wieder begann, die Ähren in leichten Wellen zu wiegen. Im vorderen Teil der Kanzel wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen. Ein Mann stand in der Öffnung. „Help! Help!“ Er gestikulierte herüber. Thomas begann zu laufen. Peter hinterher. Mittlerweile schob der Mann eine kurze Leiter nach draußen und kletterte herab. Es war ein Schwarzer. „Help“, sagte er nochmals, als die beiden Jungen bei ihm anlangten. Aber als Thomas Anstalten machte, nach oben zu klettern, stellte er sich mit ausgebreiteten Armen vor die Leiter. „No children, no children“, sagte er. „There are dead and wounded men.“
Er sprach ganz langsam und deutlich, wie jemand, der nicht genau weiß, ob man die Sätze richtig verstehen kann. Doch schon kamen die Erwachsenen: voran der Müller, hinter ihm sein Sohn und Geselle. Sie warfen ihr Fahrrad an den Wegrand und liefen aufs Feld. Einen Augenblick starrten sie ganz verdutzt auf den Schwarzen in seiner Fliegerkombination. „Help“, diesmal leise, aber bittend. „Da sind Tote und Verwundete an Bord, die sollt ihr rausholen, hat er gesagt“, übersetzte Thomas. Der Schwarze kletterte voran, der Müller und sein Sohn hinterher. Da war nichts Kriegerisches, kein ,hands up’ und keine Durchsuchung, die beiden Erwachsenen waren waffenlos, sie hatten nur ihre Schürze und ihre Hände. Es war, als ob nicht gerade ein feindliches Bombenflugzeug zu Boden gegangen war, sondern irgendein Passagierflugzeug, das notlanden musste und dessen Passagiere jetzt Hilfe brauchten. Drinnen plötzlich ein markerschütternder Schrei. Der Müller erzählte nachher, der Flugzeugführer habe ganz steif hinter dem Steuerknüppel gesessen, den er immer noch fest umklammert hielt, und starr geradeaus geblickt. Als der Schwarze ihn habe vom Sitz ziehen wollen, habe der Pilot aufgeschrien und sei bewusstlos nach vorne gesackt. Mit Hilfe der kurzen Treppe wurden die Toten und Verwundeten aus dem Flugzeug geschoben und auf den Boden gelegt. Als letzten holte man den toten Heckschützen aus dem total zerschossenen Heckstand. Da lagen sie nun in einer Reihe: Drei Tote, über die man Decken oder Jacken geworfen hatte, und vier Verwundete. Die Strecke wird gelegt, dachte Peter und schämte sich im nächsten Augenblick. Das war keine Beute, das war ein verdammtes Elend. Zwei Piloten waren unverletzt, darunter der Schwarze, der, wie sich später herausstellte, der Kommandant der Liberator war und einen Leutnantsrang hatte.
Sie knieten bei ihren verwundeten Kameraden und sprachen leise auf sie ein, als wollten sie die Verwundeten mit Beschwörungen am Leben halten. Auch Peter kniete bei einem nieder, der ihn ansah und ein Lächeln versuchte. Der war so jung und war so blass. Vielleicht hat er einen Bruder wie mich und er dachte, wie Mutter ihm die Hand auf die Stirn gelegt hatte, wenn er krank zu Bett lag oder ihre Hand auf seine legte. Das hatte ihn immer beruhigt. So tat er es jetzt: Er ergriff die Hand des jungen Amerikaners und legte die andere auf dessen Stirn. Thomas wird nicht lachen, wenn er es sieht und dann ist es egal, was die anderen denken. Da gab es schon eine Reihe von Gaffern, die herumstanden und auf die Opfer starrten. Ich muss helfen, hier ist der Krieg zu Ende. Vater hatte im Krieg auch verwundete Engländer operiert und verbunden. Da gab es noch das Foto, auf dem alle Tommies, die noch gehen und stehen konnten, sich vor dem Verbandsplatz fotografieren ließen und sich gegenseitig stützten. Auch deutsche Sanitäter standen dazwischen. Und wenn sie mich auch komisch ansehen und grinsen, diese dummen Gaffer, Vater würde mir Recht geben. Und nun lenkte er alle guten und heilenden Gedanken auf den Verwundeten. Er dachte an seine Bäume und rief sie um Hilfe an. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, als ob eine Kraft durch ihn ströme in den Verletzten hinein. Er begann ihn anzulächeln und dieser lächelte ein wenig scheu, zaghaft, wohl ein bisschen ungläubig zurück. Dann kam Schwester Pulchera. Sie war Vaters Operationsschwester, und – weil es zur Zeit keinen Arzt im Ort gab – versorgte sie als Vertretung alle kleinen und großen Verletzungen in der Gemeinde. Breit und gebieterisch saß sie in ihrem weißen Sommerhabit auf dem Fahrrad, von dem sie nun bei aller Körperfülle flink herabsprang. Der Schwarze, der sich um seinen Flugzeugführer bemühte und nun aufsah, starrte die weiße
Gestalt einen Augenblick wie ein Wunderbild an. Er erhob sich dann schnell. Er verbeugte sich und sagte: „Oh, help him, sister, he has saved us all.“ Schwester Pulchera legte ihm die Hand auf die Schulter, sie hatte Beten, aber kein Englisch gelernt. Ohne ein Wort zu sagen, kniete sie bei dem Verwundeten nieder, klappte ihre mächtige Medizintasche auf und begann mit der Untersuchung. Vorher aber sah sie kurz die Reihe entlang zu Peter hinüber und nickte ihm zu. Ich hab’ es richtig gemacht, dachte dieser. Er konnte kein Englisch und es war wohl unpassend, nach der Teestunde an Bord zu fragen, selbst wenn man es hätte sagen können. Aber irgendein menschlicher Laut musste doch zwischen den beiden gewechselt werden. Peter nahm die Hand von der Stirn des anderen und zeigte auf sich. Er sagte: „Peter.“ Der andere hatte wohl wegen seiner Verletzung Schwierigkeiten zu sprechen. Aber er bemühte sich und sagte: „Paul.“ Das klang eher so wie Pol, doch es war eindeutig Paul. Peter sagte: „Peter und Paul“, und der andere nickte und lächelte. Peter fiel jetzt der plattdeutsche Vers ein, mit dem man die beiden Erzheiligen der katholischen Kirche ein wenig menschlicher machte: ,Peter und Paul, sett’n up’n Staul, Peter sah pup, Paul kneep ut.’ Diesen Vers sagte er ziemlich laut auf, so dass auch die Umstehenden es hörten und zu lachen begannen. Peter lachte und dann lachte der verwundete Amerikaner auch mit, auch wenn er nicht wusste, warum sie lachten. Aber er schien den Versrhythmus herausgehört zu haben und die beiden Namen. Sie lachten. So einfach ist das und der Verwundete legte seine freie Hand auf Peters. Mittlerweile waren von der Mühle Telefonate mit dem benachbarten Fliegerhorst geführt worden. Krankenwagen und
Ärzte wurden angefordert. Schwester Pulchera hatte die Verwundeten versorgt und verbunden, doch sie hielt bei dreien eine sofortige Operation im Flughafenlazarett für erforderlich. Alles war bestens organisiert. Als der letzte Verwundete in den Wagen geladen war und ein Offizier die zwei unverletzten Amerikaner aufforderte, in den Kübelwagen zu steigen, bat der Schwarze um eine Minute Zeit. Er ging zum Wegrand, riss ein paar Kornblumen ab und drei Mohnblumen, ging mit diesem Strauß zum Kreuz und steckte ihn in das Gefäß zu den anderen Blumen. Dann kniete er nieder und senkte den Kopf, so wie der Gekreuzigte auch sein Haupt neigte. Es war eine Situation, die irgendwie unvollständig wirkte, die wie eine Frage dastand ohne Antwort. Es war eine Frage, die vom Kreuz ausging, vom Gekreuzigten, der die Erlösung bringen wollte. Schwester Pulchera fühlte dies. Mit energischen Schritten ging sie auf das Kreuz zu und stellte sich neben den Knieenden. Sie wandte sich dann zu den vielen Leuten und sagte: „Lasst uns beten für die gefallenen amerikanischen Soldaten und für alle Soldaten, die heute vor das Angesicht Gottes getreten sind oder noch treten werden.“ Sie begann: „Vater unser, der du bist…“, und da war keiner, der sich dem Gebet verweigert hätte, nicht vor dem Angesicht des Gekreuzigten und erst recht nicht vor den streng fordernden Augen von Schwester Pulchera. So scholl dann laut und deutlich das Vaterunser über das Feld und auch noch ein ,GegrüßetseistduMaria’. Und als Schwester Pulchera die Schlusssequenz betete: „Herr, gib ihnen die ewige Ruhe…“, da antworteten alle: „… und das ewige Licht leuchte ihnen. Amen.“ Dem Schwarzen liefen die Tränen über die Wangen, die er aber sofort mit dem Ärmel wegwischte. War es die Trauer über seine toten Kameraden? War es der Schock der unerwarteten Rettung?
Hatte ihn die Hilfe und das kurze Totengebet seiner Feinde erschüttert – er gab Schwester Pulchera die Hand und die wiederum legte ihre Hand auf seine Schulter. Wortlos. Dann bestieg sie mit einem energischen Hüpfer das Fahrrad und fuhr zum Krankenhaus zurück. An der Mühle überholte sie der Kübelwagen. Die deutschen Soldaten legten grüßend die Hand an den Mützenschirm. Die zwei Amerikaner hoben die Hand. Peter und Thomas gingen nach Hause. Thomas hatte, als die Schwester begann, die Verwundeten zu entkleiden, versucht, für eventuelle Fragen zu dolmetschen. Doch die festgestellten Verletzungen brauchten keinen Dolmetscher mehr und Thomas war weggegangen. Er konnte sich diese Wunden nicht ansehen. Peter fand sich sonderbarerweise ganz leicht. Er war innerlich zufrieden, als habe er eine Aufgabe richtig und besonders gut gelöst. Die Toten unter den Decken und das Leiden der Verwundeten hatten ihn zunächst durcheinander gebracht. Erst als er bei dem jungen Piloten niederkniete und seine Hand ergriff, bekam sein Denken eine Richtung. Hier war eine winzige Aufgabe und eine winzige Pflicht, und als er sie erfüllte, gab es ihm Befriedigung und Trost. Doch die größte Tröstung kam von dem Gebet her, das man am Schluss gesprochen hatte. Es war, als habe sich über alles etwas Hohes und Weites gelegt, das alle Fragen, alle Angst, alle Verwirrung auf Ameisengröße hatte schrumpfen lassen. Ringsum waren Weite und Klarheit wie jetzt der Himmel. Es war, als ob alle Zacken, Spitzen und Kanten und Ecken ein rundes Ganzes ergaben. „Warum haben sie eine Notlandung versucht? Warum sind sie nicht vorher mit dem Fallschirm rausgesprungen?“, fragte Peter. „Sollten sie ihre Verwundeten über Bord schmeißen und sagen, seht zu, dass ihr unten irgendwo gut ankommt? Und die Toten, vielleicht waren die ja gar nicht tot. Ja, eine schwere Entscheidung. Die Notlandung war ein ungeheures Risiko. Die
schwere Maschine auf dem weichen Boden. Aber die Hitze in den letzten Tagen hat die Erde hart gemacht und dann die niedergedrückten Halme. Eine Stäbchenbrücke, aber sie hat gehalten.“ Der Schwarze hatte noch erzählt, so weit Thomas das richtig verstanden hatte, unmittelbar neben dem Flugzeug sei eine Flakgranate explodiert, habe in den Rumpf ein Loch gerissen und einen Motor rausgeworfen. Als sie dann aus dem Verband ausscherten und tiefer gingen, seien sie plötzlich von einer Me 109 angegriffen und regelrecht durchlöchert worden. Die amerikanischen Begleitjäger hätten sie dann aber vertrieben. Er saß neben dem Flugzeugführer, der von der MGGarbe in den Rücken getroffen wurde. Es gab keine Verbindung mehr in den hinteren Rumpf. Nur zwei Motoren liefen noch und das Flugzeug sackte ab. Wo gab es einen geeigneten Notlandeplatz? Und dann dieses großartige Kornfeld, gelb und breit und lang, es war ein Wunder. Zuhause hatte Peter viel zu erzählen, doch von seiner Handauflegung sagte er nichts. Schwester Pulchera würde wohl darüber im Krankenhaus berichten und dann käme die Nachricht wohl bald ins Elternhaus. Keiner würde das als Quatsch ansehen. Tatsächlich, zwei Tage später sagte Mutter zu ihm: „Schwester Pulchera hat mir alles erzählt. Du, das hast du gut gemacht mit dem Verwundeten. Die armen Jungs.“ Der notgelandete Riesenvogel im Kornfeld war die Sehenswürdigkeit der Gemeinde. Es gab wohl nicht einen, der ihn nicht besichtigt hätte. Viele kamen sogar mit dem Fahrrad aus der weiteren Umgebung angefahren, um diesen Wundervogel zu bestaunen. So also sah das Silberpünktchen hoch am Himmel aus der Nähe aus. Mein Gott, war das ein riesiges Schiff! Die Männer maßen mit ihren langen Beinen die Länge und Breite ab: Über 20 Meter lang und eine Spannweite von 33 Metern über beide Flügel. Selbst der größte Bauernhof in dieser Gegend war nicht
so groß. 23 Doppelzentner Bomben konnte der tragen. Das waren an die 50 Säcke Roggen. Dafür brauchte man wenigstens zwei Pferdefuhrwerke. Solche ,Fliegenden Festungen’ hatten die Deutschen nicht. Nicht eine einzige und die Alliierten wohl mehrere Tausend. Man konnte sie ja zählen, wenn sie oben am Himmel vorbeizogen, aber sie wirkten so klein und das ‘Zählen war anstrengend. „Jao“, sagte Pattke-Bernd, „mit sükke Vogels künnen wi woll uk den Krieg gewinnen.“ Die Umstehenden nickten. Aber die hatte er sich, bevor er das sagte, genau angeguckt. Mittlerweile hatte der Bauer angefangen, das Roggenfeld abzuernten mit seiner von zwei Pferden gezogenen Mähmaschine, dahinter gingen Frauen als Binderinnen. Mit einem Binde stock rafften sie aus den Schwaden so viel heraus, wie sie für eine Garbe brauchten. Die banden sie zusammen und stellten diese wiederum zu Hocken zusammen. Das Korn um den ,Liberator’ war von den Neugierigen niedergetrampelt worden und konnte nicht mehr verwendet werden. Der Bauer knurrte. Er meinte: „Nach dem Endsieg lasse ich mir alles erstatten.“ Langsam zogen die beiden schweren Pferde die Mähmaschine an der Kornwand entlang. Dahinter die Binderinnen, im Rhythmus von Beugen und Aufrichten, Beugen und Aufrichten. Oben am Himmel brummte erneut der Bomberstrom. Unten im Feld klapperte die Mähmaschine und zwischen den Getreidehocken stand noch immer der Riesenvogel wie ein Riese unter den Zwergen. Der stand da noch mehrere Wochen. Man wusste nicht, wie man ihn abtransportieren sollte. Gleich in den ersten Tagen war die gesamte Innenausstattung ausgeräumt und weggebracht worden. Die Bildauswerter in England mögen sich gewundert haben, wie viel Zeit die Deutschen sich mit der
Aneignung ihrer Beute ließen. Die beiden Freunde kamen in dieser Zeit noch häufig hierher. Sie setzten sich unter die Tragflächen und sahen zu, wie die anderen Kinder ihre Drachen steigen ließen. Wie es wohl den Verletzten ging? Dieser Amerikaner war genau so jung wie sein Bruder, der vor Leningrad lag. Auf den schossen sie mit Granatwerfern, davor konnte man sich in den Unterstand flüchten. Und wenn man verwundet war, kam ein Sanitäter und schleppte einen nach hinten zum Verbandsplatz. Aber dieser Amerikaner, da hoch oben in der Luft, wo man schon schwindlig wurde von der bloßen Vorstellung, wohin sollte der in Deckung gehen? Und dann der unendlich weite Weg von da oben bis hier ins Kornfeld. Da konnte man nur noch hilflos zusehen, wie einem die Erde entgegenkam. Wie hielt man solche Angst aus? Ohne jemanden, zu dem man flüchten konnte? Am Rumpf hinter den Flügeln war der amerikanische Stern weiß zwischen zwei dicken Balkenstrichen aufgemalt. Peter zeichnete ihn mit den Fingern nach. An die obere Spitze kam er nicht einmal. Dieser Stern war hoch vom Himmel her gekommen. Peter erinnerte sich an die Weihnachtsgeschenke, von denen er lange Zeit geglaubt hatte, sie seien aus dem Himmel, direkt aus der Hand des Christkinds gekommen. Das war einmal. Aber diese vielen geheimnisvollen Zahlen- und Buchstabenkombinationen auf dem Rumpf waren tatsächlich von weither gereist. „USA – Kanada – Neufundland – Island – Schottland – England“, meinte Thomas, „und nun das Roggenfeld in Germany.“ Er war aufgestanden und betrachtete die englischen Bezeichnungen an der Bordwand. Ganz klein waren sie geschrieben, auch sie ergaben keinen Sinn. „Keine Mitteilungen für uns drauf. Nur Vokabeln.“ Englisch – die Sprache, die die Kinder auf der Schule lernten. Es war die Sprache eines friedlichen Landes, nein, in der Sprache
spiegelte sich ein friedliches Volk. Es gab keine Lektion, in der etwas vom Krieg zwischen Deutschland und England vorkam, von Waffen und Bomben, Fliegeralarm, Luftangriffen und Flächenbränden. Wohl von Pfadfindern, Kricket, dem alltäglichen Leben in der Stadt und auf dem Land. In den Unterrichtsstunden gingen die Schüler mit den Engländern um, als seien sie bei ihnen zu Gast. Ja, worüber hätten sie sich eigentlich mit einem abgeschossenen englischen oder amerikanischen Piloten unterhalten sollen? Vermutlich über das Pfadfinderwesen, die Sehenswürdigkeiten und die Verkehrsverhältnisse in London oder über den Baumwollanbau in Carolina. Sie lernten keine einzige Vokabel, die England als eine hassenswerte und unmenschliche Nation beschrieb. „Hast du sonst noch was rausgekriegt?“, fragte Peter. „Das war ein Gespräch mit Händen und Füßen, mit bumm-bumm und tack, tack, tack und Me 109. Weißt du, wie ,Flakgranate’ heißt? Weißt du, wie man formuliert, wenn man nach Angst fragt, nach Verwundungen, nach Hilflosigkeit, nach Entscheidungen über Notlandung oder Ab Sprung? Der Amerikaner war zum Platzen voll mit seinem Erlebnis und er erzählte auch. Nur ich glotzte ihn an wie eine dumme Kuh. Man müsste einen Übersetzungsapparat erfinden, in den man Deutsch hineinspricht und am anderen Ende kommt es Englisch heraus. Aber selbst über die Londoner Sehenswürdigkeiten hätten wir uns nicht unterhalten können. Der hat vermutlich London nie gesehen, weil er auf seinem Flughafen bleiben musste. Ich wusste wahrscheinlich über diese Stadt mehr als dieser Leutnant. Obwohl ich auch nie da gewesen bin.“ Thomas schwieg. Die beiden schauten zu den drei Drachen hinauf, die ganz ruhig im mäßigen Ostwind am blauen Himmel standen.
„Ob sie jetzt in England auch Drachen steigen lassen?“, fragte Peter. Aber Thomas antwortete nicht. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Die Fliegende Festung stand noch mehrere Wochen da. Man wusste nicht, wie und wohin man sie als Ganzes transportieren sollte. Schließlich rückte eine Abteilung RAD-Männer mit Schneidbrennern, Sägen, Hämmern und Lastwagen an und sie zerlegten den eisernen Himmelsvogel. Zwei Tage dauerte es, bis das letzte Trümmerstück abtransportiert war. Dann ging der Pflug über diese Stelle. Nachts war Peter während des Alarms nicht aus dem Keller zu kriegen. Thomas hielt es aber drinnen nicht lange aus. „Das ist doch hier ganz harmlos. Ja, wenn wir noch im Ruhrgebiet wären.“ Er stand meist draußen bei Alois. Der war froh, dass er nicht so allein wachen musste und einen Gesprächspartner hatte. Thomas erzählte von den Angriffen auf das Ruhrgebiet, von den Christbäumen, den Explosionen, dass die Erde wackelte. Alois berichtete von seinen Einsätzen mit der freiwilligen Feuerwehr in Bremen. Aus der gesamten Umgebung wurden sie zusammengerufen, um die Riesenbrände zu löschen. Beide waren sich einig über die Wucht und Zerstörungskraft dieser Luftangriffe. „Aber unsere Luftwaffe hält dagegen, Coventry, London, die kriegen mehr ab.“ Thomas dachte daran, wie Vater ihm erzählt hatte, dass die Angriffe auf England immer seltener und mit immer weniger Maschinen durchgeführt wurden. Man brauchte sie ja für den Russlandfeldzug. „Nein, der Luftkrieg gegen England ist verloren.“ Thomas erzählte Alois aber nicht über Vaters Bedenken. Wenn telefonisch die Aufforderung zur Entwarnung kam, durfte
Thomas auf dem Horn Entwarnung tuten. Das machte er mit voller Lungenkraft und Ausdauer. Einmal, die Nachricht war schon durchgegeben, sahen sie noch ein Flugzeug, etwa 500 Meter hoch, hinter dem Dorf nach Norden fliegen. Im klaren Licht des Vollmonds war es deutlich zu erkennen. „Eine Halifax“, rief Thomas, „die will noch nach Hause, vermutlich schwerer Motorschaden. Vielleicht will sie eine Notlandung machen!“ „Dann muss sie sich beeilen, gleich kommt der Wald und der zieht sich hin.“ „Ob die Besatzung noch vollständig an Bord ist?“ „Wahrscheinlich, wenn mit den noch funktionierenden Motoren nichts passiert, könnte sie es noch bis nach Hause schaffen.“ In diesem Augenblick flammte die Tragfläche rot auf. Tscha, jetzt ist es zu spät. Ein Feuerball, der explodierte und hinter dem Horizont verschwand. „Wir müssen morgen früh mit dem Feuerwehrwagen hinausfahren und nachgucken, ob etwas zu Schaden gekommen ist.“ Thomas fragte: „Dürfen wir mit? Wir kennen den Wald genau.“ Alois überlegte: „Meinetwegen. Wir haben sowieso zu wenig Leute. Es lohnt nicht, sie von der Arbeit abzuziehen. Nur wenn der Wald in Brand geraten ist, müssen wir gleich los.“ Doch es schien nichts Schlimmes passiert zu sein und so fuhren am anderen Morgen drei Feuerwehrleute und die beiden Jungen mit dem großen Feuerwehrwagen los. „Wir müssen die Stelle absperren, bis die Luftwaffe den Platz genau untersucht hat. Dort könnten noch Blindgänger liegen, aber unwahrscheinlich. Der Bomber war ja auf dem Rückflug.“ Sie schaukelten über Sandwege, dann bogen sie in eine Waldschneise ein. Hier könnte es sein. Als sie ausstiegen, spürten sie den Geruch von Verbranntem. Ganz hinten zwischen den Stämmen ragte etwas empor. Das konnte eine
Heckflosse sein. „Ihr marschiert diesen Weg weiter bis zum nächsten rechts. Den geht ihr entlang bis zur nächsten Schneise und schaut links und rechts nach Trümmerteilen. Dann kommt ihr zurück. Nicht in den Wald gehen. Wir marschieren jetzt in Richtung auf die mögliche Absturzstelle.“ Die beiden Jungen machten sich auf den Weg. Nach etwa 200 Metern bogen sie rechts ab. Sie fanden nichts, auch der Brandgeruch war verschwunden. Am Wegrand standen einige junge Buchen, die den Blick auf die dahinterliegende Fichtenschonung versperrten. Plötzlich, da, ganz unmittelbar, sie hatten keine Möglichkeit mehr wegzugucken. Ein Fallschirm, halb aufgegangen, verknüllt zu einem Packen, lag auf dem Fichtenast und an den langen Seilen hing kopfüber ein Mensch, mit verdrehten Gelenken. Er hatte sich hinter dem Buchenlaub verborgen gehalten, hing da in Kopfhöhe, keine fünf Meter entfernt. Hing da Auge in Auge mit ihnen, hätte sie angesehen mit seinen vielleicht im Tode weit aufgerissenen Augen, wenn sie denn noch da gewesen wären, beiderseits der Nase und oberhalb von Mund und Wangenknochen. Aber da war kein Gesicht mehr, weggerissen, verschwunden, die Stirn war sonderbarerweise noch da und Haare auf dem Schädel. Wie lange starrt man so was an? Wie lange dauert es, bis man die Augen zumacht, sich abwendet und wegläuft? Thomas fasste Peter an den Schultern und drehte ihn um. Lauf, lauf, lauf zurück! Beide rannten. Nach etwa 30 Metern blieb Peter stehen. Mir ist schlecht und dann musste er sich erbrechen. Er kniete auf dem Waldboden. Thomas klopfte auf seinen Rücken. Allmählich beruhigte Peter sich. Sie gingen zurück. Wir sagen nicht, dass wir ihn so genau gesehen haben. Wir haben nur etwas Weißes mit etwas dran aus der Ferne gesehen. Alois macht sich sonst Gewissenbisse, dass er uns mitgenommen hat. Peter nickte.
In der Erinnerung entstand ein scharfes Bild. Das Gesicht war nicht einfach eingedrückt. Es war wie weggefegt, dahinter war nur eine rote blutende Wunde. Der eine Arm fehlte und dafür hing an der Seite das eine Bein herunter, fast in Höhe des Kopfes. Wie unwürdig dieser Mensch da hing. Schlimmer als der Gekreuzigte. Oh Gott, wie werde ich dieses Bild los? Das rannte jetzt hierhin und dorthin durch seinen Kopf. Dieses Gesicht hatte doch gelacht, gesprochen, so wie alle die Gesichter von den Menschen, die er kannte. Wenn ein Mensch kein Gesicht mehr hat, ist er dann noch ein Mensch? Beim Feuerwehrwagen angekommen, teilte Thomas seine Beobachtungen mit und sagte, sie wollten zu Fuß nach Hause gehen. Alois war froh. Man hatte mittlerweile fünf tote Besatzungsmitglieder gefunden. Die mussten sie mit dem Wagen abtransportieren. Warum sind sie nicht ausgestiegen, als sie merkten, dass sie Schwierigkeiten bekamen? Aus größerer Höhe mit dem Fallschirm. Eine sichere Sache. Sie wollten nach Hause, alle Soldaten wollen nach Hause. Dafür tun sie alles, nehmen jedes Risiko auf sich. Vielleicht haben sie zuletzt noch an eine Notlandung gedacht. Es ist jedenfalls verrückt. Hast du schon mal einen Toten gesehen, der so zugerichtet war? Ja, damals nach diesem Angriff auf das Ruhrgebiet. Wir liefen am Morgen durch eine Straße, alle Häuser platt, das waren nur noch Trümmer. Und plötzlich, da guck mal, schaute ein Kopf aus dem Trümmerfeld, der lag da nicht einfach, da war noch der Körper dran, aber unter dem Schutt. Als ob ein Mensch aus einer Dachluke ins Freie schaut, da sieht man auch nur den Kopf. Es war eine Frau, das lange schwarze Haar fiel ihr zum Teil ins Gesicht. Die Augen waren geschlossen, keine Spur einer Verletzung, gelitten hat sie wohl auch nicht, im Gesicht keine Anzeichen von Schmerz, fast wie eine Schlafende. Aber der Körper unter den Steinbrocken, den muss
es zermalmt haben. Das war übrigens auch der Anlass, weshalb Vater uns weggeschickt hat aufs Land. Du sollst diese Zerstörungen nicht sehen, weder die körperlichen noch die materiellen. Geht zu den Verwandten, da ist es ländlich und friedlich, da spürt man den Krieg nicht so. Aber wo kommt der Krieg nicht hin? Die Frau hatte also ihr Gesicht behalten, aber der Pilot aus England, das Gesicht fortgewischt, zerrissen in einem deutschen Wald. Irgendwann würden seine Angehörigen erfahren, dass er mit seinem Flugzeug abgestürzt war, die näheren Einzelheiten nicht. Vielleicht konnten sie sich das vorstellen, lebend in einem explodierenden und aufprallenden Flugzeug zu sitzen. Bevor sie sich trennten, meinte Thomas, Peter solle lieber nichts von diesem grausigen Fund erzählen. Wir machen es so wie bei Alois. Peter hielt sich daran, es war zu dem Zeitpunkt ohnehin niemand da, den er hätte ansprechen können. Es war große Wäsche und das Haus in Hektik. Aber in seinem Zimmer holte er den Katechismus heraus. Er suchte den elften Glaubensartikel ,Auferstehung des Fleisches’. Gott erweckt die Leiber der Verstorbenen zu neuem Leben, indem er sie für immer mit ihrer Seele vereinigt. Die Leiber der Bösen werden hässlich, die Leiber der Guten aber herrlich und werden dem verklärten Leibe Christi ähnlich sein. Gott wird also das verlorene Gesicht finden und wieder in den Kopf einpassen und der Engländer hat nun seine Sprache wieder, seine Stimme, seine Augen, seine Nase, er kann lächeln und sich freuen. Peter beschloss, am nächsten Sonntag Gott zu bitten, das verlorene Gesicht zu suchen, zu finden und aufzubewahren bis zum Jüngsten Gericht. Und er versprach, deshalb auch zur Kommunion zu gehen.
