Kant in der Gegenwart
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Kant in der Gegenwart Herausgegeben von
Jürgen Stolzenberg
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Kant in der Gegenwart
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Kant in der Gegenwart Herausgegeben von
Jürgen Stolzenberg
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-017529-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2007 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Inhalt Jrgen Stolzenberg Einleitung: Kant in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ZU KANTS BEGRIFF
DER
PHILOSOPHIE
Reinhard Brandt Die Bestimmung des Menschen als Zentrum der Kantischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
LOGIK
UND
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METAPHYSIK
Michael Wolff Die Reinheit der reinen Logik: Kant und Frege . . . . . . . . . . . . . . .
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Robert Schnepf Metaphysik und Metaphysikkritik in Kants Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ERKENNTNISTHEORIE Wolfgang Carl Das Subjektive als Bedingung des Objektiven . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Rolf-Peter Horstmann Kant und Carl ber Apperzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Katja Crone Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Tobias Rosefeldt Dinge an sich und sekundre Qualitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
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Inhalt
ETHIK
UND
RECHT
Manfred Baum Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie . . . . . . . . . . . . . 213 Matthias Kaufmann Autonomie und das Faktum der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Jrgen Stolzenberg Kants Ethik und die Mçglichkeit des Altruismus (Thomas Nagel) . 247
STHETIK Eckart Fçrster Kant und Strawson ber sthetische Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Wolfgang Wieland Die Lust im Erkennen: Kants emotionales Apriori und die Rehabilitierung des Gefhls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Einleitung: Kant in der Gegenwart Jrgen Stolzenberg Die Philosophie Immanuel Kants ist stets eine gegenwrtige Philosophie gewesen. Nie hat es eine Zeit gegeben, in der sie vergessen war, mißachtet oder als berholt angesehen wurde. Stets galt sie den Nachgeborenen als Bezugs- und Orientierungspunkt, zu dem das eigene Denken sich in ein geklrtes Verhltnis zu setzen hatte. Die Bewegung des Neukantianismus in der zweiten Hlfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts belegt auf eindrucksvolle Weise die Wirkungsmacht und das Vertrauen in die Leistungskraft der Philosophie Kants. Von ihr erhoffte man einen neuen Anfang in der Philosophie. In der Mitte des 20. Jahrhunderts fand die Philosophie Kants Eingang in die sprachanalytisch orientierte angelschsische Philosophie. Whrend Peter F. Strawson mit Individuals eine deskriptive Metaphysik vorlegte, die apriorische Begriffsschemata fr die raum-zeitliche Struktur von Einzeldingen in der Welt vorsieht, bereitete sein Buch The Bounds of Sense, das er als „An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason“ verstand, der Philosophie Kants vollends den Weg in den angelschsischen Sprachraum. Wenig spter leitete John Rawls Berufung auf Kants Konzept der Autonomie eine Rehabilitierung der Praktischen Philosophie im angelschsischen Sprachraum ein. Am Beginn des 21. Jahrhunderts ist Kant, so scheint es, zum Philosophen der Welt geworden. Kants Pldoyer fr die Autonomie der Vernunft und seine Ethik der Humanitt sind zu einer weltumspannenden Leitlinie fr die Orientierung im personalen wie im gesellschaftlich-politischen Leben geworden. Kants Modell einer weltbrgerlichen Gesellschaft autonomer Staaten ist weiterhin aktuell. Kant in der Gegenwart – das meint indessen nicht nur eine Aktualisierung der Philosophie Kants unter der Perspektive gegenwrtiger Theoriebildungen, das meint auch eine Offenheit gegenber dem, was in der Flucht der Zeiten und im Wechsel der Interessen bersehen, verdrngt und vergessen worden ist und das nunmehr neu entdeckt und fr die gegenwrtigen Debatten fruchtbar gemacht werden kann. Kant in der Gegenwart zum Gegenstand philosophischer Forschung zu machen, schließt daher auch die Bemhungen ein, den rationalen Gehalt der
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Jrgen Stolzenberg
Kantischen Philosophie aus ihrem eigenen Zentrum heraus freizulegen, gegen etablierte Interpretationsschemata zu verteidigen und hinsichtlich ihres systematischen Gehalts unter den Bedingungen der Gegenwart zu beurteilen. Die im vorliegenden Band vereinigten Beitrge sind diesem Programm verpflichtet. Zu Kants Begriff der Philosophie Der Beitrag von Reinhard Brandt fhrt sogleich ins Zentrum der Kantischen Philosophie. Unter der Leitung der aufklrerischen Idee der Bestimmung des Menschen, die prziser als Bestimmung zur Selbstbestimmung zu verstehen ist, entwickelt Brandt eine Rekonstruktion der Philosophie Kants als ganzer. Sie erlaubt es, die Vielfalt der Themen, systematischen Interessen und Impulse, die in Kants Philosophie Eingang gefunden haben, zu einem in sich stimmigen, innovativen und theoretisch attraktiven Ensemble zu verbinden. Kants These, dass der Mensch sowohl als Individuum als auch als Gattungswesen durch die Natur und durch seine Vernunft auf eine apriorische Weise zur Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung bestimmt sei, garantiert Brandt zufolge nicht nur die Welthaltigkeit und Objektivitt seiner theoretischen Erkenntnis, sondern auch die Weltfhigkeit seines moralischen und rechtlichen Handelns sowie die allgemeine Mitteilbarkeit seiner sthetischen Wertschtzung. Und auch die menschliche Geschichte ist als ein Weg zur Selbstbestimmung im Sinne einer Emanzipation von der Natur zu verstehen. Dass die Idee der Selbstbestimmung in der Tat der Schlssel zum Verstndnis der Kantischen Philosophie als ganzer ist, lßt sich Brandt zufolge bereits anhand der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zeigen. Sie entwirft die Idee einer Grundlegung fr beide Teile der Vernunft, der theoretischen wie der praktischen, deren Zentrum die von Kant brigens selber nie so genannte Kopernikanische Wende der Metaphysik ist und die die ursprngliche, von John Locke inspirierte Frage nach den Quellen, dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Vernunft ersetzt. In einer eindringlichen Interpretation des Sinnes der von Kant vorgeschlagenen Analogie der mit Kopernikus vollzogenen „Umnderung der Denkart“ in der Astronomie mit der Metaphysik zeigt Brandt, dass Kants Darstellung, vermittelt ber die Differenz von Ding an sich und Erscheinung, ihr eigentliches Zentrum in der Idee der Freiheitsgesetze der praktischen Vernunft hat – in Analogie zu der „un-
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sichtbaren, den Weltbau verbindende[n] Kraft (der Newtonischen Anziehung)“ (B XXII), die ohne jene Tat des Kopernikus, so Kant, „auf immer unentdeckt geblieben wre“. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die zweite Vorrede gegenber der ersten ihrerseits eine implizite „Revolution der Denkart“ darstellt, indem sie das Thema von der Erkenntnistheorie auf eine Methodologie der Wissenschaften umstellt, von der sich der Weg zur Moralphilosophie als dem eigentlichen Zentrum der Kantischen Philosophie çffnet. In der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft und ihrer Postulatenlehre findet denn auch die Frage „Was ist der Mensch?“ sowie die Frage, welches die ganze Bestimmung des Menschen sei, ihre Antwort. Dem entspricht das, was Kant den „Weltbegriff der Philosophie“ nennt, in dem das zusammengefaßt ist, was „jedermann notwendig interessiert“. So kann der Beitrag Brandts auch als Pldoyer fr einen kritischen, gleichwohl unverkrzten, die Bereiche des sthetischen und religiçsen Bewußtseins einschließenden Vernunftbegriff verstanden werden, der seine Legitimation aus den Bedingungen einer vernnftigen Praxis erhlt. Logik und Metaphysik Wendet man sich den verschiedenen Teilen der Philosophie Kants zu, dann sind das Verhltnis von Logik und Metaphysik sowie die Kantische Idee einer transzendentalen Logik von vorrangigem Interesse. Dem sind die beiden Beitrge von Michael Wolff und Robert Schnepf gewidmet. Mit Bezug auf Kants Logikverstndnis ist die Bemerkung in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft bekannt, dass die Logik seit Aristoteles „keinen Schritt rckwrts hat tun drfen“, dass sie aber auch „bis jetzt keinen Schritt vorwrts hat tun kçnnen“ und, wie Kant weiter bemerkt, daher „allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint.“ (B VIII) Als einen entscheidenden Schritt vorwrts gilt dem gegenwrtigen Logikverstndnis die von Gottlob Frege begrndete mathematische Logik. Sie und nicht die aristotelische Syllogistik gilt heute als das Paradigma der formalen Logik. Alle Beziehungen zwischen Begriffen kçnnen Frege zufolge auf eine „logische Grundbeziehung“ zurckgefhrt werden, fr die bekanntlich der Ausdruck ,F(a)’ steht. Er bedeutet, dass ein Gegenstand unter einen Begriff fllt. Da sich in Freges Sicht alle Beziehungen zwischen Begriffen auf diese Grundbeziehung zurckfhren lassen, konnte er der Meinung sein, dass die von ihm begrndete Logik allgemeiner und fundamentaler als die traditio-
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Jrgen Stolzenberg
nelle Syllogistik sei. Der Beitrag von Michael Wolff zeigt, dass Freges These nicht aufrecht zu halten ist. Freges logische Grundbeziehung bzw. die Aussagenfunktion der Form ,F(a)’ kann Wolff zufolge als singulres affirmatives kategorisches Urteil betrachtet werden, das eine Beziehung zwischen Begriffen ist, sofern man unter Begriff die Bedeutung eines generellen Terminus versteht, wie es in der Syllogistik der Fall ist. Dies ist dann mçglich, wenn die fr Wolff nicht berzeugende „willkrliche Festsetzung“ Freges, dass Begriffe Funktionen sind, aufgegeben wird. Dann ist Kants Auffassung ber die Logik und das, was fr Kant „reine Logik“ ist, aus heutiger Sicht zumindest nicht mit Blick auf Frege ohne weiteres zu verwerfen. Der Beitrag von Robert Schnepf widmet sich dem Thema „Metaphysik und Metaphysikkritik in Kants Transzendentalphilosophie“ unter gegenwrtigen Theoriebedingungen. Hier ist mit mehreren offenen Fragen zu rechnen. So ist Kants Verhltnis zur Metaphysik seiner Zeit nicht weniger unklar als der Begriff und die Aussichten von Metaphysik heute. Mit Bezug auf den Begriff der Metaphysik ist zwischen einer Theorie, die Aussagen ber nicht-empirische Gegenstnde zu machen sucht auf der einen Seite, und einer Theorie, die nach allgemeinsten und invarianten Eigenschaften erkenntnisrelevanter Dinge fragt auf der anderen Seite, zu unterscheiden. Die letzte, traditionell der Ontologie zugehçrige Frage sieht sich indessen dem pragmatistischen Einwand ausgesetzt, dass von Wahrheit nicht im Blick auf ein alternativeloses Begriffsschema, sondern nur mit Bezug auf die bisher bewhrte Funktion einer Theorie gesprochen werden kçnne. Und auch der verbreitete Hinweis auf historisch wechselnde Paradigmen lßt die Annahme invarianter Eigenschaften von Gegenstnden obsolet erscheinen. Vor diesem Hintergrund ziehen Kants Transzendentalphilosophie und das Kantische Programm, apriorische Bedingungen von Gegenstnden der Erfahrung aufzuweisen, ihrerseits den Verdacht einer metaphysischen Theorie mit letztlich unerfllbaren Erkenntnisansprchen auf sich. Damit stehen Begriff und Methode der Philosophie Kants zur Disposition. Gegen ein schon im klassischen Neukantianismus vorherrschendes, in der aktuellen Rede von transzendentalen Argumenten wiederkehrendes Mißverstndnis ist Schnepf zufolge darauf aufmerksam zu machen, dass Kants Transzendentalphilosophie nicht von gegebenen Gegenstnden ausgeht, um deren invariante Charaktere aufzuzeigen; ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, ein System von Begriffen und Grundstzen zu entwickeln, die sich auf Begriffe von Gegenstnden berhaupt beziehen, dem eine Untersuchung ber die Funktion des Verstandes und der menschlichen Vernunft vorausgeht.