Stendal
Der Sommer ging vorbei, der Herbst. Peters Bruder lag vor Leningrad, das nun bald erobert werden sollte. Peter erhielt einen eigens an ihn gerichteten Brief, worin sein Bruder berichtete, wie er mit seinem Maschinengewehr auf die Russen jenseits der Newa geschossen hatte. Bei einem Granatwerferüberfall wurde seine Uniformjacke, die an einem Ast hing, von einigen Splittern durchlöchert. Dabei hatte auch seine Kamera Schaden genommen, konnte aber mit Hilfe von Leukoplast wieder repariert werden. Demnächst würde er ihm Fotos schicken von seiner Stellung, den Kameraden und einem abgeschossenen russischen Panzer. Aber erst in 14 Tagen, wenn seine Frontbewährung vorbei sei. Bis dahin hofften sie, Leningrad erobert zu haben. In dem Brief lag auch eine Schlagerpostkarte ,Nach jedem Abschied gibt’s ein Wiedersehen’. Darin war ein winziges Loch, Andenken an den Granatwerferüberfall. Es war Januar, Peter mit Mutter alleine im Haus, als gegen Abend das Telefon schrillte. Mutter ging an den Apparat im Sprechzimmer und Peter horchte an der halboffenen Tür auf dem Flur. Er hörte nur einzelne Worte, die Mutter zu wiederholen schien – verwundet, Oberschenkel, Explosivgeschoss – und konnte sich sofort ein Bild machen. Sein Bruder war verwundet und Peter rannte augenblicklich wütend auf dem Flur hin und her und schoss im Geiste alle Russen tot. Nach diesem ersten Wutanfall tröstete er sich damit, dass sein Bruder bald heimkehren werde, weil doch in seinen Kriegsbüchern Verwundete immer vollständig und ohne
bleibende Schäden geheilt wurden. Mutter hörte in den folgenden Tagen in ihre Tränen und Trauer hinein von den Verwandten und Nachbarn die tröstenden Worte: „Sei doch glücklich, dass es so gekommen ist. Besser verwundet als tot.“ Peter konnte es bald nicht mehr hören. Schlimm genug, dass sein Bruder nun nicht mehr in Moskau oder wenigstens Leningrad einmarschieren würde. Stattdessen kam er in ein Lazarett in der Festung Modlin bei Warschau, wo er schwere Krisen durchzustehen hatte. Beinahe wäre doch noch das Bein amputiert worden. Im Hause fielen bei der Unterhaltung mit Besuchern häufig die Namen ,Verwundung, Modlin, Explosivgeschoss’. Letzteres Wort baute Peter gern in seine Kriegsspiele ein, die er mit seinen Soldaten durchführte. Er schoss dabei nur noch mit Explosivgeschossen, obwohl diese doch völkerrechtlich verboten waren. Das bestätigte auch Thomas. Mit seinem Bruder hatte Peter nur wenig zu tun gehabt. Im kalten Winter 1939/40 hatte er ihm auf den weithin überschwemmten und zugefrorenen Weiden des Flusses das Schlittschuhlaufen beigebracht. Aber sonst war er ja immer weg gewesen, im Studium, beim Reichsarbeitsdienst und beim Militär. Er blieb für Peter ein Fremder. Das Hausleben wurde bestimmt von der Übermacht des ,Weibervolks’. Mit diesem verstand er sich bestens. Es gelang ihm mühelos, alle weiblichen Wesen um den Finger zu wickeln. Im Frühsommer 1943 wurde sein Bruder nach Stendal verlegt und Peter sollte ihn zusammen mit Mutter besuchen. Er war im 4. Schuljahr, das sich dem Ende zuneigte, und bekam einfach schulfrei. Man steckte ihn in den schicken uniformähnlichen Kommunionanzug vom vorigen Jahr. Bei dem war der Abstand zwischen Ärmelrand und Handwurzelknochen erheblich größer geworden. Peter bestand darauf, dass auch sein jüngst erworbenes Sportleistungsabzeichen am Revers
befestigt wurde. In Hannover bestiegen sie einen durchgehenden D-Zug Richtung Berlin. Kaum hatten die beiden in der 1. Klasse Platz genommen, öffnete sich die Schiebetür und herein trat ein Hauptmann, ein Fliegerhauptmann wie aus dem Bilderbuch. Groß, schlank und ohne Brille. Am Waffenrock saß das EK 1 und – Peter traute den eigenen Augen nicht – er trug das Ehrenabzeichen der Legion Condor. Der war in Spanien gewesen, womöglich mit Mölders. Peter stand auf und legte die Hände an die Hosennaht, mehr war nicht möglich – erstens trug er keine Kopfbedeckung zwecks Handanlegung, außerdem durfte ein blutiger Zivilist so nicht grüßen, und zweitens hatte er gegen den Hitlergruß mit dem Ausstreckarm eine gewisse Abneigung. „Guten Tag, Herr Hauptmann!“ „Guten Tag, mein Junge!“ Offiziere pflegten Minderjährige immer mit ,mein Junge’ anzureden, das kannte er aus seinen Büchern. „Na, du kennst dich ja schon gut aus in der Rangordnung.“ Dann begrüßte er aber zunächst Mutter, sprach sie mit ,Gnädige Frau’ an und bat, Platz nehmen zu dürfen. Peter war hingerissen, der musste ein Jagdflieger sein und hatte bestimmt schon einige Abschüsse. Aber zunächst kam er nicht zu Wort. Jetzt sprachen erst einmal die Erwachsenen miteinander. Mutter konnte, wenn sie es darauf anlegte, einen Charme entwickeln, der selbst Josef Stalin zum Schmelzen gebracht hätte. Sie verstand es, innerhalb von zehn Minuten dem Hauptmann die nötigen achtungabfordernden Informationen zukommen zu lassen, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Eine Mutter von fünf Kindern, dies sei das jüngste, auf dem Weg zu ihrem vor Leningrad schwerverwundeten Sohn. Er war vierzehn Tage vor Beendigung seines Fronteinsatzes, der ihm
eine Fortsetzung des Medizinstudiums erlaubt hätte, von einem Explosivgeschoss im Oberschenkel getroffen worden. Das veranlasste den Hauptmann zu einem Ausdruck des Bedauerns. Nun wolle sie sich in Stendal zum Besuch ihres Sohnes mit ihrem Gatten treffen, der in Warschau Chef eines Reservelazaretts und Oberfeldarzt sei. Die Rangverhältnisse waren erst einmal geklärt. Der Hauptmann fand einen eleganten Übergang zu einem anderen Thema, indem er bemerkte, dass es dann kein Wunder sei, wenn der jüngste Sohn sich so gut im Militärwesen auskenne. Na, dem werde ich noch ganz was anderes vorführen, dachte Peter. Als sein Gegenüber auf das Sportleistungsabzeichen wies, erzählte Peter mit Eifer, welche einzelnen Leistungen dahinter steckten. Er habe bei seiner ersten Teilnahme am Reichsjugendsportfest die beste Punktzahl innerhalb der Gemeinde erreicht. Der Hauptmann sparte nicht mit Lob, aber Peter merkte, dass der Offizier und Mutter sich ein wenig über die etwas aufschneiderische Selbstdarstellung amüsierten. Das war immer so bei diesen Erwachsenen. Die Leistung der Kinder wurde nie ernsthaft gewürdigt, als säße man noch immer im Sandkasten. Immerhin glaubte Peter sich jetzt berechtigt, die Frage nach dem Freiheitskampf in Spanien zu stellen. Ja, er sei in Spanien gewesen, aber nur ein Vierteljahr, ganz zuletzt, und er habe auch die Siegesparade in Madrid mitgemacht. Er habe auch einige Ratas abgeschossen. Die Me 109 sei einfach allen anderen Flugzeugen überlegen gewesen. Weil er gerade am Erzählen war, berichtete er auch von Abschüssen über England und Frankreich. Einmal habe er über dem Kanal einen Treffer im Benzintank erhalten. Er konnte gerade noch bis zur französischen Küste gelangen, wo er eine Notlandung am Strand machte. ,Das Wasser war eben zurückgegangen und auf dem Watt rutschte ich dahin wie auf
einer Eisbahn. Die haben meine ME sogar noch wieder flugfähig machen können.’ „Ja“, und er wandte sich an Peters Mutter, „man weiß nie, ob man von einem Feindflug zurückkehrt. Wenn ich von meiner Mutter Abschied nehme, denke ich immer, vielleicht hast du sie zum letzten Mal gesehen. Und sie denkt das auch.“ Mutter nickte und Peter fühlte sich an seine vielen Totenfeiern erinnert, die er im Garten inszeniert hatte. Nur war das hier sehr nahe an der Wirklichkeit. „Weißt du“, und er wandte sich wieder an Peter, „Major Wick, kennst du den Namen?“ Und ob ihn Peter kannte, er kannte doch alle Jagdflieger, sofern sie ein Ritterkreuz hatten. Schließlich machte er dazu Aufzeichnungen, Name, Zahl der Abschüsse. Und wenn sie fielen, kam ein Kreuz dahinter. „Ja natürlich, er ist aber gefallen.“ „Ja, er konnte über dem Kanal noch abspringen, aber man hat ihn nie gefunden. Das war ein so guter Jagdflieger und Kamerad.“ Über ein solch trauriges Thema wollte Peter aber nicht reden. Er fragte deshalb schnell nach den Leistungen der deutschen und angloamerikanischen Flugzeuge. Der Hauptmann antwortete, soweit – wie Peter sich dachte – die Geheimhaltung nicht verletzt war. Gott sei Dank fragte sein Gegenüber nicht danach, zu welcher Waffengattung Peter demnächst denn gehen werde. Er fühlte sich doch völlig fluguntauglich und überhaupt, mit der praktischen Militärausübung und dem konkreten Kriegsdienst hatte er nichts im Sinn. Auffällig war, dass der Hauptmann keine Einzelheiten vom Abschuss einer feindlichen Maschine erzählte, so wie Peter das aus seinen Kriegsbüchern kannte. Er war in dieser Hinsicht spürbar zurückhaltend und sagte zu Mutter leise und fast wie
nebenbei, während er den Blick zum Fenster wendete, dass doch in jeder getroffenen Maschine ein Mensch sitze. Auf dem Bahnhof in Stendal wurden sie von Vater erwartet. Der Hauptmann hatte selbstverständlich Mutters Koffer aus dem Gepäcknetz genommen und ihn bis auf den Bahnsteig gebracht. Er begrüßte Vater, der mit Uniform und allen Orden auf dem Bahnsteig stand, mit einem knappen militärischen Gruß. Als er auf der untersten Stufe des Wagens stand, rief er noch einmal Peter heran und beugte sich zu ihm nieder. Er sagte: „Du sollst es wissen, ich bin auf dem Weg nach Berlin, um dort das Ritterkreuz zu erhalten.“ Dann verschwand er rasch ins Innere des Wagens und Peter stand einen Augenblick wie betäubt. Da war der Glanz eines künftigen Ritterkreuzträgers auf ihn gefallen und er hatte es nicht gemerkt Sie wohnten in einem Hotel in der Nähe des Doms. Vom Fenster aus sah man auf den Turm, um den unermüdlich Dohlen kreisten. Da sie erst am späten Nachmittag angekommen waren, gingen Vater und Mutter zunächst ohne Peter zum Lazarett. Es war ein warmer Tag und Peter stand am offenen Fenster und beobachtete die Dohlen. Es waren wohl zwanzig, die den Turm umkreisten, mal tiefer, mal höher. Einige ließen sich auf den Simsen nieder, um zu den Nestern zu gelangen, wie Peter vermutete. Wieder andere flogen fort oder kamen zurück. Eine stete Bewegung der schwarzen Vögel um den Turm, ein Hinauf und Hinab, ein scheinbar ruheloses Kreisen, doch ganz gleichmäßig, Ruhe verströmend, so dass Peter die Zeit vergaß. Nur die Mauersegler mit ihrem schrillen Srisri unterbrachen mit ihrer halsbrecherischen Hektik dieses beschauliche Kreisen. Ihm fiel die Sage vom Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser ein, der auf die Nachricht von der Wiedererstehung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation wartet. Dann wird er sich von seinem steinernen Sitz erheben und sich an die Spitze des
Reiches stellen. Peter fragte sich, wie er wohl den Bart aus dem steinernen Tisch reißen würde, in den er hineingewachsen war. Aber solange noch die Raben um den Berg flogen, war die Stunde noch nicht gekommen. Ob wohl auch die Stendaler Domdohlen ein Geheimnis umkreisten? Am anderen Vormittag ging Peter mit seiner Mutter, ohne den Vater, den Bruder besuchen. Sie kamen zunächst durch einen ausgedehnten Park, in dem jetzt schon alle Bänke besetzt waren. Alte Leute, Soldaten, einige trugen ihren Arm in einem gewaltigen Gipsverband in einer Schlinge. Bei manchen war der eine Uniformärmel nach oben geklappt und dort mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Manche hatten Krücken neben sich liegen, das eine Hosenbein nach oben geklappt und ebenfalls mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Rollstühle wurden von Rotkreuzschwestern über die Wege geschoben. Die darin sitzenden Soldaten trugen ihre Uniformjacke und waren unten mit einer Decke zugedeckt. Manchmal sah man unten noch einen Fuß auf dem Trittbrett, manchmal auch nicht. Einige konnten sich auch mit eigener Kraft in dem Rollstuhl bewegen, indem sie mit den Händen an einem außen an den Rädern angebrachten Ring drehten. Viele bewegten sich an ein oder zwei Stöcken. „Die tragen eine Prothese“, sagte Mutter. Die Schule, die zu einem Lazarett umfunktioniert war, hieß nach einer Nazi-Größe ,Hans Schemm’. Peters Bruder lag in einem großen Saal, der vielleicht früher mal der Versammlungsraum der Schule gewesen war. Die eine Längsseite wurde von vielen hohen Fenstern geöffnet. Man blickte von hier oben auf einen mit Bäumen bestandenen Schulhof. Als Peter eintrat, fiel schon die Sonne in den Raum und machte ihn ganz licht und weiß. Von der Tür überblickte man den ganzen Saal. Wohl fünfzehn Betten standen an jeder
Längsseite, sauber ausgerichtet, dazwischen ein breiter Gang. Peter kannte ein ähnliches Bild aus Vaters Kriegsalbum. Sein Bruder lag an der Fensterseite, etwa in der Mitte der Reihe. Aus mehreren Betten ragte eine besondere Apparatur heraus. In einer davon lag sein Bruder. Peter trat heran und gab ihm die Hand. Sein Gesicht blass, eingefallen, die Tränensäcke bläulich gefärbt, die Augen schauten ihn ungewohnt groß aus der Brille an und auch der Mund wirkte in diesem kleiner gewordenen Gesicht groß. Franz blickte auf Peters Kommunionanzug, den er vor einem Jahr zuletzt gesehen hatte, und dann sah er das Sportabzeichen. „Mutter hat schon erzählt, dass du eine tolle Sportskanone geworden bist Erzähl doch mal.“ Peter merkte, dass Franz sich über die Erfolge seines Bruders freute. Aber das war ein anderer Bericht, als er ihm noch gestern vor dem Offizier begeistert von den Lippen geflossen war. Er spürte plötzlich, dass er diesen Ton über seine sportlichen Leistungen hier nicht anwenden dürfe. Da war zu viel Verletzung, Verlust, als dass er das Loblied körperlicher Unversehrtheit und Sportlichkeit hätte anstimmen dürfen. So nannte er für die einzelnen Disziplinen nur die Sekunden, die Meter und Zentimeter und die erreichte Punktzahl. Franz staunte und lobte ihn. Peter konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Bruder mit ihm einmal Schlittschuh gelaufen war. Auch hatte er ihm einmal beim Fußballspiel zugeschaut. Wie kräftig er den Ball wegschlagen und wie energisch er den Gegner abdrängen konnte. Und laufen konnte der, obwohl sich Peter sicher war, sein Bruder hätte ihn auf dem ,Schwarzen Weg’ nicht schlagen können. Mutter übernahm jetzt das Gespräch und fragte, wie er geschlafen habe und wie es ihm ginge. Nun wurde berichtet, erklärt, beschrieben, wobei Peter weniger zuhörte. Er hatte beim Herantreten an Franz’ Bett die Apparatur bewusst
übersehen, als sei sie nicht da, weil er wohl merkte, dass dies kein mechanisches Gerät war, das man staunend betrachten durfte. Es war ein Gerät des Leidens, dem man nicht besondere Aufmerksamkeit schenken sollte. Verstohlen sah er hin. Franz lag auf dem Rücken, das linke Bein schräg nach oben gestreckt. Die Kniekehle ruhte auf einer Stütze, ebenfalls die Ferse. Aber durch das Knie war eine Art Bügel gebohrt, an dessen oberem Teil ein Seilzug befestigt war, der in Fersenhöhe über eine Rolle lief und an dessen unterem Ende ein fünfzig Pfund schweres Gewicht hing. Franz konnte sich kaum bewegen, nicht auf die linke oder rechte Seite drehen und sich nur ein wenig mit dem Oberkörper aufrichten, was er jetzt gerade machte, indem er sich mit den Unterarmen aufstützte. Sein Bruder hatte früher seinen Geschwistern immer etwas erklärt. Er merkte, wie Peter heimlich immer wieder auf die Apparatur schielte. „Weißt du“, sagte er, „es ist ein unangenehmes Gerät, aber medizinisch sehr sinnvoll. Auf diese Weise wird der Oberschenkel wieder in seine ursprüngliche Länge gezogen und in dieser Stellung festgehalten. Dadurch kann die Knochenbildung ungestört vor sich gehen. Die beiden Knochenhälften wachsen aufeinander zu.“ Peter erfuhr, dass das Explosivgeschoss den Oberschenkelknochen so zertrümmert hatte, dass ein ganzes Stück fehlte. In diesem Bereich steckten auch viele kleine Eisen- und Knochensplitter. „Die müssen mit der Zeit herauseitern.“ Peter wusste jetzt, weshalb es hier so unangenehm roch: es war der Eiter. Franz war bei diesen Erklärungen regelrecht aufgelebt und Peter bemühte sich, Interesse zu zeigen und Fragen zu stellen. Aber keine Frage nach der Front. Das hatte er brieflich nur getan, solange Franz noch kämpfender Soldat gewesen war. Er
erkundigte sich nun nach dem Eisenbahntransport im Lazarettzug und wie man das machte, wenn man mal musste. Franz lachte. Es schien ja ganz einfach, aber man war doch abhängig. Er fragte nicht, wie man das aushielte, ununterbrochen auf dem Rücken zu liegen. Er hatte schon vorher von Mutter erfahren, dass eine solche Zwangsposition zum Wundliegen führe. Da bildeten sich richtige Wunden. Man hatte seinen Bruder festgenagelt. Das wäre für Peter die höchste Qual, nicht sofort aufspringen und losrennen zu können. Er blickte über die lange Reihe der Betten, einige hatten diesen Stillliegenfolterapparat, bei anderen lag die weiße Decke flach über dem Körper. Da bohrte sich auch kein Knie nach oben oder zwei. Viele hatten sich aufgerichtet und redeten mit dem Nachbarn. Einige lagen still und starrten an die Decke. An der Stirnwand an der Tür hing, fast die gesamte Breite einnehmend, eine schwarze Schultafel. Darauf stand in großen Blockbuchstaben ,Hast du schon geschrieben?’ und darunter der Textausschnitt des Schlagers ,Nach jedem Abschied gibt’s ein Wiedersehen’ mit der Schlusszeile ,Schwer ist der Abschied, schön das Wiedersehen’. Peter kannte dieses Lied, der Wortlaut stand auf der Schlagerpostkarte, die sein Bruder dem Brief von der Front beigelegt hatte, damals. Aber es passte nicht in seine Kampfgesänge hinein, und so hatte er es nicht in sein Einschlafrepertoire übernommen. Vor der Tafel stand ein Tisch mit zwei Stühlen, dort saß ein Soldat bei einer von hier nicht genau erkennbaren handwerklichen Tätigkeit. Peters Bruder, der seine neugierigen Blicke wohl mitbekommen hatte, sagte: „Du kannst hier überall hingehen und dich umsehen.“ Peter tat das gerne, er fühlte sich so festgenagelt am Bett seines Bruders. Er merkte, Franz wollte sich nicht hineindenken in die Welt der Jungenspiele und des Sports. Er
konnte mit Peter nichts anfangen und Peter nichts mit ihm. Ihre augenblicklichen Interessen lagen zu weit auseinander. Alles lag so weit weg, und was ihm auf der Seele lastete, das konnte er ja seinem kleinen Bruder nicht erzählen. Nicht einmal seiner Mutter. Das gehörte sich nicht. Zu der früheren räumlichen Distanz zu seinem Bruder war jetzt eine innere getreten. Peter stand auf und bewegte sich langsam durch den Gang an den Betten entlang zu dem Tisch. Der Soldat blickte von seiner Arbeit auf und lud ihn ein, Platz zu nehmen. Er schärfte auf einem Lederblock Skalpelle. In Vaters Praxis lag auch so ein Ding und er konnte die Frage, ob er solche Messer kenne, bejahen. „Sie müssen ganz scharf sein. Und weil ich im Moment nicht viel machen kann, habe ich diese Aufgabe übernommen.“ Er verlagerte seinen Beinstumpf. „Eigentlich wollte ich auch einmal Chirurg werden, ich bin ein Medizinstudent wie dein Bruder, aber beim Operieren muss man viel stehen und das wird mit der Prothese sehr anstrengend. Doch es gibt ja noch andere Richtungen. Vielleicht werde ich Augenarzt, da kann man viel sitzen. Dein Bruder hat Glück gehabt und sein Bein behalten.“ „Ob er wohl wieder Fußball spielen kann?“, fragte Peter. „Der muss erst mal Muskeln ansetzen, wenn er aus diesem Folterapparat heraus ist. Du kannst dann mit ihm üben, aber vorsichtig, nicht gleich Schalke schlagen wollen.“ Er lachte – wie kann ein Mensch noch lachen, der ein Bein verloren hat, dachte Peter, nie mehr schnell laufen können, nie mehr Fußball spielen, immer nur sorgsam langsam gehen, damit man nicht stolpert Und er sah noch so jung aus, so jung wie die Gesichter auf den Fotos auf dem schwarzen Klavier. Hatten die es besser?
„So ein Skalpell ist ein Wunderding. In der Hand eines Fachmanns kann es Leben retten und erhalten. Nur vollständig wiederherstellen kann es das Leben nicht. Die Schäden an deiner Seele, die kann es auch nicht beheben. Dafür ist der liebe Gott zuständig, oder der Pastor oder dein Freund. Sofern er noch lebt.“ Es waren fast zwei Stunden vorüber. Franz war erschöpft von dem Besuch und den Gesprächen, auch schmerzte ihn die Wunde. Er wollte es nicht zeigen, aber man merkte es. Mutter stand auf, sie würde heute Nachmittag wieder vorbeischauen. Peter kehrte zu seinem Bruder zurück und gab ihm die Hand. Auf dem Rückweg zum Hotel setzten sie sich noch für eine Viertelstunde im Park auf eine Bank. Es waren nur wenige Leute noch da. „Mittagszeit, im Lazarett wird jetzt das Essen ausgegeben. Franz ist momentan sehr geschwächt. Das lange Liegen und das fortwährende Eitern rauben ihm die Kräfte. Wenn er erst mal gehen und sich draußen bewegen kann, wird alles besser. Du wirst es sehen.“ Sie aßen im Hotel mit Vater zu Mittag. Vater würde morgen wieder nach Warschau zurückfahren. Mutter und Peter wollten noch fünf Tage bleiben. Der Gedanke daran war für ihn wenig erfreulich. Zwar brauchte er nicht zur Schule, aber er vermisste das Spiel mit den anderen Kindern, er vermisste Thomas, er vermisste sein Luftgewehr und seine Bücher. Aber was er sich am wenigsten eingestand, war, dass er es am Bett seines Bruders nicht aushielt, sie konnten gegenseitig mit sich nichts anfangen. Die Schmerzen und die Erschöpfung engten Franz’ Interessen ein, er war auf sich zurückgeworfen und nur Mutter, die seine Hand hielt, wirkte beruhigend, tröstend und verstand es, seine unausgesprochenen Gefühle und Empfindungen zu erahnen. Am anderen Morgen brachten sie Vater zur Bahn. Bei
ihrem Weg durch den Park zum Lazarett sagte Peter sehr bestimmt: „Es ist langweilig.“ Mutter war nicht überrascht. „Ich versteh dich wohl, aber Franz braucht mich momentan. Er ist ganz verzweifelt. Weißt du was, ich habe dich gestern mit dem Soldaten am Tisch gesehen und du scheinst dich gut mit ihm zu verstehen. Du gehst zu ihm und zu den anderen Soldaten, stellst dich vor und fragst, ob du dich ein wenig mit ihnen unterhalten darfst. Und wenn du nicht immer bei Franz sitzt, ist es ihm sicher auch ganz angenehm. Er muss sich sonst so zusammenreißen. Du weißt schon. Und heute Nachmittag gehen wir zu der Buchhandlung, von der du mir erzählt hast, und kaufen ein paar Bücher für dich.“ Mutter wusste immer Rat. Peter ging Erwachsenen eigentlich aus dem Weg. Sie lebten in einer anderen Welt und machten sich darin wichtig. Aber wenn sie noch nicht so alt waren, junge Leute, die ja zu Hause fortwährend die Familie besuchten, besonders natürlich seine Schwestern, da ging er offen und neugierig auf sie zu, und er war gerne in ihrer Gesellschaft. Sie hatten sonderbarerweise bald an ihm einen Narren gefressen. Sollte er mal zufällig nicht in ihr Blickfeld geraten, weil er wieder draußen unterwegs war, erkundigten sie sich nach ihm. Die Frage dieser Leute nach dem Wohlergehen der Familie war immer mit der Frage verbunden: ,Was macht eigentlich der kleine Peter?’ Er hatte vermutlich den Charme seiner Mutter geerbt. Mit Soldaten war er selbstverständlich immer gut ausgekommen, warum nicht mit diesen, sie waren ja noch so jung. Und so geschah es. Nachdem er seinen Bruder begrüßt und mit ihm ein paar Worte gewechselt hatte, ging er hinüber zu seinem Skalpell-Soldaten und dessen Nachbarn, sagte, wohin er gehöre, und fragte, ob er sich mit ihnen unterhalten dürfe. Er durfte sich auf einen Hocker zwischen die beiden setzen. „Ich heiße Peter“, und dann begann die Unterhaltung. Es war meist so, dass man zuerst Fragen an ihn
stellte, woher er komme, nach seiner Familie und was er in seiner Freizeit mache. Seine Erzählungen bildeten also die Ouvertüre zu den Gesprächen. Er hatte schon bald festgestellt, dass man in diesem Saal Verwundete untergebracht hatte, die Verletzungen an Beinen und Armen hatten oder amputiert waren. Das war für die Pflege und die Versorgung vermutlich einfacher. Auch lagen hier nur Mannschaftsdienstgrade, verwundete Offiziere befanden sich wohl anderswo. Sie sind tot oder sie leben noch. So kannte er das aus seinen Büchern. Verwundete Offiziere gab es nicht. Er musste aufpassen, dass er nicht allzu viel vom Sport erzählte, vom freien und fröhlichen Gebrauch der Gliedmaßen, auch nicht zu viele Erinnerungen weckte an Jugendtaten, denn sie alle würden nie mehr etwas tun können, was körperliche Unversehrtheit voraussetzte. So berichtete er denn von seiner Jagd auf Spatzen, wie er seine Schwestern und ihre Freundinnen zu ärgern pflegte, vom Modellbau und von Feindeinflügen. Doch allmählich drehte sich das Gespräch und die Soldaten erzählten von sich. Sie sprachen von ihrer Verwundung und wie sie sich zugetragen hatte. Peter brauchte aus den flachen Oberdecken keine Rückschlüsse auf Vollamputation beider Beine zu ziehen. Das wurde gleich erzählt. Es ging ihnen nicht um Mitleid, sie wollten es nur noch einmal jemandem mitteilen, der es bisher noch nicht gehört hatte. Sie hatten ein Opfer gebracht und dafür wollten sie ein bisschen Anerkennung. Peter war ein guter Zuhörer und er wunderte sich, wie viele für ihn unbekannte Gegenden es in Deutschland gab. Er lieh sich Papier und Bleistift von seinem Bruder und schrieb sich die Namen und Adressen auf, denn jeder pflegte ihn einzuladen, einmal vorbeizukommen, wenn der Krieg zu Ende sei. Vom Krieg im Allgemeinen sprachen sie wenig, sie lebten in Erinnerungen an ihre Heimat und viele sagten, sie hätten auch einen Bruder wie Peter, im gleichen
Alter. In Peter lächelte sie eine freundliche Vergangenheit an und wenn er sie nach einiger Zeit verließ, um sich dem nächsten Bettpaar zuzuwenden, dann stand etwas von Freude und Zuversicht in ihren Gesichtern. Der kleine Bruder, das war auch die Zukunft. Wir beide schaffen das! Schade war, dass Thomas nicht hier sein konnte. Der hätte den ganzen Saal mit seinen Geschichten von Tom Sawyer unterhalten und zum Lachen gebracht. Sonderbar, die Verwundeten wollten gerne lachen. Am dritten Tag fragte ihn sein Skalpell-Soldat, der übrigens wie sein Bruder Gefreiter war und Georg hieß, ob er ihn nicht einmal mit dem Rollstuhl in den Park fahren wolle. Und er rief laut durch den Saal: „Habt ihr was dagegen, wenn Peter mich in den Park fährt?“ Viele Zurufe zeigten, dass sie einverstanden waren und so hüpfte Georg in den Rollstuhl und Peter schob ihn durch den Gang, nicht ohne den zuschauenden Verwundeten zuzurufen, dass sie im Laufe des Tages zurückkämen, Fahnenflucht sei ausgeschlossen, was mit Lachen beantwortet wurde. Es war ein warmer sonniger Vormittag und Peter schob seinen Patienten durch die Parkanlage. Ein Gespräch war anstrengend, weil Peter sich hinter dem Rollstuhl befand und auch aufpassen musste, nirgendwo gegen zu stoßen oder jemanden anzurempeln. Auch Georg musste ziemlich laut sprechen, was ein richtiges Gespräch verhinderte. So beschränkte Georg sich darauf, ihm die Namen der Blumen, der Stauden und der Bäume zu nennen, an denen sie vorbeikamen oder auch stehen blieben, um sie sich genauer anzusehen. Georg wunderte sich, wie viel Peter darüber wusste. Nun ja, er hatte bei den Erklärungen von Mutter und Agnes genau aufgepasst. Schließlich setzten sie sich auf eine schattige Bank. Peter setzte sich auf die Bank und Georg in seinem Rollstuhl ihm
gegenüber, Gesicht gegen Gesicht. Auffällig für Peter war, wie sich sein Gegenüber freute und aufgemuntert war. Peter durfte alle seine sportlichen Aktivitäten beschreiben. Es wurde genau nachgefragt und Georg erzählte von seiner eigenen sportlichen Vergangenheit, er war sogar einmal Gaumeister im 100 m Lauf gewesen. Hier trafen sich also zwei Sprinter und Georg konnte ihm viele Ratschläge geben. Es war, als ob Georg überhaupt nicht seiner Vergangenheit nachtrauerte, die er nicht fortsetzen konnte. Er war nur glücklich. Auch Peter spürte, wie er ernst genommen wurde, noch nie hatte sein eigener Bruder so mit ihm gesprochen. Welches Thema sie auch anfassten, sie vertieften es ernsthaft. Allerdings bog Georg es bisweilen auch spaßhaft um, so dass Peter lachen musste. Er erzählte ihm von der Begegnung mit dem Ritterkreuzträger. „Das sind wirklich tapfere Burschen“, sagte Georg. „Wir, bei der Infanterie, haben immer noch einen Nebenmann, links und rechts von uns die Kameraden unserer oder anderer Gruppen. Wir können uns gegenseitig Schutz geben. Aber diese Jagdflieger sind praktisch Einzelkämpfer und da geht es immer um Leben und Tod. Gerade diese Ritterkreuzträger, sie sind die Tapfersten und sie überleben nicht lange. Schade.“ Peter fragte ihn auch nach den Heilungsaussichten seines Bruders. „Er hat ja Glück gehabt. Aber er darf auch nicht zu lange in dieser ausgestreckten Zwangslage bleiben, dann rostet das Knie ein und er kann es nicht mehr voll bewegen, aber das ist alles nicht so schlimm. Ich habe mich auch mit dem Verlust meines Beins abgefunden. Mit einer Prothese werde ich gut gehen können. Sport spielt mit zunehmendem Alter auch nicht mehr so eine große Rolle. Wenn dein Bruder sich sein Bein hätte amputieren lassen, ginge es ihm jetzt schon so gut wie mir. Aber es ist nicht allein die Verwundung, die uns zu
schaffen macht. Da innen“, und er klopfte gegen die Brust, „ist auch etwas kaputt gegangen. Hast du schon mal Angst gehabt?“ Oh ja, das hatte er. Abends vor den Geistern und Gespenstern, die sein Bett belagerten und die er mit Kraftgesängen zu bändigen versuchte, oder als er dem Spielkameraden Alfred einen Stein an den Kopf geworfen hatte, so dass dieser blutete wie ein Schwein. Georg lächelte vergnügt: „Komisch, so etwas habe ich auch erlebt. Wie sich die Dinge wiederholen. Aber Angst, Todesangst, wenn die Granaten um dich herum explodieren, die Panzer anrollen, die feindliche Infanterie anstürmt und neben dir wird ein Kamerad getroffen, er schreit, er wälzt sich vor Schmerzen oder er ist plötzlich tot, und eben noch hast du mit ihm gesprochen. Das reißt Löcher in deine Seele. Angst vor dem Tod, vor dem Schmerz, der möglicherweise voran geht, die Grausamkeit der Panzerketten, deine Hilflosigkeit da im Dreck. Am Ende bist du froh, wenn dein Überleben nur ein Bein gekostet hat und eine kaputte Seele. Da hilft kein Arzt, kein Notverband, keine Amputation, keine Medizin. Das sind Wunden, die sich nur langsam schließen. Und jede Nacht, wenn die Verwundeten im Schlaf aufschreien, dann weißt du, jetzt ist wieder eine Wunde aufgebrochen. Bei dieser Blutung kann dir keine Krankenschwester helfen.“ „Aber es muss doch etwas geben, was die Wunde zumacht, ganz fest!“ „Ja, vielleicht die Hand deiner Mutter, der feste Zuspruch deines Vaters, die fröhliche Unbekümmertheit deines kleinen Bruders. Vielleicht. Jemand, der sehen kann wie mit Röntgenaugen, was drinnen zerrüttet ist, und weiß, wie man das richtig wieder zusammenfügt. Ich fürchte manchmal, wenn der Krieg vorbei ist, dann geraten wir in Vergessenheit. Ach ja, Bein amputiert, Pech gehabt, Achselzucken, Gleichgültigkeit.
Auf zu neuen Ufern! Wenn ihr mitwollt, müsst ihr euch beeilen, sonst seht zu, dass ihr fertig werdet. Aber wir können uns nicht mehr beeilen. Man hat uns amputiert an Leib und Seele, festgenagelt an das Foltergerät der Angst.“ „In meinen Kriegsbüchern steht das aber nicht, auch nicht mit der Angst.“ „Ach, die Kriegsbücher lügen. Die müssen doch begeistern.“ Auch ich war begeistert. Doch es war kein guter Geist, der mich begeisterte. Georg legte seine Hand auf Peters: „Entschuldigung, so sollte ich nicht mit dir reden. Das ist nichts für dich. Vergiss alles, aber manchmal ist es befreiend, wenn nur jemand zuhört.“ „Die Wunde hat sich ein wenig geschlossen, ja?“ Georg sagte nichts. Er ließ Peters Hand nicht los. Als sie zum Lazarett zurückkamen, saß Mutter am Eingang auf einer Bank. „Jetzt wird es auch Zeit, dass ihr kommt, gleich gibt es Mittag. Franz war ganz erschöpft und wollte ein wenig schlafen.“ Georg beugte sich aus seinem Rollstuhl vor und ergriff ihre Hand. „Ich möchte mich bedanken. Sie haben mir einen kleinen Bruder mitgebracht. So, jetzt schnell, sonst bekomme ich nichts zu essen und ich habe Hunger.“ Als sie in den Saal hineinfuhren, hob der Verwundete im ersten Bett die Hand und sagte: „Psst, Peters Bruder schläft!“ Der Rollstuhl glitt durch den Mittelgang und alle schauten her und gaben durch Gesten und Lächeln zu verstehen, dass sie sich freuten. Georg hüpfte in sein Bett zurück: „Bis heute Nachmittag.“ Als Peter an dem Bett seines Bruders vorbeikam, trat er zu ihm, und mit einer vorsichtigen Bewegung strich er ihm eine Haarsträhne aus der Stirn. Dann ging er rasch davon.
Irgendwann später werde ich auch mit ihm solche Gespräche führen können wie mit Georg. Alle sahen sie ihm nach, der sich mit einer Handbewegung verabschiedete und es war, als wäre da ein Hauch von Licht und Himmel durch den Raum gegangen. Die nächsten Tage verliefen so wie die vorigen. Peter durfte Georg in den Park schieben, ohne dass ein anderer den gleichen Wunsch geäußert oder dass man dagegen protestiert hätte. Er war in diesem Saal mittlerweile bekannt wie ein bunter Hund, auch bei den Schwestern und den Ärzten, und einmal fragte bei einer Visite der Stabsarzt: „Du bist also der Peter, der kleine Samariter. Willst du denn auch einmal Oberfeldarzt werden?“, in Anspielung auf den Rang seines Vaters. Da antwortete er: „Nein, Arzt!“, was ein ziemliches Gelächter auslöste. Auch der Stabsarzt lachte: „Mein Junge, bei dir ist die Zukunft Deutschlands in guten Händen!“ Dann reisten sie ab. Am letzten Nachmittag fuhr er noch einmal Georg durch den Park. Bei der Rückkehr ließ Georg ihn anhalten. „Du sollst mir nicht schreiben. Ich komme in den nächsten Tagen in ein anderes Lazarett. Ich schreibe dir von dort oder nach dem Krieg. Du wirst ja deine Adresse behalten. Und hier“, er nestelte aus seiner Brusttasche eine Plakette heraus, „ein kleines Andenken“, Gausieger 1941 stand darauf. „Die dazugehörige Urkunde habe ich nicht mehr. Du hast uns allen viel Freude gemacht. Vergiss mich nicht. Und nachher, wenn du weggehst, mach den Abschied kurz, bitte.“ Jetzt war er sehr ernst und erkennbar traurig und Peter schob ihn zu seinem Bett zurück, dort ein kurzer Händedruck. „Auf Wiedersehen!“
Er ging bei jedem Verwundeten vorbei, zuletzt zu seinem Bruder. Der sagte zum Abschied zu ihm: „Du, ich bin stolz auf dich. Zuhause gehen wir beide auf die Jagd.“ Draußen erzählte Peter seiner Mutter, was Georg ihm zuletzt gesagt hatte. Mutter meinte: „Ich kann es dir jetzt ja wohl sagen, Georgs Familie ist bei dem Bombenangriff auf Lübeck ganz ausgelöscht worden. Das Elternhaus ein Raub der Flammen, die Eltern tot, zwei Schwestern und sein kleiner Bruder. Der war so alt wie du.“ Die Rückreise ging gut vonstatten. Mutter und Peter sprachen wenig miteinander. Peter sah über die weite Fläche der Altmark mit ihren riesigen Feldern voller Spargelbüsche. Eine Melodie durchzog seinen Kopf ,Nach jedem Abschied gibt’s ein Wiedersehen’. Ihm gefiel sie plötzlich, sie passte in seine weiche Stimmung. Ein Ritterkreuzträger betrat nicht das Abteil, Gott sei Dank. Gleich am nächsten Tag nach der Begegnung mit dem künftigen Ritterkreuzträger hatte er in der Zeitung nach dem Namen gesucht, aber dort standen zu viele, auch drei Hauptleute der Luftwaffe, so dass er nicht herausbekam, wer der Offizier im Abteil gewesen war. Es fiel ihm hier zum ersten Mal auf, dass eine richtige Ordensflut eingesetzt hatte. Während die Landschaft an ihm vorbeizog, beschloss er, sich nicht mehr die neuen Luft-, Wasser- und Landhelden besonders zu merken. Etwas hatte ihn plötzlich in eine andere Welt versetzt. Aber er war dort noch nicht so richtig angekommen. Mehrere Wochen lebte er in einem träumerischen Zustand. Die ihn nun wieder umgebende häusliche Wirklichkeit wurde herausgefiltert wie bei einem Schwerhörigen. Besonders die sentimental-weiche Melodie ,Nach jedem Abschied gibt’s ein Wiedersehen’ wurde ein Ausdruck seiner Stimmung. Das waren nicht mehr die
Kampfgesänge ,Kamerad, wir marschiern in den Westen’ oder ,Panzer rollen in Afrika vor’. Doch nach einiger Zeit legte sich diese Stimmung und die Realität und Unbekümmertheit des Kinderlebens schienen wieder die Oberhand zu gewinnen. Es war wohl so, dass er in Stendal viel Neues gesehen, gehört und nach Hause mitgebracht hatte, ohne die Bedeutung so völlig zu verstehen oder zu empfinden. Er konnte es noch nicht richtig verarbeiten. Dazu war er noch zu jung. Es lag unter einem wenig durchsichtigen Schleier, durch den nur die Augen der Ahnung einen Blick getan hatten. Nur seine Kriegs spiele mit der Burg und seinen Elastolin-Soldaten veränderten sich. Die Burg wurde in ein riesiges Lazarett umgewandelt. Dort behandelten die Ärzte und Schwestern fast ausschließlich Amputationen und Peter führte lange Gespräche mit den Verwundeten, bis er sie als geheilt ansah und sie senkrecht stehend in einem gedachten Park hinter der Burg aufstellte. Das Spiel war zu Ende, wenn kein Verwundeter sich mehr in der Festung befand. Totenfeiern wie früher gab es nicht mehr, stattdessen versuchte er, möglichst schnell die Verwundeten zu heilen. Wenn die Geschwister nun an der Tür des Kinderzimmers horchten, hörten sie statt der ,Sieg’- oder ,Treffer’-Schreie nur ein undeutliches Gemurmel. Peter unterhielt sich mit seinen Verwundeten.