Einleitung: Kant in der Gegenwart
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Schnepfs Beitrag wendet sich daher folgerichtig einer Analyse von Kants Erklrungen zum Begriff der Transzendentalphilosophie zu. Wider die Pragmatisten sucht Schnepf hierbei das bislang unausgeschçpfte und immer noch provozierende systematische Potential von Kants Pldoyer fr eine Theorie apriorischer Bedingungen von Gegenstnden berhaupt freizulegen. Eine der Pointen von Schnepfs berlegungen, die die Analyse historischer Problemkonstellationen mit der sachnahen Diskussion systematischer Probleme der Gegenwartsphilosophie verbinden, ist es, dass eine Analyse des Kantischen Wahrheitsbegriffs, die sich von Kants mentalistischen Annahmen freihlt, von sich aus schon auf eine Theorie von Gegenstnden berhaupt fhrt, und dass die auf diesem Wege zu gewinnenden invarianten Kriterien wahrer bzw. falscher Urteile auch noch diejenigen Kriterien liefern, die fr die pragmatistisch begrndeten Rechtfertigungsversuche vorauszusetzen sind. Erkenntnistheorie Versteht man die philosophische Frage nach der Wirklichkeit als die Frage, wie die Beziehung zwischen einer fr uns verstndlichen Reprsentation der Welt und der Welt selbst begriffen werden kann, dann ist zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven zu unterscheiden und das Verhltnis beider zu bestimmen. Der Beitrag von Wolfgang Carl geht diesem Verhltnis anhand einer Analyse der Auffassungen von Willard v. O. Quine, Thomas Nagel und Kant nach. Carls Absicht ist es zu zeigen, dass Kants berlegungen zum Verhltnis zwischen dem Objektiven und Subjektiven Schwierigkeiten zu vermeiden erlauben, die sich fr die Positionen Quines und Nagels ergeben. Whrend Quine von einer Unterscheidung zwischen empirischem Inhalt und begrifflicher Form ausgeht, damit aber keine Antwort auf die Frage geben kann, welche begriffliche Reprsentation eine korrekte Darstellung der Welt ist, da beide Elemente die notwendigen Bedingungen sind, unter denen eine Reprsentation der Welt berhaupt mçglich ist, schlgt Nagel eine komparative Unterscheidung zwischen zwei Standpunkten vor, von denen aus die Welt wahrgenommen und begriffen werden kann. Demnach ist das Objektive durch die Abwesenheit bloß subjektiver Zge des Weltverstndnisses charakterisiert. Die Art und Weise aber, in der Nagel den Unterschied beider Standpunkte – etwa anhand der physikalischen Beschreibung und der normalen subjektiven Wahrnehmung eines Regenbogens oder Blitzes – beschreibt, zeigt, dass auch sie nicht geeignet ist, die Frage nach der
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Objektivitt unserer Erkenntnis angemessen zu beantworten. Das Subjektive, so Carls Argument, ist mit Bezug auf die Erkenntnis der Welt nicht zu eliminieren, sondern als etwas anzuerkennen, das aufgrund unseres auf Erfahrung beruhenden Weltbezugs gar nicht eliminiert werden kann. So ist auf eine hinreichend reflektierte Weise vielmehr zwischen dem zu unterscheiden, wie die Welt einem wahrnehmenden Subjekt erscheint und dem, wie sie davon unabhngig ist. Nicht die Verschiedenheit der Inhalte begrndet daher den Unterschied zwischen dem Subjektiven und Objektiven, sondern die Art der Rechtfertigung von Urteilen ber die Welt. Genau dies ist das Unternehmen Kants. Denn Kants Absicht ist es zu zeigen, dass eine objektive Reprsentation der Welt nur im Rekurs auf gewisse formale apriorische subjektive Bedingungen begrndet werden kann. Dafr steht das Unternehmen einer transzendentalen Deduktion. Deren oberstes Prinzip ist bekanntlich mit dem Konzept der ursprnglich synthetischen Einheit der Apperzeption gegeben. Nicht nur dessen interne logische Verfassung, sondern auch der Weg, den Kant in der Ausarbeitung der Antwort auf die seit dem berhmten Brief an Markus Herz aus dem Jahre 1772 aufgeworfene Frage zurckgelegt hat, die Frage, wie reine Begriffe sich auf Gegenstnde beziehen kçnnen, ist zum bevorzugten Gegenstand der Kant-Forschung geworden. Wolfgang Carl hat hierbei den „schweigenden Kant“ in einer vielbeachteten monographischen Untersuchung aus dem Jahre 1989 zum Reden gebracht, zumindest soweit, dass die wichtigsten Argumente, die Kant auf dem Wege der Ausarbeitung der Deduktion der Kategorien bis zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft erwogen hat, deutlich geworden sind. In diesem Zusammenhang hat Carl eine prominente These vertreten, die die Funktion der Einheit der Apperzeption im Rahmen des Kantischen Deduktionsprogramms betrifft. Carls These ist es, dass Kant um die Mitte der siebziger Jahre einen Neuansatz zur Deduktion der Kategorien erwogen habe, dem ein substanztheoretisch gefaßtes Modell von Apperzeption zugrunde liegt. Erst gegen Ende der siebziger Jahre habe Kant dieses Modell im Zusammenhang der Entdeckung der sog. Paralogismen zu Gunsten einer vermçgens- bzw. akttheoretischen Konzeption aufgegeben. Gegen diese These Carls wendet sich Rolf-Peter Horstmann. Horstmann zufolge muß man Kant nicht die Favorisierung eines ursprnglich substanztheoretischen Modells der Apperzeption unterstellen, vielmehr lßt sich mit Blick auf die Beschreibung, die Kant der Funktion der Apperzeption zukommen lßt, zeigen, dass Kant eher ein ,dynamisch-prozessuales’ Modell vertreten hat. Die Pointe dieser Auf-
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fassung besteht in der Sicht Horstmanns darin, dass die Konstitution der Einheit der Apperzeption nur im Vollzug des Aufnehmens von gehaltvollen Vorstellungen in das als Einheit gedachte denkende Subjekt erfolgt, das daher gar nicht als ein besonderes substanziales Objekt vorgestellt werden kann. ,Ich’ ist vielmehr eine Aktivitt, die nur stattfindet, wenn Vorstellungen gegeben sind, und von der wir, wie Kant bemerkt, „abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben kçnnen“ (A 346). Der Beitrag von Katja Crone schließt der Sache nach an die berlegungen von Horstmann an. Crone begibt sich auf eine Spurensuche, die Aufschlsse ber die Frage zu geben erlauben soll, ob und auf welche Weise Kants Konzept der Apperzeption als ein „phnomenales Bewußtsein“ verstanden werden kann, d. h. als eine vortheoretische Form von Bewußtsein, das weder bereits eine begrifflich strukturierte Erfahrung noch auch nur eine reine apriorische Form darstellt. Die diesbezglichen Spuren sind Crone zufolge bereits in der Deduktion der Kategorien, vor allem aber im Paralogismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft zu finden, insbesondere in Kants These, dass der Satz „Ich denke“ den Satz „Ich existiere“ in sich enthlt (vgl. B 422). Dieser These geht Crone nach. Im Ausgang von Kants Erklrung, dass die Vorstellung ,Ich’ auf einem spontan vollzogenen mentalen Akt beruht, die die unmittelbare Existenzgewißheit auf seiten des Subjekts, das diesen Akt vollzieht, einschließt, zeigt Crone, dass Kants weitere, durchaus irritierende These, dass mit dem Ich denke-Bewußtsein eine „unbestimmte Wahrnehmung“ bzw. eine „unbestimmte empirische Anschauung“ verbunden sei, die gleichwohl „vor der Erfahrung vorher[gehe]“ (B 423), auf die Annahme eines basalen, vortheoretischen phnomenalen Bewußtseins verweist, das zugleich die Grundlage von allem erkenntnistheoretisch relevanten Denken ist. An dieser Stelle, darauf weist Crone am Ende ihres Beitrags hin, erçffnet sich eine Perspektive auf das von Fichte begrndete, mit Kants erkenntniskritischem Programm nicht zu vereinbarende Unternehmen einer Philosophie des subjektiven Geistes, die den Gehalt transzendentaler Erkenntnisprinzipien im Zuge einer Theorie der Bedingungen von Selbstbewußtsein entfaltet. Eines der ebenfalls zentralen, wenngleich von jeher umstrittensten Theoreme ist Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich. Tobias Rosefeldt legt in seinem Beitrag eine Interpretation von Kants transzendentalem Idealismus vor, derzufolge diese Unterscheidung als eine Unterscheidung von zwei Arten von Eigenschaften aufgefaßt werden kann. Whrend fr Erscheinungen Eigenschaften gelten, die ihnen nur in Relation zu einer bestimmten Art von Erkenntnissubjekten
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zukommen, gelten fr Dinge an sich Eigenschaften, die davon unabhngig sind. Anhand der von Kant vorgenommenen Analogisierung zwischen Erscheinungen und sekundren Qualitten sucht Rosefeldt einen exegetisch praktikablen Begriff der Subjektabhngigkeit von Eigenschaften zu entwickeln und dafr zu argumentieren, dass man Kants epistemologischer Grundunterscheidung am besten dadurch gerecht wird, dass man die subjektabhngigen Eigenschaften als Dispositionen unabhngig von uns existierender Gegenstnde versteht, denen „an sich“ nicht-dispositionale Eigenschaften zukommen. Ethik und Recht Wie im Falle der theoretischen Philosophie lßt auch im Bereich der praktischen Philosophie die Wahrnehmung und Wrdigung des epochal Innovativen der Kantischen Philosophie allzu leicht die Verstndigung ber die vielfltigen polemischen Bezugnahmen auf die zeitgençssische Theorielage in den Hintergrund treten. Dem tritt der Beitrag von Manfred Baum entgegen. Baum zeigt, auf welche Weise Kant die traditionelle Unterscheidung der praktischen Philosophie in Rechtslehre und Tugendlehre, die ihm aus den Lehrbchern Baumgartens und Achenwalls vertraut war, neu begrndet und in der spten Metaphysik der Sitten zu einem vollstndigen System der Pflichten ausgearbeitet hat. Hierbei hat Kant dem Unterschied von Legalitt und Moralitt, der dem berlieferten Unterschied von Recht und Ethik in gewisser Hinsicht entspricht, innerhalb seiner Ethik einen zentralen Ort zugewiesen. Kants Neubegrndung der Unterscheidung von Rechts- und Tugendlehre erfolgt auf der Grundlage des Freiheitsbegriffs, genauer durch die Idee, dass die Freiheit selber das allgemeine Gesetz ist, welches das innere und ußere Handeln des Menschen bestimmt. In einem zweiten Schritt macht Baum en dtail deutlich, auf welche Weise das Kantische System der Rechtsund Tugendpflichten sich aus dem gemeinsamen obersten Prinzip der Sittenlehre begrnden lßt. Es war Kants Meinung, in seiner Moralphilosophie nur das alltgliche moralische Bewußtsein aufgeklrt und seine begrifflichen Implikationen dargestellt zu haben. Im Ausgang von dem in aktuellen Diskussionen begegnenden Vorbehalt gegenber dem Rigorismus der Kantischen Ethik und der kritischen Frage, wie sich moralische Autonomie und die Unbedingtheit des Sittengesetzes mit einem emphatischen Begriff von Selbstbestimmung vereinbaren lassen, wendet sich der Beitrag von Matthias
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Kaufmann dem ebenfalls immer wieder als problematisch angesehenen Theorem vom Bewußtsein des Sittengesetzes als einem „Faktum der Vernunft“ zu, um von ihm aus das Verhltnis von Autonomie und Selbstbestimmung in der Kantischen Ethik in einer nachvollziehbaren und auch dem Common sense sich empfehlenden Weise aufzuklren. Das, was in der Sicht Kaufmanns unter Kants Rede von einem „Faktum der Vernunft“ zu verstehen ist, ist nicht zureichend mit der inzwischen weit verbreiteten Rede von einer „Ethik der freiwilligen Selbstbindung“, aber auch nicht nur im Sinne einer von der Vernunft vorgefundenen Tatsache zu erklren. Kants „Faktum der Vernunft“, so Kaufmann, bezieht sich auf die praktische Vernunft als einer Fhigkeit tatschlich lebender Menschen, die sich in den moralischen und nicht auf Klugheitserwgungen zurckzufhrenden Elementen einiger unserer normativen Stze ausdrckt. Daher kann die Instanz einer reinen praktischen Vernunft als idealisierte Form eines çffentlichen normativen Diskurses angesehen werden, die unter konkreten und kontingenten Bedingungen angewendet, interpretiert und bewhrt werden muß. Als eine Empfehlung an den Common sense ist auch Thomas Nagels frhe Begrndung einer Ethik des Altruismus zu verstehen. Sie hlt sich Nagels Erklrung zufolge in der Nhe der Ethik Kants, und auch Nagels vorerst „letztes Wort“ in Sachen Ethik ist ein Bekenntnis zu Kants Ethik der Autonomie. Der Beitrag von Jrgen Stolzenberg geht Nagels Konzept einer Ethik des Altruismus und seinem Verhltnis zur Ethik Kants genauer nach. Unter Altruismus versteht Nagel die Anerkennung der Realitt und der Interessen anderer Personen, ohne auf die Interessen und Gefhle der jeweils handelnden Person Rcksicht zu nehmen. Diese Haltung beruht Nagel zufolge auf der Selbstauffassung einer Person, sich nur als eine weitere Person unter einer Vielzahl anderer Personen zu verstehen. Diese Haltung lßt sich ihrerseits als Verbindung zweier Standpunkte verstehen, unter denen eine Person sich und die Welt ansehen kann, des personalen und des impersonalen Standpunktes bzw. des Standpunktes der ersten und des Standpunktes der dritten Person. Im Ausgang von dieser Konzeption sucht Nagel das Problem der Motivation als personalen Akt der Anerkennung und bernahme eines objektiven Prinzips fr das eigene Handeln zu erklren. Diesen Akt versteht Nagel als einen Akt der Freiheit. Ihm entspricht die Fhigkeit einer Person, von dem je eigenen Standpunkt abzusehen und ihr Handeln an allgemeingltigen Normen auszurichten. Nagels Entwurf einer Ethik des Altruismus luft damit auf eine Ethik der Humanitt hinaus, die auf dem Selbstverstndnis einer Person als eines freien und autonomen Wesens
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beruht. Eine genauere Betrachtung der von Nagel reklamierten KantNhe lßt indessen deutlich werden, dass Nagel der reflexiven Binnenstruktur des moralisch-praktischen Selbst nicht gerecht wird, fr die Kants Konzept des moralisch-praktischen Selbstbewußtseins die konzeptuelle Grundlage bietet. Darber hinaus reicht Nagels Konzeption der Anerkennung und bernahme eines objektiven Handlungsgrundes nicht aus, um das Motivationsproblem zu lçsen. Die Frage, auf welche Weise die von Nagel mit Kant angenommene praktische Vernunft einer Person unter den Bedingungen der Kontingenz und Individualitt, zu dem das System der Triebe und Neigungen gehçrt, eine handlungsmotivierende Kraft entfalten kann, findet bei Nagel keine berzeugende Antwort. Hier bietet sich ein Rekurs auf Kants Theorem der Achtung fr das moralische Gesetz an. sthetik Unter den Texten, die fr die Orientierung ber Grundfragen der sthetik unter den Bedingungen der Gegenwart von zentraler Bedeutung sind, ist Kants Kritik der Urteilskraft an erster Stelle zu nennen. Nachdem sie lange im Schatten der beiden ersten Kritiken gestanden hatte, ist sie seit geraumer Zeit zu einem Grundbuch der sthetischen Theorie geworden. Eckart Fçrster hat seinen Beitrag ber die Struktur sthetischer Urteile in Kants sthetischer Theorie als eine Hommage fr Peter F. Strawson angelegt. Fçrster geht von zwei Bemerkungen Strawsons zu Kants Einsichten ber die Struktur sthetischer Urteile aus. Die erste Bemerkung betrifft Kants Fhigkeit zur Integration scheinbar heterogener Theorieelemente in einen einheitlichen Theorieentwurf, wie die Integration der Theorie des sthetischen Urteils in den Kontext der Erkenntnistheorie der Kritik der reinen Vernunft zeigt. Die zweite Bemerkung enthlt eine Interpretation des Kantischen Theorems des freien Spiels der Erkenntniskrfte: Da die Natur eines schçnen Gegenstandes nicht durch einen allgemeinen Begriff bestimmt werden kann, lßt sich in der Sicht Strawsons sagen, dass ein schçner Gegenstand die einzige Exemplifizierung des ihm notwendigerweise zukommenden individuellen Begriffs ist. Von beiden Bemerkungen Strawsons lßt Fçrster sich zu einer eingehenden Untersuchung ber die Beziehung der Kritik der Urteilskraft zur ersten Kritik und ber die interne Systematik der Kantischen Theorie des sthetischen Urteils inspirieren. Der erste Untersuchungsgang gilt dem Kantischen Theorem des freien Spiels der Erkenntniskrfte. Hier zeigt Fçrster, dass Strawsons Konzeption des schçnen Gegenstandes als Ex-
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emplifizierung eines Individualbegriffs dem Spezifischen der sthetischen Erfahrung, der Unerschçpfbarkeit der Interpretation des sthetischen Gegenstandes, nicht gerecht wird. Die von Strawson gerhmte Integrationskunst Kants lßt sich Fçrster zufolge insbesondere anhand des Prinzips einer formalen Zweckmßigkeit der Natur verdeutlichen. Kants relativ spte Entdeckung dieses Prinzips als eines eigenstndigen apriorischen Prinzips des Gefhls der Lust und Unlust erlaubte es ihm nicht nur, eine Analyse des Geschmacksurteils zu entwickeln, die sich in bereinstimmung mit den allgemeinen Bedingungen der Gegenstandserkenntnis befindet, sondern auch eine Deduktion des Geschmacksurteils zu entwerfen, die ihr Ziel, so Fçrster, in Kants Idee des Schçnen als Symbol des sittlich Guten findet. Denn so, wie der moralisch Handelnde die Natur unter der Idee der Freiheit verndert, so schafft der Knstler unter der Leitung nicht-empirischer sthetischer Ideen gleichsam eine zweite Natur. Und so, wie die praktische Vernunft im moralischen Handeln sich selbst das Gesetz gibt, so gibt die Urteilskraft bei der Reflexion ber das Schçne sich selbst das Gesetz, das im Prinzip der formalen Zweckmßigkeit der Formen der Natur bzw. der durch Kunst hervorgebrachten zweiten Natur fr die Erkenntniskrfte besteht. Auf diese Weise werden, so fhrt Kant am Ende der Kritik der sthetischen Urteilskraft aus, das „theoretische Vermçgen mit dem praktischen Vermçgen auf gemeinschaftliche und unbekannte Art zur Einheit verbunden“ (§ 59). Erst mit dieser berlegung ist Fçrster zufolge der entscheidende Grund der Rechtfertigung des Anspruchs des Geschmacksurteils auf Allgemeingltigkeit gegeben. Und erst von hier aus wird deutlich, wie sich Erkenntnis, Moral und Geschmack in ein kohrentes, sich gegenseitig sttzendes Ganzes integrieren lassen. Auch Wolfgang Wielands Untersuchung ber „Die Lust im Erkennen“ begibt sich auf eine Spurensuche. Es ist eine Suche sub ratione veritatis. Unter dieser Perspektive gelingt es, einen verborgenen Zusammenhang von Urteil und Gefhl aufzudecken, der sich als sthetisch-sinnliche Vorgeschichte der Erkenntnis begreifen lßt. Daraus leitet sich das mit Bezug auf die Kantische Urteilstheorie ebenso berraschende wie unkonventionelle Pldoyer Wielands fr eine Rehabilitierung des Gefhls ab. Gefhle, so scheint es, sind nicht theoriefhig. Der unmittelbaren Vertrautheit mit den eigenen Gefhlen und Empfindungen entspricht die Widerstndigkeit gegenber ihrer Konzeptualisierung und Objektivierung. Es ist daher alles andere als selbstverstndlich, dass Kant dem Gefhl einen genuinen Ort im Bereich des Apriorischen zuweist. Kants
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Kritik der Urteilskraft ist der theoretische Zusammenhang, in dem dieser Ort zu finden ist. Das die Untersuchung leitende Paradigma ist das sthetische Urteil. Hier gilt es festzuhalten, dass sthetische Urteile, unter ihnen auch die Geschmacksurteile, nicht Sinnliches intendieren, sondern Sinnliches als ihre Elemente enthalten. Entsprechend ist die Urteilskraft genau dann sthetisch, wenn ihre Ttigkeit auf seiten des Urteilenden auf eine nicht begrifflich vermittelte, sondern sinnliche Weise erfahren wird. Diese Erfahrung beschreibt Kants bekanntlich als eine kontemplative Lust bzw. als ein interesseloses Wohlgefallen. Es ist dieses Gefhl, das in einem Geschmacksurteil die Stelle des Prdikats einnimmt. Ihm liegt ein von begrifflicher Bestimmung freies, sich gegenseitig belebendes und fçrderndes Spiel der Erkenntniskrfte Einbildungskraft und Verstand zugrunde. Mit ihm wird der Bezug auf den Bereich des Erkennens dadurch erçffnet, dass das kofunktionale Verhltnis dieser beiden Erkenntniskrfte der allgemeinen Bedingung entspricht, die dem Sachverhalt einer „Erkenntnis berhaupt“ zugrunde liegt. Mit Bezug auf die Urteilskraft bedeutet dies, dass sie den Urteilenden ihre Funktionsweise in einer begrifflich nicht determinierten und insofern freien Weise erfahren lßt, dem das spezifische Gefhl der Lust im Sinne jenes interesselosen, sich selbst erhaltenden Wohlgefallens entspricht. In dieser Freiheit, so Wieland, zeigt sich die Autonomie der Urteilskraft. Die Pointe von Kants Erkenntnistheorie sieht Wieland darin, dass eben dasjenige Verhltnis der Erkenntniskrfte und diejenige Lust, die fr den Geschmack definierend sind, auch, wie Kant in der Kritik der Urteilskraft ausfhrt, fr die gemeine Auffassung eines Gegenstandes durch die Einbildungskraft in der Beziehung auf den Verstand vorliegt. Der abwegigen Konsequenz, dass damit alle Gegenstnde als schçn beurteilt werden mssten, entgeht Wieland mit dem relativierenden Hinweis, dass diese Lust ihren genuinen Ort im Prozess des Erkennens, das heißt, in der Vorgeschichte gleichsam einer Erkenntnis hat. Dem entspricht die Fhigkeit, die Kant Scharfsinn nennt. Sie besteht darin, bereinstimmungen und Differenzen aufzuspren und damit den Weg zu einer sachhaltigen Erkenntnis zu bahnen. So ist die Urteilskraft in beiden Funktionen, auf dem Wege zum Erwerb von Erkenntnissen wie in der unabschließbaren Erfahrung des Schçnen, der Ursprung eines Gefhls der Lust. Das ist das Ergebnis einer Archologie der Erkenntnis in systematischer Absicht. Sofern nicht nur das moralische Bewußtsein im Gefhl der Achtung, sondern auch das Ich im „Ich denke“ Kant zufolge im Modus eines Gefhls prsent ist, drfte damit ein weiterer Beleg fr die von Strawson
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gerhmte Kunst der Integration gegeben sein, die Kants Philosophie auszeichnet. Der vorliegende Band geht auf eine Vorlesungsreihe des Instituts fr Philosophie der Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg zurck. Allen Mitwirkenden sowie den fr diesen Band neu hinzugekommenen Beitrgern sei an dieser Stelle noch einmal sehr herzlich fr ihr Engagement gedankt. Dem Verlag de Gruyter ist fr die Bereitschaft zu danken, den Band in sein Programm aufzunehmen sowie fr die erfreuliche und stets entgegenkommende Zusammenarbeit. Allen, die bei der Einrichtung der Manuskripte fr den Druck behilflich waren, sei ebenfalls sehr herzlich gedankt.
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DER
PHILOSOPHIE
Die Bestimmung des Menschen als Zentrum der Kantischen Philosophie Reinhard Brandt Der letzte Zweck ist die Bestimung des Menschen zu finden Kant, Opus postumum
Kants Philosophie ist im Gegensatz zu den Systemkonzeptionen der auf ihn folgenden Idealisten und im Gegensatz zu den Systemen etwa Epikurs und der Stoa nicht einer einheitlichen Idee entsprungen, sondern antwortete auf vielfltige Impulse und Interessen, hnlich wie die Philosophie John Lockes. Die Systemeinheit, die die Kantische Vernunft explizit fordert, blieb eine Aufgabe, die Kant bis in das Opus postumum hinein zu lçsen versuchte, die er jedoch nicht mehr zustande brachte. Verlßt man die hçchste Ebene einer begrifflichen Einheitsbestimmung der allmhlich gewachsenen und sich dauernd ndernden Philosophie, so lassen sich wenigstens einige Ideen ausmachen, die fr die Fundierung und die Zielsetzung des Ganzen zentral sind. Es sollen einige dieser zentralen Ideen der kritischen Philosophie genannt werden; man kann sie mit einiger Plausibilitt im Ziel der philosophischen Fixierung der Bestimmung des Menschen zusammenfhren. Nicht die Platonische Definitionsfrage „Was ist der Mensch?“ ist Thema der Kantischen Philosophie, sondern die stoisch beeinflußte Untersuchung der Bestimmung des Menschen mit der Przisierung: Der Mensch ist durch die Natur und durch seine Vernunft zur Selbstbestimmung bestimmt, sowohl als einzelner wie auch in der Gattung im ganzen. Die zentrale Aufgabe der kritischen Philosophie wird in der Vorrede der 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV) so formuliert: Ich verstehe aber hierunter [sc. unter der Kritik der reinen Vernunft] nicht eine Kritik der Bcher und Systeme, sondern die des Vernunftvermçgens berhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhngig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Mçglichkeit oder Unmçglichkeit einer Metaphysik berhaupt und die Bestimmung sowohl
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der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien. (KrV, A XII)1
Es soll diese Aufgabenstellung nher umrissen werden. Es wird sich zeigen, daß Kants Innovation in einer apriorischen Selbstbestimmung und -begrenzung des menschlichen Erkenntnisvermçgens besteht. Die Idee, die Kant 1781 verfolgt, wird in der Vorrede der 2. Auflage der KrV, also 1787, im Gedanken der sog. kopernikanischen Wende einerseits neu konzipiert, andererseits jedoch nur weiterentwickelt. In der kopernikanischen Wende werden theoretische und praktische Vernunft originr aufeinander bezogen; darin liegt eine Erweiterung der ursprnglichen, auf die theoretische Philosophie bezogenen Aufgabenstellung im ganzen. Die Selbstbestimmung wird in beiden Vernunftteilen neu reflektiert. Kant schreibt nun drittens in der „Methodenlehre“ der KrV, daß „alles mein Vernunftinteresse“ in der Beantwortung von drei Fragen bestehe: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ (KrV, A 805) Da Philosophie Vernunfterkenntnis aus Begriffen ist, muß sich ein systematisch relevanter Grundriß dieser drei Fragen finden lassen. In der „Vorrede“ von 1787 wird das Motiv der drei Fragen aufgenommen, und dabei fllt das Stichwort, das uns weiterleiten soll, das Stichwort von der „ganzen Bestimmung“ des Menschen. Alles mein Vernunftinteresse richte sich auf diese ganze Bestimmung meines Daseins – in diese Bestimmung des Menschen und der Ausarbeitung als der Bestimmung zur Selbstbestimmung werden also die drei Fragen meines gesamten Vernunftinteresses zusammengefaßt. Wir gelangen somit von der Frage nach Ursprung, Umfang und Grenze der menschlichen Erkenntnis zu ihrer Erweiterung und Vertiefung in der Figur der kopernikanischen Wende, die ihrerseits im Kontakt mit dem grundstzlichen Vernunftinteresse steht und damit zur „ganzen Bestimmung“ des Menschen als dessen Selbstbestimmung. Der Mensch ist von einer vorsorglichen Natur dazu bestimmt, selbst die Grenzen seiner Erkenntnis zu bestimmen, mit den Bedingungen der Mçglichkeit seiner Erfahrung auch die Bedingungen der Mçglichkeit der Gegenstnde der Erfahrung zu stiften, in der Gesetzlichkeit seiner eigenen praktischen Vernunft die Grundlage von Recht und Ethik freizulegen, desgleichen in 1
Die Kantischen Schriften werden hier und im folgenden nach der Band- und ggf. auch Seitenzahl der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, Berlin 1900 ff., zitiert. Die Zitate der Kritik der reinen Vernunft (KrV) erfolgen nach der Ausgabe von R. Schmidt im Verlag Meiner.
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sich die Quelle der Schçnheits- und der Erhabenheitserfahrung zu entdecken. Auch die Geschichte der menschlichen Gattung im ganzen ist nur kohrent interpretierbar, wenn man sie als Weg von der Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung faßt, als Zwang zur Freiheit, als die naturgewollte Emanzipation von der Natur. Wir vertiefen in den folgenden Ausfhrungen eine Beobachtung, die schon Friedrich Schiller machte und feierlich berhçhte: Es ist gewiß von keinem Sterblichen Menschen kein grçßeres Wort noch gesprochen worden, als dieses Kantische, was zugleich der Innhalt seiner ganzen Philosophie ist: Bestimme dich aus dir selbst: So wie das in der theoretischen Philosophie: [sic! R. B.] Die Natur steht unter dem Verstandesgesetze. Diese große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewißen Erscheinungen der Natur zurck, und diese nennen wir Schçnheit. 2
1. Die Kritik des Vernunftvermçgens: Die Quellen, der Umfang und die Grenzen apriorischer Erkenntnis John Locke bestimmt die Absicht seines Essay Concerning Human Understanding „to enquire into the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge“.3 Der Ursprung aller menschlichen Erkenntnis liegt fr Locke in den Sinnen, somit in der passiven Rezeption von „ideas“, die wir im „labour of the thought“ fr weitere Erkenntniszwecke bearbeiten. Das Sinnenmaterial bestimme also den Umfang aller menschlichen Erkenntnis. Er sei, so meint der Pragmatiker Locke, vçllig ausreichend fr unsere praktische Lebensfhrung. Kant nun lßt sich zu seinem kritischen Unternehmen von John Locke inspirieren – Locke ist der einzige in der Vorrede von 1781 genannte philosophische Autor. Locke habe, heißt es spter, zur Untersuchung unseres Erkenntnisvermçgens „zuerst den Weg erçffnet“ (KrV, A 86); Kant setzt sich jedoch sofort von ihm ab: Nicht die faktischen Sinneserfahrungen sind zu untersuchen, sondern die 2 3
Schiller, 1943 ff., AA XXVI, 191 – Brief an Kçrner vom 18./19. Februar 1793. Locke, 1975, 43 – An Essay Concerning Human Understanding, Book I, Chapter 1, § 2. Die ungefhr gleiche Formulierung im Titel des Second Treatise of Government: „An Essay Concerning the True Original, Extent and End of Civil Government“ (1690). Die erkenntniskritische Untersuchung Lockes und Kants hat skeptische Ursprnge; die Pyrrhoniker stellten die These auf: „Zuallererst gilt es, die eigene Erkenntnismçglichkeit zu erforschen; denn wenn unsere Natur es uns nicht gestattet, etwas zu erkennen, dann braucht man ber anderes gar keine Betrachtungen anzustellen.“ (Zit. nach Flashar [Hrsg.], 1994, S. 736).
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Mçglichkeit einer erfahrungsfreien Erkenntnis des Vernunftvermçgens und, wie es am Schluß der oben zitierten Passage heißt: alles „aber aus Prinzipien“, also nicht wie bei Locke durch das Aufsuchen empirischer Fakten.4 Damit wird das erkenntniskritische Unternehmen auf ein neues Niveau gehoben; die kritische Philosophie will nichts ber Tatsachen in einer „historical plain method“5 berichten, sondern etwas Notwendiges deduzieren und damit allererst Sicherheit stiften. Gegen die reinen Empiristen gewandt heißt es in der KrV spter: […] daß der bloß mit seinem empirischen Gebrauche beschftigte Verstand, der ber die Quellen seiner eigenen Erkenntnis nicht nachsinnt, zwar sehr gut fortkommen, aber eines gar nicht leisten kçnne, nmlich sich selbst die Grenzen seines Gebrauchs zu bestimmen [kursiv R. B.], und zu wissen, was außerhalb seiner ganzen Sphre liegen mag; denn dazu werden eben die tiefen Untersuchungen gefordert, die wir angestellt haben. Kann er aber nicht unterscheiden, ob gewisse Fragen in seinem Horizonte liegen, oder nicht, so ist er niemals seiner Ansprche und seines Besitzes sicher, […] wenn er die Grenzen seines Gebiets (wie es unvermeidlich ist) unaufhçrlich berschreitet, und sich in Wahn und Blendwerke verirrt. (KrV, A 238)6
Als metaphorischer Hintergrund dient die Erdkugel mit den Hinweisen auf den Horizont und die „ganze Sphre“. Das wird spter noch einmal aufgenommen: Wenn ich mir die Erdflche (dem sinnlichen Scheine gemß [mit dem sich Philosophen wie John Locke und David Hume dann doch begngen, R. B.]) als einen Teller vorstelle, so kann ich nicht wissen, wie weit sie sich erstrecke. […] Bin ich aber doch so weit gekommen, zu wissen, daß die Erde eine Kugel und ihre Flche eine Kugelflche sei, so kann ich auch aus einem 4
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Kant stellt also in der „Vorrede“ sein Buch sogleich als die Kritik eines anderen, wenn auch wegweisenden Buches vor; der oben zitierte Hinweis, es handle sich bei dem Unternehmen der Kritik der Vernunft nicht um eine Kritik der Bcher und Systeme, gilt nur dem Terminus „Kritik“, der blicherweise auf dem philologischen Gebiet der Textkritik oder auch der Kritik von Kunstwerken verwendet wurde. Kant beabsichtigt nicht, die Kritik der Bcher und Systeme (z. B. auch der metaphysischen Systeme innerhalb der „Dialektik“) aus dem Unternehmen der Vernunftkritik auszuschließen. Locke, 1975, S. 43 – An Essay Concerning Human Understanding, Book I, Chapter 1, § 2. Die rechtstheoretischen Begriffe sind kein Zufall, sondern kennzeichnen die gesamte KrV als einen rechtsphilosophischen Traktat. Dazu sind schon viele Einzelbeobachtungen gemacht worden, aber die in der Geschichte der Erkenntnisfragen erstmalige und einmalige rechtsphilosophische Fassung ist m. W. bisher nicht thematisiert worden. Dieser Punkt wird ausfhrlich erçrtert in Brandt, 2007, S. 271 – 349.
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kleinen Teil derselben, z. B. der Grçße eines Grades, den Durchmesser, und, durch diesen, die vçllige Begrenzung der Erde, d. i. ihre Oberflche, bestimmt und nach Prinzipien a priori erkennen; und ob ich gleich in Ansehung der Gegenstnde, die diese Flche enthalten mag, unwissend bin, so bin ich es doch nicht in Ansehung des Umfanges, den sie enthlt, der Grçße und Schranken derselben. (KrV, A 759)
Locke hat es somit nicht vermocht, die Erkenntnismçglichkeiten und -grenzen grundstzlich und „nach Prinzipien a priori zu erkennen“. Unabhngig von diesem Grundeinwand hielt Kant Locke im Hinblick auf metaphysische Fragen vor, daß er seinem empiristischen Ansatz nicht treu blieb (wie z. B. Epikur, KrV, A 854) und inkonsequent Versuche wagte, „die weit ber alle Erfahrungsgrenze hinausgehen.“ (KrV, B 127) Wie verfhrt Kant unabhngig von der geographischen Metaphorik, die mit der Differenz von unbegrenzter Ebene und begrenzter, aus dem Radius bestimmbarer Oberflche einer Kugel spielt? Wie gelangt er zu einer apriorischen Ursprungs-, Umfangs- und Grenzbestimmung? Gerade das Ursprungsproblem wird bei der Kugelmetapher ausgeblendet. Vergegenwrtigen wir uns die Antwort, die die Gegenpositionen des Sensualismus und des Rationalismus bereithalten, um daran die eigentmliche Idee Kants zu bemessen. Locke, um ihn noch einmal als Sensualisten zu zitieren, verfuhr so, daß er die Grenze des Erkennens mit der Grenze des uns zur Verfgung gestellten Materials identifizierte. Kants Einwand: Diese Position ist das Resultat einer unkritischen Fixierung auf den Sinnenschein. Der Sensualist behauptet, auf eine Grenze unserer Erkenntnis zu stoßen, ohne deren Notwendigkeit aufzeigen zu kçnnen, weil wir abhngig sind von dem kontingenten Material der Sinne; damit aber bleibt die Grenze unsicher. Den Sensualisten stehen reine Rationalisten gegenber, Noologisten, wie sie Kant nennt, z. B. Leibniz gegen Locke. Sie scheitern an evidenten Weltphnomenen, weil sich nachweisen lßt, daß ihre bloßen Begriffe defizitr sind beim Bestimmen bestimmter sinnlicher Gegebenheiten. So reicht, wie Kant 1748 in den Gedanken von der wahren Schtzung der lebendigen Krfte zu zeigen versucht, die bloß begriffliche Mathematik nicht hin, um das Krftemaß der lebendigen Krfte zu bestimmen und von dem der toten Krfte zu unterscheiden,7 und die Leibnizsche „analysis situs“ versagt vor dem evidenten Unterschied der Gegenden im 7
Vgl. AA I, 40 ff. – Gedanken von der wahren Schtzung der lebendigen Krfte § 28 ff.