„Der Sommer war sehr groß“
Die Sommerferien hatten begonnen. Es war ein heißer Tag und Peter schlenderte durch den Garten. Er wusste nicht recht, was er machen sollte. Plötzlich ging hinten die Tür auf und sein Vater und Onkel Pohl kamen heraus. Beide waren gleichzeitig auf Urlaub gekommen, der eine aus Warschau, der andere aus Sokolow. Sie gingen in den Garten und für Peter stand gleich fest, wie er sie erschrecken wollte. Er kroch tief unter die Erbsensträucher, die ein dichtes Dach bildeten, unter dem man ihn kaum entdecken konnte. Sie spazierten an ihm vorbei und dann hörte er, wie der Nachbar sagte: „Doktor, die SS schleppt die Juden in Lager und bringt sie dort um. Sie holen sie von überall.“ Nun waren sie schon weiter weg und Peter verstand nichts mehr. Ach, das war wieder die Situation, wo er nichts hören durfte und doch hörte. Da wurde ein Geheimnis erzählt und er hatte gelauscht. Und schon kamen sie wieder zurück. Lieber Gott, lass sie mich nicht sehen. Schon waren sie wieder in seiner Nähe. „Doktor, wenn wir den Krieg verlieren, dann Gnade uns Gott!“ Schweigen. Die beiden entfernten sich. Es war etwas Entsetzliches geschehen, etwas Unrechtes, etwas Böses. Aber diesmal auf deutscher Seite, irgendetwas stach ihm ins Herz. Onkel Pohl war ein Muster an Rechtschaffenheit, deutsche Soldaten vorbildliche Kämpfer, die den Feind und die Zivilbevölkerung schonten. Wenn Onkel Pohl so etwas sagte, dann musste es schlimm sein. Wieder kamen die beiden an dem Versteck vorbei und Peter hörte Vater sagen: „Ich habe so etwas aus dem Ghetto gehört.“ Mein Gott, hoffentlich entdecken sie mich nicht in meinem
Versteck. Zehnmal bei ihm vorbeigehen, das konnte doch nicht gut gehen. Und was, wenn sie mich entdecken? Den Mitwisser. In diesem Augenblick schrillte im Haus das Telefon. Agnes erschien in der Tür: „Doktor, gi möt kaomen.“ Peter war erlöst. Vorsichtig kroch er aus seinem Versteck und taumelte zur Gartenbank. Die Juden. Er kannte gar keinen Juden. In seinen Büchern las er wohl bisweilen von einer jüdischen Plutokratie. Sie galten als Kriegstreiber und es gab sie nur in England und Amerika. Natürlich – Juden gab es in der Bibel. Sie hatten Jesus ans Kreuz geschlagen. Sein Blut komme über uns und unsere Kinder. Die katholische Kirche war nicht gut auf sie zu sprechen. Aber immerhin, die Kirche war mittlerweile eine Macht geworden – trotz der Ermordung des Jesus und die Nachfolge-Juden saßen in Palästina. Peter würde Thomas fragen müssen. Dass die SS, zu denen ja auch Onkel Pohl gehörte, diese Juden umbrachte und es nicht die deutschen Soldaten waren, das beruhigte ihn. Er konnte die SS ohnehin nicht ausstehen. Sie waren Angeber, zu zackig und viel zu viel Nazi. Mit denen mochte er kein Geländespiel machen. Und seitdem er erfahren hatte, dass es sog. NAPOLAS gab, wohin man Kinder mit besonderen geistigen und sportlichen Fähigkeiten schickte, hatte er sich angewöhnt, auf Sportwettkämpfen weniger aufzufallen. Am besten war, man blieb immer nur Zweiter. In der NAPOLA, da sollten doch die Kinder vom Dach der Schule in ein Sprungtuch springen. Mutprobe. Nein, von der NAPOLA zur SS, dahin führte ein gerader Weg. Doch bevor er mit Thomas über sein Geheimnis reden konnte, kam noch ein weiteres hinzu. Zwei Tage nach diesem Gartengespräch hatte seine Schwester Mareike Geburtstag. Natürlich durfte der Onkel Pohl bei dieser Feier nicht fehlen. Als ob diese Frage irgendwie in der Luft lag, kam die Unterhaltung, die Peter
wiederum aus einem Versteck belauschte, auf das Warschauer Juden-Ghetto, von dem Vater ja schon mal berichtet hatte und aus dem er Aushilfskräfte für sein Krankenhaus bezog. Da waren die Juden wieder das Thema und Onkel Pohl, leicht bis mittelschwer angesäuselt, wiederholte, dass man sie von überall her nach Polen transportiere, in Güterwaggons mit stacheldrahtvergitterten Luken. Mareike war aufgefallen, dass sie diese auf den Fahrten zur Schule schon mehrmals gesehen habe. Nun wusste sie es und Peter auch. Als sie das nächste Mal wieder auf den Holzstapeln saßen, teilte er Thomas sein Geheimnis mit. Ja, Juden waren richtige Menschen, und auch im Ruhrpott hatten sie gelebt. Eigentlich hatte man sie von den anderen nicht unterscheiden können, und sie waren in allen möglichen Berufen vertreten. Z. B. hatte er einen gekannt, der sei auch Bäcker wie sein Vater gewesen und habe sein Geschäft zwei Ecken weiter gehabt. Der backte neben den normalen Backwaren ein besonderes Brot, das für die Juden wichtig war. Das ungesäuerte Brot aus der Bibel beim Auszug der Juden aus Ägypten? War es das? Es war eine starke Erzählung, die Flucht der Juden aus Ägypten unter Führung von Moses und wie die Wogen des Roten Meeres über die Verfolger zusammenstürzten. Und überhaupt, plötzlich stellten sie fest, wie viele Geschichten aus dem Alten Testament sie im Religionsunterricht kennen gelernt hatten. Unkriegerisch waren die darin vorkommenden Völker auch nicht gewesen, sonst hätten die Jungen die Geschichten wahrscheinlich gar nicht behalten. Und gesiegt hatten meistens die Juden, und zwar mit Gottes Hilfe. Der hatte sie sogar noch in der Wüste mit irgendwelchen wohlschmeckenden und vom Himmel herabfallenden Lebensmitteln ernährt. Ganz offensichtlich schien es, dass es ein Gott wohlgefälliges Volk war, und nur dieses eine Mal, wo sie seinen Sohn ans Kreuz schlugen,
genügte schon, dass Gott sie nicht mehr mochte? Schließlich waren es ja nicht alle Juden gewesen, die vor dem Haus des Landpflegers das ,Kreuziget ihn!’ brüllten. Jesus besaß damals wohl das Zehnfache an Anhängern und Petrus hatte sogar das Schwert gezogen. Irgendwie unverständlich, und dann hatten sie den Bäcker mitsamt seiner Familie mit einem offenen LKW, auf dem schon andere saßen, abgeholt. Thomas hatte es gesehen. Er stand gegenüber auf dem Bürgersteig und da waren noch mehr Leute. Sie schauten zu und sagten nichts. Thomas erzählte es zu Hause, doch die Eltern sagten nichts dazu. Nur der Vater meinte: „Das erklär’ ich dir später.“ Stattdessen musste er jetzt häufiger im Geschäft mithelfen, denn sie bekamen mehr zu tun, bis schließlich ein anderer die jüdische Bäckerei übernahm. Da normalisierte sich alles. Es war die SS. Es waren die Nazis. Sie brachten ein Volk um. Das war gegen die Genfer Konvention, Kriegsgefangene zu töten. In all seinen Büchern wurden Kriegsgefangene zwar hart, aber angemessen behandelt. Dabei war der Bäckermeister nicht einmal ein Kriegsgefangener. Thomas erwähnte noch, dass er Kriegsteilnehmer gewesen sei. Onkel Pohl war bei der SD und Ludwig, einer von vielen Bekannten des Hauses bei der SS, einfacher Sturmmann, aber immerhin. Das war alles nicht so leicht zu trennen. Aber die deutschen Soldaten würden solche Verbrechen nicht begehen und die Leute vor dem Palast des Pilatus und dem Haus des Bäckers waren auch nur eine Minderheit. Und wenn Gott nun doch das Schlachtenglück wendete, weil er plötzlich wieder Sympathie für die Juden hatte? Zumindest musste Gott gegen die Nazis sein, weil sie doch gegen das 5. Gebot verstießen. Thomas und Peter legten sich nun auf die Lauer. Ob das wohl wahr sei mit den Güterwagen und den Stacheldrahtluken.
Anfangs hatten sie vom Holzstapel aus das Bahnhofsgelände beobachtet, aber das erforderte zu viel Aufmerksamkeit, weil nur ein Teil der Bahnanlagen zu sehen war. Sie konnten sich überhaupt nichts mehr in Ruhe erzählen, weil sie immer wieder von irgendwelchen Bewegungen auf den Gleisen abgelenkt wurden. So verlegten sie ihren Beobachtungsstandpunkt auf den Schneewall. Der war beim Bau der Eisenbahnlinie entstanden, lief über mehrere hundert Meter an den Schienen entlang und bildete im Winter einen wirksamen Schutz gegen Schneeverwehungen vom offenen Feld her. Auch war er mit vielen großen Eichen und Buschwerk bestanden. Hier spielten sie häufig Räuber und Gendarm, aber nun wollten sie allein bleiben. Sie legten sich ins Gras zwischen den Büschen und waren von keiner Seite zu entdecken. Es war ein heißer Sommer und die Eichen spendeten Schatten. Alles lief bequem vor ihren Augen ab, ohne dass sie genauer hinsehen mussten, wenn sie nicht wollten. Personen- und Güterzüge und die kleine Rangierlokomotive, die einen Güterzug zusammenstellte oder einzelne Waggons an die Ladestraße brachte, die dann dort ent- oder beladen wurden. Ausgeladen wurden Kohlen und Düngemittel, eingeladen Getreide, Kartoffeln, Rüben, Vieh. „Geht alles in den Ruhrpott und alles kommt auch daher“, sagte Thomas stolz. Sie waren überrascht, wie viel militärisches Gerät transportiert wurde. Einmal sahen sie einen Gütertransport mit dreißig nagelneuen Panzern. „Na, wenn die in den Iwan reinhauen, dann gibt’s kein Halten mehr“, meinte Thomas. Sie überlegten, wenn in jedem Panzer das Maschinengewehr besetzt wäre, dann würde ein Tiefflieger ein blaues Wunder erleben. Aber es saß niemand darin, selbst die sonst angehängte 2 cm-Flak fehlte. Was konnte diesen Stahlkolossen
auch eine MG-Garbe anhaben. Und die Lokomotivführer saßen ja hinter eisenverstärkten Blechwänden. Die ein- und auslaufenden Personenzüge beobachteten sie genauer. Sie wollten wissen, wer Urlaub hatte und wer wieder an die Front fuhr. Die meisten kannten sie, nur mussten sie häufig erst durch die Uniformen hindurchgucken, um den Zivilisten zu entdecken. Er sah fremd aus. Wer Urlaub hatte, brachte meist viel Gepäck mit aus den besetzten Gebieten. Meist erschien die gesamte Familie zum Empfang. War das eine Freude. Peter wurde das Umarmen und Küssen schon fast peinlich. Wenn sein Vater auf Urlaub kam, hielt er sich jedenfalls zurück und machte sich am Gepäck zu schaffen. Aber Soldaten kamen nicht nur, einige fuhren auch wieder zurück. Sie wurden nicht von der ganzen Familie begleitet. Der Abschied war wortloser und stiller in den Gesten. Als sie seinen Bruder nach seiner Grundausbildung zum Bahnhof brachten, Mutter, zwei Schwestern und Peter, da fing Mutter an zu weinen und die Schwestern infolgedessen auch. Peter natürlich nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Bruder fallen könnte. Zwar gab es mittlerweile vierzig Kriegstote im Dorf, aber warum sollte gerade seinem Bruder etwas zustoßen? Jedenfalls konnte Peter jetzt in aller Ruhe Franz’ Briefmarkensammlung ansehen und unauffällig einige Marken für die eigene Sammlung stibitzen. So genau würde der sein Album nicht mehr in Erinnerung haben, wenn er zurückkehrte. Sein Bruder stand ein wenig hilflos zwischen den weinenden Frauen. Er durfte nicht weinen und das wollte er auch gar nicht, denn er fuhr gegen den Feind und wollte ihn niederzwingen. Als angehender Mediziner musste er ein halbes Jahr eine Frontbewährung absolvieren, um weiterstudieren zu dürfen. Vater hatte zu ihm gesagt: „Ich kenne den Leiter des Bezirkswehrkommandos, Major Lichtenau, gut.“ – Natürlich,
den kannte Peter auch, der war schon häufig im Haus gewesen. Er gehörte auch zum Kreis derer, die immer nach dem kleinen Peter fragten. – „Du hast die freie Auswahl, zu welcher Truppe du gehen willst. Geh zur Luftwaffe, zu den Sanitätern, da bist du halbwegs sicher.“ Aber der Sohn lehnte ab. Er wollte zur Infanterie. ,Was Vater geschafft hat, das will ich auch schaffen!’ Oh je, der wollte in dieser kurzen Zeit das EK 1 und den Einmarsch in Moskau. Der Sohn wollte keine Extrawurst und der Vater nicht dessen Heldentod. Das hatte Vater jetzt davon. Hätte es weniger Kriegsbücher im Hause gegeben und Vater seinem Hindenburgfimmel und seinen Kaiser- und Nation-Träumen abgeschworen, dann hätte der Sohn wohl alles nüchterner betrachtet. Doch jetzt wollte er für Deutschland und Hitler kämpfen und sterben, das hatte er sogar zu Peter gesagt. Und dieser hatte durchaus nicht begeistert zugestimmt. Er wusste genau, dass er Vaters Ratschlag sofort angenommen hätte. Er war halt ein Angsthase, jedenfalls bei der Erreichung undurchschaubarer Ziele. Er wollte sein Blut lieber für sich behalten und von Ruhm und Ehre aus den Büchern lesen. Zeltlagergeschichten waren spannend und ließen der Fantasie freien Raum, darin mitzuwirken. Aber ein wirkliches Zeltlager, nein, das dauerte doch jeden Tag 24 Stunden. Franz blickte in eine bestimmte Richtung und Peter wusste, dort stand in einigem Abstand von der Bahnsteigsperre dessen Freundin. Ganz unauffällig, denn es gehörte sich nicht, in aller Öffentlichkeit, womöglich noch zusammen mit den Familienmitgliedern, seinen Freund zu verabschieden. Schließlich waren sie ja nicht einmal verlobt. Dann fuhr der Zug ab und man winkte ihm noch lange nach. Als sie vom Bahnsteig zurückkehrten, war die Freundin verschwunden.
Die beiden Freunde lagen viele Nachmittage am Schneewall, doch es kam kein Güterzug mit Stacheldrahtluken. Schließlich gaben sie es auf, zumal es immer heißer wurde und das Baden im Fluss viel verlockender war als das Warten auf einen bestimmten Zug. Die Badestellen wechselten häufig. Das hing davon ab, ob die Kühe sie in Ruhe ließen, eine hohe Uferkante für den Kopfsprung vorhanden war und der Fluss diese Stelle genügend tief ausgekolkt hatte. Meistens spielten sie Kriegen oder Wasserball. Diesmal lag die Badestelle in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Gerade wollte Peter Thomas den Ball zuwerfen und schaute dabei über ihn hinweg zur Brücke. Dort fuhr ganz langsam ein Zug und kam zum Stehen. Güterwagen mit Luken und Stacheldraht davor. Die beiden schwammen an Land und rannten zum Bahndamm, der etwa 200 Meter entfernt war. Es war ein langer Zug, in der Mitte ein Personenwagen 2. Klasse, besetzt mit Uniformierten – die Wachmannschaft. Beim Näherkommen erkannten die beiden Jungen auch, was hinter den Luken vor sich ging. Köpfe erschienen undeutlich und Hände und Arme wurden herausgestreckt. Doch schlimmer als das, was sie sahen, war das, was sie hörten: „Wasser, Wasser, Wasser.“ Hier floss genug Wasser. Damit hätte man den Durst von tausend Menschen, von Menschen in tausend Güterzügen löschen können. Doch schon schrien die Uniformierten den Jungen zu: „Zurück da, keiner kommt näher, marsch zurück!“ Und dann ruckte der Zug schon wieder an. Die Wagen zogen vorbei und es war immer nur ein Wort, das aus jedem Waggon drang: „Wasser, Wasser.“ Erst als der Zug schon weit entfernt war, erwachten die Kinder aus ihrer stummen Erstarrung. „Was war das?“, fragte Hannes.
Thomas erwiderte sofort und ganz kurz: „Kriegsgefangene.“ Er hätte lieber ‚Strafgefangene’ sagen sollen, denn Hannes’ Vater war über England abgeschossen worden und saß dort in Gefangenschaft. Hannes ging in die Wiese hinein und ließ den Kopf hängen. Peter rannte ihm nach. „Du, in England werden die Gefangenen besser behandelt, besonders die Flieger, und die Tommys haben auch nicht so viele Gefangene wie wir.“ Peters einzige Gewähr war der ,Rote Baron’, Manfred von Richthofen, dort wurde der Gegner ritterlich behandelt und mit allen militärischen Ehren beigesetzt. Wie das heute war, wusste er nicht so genau. Und außerdem sind es ja Russen. Woher diese Russen aber so gut das deutsche Wort Wasser rufen konnten, fragte Hannes nicht. Es mussten wohl deutsche Juden sein. Sie holen sie von überall her, auch aus Frankreich, Belgien, Holland? War der Durst so schlimm geworden, dass sie alle diesen Bittschrei nach Wasser gelernt hatten? Das einzige deutsche Wort, das sie lernten: Wasser. Vielleicht sogar das letzte. Thomas und Peter zogen sich an und gingen nach Hause, die anderen spielten weiter, auch Hannes. Sie sprachen unterwegs kein einziges Wort. Belogen und betrogen. Der Stolz auf Deutschland und die Erfolge der deutschen Waffen. Das sogenannte Ehrenschild, von dem sie immer redeten, hatte Flecken. Zuhause trennten sie sich, wiederum wortlos. Peter blätterte in einem Fotoband über die Eroberung Frankreichs, dann ging er in den Garten. Wie kümmerlich die Stauden, die Erbsensträucher und Himbeerspaliere waren! Wie hatte er sich darin nur verstecken können, ohne gesehen zu werden? Er versuchte es nie wieder. Der Garten hatte jetzt keine Ohren mehr. Wenn sie jetzt auf den Holzstapeln saßen, sprachen sie nicht mehr von dem Judenzug. Sie redeten über das, was so im Dorf geschah, in den Familien und was sich an der Front ereignete.
Kamen die anderen Kinder dazu, spielten sie noch die Spiele, aber ohne die militärischen Zusätze. Manchmal berichtete Thomas Peter von einem Buch, das er gerade las und ihm demnächst zum Lesen geben wollte. Einmal sagte er zu Peter: „Komisch, ich lese jetzt wieder gern Märchen. Die haben manchmal so eine hintergründige Bedeutung, gestern z. B. Rumpelstilzchen. Erst spinnt es alle Säle voll mit Gold und macht die Königsfamilie reich und glücklich. Doch dann fordert es das Kind der Königin dafür. Verständlich, dass es eine Gegengabe haben wollte. Mit diesem Handel hätten die Leute rechnen müssen. Gold, Besitz, Reichtum und Macht im Tausch gegen einen Menschen, einen Freund, einen Bruder. Kein guter Tausch, aber die Leute im Märchen haben ja Glück gehabt. Sie haben den Namen ausfindig gemacht. Ob wir auch rechtzeitig den Namen finden?“ Am Wochenende kam Thomas’ Vater für mehrere Tage auf Urlaub. Er nahm wieder die gewohnten Spaziergänge mit seinem Sohn auf. Das Besondere aber war, auch Peter sollte mitkommen. Mittlerweile wusste dieser, dass bei solchen Wanderungen kein Schulwissen abgefragt wurde. Da kamen ganz andere Dinge zur Sprache, auf die er neugierig war. Deshalb freute er sich über die Einladung. Thomas hatte seinem Vater von den Judentransporten erzählt und auch Onkel Pohls schreckliche Nachrichten mitgeteilt. Thomas’ Vater warnte: „Lasst euch bloß nichts anmerken. Ihr bringt euch und die Familien in Schwierigkeiten.“ „Aber es wissen doch bestimmt ganz viele, was da passiert.“ „Ja, das glaube ich auch. Ich habe auch davon gehört. Es muss z. B. in Polen ein Lager geben, das Auschwitz heißt. Dort werden in besonderen Räumen Juden vergast und hinterher verbrannt. Das läuft wie an einem Fließband, die Transporte
kommen, die Arbeitsfähigen werden herausgesucht und die anderen zu den Vergasungskammern geschickt.“ „Und keiner ruft: Halt! Das ist Unrecht!“, rief Thomas empört. „Nein, das ist so ähnlich, als wolltest du einen Finger in ein riesiges Zahnradgetriebe stecken und damit zum Stehen bringen wollen. Er würde zerquetscht.“ „Aber irgendwie muss man das Ding doch zum Stehen bringen!“ „Das kannst du nur noch, indem du es von außen zerstörst, mit Bomben und Granaten und vielen Menschenopfern. Deine vier gefallenen Amerikaner gehörten auch dazu.“ „Auch Franz’ Freund Gerrit?“, fragte Peter. Sie waren an einem großen Bauernhof vorbeigekommen und standen auf einer alten Holzbrücke. Sie schauten flussaufwärts über die weiten Wiesen und Weiden. Aus dem hohen Gras am Fluss wehte Gesang herüber, breit und zerdehnt:… in dem großen Wartesaal, Schatz, da sehn wir uns das allerletzte Mal’. Das Lied brach ab, setzte neu ein, verhielt wieder und schwieg ganz. Peter kannte sich aus. „Das ist Willem. Der ist nicht ganz richtig im Kopf. Der treibt sich immer am Fluss herum. Singt, murmelt vor sich hin, und dann liegt er manchmal platt an die Erde gedrückt und schreit und schreit. Dann, nach einer Weile des Schreiens, ist er still. Er liegt ganz ruhig da, als sei er bewusstlos, und dann richtet er sich plötzlich auf, blickt um sich und geht weiter.“ „Woher kommt denn sein Leiden?“, fragte der Vater. „Er war im Krieg verschüttet, mit einer schweren Kopfverletzung. Als er auf den Hof zurückkam, erkannte er keinen, bis heute nicht. Nicht einmal seine Braut. Er war der Hoferbe, aber das ging wohl alles nicht mehr. Er kennt auch keine Wörter, nur ein paar vom Militär und dieses Lied, aber nur den Teil, den wir gerade gehört haben. Einmal habe ich ihn beobachtet Er kniete dicht am Wasser und streichelte es, ja, so richtig streicheln,
wie man einen Hund streichelt oder eine Katze. Manchmal glaube ich, die warten alle darauf, dass er ins Wasser fällt und ertrinkt. Er tut nichts Böses, aber alle gehen ihm aus dem Weg. Sie wissen nicht, was sie mit ihm anfangen sollen.“ Sie verließen die Brücke und gingen am Fluss entlang in Richtung auf den im Gras verborgenen Mann. Der saß dicht am Wasser und ließ seine Beine hineinhängen, mit Schuhen und Hose. Als er die drei bemerkte, sprang er blitzschnell auf, nahm eine stramme Haltung an und legte die rechte Hand an die Stirn. Er rief: „Zu Befehl, Herr Leutnant, keine besonderen Vorkommnisse!“ Sie gingen an ihm vorbei und er verharrte noch lange in dieser Haltung. Plötzlich war hinter ihnen Geschrei: „Volle Deckung, volle Deckung, Granaten!“, und sie sahen ihn auf den Boden gepresst daliegen, die Hände in das Gras gekrallt. Er schrie, er wimmerte. „Wir können ihm nicht helfen. Wir haben ihn in den Krieg zurück getrieben. Jede Bemühung verstört ihn noch mehr. Wir müssen ihn einschlafen lassen.“ Allmählich wurde das Schreien weniger, ging über in ein Wimmern und dann war es still. „Gleich wird er aufwachen und von nichts mehr wissen“, sagte Thomas’ Vater. „Und wie viele Männer gibt es in Deutschland, die nachts schweißgebadet in einem Albtraum ,Volle Deckung, volle Deckung’ schreien oder ,Gas? Dann rüttelt die Ehefrau ihn wach, aber er murmelt nur ,Es war nichts’ und am nächsten Tag wird dieser nächtliche Vorfall nicht wieder erwähnt. Wir haben nichts gelernt aus dem Krieg. Dem Mörder an Leib und Seele hat man sofort ein Prunkgewand übergeworfen in allen nationalen Farben. Kamerad Tod – welche Ehre mit ihm
gestritten und überlebt zu haben. Stolz, Eitelkeit und nationale Verbohrtheit. Die Toten wurden zu Helden erklärt und jede Bauernschaft hat ein Kriegerdenkmal, wo man jährlich dieser Helden gedenkt. Nur dieser arme Irre hier, ist das auch ein Held? Müsste man den nicht eigentlich jedes Jahr mit einem Lorbeerkranz bekränzen? Aber er ist peinlich, weil er nicht vollständig den Weg zum Heldentod gefunden hat. Die Toten liegen unter der Erde und schweigen, aber dieser hier, zwischen dem Wartesaallied und seiner Granatenangst, der erinnert sie an was. Ihm gehen sie aus dem Weg, weil sie ein schlechtes Gewissen haben. Was denkt eigentlich ein Frontkämpfer von damals, wenn er die Nachricht erhält, sein Sohn sei gefallen, sein zweiter, sein dritter Sohn? Der Tod und das Leiden der Söhne heute: Die Väter haben ihn verursacht.“ Die drei saßen auf einem kleinen Hügel und schauten über den Fluss. Der Vater sprach erregt, das hirngeschädigte Kriegsopfer hatte ihn außer Fassung gebracht. Die Jungen spürten seine Erbitterung aus den Worten heraus, doch die Worte glitten so schnell an ihnen vorbei, dass sie die Erklärungen nur bruchstückhaft verstanden. Peter behielt den letzten Satz gut in Erinnerung. Dann wäre Vater Schuld daran, dass Franz in diesem schrecklichen Foltergerät in Stendal lag und womöglich nie wieder Sport treiben konnte. Was hatte Vater denn versäumt? Und das fragte er jetzt. „Wenn alle Frontkämpfer gesagt hätten: Nie wieder Krieg, nie wieder einen Kaiser oder Alleinherrscher. Wenn sie mit Überzeugung zur demokratischen Grundauffassung der Weimarer Republik gestanden und dafür gekämpft hätten. Weißt du, Peter, du bist noch zu jung und zu weit weg von diesen Dingen, um es dir im Einzelnen erklären zu können. Nach dem Krieg wirst du es genauer erfahren. Ich hoffe, dass die Menschen dann lernen, umzudenken. Aber ich weiß jetzt schon, zwei Demokraten habe ich bereits gefunden, auch wenn
ihr nicht wisst, was das ist.“ Er stand in ihrer Mitte und hatte seine Arme um seine beiden Jungs gelegt. Sie setzten ihre Wanderung fort in Richtung eines Toten Arms. Peter wollte dem Vater zeigen, wo sie im Winter Schlittschuh liefen, wenn der Fluss oder die überschwemmten Wiesen noch nicht zugefroren waren. „Warum verfolgt man die Juden?“, fragte Thomas. „Oh, das ist ein weites Feld, wie Fontane gesagt hätte. Denen hängt von alters her immer noch das Vorurteil an, Jesus ans Kreuz geschlagen zu haben. So glaubt jeder, sie seien ein von Gott zur Bestrafung ausersehenes Volk und machen sie für alle Katastrophen, Missstände und Minderwertigkeitsgefühle verantwortlich. Dafür darf man sie bestrafen. Je primitiver ein Volk denkt, desto mehr braucht es Sündenböcke für alle wirtschaftlichen und politischen Missstände, die von solch einem primitiven Denken verursacht werden. Nur in einem Staat mit demokratischen Grundregeln und der Möglichkeit, differenziert zu denken und dieses Denken auch zu tolerieren, haben Juden eine Lebensmöglichkeit. Das war z. B. in der Weimarer Republik möglich. Aber die Nazis sind primitiv. Weil sie wissen, dass sie niemals eine Weltmacht werden können – was sie so gerne wären – machen sie dafür die Juden verantwortlich. Besonders die in Amerika und England. Aber da kommen sie nicht ran. Und so greifen sie erst mal alle Juden in ihrem Machtbereich auf und löschen sie aus. Sie sind drauf und dran, ein Volk auszulöschen.“ Sie standen an dem Altarm, der wohl 200 Meter lang einen weiten Bogen um den begradigten Fluss machte. Das Gewässer war schmal geworden, zugewachsen an den Seiten, ungeeignet zum Baden, weil es zu flach war und modrig auf dem Grund. Ein stehendes Gewässer, aber zum Schlittschuhlaufen bestens geeignet. Es trug schon festes Eis, wenn der Fluss noch offen war. Ein Winterparadies für die Dorfkinder.
Peter dachte, ob er wohl im kommenden Winter so unbeschwert und fröhlich auf dem Eis spielen konnte, nachdem er mittlerweile so viel erfahren hatte. Auch beim Baden im Fluss gab es Augenblicke, in denen er zur Eisenbahnbrücke hinstarrte, und da stand dann der Güterzug mit den vergitterten Fenstern und den ,Wasser, Wasser’-Rufen. Dieses Wissen war eine Last: der Krieg mit seiner Angst, die Alarme, die Bedrohung, die Gefallenen und Verwundeten, die man kannte und die man gern behalten hätte, die Zahl der Fotografien auf dem schwarzen Klavier nahm zu, der Besuch in Stendal, der Judentransport, die Worte von Thomas’ Vater. Ringsum Kriegsgeschrei, das das Kinderspiel begleitete. Was müsste es in Friedenszeiten für ein herrliches Kinderleben geben! „Hast du als Kind den Frieden erlebt?“, fragte Peter Thomas’ Vater. „Oh ja, die ganze Kindheit hindurch und auch als junger Mann noch. Wir lebten in unserer eigenen Welt. Natürlich schrieben die Erwachsenen uns vor, was wir zu tun und zu lassen hatten. Aber von dem, was in der Erwachsenenwelt passierte, bekamen wir wenig mit. Der Krieg war ja schon lange vorbei. 1870/71. Jedes Jahr gab es als Erinnerung Siegesfeiern, der Sedanstag, und von der neuen Flottenpolitik bekamen wir nur etwas durch die Matrosenanzüge mit, mit denen jedes Kind am Sonntag zwangseingekleidet wurde. Schrecklich kratzige Dinger, diese Bleyle-Anzüge. Wahrscheinlich wäret ihr beide froh, wenn ihr heutzutage nur dieses Kratzige zu tragen hättet, aber leider hat man euch mehr aufgebürdet. Ihr seid ja nun keine Kinder mehr. Natürlich altersmäßig schon, aber von den Erlebnissen und Erfahrungen her steckt ihr längst in der Erwachsenenwelt. Wenn du ein Kind bist, stehst du unter einem Zauberbann in einem ganz eigenen Reich, von dem die umgebende Welt der Erwachsenen abprallt. Das Kinderland ist ein Paradies. Manchmal dauert es
lange, bis die Erwachsenen da hineinbrechen. So wie bei mir. Aber wenn die Not der Zeit so groß wird, dass sie den Älteren über den Kopf wächst, dann schwappt schon früh etwas davon auch in euer Kinderreich. Heutzutage geht das schnell, der Krieg, weißt du. Das Besondere für euch ist aber, dass noch niemand gemerkt hat, dass ihr schon lange Mitwisser der Erwachsenen seid. Nur dürft ihr das nicht äußern. Ihr müsst euer Wissen für euch behalten. Ein Kind bist du, solange du auf dem Kinderkarussell deinen Träumen nachjagst, und die Eltern und die anderen Erwachsenen stehen dabei und schauen lächelnd deinem selbstvergessenen Tun zu. Dieses Zuschauen ist wichtig, aber wenn die Großen diese Zeit nicht mehr haben, wenn sie vor Geschäftigkeit, Desinteresse oder auch Angst hierhin und dorthin rennen oder wenn ein schlimmes Ereignis neben diesem Karussell die Kinder aus ihren Träumen reißt, ja, dann ist so eine Traumfahrt im Kinderland rasch zu Ende. Dann steigt man enttäuscht ab und stellt sich in die Reihe der Großen und entdeckt, dass dieses Paradies nur ein klappriges Karussell mit Holzpferden war. Eigentlich sind Kinder kleine Wunder. Das hat uns damals unser Professor gesagt. Sonderbar, sie werden nur selten große Wunder. Da ist immer etwas, das ihre Entfaltung stört und behindert. Vielleicht genügt schon ein winziges Staubkorn, um die Knospe am Aufblühen zu hindern.“ Am nächsten Nachmittag gingen die drei erst sehr spät los. Der Rückflug der Bomber dauerte und Thomas’ Mutter hatte ihren Mann gebeten: „Bleib noch. Ich will mich nur an dich lehnen und keine Angst haben.“ Und so blieb denn die Familie beisammen, bis der letzte Feindbomber das Reichsgebiet verlassen hatte und es Entwarnung gab. Aber dann ging es mit großen Schritten los. „Nun sind die Terrorflieger wieder zu Haus und trinken ihren Tee“, meinte
Peter und blinzelte zu Thomas hinüber. Doch der ging auf die Teezeremonie nicht ein, sondern sagte: „Terrorflieger, Terrorflieger! Was lernen wir nur für sonderbare Wörter. Terrorpilot! Wenn ich dir das zwanzigmal sage, vergisst du, welche anderen sachlichen Bezeichnungen es dafür gibt.“ „Ja“, ergriff der Vater das Wort, „es sind geradezu mörderische Worte. Das sind nicht einfach nur Begriffe, die etwas bezeichnen. Nein, mehr, sie fordern dich geradezu auf, etwas Bestimmtes zu denken und zu tun. Einen Terrorpiloten erschlägst du leichter als einen amerikanischen Flugzeugführer.“ Thomas unterbrach ihn: „Und dann die anderen Wörter: Explosivgeschoss, Amputation, Prothese und Rollstuhl.“ Und Peter ergänzte: „Nahkampf, Flächenbombardement, auslöschen, ausradieren, Heldentod, Soldateska, Verjudung und Judenpack.“ Die beiden Jungen gerieten in Eifer und sie fanden immer neue Begriffe. Es fiel ihnen leicht. „Mein Gott“, sagte Thomas, „die besetzen ja unseren ganzen Wortschatz!“ „Das ist noch nicht das Schlimmste“, meinte Thomas’ Vater, „sie prägen unser Denken. Wenn du zehnmal Judenpack gesagt und gehört hast, dann glaubst du es auch, dass Juden ein Packvolk sind.“ Thomas hatte gleich eine probate Lösung: „Nach dem Krieg schmeißen wir sie alle auf den Müll und suchen uns neue.“ „Da sei vorsichtig“, meinte der Vater, „das sind nicht einfach Dinge, die auf dem Tisch liegen und die man wegschmeißen kann. Diese Wörter haben Wurzeln. Du reißt die Pflanze ab, aber nicht die Wurzeln. Du wirst das Wort Explosivgeschoss nie vergessen und in dreißig Jahren, wenn du einmal auf jemanden sehr böse bist, wirst du ihm wünschen, dass ein Explosivgeschoss seine Seele zerreiße. Eben erwähntest du das Wort ‚ausradieren’, eine ganz harmlose Tätigkeit, aber jedes
Mal, wenn ich nach dem Radiergummi greife, fallen mir die Städte ein, die ausradiert werden sollen. Unsere Wörter werden doppeldeutig, und das nicht zu unserem Besten. Wir leben in einer Sprache von Krieg, Tod, Verwundung, Trauer und Zerstörung.“ „Gibt es eigentlich auch noch eine andere Sprache?“, fragte Peter. „Ja, aber sie kann uns heute nicht helfen: Ich meine die Sprache unserer Dichter.“ Und er begann zu zitieren: „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte, süße wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land. Veilchen träumen schon, wollen balde kommen. Horch, von fern ein Harfenton! Frühling, ja, du bist’s. Dich hab ich vernommen!“ „Sind das nicht schöne und andere Bilder, wie der Frühling leicht und unbeschwert über das Land geht und dabei sein blaues Band flattern lässt? Aber durch unser blaues Band fliegen die Terrorbomber, statt der Veilchen lauert die Angst vor dem nächsten Tag, und die Sirene übertönt den Harfenton. Man kann solche Gedichte heutzutage nicht gebrauchen. Sie trösten nicht mehr, sie bilden nicht mehr die heutige Welt und die Seele des Menschen ab. Das Explosivgeschoss der Angst hat es zerrissen. Wenn der Krieg vorbei ist – dann – “, und er blickte lange über das Feld hinweg, neben dem sie gerade über einen Feldweg entlanggingen. „Oder hört euch mal dieses Gedicht an: ,Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben: Schau an der schönen Gärten Zier, und siehe, wie sie mir und dir sich ausgeschmücket haben. Die Lerche schwingt sich in die Luft, das Täublein fleucht aus seiner Kluft…’ Das ist die Ahnung von einer anderen und besseren Welt. Wo sollen wir aber in dieser lieben Sommerzeit Freude an Gottes Gaben suchen? Im nächsten Augenblick heult die Sirene, klopft der Briefträger mit einer schlimmen Nachricht an die
Tür, das Telefon schrillt und berichtet von einer schlimmen Katastrophe. Und in jedem Haus lauert die Angst.“ „Oh“, rief Peter, „ich kenne auch ein Gedicht, das klingt so ähnlich.“ „Na, dann sag’s mal auf“, meinte der Vater neugierig. „Schlummernd lagen Wies und Hain, jeder Pfad verlassen; niemand als der Mondenschein wachte auf den Straßen.“ „Woher kennst du denn das?“, fragte einigermaßen erstaunt der Vater, „das ist ein bekanntes Gedicht von Nikolaus Lenau ,Der Postillion’, das ist aber ungewöhnlich, dass du das kennst.“ „Ich kenne nur diese Strophe, meine Lehrerin hat sie unter meinen Aufsatz als Schluss geschrieben. Wir sollten ein Erlebnis am Abend oder im Dunkeln erzählen. Und da hab ich den Heimweg nach der Jagd am Abend beschrieben. Wir mussten von Holtmanns, wo wir die Beute geteilt hatten, noch einige Kilometer nach Hause laufen. Ein halber Mond schien, und so war noch einiges zu sehen. Das habe ich alles beschrieben, das Feld, das Flusstal, die Schatten, Geräusche, was Vater alles geschossen hatte und wie glücklich ich war. Und zum Schluss habe ich erzählt, dass ich mich, als wir die ersten Häuser erreichten, noch einmal umblickte und in die Landschaft schaute. Ein gelungener Schluss, wie ich meinte, und darunter hatte sie dann die Strophe gesetzt. Darüber war ich wütend. Ich fand das gemein, meinen Aufsatz so zu ergänzen. Natürlich kann ich nicht mit einem Dichter konkurrieren. Was ich geschrieben habe, habe ich gesehen. Und der Dichter war doch gar nicht dabei. Ich habe das Gedicht auswendig gelernt. Ich wollte es zertrampeln.“ Seine beiden Zuhörer lachten. „Hast du es zertrampelt?“, fragte Thomas. „Nein, das war ganz komisch. Vor einiger Zeit kamen Vater und ich wieder diesen Weg entlang. Es war Abend, und der
Vollmond schien. Es war hell und alles deutlich zu sehen. Nach rechts fiel das Flusstal ab, jenseits des Flusses stiegen die Wiesen wieder an und dahinter stand der Wald. Links der Straße wölbte sich das Feld, einige Wege führten hinauf. Über dem Flusstal war es ganz friedlich, eine dünne Nebeldecke lag darüber. Plötzlich fiel mir der Vers ein, schlummernd lagen Wies und Hain. Ja, tatsächlich, sie schliefen. Auch auf den Pfaden bewegte sich nichts. Der Mondschein lag darüber. Er passte auf, dass alles friedlich blieb. Meine Güte, sollte der Dichter doch schon mal hier vorbeigekommen sein? Er öffnete mir die Augen. Ich sehe die Landschaft plötzlich anders, als ich sie vorher gesehen habe. Wiesen und Wälder sind nicht einfach nur eine schwarze Masse und eine plane Ebene. Sie schlafen. Wie Menschen. Ich kann sie verstehen. Sie sind mir nicht mehr fremd. Der Mond wachte. Es gab nichts zu befürchten. Man musste keine Angst haben. Ich war kein Fremder mehr, wenn ich auf der Jagd durch diese Landschaft ging. Und wenn ich diese Zeilen aufsagte, dann erschien genau dieses abendliche Bild vor meinen Augen und ich war glücklich. Deshalb habe ich dieses Gedicht auch nicht zertrampelt.“ Thomas und der Vater lachten. „Das hast du schön beschrieben“, staunte der Vater, „aber denk dran, jedes Wort ist nur eine Deutung, eine Vermutung über die Realität. Beschreiben kannst du sie nicht damit. Das Wort hat eine magische Fähigkeit, es ruft, und dann tauchen aus deinem Inneren die Bilder auf, die du von der Wirklichkeit hast. Wenn du ,Wald’ sagst, dann hat jeder von uns dreien eine andere Vorstellung. Thomas denkt an sein Leseversteck im Wald, du vielleicht an die Waldecke, wo dein Vater den Rehbock geschossen hat, und ich denke an die weiten Spaziergänge mit Mutter durch den Spessart.“
„Aber ‚Explosivgeschoss’ ist eindeutig“, rief Peter. „Nein, ich glaube, dein Bruder denkt etwas ganz anderes dabei als du.“ Ein paar Tage später war der Urlaub zu Ende. Thomas und Mutter brachten Vater zum Nachmittagszug. Peter hatte sich am Abend vorher von ihm verabschiedet. Mit viel Herzklopfen und großer Verlegenheit. Doch der Vater hatte das leichthin abgefangen. „Beim nächsten Mal machen wir wieder lange Spaziergänge und reden. Und bis dahin seid ihr fleißig und sperrt Augen und Ohren auf. Und natürlich den Kopf.“ Da hatten sie alle gelacht und Peter hatte gesagt: „Zu Befehl, Herr General!“ Peter ging nicht mit zum Bahnhof Dort störte er nur. Dies war eine Angelegenheit der Familie. Aber kurz bevor der Zug einlief, stand er am Bahnhofsgebäude und winkte zum anderen Bahnsteig hinüber. Dann verschwand er. An diesem Nachmittag trafen sich die Freunde nicht mehr. Die Nachmittags stunden verbrachten die beiden Jungen häufig auf dem Holzlager der Sägerei. Sie beteiligten sich noch an den Spielen der anderen Kinder, aber erkennbar ohne viel Begeisterung, so dass auch die anderen Spielkameraden keine rechte Lust mehr hatten und lieber Geschichten erzählt haben wollten. Das machte Thomas immer noch gerne. Häufig blieben die beiden Freunde aber auch ganz allein. Die anderen Kinder mussten zu Hause mithelfen, Geschwister beaufsichtigen, oder es war Vollalarm. Dann mussten sie in der Nähe des Elternhauses bleiben. Für die beiden galt das nicht. Sie saßen in einer bequemen Nische zwischen den Holzstämmen und erzählten sich was. „Hier sind wir so sicher wie in einem Bunker, da müsste die Bombe schon direkt reinfallen“, meinte Thomas, „außerdem haben sie jetzt keine Bomben mehr.“
Der Rückflug der alliierten Flugzeuge vollzog sich in größter Ordnung und ohne Störungen. Lücken waren in den Verbänden kaum zu erkennen. Die Verluste waren wohl sehr gering. Das über Deutschland ausgeworfene Netz des Luftkriegs wurde enger und enger und senkte sich tiefer und tiefer herab. Die Tieffliegerangriffe nahmen zu. „Wenn das so ist“, meinte Thomas, „dass die SS Menschen ermordet und quält, vor allem die Juden, dann sind die Bombenangriffe ja wohl berechtigt. Und auch, dass die Alliierten sich wehren. Überhaupt, wer soll am Ende eigentlich siegen? Deutschland, die deutsche Wehrmacht, die Nazis? Vater hat mir erzählt, wie sinnlos er es empfindet, die 8,8 cm Granaten gegen die anfliegenden Bomber zu schießen. Die Erfolge sind minimal, sie verzögerten allenfalls den Anbruch einer neuen Zeit ohne Angst und Uniformen. Und ohne Hitler und Nazitum.“ „Ja, sollen uns die Russen denn erobern?“, fragte Peter. „Mein Bruder hat mir gesagt, die Russen seien rohe Barbaren, die man am besten ausrotten sollte und die niemals nach Europa kommen dürften.“ „Sie sind keine Barbaren“, antwortete Thomas bestimmt, „sondern ein Kulturvolk. Aber es sind Kommunisten und die sind genau so schlimm wie die Nazis. Keine Demokraten. Vater sagte mir das letzte Mal, es wird Zeit, dass die Engländer und Amerikaner aufs Festland kommen.“ „Die Invasion, meinst du? Das schaffen die nie, der Atlantikwall steht, da kommt keiner durch“, rief Peter. „Tscha, dann müssen uns eben die Russen von den Nazis befreien“, meinte Thomas. Die ungestört ein- und ausfliegenden Bomberströme demütigten, und wenn Mölders, Galland, Hartmann oder die anderen alle wieder einmal einen neuen Orden erhalten hatten, dann begeisterte das die beiden Jungen nicht mehr. Man hätte
Hunderte von Hartmanns und Gallands gebraucht, um diese Angriffe abzuwehren. Möglicherweise waren die Abschusserfolge gar nicht gegen die anfliegenden alliierten Bomber erzielt, sondern an der russischen Front, wo angeblich die Ratas beim Anblick eines deutschen Flugzeugs automatisch vom Himmel fielen. Aus den Bomberströmen mit ihrem Jagdschutz einen Bomber herauszuschießen, das musste, jedes für sich betrachtet, eine Heldentat sein, die man nicht beliebig 250-mal wiederholen konnte. Das ließ sich mit bloßem Auge erkennen. Das hieß, mit einem Karabiner einen Panzerzug zum Stehen zu bringen. Die Angriffe auf das Ruhrgebiet nahmen zu, besonders in der Nacht Thomas’ Mutter machte sich Sorgen. Doch dieser meinte, die Flakstellungen würde man schon nicht angreifen, das wäre reiner Selbstmord, und außerdem gäbe es lohnendere Ziele. Thomas ging schon im dritten Jahr zur Oberschule in der 15 km entfernten Kreisstadt. Nun kam Peter ihm nach und der war froh, dass er einen Freund dabei hatte, der ihm das Einleben in dieser für ihn so fremden Welt erleichterte. Der Montag begann immer mit einer Flaggenhissung. Dabei standen alle Schüler, nach Klassen geordnet, im Karree auf dem Vorplatz. Sprüche wurden aufgesagt und dann erfolgte das Hissen der Hakenkreuzfahne, begleitet von den üblichen Liedern und dem obligaten Armheben. Thomas sprach immer von der Karreefeier. Überhaupt schienen alle Naziveranstaltungen im Karree zu erfolgen, das war die übliche Formation. „Damit die Fahne nicht fahnenflüchtig wird“, spottete Thomas. Auch am Beginn und Ende einer Unterrichtsstunde stand der Hitlergruß. Das kannte Peter von der Volksschule seines Dorfes nicht. Seine Lehrerin war von den Nazis zwangspensioniert worden, weil sie sich geweigert hatte, dem nationalsozialistischen Lehrerverband beizutreten, und weil sie auch sonst katholische Bedenken gegen die neuen
Machthaber hatte. Doch jetzt wurde sie wieder zwangseingestellt, weil die männlichen Lehrer den Bolschewismus an der Front abwehren mussten. Diese Lehrerin kriegte beim besten Willen den rechten Arm nicht hoch. Daher wurde am Morgen gebetet. Aber sie brachte ihren Schülern auch das Lied bei: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ…“ An der Oberschule dagegen wurde fleißig gegrüßt. In der Gemeinschaft machte Peter das Arm- und Handaufheben und Heil-Hitler-Schreien nichts aus. Die Fahrschüler durften gegen Ende der letzten Stunde den Unterricht früher verlassen, um noch rechtzeitig den Mittagszug zu erreichen. Dann war es Peter schon peinlich, wenn die sechs Schüler einzeln an der Tür standen, die Augen zum Lehrer gerichtet und mit der üblichen Geste Heil Hitler rufen mussten. Thomas meinte, das sei Gewohnheitssache, und er hatte Recht. Im Herbst gab es die Kartoffelferien und zu Hause lagen schon seit Tagen die Bescheide der Gemeindeverwaltung, dass pro Haushalt jeweils für fünf Tage eine Person zum Kartoffelsuchen abzustellen sei. Und es war klar: Diese Aufgabe hatten die beiden Jungen zu übernehmen. Als sie vom Bahnhof nach Hause zurückkehrten, machten sie ab, dass sie auf jeden Fall zusammenbleiben wollten, wenn es zur Verteilung auf die Bauern ging. Sie waren alle in der Küche versammelt, als Peter nach Hause kam. Mutter, Agnes, seine zwei Schwestern und die Nachbarin. Sie schwiegen und machten bedrückte Gesichter. Bis Mutter schließlich sagte: „Es ist etwas Schlimmes passiert. Thomas’ Vater ist gefallen.“ Das war ungeheuerlich. Das war ein harter Schlag gegen die Brust. Das war betäubend, noch ohne Schmerz, nur gehört, unbegreiflich, aber Tatsache. Das erreichte noch nicht das Auge, keine Tränen, etwas saugte ihm die Luft aus dem Brustkasten, leer, leer, Verlust, Verlust.