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Raum.8 Die Rationalisten vergessen die Logik der Sache, indem sie nur die Sache der Logik betreiben, die die bloße Begriffsbestimmung durch Eigentmlichkeiten des Raumes und der Natur transzendiert. Whrend der Empirist seine sinnliche Gegebenheit nicht mit begrifflicher Notwendigkeit bestimmen kann, gelingt dem Rationalisten nicht die Erkenntnis der anschaulichen und dynamischen Unterschiede in unserer Erfahrung; der eine erreicht von der Sinnlichkeit aus nicht die selbstndigen Begriffe, der andere gelangt von den Begriffen aus nicht zur unterscheidenden Erkenntnis der Sinnlichkeit. Was tun? Kant stellt (unabgeleitet) die Materie, die uns affiziert, und die subjektive, also von uns beigesteuerte Form einander gegenber; die Form wiederum, der eigentliche Garant einer apriorischen Erkenntnis, zerfllt in zwei Stcke, in Anschauung und Verstand, in die Form der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) und die Form des Denkens. Wir stehen also berraschend (und zum ersten Mal in der Philosophiegeschichte) vor einem doppelten apriorischen Ursprung, vor zwei „Wurzeln“ oder „Stmmen“ menschlicher apriorischer Erkenntnis. Nur dort, so lautet die These, ist Wirklichkeitserkenntnis mçglich, wo beides prsent ist, die Form der Anschauung und die Form des Denkens. Damit sind zwei auf einander nicht reduzierbare Quellen der gesuchten Erkenntnis gegeben; der Umfang und damit die Grenze ergeben sich aus dem Prinzip der Dualitt der Quellen: Nur dort, wo beide Quellen wirksam sind und sich befruchten, kommt es zur Erkenntnis. Die Grenze markiert also genau die Linie, wo dem Denken auf der sinnlichen Binnenseite Anschauung zur Verfgung steht, auf der anderen, sagen wir: der transzendenten Außenseite, jedoch nicht mehr. Kann sich das Denken auf Anschauung beziehen, wird es zur Erkenntnis. Erkennbar ist somit nur, was uns im Medium der Form der Anschauung erscheint; nur Erscheinungen sind erkennbar, nicht Dinge an sich – man sieht, wie diese Unterscheidung aus dem Gedanken der Subjekt- oder Selbstbestimmung der Erkenntnis erzwungen wird. Hiermit prpariert sich eine Fragestellung heraus, die Kant in den Prolegomena von 1783 (noch nicht 1781!) als die Leitfrage des ganzen Unternehmens vorstellt: „Wie sind synthetische Urteile a priori mçglich?“ Ins Zentrum der ganzen Kritik rckt damit die als außerordentlich schwieriges Vorhaben gekennzeichnete Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, d. h. die Form der Beziehung des Verstandes 8
Vgl. AA II, 377–383 – Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume.
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auf die Anschauung zur prinzipiellen Ermçglichung der Erkenntnis von Erscheinungen. Nun ist es dem Denken, nicht dem Anschauen, des Menschen natrlich, ber die Sphre des Gegenstcks hinaus zu streben, also sich auf ein Weiterdenken ohne Anschauung einzulassen, ohne den Mangel der Anschauung berhaupt zu bemerken. Die KrV will zeigen, daß zwar das anschauungsbezogene Denken wirkliche Erkenntnis stiftet, das grenzberschreitende anschauungsfreie Denken dagegen notwendig in interne Aporien gert. Dabei wird so verfahren, daß die Sphre erkenntnisfhiger Verstandesakte mit der Sphre der Begriffe und Urteile koinzidiert, whrend das grenzberschreitende Denken im Akt des Schließens liegt, also im eigentmlichen Ressort der Vernunft. Die immer weiter schließende Vernunft wird dialektisch, nicht der Verstand im engeren Sinn mit seinen Kategorien und Grundstzen. Die Vernunft berschreitet nicht in beliebiger, vielleicht geschichtlich bedingter Weise die Grenzen, sondern folgt einer natrlichen internen Logik des Weiterschließens in Prosyllogismen. Den nur formalen Schlußideen, auf die sie auf drei verschiedenen Wegen gert (Ich, Welt, Gott), kommt eine erkenntnisorientierende Funktion zu; auf sie hin richtet sich der Verstand in seinem Erkenntnisprozeß, der damit zu einem als solchem erkennbaren Fortschritt wird. Die Grundidee ist also, daß der Doppelursprung menschlicher Erkenntnis das limitierende Prinzip und damit die Umfangs- und Grenzbestimmung wirklicher Erkenntnis liefert. Insofern begrenzt sich hier das Vernunftvermçgen selbst. Die Grenzberschreitung ist dem Denken natrlich, durch die Kritik der reinen Vernunft ist sie erkennbar und auf das einengbar, wofr sie von der Natur beabsichtigt war. Wir sehen: Kant argumentiert mit und gegen die Programmidee von John Locke. Aber auch Francis Bacon, der bucinator der Neuzeit, ist unberhçrbar prsent. Das Motto der 2. Auflage der KrV ist der Instauratio magna von 1620 entnommen. Wahre Erkenntnis, so lehrt Bacon, entspringt dem Zeugungsakt im Urteil, in dem zwei Naturgaben des Menschen, die Sinnlichkeit und der Verstand, sich befruchten. Diese Vorstellung korrespondiert dem ab 1783 in den Vordergrund gestellten Problem: „Wie sind synthetische Urteile apriori mçglich?“ Die nicht zeugungsfhige, sterile Syllogistik (der Scholastik) dagegen verirrt sich in den Gespinsten des bloßen Denkens. Da die Natur, so Kant gegen Bacon, nichts umsonst tut, ist auch diesem Denken eine Funktion zuerkannt; es markiert einmal die unerreichbaren Zielpunkte der progressiven Erkenntniszeugung, zum anderen sind mit den drei essentiellen Vernunftideen die hyperbolischen Dinge benannt, die fr die Moral-
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philosophie konstitutiv werden: Unsterblichkeit (Ich), Freiheit (Welt) und Gott. Bei der nach 1781 entwickelten Idee einer zweiten Kritik, der Kritik der praktischen Vernunft (KpV) von 1788, zeigt sich, daß die auf Locke zurckgehende, aber neu konzipierte Quellen- Umfangs- und Grenzbestimmung unserer Vernunft in sich keine Handhabe bietet, die grenzberschreitende Vernunftsphre noch einmal positiv auszuzeichnen und den im Denkregreß erschlossenen Ideen Ich, Welt, Gott nicht nur eine erkenntnisregulative, -fokussierende Funktion zuzuschreiben, sondern sie als eigentmliche Domne der reinen praktischen Vernunft auszuzeichnen. Es kann das sich selbst limitierende Dualsystem von Anschauung und Denken als fr die theoretische Vernunft zustndig bestehen bleiben, es kann 1787 jedoch nicht mehr die zentrale Stellung wie in der „Vorrede“ von 1781 behaupten. Der gemeinsame Titel fr die Belange der theoretischen und der praktischen Vernunft ist in der „Vorrede“ von 1787 der alte Titel der Metaphysik; die neue „Vorrede“, wiewohl nur fr die „Kritik der reinen theoretischen Vernunft“ verfaßt, vertritt die Interessen der Vernunft insgesamt und entwirft eine Grundlegung, wenigstens in metaphorischer Hinsicht, fr beide Teile der Vernunft, die theoretische und die praktische. Das Zentrum bildet die Vorstellung einer kopernikanischen Wende der Metaphysik im ganzen, der theoretischen und der praktischen Metaphysik. Vielleicht erlag Kant mit der Themenbestimmung der KrV als einer Untersuchung der Quellen, des Umfangs und der Grenzen unserer Erkenntnis der Suggestion des empiristischen Gegners, von dem er die Formulierung bernahm. Die Frage nach dem Ursprung von Phnomenen war nach Locke zu einer – zum Teil politisch brisanten – europischen Mode geworden; es wurde nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, der Sprache, der Begriffe des Schçnen und Erhabenen, der Ehre gefragt, und Kant schloß sich dem Trend der Ursprungsund Quellensuche an. Schon 1783 korrigierte er: Das eigentliche Thema des KrV sei die Frage nach der Mçglichkeit von synthetischen Stzen a priori.9 Dies sollte nun auch fr die reine Moralphilosophie gelten.10 Aber in welcher Idee ließen sich theoretische und praktische Philosophie zusammendenken? Ein Versuch einer derartigen Einheitsbestimmung findet sich wenn nicht in einer Idee, so doch im Bild der kopernikanischen 9 Vgl. AA IV, 276,12 – Prolegomena, § 5. 10 Vgl. AA IV, 454,6–18 – Grundlegung zur Metaphysik der Sitten III. Abschnitt.
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Wende, die beide Seiten bercksichtigt, die spekulative und die praktische. 2. Theoretische und praktische Vernunft: Die kopernikanische Wende „In einem wirkungsgeschichtlich kaum berbietbaren Vergleich hat Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1787 die Formel von der ,kopernikanischen Wendung‘, ohne sie selbst zu gebrauchen, veranlaßt.“11 Der Vergleich wird hufig zugleich berinterpretiert und unterbestimmt. berinterpretiert, weil mit dem Namen des Kopernikus sofort das heliozentrische System assoziiert wird, unterbestimmt, weil das tatschlich gemeinte astronomische Phnomen nicht einen Randbereich der Kantischen Philosophie betrifft, sondern die Scheidung von Ding an sich und Erscheinung und somit die Korrelation von empirischem Realismus und transzendentalem Idealismus und zugleich von theoretischer und praktischer Philosophie. Nachdem Kant fr die Mathematik (d. h. nur die Geometrie, denn die Arithmetik wird aus bestimmten Grnden nicht bercksichtigt) und die Physik dargelegt hat, wie sie durch den „glckliche[n] Einfall eines einzigen Mannes“ (KrV, B XI) aus bloß vorwissenschaftlichem Herumtappen zu faktisch bestehenden, unbezweifelbaren Wissenschaften wurden, wird die Frage gestellt, woran sich die Metaphysik orientieren kçnne, um ebenfalls aus einem vorwissenschaftlichen Naturzustand durch eine Revolution der Denkart in den sicheren Gang der Wissenschaft zu gelangen. Wissenschaft heißt: a priori ber die Gesetze zu verfgen, nach denen sich die Gegenstnde richten mssen, eine Bestimmung, die gleichermaßen fr die beiden genannten Wissenschaften wie auch die erhoffte Metaphysik gelten soll. Jetzt kommt die Astronomie ins Spiel, die also nicht zu der schon vorher genannten Naturwissenschaft geschlagen wird, sondern einen eigenen Zugang zum Status der Wissenschaft gefunden hat. Es ist hiermit ebenso als mit den12 ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklrung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den 11 Blumenberg, 1975, S. 691–713 enthlt wichtige Weichenstellungen fr unsere nachfolgende Interpretation. 12 Erdmann: „dem“.
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Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen mçchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. (KrV, B XVI)
Welches sind diese „ersten Gedanken des Kopernikus“? Daß auf dem „ersten“ ein gewisser Akzent liegt, kann man der Wiederholung in dem zur Analogie stilisierten Fall der Metaphysik entnehmen, wo von einer „ersten Wrdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori“ die Rede ist (KrV, B XX). Es ist der erste glckliche Einfall zu einer grundstzlichen Verkehrung der bisherigen Vorgehensweise – es wird nicht mehr in den Sternen nach ihrer Bewegung und den Gesetzen dieser Bewegung gesucht, sondern paradoxerweise die Selbstbewegung des Zuschauers als das angenommen, was zur Sternbewegung fhrt. Das „ganze Sternenheer“: das bedeutet, daß hier nicht zwischen Fixsternen und Planeten unterschieden wird; der „erste Gedanke des Kopernikus“ besagt nur, daß er die beobachteten Sterne insgesamt zunchst einfach „in Ruhe“ lßt. Dagegen lßt er „den Zuschauer sich drehen“. „Sich drehen“ – um was? Die Drehbewegung wird nicht nher bestimmt. Im Fall der Sonne am Tageshimmel und der Sterne am Nachthimmel ist es natrlich die tgliche Rotation der Erde; bei der jhrlichen Bewegung, mit der sich die Erde um die Sonne dreht, entstehen kompliziertere Bewegungen des ganzen Sternenheers. Entscheidend ist, daß sich diese Bewegungen mit Notwendigkeit aus der Bewegung des Zuschauers ergeben. Ob sich andere Bewegungen vollziehen oder nicht, ist nicht Gegenstand der „ersten Gedanken des Kopernikus“. Eine harte Zumutung fr den Leser, denn hiermit wird gerade die Sonderbewegung der brigen Planeten und ihre im Rahmen des heliozentrischen Systems reklamierte Erkennbarkeit ausgeklammert – die Bewegung der brigen Planeten hat nach den „ersten Gedanken“ des Kopernikus keinen Ort in der Astronomie! Im Streit der Fakultten heißt es dagegen: Die Planeten, von der Erde aus gesehen, sind bald rckgngig, bald stillstehend, bald fortgngig. Den Standpunkt aber von der Sonne aus genommen, welches nur die Vernunft thun kann, gehen sie nach der Kopernikanischen Hypothese bestndig ihren regelmßigen Gang fort. (AA VII, 83)
Dieser – zweite? – Gedanke des Kopernikus muß im ersten kopernikanischen Gedanken der „Vorrede“ von 1787 ausgeblendet werden; er ist keine nhere Ausfhrung des ersten Gedankens, sondern besagt etwas gnzlich anderes. Er stçrt in der Analogie, die fr die Metaphysik mit ihrer subjektivistischen Wende bestehen soll, denn von dieser Planetenbewegung lßt sich gemß der Analogie nichts apriori erkennen; eine prsumierte Erkenntnis dieser Bewegung, also gerade die Hypothese des
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Kopernikus, wre ein Eingriff in den Bereich, den der erste Gedanke des Kopernikus und der Metaphysiker als unerkennbar in Ruhe lßt. Kant spricht nun innerhalb der „Vorrede“ auch das heliozentrische System an und verbindet es wiederum mit Kopernikus: „So verschafften die Zentralgesetze der Bewegung der Himmelskçrper dem, was Kopernikus, anfnglich nur als Hypothese annahm, ausgemachte Gewißheit […]“ (KrV, B XXII); aber diese Zentralgesetze und die ihnen entsprechenden Phnomene ergeben sich nicht aus der Selbstbewegung der Zuschauer, sondern widersprechen gerade der subjektivistischen Wende, weil die Vernunft den Standpunkt „von der Sonne aus“ nehmen muß und ergo die Objektbewegung nicht aus der Subjektbewegung (der Erdrotation) erklrt. Ein Kopernikus also, dessen heliozentrisches System mit der Sonne im Mittelpunkt und den sich in den Umlaufbahnen bewegenden Planeten nach seinen „ersten Gedanken“ gerade nicht erkannt wird!13 Was hat Kant im Sinn, wenn er diese unleugbare Hrte und Inkonsistenz in Kauf nimmt? Man muß sich, um den Text zu verstehen und damit auch die eigentliche Idee der kopernikanischen Wende zu begreifen, das letzte Zitat genauer ansehen. Der einschlgige Text fhrt fort: […] und bewiesen zugleich die unsichtbare, den Weltbau verbindende Kraft (der Newtonischen Anziehung), welche auf immer unentdeckt geblieben wre, wenn der erstere es nicht gewagt htte, auf eine widersinnische, aber doch wahre Art, die beobachteten Bewegungen nicht in den Gegenstnden des Himmels, sondern in ihrem Zuschauer zu suchen. (KrV, B XXI)
Diese Anmerkung gehçrt zu folgendem Satz im Haupttext: Und bei einem solchen Verfahren hat uns die spekulative Vernunft zu solcher Erweiterung immer doch wenigstens Platz verschafft, wenn sie ihn gleich leer lassen mußte, und es bleibt uns also noch unbenommen, ja wir sind gar dazu durch sie aufgefordert, ihn durch praktische Data derselben, wenn wir kçnnen, auszufllen. (KrV, B XXI)
Jetzt schießen die Fden zusammen: Der „erste Gedanke” des Kopernikus bezeichnete die subjektivistische Wende, gemß der die Grundstze un13 Die Abfolge der beiden Schritte von Achsendrehung der Erde und Bewegung der Erde (und damit der Planeten) um die Sonne findet sich in Galileis Schrift Dialoghi dei massimi sistemi (1632); die Erdrotation wird am zweiten, die Planetenbewegung um die Sonne am dritten der insgesamt vier Dialog-Tage erçrtert. Kants eigene Entdeckung geschieht in derselben Reihenfolge: Zuerst die Entdeckung des Erscheinungscharakters der Gegenstnde der Erfahrung, danach die Konzeption des autonomen, vom Erkennen und Fhlen unabhngigen reinen Willens.
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seres Verstandes die Gesetze der Gegenstnde der Erfahrung sind und der Verstand also der Natur die Gesetze gibt, nicht aber umgekehrt. Diese Wende schafft Platz genau dort, wo sie im astronomischen Modell die Sterne selbst in Ruhe lßt – sie waren die Dinge an sich, die jetzt theoretisch unerkennbar sind. Dieser Platz aber ermçglicht erst die objektive Realitt der Daten der praktischen Vernunft – die Newtonische „unsichtbare, den Weltbau verbindende Kraft” (KrV, B XXI) bezeichnet die Freiheitsgesetze der reinen praktischen Vernunft! Kant verdunkelt die Inkommensurabilitt der ersten mit der zweiten Position dadurch, daß er den Eindruck erweckt, der „erste Gedanke” des Kopernikus sei identisch mit dem „was Kopernikus, anfnglich nur als Hypothese annahm” (KrV, B XXI), aber der erste Gedanke hat mit der anfnglichen Hypothese nichts zu tun. Kehren wir zur Kopernikanischen Hypothese des Streits der Fakultten zurck, so zeigt sich die beste Besttigung unseres Vorschlags: Die Hypothese der Planetenbewegung um die Sonne gibt den Standpunkt der reinen praktischen Vernunft an, den wir allerdings nach Kants Meinung von 1798 fr die Erkenntnis des Fortschrittsganges der Geschichte nicht fruchtbar machen kçnnen (AA VII, 83,30–84,3). (Der Newton der Geschichte, von dem Kant 1784 in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht (AA VIII, 18,16) spricht, ist dagegen noch optimistisch: Er steht fr die Erkenntnis der Geschichte in weltbrgerlicher Absicht aus dem Standpunkt der reinen praktischen Vernunft und damit der Sonne.) Whrend Anschauung und diskursiver Verstand in der KrV Sache des Menschen – wir setzen hier ein: des Erdbewohners – sind, behandelt die KpV die Gesetzlichkeit des Willens als eine Sache aller Vernunftwesen. Auch Gott ist diesem Gesetz der Gesetzlichkeit unterworfen, wenn auch nicht in der Form eines Imperativs, der sich gegen opponierende Neigungen wendet. So nimmt der Erdbewohner als moralisches Wesen teil an der gçttlichen Vernunft, die das heliozentrische System durchwaltet und mit seinen Krften durchherrscht. Hierin liegt seine Wrde, die ihn zum Zweck an sich in der Flucht der Erscheinungen macht. Dem Menschen als Erdbewohner stellt sich die Natur als schçn dar, dem Menschen als moralischem Wesen ist die Sonnenhçhe erhaben. Der erste Gedanke des Kopernikus bedeutet fr die Metaphysik mutatis mutandis, wie sie in der triadischen Gliederung der Kritik von Anschauung (transzendentale sthetik), Verstandesbegriff (transzendentale Logik, Analytik) und Vernunftbegriff (transzendentale Logik, Dialektik) vorgefhrt wird (KrV, B XVII–XVIII): Die Erkenntnis der sub-
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jektiven Bedingungen (die formalen Strukturen von Anschauung und Denken) fhrt zur Erkenntnis der Beschaffenheiten, die den Gegenstnden der Erkenntnis notwendig anhaften. Wir wissen somit, wenn wir die subjektive Erkenntnisausstattung kennen, a priori, welchen gesetzlichen Bestimmungen die Gegenstnde der Erfahrung als solche unterliegen. Damit entspricht der Dichotomie von bewegten und nicht ruhenden, sondern in Ruhe gelassenen Sternen innerhalb der Metaphysik die Dichotomie von Erscheinung und Ding an sich: Als bewegte Sterne sind die Sterne Gegenstnde der Naturerkenntnis, als in Ruhe gelassene wren sie Dinge an sich (mutatis mutandis, denn so unmittelbar ist diese bertragung falsch, weil die unterscheidbaren Sterne natrlich allesamt Naturphnomene sind und damit in der Metaphysik auf die Seite der Erscheinungen gehçren). Die Berufung auf Kopernikus impliziert also die Differenz von Ding an sich und Erscheinung; sie ist das, was Kant an dem Vergleich eigentlich interessiert. Sie wird hier, im Gegensatz zu anderen ußerungen, in einem klaren Aspektdualismus gefaßt (s. besonders die Fußnote KrV, B XVIII–XIX). Der Astronomie also und keiner anderen Wissenschaft verdankt die Metaphysik (entsprechend der Selbstinterpretation der zweiten „Vorrede“) den entscheidenden Einfall, wie es ihr gelingen kann, endlich den ersehnten sicheren Gang zu finden. Von hier aus gelingt es ihr in einem zweiten unabhngigen Schritt, den in Ruhe gelassenen, freien Platz durch die Gesetze der reinen praktischen Vernunft zu bestimmen. Dieser Parallelismus der beiden Kritiken kommt erst in der Mitte der achtziger Jahre in den Blick; 1781 htte Kant die Metaphorik der kopernikanischen doppelten Wende noch nicht konzipieren kçnnen. Noch ein Hinweis: Der Begriff der „revolutio“, der „Revolution der Denkart“, wird bei Kant gar nicht mit Kopernikus verbunden, sondern mit der Wende zur wissenschaftlichen Mathematik (sprich: Geometrie) eingefhrt (KrV, B XI). Der Begriff der Revolution berhaupt findet sich nie in Verbindung mit Kopernikus, weder in der „Vorrede“ von 1787 noch in anderen Zusammenhngen.14 Kant vermeidet auf diese Weise die Vermengung der permanenten „revolutiones orbium caelestium“, speziell 14
In der „Vorrede“ nimmt Kant einmal die Rede von der „große[n] revolution der Wissenschaften“ auf, von der er in einem Brief an Johann Heinrich Lambert gesprochen hatte (vom 31. 12. 1765; AA X, 57,9), zum anderen folgte er einer Anregung von Christian Gottfried Schtz, der von der Revolution schrieb, die die Metaphysik Kant zu danken habe (vgl. den Brief vom 18. 2. 1785; AA X, 399,10 und Jenaische Literaturzeitung 80, 1785, S. 21). In keinem der Flle wird Kopernikus assoziiert.
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der der Planeten, von denen Kopernikus in seiner Theorie handelt, mit der einmaligen „revolutio“, durch die der Wissenschaftsbegrnder zu seiner Theorie (und der Mensch per analogiam zu einem moralischen Charakter) gelangt. Der gesamte Abschnitt der „Vorrede“ enthlt seinerseits eine wahrhafte Revolution, von der sie allerdings nicht spricht. Die „Vorrede“ der ersten Auflage erinnerte explizit und implizit an John Locke und dessen psychologische subjektive Wende in der Erkenntnistheorie. Die zweite „Vorrede“ ersetzt John Locke schon im Motto durch Francis Bacon und die Erkenntnistheorie durch das Programm einer Methodologie der Wissenschaft; die durch diese „Revolution“ neu geschaffene Kritik wird endgltig zu einem „Traktat von der Methode“! Nach dieser neuen Kritik vollziehen die einzelnen Wissenschaften unabhngig voneinander die „Revolution der Denkart“ durch eine subjektivistische Wende; sie brauchen dazu keine Philosophie, sondern bilden umgekehrt das Vorbild fr diese. Welche Inhalte kann jedoch die Philosophie oder Metaphysik noch haben, wenn den Wissenschaften der jeweils selbsterzeugte Status einer makellosen Erkenntnis bescheinigt wird? Man wird vermuten drfen: Die Philosophie wandert in ihrem Kern hinber zur Moral und bernimmt im theoretischen Bereich nur noch eine positivistisch orientierte Rolle der besseren Ordnung dessen, was schon als Erkenntnis etabliert ist. Die Moral wird zum Zentrum der Kantischen Philosophie. 3. „Alles Interesse meiner Vernunft“ In der KrV hatte Kant geschrieben: „Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen: 1. Was kann ich wissen? / 2. Was soll ich tun? / 3. Was darf ich hoffen?“ (A 804–805) Die erste Frage sei bloß theoretisch, die zweite bloß praktisch, die dritte verbinde beide. In zwei spteren ußerungen wird diesen Fragen eine vierte hinzugefgt: „Was ist der Mensch?“15 Wenden wir uns zunchst den drei ersten Fragen zu. In ihnen soll alles Interesse meiner Vernunft konzentriert sein! Man wird annehmen kçnnen, daß Kants Philosophie sich zentral mit diesen drei Fragen befaßt, denn sonst wrde ihnen kaum eine so hervorragende Rolle zuteil werden. 15 Vgl. AA IX, 25,6 – Logik Jsche; AA XXVIII, 533,36–534,4 – Logik Pçlitz (=Metaphysik L 2); AA XI, 429,10–16 – Brief an Carl Friedrich Studlin vom 4. Mai 1793.
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Bei der Suche, wo denn auf diese drei prominenten Fragen eingegangen wird, tut man sich schwer. Eine suggestive Antwort lßt sich sogleich ausschließen: Die drei Fragen werden nicht in den drei Kritiken behandelt und beantwortet, denn die letzte Kritik, die Kritik der Urteilskraft (KdU), beantwortet nicht die Frage „Was darf ich hoffen?“ Auch die KrV stellt sich nie unter der Leitfrage „Was kann ich wissen?“ vor; und um Antworten auf das „Was soll ich tun?“ zu erhalten, muß man sich nicht an die KpV wenden, sondern allenfalls an die „Tugendlehre“ innerhalb der Metaphysik der Sitten von 1797. Wo kann man aber dann noch fndig werden? Wir nhern uns der Antwort durch die Beobachtung, daß die Kantischen Fragen in der vorgelegten Formulierung zwar neu sind, aber in der Absteckung der drei Bereiche auf eine wenigstens mittelalterliche Lehre zurckgehen mssen. Aus dem Mittelalter ist folgende interpretatorische Regel berliefert: „Littera gesta docet; quid credas, allegoria; / Moralis, quid agas; quid speres, anagogia.“16 Das heißt: Der Literalsinn informiert uns ber die Fakten, die res gestae; der allegorische Schriftsinn sagt, was du glauben sollst, der moralische, was du tun sollst, und der anagogische, was du hoffen sollst. Diese Dreiheit der symbolischen Schriftsinne ist nicht willkrlich und nach Augenmaß zusammengestellt, sondern reflektiert in einer gewissen Metamorphose die drei christlichen Tugenden des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung.17 Der Glaube und die Hoffnung werden wçrtlich genannt; die Liebe bezeichnet das Feld der Moral und des Handelns unter den Menschen, das „quid agas“ in der Welt. Bei Kant tritt an die Stelle des Glaubens das Wissen; das „quid agas“ und „quid speres“ der mittelalterlichen Lehre ist dagegen gnzlich erhalten. Bei der Suche nach dem Bereich seiner Philosophie, in dem Kant das Motiv des dominierenden Vernunftinteresses aufnimmt, sind wir zu den drei christlichen Tugenden gelangt und haben sie als Folie des symbolischen Schriftsinns der mittelalterlichen Hermeneutik entdeckt. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß sich „alles Vernunftinteresse“ des Aufklrers Kant unmittelbar auf die drei christlichen Tugenden richtet; wozu also dieser Umweg? Tatschlich fhrt er uns zur sicheren Lçsung, wenn wir gewahr werden, daß die drei christlichen Tugenden die Struktur der mittelalterlichen metaphysica specialis bestimmen. Der Glaube richtet sich auf Gott, die Liebe auf das Handeln in der Welt, und die Hoffnung betrifft 16 Vgl. dazu Brandt, 2002, S. 132–134. 17 S. im Neuen Testament 1. Korinther 13.