Alle um ihn herum begannen nun zu weinen, vielleicht weil sie ihr eigenes künftiges Schicksal ahnten. Peter fragte, wie? Das war einfach nur so eine Reaktion. Beim letzten Großangriff war ein Bomber mit seiner vollen Bombenladung in die Flakstellung gestürzt und explodiert. Peter ging auf sein Zimmer. Ja, ja, in alle Winde zerstreut. Aber dieser Mund hatte noch vor einiger Zeit zu ihm gesprochen, die Hände seine Schulter umfasst, und die Augen und das Gesicht hatten ihn angelächelt. Der hatte ihn ernst genommen, der hatte ihm zugehört und der hatte den verborgenen Sinn hinter den Geschehnissen ein wenig sichtbar gemacht. Nun war das in alle Winde zerstreut, nun hatte ihn einer verlassen, der ihm später Wege und Ziele erklärt hätte. Er hatte gar nicht gewusst, was für ein gewaltiger Baum da um ihn herum hochgewachsen war. Und nun war der gefällt. Wenn Georg jetzt da wäre. Am Nachmittag ging er zur Sägerei, setzte sich auf den vermodernden Pappelstamm zwischen den Brennnesseln und wartete. Thomas kam eine Viertelstunde später. Er setzte sich neben Peter. Sie berührten sich nicht, sie sprachen kein Wort, sie sahen geradeaus und aus ihren Augen liefen die Tränen. Eine Zeitlang saßen sie so, über sie hin zogen statt der Bomberströme lichte, leichte Haufenwolken. Dann stand Thomas auf und sagte: „Morgen fahren wir zur Totenfeier. Es wird einige Tage dauern, bis wir zurück sind. Es gibt noch einiges zu erledigen.“ Peter leistete seinen Kartoffelsuchdienst bei verschiedenen Bauern ab. Einige Male flogen Bomberverbände über die Arbeitenden hinweg. Aber die Fliegenden Festungen wurden nicht angegriffen, so dass ein Absturz nicht zu befürchten war. Es bestand keine Gefahr. „Ich hatt’ einen Kameraden, einen bess’ren find’st du nicht“, sang Peter dann und wann leise, während er in seinem Pant die Kartoffeln aufsuchte. Er war ein flinker Sucher, er stellte sich
vor, die offen auf der Erde liegenden Kartoffeln seien Menschen, die er möglichst schnell in den rettenden Bunker bringen musste, bevor die Bomben auf sie fielen. Abends auf dem Heimweg sagte er für sich das Gedicht auf: ,Schlummernd lagen Wies und Hain’, das hatte der Vater noch gehört, das hatten sie besprochen, das war ein Band, an das eine glückliche Erinnerung geknüpft war. Dann wurde die Trauer weniger, dann war es so, als ob der Vater wieder neben ihm stand und ihm einen Weg zeigte. Thomas hatte sicher viele, viele Erinnerungen, in denen er mit seinem Vater leben konnte. Aber es kam in diesen Tagen noch eine weitere schlimme Nachricht. Ein Bruder von Agnes, der Hausgehilfin, war gefallen. Schon zu Beginn des Russlandfeldzuges war ein anderer von den drei Brüdern als vermisst gemeldet worden. Der konnte auch in Gefangenschaft geraten sein. Und seitdem saß sie jeden Abend heimlich vor dem Radio und hörte BBC, dort wurden die Namen von Gefangenen durchgegeben. Auf Abhören stand das Todesurteil, aber die Hoffnung war größer als die Angst. Doch dieser Bruder war tot, amtlich, nicht mehr als Lebender notiert, lag irgendwo in russischer Erde, als Ganzes oder zerrissen. Da gab es keine Hoffnung. Peter hatte auch diesen Bruder gut gekannt. Oft, an den langen hellen Sommertagen, saß Agnes’ Familie draußen vor dem Haus unter der riesigen Blutbuche und Peter war häufig dazugekommen. Dann war er auch hier der jüngere Bruder, dem sie etwas erzählten. Was so in der Schmiede geschah, wie ein Pferd beschlagen wird, wie man die eisernen Reifen um die Holzräder für die Pferdewagen legt, auch vom Militär berichteten sie, und dann kam auch Agnes’ Vater in Erzähllaune und schilderte seine Erlebnisse 1914/18 in der Fuhrparkkolonne in Galizien, Polen, Russland, Serbien und Mazedonien. Wie er die Eroberung von Belgrad erlebte und schließlich an der Malaria erkrankte. Dann hörten auch die
Söhne mit Respekt zu und mögen sich gedacht haben, wenn wir das noch alles leisten sollen, dann müssen wir noch viel tun. Aber nun hatten sie keine Gelegenheit mehr, Ruhm zu erwerben. Die Todesnachricht war am frühen Nachmittag vom Pastor überbracht worden und Agnes wurde in ihr Elternhaus gerufen. Sie kam an diesem Tag nicht wieder zurück. Agnes war in den letzten Jahren zunehmend Peters Vertraute geworden. Da gab es Sorgen, Probleme, Fehler, die er gemacht hatte. Alle verlangten sie ein offenes Ohr, möglichst auch Verständnis und vielleicht auch einen hilfreichen Rat. Agnes war verschwiegen und eine lebensnahe Frau, die immer etwas Passendes bereit hatte und Peter aus mancher inneren und äußeren Klemme befreite. Seinen Geschwistern und seiner Mutter – erst recht nicht seinem Bruder oder Vater – vertraute er sich nicht an. Sie sollten ihn weiterhin für den strahlenden, problemlosen, munteren Helden der Familiensaga halten, der alle Liebe und Zuneigung verdiente und sie natürlich auch forderte. Peter hatte ihr auch von Thomas’ Vater erzählt, und sie wusste, wie sehr er mittlerweile an ihm hing und was er ihm bedeutete. „Ja“, sagte sie, „es ist schön, wenn man viele Menschen hat, die man liebt und die einen auch lieben. Das ist, als ob man auf Wolken schwebt oder als ob man auf allen Wegen von vielen Schutzengeln begleitet wird und keine Angst haben muss. Weißt du, die Schutzengel der anderen Leute beschützen dich dann auch. Meiner passt auch auf dich auf. Natürlich, wenn man einen von diesen Menschen verliert, dann ist das so, als hätte man alles verloren. Das ist ganz schrecklich. Es ist auf einmal finster, und man weiß nicht, woher man das Licht wieder nehmen soll. Aber vielleicht bleibt einem doch der Schutzengel des Toten erhalten.“ Das mit den Schutzengeln erschien Peter nicht so glaubhaft, obwohl es im Katechismus als Glaubenslehre stand. Seine
Paradiesbäume hatten sich in der Vergangenheit auch nicht so richtig bewährt. Was sich da so zwischen Himmel und Erde abspielte, das war doch höchst ungewiss. Gewiss waren nur die Wolken, der Regen, der Schnee, die Sonne, die Vögel und natürlich die Fliegenden Festungen, Spitfire, Thunderbolts und Mustangs. Am anderen Morgen nach der Todesnachricht erschien Agnes wieder im Haus, wie sonst. Peters Mutter und seine drei Schwestern waren noch gestern hinübergangen und hatten Agnes und den Eltern ihr Beileid ausgedrückt und sie zu trösten versucht. Peter war nicht mitgekommen. So traurig auch alles war, aber an diesem formellen Ritual ,Mein herzliches Beileid’ mochte er sich nicht beteiligen. Das drückte seine Trauer einfach nicht aus. Agnes nahm am nächsten Morgen wieder die übliche Arbeit auf, als sei nichts geschehen. Peter hatte ihr, als er am Morgen zum Frühstück herunterkam, ganz eben mit seiner Hand über den kleinen Finger gestrichen, als sie ihm das Brot hinlegte, sie aber nicht angeblickt und war auch bald wieder verschwunden. Am Nachmittag – der Kartoffelsuchdienst fiel heute aus – ging Peter in den Garten zur Laube auf die Bank. Es war ein warmer Herbstnachmittag. Er dachte an Thomas, jetzt hätten sie auf den Holzstapeln gesessen und sich etwas erzählt. Was er jetzt wohl machte? Ob man den Vater wiedergefunden hatte oder ob er auseinander gerissen irgendwo lag? Er sagte wieder leise das Gedicht auf und dachte, dass der Schutzengel das Gedicht ja kennen müsse, wenn der Vater je einen Schutzengel gehabt habe. Verlässlich war er wohl nicht, wie all die anderen von den Soldaten in der Flakstellung, und auch die Engel der Bombenbesatzung hatten nicht aufgepasst. Soviel Schutz ringsum, und dann war doch noch alles schiefgegangen. In diesem Augenblick kam Agnes in den Garten. Sie hatte einen Spaten in der Hand und wollte die abgeernteten Beete
oberflächlich umgraben. Als sie Peter da so sitzen sah, stieß sie den Spaten in die Erde, kam zu ihm her und setzte sich neben ihn. Sie wusste – als einzige im Haus – dass der Tod von Thomas’ Vater ein großer Verlust für Peter war. Sie nahm seine Hand und sagte nach einer Weile: „Wir müssen uns in Gottes Willen fügen. Herr, dein Wille geschehe!“ Damit stand sie auf, nahm den Spaten und begann ihre Arbeit. Und Peter dachte: Jetzt wird sie weinen und bei jedem Spatenstich daran denken, wie sie ihren Bruder begräbt. Und dann stand da noch der Satz: Herr, dein Wille geschehe. Den betete man im Vaterunser so gedankenlos dahin, er gehörte zum Gebetsritual der Messe, immer wieder gehört, immer wieder gebetet und nie darüber nachgedacht. Das war das übliche Wortgeklingel wie die anderen Zeremonien. Aber hier nahm jemand diese Worte ernst, ganz demütig nahm hier jemand Gottes Willen an. Gott wusste, was er wollte, alles Geschehen kam von Gott, er lenkte es, und man hatte sich seinen Plänen zu unterwerfen. So also besiegt man am Ende den Tod, den Verlust, die Niederlage, den Schmerz, die Trauer. Ein solcher Satz hebt den Gestrauchelten wieder auf und lässt ihn seine Lebensbahn weiter laufen. Wie alt müsste man werden, um das zu können? Peter stand auf und ging zu Agnes hinüber. „Soll ich dir helfen?“, fragte er. „Ja, wenn du willst, hol dir den anderen Spaten aus dem Haus und grab die Strünke raus.“ Peter machte sich an die Arbeit. Er fühlte sich in Agnes Nähe getröstet und geborgen. Einige Tage vor Ferienende kamen Thomas und seine Mutter zurück. Sie würden jetzt endgültig bis zum Ende des Krieges hier wohnen bleiben. Sie brachten nichts mit. Bei diesem Angriff wurden auch das Wohnhaus und die Bäckerei zerstört. Am nächsten Morgen erschien Thomas in Peters Elternhaus.
Die anderen drückten ihm die Hand und Mutter sagte irgendwelche tröstlich klingenden Worte. Auch Peter gab ihm die Hand. Dann gingen sie auf Peters Zimmer. Thomas übergab ihm ein Taschenmesser. „Vater hat es hier gelassen. Ich sollte es dir zu Weihnachten schenken. Ich glaube aber, dass es Vater recht gewesen wäre, wenn ich es dir jetzt schon gebe.“ Es war ein schmales, ganz aus silbernem Metall bestehendes Messer mit einer langen und einer kurzen Klinge, einer Feile und einer Schere. Klein, elegant, mit vielen Funktionen, aber nicht zum Schnitzen von Figuren aus Holzrinde oder für den Gebrauch in Feld und Wald geeignet. Dafür war es zu fein und nicht robust genug. Nur für den Schreibtisch und auf Reisen zu verwenden, aber es war ein Andenken, das in eine spätere Zeit verwies. Peter holte aus dem Schrank ein kleines Briefmarkenalbum, das er sich bereitgelegt hatte und das strammvoll mit Briefmarken war. Sein Bruder hatte sich zu diesem Zweck auch einige Marken wegnehmen lassen müssen. Er würde es nicht merken, wenn er wiederkam. Thomas bedankte sich. „Vaters und mein Briefmarkenalbum sind im Tresor verkohlt. Gerettet habe ich nur mein Tauschalbum hier, aber dein Geschenk ist ein Grundstock für eine neue Sammlung“, sagte er, Peter merkte jetzt erst, dass Thomas’ Briefmarkenzeit schon lange abgelaufen war. Eigentlich hätte er es wissen müssen, sie hatten doch schon lange Zeit keine Marken mehr getauscht. Aber womit sollte er Thomas zeigen, dass er an ihn gedacht hatte? Sie legten ihre Geschenke auf den Tisch, dann setzten sie sich auf die Stühle am Fenster und begannen zu erzählen. Wie sonst. Nur den Tod des Vaters und die Art seines Todes ließen sie aus. So richtig spielen konnten die beiden nicht mehr. Aber wenn die anderen Kinder kamen, unbekümmert und voller
Tatendrang, dann durften sie sich auch nicht ausschließen. Zeitweilig, im Eifer des Spiels, vergaßen sie sich und alles, doch dann kam unweigerlich der Augenblick, in dem sie plötzlich über den Rand dieser glücklichen Minute hinaus schauten, und jenseits war alles grau und düster. Sie hatten nichts mehr, wofür sie sich begeistern konnten. Sie sprachen es aber nicht aus. Sie redeten über die Vorgänge an den Fronten, sie kommentierten die Bomberströme, sie machten sich lustig über die Nazis und stellten dabei betroffen fest, dass sie drauf und dran waren, ihr Vaterland zu verraten. Wer war ihr Vaterland? Auf was konnten sie überhaupt noch stolz sein? Der Gesprächston wurde sachlicher und bedenklicher. Es war schon die Angst vor einer Niederlage, die in ihren Überlegungen mitschwang. Siege der deutschen Truppen, das waren Hoffnungen, aber worauf? Rückzüge und Niederlagen, das wurden allmählich auch Hoffnungen, aber worauf? Mit den Eltern, Geschwistern oder Bekannten, die sie mochten, sprachen sie nicht über das, was sie beschäftigte. Ihnen fehlte der Vater, aber das sagten sie nicht. In ihren Gesprächen waren lange Pausen, als warteten sie, dass jetzt der Vater ein klärendes Wort sprechen würde. Augenblicklich waren sie wie Boote, die in Wasserstrudeln führerlos dahin trieben. Die Erwachsenen waren viel zu viel mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Für sie waren die beiden Jungen Kinder, die mitten im Krieg in einer glücklichen Kinderwelt lebten. „Der Thomas scheint den Verlust seines Vaters überwunden zu haben“, hörte Peter seine Mutter sagen. Dass die beiden möglicherweise auch etwas anderes quälte, ahnten die Erwachsenen nicht, höchstens Agnes. Peter und Thomas gehörten auch hier zum hinteren Teil der Marschkolonne. Peter fragte sich oft, wie die Erwachsenen es
nur machten, mit den Problemen fertig zu werden. Die Männer und Söhne, die Brüder, die Freunde im Krieg oder gefallen, vermisst, in Gefangenschaft, die angespannte Ernährungssituation, die heimliche Angst vor den Fliegern, die Angst um die Kinder, das geheime Wissen um das Unrecht, das geschah, im eigenen Vaterland, an den Juden, in den besetzten Gebieten, und das irgendwann gerächt werden würde. ,Gnade uns Gott, wenn wir den Krieg verlieren!’ Die Erwachsenen hatten immer zu tun, sie arbeiteten ihre Bedenken weg. Doch saßen sie auch oft zusammen, besonders am Abend, erzählten und lachten viel dabei. Aber wenn man sie genau beobachtete, war es so, als horchten sie, als warteten sie. Sie warteten auf etwas, das vor der Tür stand, die schlimme Nachricht, die Katastrophe, das nicht Auszudenkende. Hier saßen sie am Tisch im Lichtkegel der tief heruntergezogenen Deckenleuchte, wie Leute auf einer von Sturmflut bedrohten Hallig, eine Insel von Angst, umgeben von Ungewissheit, Bedrohung und Not. Sie konnten nichts mehr tun – nur warten. In Thomas’ Familie hatte der Tod unerbittlich die Angst vertrieben, aber die Trauer mitgebracht. Was gab es noch zu verlieren? An wie vielen Strähnen hängt das Lebensglück? Bricht alles unwiederbringlich zusammen, wenn eine Strähne reißt? Wo werden die Fäden gewoben, die uns einmal halten sollen? Konnte man Zerrissenes wieder verknüpfen? Einmal sagte Thomas: „Wenn der Krieg aus ist, gehen wir zurück und bauen das Haus und die Bäckerei wieder auf. Das hätte Vater auch getan. Das Grundstück ist uns ja geblieben. Ich werde Bäcker, davon verstehe ich ja schon einiges. Und dann werde ich politisch tätig, wie Vater es getan hat. Aber wer weiß, ob man uns lässt. Vielleicht kommen wir alle in ein Lager und müssen die Schuld abarbeiten.“
Tiefflieger
Es war ein wolkenloser Maimorgen. Bei der Fahrt zur Schule meinte Thomas: „Ich wette, dass heute Alarm kommt. Dann fällt die Englischarbeit in der dritten Stunde aus.“ Es war gestern schon so ein schöner Tag gewesen, ohne Feindeinflug, und er war überzeugt, dass die Alliierten heute dieses gute Wetter nutzten und es also mit der Arbeit nichts werde. Er hatte deshalb die Vokabeln der vorigen Wochen nicht wiederholt und war schon früh am Nachmittag mit Peter zum Holzstapel gezogen. Es war schon sonderbar, dass sie hier unten Englisch pauken mussten, und von oben her bedrohten die englishmen sie mit Bomben und Bordwaffen. Und was sie im Unterricht über die englische Lebensweise und Geschichte erfuhren, das klang doch ganz normal und vernünftig. Die Jungen vergaßen, dass es ihre Feinde waren. Eigentlich hätte man sie doch mit Geschichten futtern müssen, die den fiesen Charakter der Engländer hervorhoben. Kann man überhaupt die Sprache eines Volkes lernen, das man hasst? Vermittelt die Sprache letztendlich nicht doch die guten Seiten im Denken eines Volkes? Sie paukten die Sprache des Erzfeindes Albion und erfuhren dabei, dass es dort Vater und Mutter, Bruder und Schwester, Haus und Garten, Freunde und Verwandte, Pfadfinder, London, Towerbridge und Fußball gab, viele Ähnlichkeiten mit Deutschland. Nur den zweistöckigen Omnibus hatten sie hierzulande noch nicht gesehen. Allerdings gab es noch die Frage, worüber sie sich denn wohl mit einem abgeschossenen, am Fallschirm herab schwebenden Engländer
nach dem üblichen ,hands up’ unterhalten sollten. Sie konnten ihn ja wohl schlecht fragen, ob er ihnen den Weg nach Kensington Station zeigen könne. Sie suchten mühsam nach Ausdrücken und Vokabeln, die der Situation kriegerisch angemessen waren, aber sie fanden nicht viele. Schon Thomas war nach der Notlandung des Liberators wütend gewesen. Er konnte sich kaum mit dem Schwarzen verständigen. Das hatte ihn sehr gewurmt: drei Jahre Englisch und vollgepfropft mit unnützen Vokabeln. Sie hätten sich blendend über teatime, Rugby und die Schaufelraddampfer auf dem Mississippi unterhalten können, aber nicht über die Situation eines gerade dem Tode entronnenen Soldaten. Eins war aber klar, auf der Basis der Sprache herrschte tiefer Friede. Thomas behielt Recht. Schon nach der ersten Stunde gab es Voralarm. Die auswärtigen Schüler der unteren Klassen waren auf die einheimischen verteilt und mussten mit ihnen nach Hause gehen. Die Oberstufenschüler blieben im Keller der Schule. Peter war einem Klassenkameraden zugeteilt, der in der Nähe wohnte. Das war sehr wichtig für ihn. Denn er wollte immer unbedingt mit dem Mittagszug nach Hause fahren. Wenn sie die Entwarnung abwarteten, kamen sie erst am späten Nachmittag heim. Alle Schüler fuhren mit dem Mittagszug, auch bei Vollalarm. Der Bahnhof lag nahe und war rasch zu erreichen. Nur war es wichtig, den Zeitpunkt zu erwischen, wenn die Flak nicht schoss, denn die herabfallenden Splitter der explodierenden Granaten konnten einen draußen sich Aufhaltenden treffen und verletzen. Davor warnten immer wieder die Lehrer und verboten den Schülern, sich während des Feindeinfluges im Freien aufzuhalten. Thomas, der weiter in der Stadt untergebracht war, und Peter trafen sich gewöhnlich eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges im Keller des Finanzamtes, das 200 Meter vor dem Bahnhof lag.
Die Fliegenden Festungen hatten Bremen bombardiert. Sie waren über die Nordsee und die Wesermündung eingeflogen und kehrten über die Wildeshauser Geest, das Emsland und den Zuidersee zurück. Häufig erfolgten die Angriffe auch aus dieser Richtung. Allmählich wurde es Zeit, Richtung Finanzamt aufzubrechen. Peter und sein Klassenkamerad standen unter dem Vordach des Hauses und beobachteten die feinen silbernen Punkte am Himmel und die weißen Explosionswölkchen der 8,8 cm Granaten. Die Welle zog vorüber, ohne dass irgendein Treffer erzielt worden war. Die Flak schwieg. Peter fasste seine Tasche, bis morgen und Sprung auf, marsch, marsch! Er suchte die Deckung der Bäume und lief geduckt, weniger weil er die Splitter fürchtete, als dass ein Lehrer am Nebentrakt der Schule, an dem er leider vorbei musste, ihn sehen und anhalten könnte. Aber es war keiner da. Er rannte weiter. Das Brummen nahm wieder zu. Da, ein Donnerschlag, die Flak schoss wieder Sperrfeuer, er rannte unter den Kastanienbäumen weiter und dann noch 20 Meter bis zum Kellereingang über freies Gelände. Thomas war schon da und lachte, als er Peter so ängstlich und außer Atem ankommen sah. „Du mit deiner Splitterangst, als wenn es sie regnen würde. Da fällt mal hier und da ein Splitter runter, aber warum sollte der mich treffen? Hast du schon mal einen Splitter auf der Straße liegen sehen oder auf dem Schulhof? Ich bin ganz gemütlich unter den Alleebäumen bis hier gegangen.“ Peter setzte sich auf eine Pritsche im Keller. Solange es draußen rumste, kriegte ihn hier keiner raus, auch Thomas nicht. Sie hatten ja auch noch Zeit. Dann hörte das Schießen auf. Sie rannten los. Mit ihnen noch andere Schüler, darunter auch seine Schwestern. Kurz vor Erreichen des Bahnhofs gab es wieder einen Donnerschlag, aber auf diesen letzten Metern konnte sie kein Splitter mehr
treffen. Sie gingen das letzte Stück. Geschafft! Peter war erleichtert. Das Mittagessen und der Nachmittag waren gerettet, außerdem gab es keine Hausaufgaben. Den Alliierten sei Dank. Der Weg von der Sperre zum Bahnsteig war überdacht, der Bahnsteig z. T. auch. Der Zug kam pünktlich. Sie stiegen wie immer in den letzten Wagen vor der 2 cm Flak. Erleichtert ließen sie sich auf die Bank fallen. Jetzt konnte nichts mehr passieren, auch wenn das Sperrfeuer verstärkt eingesetzt hatte. Heute Nachmittag konnten sie wohl in den Wald gehen und nach dem angeblich dort abgestürzten feindlichen Flugzeug suchen. Thomas wollte nicht. „Ich muss erst noch Vokabeln lernen. Wir schreiben die Arbeit bestimmt morgen nach.“ Dann blieben sie heute eben auf den Holzstapeln. Der Abflug von Bremen dauerte immer noch. Das war wohl ein Massenangriff. Der Zug verließ die vorletzte Station. Bis jetzt hatte die Bahn durch ein großes Moor geführt, das zum Teil aber schon in Wiesen umgewandelt war. Nun fuhren sie durch Ackerland, immer wieder unterbrochen von großen Baumgruppen, in denen Bauernhöfe lagen. Plötzlich bremste der Zug stark ab und im nächsten Augenblick begann die Flak ratatatat zu feuern. Und jetzt die schnellen Maschinengewehrsalven eines Tieffliegers und das heulende Heranbrausen. Schon zog er über sie hinweg. Peter drückte auf den Türhebel und drückte die Tür nach außen, der Zug kam mit einem Ruck zum Stehen. Er sprang auf das Schotterbett. Die Tür schlug beim Bremsen zurück. „Au!“ Hubert hatte sie in die Seite bekommen und schon heulte es wieder heran. Neben den Gleisen lief ein flacher Graben. Lang hinlegen und den Kopf in den Dreck, alte Infanterieüberlebensregel. Das schwerfällige Rattern der 2 cm,
das schnelle Tak-Tak der Bordwaffen. In dem Wagen über ihnen knirschte und klirrte es, da spritzte und sprang etwas ab. Erneuter Anflug und jetzt ein Triumphgeheul vom 2 cm Wagen. Erwischt! Peter hörte die Explosion beim Aufprall. Das hatte Thomas schon behauptet, ein Treffer in den Motor genügt. Und dann, ein ununterbrochenes Hämmern und Tacken, ein, zwei, drei Tiefflieger sausten hintereinander, aus allen Rohren feuernd, über sie hinweg. Schreie im Flakstand und jetzt kamen sie zurück von der anderen Seite. Die Flak schoss nicht mehr. Schreie aus den Gräben beiderseits des Bahndamms. War es die Angst, waren es getroffene Menschen? Thomas lag hinter Peter und zog ihn am Bein. „Wenn sie jetzt am Zug entlang fliegen, rollen sie den ganzen Graben auf.“ Das waren Terrorflieger, hier lagen unschuldige Zivilisten, die Lokomotive zerschossen und die Flak auch. Jetzt war es doch genug. Bitte, wo geht es hier zur Kensington Station? Es war, als feuerten sie hasserfüllt nur noch auf den Flakstand, der doch schon längst zerschossen sein müsste. „Da hinten die Stämme, da müssen wir hin!“, schrie Thomas. Diese lagerten schon längere Zeit dort, etwa 30 Meter entfernt, unregelmäßig übereinandergeworfen. Die Jungen hatten sie schon seit mehreren Wochen liegen sehen. Allerbeste Deckung. „Die treffen wir bald auf den Holzstapeln wieder“, hatte Thomas gesagt. Schon jagten die Maschinen heulend heran, es prasselte gegen die Abteile und den Schotter. Direkt zu treffen waren die Menschen so nicht, aber die Abpraller waren gefährlich. Lieber Gott, hilf] Ein Stück Eisen sprang über den Schotter und blieb neben Peters Kopf liegen. Nun heulten sie wieder über den Zug hinweg. Thomas sprang auf: „Los!“, und rannte über die Weide. Peter kniete schon, als ihn plötzlich etwas nach vorne warf und ihn
mit Gewalt auf den Boden drückte: seine Schwester. Und schon kam der nächste Tiefflieger von der Gegenseite, sie hatten die Taktik geändert und griffen gegenläufig an. Ihre Garben fetzten in den Zug und auf das freie Gelände vor dem Holzhaufen. Dort war Thomas, er konnte ihn noch gar nicht erreicht haben. Aber daran dachte Peter jetzt nicht. Er hatte nur noch Angst, Angst, Angst. Er lag nur noch da und erwartete jeden Augenblick den Einschlag eines Geschosses in seinen Körper. Oh mein Gott, bitten wir dich, oh heilige Gottesgebärerin, steh uns bei, wir sind doch nicht an der Front, wir sind doch keine Soldaten, wir sind doch noch Kinder. Ihr dürft doch nicht auf uns schießen. Seine Schwester hatte ihren Arm über seinen Rücken gelegt. Es war ein ununterbrochenes Hämmern und Heulen in der Luft. Hörte das denn nie auf? Ging das bis in alle Ewigkeit weiter? Peter dachte nicht an Thomas. Er war nur noch ein einziges Bündel Angst, das weggeworfen im Graben lag. Er verstand, was Georg mit Angst gemeint hatte. ,… und wenn’s den Körper nicht trifft, trifft’s doch die Seele.’ Plötzlich waren die Motorengeräusche weg. Man hörte nur noch das Schreien und Jammern der Menschen. Doch keiner erhob sich, denn jeden Augenblick könnte diese Hölle wieder auf sie herabstürzen. Seine Schwester richtete sich auf und schaute zum Holzstapel hinüber. Als Peter aufstand und auch dahin blickte, sah er ihn liegen, auf der Weide, zehn Meter vom Stapel entfernt. Er hatte es nicht mehr geschafft. Peter hatte in seinen Büchern gelesen, dass man jetzt hinrennen musste zu diesem Toten oder Verwundeten, aber seine Schwester nahm ihn bei der Hand und führte ihn am Flakstand vorbei hinter den Zug. Die Flak war zerschossen und ihre Bedienung lag zerfetzt und mit grotesk verzerrten Gliedmaßen um das Geschütz herum. Gott wird ihre Gesichter suchen und am Jüngsten
Tag… Die Angreifer mussten wohl immer wieder und wieder selbst noch in die Toten hineingehämmert haben. Schreckliche Racheengel, die nichts von der Gnade ihrer himmlischen Schwestern wissen. Peters Schwester führte ihn zu einem nahen Bauernhof und von dort gingen die Überlebenden unter dem Dach der Alleen zum Dorf. Peter dachte ein Wort: Thomas, aber er fragte nicht nach ihm. Er weinte ununterbrochen, aber es waren wohl der Schock und die Angst, die ihn weinen ließen, nicht die Trauer. Er war ein Meer von Angst, das jetzt in Tränen aus ihm heraus floss, dieses Meer von Angst. Von einem Augenblick zum nächsten hatte man ihn da hineingeworfen. Im Dorf standen die Leute auf der Straße und warteten auf ihre Angehörigen. Peter rannte auf Mutter zu und sie nahm ihn in die Arme. Und er weinte und weinte. Mutter gab ihm zu Hause eine Tablette zur Beruhigung, zog ihn aus und legte ihn ins Bett. Sie saß bei ihm und strich immer wieder über seine Stirn, bis er einschlief, hinabfiel in Tiefe und Dunkelheit. Für einige wenige Stunden.