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die Unsterblichkeit und damit die eigentliche Natur unserer (erlçsten) Seele. Hiermit sind die drei Teile der metaphysica specialis bezeichnet: Die Theologie, die Kosmologie und die Psychologie. Eben dieser Zusammenhang steht Kant ganz klar vor Augen. Man betrachte nur die Ausfhrung in der „Vorrede“ der 2. Auflage der KrV. Hat, so wird gefragt, die kritische Zerstçrung der alten Metaphysik zu einem Verlust gefhrt? Der Verlust treffe nur das Monopol der Schulen, keineswegs aber das Interesse der Menschen [wir notieren: „Alles Interesse meiner Vernunft“]. Ich frage den unbiegsamsten Dogmatiker, ob [1. Rationale Psychologie] der Beweis von der Fortdauer unserer Seele nach dem Tode aus der Einfachheit der Substanz, ob [2. Kosmologie] der von der Freiheit des Willens gegen den allgemeinen Mechanismus durch die subtilen, obzwar ohnmchtigen Unterscheidungen subjektiver und objektiver praktischer Notwendigkeit, oder ob [3. Theologie] der vom Dasein Gottes aus dem Begriffe eines allerrealsten Wesens […], nachdem sie von den Schulen ausgingen, jemals haben bis zum Publikum gelangen und auf dessen berzeugung den mindesten Einfluß haben kçnnen? […]; hat vielmehr, was das erstere [1. rationale Psychologie] betrifft, die jedem Menschen bemerkliche Anlage seiner Natur, durch das Zeitliche (als zu den Anlagen seiner ganzen Bestimmung unzulnglich) nie zufrieden gestellt werden zu kçnnen, die Hoffnung eines knftigen Lebens, in Ansehung des zweiten [2. Kosmologie] die bloße klare Darstellung der Pflichten im Gegensatze aller Ansprche der Neigungen das Bewußtsein der Freiheit, und endlich, was das dritte [3. Theologie] anlangt, die herrliche Ordnung, Schçnheit und Frsorge, die allerwrts in der Natur hervorblickt, allein den Glauben an einen weisen und großen Welturheber, die sich aufs Publikum verbreitende berzeugung, sofern sie auf Vernunftgrnden beruht, ganz allein bewirken mssen […]. (KrV, B XXXII–XXXIII)
Hier also werden die drei Gebiete alles meines Vernunftinteresses benannt; es ist die Hoffnung eines knftigen Lebens, das Bewußtsein der Freiheit und der Glaube an einen weisen und großen Welturheber. Eben darauf zielte schon das „Interesse der Vernunft“ (KrV, A 462) in der „Dialektik“ der KrV, das sich entsprechend der Struktur dieser Dialektik auf die Seele selbst, die Welt im ganzen und auf Gott richtet (KrV, A 463; 466). Nicht die theoretische Vernunft kann die Antwort auf diese dringenden Hauptfragen der Vernunft erbringen, sondern die praktische Vernunft. Der Ort der positiven Antwort ist die „Dialektik“ der KpV mit ihrer Postulatenlehre. Hier finden wir die Antworten, hier auch wird endlich sichtbar, worauf die Anlagen unserer „ganzen Bestimmung“ zielen. Hiermit wird berraschend die Substruktur der KpV sichtbar: Die „Analytik“ bringt die modifiziert stoische Handlungsregel des kategori-
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schen Imperativs; die „Dialektik“ rettet den sittlich Handelnden vor dem Vorwurf, nrrisch zu sein, und zeigt im Begriff des hçchsten Gutes die Mçglichkeit der Verbindung von Moral und Glckseligkeit auf; dazu werden die drei Postulate bençtigt, Unsterblichkeit, Freiheit und Gott. Das heißt, die antike Morallehre wird mit den drei christlichen Tugenden von Glaube, Liebe und Hoffnung verbunden. Aber auch in anderen Zusammenhngen greift Kant das dominante Vernunftinteresse an der „ganzen Bestimmung“ des Menschen auf, so bei der Behandlung der Paralogismen der reinen Vernunft in der Auflage von 1787. Nach der Analogie mit der Natur lebender Wesen kçnnten wir auch beim Menschen annehmen, daß alles seiner Bestimmung genau angemessen sei. Nun gehen seine Naturanlagen, vornehmlich aber das moralische Gesetz in ihm so weit ber allen Nutzen und Vorteil, den er in diesem Leben daraus ziehen kçnnte, […] daß er sich innerlich dazu berufen fhlt, sich durch sein Verhalten in dieser Welt, mit Verzichttuung auf viele Vorteile, zum Brger einer besseren, die er in der Idee hat, tauglich zu machen. (KrV, B 425–426)
Wie kunstvoll und innerlich zwingend alles Interesse der Vernunft auf die drei Themen der metaphysica specialis und damit auf die ganze Bestimmung des Menschen zielt, zeigt die Fundierung der drei essentiellen Elemente von Ich, Welt und Gott in der Vernunftanlage des Menschen selbst. Es kann hier nicht im einzelnen vorgefhrt werden, wie sich das „System der transzendentalen Ideen“ aus der Urteilstafel und der Syllogistik entwickelt. Es ist evident, daß hier ein systematisches Zentrum der gesamten Kantischen Philosophie vorliegt; hier erweist sich – im Rahmen des Systems – die faktische Einheit der Vernunft (1781). „Die Endabsicht, worauf die Spekulation der Vernunft im transzendentalen Gebrauche zuletzt hinausluft, betrifft drei Gegenstnde: die Freiheit des Willens, die Unsterblichkeit der Seele, und das Dasein Gottes.“ (KrV, A 798) Schon 1781 heißt es, diese denknotwendigen Gegenstnde der reinen Vernunft htten „gar keinen immanenten, d. i. fr Gegenstnde der Erfahrung zulssigen, mithin fr uns auf einige Art ntzlichen Gebrauch“ (KrV, A 799), sondern zielten einzig auf das Moralische: Die ganze Zurstung also der Vernunft […] ist in der Tat nur auf die drei gedachten Probleme gerichtet. Diese selber haben wiederum ihre entferntere Absicht, nmlich, was zu tun sei, wenn der Wille frei, wenn ein Gott und eine knftige Welt ist. Da dieses nun unser Verhalten in Beziehung auf den hçchsten Zweck betrifft, so ist die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur, bei der Einrichtung unserer Vernunft, eigentlich nur aufs Moralische gestellt. (KrV, A 800–801)
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Durch die Dichotomie von Ding an sich und Erscheinung und die Besetzung des Ding-an-sich-Feldes durch die Moral wird die mittlere Frage: „Was soll ich tun?“ zur insgesamt dominierenden. Hiermit stimmt auch berein, daß die Hoffnung aus der christlichen Bindung gelçst und gnzlich in den Dienst der Moral gestellt wird. Die christliche Tugend der Hoffnung bezog sich auf die Erlçsung; wir kçnnen durch den Tod unseres Erlçsers hoffen, nicht in Ewigkeit verdammt zu sein. Der Erlçsungsgedanke spielt in der Kantischen aufgeklrten Religion so wenig eine Rolle wie die Hçlle mit ihrem Feuer und anderem grßlichen Inventar. Die Hoffnung bezieht sich auf den moralischen Progreß ber den irdischen Tod hinaus; es wre unvernnftig, mßten wir mit der Selbstmoralisierung plçtzlich aufhçren, nur weil wir physisch sterben. Warum dann nicht schon vorher aufhçren? Die Hoffnung wird also integriert in den autonomen Logos der Moral und hat mit der christlichen „elpis“ praktisch nichts mehr zu tun. Auf die Erkenntnis von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zielt letztlich, so wiederholt Kant in den Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft von 1786, eine erweiterte Zwecksetzung der Naturwissenschaft: Denn wenn es erlaubt ist, die Grenzen einer Wissenschaft nicht blos nach der Beschaffenheit des Objects und der spezifischen Erkenntnißart desselben, sondern auch nach dem Zwecke, den man mit der Wissenschaft selbst zum anderweitigen Gebrauche vor Augen hat, zu zeichnen, und man findet, daß Metaphysik so viel Kçpfe bisher nicht darum beschftigt hat und sie ferner beschftigen wird, um Naturerkenntnisse dadurch zu erweitern […], sondern um zur Erkenntniß dessen, was gnzlich ber alle Grenzen der Erfahrung hinausliegt, von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit zu gelangen: so […]. (AA IV, 477,21–30)
Auch die Naturphilosophie dient auf einem Umweg dem Vernunftinteresse ber alle Grenzen der Erfahrung hinaus.
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4. Die Bestimmung des Menschen in der zeitgençssischen Diskussion und bei Kant „Dann ging ich mit Goethe nach Garbenheim. […] Unterwegs handelten wir ein ganzes System von des Menschen Bestimmung hier und dort ab; eine merkwrdige wichtige Unterredung…“.18 Es wird in der vorliegenden Abhandlung die These vertreten, daß das Thema der Bestimmung, d. i. der Bestimmung zur Selbstbestimmung des Menschen das punctum saliens der Kantischen Philosophie ist oder doch in großer Nhe zu ihm verortet ist. Ich zitiere zur weiteren Sttze dieser These noch einige Kantische Passagen, in denen die Bestimmung des Menschen als Zentrum erscheint: Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die hçchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel notwendig gehçren. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, […]. (KrV, A 840)19
„Der letzte Zweck ist die Bestimung des Menschen zu finden“, steht im Opus postumum (AA XX, 175,29; vgl. 41,19). In der „Summe der pragmatischen Anthropologie”, einem Abschnitt der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, wird diese Bestimmung so festgelegt, daß sie die bloß finale Naturbestimmung transzendiert und den Menschen in eine moralische, also jeder Erfahrung entzogene Ordnung der Wrde der Menschheit stellt: Die Summe der pragmatischen Anthropologie in Ansehung der Bestimmung des Menschen und die Charakteristik seiner Ausbildung ist folgende. Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu cultiviren, zu civilisiren und zu moralisiren, wie groß auch immer sein thierischer Hang sein mag, sich den Anreizen der Gemchlichkeit des Wohllebens, die er Glckseligkeit nennt, passiv zu berlassen, sondern vielmehr thtig, im Kampf mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhngen, sich der Menschheit wrdig zu machen. (AA VII, 324–325)
18 Goethe, 1948 ff., AA VI, 514: Zitat aus einem Brief Johann Christian Kestners vom 9. August 1772. 19 Zur letzteren Formulierung vgl. in der KdU die Rede von der „ganze[n] Bestimmung des Gemths“ (AA V, 259,11–12).
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Es ist dies die Summe nicht nur der Anthropologie, sondern der Kantischen Philosophie im ganzen. Die folgende Untersuchung speziell der Bestimmung des Menschen wendet sich zunchst der Frage als einem Thema der deutschen Aufklrung zu und versucht, allgemeinere Strukturen der Bestimmungsfrage freizulegen. Sodann wird zweitens die Kantische Innovation erçrtert. Erst mit Kant wird das Thema zum Problem der Selbstbestimmung przisiert und sodann in zwei Teile zerlegt; einmal gibt es die Bestimmung des einzelnen Menschen, zum anderen die Bestimmung der Menschengattung im ganzen. Diese letztere Erçrterung geht auf einen Impuls von Rousseau zurck und wird von Kant erst in der Mitte der siebziger Jahre aufgegriffen. Zuvor noch eine Wort- oder Begriffsklrung: Das in andere Sprachen schwer bersetzbare Wort „Bestimmung“ enthlt unterschiedliche, wenn auch verwandte Bedeutungen. Es kann sich um eine metrische Feststellung eines vorliegenden Bestimmten handeln; wir bestimmen messend die intensive oder extensive Grçße von etwas. Eine Bestimmung kann durch eine Wirkursache erfolgen: Die Masse und Geschwindigkeit von a bestimmt die Wirkung in b; b ist durch a determiniert. Es kann auch etwas zu etwas bestimmt sein, an die Stelle der „determinatio“ tritt die „destinatio“. Entweder ist etwas zu etwas bestimmt durch sich selbst, durch seine eigene Natur oder Vernunft, oder aber etwas ist zu etwas durch ein Drittes, das ber es Gewalt hat, bestimmt. Ideengeschichtlich ist die erneuerte Bestimmungsfrage der deutschsprachigen20 Aufklrung Teil einer europischen Neubelebung des Stoizismus.21 Nur einige Beispiele der einschlgigen Literatur. Cicero schreibt in De officiis: „Neque enim ita generati a natura sumus, ut ad ludum et iocum facti esse videamus, ad severitatem potius et ad quaedam studia graviora atque maiora.“ Christian Garve bersetzt: „Wir sind von der Natur nicht bloß zum Scherz und zum Zeitvertreib in die Welt gesetzt worden. Unsre Bestimmung ist ernsthaft; unsre Geschfte sind groß und wichtig.“22 Cicero schreibt: „[…] in hoc naturam debemus ducem sequi […]“;23 Garve bersetzt: „[…] so mssen wir dieser Bestimmung der Natur folgen […].“24 „Ita fit, ut ratio praesit, appetitus obtemperet.“25 20 Hinske (Hrsg.), 1999, S. 5, Anm. 16: Bei der Frage nach der Bestimmung des Menschen handle es sich „um ein Charakteristikum der deutschen Aufklrung.“ 21 Hierauf gehe ich genauer ein in Brandt, 2007. 22 Cicero, 1784, S. 78. Hierauf verweist Hinske, 1999, S. 4. 23 Cicero, 1923, S. 8 – De officiis I, 22.
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Garves bersetzung: „Von diesen beyden Krften ist der Verstand bestimmt zu befehlen, die Begierde, zu gehorchen.“26 Diese Bestimmung geht von der Vorhersehung aus, von der stoischen pronoia, der „natura dux“, die alles zweckhaft durchwaltet und jedem Ding im Netz der finalen Kausalitt seine Bestimmung verleiht. Nur die der Vernunft teilhaftigen Menschen und Gçtter, fr die der gesamte Kosmos da ist,27 haben den Zweck ihrer Existenz in sich selbst, wenn auch im Fall der Menschen in der Weise, daß sie die Vernunftnatur, zu der sie bestimmt sind, selbst erkennen und verwirklichen mssen. Pseudo-Longinos, der stoisch orientierte Rhetor des 1. nachchristlichen Jahrhunderts, schreibt ganz in diesem Sinn, daß wir von der Natur zum Großen und Erhabenen geboren sind.28 Eduard Norden bersetzt: „Deshalb gengt der Spekulation und dem Sinnen des menschlichen Unternehmungsgeistes nicht einmal die ganze Welt, sondern oftmals schreiten seine Gedanken hinaus ber die Grenzen der Atmosphre, und wenn Jemand von da rings einen Umblick auf die Welt tun und erkennen kçnnte, welche berflle des Erhabenen und Großen und Schçnen in ihr waltet, so wrde ihm bei solcher Schau bald die Bestimmung des Menschen offenbar werden (tacheos eisetai pros ha genonamen).“29 Die Schrift Vom Erhabenen war der wohl erfolgreichste literaturkritische Traktat des 18. Jahrhunderts. Die große Debatte ber „des Menschen Bestimmung hier und dort“, wie es in dem oben angefhrten Kestner-Zitat hieß, setzt ein mit der Publikation von Johann Joachim Spaldings Betrachtung ber die Bestimmung des Menschen im Jahr 1748. Das Thema ist die Seele des Menschen, ihre Aufgabe hier und ihr Geschick dort, nach dem Tod. Das Werk ist ein Dokument der natrlichen Religion, wie sie Kant in seiner Moralphilosophie entwickelt; die christliche Erlçsungstheologie spielt keine Rolle. Die eigene Vernunft fhre uns zur berlegung und Antwort der Frage, „worauf mein eigentlicher Werth und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mhe werth zu wissen, warum ich da bin und was ich vernnftiger Weise seyn soll.“30 Nach dem Vorbild von Senecas De vita beata wird gezeigt, daß der Le24 25 26 27
Cicero, 1784, S. 17. Cicero, 1923, S. 34 – De officiis I, 101. Cicero,1784, S. 76. Vgl. u. a. Cicero, 1923, S. 8 – De officiis I, 22: „[…] ut placet Stoicis, quae in terris gignantur, ad usum hominum omnia creari.“ 28 Pseudo-Longinos, 1966, S. 98–99. 29 Norden, 1971, S. 104. 30 Spalding, 1999, S. 71.
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bensweg der Lust inkonsistent und am Ende schmerzlich sei, also vernnftigerweise nicht gewollt werden kçnne. Es folgt dann in bekannter Sequenz der Vorzug des Lebens der Erkenntnis und der Tugend, die Betrachtung der Weltordnung fhrt zur Religion, das letzte Kapitel ist der Unsterblichkeit gewidmet: Das Ich sei eine Einheit, die nicht wie unser kçrperliches Dasein mit dem Tod zerfalle, sondern mit guten Grnden hoffen drfe, sich nach dem physischen Tod weiter zu vervollkommnen und eine der Moralitt proportionierte Glckseligkeit zu erfahren. Dies also sei meine irdische und meine knftige Bestimmung oder meine ganze Bestimmung. – Diesem Inhalt stimmt Kant Punkt fr Punkt zu. Ob Kant die Schrift gelesen hat? Es lßt sich, wenn ich richtig sehe, nicht durch Zitate und Nennung nachweisen, ist jedoch angesichts der weiten Verbreitung und der Diskussionen ber sie und ihr Thema hçchst wahrscheinlich. Wir gehen sogleich zu einer berraschenden Wende Kants aus den frhen siebziger Jahren ber, durch die er mit dem Leibniz-Wolffschen Ordo-Gedanken bricht: Nicht wir erfahren unseren Wert aus der Stelle, die wir in der Schçpfung einnehmen, sondern es ist umgekehrt: Aller Wert der Schçpfung richtet sich nach uns, den Menschen. In ihm liegt das Urmeter aller Wertvermessung, nur er bringt die Zwecke in einem absoluten Endzweck zum Halten. Nichts ist gut als allein der moralisch bestimmte Wille, ihm dienen alle Zurichtungen der Natur vom kleinsten Mineral bis zu den grçßten Galaxien. Die Leibnizsche Wert-Ontologie wird als dogmatisch gestrzt und kritisch-subjektivistisch neu entwickelt. In einer Anthropologie-Nachschrift von 1772–1773 steht: Den Idealismus nennen wir die Methode, die Dinge als Erscheinungen zu beobachten, und nur sich selbst als wrcklich vorzustellen. Er gestehet den ußern Dingen entweder gar keinen, oder nicht den gehçrigen Werth zu. Die ußern Dinge haben keinen innern Werth, denn was helfe es wenn Berge von Demant, und Flße von Necktar wren, und keine vernnftige Geschçpfe, die es genießen und anschauen kçnnten, da wren. Dieses ist der vernnftige Idealismus, der der Cçrperlichen Natur außer ihr den Werth setzt: Dies hat einige bewogen zu glauben, daß die Cçrperlichen Dinge keinen Werth htten, und auch ihr Daseyn zu leugnen.31
Das Genießen und Anschauen der Natur durch den Menschen wird in den achtziger Jahren durch die Zweckbindung aller Natur an den moralischen Endzweck ersetzt, die These jedoch, daß kein Ding dieser Welt einen Wert an und fr sich hat, wird beibehalten und verschrft durch 31 AA XXV, 47,17–24 – Nachschrift Collins aus dem Wintersemester 1772–1773.