Der Knabe im Moor
Es wurde Herbst. Wenn man Peter gefragt hätte, was er denn den ganzen Sommer gemacht habe, er hätte sich nicht erinnern können. Nur ein einziges Mal war er noch bei den Holzstapeln der Sägerei gewesen und hatte die beiden Holzschwerter, mit denen sie häufig Vernichtungsschlachten gegen die Brennnesselheere geschlagen hatten, aus dem Versteck geholt. Er versteckte sie auf dem Dachboden des Nebengebäudes unter den Bodenbrettern. Die Sägerei lag ihm zu nahe am Bahnhof und an den Bahngleisen. Hier konnten jederzeit Tiefflieger angreifen. Es gab nur einen sicheren Ort davor und das war der Luftschutzkeller im elterlichen Haus. Und so entfernte er sich bei Fliegeralarm nicht aus dem Haus, ja, ging nicht einmal mehr in den Garten, damit er sofort in den Keller springen konnte, wenn, erkennbar am zunehmenden schrillen Motorenlärm, die Maschinen sich auf den Bahnhof und die darin haltenden Züge stürzten. Das geschah häufig. Den Friedhof besuchte er oft, aber meist erst am späten Nachmittag, wenn die Bomberschwärme vorbei waren und Entwarnung gegeben wurde. Er lag hart am Schneewall und den Gleisen und Peter empfand ihn wie eine tödliche Falle, wenn er dort einmal oder beim Überschreiten der Bahngleise in einen Angriff geraten würde. Die Fotografien seines Vaters oder die Bilder in den Kriegsbüchern zeigten zu viele verwüstete Friedhöfe. Sie würden auch hier bedenkenlos hineinfeuern. Er ging an den Gräberreihen entlang und stand vor Thomas’ Grab. Damals, als er seine Leutnants nach großen Schlachten feierlich beerdigt hatte, gehörte auch immer ,Ich
hatt einen Kameraden’ dazu, das er leise als Abschluss seiner Heldenbestattungen sang. Das war vorbei. Sie hatten es wirklich gesungen, als man Thomas beerdigte. Die HJ und die Pimpfe mussten antreten, das ganze braune Volk, und der Ortsgruppenleiter, der Kreisleiter und der Bannführer hielten flammende Reden über den Heldentod eines hoffnungsvollen Hitlerjungen, über die Hinterhältigkeit und Unmenschlichkeit der Terrorflieger, über den Glauben an die Zukunft und über den Endsieg. Die Kapelle hatte zuletzt das Lied vom guten Kameraden gespielt, das Deutschland- und Horstwessellied. Alle hatten sie dagestanden mit dem erhobenen rechten Arm, auch Peter. Aber gesungen hatte er nicht. Was hatte Thomas nur falsch gemacht? Er hatte die Taktik der Tiefflieger falsch eingeschätzt, wahrscheinlich auch die Wut, als einer ihrer Kameraden von der Flak abgeschossen wurde. Sie hatten es zuletzt nur auf die Flak abgesehen. Wenn sie die Menschen hätten treffen wollen, hätten zwei, drei Anflüge längs der Bahn die in den flachen Gräben liegenden Menschen allesamt ausgelöscht. Und dann natürlich der Holzstapel. Wenn wir nicht immerfort auf den Holzstapeln gesessen und uns Sicherheit vorgeträumt hätten, dann wäre es Thomas niemals eingefallen, dort Schutz zu suchen. Worauf sollte man sich noch verlassen? Unsere Überlegungen waren doch nicht so hieb- und stichfest, vermutlich Wunschbilder. Auch der liebe Gott hätte es nicht wenden können, dass Thomas in den Maschinengewehrsalven starb. Wo hätte denn Gottes helfende Hand ansetzen müssen? Im Kopf des leitenden Rottenführers der sechs amerikanischen Maschinen, damit er nicht den Befehl zum Angriff gab? Oder hätte er den Deutschen mehr Jagdflugzeuge schenken müssen, damit die feindlichen Jäger keine Gelegenheit mehr hatten,
Bodenziele anzugreifen, sondern froh waren, überhaupt noch heil nach England zu kommen? Gott belohnt das Gute und bestraft das Böse, dachte er in der Kirche beim Gottesdienst für Thomas. Dies irae sangen sie. Und alle diese Gefallenen, die er kannte, die Zerstörungen, war das Gottes Wille gewesen? Gott existiert wohl nur in unseren Traumen. Eine fixe Idee. Träumen und Glauben, das endete nur in Enttäuschungen. Wenn Thomas Zeit gehabt hätte – Peter wäre ihm unbedenklich gefolgt, wenn seine Schwester ihn nicht festgehalten hätte. Sonst hätte er auch in dem Grab gelegen, ein braver Hitlerpimpf, ein wehrloses Opfer eines Terrorangriffs, dem es nun leider nicht vergönnt war, den Endsieg zu erleben. ,Ich hatt einen Kameraden’ hätten sie auch für ihn gesungen. Das abrupte Ende der Träume, aber um sie zu begraben, genügte ein Grab. Thomas’ Grab. Hatten sie ihre Illusionen nicht schon weit vorher begraben? Thomas und er? Zuviel hatten sie erfahren. Eigentlich stand die Wahrheit deutlich vor ihnen, sie wollten sie nur noch nicht wahrhaben. Ob Thomas seinen Tod als Strafe empfand? Wofür, was hatte er getan? Den Zorn Gottes hatte er sich sicher nicht zugezogen. Sein Freund hätte gesagt: Die vielen Toten, die Zerstörung, die Ängste, das sind im Voraus schon Strafen für das, was wir angerichtet haben. Denk an die Worte des Nachbarn, denk an die Judentransporte, denk an die Unmenschlichkeiten, die die Nazis offensichtlich begehen. Was werden wir noch zahlen müssen, mit wie viel Leid noch bezahlen müssen? Gab es noch irgendetwas in der Zukunft, für das es sich zu leben lohnte? Georg hätte vielleicht eine Antwort gewusst, und Peter merkte wieder einmal, wie sehr sie ihm fehlten, die Bäume seiner früheren Tage. Er hatte doch fast niemanden
mehr, dem er vertrauen, den er fragen und der ihm eine Hilfe sein konnte. Der Krieg hatte sie ihm weggenommen. So kam es, dass er in eine große Gleichgültigkeit geriet. Die Schule, die Spiele, die Meinung mancher Kameraden, er sei ein Feigling. Sie wurden ihm gleichgültig, und gleichgültig war ihm auch, was er wohl mit einem abgeschossenen, hilflosen Terrorpiloten machen würde, wenn er auf ihn stieße. Anzeigen oder ihn auf den Weg nach Holland schicken? Sie hatten ihm ja seinen Freund weggeschossen. Doch genau dieser Pilot war es nicht gewesen, vielleicht waren auch Angehörige von ihm von Deutschen getötet worden. Wo sollte man mit der Aufrechnung beginnen? Und wenn sich dort in der Heimlichkeit eines Waldstückchens ein hilfloser Pilot und ein Kind trafen, dann waren sie in diesem Augenblick auch nur zwei Menschen, die der Krieg gegeneinander geworfen hatte. Bitte sehr, wo geht es hier nach Kensington Station? Möchten Sie eine Tasse Tee? Er würde ihm den Weg nach Holland zeigen und ihm das Stück Schokolade zurückgeben, weil er es möglicherweise selbst noch dringend brauchte. Thomas hätte so gehandelt, auch wenn sie seinen Peter totgeschossen hätten. Peter hasste diese Tiefflieger nicht, aber er fürchtete sie. Seit jenem Angriff hatte er Angst. Solange die dröhnenden Bomber über ihn hinwegzogen, war er nicht mehr ansprechbar, wobei er nicht die Bomber fürchtete, sondern die Tiefflieger, die plötzlich auftauchen und schießen konnten. Obwohl er im Hause davor sicher war, wie die anderen meinten, verkroch er sich doch in Winkel, in die von keiner Seite, weder durch eine Tür noch ein Fenster, ein Geschoss hineindringen konnte. Während er dort mit seinem Stabilbaukasten baute oder ein Buch las, lauschte er dem gleichmäßigen Geräusch der Bombermotoren, und sollte sich darin plötzlich eine auffällige
Veränderung zeigen, die ein Näherkommen signalisierte, ein schriller, hoher Ton, dann rannte er los, polterte die Treppen hinunter bis in den Keller, wo er so lange blieb, bis man ihn wieder herausrief. „Er ist ein Angsthase“, sagten sie. „Ein deutscher Junge fürchtet sich nicht.“ „Du machst dich lächerlich!“ Aber das half nichts. Die Art des Getroffenwerdens, das war ihm nicht gleichgültig. Immer wieder holte die Fantasie die Bilder des Angriffs heraus und verwandelte ihn in ein Bündel von Angst. Da gab es kein Entkommen. Wenn Thomas noch da gewesen wäre, der hätte es verstanden, ihm sein panikartiges Verhalten einsichtig zu machen, abzuschwächen und zum Verschwinden zu bringen. Oder hätte den die Todesangst auch verändert? Peter hatte sich jetzt einem gleichaltrigen Jungen angeschlossen, der ein paar Häuser weiter wohnte und wie er zur Oberschule ging. Die war in einer nur fünf Kilometer entfernten Stadt und mit dem Rad erreichbar. Der Junge hieß Jochen und wohnte mit seiner Mutter und zwei Geschwistern zur Miete in einem breit an der Hauptstraße gelegenen Haus, das einer älteren Dame gehörte, die den anderen Teil des Hauses bewohnte. Jochens Vater war im Krieg. Hinter dem Haus lag ein riesiger Garten, der nur zum Teil kultiviert war und sonst aus einer ausgedehnten Wildnis bestand. Diese Wildnis war ein Paradies für die Jungen. Sie konnten darin machen, was sie wollten. Thomas war ein Träumer und Erzähler gewesen, aber Jochen ein Praktiker, der immerfort baute, konstruierte und Pläne entwarf, die realitätsnah waren und zweckmäßig. Sie waren dauernd tätig und es gab kaum einmal eine Pause, in der man sich etwas hätte erzählen können, Pausen gab es nur, wenn man überlegen musste, wie man ein Projekt
realisieren sollte. Ihm gefiel, was Jochen machte, und sie spielten häufig hier. Er lernte, mit Werkzeugen umzugehen und konkrete Möglichkeiten handwerklich umzusetzen. Zuerst bauten sie zwischen den dichtesten Büschen einen Unterstand. Sie hoben einen drei Meter langen und eineinhalb Meter tiefen Graben aus, was schwierig war, weil sie viele Baum- und Strauchwurzeln abstechen mussten. Darüber errichteten sie aus Balken und Brettern, Planken und Teerpappe ein flaches Dach, so hoch, dass man in dieser Erdhütte stehen konnte. Hierhin konnte man sich auch bei Regengüssen flüchten, und dann saßen sie auf niedrigen Hockern, die sie sich aus Holzresten angefertigt hatten und entwarfen neue Pläne. Der Graben verlief von Süd nach Nord, parallel zur Bahnlinie, und Jochen rechnete seinem Freund vor, dass kein Geschoss je diesen Unterstand erreichen oder gar durchschlagen könnte. Vom Nordausgang des Grabens beobachteten sie mehrere Male, in welchem Winkel die Tiefflieger auf den Bahnhof hinunterstießen und wann sie zu feuern begannen. Sie konnten genau sehen, wie die Leuchtspurgeschosse weit über die Häuserreihe hinwegflogen, in der Peters Elternhaus lag. Jochen war ein guter Mathematiker und sie zeichneten den Angriffswinkel, die Häuserreihe und den Bahnhof maßstabgetreu in einem Querschnitt auf ein DIN A 4-Blatt und es stellte sich heraus, dass Peters Elternhaus ganz tief im Geschossschatten lag. Von nun an rannte er nicht mehr in den häuslichen Keller, wenn das Motorengeräusch da draußen höher und schriller wurde und die Tiefflieger feuernd über das Haus jagten. Er blieb sogar vor den großen Fenstern der Veranda sitzen. Die anderen bemerkten wohl diese Veränderung, aber sie sprachen ihn darauf nicht an.
Doch wenn er einmal während eines Bomberüberflugs Jochen verlassen und nach Hause zurückkehren musste, dann rannte er so schnell er konnte. Wenn sie während des Spiels von einem Angriff überrascht wurden, kam hinterher ihre gemeinsame Tätigkeit meist nicht mehr so recht in Gang. Ja, die Tiefflieger hatten es nicht auf die Reisenden abgesehen, wohl auf die Zerstörung der Lokomotive und die Ausschaltung der Flak. Thomas war in die Geschosswalze geraten, die vor dem eigentlichen Ziel aufsetzte. Jochen wäre das nicht passiert. Er hätte es blitzschnell ausgerechnet. Aber Thomas mit seinen Träumen vom Holzstapel, von der Sicherheit, die sie sich darin immer vorgegaukelt hatten, und sie waren doch gewarnt. Die Wirklichkeit hatte schon so viele Botschaften in ihre Traumwelten geschickt. Jochen spürte, wie sein Freund wieder in Erinnerungen geriet. Es war so schwer, ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen, und so schützte er irgendeine Aufgabe vor, die zu erledigen er vergessen hatte, und dann trennten sie sich. Peter ging nach Hause, setzte sich irgendwohin und las ein Buch. Bisweilen standen die zerschossenen Lokomotiven noch tagelang auf einem Abstellgleis auf dem Bahngelände. Jeder schaute sie sich an, auch die beiden Freunde, sofern kein Fliegeralarm war. Was für Löcher die 2 cm Geschosse in den eisernen Leib der Lokomotiven reißen konnten. Da passte mehr als eine Faust hinein. Peter tastete vorsichtig die gezackten Ränder ab und schob für einen Augenblick die Hand in diese riesige Wunde. Er hatte nie erfahren, wie Thomas getroffen worden war, und er wollte es auch nicht wissen. Von der Größe einer Hand, dachte er und gewöhnte sich an, in schwierigen Situationen, in die er jetzt zunehmend durch die Schule geriet, die Innenseite seiner Hand zu betrachten.
Peters Leidenschaft für die Jagd war geblieben. Und sie hatte auch schon Jochen angesteckt. Ihre Jagdziele waren Drosseln und Spatzen, die es in diesem Garten in rauen Mengen gab, aber nur selten zu erlegen waren. Für das Luftgewehr gab es keine Munition mehr, zwar hatten sie versucht, selber Geschosse anzufertigen, indem sie flüssiges Blei vorsichtig in hohle Stängel gossen, so dass ein Bleistrang entstand, von dem sie kurze Stückchen abzwickten, aber das Kaliber war zu ungenau. Entweder geriet es zu dick, dann passten sie nicht in den Lauf, oder zu dünn, dann ging zuviel Luftdruck verloren und die Treffsicherheit war gering. Schließlich machten sie sich jeder eine Schleuder, aber auch damit war ein Vogel kaum zu treffen. Sie nahmen es hin und waren stolz, wenn sie das Ziel nur knapp verfehlten. Am Ende konstruierten sie eine Riesenschleuder. Eine große Astgabel wurde fest im Boden verankert und an den Enden befestigten sie breite und lange Gummistreifen aus unbrauchbaren Fahrradschläuchen, die hinten mit der breiten Lederzunge eines Schuhs verbunden wurden. Damit konnte man dicke Steinbrocken über eine weite Entfernung verschießen. Treffsicher war die Konstruktion nicht, aber wenn der Stein krachend in einem Gebüsch landete, floh die darin versteckte Drossel schrill wiehernd davon. Sie nannten diese Schleuder V 1, und wenn sie auch keine Erfolge brachte, so waren sie doch mächtig stolz auf ihre Konstruktion, die sie einige Male verbesserten, ohne allerdings ihre Effektivität damit zu erhöhen. Auf dem Papier entwarfen sie sogar eine Schleuder, die man gegen Tiefflieger einsetzen konnte, wobei sie sich weniger darüber unterhielten, wie wohl das Flugzeug reagieren würde, wenn plötzlich ein faustgroßer Stein in den Luftansaugkanal einschlüge, als mehr darüber, welche materiellen Voraussetzungen für einen solchen Bau notwendig seien. Und diese hatten sie nicht. Außerdem war ja auch zu
berücksichtigen, welchen Schaden ein aus 200 Metern Höhe zur Erde zurückfallender Stein am Boden anrichten könnte. Realistisch betrachtet ging das alles nicht, aber für viele Stunden war ihr Kopf mit technischen Konstruktionen beschäftigt. Was hatten die Verfasser der Zukunftsromane, die sie momentan gerne lasen, denn anders gemacht? Die einwöchigen Herbstferien gingen zu Ende. Morgen fuhr Peter mit dem Zug wieder zur Oberschule. Jochens Ferien begannen erst jetzt, eine Verwaltungsgrenze hatte das so bewirkt. Und Vater war gerade in den Urlaub gekommen und wollte – wie er gesagt hatte – mehrere Male auf die Jagd gehen. Und nun – die Fliegeralarme würden Peter in der Stadt festhalten und erst am späten Nachmittag zurückkehren lassen und die Jagd ging ohne ihn. Am Abend würde er die sicherlich reiche Beute bestaunen dürfen und sich vorstellen, wie die Jagd abgelaufen war, aber er war nicht dabei gewesen. Und dann die Tiefflieger. Wenn er trotz des Alarms am Mittag nach Hause führe, könnte er noch rechtzeitig da sein, um seinen Vater zu begleiten. Aber er würde es nicht wagen. Die Angst. Peter lag in seinem Bett und konnte nicht einschlafen. Er wollte mit zur Jagd, da war ein richtiger Schmerz, als er daran dachte, dass er nicht dabei war. Er wollte nicht wieder in diesen Zug steigen, er wollte nie wieder das Trommeln der Maschinengewehre hören, das Dröhnen der Tiefflieger, die Angst, den daliegenden Thomas, die Langeweile und das Verlorensein, wenn man am Nachmittag in der Stadt auf die Entwarnung wartete. Alles war gegen ihn, die verpasste Jagd, die Tiefflieger, die Angst und das stupide Warten. Und dann stellte er sich wieder vor, wie die Flieger herankamen, wie die Geschosse auf den Zug und den Schotter prallten und wie Thomas rief: ,Los, komm mit!’ Peter stöhnte und weinte. Die Bilder aus seinen Kriegsbüchern, nun brachen sie heraus, die explodierenden Granaten, die getroffenen und
fallenden Menschen, die ganz und gar verwüstete Landschaft, das weggerissene Gesicht des englischen Piloten und die faustgroßen Löcher in den Lokomotiven. Wenn er nun Thomas nachgerannt wäre? Angst, nur Angst und es gab kein Wort, das ihm diese Panik erklärte. Er wäre wohl darüber eingeschlafen, wenn nicht jemand, der zufällig ins Nebenzimmer kam, sein Weinen gehört und die Familie geholt hätte. Man stand an seinem Bett und konnte den Zitternden und Verstörten zunächst nicht verstehen und nicht beruhigen. Schließlich erklärte man sich sein Verhalten aus seiner Angst vor den Tieffliegern, aus seiner Angst vor der Bahnfahrt und man sagte ihm zu, dass er auf die Schule seines Freundes wechseln dürfe. Sie lag nur fünf Kilometer entfernt und war leicht mit dem Fahrrad zu erreichen. Getröstet schlief er ein und die folgende Woche brachte ihm, als sei es die Verheißung eines neuen Lebens, alles, was er sich wünschen konnte: eine weitere Woche Ferien, mehrere Jagdtage, unbeschwertes Spiel mit Jochen und eine scheinbare Befreiung von der Angst. Aber die neue Schule wurde für ihn ein Albtraum. An der vorigen hatte er eine junge Lehrerin, die von vornherein nur Englisch mit ihnen gesprochen hatte, und sie hatten es gleich gelernt, englisch zu denken und zu sprechen. Hier aber kam ein Lehrer auf ihn zu, der das Englische handhabte wie das Lateinische: Grammatik pur und Übersetzung aus dem Deutschen ins Englische, aber die englische Grammatik war für Peter ein Buch mit sieben Siegeln. Er verstand davon so wenig wie ein dreijähriges Kind, das munter in seiner Sprache plappert, und sie waren schon sehr weit fortgeschritten. Wie sollte er überhaupt einen über eine Seite gehenden Text übersetzen, dessen Vokabeln er alle kannte, aber dessen grammatikalischen Verbindungsstränge
ihm völlig fremd waren? Nun sackte er ab wie ein angeschossener Bomber, ein ,ungenügend’ konnte er nur dadurch verhindern, dass er ausgezeichnet und sinnvoll lesen konnte. Während er auf der vorigen Schule zu den besten Schülern der Klasse gehört hatte, wurde er jetzt zum Schlusslicht. Allmählich verlor er sein Selbstwertgefühl. Und zu der Angst vor den Fliegern, die ihn zum Feigling stempelte, kam die Angst vor den brüllenden und höhnenden Lehrern. Zu Hause erzählte er nichts davon und es muss wohl mit der Kümmernis, der Hektik und der Angst der damaligen Zeit zusammenhängen, dass keiner ihn genauer nach den Klassenarbeiten befragte. So blieb er allein und keiner merkte, wie er langsam aus dem Leben ausstieg und einem dumpfen Brüten verfiel. Peters Englischlehrer kam meistens zu spät in die Unterrichtsstunde. Die Ursache lag in seinem hohen Amt. Er war nämlich Kreisleiter und hatte in dieser Funktion viel zu tun, auch am Vormittag. Er pflegte dann seinen Schülern zunächst genau mitzuteilen, welche wichtigen Obliegenheiten zum Wohle des Reiches er gerade zu erledigen gehabt hätte. Den Rest der Stunde versuchte er den Stoff durchzupauken. Seine Vorliebe galt der Grammatik. Peter fiel auf, dass seine Mitschüler nur wenig Gelegenheit bekamen, Englisch zu sprechen. Die Erklärungen des Lehrers erfolgten ohnehin in Deutsch, und seine englische Aussprache war so, als sei das Englische bereits vom Deutschen erobert worden. Da hatte das Frl. Hauser an seiner vorigen Schule doch ganz anders gesprochen, da war Klang und Melodie drin gewesen, so wie bei den Sprechern des Londoner Rundfunks, den Peter häufig abhörte, wenn English by radio kam. Heimlich, das war ja klar. Seine Lehrerin hatte ihm für diese Sprache die Ohren und das Herz geöffnet, vielleicht war es seine leichte musikalische Auffassungsgabe. Er behielt nicht nur den Klang, sondern auch
die Worte im Ohr. Kein Wunder, dass er in diesem Fach besonderen Erfolg hatte. In jeder Stunde erzählte die Lehrerin auch kleine Geschichten, die sie nacherzählen mussten. Wie leicht das ging und welche Genugtuung, wenn er genau den Tonfall traf und Lob erhielt. Er liebte diese Sprache. Er war sich aber nicht sicher, ob er sich schon mit einem abgeschossenen alliierten Piloten hätte unterhalten können. Eine Kopfnuss weckte ihn auf. Er hatte schon wieder geträumt. Der Lehrer stand neben ihm, hatte gerade lang und breit eine grammatikalische Erscheinung erklärt und verlangte von Peter die Wiederholung. Der aber hatte nichts mitgekriegt. Nun höhnte ihn der Lehrer: Ach ja, der Einser-Schüler im Englischen und hat von Tuten und Blasen keine Ahnung. Aber es war ja eine Schule vorwiegend für Katholiken und die sind sowieso dööfer als die hintersten Botokuden im Busch. Die Klasse lachte. Es gab nichts Schöneres für den Lehrer, als einen Schüler fertig zu machen, besonders wenn er erst einmal seine Schwächen erkannt hatte. Der wurde so lange mit Hohn überschüttet, bis er auch bei den Klassenkameraden zum letzten Dreck gehörte. Manchmal ersparte er sich auch die wörtliche Demütigung, dann knallte er dem Betreffenden ein paar an den Ballon, wie er es nannte. Das war auch Peter passiert. Er hatte die Klassenarbeit nicht verbessern können, weil er nicht wusste, wie das ging, und weil er keine Zeit dazu gehabt hatte. Er wollte mit seinem Vater auf die Jagd. Und so hatte er sein Heft unberichtigt abgegeben. Gab das einen Aufstand! Er wurde angebrüllt wie ein Soldat auf dem Kasernenhof, wurde nach vorne gerufen und links und rechts mit Ohrfeigen traktiert. War das eine Schande! Seither hasste er diesen Lehrer. Diesen besonders, weil der häufig in seiner Uniform vor die Klasse trat. Feist und fett, mit dem breiten Lederriemen um den Bauch, stand er breitbeinig,
auf den Zehen wippend, vor der Klasse. Dann nahm der Unterricht eine andere Wendung. Aus der kackgelben Uniform entströmte braune Weltanschauung und überhebliche Siegesgewissheit. Dann kamen Peter Mordgedanken. Man müsste den HJ-Dolch mitbringen und ihn in diesen feisten Bauch stoßen. Einmal, zweimal, zehnmal und dann aufs Rad, durch die Vorstadt könnte man noch kommen, dann den Feldweg entlang und über den Fluss. Aber wo sich verstecken, es wurde schon Winter? Und es war Mord. In vier Monaten würde man den Wanst ohnehin an den nächsten Baum hängen und Peter würde sich noch an dessen Beine hängen, wenn das Gewicht des Nazis nicht ausreichte, sein Genick zu brechen. Peter erschrak über seine wütende Fantasie. Thomas wäre entsetzt gewesen. So, so, der Herr Kreisleiter, Verzeihung, Genosse Kreisleiter, wollte zur Beerdigung eines Fahrschülers, der von Tieffliegern erschossen worden war. Als Heldensohn wurde er nun als leuchtendes Vorbild hingestellt, als überlebendes Bündel von Angst hätte er ihn zur Sau gemacht. Einmal hatte dieser Lehrer einen besonderen Einfall. Er las seinen Schülern in seinem Panzerkreuzer-Englisch eine Geschichte vor und forderte sie dann auf, sie nachzuerzählen. Niemand meldete sich. Peter hob die Hand. „Na, dann wollen wir mal hören, wie die Niete euch beschämt.“ Die Klasse lachte. Peter begann. Er sah seine Lehrerin vor sich, wie sie sprach. Er hörte die Sprecher von Radio London, sein Gedächtnis ließ ihn nicht im Stich. Die wörtlichen Reden gelangen ihm besonders. Es war, als ob Thomas mit seinem theatralischen Talent ihm zu Hilfe kam, do you like a cup of tea, oh yes, Miss Gewitterziege. Zuerst hatten die Mitschüler gelacht, als sie diesen für sie so fremden englischen Tonfall hörten, aber dann merkten sie, dass hier
jemand ganz frei Englisch sprach und dass es jenseits der Sprechbemühungen ihres Lehrers eine Sprache geben musste, die Englisch hieß. Die Geschichte war zu Ende. Die Klasse klatschte Beifall. Der Dickwanst stand breitbeinig, allerdings ohne Uniform, und wippte auf den Zehenspitzen. „Sag mal, hörst du eigentlich Feindsender ab?“ Peter tat überrascht und verständnislos. Ihm war sofort klar, dass eine solche Aussprache verräterisch war. „Wir haben das bei unserer Lehrerin auf der vorigen Schule so gelernt. Sie war BDM-Führerin und hat bestimmt keinen Feindsender abgehört.“ Die Klasse redete durcheinander. Peters Aussprache musste doch wohl in der Nähe des englischen Originals gelegen haben. Der Lehrer befahl Ruhe und ging ohne weitere Kommentierung auf eine wichtige grammatikalische Erscheinung im Englischen ein. Aber er rächte sich. Zwei Tage später gab es Fliegeralarm. Während die anderen gemütlich, durcheinander schwatzend und froh ihre Sachen packten, warf Peter seine Bücher in die Tasche, ergriff seine Jacke und war der Erste an der Tür. Da packte der Lehrer zu. Er rief ihn zurück. „Komm doch noch mal her.“ Und dann, vor der mittlerweile wieder still gewordenen Klasse, sagte er: „Ich habe gehört, du bist der größte Angsthase der Schule. Wenn er nur ein bisschen Motorengebrumm hört, rastet er aus und verkriecht sich in den hintersten Winkel. Das ist eines deutschen Jungen unwürdig. Wir müssen sehen, dass du Mut und Ehre wiedergewinnst. Dein Mitschüler, der neulich bei dem Terrorangriff ums Leben kam und bei dessen feierlichen Beisetzung ich war, der war tapfer. Der ist ohne Angst in den Tod gegangen.“
Das ist Thomas auch, dachte Peter. Die Kugeln trafen ihn, bevor die Angst ihn packte. Mich hat die Kugel nicht getroffen, aber die Angst hält mich jetzt fest. „Deshalb wollen wir heute eine Einübung in die Tapferkeit beginnen. Peter verlässt erst das Schulgebäude, wenn die ersten Terrorbomber über uns erscheinen. Und in Zukunft verlässt du immer als Letzter das Gelände.“ Peter musste sich in die Bank setzen und der Lehrer stand daneben am Fenster. Die Klassenkameraden verließen gemächlich den Raum. Für sie war Peters Verhalten ohnehin unverständlich und die jetzige Maßnahme des Lehrers ließ sie gleichgültig, auch für Jochen war Peters Angst und sein fast panikartiges Davonrasen rätselhaft. Das ließ sich mit dem Verstand nicht erklären. Er versuchte zwar immer wieder, ihm die Ungefährlichkeit nachzuweisen, als Radfahrer und im Dorf bist du völlig sicher, und Peter sagte ja, ja, doch er änderte sein Verhalten nicht. Vermutlich hatte es bei ihm einen Kurzschluss gegeben. Man müsste die Sicherung auswechseln. Aber wo steckte die? Nach zehn Minuten setzte das Motorengebrumm ein. „So, jetzt kannst du losfahren. Vielleicht haben dir deine Freunde ja mitgeteilt, dass sie heute keine Bombe auf dich werfen.“ Peter ging langsam die Treppe hinunter zu seinem Fahrrad. Langsam fuhr er nach Hause, oben dröhnten die Bomber. In vier Monaten würde man diesen Dickwanst an den nächsten Baum hängen. Das tröstete ihn. Wie gerne wäre er gleichgültig oder gefühllos gegen die Bedrohung aus der Luft geworden, aber immer wieder peitschte die Erinnerung seine Angst auf. Da hatten sich Hörbilder in seinem Kopf festgesetzt, das Heulen der Flugzeugmotoren, das Hämmern der Maschinengewehre, das Prasseln der Geschosse und das Schreien der Leute. Hatte Thomas zuletzt auch noch geschrien? Was zerreißt das Herz als erstes, die Angst oder das
Geschoss? Ja, Thomas hätte ihn aus diesem Chaos befreit. Ja, Thomas. Unterwegs traf er Anke, Jochens Schwester. Sie schob ihr Rad. Der Vorderreifen war platt. Sie stellten das Rad in einer Gastwirtschaft unter und Anke setzte sich auf die Querstange von Peters Rad. So fuhren sie nach Hause. Im Deutschen kam er gut zurecht, es war ein menschenfreundlicher Lehrer, der seine Schüler geschickt an den Stoff heranbringen konnte. Peter sagte nicht viel, aber der Lehrer schätzte seine Antworten. Eines Tages lasen sie ,Der Knabe im Moor’. Jede Strophe wurde gründlich besprochen und die gesamte Ballade musste auswendig gelernt werden. Zu jener Zeit gab es fast täglich Alarm und der Unterricht kam meist nicht über die zweite Stunde hinaus. Wenn die Sirene ertönte, wurde der Unterricht sofort geschlossen und die Schüler wurden fortgeschickt. Auch die Gruppe der Schüler aus seinem Dorf machte sich auf den Heimweg, aber ohne ihn. Er war schon längst verschwunden. Mit der Heimfahrt während des Fliegeralarms war das so: Zum einen war die Zeit zwischen dem ersten Sirenengeheul und dem ersten Motorengebrumm der einfliegenden Bomber nur sehr kurz, sie reichte kaum, um bei mittlerem Tempo mit dem Rad rechtzeitig das Elternhaus zu erreichen. Zum anderen führte über weite Strecken die Bahnlinie unmittelbar neben der Straße her. Peter hatte sein Rad direkt neben dem Hinterausgang der Schule abgestellt. Beim ersten Sirenenton packte er seine Sachen in die Büchertasche, hörte nicht mehr, was Mitschüler oder Lehrer sagten, und rannte hinaus. Er war der Erste, der mit seinem Rad das Schulgelände verließ. Nun kommen die holprigen, winkligen Straßen des Stadtrands. Er kann nicht so schnell fahren, das Rad stößt und klappert. Er horcht nur noch, horcht nach oben, kommt da schon das erste
Motorenbrummen? Jetzt eine gerade glatte Straße, er tritt, über das Lenkrad gebeugt, kräftig in die Pedale, jetzt ist er am Ortsausgang, und hier läuft in einem weiten Bogen die Bahnlinie an die Straße heran, um sie über zwei Kilometer weit, nur getrennt durch einen Gebüschstreifen, zu begleiten. Vor einem Haus an der Straße steht ein Junge gleichen Alters wie er. „Sie sind schon in Friedrich Quelle 1.“ Der Fliegersoldat, der im elterlichen Haus einquartiert war, hatte ihm auf einer Deutschlandkarte das Gitternetz eingezeichnet, mit dem die Standortmeldungen der feindlichen Flugzeuge chiffriert wurden. Man konnte diese Meldungen im Radio abhören. Dann sind sie nur noch zwei kleine Quadrate entfernt. Ein Personenzug kommt ihm entgegen und fährt durch den Bogen auf den Bahnhof zu. In den nächsten zehn Minuten kommt kein Zug mehr nach. Aber der Gegenverkehr! Es kann doch sein, dass der Gegenzug schon wartend im Bahnhof steht und abfährt, wenn der andere einläuft. Schaffe ich es noch bis zum Bahnübergang? Rechts neben der Straße liegt ein breiter Waldgürtel und ein tiefer Graben. Von hier werden sie nicht angreifen, wohl von der anderen Seite, die ganz offen liegt, aber der Graben bietet Schutz. ,Hohl über die Fläche sauset der Wind, was raschelt drüben am Hage?’ Er horcht, der Fahrtwind saust um seine Ohren, aber er hätte es gehört, das tiefe Brummen. Nun trennen sich Bahnlinie und Straße, die Schienenstränge machen einen weiten Bogen zur nächsten Haltestation. Peter richtet sich auf und hört auf zu treten. Da dröhnen sie heran, die Bomber. Sie sind da. Einen Kilometer über eine ungefährdete Straße muss er noch fahren, doch dann kommt die schlimmste Strecke: Zwei Kilometer weit laufen Bahn und Straße eng nebeneinander her, zu beiden
Seiten freies Gelände, bis endlich die Straße die Schienen überquert und sich rasch von ihr entfernt. Er blickt sich um, ob der Zug schon kommt und dann rast er wieder los, tief über den Lenker gebeugt. ,Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, durch Riesenhalme wie Speere.’ Das war es, es waren die alten Gruselgeschichten, die dem Knaben Angst machten und die in seiner Fantasie Wirklichkeit wurden. Aber wovor Peter Angst hatte, das war die Wirklichkeit, und sie hatte sich in seiner Fantasie eingenistet. Das war nicht eine Sage aus ferner Zeit, das waren Tiefflieger mit wirklichen Menschen drin, und sie konnten wieder auftauchen, und jede Unregelmäßigkeit der Motoren, jeder schriller werdende Propeller machte ihm Angst, jagte ihn in Gedanken wieder neben den Schotter der Gleise und er sah Thomas daliegen. Und wenn sie jetzt ein weiteres Mal kämen, wäre er nicht wie gelähmt vor Angst, würde sein Herz nicht stehen bleiben, bevor sie ihn träfen? Nun kam die Stelle, wo sich Bahn und Straße wieder treffen. ,Voran, voran, nur immer im Lauf, voran, als wollt es ihn holen.’ Voran, voran, sagt er und tritt mit diesem Rhythmus in die Pedale. Linker Fuß vor, linker Fuß vor. Zwei Kilometer, links die Gleise und nach rechts kaum eine Deckung. Ich liege genau in der Auftreffwalze. Hoffentlich kommt kein Zug. Vorne rechts mündet ein Sandweg. In den fahre ich hinein, wenn einer kommt. Er blickt zurück, da ist nichts, aber hinten bei der letzten Station, steht da nicht eine Rauchwolke? Das Motorenorgeln in der Luft nimmt zu. Fallwinde, Luftlöcher, hätte Thomas gesagt. ,Der Knabe springt wie ein wundes Reh.’ Er muss noch über den Bahnübergang, bevor die Schranken heruntergehen. Jetzt über die Brücke, und nun der Bahnübergang. Er richtet sich auf und lässt das Rad im
Leerlauf rollen. Der Gepäckträger klappert in den Gleisrillen. Die Straße führt nach unten, von der Bahnlinie weg. Eine Allee nimmt ihn auf. ,Da mählich gründet der Boden sich, tief atmet er auf Als er den Ortsrand erreicht, sieht er in weiter Entfernung den Zug vor einem Haltesignal stehen. In mäßigem Tempo durchfährt er die Dorfstraße, noch immer horchend. Zu Hause stellt er das Rad in den kleinen Hof, nimmt seine Tasche und geht ins Haus. Niemand ist da. Er geht die Treppe hinauf in sein Zimmer und setzt sich auf einen Stuhl. Er atmet tief durch, hört einen Augenblick nicht mehr das Röhren der Bomberströme. Dann nimmt er schnell die englische Klassenarbeit aus der Tasche und versteckt sie im Bücherbord. Sie ist mangelhaft. In der anderen Woche schrieben sie einen Aufsatz über den Knaben im Moor. Sie sollten sich in die Situation des Knaben versetzen und seine Erlebnisse schildern. Der Lehrer hatte ihn tags darauf merkwürdig angesehen und gefragt: „Woher weißt du das alles?“, ein bisschen so, als ob ihm jemand zu Hause Hilfe gegeben hätte. Peter hatte nur mit den Schultern gezuckt. Wie sollte er das erklären? Es wäre eine lange Geschichte gewesen – und ob der Lehrer ihn verstanden hätte? Wenige Tage später erhielten sie den Aufsatz zurück. Statt einer Zensur gab es nur eine Bemerkung: ,Kann nicht gewertet werden, da Verdacht auf unerlaubte Hilfe besteht.’
Letzter Jagdtag
„Erzähl’ noch einmal die Geschichte von der Jagd. Die Beschreibung deiner Unruhe kannst du auslassen. Bekanntlich geht es hin und her durch Haus und Garten, so dass Mutter schon sagt: Junge, nun setz’ dich doch erst mal ruhig hin und schone deine Kräfte!’ Das gehörte vermutlich zum Ritual des Jagdtags. Warum hast du nicht in deinen Jagdgeschichten gelesen, z. B. von Löns? Fürchtetest du, die Wirklichkeit könnte hinter dem Vorbild zurückbleiben?“ „Ja! Es war schon deprimierend, wenn man nach einem erfolglosen öden Jagdtag nach Hause kam und dann eine Lönsgeschichte las. Oder wenn man sich durch die Lektüre mit Begeisterung und Erwartung vollgetankt hatte und dann einen langweiligen und beutelosen Nachmittag erleben musste. Feld auf, Feld ab, über Stacheldrahtzäune, durch Weiden, Runkelrüben, Kartoffeläcker, Wallhecken und Dickicht. Nichts, nichts! Die Rebhuhnkette flog zu früh auf und war nicht wiederzufinden. Kein Fasan, kein Hase oder Vater traf nicht. Dann wurde der kleine Rucksack schon schwer und die Beine wurden lahm. Man dachte an die Spielkameraden zuhause, die jetzt zwischen den großen Holzstapeln Verstecken oder die Eroberung einer feindlichen Stadt spielten. Da wäre jetzt was los gewesen! Doch jedes Mal, wenn wieder ein Jagdtag anstand, packte mich das Jagdfieber, und ich ließ alles stehen und liegen, um Vater begleiten zu können. Einmal habe ich deswegen sogar den Unterricht geschwänzt. Was für ein Wetter! Ein blauer Oktoberhimmel, kaum ein Luftzug und eine milde Wärme breitet sich aus. Ich bin ungeduldig und blicke
immer wieder zum Himmel, ob da nicht wohl eine Regenwolke heranschwimmt und uns den Jagdspaß verdirbt.“ „Halt einmal! Das war doch nicht der Grund, weshalb du fortwährend nach oben sahst. Da oben brummten unablässig die alliierten Bombergeschwader vorbei und ihre Kondensstreifen verdichteten sich allmählich zu einer dünnen Wolkendecke. Die Bomber tun dir nichts, sie wollen nach Berlin und es in Klump schmeißen. Und wenn sie heute Nachmittag zurückkommen, sind sie noch harmloser als ein Schwarm Wildgänse. Vielleicht guckt dann einer nach unten, mit dem Fernglas natürlich, sonst kann man die Einzelheiten nicht sehen. Vielleicht sagt er: ,Die Kartoffeln sind auch noch nicht raus. Wie bei uns. Und da gehen Jäger und jetzt schießen sie. Die Hunde laufen vor und apportieren die geschossenen Rebhühner. Drei – vier Stück. Scheinen gute Schützen zu sein.’ Vielleicht ist der, der das sagt, selbst ein Jäger, denn nur Jäger können so etwas erkennen. Da oben fliegt gewissermaßen ein Jagdgenosse, aber trotzdem hast du Angst. Ich will dir auch sagen warum. Du hast Angst vor den Tieffliegern, die von oben herunterkommen und auf alles Jagd machen, was sich bewegt: auf die Lokomotiven, Autos, Fahrradfahrer, Fußgänger und auch auf Jäger, die über den offenen Esch gehen. Es sind gute Jäger, sie schießen genau. Weißt du noch, damals, als sie deinen Zug angriffen und deinen Freund Thomas erlegten? Wild ist Wild.“ „Hör auf! Hör auf! Lass Thomas aus dem Spiel! Zu Beginn des Krieges war alles anders, es gab keine Bomber und Tiefflieger. Es ist ein blauer Oktobermittag, wir gehen über dem Moorweg zur Kuhstraße und dann nach links, möglichst schnell die öffentlichen Wege und Straßen verlassen. Ich mag nicht, dass meine Spiel- und Klassenkameraden mich in
meinem Jagdaufzug sehen. Trainingsanzug, Gummistiefel, Skimütze, Fausthandschuhe und den kleinen Rucksack. Ich bin in einer anderen Welt, die sie doch nicht verstehen und die sie mir auch nicht durch belustigte Blicke und hämische Worte madig machen sollen. Meistens kommen wir ungesehen zu den Feldern.“ „Aber bei der letzten Jagd bist du doch jemandem begegnet.“ „Ja! Das war Wolfgang. Er war stärker als ich, aber im Sport und Schlittschuhlaufen war ich ihm über. Er hatte ein böses Mundwerk.“ „Hat er was gesagt?“ „Ja, vermutlich hätte er geschwiegen und nur spöttisch das Gesicht verzogen, aber, aber diesmal trug ich mehr als meinen Rucksack. Ich hatte Vaters Drilling auf dem Rücken. Er rief: ,Dat Gewehr is ja gröter as dei Kerl!’ Ja, es muss wohl komisch ausgesehen haben. Die Mündung war in Ohrhöhe und der Kolben stieß fast auf den Boden. Ich hatte mich so gefreut, die Waffe tragen zu dürfen und war richtig stolz gewesen. Mein Vater lachte über die Bemerkung und wir gingen ins Feld. Vater lud seine Doppelflinte und dann haben wir den Acker abgesucht. Diesmal fanden wir nichts, aber damals schoss Vater gleich ein Kaninchen. An dem Tag hatte er einen sagenhaften Anlauf.“ „Warum habt ihr den Drilling mitgenommen?“ „Vater wollte ihn an den Jagdgenossen Dirk ausleihen, dieser besaß momentan kein Gewehr. Vor zwei Monaten hatte ein angeschossener Bomber seine Bombenlast abgeworfen und genau auf den Hof von Dirk. Ein Hof, der völlig abgelegen lag. Seine Frau und seine beiden Kinder kamen ums Leben, alles wurde zerfetzt und verbrannt, natürlich auch die Gewehre und die Munition. Der Bomber ist später irgendwo abgestürzt, ein paar Besatzungsmitglieder sollen sich mit dem Fallschirm
gerettet haben. Wären sie in der Bauernschaft heruntergekommen, hätte man sie gelyncht. In der Zeitung stand: ,Terrorbomber tötet unschuldige Frauen und Kinder!’ Dieser Tod und dieser Bombenabwurf waren Zufall, nur der Krieg war geplant, aber wer schaute damals zum Anfang zurück.“ „Hättest du dich schützend vor so einen abgeschossenen Flieger gestellt?“ „Ja! Die Genfer Konvention, daran glaubte ich. Sie schützte ja auch den deutschen Soldaten. Thomas vertrat die Ansicht, man müsse sich wenigstens an die wenigen Menschenrechte halten, die in diesem Krieg noch übrig geblieben waren. Er meinte das Recht der Verwundeten, der Gefangenen, der Hilflosen. Ich weiß nicht, was er nach dem Tieffliegerangriff gesagt hätte, und ich tot zu seinen Füßen. Immer und immer wieder stießen die Jäger auf den Zug herunter. Darin waren fast nur Schüler, die mittags nach Hause fuhren. Die Lokomotive war schon nach dem ersten Anflug zerschossen. Das genügte doch.“ „Und wenn jetzt einer dieser Jäger abgeschossen, hilflos vor dir am Boden gelegen hätte? Auge um Auge, Zahn um Zahn?“ „Und führe uns nicht in Versuchung. Oh, diese Todesangst, diese Wut, diese Trauer, warum nicht an diesem Piloten auslassen? Oder gab es doch etwas, was mich zurückgehalten hätte? Was waren das für Menschen, die immer wieder in die leeren Abteile hineinfeuerten, während die Kinder schreiend und in Panik im Graben vor dem Zug lagen. Sie wussten nicht, was ihnen geschah.“ „Oder war vielleicht einer unter den Jägern, der ein eigenes Kind durch eine deutsche Bombe verloren hatte?“ „Thomas’ Vater hatte gesagt: ,Du musst in die eiserne Kette des Hasses einen Ring aus Blumen einflechten, dann reißt sie’.
Damals gab es noch Blumen in unseren Gärten, auch in Dirks Garten, bevor die Bomben ihn in eine Wüste verwandelten.“ „Wie entwickelte sich eigentlich deine Freundschaft zu Dirk?“ „Auf der Jagd begleitete ich ihn häufig. Er freute sich, das merkte man und er sah in mir wohl so etwas wie einen jüngeren Bruder, dem er alles erklären und zeigen musste. Mir machte es Spaß, bei ihm zu lernen. Vater war sehr schweigsam, besonders auf der Jagd sagte er fast nichts. Bei Dirk habe ich viel gelernt. Er war ein guter Jäger und ein ausgezeichneter Schütze. Ich habe mal erlebt, dass er mit einem Brennecke-Geschoss einen laufenden Hasen auf vierzig Metern erlegte. Natürlich total zerschossen. Er sagte daraufhin: ‚Aber ich hatte beide Läufe mit Brennecke geladen, weil ich auf Rehe hoffte und dann kam der Hase. Ich hatte keine Wahl. Wild ist Wild. Da muss man schießen.’ Er war einer, der sogar ins Herz sehen konnte, jedenfalls in meines. Seit einiger Zeit hatte ich mir insgeheim gewünscht, einmal mit der Schrotflinte auf Wild zu schießen. Gesetzlich war das nicht erlaubt und Vater brauchte ich darum auch nicht zu bitten. Treffsicher war ich, das hatte ich mit Luftgewehr und Flobert bewiesen, aber mit einem großkalibrigen Gewehr hatte ich es noch nicht probiert. Dann bei einer Jagd drückte Dirk mir plötzlich die Flinte in die Hand und zeigte nach vorne. Da saß auf einem Baum ziemlich ahnungslos eine Taube und döste. Ich schlich mich noch dreißig Meter näher heran und dann traf ich sie. Der Rückschlag des Schusses hätte mich beinahe umgehauen. Mein Gott, war ich stolz, als ich die Taube in der Hand hielt. Wir haben den anderen davon nichts erzählt, aber es war, als sei ich fünf Stufen höher gestiegen. Nun gehörte ich auch zum Kreis
der Jäger, wenngleich nur ich und Dirk das wussten. Er hatte mein Herz gewonnen.“ „War Thomas damals schon tot?“ „Ja, aber erst kurze Zeit. Manchmal glaube ich, Dirk hat es getan, weil er mir helfen wollte, und so war es auch. Da war wieder einer, der mir half, mich im Leben zurechtzufinden. Ein Bruder, ein Tröster, der mir über Thomas’ Tod hinweghelfen wollte. Nein, ersetzen konnte er ihn nicht, aber durch ihn begannen die fahl und wertlos erscheinenden Erinnerungen wieder Farbe und Sinn zu bekommen.“ „Hatte Dirk seine Familie damals schon verloren?“ „Nein, erst drei Monate später.“ „Hat der Tod der Familie ihn sehr verändert?“ „Ja, er wurde wortkarg, ganz in sich gekehrt, ein lustiges Wort hörte man nur noch selten von ihm, und seine Aufmerksamkeit auf der Jagd ließ nach. Manches Wild entkam, weil er so verloren vor sich hinstarrte und wie aus einem schweren Traum erwachte, wenn man ihn anrief. Man sprach mit ihm nicht über den Verlust. Man half ihm mit allen Dingen, die er zum Neuaufbau des Hofes brauchte, aber wie ihm zumute war, danach fragte niemand. Da ist hierzulande eine sonderbare Scheu und auch Unbeholfenheit. Erst war ich unsicher, ob ich ihn weiter bei den Jagdgängen begleiten durfte, aber dann habe ich es einfach getan. Ich glaube, da hat er gewusst, dass er noch einen kleinen Bruder hat. Einmal, als wir über den Esch gingen und er so verloren darüber hinwegsah und seine linke Hand so schlaff herabhing, als wolle sie nie mehr etwas greifen und festhalten, da habe ich meine Hand in seine gelegt und er hat sie festgehalten und nicht mehr losgelassen. Als ich zu ihm aufblickte, sah ich, wie Tränen über sein Gesicht liefen und da musste auch ich weinen. So sind wir schweigend über das Feld gegangen.
Vater und ich hatten mittlerweile eine Häuserreihe erreicht, dahinter lag eine Wiese, von einer Baumreihe begrenzt, dann begann der sanfte Anstieg zum Esch. Hier wollten wir uns mit den anderen Jägern treffen.“ „Und jetzt begann wieder deine Angst hochzusteigen?“ „Ja, da entwickelten sich Anzeichen von Panik, ich wollte mich schon weigern weiterzugehen. Gleich befänden wir uns auf dem offenen, völlig deckungslosen Esch. Oben brummten die Bomber, sie kamen zurück. Ihre Begleitjäger hatten jetzt Zeit. Sie kurvten nach unten, um Ziele zu suchen, denn oben gab es keine mehr. Deutschlands Jagdwaffe war kaputt. Auf dem Feld da oben war kein Graben, keine Deckung. Wovor hatte ich am meisten Angst? Vor dem Heranheulen der Jäger oder dem Rattern der Maschinengewehre? Wenn’s mich träfe und ich tot wäre, dann wär’s wenigstens still. Dann könnte mich nichts mehr erschrecken und verletzen. Aber was da vorherging – dieser entsetzliche Lärm, diese Angst. Wie lange erträgt man das? Oder sollte man den Helden spielen, Selbstmordkommando für Führer, Volk und Vaterland? Den Drilling vom Rücken reißen, eine Kugel in den Lauf stoßen und dann, liegend aufgestützt den Jäger in die Kugel hineinfliegen lassen. Selber tödlich getroffen, aber auch Absturz des Terrorfliegers. Ehrenvolles Begräbnis, mit militärischen Ritualen, Salutschüssen, Deutschlandlied, die Fahne hoch und ein nachgereichtes EK. Der Jäger im Flugzeug zerrissen, verbrannt, wird untergepflügt. Mein Gott, wer hat uns diese Bilder eingeätzt? Doch in diesem Augenblick erscheinen die anderen Jäger auf dem Esch. Wir brauchen nicht mehr heraufzusteigen, sie kommen zu uns herab. Unter den Bäumen begrüßen wir die drei Jagdkollegen. Ich gebe Dirk den Drilling.
,Ich habe extra noch die Läufe gereinigt, besonders den Kugellauf, damit du heute die Ricken sicher triffst.’ Er lachte. ,Wenn ich heute also nicht treffe, liegt die Schuld ganz bei mir.’ Ich gab ihm auch noch drei Kugelpatronen. ,Mehr hatte Vater nicht.’ ,Eine reicht schon, mehr Gelegenheiten hat man doch nicht.’ Er lud alle drei Läufe. Ich ging mit Dirk. Vor uns tat sich ein weites Feld auf, über das die Jäger in einer langen Kette pirschen wollten. Oben brummten die Bomber. ,Ich habe Angst!’ ,Ich weiß’, sagte er, ,komm, wir gehen dort an der Wallhecke entlang, da gibt es vielleicht auch Fasane.’“ „Wann wurde eigentlich dieses Foto gemacht?“ „Das war 1940, an jenem Herbsttag, an dem Vater so einen sagenhaften Anlauf hatte. Diese Heidefläche da, die gibt es heute nicht mehr. Plötzlich stand der Hase auf und wurde mit einem Schuss erlegt. Vater drückt gerade den Hasen aus und ich stehe dahinter, den Drilling in den Händen, und lache und lache. Ich glaube, wenn man einmal nach Bildern sucht, die höchstes Glück ausdrücken, dann ist es dieses. Mein Bruder war damals mit uns gegangen und wollte Jagdfotos machen. Dies ist das schönste. Hinterher schoss Vater noch eine Taube, einen weiteren Hasen, ein Rebhuhn und einen Fasan. Das war der glücklichste Tag in meinem Leben. Damals kannte ich Dirk noch nicht so gut. Es war ja auch das erste Jahr, dass ich Vater begleitete. Die Jagd sollte in der Flussniederung enden. Dort schob sich ein sogenannter Toter Arm weit ins Gelände, bog dann scharf um und kehrte zum Hauptlauf zurück. Dadurch bildete sich so eine Art Halbinsel. An der Spitze, zu der auch eine Brücke führte, hatte sich ein großflächiges Farnareal entwickelt. Hier hielten sich gerne Fasane und Rehe auf.
Ich erinnere mich genau: Die Jäger stellen sich in einer langen Kette an einer Seite des Farns auf, wobei Dirk als letzter zum breiteren Ende der Halbinsel hin postiert ist. Jetzt werden die Hunde in den Farn geschickt. Im nächsten Augenblick steigen die Fasane auf und Schüsse knallen. Ein Fasan streicht über Vater hinweg und will über den Toten Arm. Der zweite Schuss erwischt ihn und er fällt in die Brombeeren am Uferrand. Als ich mich umdrehe, sehe ich die drei Ricken, sie springen aus dem Farn und laufen in Richtung des breiteren Teils der Halbinsel. Dirk hat bislang noch keine Gelegenheit gehabt, auf Fasane zu schießen. Sie fliegen alle in die entgegengesetzte Richtung. Doch für das Rehwild steht er richtig und ich schaue gebannt zu, wie er das Gewehr hebt und während ringsum noch immer auf vereinzelt aufsteigende Fasane geschossen wird, sehe ich, wie plötzlich eine der Ricken zusammenzuckt und nach wenigen Metern zusammenbricht. Das ist die beste Beute. Mit Brennecke auf 50 Metern in vollem Lauf Blattschuss. Dirk ist wieder einmal der Wunderschütze und ich bin ihm böse. Vater wird heute nicht Jagdkönig sein, obwohl er das meiste Wild erlegt hat. Rehwild hat den höheren Rang. Nach dem Aufbrechen der Ricke gehen wir gemeinsam zurück. Es wird schon dunkel, als wir auf Jobs Hof ankommen. Auf der großen Diele wird zunächst die Strecke gelegt und das Wild verteilt. Vater wird doch zum Jagdkönig erklärt. Er hatte am meisten und verschiedenes Wild erlegt. Ich finde das gerecht und Dirk ist lachend mit dem Beschluss einverstanden. Ihm genügt es, wieder einmal mit seinem Brennecke gut getroffen zu haben. Seitdem habe ich Vertrauen zu ihm gefasst und seine Nähe gesucht. Den Abschluss eines solchen Jagdtages bildet ein deftiges Essen, das Lisa, die Bäuerin, für uns in der besten Stube vorbereitet hat: mit Schinken, selbstgebackenem Brot, Bier
und Milch. Sie kommt mehrere Male vorbei und fragt, ob ich noch Hunger habe. Ich hatte. Lisa mag sich wohl verwundert gefragt haben, wie dieser spirrige Junge das alles verdrücken konnte. Gegen acht Uhr machen wir uns auf den Heimweg. Es sind noch über drei Kilometer zu laufen, aber ich fühle mich noch nicht müde. Dieser Tag hat mich glücklich gemacht, ich habe mich satt gegessen und die kühle Herbstluft macht mich munter. Ich gehe hinter meinem Vater über das schmale Radpättchen entlang der Straße. Der Hund trottet neben uns her. Es ist Vollmond und unsere Schatten zeichnen sich scharf ab. Unten im Flusstal steigen die ersten Nebel auf Zur Linken wölbt sich der Esch. Alles ist genau zu erkennen. Der Weg, der den Esch hinaufläuft, und jenseits des Flusstals durch die ersten Nebelschwaden der Hof Werner. Plötzlich fällt mir ein Vers ein, den meine Lehrerin mir unter einen kleinen Aufsatz über ein Nachterlebnis geschrieben hatte. Damals fand ich es unpassend, dass man mit etwas ganz Fremdem das eigene Gefühl, die eigenen Worte abgeschlossen, ja übertrumpft hatte. Ich war richtig böse. Obwohl ich diesen Vers hasste, habe ich ihn auswendig gelernt. Den wollte ich bei mir haben und an einem Stein zerschmettern. Doch jetzt, in dieser späten Stunde, wird er auf einmal wichtig, bekommt er eine magische Wirkung, und ich beginne ihn leise zu zitieren: ,Schlummernd lagen Wies’ und Hein, jeder Pfad verlassen; niemand als der Mondenschein wachte auf der Straßen.’ Ich merke plötzlich, wie diese Zeilen mir die Augen öffnen. Plötzlich sehe ich. Wiesen und Wälder sind nicht einfach nur eine schwarze Masse und eine plane Ebene. Sie schlafen wie
Menschen. Ich kann sie einordnen und verstehen. Der Dichter gibt ihnen einen Sinn aus der Menschenwelt. Und seitdem sind sie nicht mehr fremd. Der Weg, sonst viel begangen und befahren, ist leer, einsam. Er ruht sich aus von den Wagenrädern und Tritten der Menschen, und der Mond wacht. Es gab nichts zu befürchten. Man musste keine Angst haben vor dieser Welt. Man musste nur die richtigen Worte finden, dann gab sie sich zu erkennen. Der Dichter nahm mich an die Hand und führte mich durch eine verständliche und erklärbare Welt. Ich erzählte es später Thomas’ Vater. Er sagte: ,Alles ist Deutung, die Wirklichkeit ist anders. Wir hauen unsere Stempel auf diese Welt’ Er wollte sich dazu nicht weiter äußern. Heute weiß ich, er wollte mir meine Bilder nicht zerreißen, die ich in naiver Unschuld in die Kästchen klebte, die im Lebensalbum vorgezeichnet waren. So bin ich noch manches Mal mit diesem Lenau-Vers am Abend von der Jagd heimgegangen und habe mich dabei geborgen gefühlt.“ „Und wann wurden die Bilder zerrissen?“ „Als der amerikanische Pilot sich entschloss, mit seiner Staffel den Zug anzugreifen, als wir Thomas beerdigten. Die Dichter lügen. Die Natur hat kein menschliches Gesicht. Sie geht ihre eigenen Wege. Nichts lässt sich erklären. Das Schicksal ist ein Jäger, der über das Feld geht, hierhin und dorthin. Der Zufall treibt ihm das Wild vor die Flinte. Dirk und ich sind ihm vor die Flinte gelaufen, auch Thomas. Keiner ist unbeschädigt aus diesem Krieg herausgekommen. Getroffen hat der große Jäger sie alle. Ja, und dann dieser letzte Jagdtag am Ende des Krieges. Wir wollten wieder den Abschluss machen auf dieser Halbinsel. Ich war wieder zu meinem Vater gegangen.“
„Du Dirk, ich muss wieder meinen Vater begleiten. Sonst meint er noch, ich hätte meinen Glauben an seine Schießkunst verloren!“ „Ja, ja, aber nun verlässt mich mein Jagdglück.“ „So schlimm wird es nicht werden.“ Dirk lachte. Die Jäger umstellten den Farn, oben dröhnten immer noch die Bomber, ein gleichförmiger Laut, doch plötzlich fuhr ein anderes Geräusch hinein. Als wir hochsahen, flog ein Bomber tiefer als die anderen. Er brannte. Drei Fallschirme lösten sich, dann brach ein Flügel, das Flugzeug klappte zusammen, stürzte nach unten, senkrecht, und explodierte in der Luft. Wir standen in einem weiten Halbrund um den Farn herum. Noch wurden die Hunde zurückgehalten. Wir schauten alle nach oben, wo die Fallschirme wohl hintrieben. Einer sank erkennbar genau auf uns zu. Man konnte den daran hängenden Körper erkennen. Arme und Beine bewegten sich. Sie schlenkerten hin und her. Er musste im Ufergebüsch landen und ich sammelte schon meine englischen Brocken. ‘Where do you come from?’ Die Frage nach Kensington-Station war unangebracht, die Tagflieger kamen alle aus Amerika. ,What do you think about slavery in the USA?’ Ach, Quatsch! ,How do you do?’, wäre immerhin ein Anfang. Doch dann versagte schon mein Umgangsenglisch. Das hatten wir auch gar nicht gelernt. Was sagt man überhaupt zu einem Menschen, der soeben knapp dem Tode entronnen ist? Am besten nichts sagen und ihm die Hand streicheln. So ähnlich hatte es Thomas gesagt, damals, als wir uns darüber lustig machten, worüber wir uns mit einem englischen Kriegsgefangenen bei unserem dürftigen Umgangsenglisch eigentlich unterhalten könnten. Aber ohne Worte trösten – nicht vor diesen Jägern, das hier war ein Feind, der musste rau angefasst werden. In diesem
Augenblick rief Dirk: ,Los, sucht!’ Die Hunde sprangen in den Farn und im nächsten Augenblick flogen die Fasane auf. Im Moment war der niedersinkende Fallschirm vergessen. Vater traf mit dem ersten Schuss einen Fasan, der in der Luft stillzustehen schien. Die Flügel klappten an den Körper und er stürzte senkrecht zu Boden. Die Schüsse knallten, drei, vier Fasane sah ich fallen, dazwischen ein scharfer harter Knall. Als ich mich zur Seite drehte, sah ich den Fallschirm zwanzig Meter hoch. Er schoss mit seiner Last wie ein Stein ins Ufergebüsch. Ich wollte hinrennen. Doch Vater rief: ,Bleib hier!’ Die Jäger eilten zu dem Abgestürzten, standen, das Gewehr in der Armbeuge, im Halbkreis um den Gefallenen. Vater kniete bei ihm nieder, sagte etwas zu den anderen und zog ein Stück des Fallschirms über den Liegenden. Ich wusste es, der Pilot war tot. Sonderbar, wie alle plötzlich zu mir hersahen. Ich drehte mich um und nahm den Hunden, die sich um mich drängten, die Fasane ab. Die Jäger kamen zu mir. Sie hängten die Fasane an die Galgen. Hugo sagte: ,Er ist schon im Flugzeug getroffen worden, aber noch rausgekommen. Die Verletzung war tödlich.’ Und ich wusste, dass ich nicht weiter nachfragen sollte. Die Jagd war aus. Man würde den Fliegerhorst benachrichtigen, damit die Leiche abgeholt würde. Zu dritt gingen die Jäger über einen Feldweg zurück. Nur Dirk pirschte für sich noch einige Wallhecken und Felder ab. Man sagte nichts und erreichte den Hof, wo man sonst immer die Beute geteilt und zu Abend gegessen hatte. Doch das Essen fiel heute aus. Dirk und Hugo sagten, sie müssten nach Hause, es gäbe viel zu tun. Auch Vater wollte schnell heim. So wurde die Beute verteilt. Vater nahm den Fasan mit, mehr hatte er heute nicht geschossen.
Dirk gab mir wortlos den Drilling und Vater händigte er die Kugelpatronen aus, die dieser in die Tasche des Jagdrockes steckte. Auf dem Heimweg wurde der Drilling sehr schwer. Vater wollte ihn wohl zusätzlich tragen, aber ich lehnte ab. Kein Vollmond stand am Himmel. Das Wetter war umgeschlagen. Es war düster. Regenwolken hingen tief herab, der Wind wehte kalt. Am anderen Tag untersuchte ich das Gewehr. Aus dem Kugellauf war geschossen worden und in Vaters Jagdrock befanden sich noch die Patronen. Es waren zwei. Vater ging einmal noch wieder zur Jagd. Ich habe ihn nicht begleitet, nie wieder, er hat auch nicht gefragt warum. Dann war sein Urlaub zu Ende und er musste zurück zu seinem Lazarett in Süddeutschland. Beim Heranrücken der Alliierten wurden Vaters Gewehre und die anderen luftdicht verpackt und vergraben. Als die Jagd wieder erlaubt war, funktionierten sie wie vorher. Nur am Kugellauf des Drillings hatte sich eine Roststelle gebildet. Verstehst du, wenn ich bei ihm geblieben wäre und neben ihm gestanden hatte – er hätte es nicht getan.