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den verbesserten Idealismus, ber den Kant schon 1770 verfgte: Das Dasein der Dinge wird reduziert auf das Dasein fr uns als Erscheinung; ein Dasein an und fr sich kommt ihnen nicht zu. Hier wird sichtbar, daß der Wert und das Dasein der Dinge auf den Menschen zentriert werden und daß der hçchste Punkt, an dem beides aufgehngt wird, in der moralischen Bestimmung des Menschen und damit in seiner Selbstbestimmung liegt. Ohne ihn ist alles nichts. Wir kennen die Weiterentwicklung des Bestimmungsgedankens in der kritischen Phase der Philosophie. Bereits in den siebziger Jahren jedoch erfhrt das Thema eine Erweiterung; neben den traditionellen Gedanken des triadischen Vernunftinteresses und der Bestimmung des Menschen hier und dort tritt eine geschichtsphilosophische Reflexion; neben das Individuum tritt die Gattung. Nicht das Irdische und das Himmlische, sondern die geschichtsphilosophische Dimension von Vergangenheit, Gegenwart und irdischer Zukunft ist jetzt gemeint, die Geschichte der menschlichen Gattung in ihrer Einheit, als ausschließlich globales System. 5. Die geschichtsphilosophische Innovation Beide Themenstrnge laufen seit der Mitte der siebziger Jahre nebeneinander her; das jenseitige Dort des Einzelnen und die irdische Zukunft der Menschheit, die Moral und sog. Glckseligkeit des Einzelnen und das Rechtssystem der Menschheit. Beide bençtigen theologische Prmissen, hier ist es die Postulatenlehre mit den Inseraten Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, dort eine deistische Konzeption, gemß der die Natur und mit ihr die Kultur auf die Realisierung des Endzwecks der Menschheit, die Autonomie, ausgerichtet sind. In beiden Fllen wird dem Einzelnen die praktische Gewißheit verschafft, daß sein Handeln gemß dem Freiheitsgesetz nicht notwendig mit der Klugheit in Konflikt steht, sondern daß im Gegenteil moralisches Handeln sinnvoll ist, sei es fr ihn selbst, sei es fr die Zukunft der Menschheit. Die Botschaft der Doppelbestimmung des Menschen lautet: Moralisch zu handeln ist durch die Vernunft mit der Hoffnung verbunden: Ich darf hoffen, daß es mir wohl ergehe im Himmel und auf Erden, und ich darf hoffen, daß mein moralisches Handeln zusammenstimmt mit dem Langzeitziel der Menschheit im ganzen. Die einheitliche Moralbestimmung des einzelnen Menschen und der Menschheit im ganzen kann jedoch einen Riß nicht heilen, der mit der
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Teilung des Bestimmungskonzepts mitten durch den Menschen geht. Er ist verantwortliches Subjekt seiner eigenen Handlungen, die geschichtliche Menschheit im ganzen kennt dagegen verstndlicherweise kein menschliches verantwortliches Subjekt. Wie wird die ganzheitliche Bestimmung durch die Geschichte gesteuert? Ist Gott das Subjekt? Ja und Nein. In der Oberflche der Texte ist die Idee, daß Gott mit unsichtbarer Hand die Geschichte der Menschheit bis zur verwirklichten Autonomie der Menschen insgesamt fhrt, plausibel. Nun gehçrt zu den transzendentalen Prdikaten Gottes das absolute Gutsein; die Mittel jedoch, mit denen die Geschichte per aspera ad astra durchgesetzt wird, sind infernalisch; das Bçse und der Schmerz sind die Sprungfedern, mit denen die Vernunft siegen soll. Es legt sich daher nahe, die hufige Rede von der Natur und der Vorsehung oder auch Gott so zu interpretieren, daß hier ein anderes Subjekt ttig ist, ein Untergott, ein Demiurg, wie Kant ihn einmal nennt (AA VII, 331,33). Damit gelangen wir nicht nur in eine Art mephistophelischer Dmonologie, sondern es wird das menschliche Subjekt auseinanderdividiert. Der einzelne sieht sich dem kategorischen Imperativ unterstellt, der seinerseits zum Postulat eines allmchtigen und allgtigen Gottes fhrt. Zugleich ist er in das Schicksal der Menschheit involviert, in dem eine unsichtbare gçttliche Hand grausame Mittel verwendet, um das Gute durchzusetzen, eben das tut, was der eherne Imperativ den Vernunftwesen verbietet. Dem Menschen ist es untersagt, seine moralischen Kriterien an den Demiurgen heranzutragen. Hier herrscht also ein moralisches Urteilsverbot. Ein theoretisches Tabu gibt es dagegen in der Dimension der persçnlichen Moral. Der kategorische Imperativ konfrontiert uns mit dem normativen Handlungsgesetz, das dezidiert weder unserer eigenen Natur noch der Natur des Weltlaufs abgelesen ist, sondern einen Ursprung sui generis hat. Das heißt jedoch, daß der moralisch Handelnde sich das kluge Abwgen der Natur- und Weltumstnde verbieten muß, er braucht schlicht nur auf den moralischen Kompaß zu sehen, um den guten Willen zu realisieren. Mit beiden Tabus werden wir uns im folgenden befassen mssen. Doch jetzt zur Entwicklung der Kantischen Philosophie der Menschheit und ihrer moralisch-rechtlichen Bestimmung. Der Mensch ist, so schreibt Rousseau im Discours sur l’origine et les fondements de l’ingalit parmi les hommes (1755), von den Tieren einmal durch die „spiritualit de son me“32 und damit durch das Bewußtsein der Freiheit ausgezeichnet, aber auch durch eine weitere Eigenschaft – 32 Rousseau, 1959 ff., III, S. 142.
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„c’est la facult de se perfectionner“.33 Bei den Menschen kçnne nicht nur das Individuum sich in seiner Lebensgeschichte vervollkommnen, sondern die Gattung im ganzen. Mit dieser revolutionren Vorstellung ist die gesamte Menschheitsgeschichte neu zu konzipieren; aus der Idee einer gattungsgeschichtlichen Vervollkommnung entspringt die eigentliche Innovation der Geschichtsphilosophie. Zuvor konnte ber den Fortschritt der Erfindungen und der Institutionen verhandelt werden; darber gab es seit der griechischen Aufklrung vielfltige ußerungen, optimistische und pessimistische. Es konnte andererseits auch die „perfectio“ der Welt im ganzen dargestellt werden; in der besten aller mçglichen Welten hatte der Mensch seinen festen Ort innerhalb des „chain of being“; „placed on this isthmus of a middle state“,34 sollte er seinen festen Status erkennen und ausfllen; er ist integrierter Bestandteil des kosmischen Ganzen, in dem alles Zweck und zugleich Mittel ist. Dies ist die Anschauung, die Alexander Pope mit Leibniz, Wolff und dem frhen Kant verbindet. Eine Fortschrittsgeschichte der Menschheit konnte hier nur hçchst vage als dynamische „perfectio“ des kosmischen Ganzen, der „successive[n] Vollendung der Schçpfung“ (AA I, 312,34), gedacht werden. Rousseau dagegen entlßt die menschliche Gattung aus dem kosmischen Totum der Schçpfung und vindiziert ihr eine eigene, isolierte „perfectibilit“, entschieden nur den Menschen. Im Gegensatz zu den traditionellen Beobachtungen zu technischen und institutionellen Fortschritten betrifft jetzt der Fortschritt den Menschen selbst; der Mensch wird aus einem historisch statischen zu einem dynamischen Wesen, das seinen eigenen Wandel erzeugt, naturverlassen, allein, Prometheus in eigener Sache. Sobald Kant diese Idee kreativ aufnahm, war die alte „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ mit ihren anthropologischen Spekulationen obsolet geworden; jetzt gewinnt der Mensch eine Geschichte, die zwar von der Natur im ganzen sekundiert wird, an der sie jedoch nicht mehr mit einer eigenen Perfektionsgeschichte teilnimmt. Dies scheint also der Punkt zu sein: Die von Rousseau erçffnete Reflexion ber das Geschick der menschlichen Gattung richtet sich weder auf die Serie immer neuer Erfindungen noch auf die „perfectio“ des Weltalls im ganzen, sondern auf die Evolution des Menschen selbst in seiner Moralitt. Die Entstehung der Kantischen Geschichtsphilosophie kann erst seit der Edition der Vorlesungen zur pragmatischen Anthropologie 1997 33 Rousseau, 1959 ff., III, S, 142. Zum Begriff der Perfektibilitt vgl. Hornig, 1980. 34 Pope, 1961, S, 189 – „Essay on Man“ (1733–1734), II, Vers 2.
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nachvollzogen werden. Es handelt sich um das Kapitel „Vom Charakter der Menschheit berhaupt“ in der Nachschrift Friedlnder aus dem Wintersemester 1775–1776. Hier liegt die Vorskizze aller spter publizierten Darlegungen zur Geschichtsphilosophie, vor allem der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht von 1784. Der Zweck der Natur sei die Vollkommenheit der Menschen, und sie zwinge ihn, diese selbst im Laufe der Geschichte hervorzubringen. Das paradox anmutende Mittel dieses Zwanges sei die Bçsartigkeit des Menschen. Der Menschen ihre Begierden, ihre Eifersucht, Mistrauen, Gewalt, Hang zur Feindseeligkeit gegen die so außer der Familie sind, alle diese Eigenschaften haben einen Grund, und eine Beziehung auf einen Zweck. Der Zweck der Vorsicht ist: Gott will daß die Menschen die gantze Erde bevçlckern sollen. (AA XXV, 679,12–16)
Die Feindseligkeiten fhren dazu, daß sich die Menschen mit Feuer und Schwert ber den Globus treiben, der insgesamt als ihr Wohnraum vorgesehen ist (bis ins 18. Jahrhundert meinte man, nur die mittlere Zone sei vernnftigerweise bewohnbar, nicht aber die zona torrida und die zona frigida). Die Eigentumsbildung fhrt zu neuen Kriegen und zur Notwendigkeit der Grndung von Staaten, die sich als kreative Schutzinstitutionen einer kultivierten, auf ußerem Anstand bestehenden brgerlichen Gesellschaft erweisen. Nun verderben Kriege zwischen den Staaten alle Anstze zu einer wirklichen sittlichen Bildung der Menschen; die Kriegsrstung in Friedenszeiten absorbiert die finanziellen Mittel. Wir sehen, daß sich Kriege erheben, und ein Staat den anderen niederreißt, mit der Zeit werden die Frsten den Nachtheil empfinden mßen, indem sie selbst im Frieden eben solche Krfte zu verwenden gençthigt sind, als im Kriege. Damit aber alle Kriege nicht nçthig wren, so mste ein Vçlckerbund entspringen, wo alle Vçlcker durch ihre Deputirte einen allgemeinen Vçlcker Senat constituirten, der alle Streitigkeiten der Vçlcker entscheiden mßte, und dieses Urtheil mste durch die Macht der Vçlcker executirt werden, denn stnden auch die Vçlcker unter einem foro und einem brgerlichen Zwange. (AA XXV, 696,7–17)
Man sieht, daß wir hier von den Impulsen des Discours sur l’ingalit parmi les hommes zu den berlegungen des Abb Saint Pierre in der Wiedergabe Rousseaus geraten sind. In den spteren Schriften wird Kant auf die beiden Autoren verweisen (AA VIII, 24,19; 313,2); erst 1795 entfllt an dieser Stelle der obligate Rckverweis. Der Grund ist einfach: In der Schrift Zum ewigen Frieden wird ein neues Konzept prsentiert, das besagt, daß nur Republiken friedfertig sind, und diese sind es tatschlich, so daß ein Vçlkerbund kein Großstaat mit Legislative und Exekutive zu
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werden braucht, sondern ein lockeres Bndnis von souvernen, friedfertigen Republiken wird. Nicht nur auf Kant und andere deutschsprachige Autoren35 wirkte die Perfektibilittsidee; wir verweisen kurz auf Adam Ferguson und seinen Essay on the History of Civil Society von 1768. Dort finden sich Gedanken, die den Kantischen so nahe stehen, daß es sich nicht gut um einen Zufall handeln kann.36 Wenn wir beobachten, daß Adam Ferguson vom „character of our species“ (5) spricht und Kant als Titel seiner Betrachtung „Vom Charakter der Menschheit berhaupt“ whlt, dann kçnnen wir einigermaßen sicher sein, daß der Rousseausche Gedanke erst auf dem Umweg ber Ferguson zndete. Aber es gibt eine symptomatische Differenz. Ferguson zieht die alte technische Fortschrittsgeschichte in seine Betrachtung ein, Kant stellt von vornherein auf die Rechtsgeschichte ab. Die Technik wird ihn nie interessieren. Bei der Technik hngen wir von der Natur ab, im Recht hat es der Mensch mit sich selbst zu tun, es unterliegt gnzlich seiner Selbstbestimmung. Und hier ist die geschichtsphilosophische Aufgabe: Die Menschheit soll sich emporarbeiten aus dem Despotismus der Herrschaft anderer zum republikani35 Iselin, 1764. 36 Ich zitiere aus der bersetzung der Schrift von Ferguson aus dem Jahr 1768: „Nicht allein ein einzelner Mensch geht von der Kindheit zur Mannheit, sondern auch die ganze Gattung selbst von dem rohen Zustande zu einer sittlichern Bildung fort.“ (1) Die Menschen lebten immer in Herden oder Gesellschaften vereinigt. „Seine vermischte Neigung zu Freundschaft oder Feindschaft […]“ (4) „Der Stand der Natur ist ein Stand des Kriegs oder der Freundschaft, und die Menschen sind gemacht, sich aus einem Grunde der Zuneigung, oder der Furcht, so wie es sich fr das System verschiedener Schriftsteller schickt, zu vereinigen.“ (23) „Bey andern Klassen von Thieren, geht jedes einzelne Thier von der Kindheit zum Alter oder zur Reife fort, und es erreicht, in dem Umfange eines einzelnen Lebens, alle die Vollkommenheit, die seine Natur nur erreichen kann: allein bey den Menschen hat die ganze Gattung so wohl ihren Fortgang, als das einzelne Mitglied, sie bauen in jedem nachfolgenden Alter auf einen Grund, den sie in dem vorhergehenden gelegt haben; und in einer Folge von Jahren streben sie zu einer Vollkommenheit in dem Gebrauche ihrer Krfte, zu welcher die Hlfe einer langen Erfahrung erfordert wird, und viele Geschlechter ihre Bemhungen mssen vereiniget haben.“ (6–7) „Wir reden von der Kunst, als wenn sie von der Natur verschieden wre; aber die Kunst selbst ist dem Menschen natrlich. Er ist in gewissermaßen der Knstler seiner eigenen Gestalt so wohl als seines Glcks, und vom ersten Alter seines Daseyns bestimmt [is destined], Erfindungen und Entwrfe zu machen.“ (9) „Ohne die Eifersucht der Nationen und die Fhrung des Kriegs, wrde selbst die brgerliche Gesellschaft kaum ein Objekt, oder eine Form gefunden haben.“ (35).
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schen Staat der Selbstbestimmung der Gesetze durch den allgemeinen Willen des Staatsvolks. Es ist unschwer zu sehen, daß die gesamte Moralphilosophie Kants zu ihrer Grundlage die freie ethische und rechtliche Selbstbestimmung aus dem eigenen formalen Vernunftgesetz macht. 6. sthetik als Selbstbestimmung Schiller hatte in dem oben zitierten Brief geschrieben: „Diese große Idee der Selbstbestimmung strahlt uns aus gewissen Erscheinungen der Natur zurck, und diese nennen wir Schçnheit.“ Es ist fr Kant nicht schwer zu zeigen, daß das Schçne nicht an sich schçn ist und wir es deswegen so – fremdbestimmt – beurteilen, sondern daß umgekehrt das Schçne deswegen schçn ist, weil wir es – selbstbestimmt – so beurteilen. Dem Schçnheitsurteil liegt entsprechend kein objektiver Befund zugrunde, sondern der Gemtszustand „eines Gefhls des freien Spiels der Vorstellungskrfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse berhaupt“ (AA V, 217,24–26). Dieser Gemtszustand, der sich in einem Gefhl des Wohlgefallens ußert, ist also in einer epistemischen Grundlage fundiert, die es ermçglicht, daß er, obwohl selbst keine Erkenntnis, doch allgemein mitteilbar ist und ergo auch einen Geltungsanspruch gegenber allen anderen erheben kann. hnlich subjektbestimmt ist das Erhabenheitsurteil vor einer bestimmten Natur- oder auch Kulturkulisse; es erzeugt selbst seinen Gegenstand und kann aufgrund der Fundierung in der Moral einen allgemeinen Geltungsanspruch erheben. Es sind also Selbstbestimmungs- und Binnenverhltnisse im erkennenden und moralischen Menschen, die als Fundament des außengerichteten Schçnheits- und Erhabenheitsurteils fungieren. Wie kommt es zur doppelten sthetik des Schçnen und Erhabenen?37 Ist die Grundlage platonisch? Die platonische sthetik findet ihren wirkungsmchtigen Ausdruck in der Rede der Diotima im Dialog Symposion. Demnach beginnt die Schçnheit fr uns in schçnen Kçrpern und findet ihren Abschluß im Schçnen selbst; der Sache nach ist dieses Schçne selbst oder die Idee des Schçnen jedoch der Anfang, nmlich der Ermçglichungsgrund aller niederen Stufen des Schçnen. Das niedere Schçne partizipiert am eigentlich Schçnen, wie sich am Ende des phi37 In den folgenden Ausfhrungen zur Kantischen sthetik greife ich auf einen Aufsatz zum Problem von Selbsterhaltung und oikeiosis in der Tradition der Neuzeit zurck: Brandt, 2003, S. 179 – 197.