Das schwarze Klavier
Im Esszimmer stand ein Klavier. Das war schwarz und stammte von der Firma Schwechten. Alle Kinder des Hauses hatten versucht, dieses Klangungetüm zum Tönen zu bringen. Es stand immer noch unbesiegt in der Ecke, obwohl es dem ältesten Sohn unter großem Übungseinsatz gelungen war, einige Teilerfolge bei der Eroberung der Noten-Tasten-KlangZitadelle zu erringen. Auch Peter hatte man Gelegenheit gegeben, sich mit Hilfe einer Klavierlehrerin mit diesem Tastenungeheuer auseinander zu setzen. Es endete damit, dass Peter und das Klavier sich auseinander setzten. Es war schwierig für die Hausbewohner, ihn für die tägliche Übungsstunde zu finden oder die Zeitdauer seiner Anwesenheit an dem Marterinstrument zu kontrollieren. Außerdem war er, was das Notenlesen anging, ein unbelehrbarer Analphabet. Diese hohlen und vollen Köpfe auf den verschiedenen Linien, die allesamt eine Entsprechung auf den weißen und schwarzen Tasten des Klaviers haben sollten, das alles zu begreifen, ging über sein Vorstellungsvermögen. Nach Identifizierung der Note, mit dem richtigen Finger zur richtigen Zeit die richtige Taste zu treffen – das war ein Kunststück. Sollten das andere machen, z. B. Wilhelm Kempff, von dem man im Hause mit Bewunderung sprach. Adolf Hitler konnte auch nicht Klavier spielen und war dennoch Führer des Großdeutschen Reiches geworden. Dabei war Peter durchaus musikalisch. Bekannt waren seine abendlichen Einschlafgesänge. Seine Familie wunderte sich, was er in den letzten Jahren, Monaten und Tagen so alles an Melodien aufgenommen hatte und nun tonrein summend und
singend repetierte. Das fing bei den Schlagern und Soldatenliedern an und hörte bei der Kleinen Nachtmusik’ und der ,Diebischen Elster’ auf. Die Melodien der rund hundert Schallplatten im Haus kannte er ohnehin. Das waren nicht nur Soldatenlieder, sondern auch klassische Stücke, wie sie nun einmal zum Repertoire höherer Töchter gehörten, damit sie sich später auch musikalisch in der feinen Welt bewegen konnten. Im Alter von drei Jahren hatte Peter an einem Sommerabend mit dem andächtigen Absingen des Deutschlandliedes (nach dem Abendgebet) beinahe eine patrouillierende Polizeistreife zum Eingreifen gezwungen. Doch Onkel Pohl, Polizeimeister und Nachbar, erkannte rechtzeitig, dass hier kein Besoffener unehrerbietig seinen nationalen Gefühlen Ausdruck geben wollte, sondern dass Peter sich nur in den Schlaf sang. Was nun seine Musikalität betrifft, so stellte er beim Klavierspielen fest, dass jede Taste ein bestimmtes Klangcharakteristikum hatte. Wenn man es zu der im Innern gehörten Melodie in Beziehung setzte, konnte es zusammen mit den anderen Tastenklängen ein ganz brauchbar gespieltes und erkennbares Stück ergeben. Aber wer wollte das schon hören? Sobald aber Noten identifiziert und direkt in die Tasten eingegeben werden sollten, versagte diese Methode. So haben das Klavier und Peter sich in Freundschaft getrennt. Seitdem verlor dieses Tastenungeheuer für ihn endgültig seinen Schrecken und er konnte sich ihm ohne Pflichtgefühle und Gewissensbisse nähern. Jedoch nicht zu oft, zumal das Esszimmer, in dem das Klavier stand, nur als Repräsentationsraum eingerichtet war und nur selten – mit Ausnahme des Klavierspiels – aufgesucht wurde. Im Winter überhaupt nicht. Dann wurden die Heizkörper ausgestellt, die Kunst fror ein, und das Klavier verlebte einsame Stunden. Genutzt wurde es fast ausschließlich für den vornehmen Besuch, den man mit Sie anredete, und natürlich zu
Weihnachten. Oben auf dem Deckel des schwarzen Klaviers lag eine schwarze Filzdecke mit Stickereien am Rande. Peters Bruder Franz war der erste, der eine Fotografie in einem Standrahmen darauf stellte. Das war kurz vor Kriegsbeginn. Franz, der Medizin studierte, hatte einen Klassenkameraden, der auch sein Freund war. Dieser hatte sich freiwillig für die Offizierslaufbahn gemeldet und war jetzt zum Leutnant befördert worden. Nun blickte er von da oben herab, in Leutnantsuniform. Eigentlich waren nur die silbernen Schulterklappen zu sehen, ohne Mütze. Das bekannte kantig harte Gesicht, wie es nur Leutnants haben, aber mit freundlichem Mund und freundlichen Augen. Ein gelungenes Porträt. Alle im Haus wussten, dass dies der heimliche Traum des Bruders war, Leutnant zu sein wie sein Freund. Aber Mutter hatte ihm die Offizierslaufbahn mit Bestimmtheit verboten, zumal die angehenden Mediziner zunächst von der Wehrpflicht zurückgestellt waren. Sie rechnete wohl mit einem kurzen Krieg. Vater hatte es da besser gehabt. Der war vier Jahre vor dem ersten Krieg als Einjährig-Freiwilliger eingerückt und konnte infolgedessen bei Kriegsbeginn als Leutnant im Sanitätswesen der Garde beginnen. So musste der Sohn eben den schwierigeren Weg über Reichsarbeitsdienst und Infanterieeinsatz nehmen, um noch rechtzeitig vor dem Endsieg in Vaters Fußstapfen treten zu können. Seitdem das Klavier seine bedrohlichen Aufforderungen zur Tastenbetätigung aufgegeben hatte, kam Peter hin und wieder ins Esszimmer und betrachtete das Foto. Das Bild entsprach ganz und gar den Leutnants aus seinen Büchern und er merkte sich den Namen, zumal sie beide den gleichen Vornamen hatten. Seinen Bruder konnte er sich nicht so gut als Offizier vorstellen. Er sah sich Fotos an und stellte schließlich fest, dass sein Bruder vom Aussehen her wohl doch nicht den idealen
Leutnanttyp abgegeben hätte. Diese verfluchte Brille. So was war einfach unheldisch und wie oft hatte er seine Schwestern spotten hören: „Mein letzter Wille – ein Mann mit Brille.“ Peter dachte, man dürfe Brillenträger überhaupt nicht zum Offizierswesen zulassen. Franz’ Freund fiel 1940 im Frankreichfeldzug. Das Foto bekam am oberen linken Rand ein schmales schwarzes Bändchen. Das war nun schon der zweite gefallene Leutnant, den Peter gekannt hatte. Doch nun wurden auch die unteren Dienstgrade in Franz’ Freundes- und Bekanntenkreis vom Tod abgeholt, und auch ihre Fotografien kamen – mit einem Trauerbändchen versehen – auf das Klavier, auf die schwarze Decke mit den bunten Stickereien. Wenn Peters Bruder dann am Wochenende nach Hause kam und vor dem Klavier saß und spielte, sah er sie alle vor sich, und Peter fragte sich, wie man das alles gleichzeitig denken, empfinden und tun konnte: die Noten, die Tasten, die Erinnerung, die Trauer, den Schmerz. Wenn er dann wieder auf den Hausflur hinaustrat, dachte er, dass diese alle von hier den Weg nach draußen angetreten hatten, und jeder hatte geglaubt, auch hierher wieder zurückzukehren, empfangen vom freundlichen Zuruf und Gruß der Hausbewohner. Und nun standen sie als Foto auf dem Klavier. Ja, zurückgekehrt waren sie. In den folgenden Jahren war wegen der Abwesenheit der anderen Geschwister das Klavier weniger ein Instrument für Melodie und Klang, sondern mehr ein stummer Ort der Erinnerungen an die Toten. Die Fotos auf der schwarzen Decke mehrten sich. Peter hatte sie alle gekannt. Sie waren doch im Haus ein und aus gegangen. Gespräche, Gelächter. Er hatte zwischen ihnen gelebt, gespielt, zugehört, gelesen. Wie sicher, unbeschwert und fröhlich hatte er mit ihnen gelebt, wie
unter den Bäumen seines Paradieses. Manchmal sang er mit seiner hellen Stimme auf, dann lauschten sie für einen Augenblick, dann klatschten sie Beifall und dann ging die Unterhaltung weiter. Aber jeder wollte, dass Peter zu ihm kommt Er musste sich neben sie in den Sessel oder aufs Sofa setzen. Sie hielten seine Hand, strichen ihm über den Kopf, knufften ihn. Sie alle wollten das glückliche Kind berühren, das Glück. Je mehr sie mit ihm sprachen, je häufiger sie ihn berührten, desto stärker empfand er selbst das Glück und die Geborgenheit. Ob sie noch einmal an ihn gedacht hatten, als sie starben? Er empfand es sonderbar, dass er in den Weiten der russischen und polnischen Ebenen als Gedanke aufgestanden und dann erloschen war. Durch wie viele Augen habe ich geschaut, was habe ich alles gesehen? Und er erinnerte sich, wie er mit Thomas aus den Blättern der Silberpappel herausgeschaut hatte. Nun wurde das Haus stumm. Manchmal waren nur er und Mutter da. Keiner der beiden sang mehr. Auch Mutter war traurig und niedergedrückt. Seitdem Thomas tot war, versteckte Peter sich häufiger im Esszimmer. Selbst im Winter konnte man es wohl eine Viertelstunde in diesem ungeheizten Raum aushalten. Auf dem Klavier war schon fast kein Platz mehr für die Fotos. Sie standen schon in Reih’ und Glied und verdeckten einander. Er stellte sich vor die Front und rief sie einzeln nach vorn. Vorsichtig hob er sie aus den Reihen heraus und stellte sie auf den Klavierdeckel. „Gerrit, erzähl mir, wie du zu Tode gekommen bist!“ Aber Gerrit oder die anderen schwiegen, sie lächelten oder sahen ernst gerade aus, gerade wie sie der Fotoapparat in diesem Augenblick getroffen hatte. „Greift weiter an, mit mir ist es aus!“
Wer war von einem Infanteriegeschoss getroffen worden, wer von einer Granate zerfetzt, wer von einer Panzerkette zerquetscht, wer lag noch Stunden da und verblutete hilflos? Nein, kein Lied ,Ich hatte einen Kameraden’, keine Totenfeier mehr. Die Bücher logen. Anfangs hatte er überlegt, ob er auch ein Bild von Thomas hinstellen sollte. Aber dieser hätte diese Front der Trauer nicht geliebt. Man ging daran entlang, sah alle und doch keinen. Wie sollte man auch für alle diese trauern können? Das überstieg die menschliche Kraft. Sicher, jeder im Haus hatte einen oder zwei, die ihm besonders nahe standen und um die er besonders trauerte. Ja, und die anderen: man erinnerte sich, und sie hatten gewiss einen Menschen auf dieser Welt, der um sie trauerte. Thomas’ Foto lag in der Schublade des Nachttischchens. In einer Schachtel, und diese in einer weiteren Schachtel. Darauf lag: ,Kai in der Kiste’. Peter las das Buch nicht mehr, er öffnete auch keine Schachtel. Alles blieb so, wie es lag. Wenn ich einmal flüchten müsste, würde ich es dalassen, dachte er. Gräber kann man nicht mitnehmen. Zwei Fotos standen noch nicht auf dem Klavier. Weil die beiden noch lebten. Der eine war der Nachbar, Onkel Pohl, Oberleutnant der SD im Generalgouvernement, der andere sein Sohn Rudolf. Der eine schrieb ihm dann und wann lustige Briefe, die Peter auch beantwortete. Onkel Pohl war vor dem Krieg Polizeimeister in seinem Heimatort gewesen. Er war sehr kinderlieb und hatte den kleinen Peter ins Herz geschlossen. Ein eher peinlicher Vorfall war dem Kind deutlich in Erinnerung geblieben. Der Nachbar hatte ihn einmal aufgefordert, den rechten Arm auszustrecken und ,Heil Hitler’ zu sagen. Das hatte Peter zunächst verweigert, weil ihm so etwas fremd vorkam. Schließlich wusste er damals doch gar nicht, wen er grüßen und wem er Heil und Segen wünschen sollte. Ein Kirchenheiliger war es nicht, und den grüßte man
auch anders. Endlich nach langem Zureden und mit dem Versprechen, er bekäme von Tante Pohl einen wunderbaren Pflaumenkompott mit Sahne, erfüllte er dann den Wunsch. Er stellte sich also gerade hin, streckte den rechten Arm aus und sagte: „Heil Hitler.“ Er stand zwischen den Erbsen- und Dicke Bohnenreihen und blickte zum eigenen Garten hinüber mit den vielen Bäumen. Er hatte den beiden Nachbarn helfen wollen beim Unkrautzupfen, doch nun ging er wortlos wieder nach Hause. Er hörte noch, wie der Onkel sagte: „Das Vaterunser und das Gegrüßest seist du Maria können sie auswendig, aber den Hitlergruß kennen sie nicht.“ Peter verstand das alles nicht, er behielt den Vorfall nur in Erinnerung. Und weil Onkel Pohl es nicht wieder versuchte und in Zukunft nur noch Späße machte und lustige Geschichten erzählte, blieb der Nachbar für ihn ein lieber Onkel. Der Sohn Rudolf war als Funker Soldat in Frankreich und schenkte ihm, als er 1941 in den Osten kommandiert wurde, ein besonders aufgemachtes Buch über Frankreich mit einem Brief darin. Mit diesem Buch konnte Peter nichts anfangen. Nur Kunstbetrachtungen und Landschaftsschilderungen. Mit dem Brief auch nicht. Vielleicht war der mehr an Peters Schwester Luise gerichtet, für die Rudolf zu schwärmen schien. Doch wer schwärmte nicht für sie? Für Peter war das auch kein Leutnantstyp. Eine blasse Hautfarbe, die keine Bräune annahm, wässerige blaue Augen hinter einer dicken hellen Hornbrille und dünnes blondes Haar. Tante Pohl hatte sich eigentlich immer ein Mädchen gewünscht, wie sie erzählte, und deshalb war Rudolf auch zunächst wie ein Mädchen aufgezogen worden, sehr zum Leidwesen des Vaters, der harte Männlichkeit und Frontkämpfertugenden vertrat. Infolgedessen war Rudolf auch
später nicht für Jungenspiele zu begeistern, seltsam unbeholfen und ohne Interesse, zumal er von seiner Mutter in eine jeweils sehr modische und piekfeine Kleidung hineingesteckt wurde, die seinen Jungenspielraum noch mehr einengten. Spielen konnte Peter mit dem nicht. Der konnte nicht einmal ein Rindenboot schnitzen. Aber Peter konnte jederzeit zu ihm kommen, er hörte zu und konnte ihm manches erklären. Irgendwie wurde er eine Art Bruderersatz, weil der eigene Bruder ja meist weg war oder für Kleinkindersorgen kein Interesse hatte. Peter stand am Klavier und sah die festgeschlossenen Reihen der Toten entlang. Er sagte: „Du bist ein Ungeheuer, du stehst nur da und wartest, dass jemand wieder einen Toten auf deinen Rücken setzt. Wie kannst du eigentlich klingen mit soviel Toten auf dem Rücken? Man müsste ein Messer in dich hineinstoßen, deine schwarze Haut abreißen, die Saiten zerschneiden und die Tasten herausreißen. Wie soll man deinen Tönen noch glauben? Du weckst Gefühle auf und hast doch selbst keine. Aber diese beiden bekommst du nicht, ich brauche sie doch. Meinen Bruder hast du auch nicht bekommen, er ist zwar verwundet, aber er ist dir entwischt, und meinen Vater bekommst du auch nicht.“ Er begann nachzuzählen, wie viele von den Bäumen seines Lebens denn noch übrig waren. Nur ganz wenige. Dann fiel ihm Georg ein, der verwundete Mediziner in Stendal, den er durch den Park geschoben und der ihm die Siegerplakette geschenkt hatte. Nach dem Krieg wollten sie sich schreiben. Wo er jetzt wohl war? Ob er wohl käme nach dem Krieg, wenn man ihn darum bäte? Der könnte doch eine von seinen Schwestern heiraten. Ob die wohl einen Beinamputierten nähmen? Ja, auf Georg würde er warten. Er war eine Hoffnung. Er wäre eine neue Silberpappel in seinem arg
ramponierten Paradies. Abends saßen sie meist unter der Hängelampe am Tisch. Tief heruntergezogen, Strom sparen und kein Licht nach draußen dringen lassen. Manchmal waren sie nur zu dritt, Peter, seine Mutter und Tante Pohl. Die beiden Frauen strickten oder stopften. Peter las meist in einem Buch und hörte mit halbem Ohr hin, was die beiden sich erzählten. Was brachte die Zukunft? Sie saßen auf einer Insel aus Sand. Jeden Augenblick konnte sie eine Sturmflut wegreißen. Vater war vor einem halben Jahr auf der Urlaubsreise nur durch Zufall der Bombe polnischer Partisanen entkommen. Der Russe stand mittlerweile an Polens Grenze, konnte Onkel Pohl sich noch rechtzeitig mit seiner Dienststelle nach Deutschland zurückziehen? Wenn er in die Hände der Russen geriete, würde man ihn sofort umbringen. Die SD war verhasst. Rudolf lag irgendwo im Mittelabschnitt. Es ging immer nur rückwärts. Briefe kamen kaum. Täglich wartete man mit Hoffnung und mit Angst auf den Briefträger. Wieder kein Brief, aber auch keiner mit einer Todesnachricht, und dann die Bedrohung aus der Luft. Peters drei Schwestern waren augenblicklich weit weg vom Elternhaus, Arbeitsdienst, Dienstverpflichtung in einer Munitionsfabrik, Kriegshilfsdienst auf einem Flughafen. Wohin flogen die Bomber? Vater hatte sein Reservelazarett nach Süddeutschland verlegen dürfen. Dort würde er auch wohl das Kriegsende erleben. In den Briefen, die nur selten ihr Ziel erreichten, stand immer wieder: Wenn ihr flüchten müsst… und dann folgten Ratschläge und Hinweise. Er hatte die Flüchtlingstrecks aus dem Osten gesehen. Wie schön hatte doch alles angefangen und jetzt brach alles nach und nach zusammen. Erzählen: das schöne Vergangene, das ungewisse Jetzt, die bedenkliche Zukunft – die beiden Frauen konnten nur abwarten, wann das draußen lauernde
Biest zuschlagen würde, und die Angst kroch schließlich aus der Seele und drängte sich in die Körper. Eines Tages befiel Peters Mutter und die Nachbarin eine sonderbare Krankheit, die man bislang im Dorf noch nicht kannte. Plötzlich entwickelte sich im Gesicht eine starke Rötung, begleitet von einer Schwellung, so dass beide ganz entstellt aussahen. Auch die Arme und der Hals waren betroffen. Das besonders Unangenehme war der Juckreiz, der dazu führte, dass man sich Gesicht und Arme zerkratzte und so das Aussehen nur noch verschlimmerte. Anfänglich dachte man an Krätze und es wurde eine gründliche Säuberung vorgenommen, die alle Hausbewohner und das Haus selbst mit einschloss. Die beiden Frauen rieben sich mit Lysol ein und puderten ihr Gesicht mit Talkum und Kinderpuder, so dass sie zeitweilig aussahen wie ein Bäcker, der in einen Mehlsack gefallen war. Doch es half alles nichts. Allerdings verdrängte die Qual der Krankheit für eine kurze Zeit die seelischen Qualen der Ungewissheit und der Angst. So lange, bis man endlich herausbekam, wer denn der Urheber dieser rätselhaften Krankheit war. Es waren die Primeln, die vorne im Flur, in der Stube und in der Veranda standen. Dort hatten sich die beiden Frauen am häufigsten aufgehalten, wenn sie sich ihr Leid und ihre Bedenken und Befürchtungen von der Seele reden mussten. Besonders der Vorflur, dort, wo die schlimme Nachricht zuerst eintraf, wo man sie brachte oder empfing und von dem aus man am Abend ohne Trost wieder in seine eigene Wohnung zurückkehrte. Es waren die Primeln, die dann ihre Giftstoffe auf die schon ohnehin Leidenden absprühten und deren Qual vergrößerten. So bekam die Krankheit einen Namen: Primelkrankheit. Je mehr der Krieg an Gewalt zunahm, desto häufiger tauchte sie jetzt auch im Dorf auf. Doch nun hatte man ein Mittel dagegen. Zuerst wurden alle Primeln beseitigt und ihr Standort
sorgfältig mit Wasser und Ata gesäubert. Dann kam die Kleidung an die Reihe. Sie wurde gewaschen und desinfiziert. Man hatte einen Sündenbock gefunden, auf den man treten und trampeln konnte. Bei der Nachbarin erlosch die Krankheit endgültig, als das draußen lauernde Biest zuschlug. Es schickte ihr einen Brief: ,Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Sohn Rudolf…’ Bei der Bereitstellung zum Gegenangriff hatte der Splitter eines Salvengeschützes seinem Leben ein Ende gesetzt. Vierzehn Tage später kam wieder ein Brief. Der Polizeioberleutnant August Pohl war beim Rückzug seiner Einheit im Warthegau an einer Vergiftung gestorben. Als diese Nachricht eintraf, verschwanden von einem Tag zum anderen die letzten Symptome der Primelkrankheit. Wovor sollte sie noch Angst haben? Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Als die beiden Frauen einige Tage später wieder unter der Lampe saßen, hörte Peter Tante Pohl sagen: „Er hat es nicht verwinden können, dass Deutschland untergeht, dass Hitler ihn betrogen hat, an den er glaubte. Ich wusste, dass er immer eine Giftkapsel bei sich trug. Er würde sie nehmen, wenn das Äußerste eintrete, hat er gesagt. Er hat nicht an mich gedacht, nur an seine Ehre, Treue und sein Vaterland. Davon kann ich nicht leben. Wir beide hätten uns schon durchgeschlagen, wenn er nur heimgekommen wäre, irgendwann, aus der Gefangenschaft oder einem Straflager. Wahrscheinlich hat er keine Lebensmöglichkeit mehr nach dieser kommenden Katastrophe gesehen. Ob ihn auch das Gewissen gequält hat? Er hat zuviel gesehen, hoffentlich hat er nichts Schlimmes getan. Die Juden, weißt du.“ Peter war traurig. Er hatte schon wieder etwas verloren. Es war kein Verlust für jetzt, schließlich hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen und Briefe waren auch nicht gekommen, aber es war ein Verlust für die Zukunft. Peter ahnte, dass er bald Hilfe
brauchte. Er saß in der Schule in der Klemme und er wusste nicht, wie er da herauskommen sollte. Er würde Hilfe brauchen. Die beiden hätten es getan und dann die Angst vor den verdammten Tieffliegern. Bei Alarm – und wann gab es ihn nicht – traute er sich kaum aus dem Haus. Es gab nur Niederlagen und es gab keinen, mit dem er sprechen konnte. Er wollte sich auch niemandem anvertrauen, höchstens Agnes. Die anderen sagten: „Irgendwann wird es besser, du musst nur mehr lernen.“ Und er lernte fleißig seine Vokabeln, aber die Lücken in der Grammatik waren zu groß. Er sprach zwar ein gutes Englisch, er konnte gut frei formulieren, aber er konnte die Funktionen nicht erklären. Er scheiterte stets an den deutsch-englischen Übersetzungen, bei denen ausschließlich grammatische Regeln abgefragt wurden, ja, wenn man ihn hätte nacherzählen lassen. Wie konnte man auch etwas verstehen, wenn die Sirenen heulten, die Angst im Kopf saß und das Denken blockierte? Die beiden Totenzettel steckte er in das Frankreichbuch und dieses legte er in die Nachttischschublade neben Thomas’ Grab. In den nächsten Monaten zog sich das lauernde Biest von den drei einsamen Menschen unter der Lampe zurück. Hatte man ihm Opfer genug gebracht? Fast schien es so. Das Haus füllte sich wieder mit Menschen, zwei Schwestern kamen zurück, gingen wieder zur Schule oder leisteten ihren Kriegshilfsdienst in der näheren Umgebung ab. Der verwundete Bruder wurde aus dem benachbarten Lazarett nach Hause entlassen, weil man Betten für die Schwerverwundeten brauchte. Die Schwestern des Krankenhauses und ein Arzt aus der Nachbarstadt versorgten ihn. Die Oberschenkelwunde saß noch voll von Splittern, sie eiterte ständig und wollte sich nicht schließen. Das Knie war steif geblieben und zum Gehen musste er Krücken benutzen.
Zwei Flüchtlinge aus Pommern wurden ihnen zugewiesen, eine uralte Frau, die Dienerin auf einem Gut gewesen war, und ihre Enkelin, eine noch immer überzeugte Nationalsozialistin, die einfach nicht glauben wollte, dass es eine Rückkehr nach Pommern nie mehr geben würde. Tante Pohl hielt sich jetzt immer im nachbarlichen Haus auf. Erst am Abend kehrte sie in ihre Wohnung zurück. Sie brauchte den schützenden und wärmenden Mantel der Familie. Diese wurde noch durch ein weiteres Mitglied vergrößert. Es war Friedhelm, ein Luftwaffengefreiter, der zu einer Fernaufklärerstaffel gehörte. Diese war auf einen nahen Flughafen verlegt worden. Die Besatzungen verteilte man auf die umliegenden Dörfer. Friedhelm war 22 Jahre alt und hatte ein Ingenieurstudium beginnen wollen. Bei einer Notlandung geriet die HE 111 in Brand und er erlitt starke Brandwunden im Gesicht und an den Händen, die eine glasige, porenlose Haut zurückließen. Alle im Haus mochten ihn sofort. Das lag aber nicht an irgendwelchen Mitleidsgefühlen, sondern an seiner Art, sich ganz leicht und unkompliziert im Haus zu bewegen, als lebe er hier schon jahrelang. Ha, das war ein neuer Bruder. Mit der Rückkehr von Peters Bruder ins Elternhaus bekam auch das Klavier wieder seine klingende Funktion. Franz hatte Zeit, saß stundenlang vor dem Instrument und übte. Besonders das As-Dur-Impromptu von Franz Schubert. Für Peter gab es nichts Schlimmeres, als mittags bedrückt von der Schule zu kommen und dieses Stück mit den endlosen und langweiligen Läufen und Trillern in immer neuen Übungsansätzen zu hören. Das setzte das ganze Haus in Vibrationen. Da gab es kein Entkommen. Das war Schule in Fortsetzung. Doch es gab auch andere Musik. Musik von Streichinstrumenten, die von den drei jungen, hübschen und munteren Schwestern Inga, Lena und Theresia gespielt
wurden. Man nannte sie der Einfachheit halber die Polargänse, in Anspielung auf ihren Familiennamen. Sie waren aus einer entfernten, großen Stadt wegen der Bombenangriffe zu Verwandten aufs Dorf geschickt worden und wohnten ein paar Häuser weiter. Wenn man dörfliche Maßstäbe zugrunde legte, waren sie Meisterinnen auf Geige, Bratsche und Cello. Als weitere Musici kamen Pater Liborius, dessen Kloster von den Nazis aufgelöst worden war und der nun in der Pfarrei aushalf, und der Fliegerleutnant Ernst Harloff hinzu. Er und Pater Liborius ergänzten das Instrumentale durch das Vokale, indem sie Balladen von Loewe oder anderen Tondichtern in leichter Baritonlage vortrugen. Mangel an Noten gab es nicht. Die Polargänse hatten ihre Noten für ihre Streichquartette oder Trios mitgebracht, und in Peters Elternhaus lagerten sie in Fülle, vom Schlager bis zur schwierigsten Sonate. Geübt wurde unregelmäßig, aber häufig. Eine Verabredung kam schnell zustande und irgendwann waren dann einige Musikstücke vorführreif. Bekannte wurden für den Abend eingeladen und in dem großen Esszimmer auf irgendwelchen Sitzgelegenheiten platziert. An jenem Samstag sollte wieder ein Konzert stattfinden. Vorausgesetzt, dass kein Alarm kam. Aber die Alliierten hatten wohl nichts geplant. Es blieb still. Das Esszimmer hatte mittlerweile seine feierliche Steifheit verloren. Die zwei Schlachtschiffe von Sesseln am Fenster standen mittlerweile im Keller, der schwere Eichentisch und etliche ausladende Stühle im Stall. Dafür hatte man ein Bett für den verwundeten Bruder aufgestellt, hart am Klavier. Die beiden Vitrinen wurden zusammengerückt. So war trotz des in den Raum ragenden Bettes viel Platz geschaffen. Genug, um 15 Zuhörer unterzubringen.
Peter holte sich drei Kissen und setzte sich in die Ecke auf den Boden, dort, wo immer der Tannenbaum zu Weihnachten stand. Als erstes sollte Franz die Mondscheinsonate spielen. Das hatte er schon zweimal bei ähnlichen Veranstaltungen getan, aber solche klassischen Stücke hört man ja immer gern. Seitdem aber ein Zuhörer beim ersten langsamen Satz eingeschlafen war, ließ er das Allegretto aus und ging gleich zum Presto über. Franz begann zu spielen. Peter konnte über das Bett hinweg gerade noch seinen Kopf und natürlich das Oberteil des Klaviers mit den Fotos sehen. Auch jetzt trug Franz seine Uniformjacke mit dem EK, dem Sturm- und dem Verwundetenabzeichen, Obergefreiter war er auch geworden. Warum zog er kein Zivil an, einen bequemen Pullover? War ein verwundeter Soldat mehr als ein verletzter Zivilist? Warum konnte er sich nicht von seiner Uniform trennen? Wollte er seine Enttäuschung nicht wahrhaben? Da saß er an seinem Klavier, vor sich die Front der gefallenen Freunde und spielte den romantischen Satz aus der Mondscheinsonate. Sie alle in ihren Uniformen vergraben, verschüttet oder zermalmt. Musste man da nicht aufbegehren, wie in jenem Presto, das gleich an die Reihe kam? Na ja, aufbegehren, der zog seine Uniform nicht einmal aus. Franz hatte heute morgen leichtes Fieber, aber er wollte nicht absagen. Welche Energie! Peter hätte sich sofort ins Bett gelegt und wäre in sein Traumland entschwebt. Peters Blick wechselte hinüber zu Friedhelm, auch er war in Uniform. Aber das war ja klar. Übermorgen, wenn die Fluglage es erlaubte, würde er mit den anderen Kameraden und mit allen Maschinen nach Groove in Dänemark fliegen. Sie sollten in Sicherheit gebracht werden. Nur eine Maschine blieb zurück. Die dafür vorgesehene Besatzung war gestern mit einer Ju 88 abgestürzt, die sie von Dänemark zum Fliegerhorst bringen sollte. Abgeschossen von sechs britischen Jägern. Da
hatte das allein fliegende Flugzeug keine Chance. Deshalb sollten fünf der sechs übriggebliebenen HE 111 am frühen Morgen als Kampfformation starten. Peter rechnete nicht damit, dass die Besatzungen noch einmal nach Deutschland zurückkehrten. Sie würden wohl in Dänemark in Gefangenschaft gehen, mitsamt ihren Flugzeugen. Die waren im Vergleich zu den alliierten Bombern schon längst veraltet und hatten nur noch Schrottwert. Bis übermorgen war eine lange Zeit, da konnte ein Bombenteppich die flugbereiten Heinkel schnell zerdeppern. Die greifen den Flughafen nicht mehr an, hatte Friedhelm gesagt, das lohnt sich nicht mehr, 50 Liberators dafür starten zu lassen. Zu teuer für Schrott. Übermorgen war natürlich auch eine kurze Zeit. Judith saß neben Friedhelm und Peter dachte, dass sie wohl beide traurig waren. Sie waren wohl ineinander verliebt, wie die Erwachsenen sagten. Genauso wie seine Schwester Luise in den Hartmut. Dieser kam selten ins Haus, er war auch zu diesem Konzert eingeladen, aber nicht gekommen. Deshalb fehlte auch Luise. Hartmut war Oberfeldwebel und Flugzeugführer von Friedhelms Maschine. Er war hochmütig, selbstherrlich, laut und befehlshaberisch. Über Peter guckte er hinweg. Er war in der Tat der Einzige, der zu ihm keinen Kontakt suchte. Seine Eltern hatten ein Gut im Osten, das jetzt schon von den Russen besetzt war. Ja, der Friedhelm, das war Peters Freund. Insofern war es verständlich, dass Judith ihn auch mochte. Aber die Liebe musste ja wohl etwas anderes und mehr sein. Mit Friedhelm übte er das Bruchrechnen. Dabei blieb es aber nicht, da Peter viele Fragen zum Krieg und zu den Waffen und besonders zu den Flugzeugen und zu seinen Erlebnissen stellte. Aber es gab auch anderes. Er fragte danach, was er nach dem Krieg machen wolle und wie er sich das vorstelle. Friedhelm wollte auf Ingenieur studieren. Man weiß aber nicht, wann das
möglich ist. Es ist zu viel kaputt, aber Arbeit würde es genug geben. Aufräumen, Häuser bauen, Strippen ziehen, Fenster einsetzen und Straßen und Eisenbahnlinien wiederherstellen. Friedhelm konnte alles, der war praktisch veranlagt wie Jochen. Der wollte ja auch Ingenieur werden. Das wusste er heute schon. Ingenieure konnten mit Zahlen umgehen, mit Brüchen, Klammern und Primfaktoren. Die durchschauten Zahlen wie ein Röntgengerät und zwei geschickte Hände hatten sie auch. Solche Leute brauchte man. Aber was sollte man mit Leuten wie Peter anfangen? Träumer und Buchstabenanhänger. Natürlich war er ein vorzüglicher Gartenarbeiter. Er konnte Drachen bauen, Holz zusammennageln, Fußbälle reparieren. Aber er konnte keine Mauer errichten, keinen Weg pflastern, wie Jochen das konnte. Der konnte auch elektrische Leitungen legen, anschließen und Radios reparieren. Peter hatte schon viel von Jochen gelernt, aber er wusste, dass das nicht seine Welt war. Du wirst auch nie ein Jäger und gehst zur Jagd. Träumen, spielen und lesen. Wofür konnte man das verwenden? Oh, diese Bruchrechnung. Er hatte schon Schwierigkeiten mit den ganzen Zahlen. Und jetzt noch diese durchgebrochenen, mit dem Balken in der Mitte, diese unvollständigen, diese halben oder viertel, diese beschädigten und mangelhaften Zahlen, ewig auf der Suche nach etwas, was sie vollständig und vollkommen machte. Die Zahl oben zählte die Teile und die Zahl unten nannte unerbittlich das Ganze, das zu erreichen war. Der Bruch, die Brüche, etwas ging zu Bruch, ein Flugzeug bei der Notlandung, ein Tonkrug; Gewalt war am Werk, Spalten, Risse, der Bruch am Hut des erfolgreichen Jägers, das aufgebrochene Reh, der Beinbruch, der Zusammenbruch, Deutschland du sollst leben, die Zerstörung durch Gewaltanwendung, ging auch eine Seele zu Bruch, oder war
sie so biegsam, dass man sie allenfalls verbiegen konnte? Was ist unser Nenner, und wie viele Zähler haben wir davon schon oder noch? Franz hatte mittlerweile mit dem Presto begonnen. Es belebte die Zuhörer, nun waren sie aufmerksam. Peter sah zu den drei Polargänsen hinüber, die anschließend mit Franz Teile aus der ,Kleinen Nachtmusik’ spielen sollten. Theresia wäre eine Frau für Franz gewesen, aber der war ja schon so gut wie verlobt. Die Lena hätte wohl zu Rudolf gepasst, aber besser noch zu Franz’ Freund, dem Leutnant. Aber die waren ja jetzt alle tot. Peter ging im Geiste alle die jungen Männer durch, die er gut kannte und die sich mit Lena verheiraten könnten. Doch er fand keinen, sie waren alle tot. Die Inga, ja die Inga, die war für Georg bestimmt. Sie war die Jüngste, die Fröhlichste, sie würde den Georg zum Lachen bringen, aber ob sie ihn nahm, einen Oberschenkelamputierten? Ach, sie waren alle verwundet, verletzt. Auch die Polargänse hatten ihren Vater bei einem Bombenangriff verloren. Wie war das noch: Wenn man Brüche addieren wollte, musste man die Nenner gleichnamig machen. Peter irritierten immer die unteren Zahlen, sie wirkten so groß und gewaltig. Für ihn war ein Fünfzigstel Stück Torte ein gewaltiges Stück. Er hörte Friedhelm noch lachen: „Lass dich von den unteren Zahlen nicht verwirren, sie kommen so großprotzig daher, aber je größer sie sind, desto unbedeutender werden sie. Sie scheinen mehr, als sie sind.“ „So wie Hartmut?“, fragte Peter. „Das darfst du nicht fragen“, antwortete Friedhelm und lehnte sich zurück. „Er traut sich mehr zu, als er kann.“ Peter wusste, dass die beiden sich nicht leiden konnten. Hartmut kehrte immer den Vorgesetzten heraus, wenn er auf seinen Kameraden traf. Judith hatte Peter anvertraut, dass Friedhelm
seinen Kameraden für einen schlechten Flugzeugführer hielt, waghalsig und draufgängerisch, ohne Rücksicht auf Maschine und Besatzung. Der weiß doch, dass er kein Ritterkreuz mehr kriegt. Die Notlandung vor sechs Monaten war auch eher eine missglückte Landung gewesen, total unüberlegt und großspurig. Auf dem hinteren Teil der Landepiste sei ein Bombenkrater, habe man ihm gemeldet, er solle ganz früh aufsetzen. Aber das war ihm dann zu spät eingefallen. Dann landen wir eben dahinter und rollen im Gras aus. Doch die Grasnarbe war vom wochenlangen Regen völlig durchfeuchtet und weich, so dass die Räder stecken blieben, sich die HE 111 auf den Kopf stellte und zu brennen anfing. Ein Kamerad war eingeklemmt und konnte sich nicht befreien. Friedhelm versuchte an ihn heranzukommen, aber es gelang ihm nicht. Die eigenen Hände und das Gesicht waren schon verbrannt. Ich höre immer noch das Schreien, hatte Friedhelm Judith erzählt. Wenn ich noch mal mit Hartmut fliegen muss, wird das mein Tod sein. Übermorgen würde er übrigens in der Maschine des Leutnants Harloff mitfliegen. Der war ein häufiger Gast im Hause und heute natürlich auch da. Er übte mit Franz Balladen von Loewe ein und sollte gleich auch zwei davon singen, den ,Archibald Douglas’ und ,Die Uhr’. Auch der Dominikanerpater Liborius war anwesend. In der Weimarer Zeit hatte er Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert und darin auch promoviert. Dann war er Katholik geworden und in den Orden des Hl. Dominikus eingetreten. Einmal im Monat lieh er sich das Motorrad aus, um, wie er sagte, auswärts Kranke zu besuchen, was er auch tat. Viel wichtiger aber war ihm der heimliche Besuch eines Mitbruders, der versteckt in einer abgelegenen Gegend bei einem befreundeten Bauern lebte, weil ihn die Gestapo suchte. Man rechnete ihn zu den Mitverschwörern des Hitler-Attentats.
Auch Pater Liborius würde gleich singen, und zwar ,Tom der Reimer’. Das war für die Zuhörer besonders pikant. Denn in der Ballade gab es die Textstelle ,er küsste sie, sie küsste ihn’, und das aus dem Mund eines katholischen Geistlichen zu hören, war ungewöhnlich. Schließlich war dieser besungene Vorgang im kirchlichen Sinne anstößig, zumal die beiden Küssenden sich nur auf sieben Jahre Treue verabredet hatten und nicht verheiratet waren. Peter fand das leise Gekicher hinter vorgehaltener Hand für reichlich albern. In dieser Hinsicht enttäuschten ihn auch die Polargänse. Ob Anke, die mit ihrem Bruder Jochen gekommen war, auch kichern würde? Wahrscheinlich nicht, schließlich war sie evangelisch, und Thomas hatte ihm damals erzählt, dass die Evangelischen keine besonderen kirchlichen Gesetze und Vorschriften für engere menschliche Beziehungen im Privatleben hatten. Richtig, das war damals, als er sich Peters Beichtspiegel ausgeliehen hatte. Er schaute zu Anke hinüber. Ihre schwarzen Haare waren glatt nach hinten gekämmt und dort zu einem Knoten zusammengebunden. Peter sah sie nur im Profil. Stirn, Nase, Mund und Kinnpartie bildeten eine Linie, die er als harmonisch und angenehm empfand. Es gab keinen Bruch, nichts störte oder fiel als unpassend auf. Anke war schön. Ich habe noch nie meine Schwestern oder ihre Freundinnen daraufhin angesehen, ob sie wohl schön sind. Die anderen sagten es, und dann habe ich es übernommen. Woran soll man das auch erkennen? Vielleicht, dass alles vollkommen war? Aber worin bestand Vollkommenheit? Nur Gott war vollkommen, und das Paradies war es auch gewesen, bis Eva den Apfel vom falschen Baum brach. Schade drum. Wenn Peter mit Jochen in dessen Zimmer bastelte, kam Anke auch schon mal herein. Wenn sie merkte, dass sie nicht störte, plapperte sie drauflos und Peter war froh, wenn Jochen sie
nicht sofort mit dem Ruf ,Hau ab, du störst!’ aus dem Zimmer jagte. Dabei störte sie doch überhaupt nicht. Einmal nach einem starken Schneefall hatten die beiden Freunde sie zum Schlittenfahren auf den Bahndamm mitgenommen. Der war besonders steil und man konnte rasante Abfahrten machen. Plötzlich, als Anke oben den Schlitten an sich heranziehen wollte, geriet sie ins Stolpern und rutschte stehend den Hang hinunter, wobei sie immer mehr das Gleichgewicht verlor und lang nach vorn zu stürzen drohte. Peter stand unten und wollte gerade seinen Schlitten nach oben ziehen. Er sprang ihr drei Schritte entgegen und fing die Fallende auf. Es war ein heftiger Aufprall und Peter musste fest zupacken und sich energisch gegen sie lehnen, um nicht umgerissen zu werden. Sich fortwährend drehend gelang es den beiden endlich, dass sie auf ebenem Boden zum Stehen kamen. Da hielt er sie immer noch fest in den Armen, als sei der Tanz noch nicht zu Ende, und einen Augenblick lagen ihre Wangen aneinander, eisigkalt waren sie, aber Peter empfand diese Berührung als unendlich zärtlich. Sie lösten sich voneinander, um dann aber sofort mit gewaltigem Worteinsatz den Vorgang und die Gefahr noch einmal mündlich zu wiederholen. Anke bedankte sich wortreich und blickte ihn mit ihren braunen Augen beharrlich dabei an. Sein Eingreifen war doch selbstverständlich, was soll man viel darüber reden. In Erinnerung blieb ihm aber diese ungewollte, unendlich zärtliche Berührung. Eigentlich hasste er solche Art von Zärtlichkeit. Er ekelte sich davor. Ganz egal, ob es Mutter war, Tante Pohl oder seine Schwestern, die ihn umarmen wollten. Er wand sich frühzeitig heraus. Aber diese sanfte Berührung eben war etwas Wunderbares. Er erinnerte sich an den Tag im Herbst, als der Lehrer ihn beim Fliegeralarm festgehalten, ja regelrecht eingesperrt hatte,
bis die ersten Bomberwellen über ihn hinweg zogen. Dann hatte er ihn, den Angsthasen, ein deutscher Junge hat keine Angst, besonders nicht vor diesen Terrorfliegern, mit einem spöttischen Lächeln laufen lassen. Wenn das Deutschlands Zukunft ist, dann hat es verdient, zu Grunde zu gehen. Die anderen waren längst weg. Peter fuhr langsam nach Hause. Es hatte keinen Zweck mehr zu rasen, oben dröhnten schon lange die Bomber. Er hatte keine Chance mehr zu entkommen. Wenn jetzt ein Tiefflieger käme, würde er in den Graben springen. Und wenn’s ihn dann erwischte – viel zu zerbrechen hatten die 2 cm Geschosse nicht mehr. Da sah er auf halbem Weg vor sich jemanden, der ein Rad schob. Es war Anke. Der vordere Reifen war platt. Peter stieg ab und untersuchte den Reifen. Das Ventil war in Ordnung, aber als er mit seiner Luftpumpe den Schlauch aufpumpte, zischte die Luft heraus. Da war nichts mehr zu machen. Peter hatte kein Werkzeug zum Reparieren bei sich. Sie schoben das Rad ein paar hundert Meter weiter zu einem an der Straße gelegenen Wirtshaus. Anke hatte von der Maßnahme des Lehrers gehört. So ein Schuft! Wie gemein. Du tust mir leid. Sie stellten das Rad beim Gasthof unter. Sie setzte sich auf die Querstange von Peters Fahrrad und dann fuhren die beiden zum Dorf. Die Kinder waren solche Transporte gewohnt. Es kam häufig vor, dass man jemanden auf der Querstange mitnehmen musste, auch zur Schule und zurück. Fahrräder waren knapp und reparaturanfällig. Anke hatte den rechten Arm auf die Lenkstange gelehnt und plauderte drauflos. Was sie alles wusste und zu erzählen hatte. Über derlei Dinge hätte er nie ein Wort verloren. Aber Mädchen waren schrecklich mitteilsam, das kannte er von seinen Schwestern. Dann und wann fragte sie so nebenbei, ob er sie auch noch fahren könne und ob sie nicht doch lieber zu Fuß gehen und er allein mit dem Rad nach Hause fahren wollte. Peter versicherte, dass es
keine Schwierigkeiten mache, und er wusste, dass sie auch keine andere Antwort erwartete. Es war ja tatsächlich nicht anstrengend. Eigentlich transportierte er ungern jemanden mit dem Rad. Man war sich körperlich zu nah. Aber jetzt hatte er das Gefühl nicht. Sonderbar, dachte er, dabei ist sie doch ein Mädchen. Oben brummten die Bomberströme. Peter kam nicht schnell mit seiner Mitfahrerin voran. Er wollte es auch gar nicht. Als er von der Schule wegfuhr, hatte er es aufgegeben, vor der Gefahr weglaufen zu wollen. Allerdings, falls jetzt ein Tiefflieger käme, wäre die Zeit zu kurz, dass sich die beiden vom Rad lösen und in Deckung springen konnten. Dann wären sie eben beide tot und Peter malte sich aus, welche nationalsozialistischen Gewissensqualen nun diesen Nazilehrer quälten, weil er doch den Tod eines treudeutschen Mädels mitverschuldet hätte. Um Peter wäre es nicht mehr schade, der war es nicht wert, Deutschlands Zukunftsträger zu sein. Aber es würden keine Tiefflieger kommen, da war er sich ganz sicher, und wenn auch hundert Munitionszüge gleichzeitig auf den Gleisen nebenan vorbeifahren würden. An der Brücke am Dorfeingang wartete Jochen mit den anderen auf seine Schwester. „Was bummelst du immer so herum bei der Schule? Wir können nicht ewig auf dich warten.“ Meine Güte, da gab es noch so viel mit den Klassenkameradinnen zu besprechen, und Peter wäre ja auch noch da gewesen, sonst wäre sie noch lange nicht eingetroffen und hätte den langen Weg zu Fuß gehen müssen. Vor dem Elternhaus gab Anke Peter feierlich die Hand und sagte nochmals Dankeschön für seine Hilfe. Am Nachmittag würden er und Jochen zum Gasthof fahren – auf einem Rad – Ankes Fahrrad dort reparieren und zurückbringen.
Peter schaute noch immer auf Anke und ihm fiel auf, dass er die ganze Zeit an sie gedacht hatte. Vom Presto hatte er kaum etwas mitbekommen. Sollte es möglich sein, dass er ihretwegen alles vergäße, dass alles unwichtig würde? Die Musik, die Bäume seines Lebens, die Toten auf dem Klavier, Thomas, seine Geschwister und Vater und Mutter? Plötzlich setzte Beifall ein. Die Sonate war zu Ende. Auch Anke klatschte. Ganz begeistert. Am Gründonnerstag tat sich die Tür auf, und wer kam hereinspaziert: Friedhelm. Auf dem dänischen Flughafen hatte man nachgefragt, wer denn wohl die einsame HE 111 vom Fliegerhorst holen wolle. Da hatte sich ohne zu zögern Hartmut gemeldet und die Besatzung musste selbstverständlich mit. Luise hatte gleich die Ursache von Hartmuts Rückkehr erkannt. Stolz und triumphierend verkündete sie: „Er wollte doch zu mir!“ Peter konnte es nicht fassen. Wie konnte man sich wegen einer Frau so in Gefahr bringen und andere Menschen auch? Das war doch hirnverbrannt. Hartmut musste andere Gründe haben: Deutschland, Deutschland über alles… und das Ritterkreuz. Mit dem Zug waren sie herübergekommen, zwei Tage hatten sie gebraucht. Einmal waren sie noch von Tieffliegern angegriffen worden. „Blödes Gefühl“, meinte Friedhelm. „Deutschlands fliegendes Personal bei der Zugfahrt aufgerieben.“ Er und Judith schienen glücklich zu sein, sich wiederzusehen. Doch streng genommen ist dieser Rückflug ein Himmelfahrtskommando, in Groove wären wir sicher gewesen. Ist die Maschine denn noch heil? Ja, das war sie, gut versteckt im Wald. Bombenangriffe gab es keine mehr, nur dann und wann huschten englische Spitfires über den leeren Platz und beharkten die Gebäude. Eine Luftabwehr gab es
nicht mehr. Die Oerlikongeschütze schickte man zur nahen Front und die Luftwaffenhelfer nach Hause. Zwei Stunden später gab es wieder ein Begrüßungshallo: Peters Schwester Mareike stand in der Tür. Von Eckernförde, wo sie ihren Kriegshilfsdienst in einer Munitionsfabrik ableisten musste, hatte sie überraschend für einige Tage Osterurlaub erhalten. Nur die Arbeitsdienstführerin war zurückgeblieben. Als wenn man unser Lager auflösen wollte. Viel zu essen gab es nicht mehr. „Und du fährst nicht zurück“, sagte Friedhelm, „das Großdeutsche Reich braucht dich hier in der Familie.“ Ein halbes Jahr war sie nicht mehr zu Hause gewesen und man hatte ihr die Nachricht vom Tod ihres Klassenkameraden und Freundes nachschicken müssen. Wie hatte sie das überstanden? Keine Familie hüllte sie in einen tröstenden Mantel. Die Briefe waren weniger geworden, einsilbiger, nur die Beschreibung der Oberfläche. Doch auch jetzt war keine Gelegenheit zum Weinen. Zu viel musste bedacht und getan werden. Zunächst aber gab es am Freitagabend ein großes Wiedersehensfest. Die Flieger hatten einige Flaschen Cognac und Liköre aus Dänemark mitgebracht. Die Stube und die Veranda waren gerammelt voll. Alle Bekannten, die irgendeine Beziehung zur Familie oder zu den Soldaten hatten, waren gekommen. Auch Hartmut befand sich darunter und auch die Musici mit Ausnahme von Pater Liborius. Eine Bombenstimmung herrschte. Der Lärm drang bis in Peters Schlafzimmer. Laute Gespräche, Lachen und Gesang. Wie übermütig sie waren! Ob sie denn gar nicht an die Gefahren dachten, an den Rückflug in den nächsten Tagen? Wie kann man so etwas einfach vergessen? Schließlich schlief Peter ein. Am anderen Morgen stand er früh auf Agnes war schon beim Aufräumen und Peter half ihr.
„Oh, diese Kinder!“, sagte sie ein um das andere Mal. Die fünf Besatzungsmitglieder waren gar nicht erst in ihre Quartiere zurückgekehrt und schliefen irgendwo im Haus. Zwei lagen doch tatsächlich in Peters Zimmer und schnarchten. Gegen neun Uhr kam ein Anruf. Die Besatzung musste um elf Uhr Richtung Küste starten. Tief herabhängende Wolken und Dunst versprachen Deckung gegen feindliche Jäger. Oh je, war das eine Schwierigkeit, die Soldaten wach zu bekommen. Kaffee wurde gekocht und in Mengen getrunken und Tabletten gegen Kopfschmerzen und Übelkeit geschluckt. Immer mal musste sich der eine oder andere übergeben. Schließlich saßen alle am Tisch. Keiner wollte etwas essen. „Das können wir in Wittmund nachholen.“ Allmählich kam Farbe in ihre kreidebleichen Gesichter. Mutter schickte sie für eine Viertelstunde in den Garten an die frische Luft. Dort gingen sie auf und ab. Peter war nicht mitgekommen, er schaute von oben zu. Da gingen sie in seinem Paradies, das nicht mehr sein Paradies war. Erinnerungen wollten aufsteigen, aber er wandte sich ab. Um zehn Uhr kam der Wagen und holte sie ab. Sie kamen aus dem Haus. Hartmut voran. Peter stand am Vorgartentor, ein wenig verdeckt hinter dem Postament. Hartmut schritt geradeaus blickend an ihm vorbei. Friedhelm war der letzte in der Reihe und kam zu ihm. Er gab ihm die Hand. „Wiedersehen, Peter, und vergiss nicht, die Bruchzahlen sind nicht das Wichtigste im Leben“, und lächelte ihm zu, augenzwinkernd. Luise stand auf dem Balkon, Hartmut drehte sich vor dem Einsteigen um und grüßte militärisch zum Haus hin. Luise weinte. Judith vermutlich auch, aber die stand hinter irgendeiner Gardine.
Die Flieger hatten versprochen, noch einmal über dem Haus zu kreisen. Das taten sie auch. Gegen 11.30 Uhr tauchte die HE 111 auf und flog in etwa 400 m Höhe eine Runde. Ein weißes Leuchtsignal stieg aus dem Flugzeug. Alle Hausbewohner und die Nachbarschaft standen auf der Straße und winkten hinauf. Dann drehte die Maschine gen Norden. Gegen 16 Uhr kam die schlimme Nachricht. Sie waren auf halbem Weg zum Zielflughafen abgeschossen worden. Hartmut hatte noch eine Notlandung versucht, aber die war gründlich misslungen. Peter dachte: ,Warum sind sie nicht abgesprungen, als die Spitfires angriffen? Sie hatten doch keine Chance! Warum diese Notlandung? Die Maschine wäre so oder so hin gewesen. Was soll so ein Heldentum? Warum holt man ein Flugzeug ab, das nur noch Schrottwert hat? Warum schickt man dafür fünf Soldaten in den Tod?’ Peter saß allein in seinem Zimmer. Die anderen waren unten. Friedhelm hatte ihm auf seine Bitte hin ein Foto geschenkt. Er stand vor einem Flugzeug. Es war eine JU 88. Er hatte noch nicht die Brandnarben von der Notlandung im Gesicht. Damals war er vielleicht 19. Peter hatte dieses Bild häufig angeschaut, vor allen Dingen auch wegen der JU 88. Es erinnerte ihn an die Zeit, als er glücklich und die deutschen Waffen siegreich waren. Peter nahm ein flaches Kästchen und legte das Foto hinein. Er schob es zwischen die Gräber von Thomas und Rudolf. Lange suchte er im Regal, mit welchem Buch er Rudolf und Friedhelm zudecken sollte. Ein Kriegsbuch durfte es nicht sein. Es musste etwas Friedliches sein, etwas, was nicht log, etwas, was sie bestimmt gerne lesen würden, jetzt, nach diesen Erfahrungen. Schließlich nahm er ,Pilgerfahrt ins Märchenland’ heraus und legte es über die beiden. Peter stand am Fenster und schaute in den Garten hinab. Aus den Zweigen spross erstes Grün. Alle hatten sie ihn allein gelassen, sogar alle Träume. Er ging nach unten, vielleicht war
da jemand, der mit ihm sprechen wollte oder wenigstens die Hand auf seine Schulter legte. Die Familie befand sich im Esszimmer, wo das schwarze Klavier stand. Peter öffnete einen Spaltbreit die Tür und blickte hinein. Dort saßen sie mit ihren Toten, stumm, nur dann und wann ein kurzes Aufschluchzen. Jeder hüllte seinen Schmerz in das schwarze Tuch der Trauer. Keiner blickte herüber. Und wenn – es war ja nur Peter, das Kind, das glücklich in seinen Träumen und Spielen lebte. Es brauchte nicht das schwarze Tuch der Trauer. Das bisschen Angst vor den Tieffliegern und die momentanen Niederlagen in der Schule. Das war nicht schlimm, das ging vorbei. Peter schloss leise die Tür. Er ging durch die Küche und Waschküche nach draußen. Auf dem Hauklotz lag die Axt. Als er sie sah, fasste ihn die Wut. Er packte sie und lief in den Garten. Wenn alle fortgehen, dann sollt ihr auch nicht leben. Der Birnbaum war der erste, den er anfiel. Er holte weit aus und ließ die Schneide gegen die harte Rinde krachen. Sie zeigte wenig Wirkung, aber wieder und wieder zuckte die Axt gegen den Baumpanzer. Nun löste sich die Rinde, die Schneide drang ins Holz, Splitter flogen, eine Kerbe entstand. Und bei jedem Schlag schrie er: „Ihr sollt nicht leben! Ihr sollt nicht leben!“ Die volle Wut drängte sich in die Arme und in die Bewegung des Oberkörpers. Er sah nur noch die Kerbe, in die er die Axt weitausholend immer und immer wieder schlug. „Du wirst auch fallen, wie die anderen gefallen sind. Zerbrechen will ich euch, zerstören will ich euch, vernichten will ich euch!“ Tränen drangen ihm ins Auge. Er konnte nicht mehr richtig sehen, aber er schlug immer noch zielsicher zu, wie eine Maschine, die sich ganz auf die Kerbe eingestellt hatte. Er fühlte eine ungeheure Kraft Er konnte die Welt auseinander reißen. Im Esszimmer war mittlerweile das regelmäßig
krachende Geräusch aufgefallen. Agnes ging hinaus und schaute nach. Sie stellte sich hinter Peter und hielt den erhobenen Arm an. „Komm“, sagte sie, „die Bäume sind unschuldig.“ Sie nahm die Axt in die Hand, führte Peter ins Haus und berichtete kurz über den Vorfall. Mutter suchte eine Schlaftablette und dann legte man ihn in die beiden großen Sessel im Heizungskeller. Mutter blieb bei ihm sitzen und hielt seine Hand, bis er eingeschlafen war. Die Besetzung des Ortes durch die Engländer stand bevor. Die bange Frage für alle Bewohner war, ob man das Dorf verteidigte. Jeder einzelne deutsche Soldat, der sich auf den Straßen zeigte, gefährdete plötzlich Leib und Gut der Bevölkerung. Man sagte sich in aller Offenheit los von der deutschen Wehrmacht. Mit wie viel Stolz hatte man auf sie geblickt, wie viele Opfer hatte sie gebracht, und jetzt wollte man sie so schnell wie möglich los werden. Das letzte, was Peter von der einst von ihm so bewunderten Wehrmacht sah, waren vier Soldaten, die hinter dem Hause saßen, den Rücken an die Verandawand gelehnt. Sie waren erschöpft. Mutter und Agnes gaben ihnen zu essen und zu trinken. Das ging alles in Eile und ohne die sonst übliche teilnehmende Herzlichkeit. Eine Gereiztheit und Spannung lag über der Szene. Gewiss spürten die Soldaten, dass man sie hier nicht mehr gerne sah, sondern darauf wartete, dass sie davongingen. Peter beobachtete sie vom Waschküchenfenster aus. Die Bewaffnung war gering. Keine Maschinenpistole, nur alte Gewehre, ein paar Handgranaten und eine Panzerfaust. Als sie endlich fortgingen, war keiner auf dem Hof und verabschiedete sie. Peter schämte sich. Er tat dann das, was er schon länger geplant hatte, Er begrub seine Soldaten. Sie lagen auf dem Dachboden kreuz und quer auf der Burg und in kleinen Kartons, so wie er sie nach dem letzten Spiel dort oben abgestellt hatte. Er würde sie ja bald
wieder herunterholen zu einem neuen Spiel, aber er hatte sie nicht wieder heruntergeholt. Seit Thomas’ Tod lagen sie da, nicht vergessen, aber nie wieder angerührt. Er suchte sich einen größeren verschließbaren Pappkarton und legte die Soldaten hinein. Jeden sah er noch einmal an und erinnerte sich an seine Rolle und an seinen Kampfwert. Die beiden mit dem vorgestreckten Gewehr und dem Bajonett hatte er immer vorne hingestellt. Angriffsreihe. Sie waren bei der Beschießung auch als erste gefallen. Die stehend und kniend Schießenden dahinter, dann kam der Offizier zu Pferd. Der war zwar leicht zu treffen, aber sehr standfest. Peter musste an Thomas’ Kriegserzählung bei dem Besuch des Bannführers denken. Wie weit lag das zurück. Der Spaß war zu Ende. Dann stand da noch einer hinter der Burgbalustrade, mit wurfbereiten Handgranaten. Auf den hatte er in einem Spiel wohl zehnmal geschossen, aber nicht getroffen. Das hatte Peter geärgert, denn wie häufig konnte der nun seine Handgranaten werfen und Verluste bringen. Schließlich hatte Peter einen Ball als schwere Granate auf den Burghof geworfen. Da war er umgefallen. Anfänglich hatte Peter geplant, die Soldaten mit dem Hammer zu zermalmen und auf den Müll zu schmeißen. Aber dann hatte er sich doch für eine ordentliche Beerdigung entschieden. Es waren schon so viele Soldaten zermalmt in den Boden gesunken. Er wickelte sie in Papier und legte sie in mehreren Schichten nebeneinander in den Karton. Es waren genau fünfzig Soldaten. Als er fertig war, zerschnitt er einige leere Seiten seiner Schulhefte zu kleinen Zetteln und schrieb Namen darauf: Thomas, Friedhelm, Rudolf, Hartmut, Peter, Gerrit, Franz, Karl, Ludger… er ging in Gedanken die Fotos auf dem Klavier durch und schrieb die Namen auf. Auch einen Zettel mit Leutnant Lehmann. Sein Foto stand nicht auf dem
Klavier. Man hatte keins gefunden. Am Ende waren es 15 Zettel. Er legte sie auf die Soldaten und verschloss den Karton. Die Geräte und Fahrzeuge kamen in eine Extrakiste: der gepanzerte Mannschaftswagen mit angehängter Flak, der Funkwagen, zwei Panzer, drei Geschütze, der offene Kommandeurswagen mit dem Faltdach, von dem er sich nur schwer trennte, ein Lastwagen, Zelte und Schützengräben. Nur die Sanitätsabteilung mit allen Wagen, Zelten und Menschen behielt er. Den hoch aufgerichteten, in Weiß gekleideten und sehr würdevoll aussehenden Oberstabsarzt pflegte er immer in die Mitte seines Tätigkeitsbereiches zu stellen, zwischen die beiden, sich über die Bahren beugenden Arzte, die drei Krankenschwestern, die herbeieilten oder Hilfe gebend daneben standen und die sechs Träger und Gehilfen mit dem Rote Kreuz Zeichen auf dem Ärmel. Sie kümmerten sich um die fünf Verwundeten, die auf den Bahren lagen oder auf Tragen hergebracht wurden. Einen Verwundeten stellte er immer zwischen Schlachtfeld und Hauptverbandsplatz. Er kam mit dick verbundenem Kopf und Arm zurück. In der linken Hand noch das Gewehr. Dass die Verwundeten noch ihre Waffen mitbrachten, hatte Peter in seinen Büchern nie gelesen. Sie waren das Allerletzte, woran ein Soldat dachte, wenn er getroffen wurde. Gern hätte er eine Figur gehabt, bei der ein Leichtverwundeter einen Schwerverwundeten auf den Armen zurückträgt. Das hätte ihn an Thomas’ Erzählung vor dem Bannführer erinnert. Aber so etwas gab es zu dem Zeitpunkt nicht mehr zu kaufen. Auch die Figur, wo ein am Oberschenkel von einem Explosivgeschoss schwer verwundeter Soldat, auf dem Rücken liegend, über 500 m zu den Ausgangsstellungen zurückrobbt – die gab es nicht. Die gab es nur als Wirklichkeit. In Gestalt seines Bruders. Unbemerkt von den anderen gelangte er am Abend mit seiner
Last in den Garten. Dort warf er an einer Stelle hinter der Laube, wo man nie umgrub oder hackte, ein tiefes Loch aus und legte die Kästen hinein. Nachdem er es zugeschüttet und festgetreten hatte, streute er verrottendes Laub darüber. Die Burg behielt er. Sie war ja auch eine Ritterburg und erinnerte an eine längst vergangene Zeit. Er schob sie in einen dunklen Winkel des Dachbodens. Wenige Tage vor der Besetzung saß Peter am Morgen mit dem Nachbarjungen Alfred auf dem Mauerpostament vor dem elterlichen Haus. Sie überlegten, was sie spielen sollten. Allzu weit durften sie sich nicht von den Häusern entfernen. Es war ein klarer und warmer Apriltag. Bald würden die Spitfires auftauchen und nach Beute suchen. Plötzlich sahen sie etwas aus dem Dorf herankommen. Es war eine große Menge von Menschen, die sich scheinbar ungeordnet über die ganze Breite der Straße nach vorn schob. Und dann kamen sie heran. In Viererreihen, mit einem weiten Abstand zur nächsten. Menschen mit gestreiften Käppis auf dem Kopf und mit einer ebenso gestreiften Jacke, die Gesichter eingefallen, schmutzig, die Körper gebeugt, so schlurften sie vorbei. Die Kleidung zerrissen, verlottert. An den Seiten Bewacher, wohl 20 Stück, erkennbar SS, die Gewehre schussbereit in der Armbeuge. Die beiden Jungen waren zunächst an die Straße gesprungen, um dem Zug entgegenzusehen. Als sie aber diese ausgemergelten, totenähnlichen Gesichter deutlicher sahen, diese unheimlichen Gestalten, schwankend und in ihrer widerlichen Kleidung, da waren sie erschreckt zurückgerannt, hinter den Zaun. Von dort starrten sie entsetzt durch das Gitter auf den Elendszug. Es war so still an diesem Morgen, dass man es ganz genau hörte: Das Schlurfen der Füße in den armseligen kaputten Pantinen und Schuhen. Kein Laut sonst. Nur hin und wieder der Ruf eines Bewachers.
„Schneller, schneller!“, wobei er den Gewehrlauf meist jemandem in den Rücken stieß. Dann raffte sich eine Viererreihe auf, um einen engeren Anschluss an die vordere zu bekommen. Dieser stumme Zug der Elendsgestalten zog wie ein Sog die Dorfbewohner aus ihren Häusern vor die Tür. Dort blieben sie vor Entsetzen starr stehen. Das war etwas Unglaubliches, Ungeheuerliches, das war ein Zug aus der Hölle. Einige wenige, die sich zur Straße hinwagten, wurden von den Bewachern mit drohend zielenden Gewehrläufen wieder zurückgetrieben, als müsse man sie vor einem Haufen Pestkranker schützen. Einige Frauen schlugen ihre Schürzen vors Gesicht. Der Teufel zeigte seinen Komplizen das wahre Gesicht seiner Hölle. Nein, Gottes Gnade würde nie ausreichen, um diese Schuld zu tilgen. Dann war der Zug vorbei, etwa 100 Menschen, die noch einen weiten Weg hatten, nach irgendwo. Sie sollten aber zunächst nicht weit kommen. Auf dem offenen Gelände vor dem Dorf wurde dieser Elendszug von Tieffliegern angegriffen. ,Gott sei Dank’ verliefen seitlich der Straße tiefe Gräben. Hier hinein ließen die Menschen sich fallen, müde und erschöpft wie sie waren. Der Tod ließ sie einen Augenblick ausruhen. Nur einer war stehen geblieben, mitten auf der Straße, er schwenkte die Hände immer wieder signalisierend über den Kopf. Für eine Maschine kam das Zeichen zu spät, vielleicht hatte der Pilot, der als erster zum Angriff ansetzte, das Signal nicht mehr richtig deuten können. Er feuerte los und tötete den Mann. Die anderen Piloten bemerkten rechtzeitig, dass es sich hier um alles andere als marschierende Soldaten handelte. Sie flogen noch mehrmals über die Straße hinweg, ohne zu schießen. Ob sie denn immer noch nicht wussten, wer diese Menschen in diesen gestreiften Lumpen eigentlich waren?
Nach dem Verschwinden der Flugzeuge ließen die Bewacher den toten Mann in den Graben werfen, nicht ohne zynisch zu bemerken: „Nun darf er auch in Deckung gehen. Diesen jedenfalls können uns die Amis nicht anhängen.“ Peter kehrte voller Wut ins Haus zurück, zumal man schon die feindlichen Maschinen herankommen hörte. Er spürte wieder diese unbändige Kraft in sich aufsteigen. Einen von diesen Bewachern hätte er wohl packen und gegen die Linde vor dem Haus schleudern können. Aber der SS-Mann dahinter, der hätte gleich geschossen. Da war nichts zu machen. Nicht einmal in der Fantasie war es möglich, diese gemarterten Menschen zu befreien. Die anderen Hausbewohner standen in der Küche und redeten durcheinander. Peter hörte noch: „Onkel Pohl hat das immer gesagt, sie haben sie eingesperrt, die armen Menschen, oh, wie soll es uns nur ergehen?“ Peter ging nach oben auf sein Zimmer. Ihm fiel das Gedichtbuch ein, das Thomas’ Vater ihm geschenkt hatte ,Für spätere Zeiten’. Darin stand ein Gedicht von Heine. Thomas hatte daraus mal etwas zitiert. Er blätterte, da, Heinrich Heine ,Belsazar’, ,und sieh und sieh an weißer Wand und schrieb und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand. Die Magier kamen und keiner verstand, zu deuten die Flammenschrift an der Wand. Belsazar ward aber in selbiger Nacht von seinen Knechten umgebracht.’ Nur wenige hatten wohl jetzt erst die Flammenschrift gelesen. Um sie zu deuten, brauchte man kein Magier zu sein. Doch es war zu spät. Wie würde man sich an Belsazars Volk rächen? Dann war es soweit. An einem Montagmorgen Mitte April hielt die Panzerspitze einer kanadischen Division vor dem Dorfausgang und erwartete die Übergabe. Der Bürgermeister mit einer weißen Fahne, begleitet von zwei
älteren Männern aus dem Ort, ging ihnen entgegen. Kein einziger deutscher Soldat hielt sich mehr im Dorf auf. Sie hatten es fluchtartig verlassen müssen, weil man sie sonst abgeschnitten hätte. Dann rollten die Panzer in den Ort. Der Bürgermeister mit der weißen Fahne auf dem vorderen Panzer. Auf jedem mehrere Soldaten, die ihre Maschinengewehre gegen die Häuser gerichtet hielten. Kein Bewohner stand draußen, die Gewehre trieben sie zurück, wie es eben noch die Gewehre der SS getan hatten. Sie standen hinter den Gardinen und beobachteten den Einzug der Feinde. Franz schaute eine Weile dem Strom an Fahrzeugen und Soldaten zu. Dann setzte er sich allein in die Veranda. Er weinte. Bilder und Gefühle stiegen in ihm auf: die Kameraden, die neben ihm fielen oder verwundet wurden, das Stöhnen und Schreien, die Tapferkeit und die Todesängste, das Töten und Getötetwerden, der Dreck und der Schlamm, die Not und Entbehrung, die Schmerzen und die Verzweiflung, die vielen verlorenen Freunde. Ein junger Mensch mit dem Trauma eines Krieges, das nie ganz geheilt würde. Und alles war vergeblich gewesen. Umsonst. Dazu kam die große Enttäuschung über ein Regime, für das man sich begeistert hatte. Belogen und betrogen. Immer sind es die jungen Menschen, die betrogen werden. Sie glauben leidenschaftlich an die Zukunft und an eine bessere Welt. Und das gerade nutzen ehrgeizige und gewissenlose Politiker aus. Rattenfänger, die bedenkenlos mit hohlen Versprechungen die Jugend anziehen und ins Verderben führen. Dann kam die Hausdurchsuchung. Zwei baumlange Kanadier, jeweils eine Maschinenpistole umgehängt und in einem Halfter am Oberschenkel einen Colt, wie bei den Cowboys. Befehligt wurden sie von einem Sergeanten.
Die Soldaten durchsuchten die Räume und verlangten die Auslieferung von Fotoapparaten und Waffen. Da sie wegen der im Haus hängenden Tiertrophäen einen Jäger erwarten durften, gab man ihnen eine alte Schrotflinte mit Hähnen, dazu den Revolver, der in einer Schublade von Vaters Schreibtisch lag und den er bei der Eroberung einer englischen Stellung während der Durchbruchsschlacht Cambrai-La Fere im Frühjahr 1918 erbeutet hatte. So kehrte dann diese Waffe in ihre Heimat zurück. Außerdem erhielten sie die alte Glasplattenkamera von Vater, mit der er im 1. Weltkrieg Bilder von den schrecklich verwüsteten französischen Dörfern gemacht hatte. Foto- und Kriegstechnik hatten sich mittlerweile erheblich modernisiert. Die Soldaten waren zufrieden. Kein deutscher Soldat mehr im Haus und Waffen und Spionagemittel waren sichergestellt. Die Familie hatte sich im Esszimmer versammelt und zeigte dort dem Sergeanten ihre Ausweise. Franz trug nun endlich Zivilkleidung, es gab nur eine Schwierigkeit. Er war noch nicht aus dem Militärdienst entlassen und hatte noch keinen entsprechenden Nachweis als Nichtkombattant. Deshalb zeigte er seinen Studentenausweis vor. Der Sergeant schaute lange und nachdenklich darauf. Er sagte in allerbestem Deutsch: „Oh, ein Kommilitone. Sie haben in Münster studiert, ich in Leipzig.“ Es war ein Jude, der vor den Nazis noch rechtzeitig nach England hatte fliehen können. Lange stand er vor dem schwarzen Klavier und betrachtete die Soldatenfotos mit dem Trauerflor. Hier gab es nichts mehr gefangen zu nehmen. Dann nickte er und sagte: „Ich habe in England einen Schrank und da stehen genauso viele Fotos darauf. Von Vater und Mutter, von drei Geschwistern, von den Onkeln, Tanten und Freunden. Sie sind alle tot, hingemordet von den Nazis, den Deutschen.“
Beim Weggehen an der Tür drehte er sich noch einmal um und wies auf die Bilder: „Ob das als Sühne reicht?“ Dann verließen die Soldaten das Haus. Eine Stunde später erhielt das Haus Einquartierung. Zwei Zimmer mussten sie räumen. Es erschien ein Leutnant und sein Bursche, wie es schien. Ein englischer Leutnant, in einer eleganten Uniform, mit einem Stöckchen unter dem Arm, geradeso wie Peter ihn aus Büchern und Abbildungen kannte. Groß, schlank, elegant und ohne Brille. Wenn man ihn in eine deutsche Uniform gesteckt hätte, hätte er dem deutschen Leutnant Lehmann in nichts nachgestanden. Er bekam auch sein Zimmer. Es war ein Arzt mit seinem Assistenten. In der nächsten Zeit benutzten sie auch Vaters Behandlungs- und Wartezimmer für kranke und verletzte Soldaten. Er war der Arzt für die vielen Nachschubabteilungen, die augenblicklich im Ort stationiert waren. Draußen stand ein großes Schild, das auf die ,Ambulance’ hinwies. Es kamen viele Soldaten, Mutter stand in der Küchentür und wies sie mit ihrem charmanten Lächeln in das Wartezimmer. Gern hätte sie – wie sie es gewohnt war – Diagnose und Therapie vorweg genommen, aber sie sprach kein Englisch. Es war ein warmer klarer Apriltag und Peter ging in den Garten. Er war wie befreit, es gab keine Angst mehr. Keine Tiefflieger, keine Schule. Das war ein ganz neues und seltsames Gefühl. Er hätte wohl schweben können, hätte seine Erleichterung wohl hinausjubeln mögen und alle Lieder singen, die in ihm stumm geworden waren. Ein wenig beschämt betrachtete er den Birnbaum, in den er die Kerbe geschlagen hatte. Agnes hatte Baumwachs hingeschmiert, er würde nicht sterben. Peter setzte sich auf die Bank in der Laube. Gestern hatte Mutter alle in das Esszimmer gerufen. Sie wollte die Fotos von dem Klavier nehmen. Jeder sollte das Bild auf sein Zimmer bringen, das
ihm etwas bedeute. Die anderen würde sie aus dem Rahmen entfernen und in ein Album kleben. „Wir müssen unser Leben neu beginnen. Das ist schwierig, wenn wir dauernd an die Vergangenheit erinnert werden. Und den Toten mag es nicht recht sein, wenn sie diesem neuen Leben zuschauen müssen. Sie mögen in Frieden ruhen.“ Es gab keinen Widerspruch. Eine halbe Stunde später stellte Mutter auf das leere Klavier einen Krug mit leuchtend gelben Osterblumen. Agnes kam in den Garten, sie wollte die Erbsen- und Bohnenreihen durchhacken. Aber zunächst setzte sie sich neben Peter und beide sahen sie in den aufgrünenden Garten hinein. Die Drosseln sangen und von der Straße kam gedämpft der Lärm der Fahrzeugkolonnen herüber. Und nun immer lauter das Geräusch von Flugzeugmotoren. Dann schob sich eine Maschine ins Blickfeld, von Süden kommend Richtung Norden. Ganz niedrig, vielleicht 400 m hoch, eine riesige Viermotorige. Das Motorengeräusch übertönte alles. Es war eine amerikanische Liberator mit einem Stern am Rumpf. Peter erkannte sie an ihrem fast runden Seitenruder genau wieder. „Die will notlanden“, schrie Thomas, „die fällt auf die Nase!“ Aber nein, die lag ganz sicher in der Luft, alle vier Propeller drehten gleichmäßig rund. Peters Herz begann zu flattern. Angst stieg hoch. Er wollte losrennen, in den Keller, in Sicherheit. Er saß auf der Kante der Bank und zitterte. Seine Hände krampften sich um die vordere Sitzleiste. Da legte Agnes ihre Hand auf seine. „Es ist doch vorbei“, sagte sie. Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Ja, es war vorbei. Es gab keine Bedrohung mehr. Die grässliche Bestie hatte ihren Hunger gestillt und nun war sie hinabgetaucht in unendliche Tiefen und sollte nie mehr zurückkommen. „Sie
haben den gleichen Weg genommen wie jetzt dieser Liberator“, sagte er leise zu Agnes. Agnes zog seine Hand zu sich herüber: „Sie sind bei Gott, so wie meine Brüder bei Gott sind. Das Leiden ist zu Ende. Jeder hatte seinen Schutzengel, doch diese müssen Gottes Willen erfüllen. Als sie starben, sind die Engel mit ihnen vor Gottes Thron gegangen und haben sie in seine Hände gelegt, und Gott hat die Engel wieder zurück auf die Erde geschickt zu den Menschen, die diese Toten geliebt haben. Sie sind um dich. Wie deine Bäume. Schau dich um, du bist nicht allein.“ Peter sah Agnes zweifelnd an. In diesem Augenblick kamen seine Schwestern Mareike und Judith in den Garten. „Peter, wo bist du? Wir sollen die Verdunklungsklappen auf den Dachboden bringen. Willst du uns helfen?“ Peter stand auf, er sah Agnes an. Sie nickte. Und dann rannte er auf die Schwestern zu.