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losophischen Erkenntnisweges zeigt. Diese sthetik des Schçnen wird bei Plotin fortgefhrt, sie findet sich bei Thomas und bestimmt den Aufbau von Dantes Gçttlicher Komçdie. Die Duplizitt nun von ,Schçn‘ und ,Erhaben‘ ist der platonischen und platonisierenden sthetik gnzlich fremd; sie muß also eine andere Wurzel haben. Unsere These lautet: Sie hat ihren Ursprung in der stoischen „oikeiosis“-Lehre, in der jeder Ideenbezug entfllt. Cicero stellt in De finibus zwei Stufen der stoischen „oikeiosis“ vor: Prima est enim conciliatio [sc. die prote horme] hominis ad ea, quae sunt secundum naturam. Simul autem cepit intelligentiam vel notionem potius, quam appellant ennoian illi, viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam, multo eam pluris aestimavit quam omnia illa, quae prima dilexerat, […].38
Den zwei Lebensstufen der „oikeiosis“ entspricht eine Werthierarchie; die erste ist die des eher Animalisch-Liebenswrdigen („quae prima dilexerat“), die zweite die des Vernnftig-Schtzbaren („pluris aestimavit“). Der Text drfte neben verwandten ußerungen in der hellenistischen und nachhellenistischen Literatur im 18. Jahrhundert jedem Gebildeten vertraut gewesen sein. Einen der vielen Reflexe finden wir bei David Hume; ich zitiere gleich aus der ersten deutschen bersetzung; es handelt sich um den sechsten Abschnitt, „Von Eigenschaften, die uns selbst ntzlich sind“, der Sittenlehre der Gesellschaft: Die Charactere des Csars und des Cato sind, so wie sie von Sallustius gezeichnet sind, beyde tugendhaft, in dem genauesten Verstande dieses Worts, aber auf eine verschiedene Art; auch sind die Empfindungen, die durch diese Charactere erreget werden, nicht vollkommen gleich und einerley. Der eine bringt Liebe [love] hervor, der andere Hochachtung [esteem], der eine ist liebenswrdig [amiable], der andere ehrwrdig [awful]; den einen Character mçchten wir bey einem Freunde anzutreffen wnschen, und den anderen mçchten wir selbst zu besitzen,39 ehrgeizig seyn.40 38 Cicero, 1961, S. 96 – De finibus III, 21. 39 Auffllig, daß es ebenso in Winckelmanns von stoischem Geist geprgter Schrift Gedanken ber die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) heißt: „[Laokoons] Elend geht uns bis an die Seele, aber wir wnschten, wie dieser große Mann, das Elend ertragen zu kçnnen.“ (Winckelmann 1968, S. 43) 40 Hume, 1756, S. 121 – Sittenlehre der Gesellschaft, 6. Abschnitt. Dieser Text erscheint in den englischen Ausgaben von 1751 bis 1760 an der genannten Stelle, in den spteren (und den heutigen) Ausgaben findet er sich in der „Appendix IV“.
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Edmund Burke schreibt als Echo in seinen Philosophischen Untersuchungen ber den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schçnen (wieder gleich in der bersetzung, die 1772 erschien): Man lese die Charaktere des Csars und des Cato, die Sallustius so fein gezeichnet, und so richtig verglichen hat, und man betrachte, was fr einen verschiednen Eindruck sie auf uns machen werden. […] Bey dem letzten finden wir mehr zu bewundern, mehr zu verehren, und vielleicht etwas zu frchten; wir halten ihn hoch, aber wir wollen ihn nur in einer gewissen Entfernung ansehen. Der andre macht sich mit uns vertraut: wir lieben ihn, und wir folgen ihm, wo er uns hin fhrt.41
Adam Smith nimmt das Motiv in seiner Theory of Moral Sentiments auf: „Of the amiable and respectable virtues“ lautet die berschrift des fnften Kapitels der ersten Sektion.42 Er fgt damit eine spezielle Variante der stoischen Lehre in sein Gesamtsystem der „sympatheia“ ein. Kants Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen (1764) argumentieren auf der Grundlage der stoischen Differenz von geflliger Schçnheit und achtunggebietendem Erhabenen, auch dies eine Stoa-Reminiszenz; in De officiis spricht Cicero von den „pulchritudinis duo genera […] quorum in altero venustas sit, in altero dignitas.“43 Es ist dieselbe Stufung, die dem Konzept der „oikeiosis“ entspricht. Dieses Muster bestimmt die doppelte sthetik der KdU, wobei das Schçne zur „venustas“, das Erhabene zur „dignitas“ gezogen wird. Das Geschmacksurteil des Schçnen steht auf der Seite des, wie es ausdrcklich heißt, „Lebensgefhls“ (AA V, 204,8), whrend der Geistesbezug zum Erhabenen sich zunchst gegen das Leben wendet und erst in der Rckbesinnung auf die moralische Persçnlichkeit in uns ein Gefhl der Lust erregt. Schçn ist, was unserer natrlichen primren Konstitution und Naturbeziehung entspricht; erhaben dagegen, was in der LogosNatur liegt, die uns ber alle anderen Lebewesen hinausfhrt und am gçttlichen „logos“ teilhaben lßt, das alles Lebensgefhl transzendiert und 41 Burke, 1773, S. 181 – Philosophische Untersuchungen III, 11. 42 Smith, 1976, S. 23 – The Theory of Moral Sentiments I, 1, 1, 5. Vgl. dazu Waszek, 1984 mit einer sorgfltigen Rckfhrung des Smithschen Doppelkonzepts auf die antike Stoa. 43 Cicero, 1923, S. 45 – De officiis I, 130; fast wçrtlich schon I, 107. Carsten Zelle geht in seinem informationsreichen Buch Die doppelte sthetik der Moderne (1995) der Frage nicht nach, ob es auch eine doppelte sthetik der Antike gegeben hat. Zu den beiden Schçnheitsformen, deren eine auch zum Erhabenen gerechnet wird, fhrt Zelle ein berwltigendes neuzeitliches Material an; vgl. noch die zitierten Autoren im „Ausblick“ (S. 361–370).
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im Konfliktfall niederschlgt. Whrend das Schçne geliebt wird, bringen wir dem Erhabenen Achtung entgegen – beides sind Reflexe unserer Lebens- und Vernunftnatur; ihnen entspricht die doppelte Bestimmung, unter der der Mensch steht, die Naturbestimmung und die Vernunftbestimmung; nur die letztere trgt den Titel des Erhabenen. Die Differenz von Schçn und Erhaben ist demnach in den zwei Stufen der „oikeiosis“ begrndet; die erste ist die „prote horme“, die wir weitgehend mit den brigen hçheren Lebewesen teilen, die zweite ist die der Vernunft, durch die wir in expliziter Erkenntnis am allgemeinen Welt-Logos teilhaben und gewissermaßen zu entprivatisierten Weltbrgern werden; an die Stelle der Nahethik tritt die Fernethik, aus dem geborenen Kommunitarier wird der erkennende Kosmopolit. Beides ist die Entfaltung einer Anlage, die in uns selbst liegt und zu deren Entfaltung wir bestimmt sind. 7. Resmee Der Mensch ist von der Natur und durch seine Vernunft zur Selbstbestimmung bestimmt, sei es als Individuum, sei es als Gattung. Den Umfang und die Grenzen der Naturerkenntnis bestimmt der Mensch durch die beiden subjektiven Quellen der Erkenntnis, Anschauung und Verstand. Durch diese Konzeption wird ermçglicht, daß die Gesetze der Erfahrung die Gesetze der Gegenstnde der Erfahrung sind und somit das Subjekt selbst bestimmt, was Gegenstand der Erkenntnis sein kann. Im Kantischen Ansatz kann es nur auf diese Weise eine gemeinsame Welt der Menschen geben: Sie konstituieren sich selbst nach Maßgabe ihrer Erkenntnisvermçgen. So ist die Selbstbestimmung der Garant fr die Objektivitt wie fr die Allgemeinheit der Erkenntnis. Fr die beiden weiteren Grunddimensionen des sthetischen Fhlens und des rechtlichen und ethischen Handelns gilt in gleicher Weise, daß sich das Individuum in der ihm zum Zweck gesetzten Selbstbestimmung weltfhig macht: Sein sthetisches Urteil wird allgemein mitteilbar und stiftet eine Harmonie aller sthetisch Urteilenden, und sein moralisches Handeln ist auf die Kompatibilitt mit dem Handeln aller anderen ausgelegt. Kant hat kein System entworfen, das einheitlich aus dem Gedanken oder der Idee des Selbst und der Selbstbestimmung generiert wrde. Aber die Vorstellung der Bestimmung des Menschen zur Selbstbestimmung ist das Leitmotiv seiner unterschiedlichen, sich permanent reformierenden philosophischen Werke. Im unsystematischen Zentrum der Kantischen
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Philosophie liegen die zentrifugalen Krfte, die die deutschen Idealisten in ihren Systemen zu bndigen versuchten und die bis heute die Philosophie wesentlich mitbestimmen. Literatur Blumenberg, Hans, 1975, Die Genesis der kopernikanischen Wende, Frankfurt am Main. Brandt, Reinhard, 2002, Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Brandt, Reinhard / Sturm, Thomas (Hrsg.): Klassische Werke der Philosophie, Leipzig, 132 – 160. Brandt, Reinhard, 2003, Selbstbewußtsein und Selbstsorge – Zur Tradition der „oikeiosis“ in der Neuzeit, in: Archiv fr Geschichte der Philosophie, 85, S. 179 – 197. Brandt, Reinhard, 2007, Die Bestimmung der Menschen bei Kant, Hamburg. Burke, Edmund, 1773, Philosophische Untersuchungen ber den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schçnen. Nach der fnften englischen Ausgabe, Riga. Cicero, 1784, Abhandlung ber die menschlichen Pflichten in drey Bchern. Aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero bersetzt von Christian Garve, Breslau (1783). Cicero, 1923, De officiis, hrsg. von C. Atzert, Leipzig. Cicero, 1961, De finibus bonorum et malorum, hrsg. von T. Schiche, Stuttgart. Ferguson, Adam, 1768, Versuch ber die Geschichte der brgerlichen Gesellschaft. Aus dem Englischen bersetzt, Leipzig. Flashar, Helmuth (Hrsg.),1994, Grundriß der Geschichte der Philosophie (Ueberweg), Philosophie der Antike Bd. 4, 2, Basel. Goethe, Johann Wolfgang von, 1948 ff., Werke, hrsg. von Erich Trunz, Hamburg. Hinske, Norbert (Hrsg.), 1999, Die Bestimmung des Menschen (Aufklrung Bd. 11, 1), Hamburg, 69 – 95. Hornig, Gottfried, 1980, Perfektibilitt. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur, in: Archiv fr Begriffsgeschichte 24, 221 – 273. Hume, David, 1756, Sittenlehre der Gesellschaft. Als dessen vermischte Schriften Dritter Theil, Hamburg. Iselin, Isaac, 1764, ber die Geschichte der Menschheit, Frankfurt am Main. Kant, Immanuel, 1902 ff., Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Berlin. Locke, John, 1970, Two Treatises of Government, hrsg. von Peter Laslett, Cambridge. Locke, John, 1975, An Essay Concerning Human Understanding, hrsg. von Peter Nidditch, Oxford. Norden, Eduard, 1971, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiçser Rede, Stuttgart.
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LOGIK
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METAPHYSIK
Die Reinheit der reinen Logik: Kant und Frege Michael Wolff I. Nach Sir Anthony Kenny wurde die traditionelle aristotelische Syllogistik „bis zur Zeit Kants“ als „das A und O der Logik“ angesehen.1 Aber wenigstens Kant selbst darf man diese Ansicht nicht zuschreiben. Er unterschied zwei Hauptgebiete der Logik.2 Das erste nannte er „allgemeine Logik“; es hat die Regeln alles Denkens zu untersuchen, nmlich die „Regeln des allgemeinen Verstandesgebrauchs“. Hingegen hat das zweite Gebiet mit den „Regeln des besonderen Verstandesgebrauchs“ zu tun, d. h. mit logischen Regeln, die nicht allen Wissenschaften gemeinsam sind. Innerhalb der beiden Hauptgebiete unterschied Kant noch einmal jeweils zwei Teile, nmlich einen reinen Teil und einen nicht reinen Teil. Den reinen Teil der besonderen Logik nannte Kant „transzendental“. Dieser Teil sollte die Logik der Metaphysik sein, d. h. die Logik derjenigen Wissenschaft, die es ausschließlich mit nicht empirischen und nicht anschaulichen Objekten zu tun hat. Den reinen Teil der allgemeinen Logik nannte Kant „formale Logik“. Nur dieser Teil fiel in seinen Augen zusammen mit dem, was man als traditionelle aristotelische Syllogistik bezeichnen kann; dieser Teil sollte mit Formen zu tun haben, die allem Denken gemeinsam sind. Was die reine Logik angeht, von der die formale, syllogistische Logik ein Teil sein sollte, so sah Kant in ihr ein zusammenhngendes Gebiet der systematischen Philosophie. In seiner Sicht war die transzendentale Logik eine Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, die Elemente der formalen Logik in eine systematische Ordnung zu bringen, um diese Ordnung wiederum als Muster zu gebrauchen, nach dem auch die Elemente der Metaphysik 1 2
„[…] traditional Aristotelian syllogistic which up to the time of Kant was looked on as the be-all and end-all of logic.“ Kenny, 1995, p. 295. Siehe zum folgenden Kant, „Idee einer transzendentalen Logik“, KrV B 74–88 = A 50–64.
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systematisch angeordnet werden kçnnen. Kants „Urteilstafel“ sollte den Grundriß fr solch eine Anordnung aufzeigen. Sie sollte, als Aufzhlung elementarer logischer Urteilsformen, alle Formen des Gebrauchs von Begriffen zusammenstellen. Kant nahm an, daß mit diesen Formen alle reinen Operationen des Denkens ausgegrenzt werden kçnnten, da ja die Formen des Begriffsgebrauchs (als Formen) von allem begrifflichen Inhalt abstrahieren. Die Abstraktion vom begrifflichen Inhalt der Urteile war in Kants Augen die Abstraktion von den Gegenstnden, die unter die Begriffe des Urteils fallen.3 Da die Syllogistik, in ihrer aristotelischen Tradition, elementare logische Urteilsformen als bloße Begriffsbeziehungen (in einfachen oder zusammengesetzten Urteilen) behandelt hat, war Kant bereit, die Syllogistik als das Paradigma der formalen Logik zu nehmen. Offensichtlich gibt es einen scharfen Kontrast zwischen Kants Verstndnis von formaler Logik auf der einen Seite und der modernen, auf Frege zurckgehenden Sicht auf der anderen Seite. Heutzutage wird blicherweise nicht die Syllogistik, sondern die mathematische Logik fr das Paradigma der formalen Logik gehalten. Frege behauptete, daß „alle Beziehungen zwischen Begriffen zurckgefhrt werden kçnnen“ auf eine Beziehung der Form F (a). Er nannte diese Beziehung daher ausdrcklich „die logische Grundbeziehung“.4 Aber der fr die logische Grundbeziehung stehende Ausdruck ,F (a)‘ bedeutet nach Frage, daß ein Gegenstand unter einen Begriff fllt.5 Eben deshalb scheint die Beziehung F (a) keine „rein“-logische Beziehung im Sinne des Kantschen Sprachgebrauchs zu sein, sondern eine Beziehung zwischen Begriff und Gegenstand. Frege hat trotzdem niemals gezçgert, sein System der Logik explizit als „reine Logik“ zu klassifizieren. So hat er niemals bezweifelt, daß sein System allgemeiner und fundamentaler sei als die Syllogistik. Gemß dem Untertitel seines ersten Buchs, der Begriffsschrift von 1879, ist Freges System in einer Sprache geschrieben, die er bezeichnenderweise „Formelsprache des reinen Denkens“ nannte. Im Vorwort seines Buchs gibt Frege an, es sei sein Ziel zu zeigen, daß Kant im Irrtum war anzunehmen, die Arithmetik hnge von Anschauung ab. Freges Ziel war es zu zeigen, daß nicht nur die Logik, sondern auch die Arithmetik eine Wissenschaft 3 4 5
„An jedem Begriffe ist Materie und Form zu unterscheiden. Die Materie der Begriffe ist der Gegenstand; die Form derselben die Allgemeinheit.“ Kant, Logik (Jsche), § 2, AA IX, 91. „Die logische Grundbeziehung ist die des Fallens eines Gegenstandes unter einen Begriff: auf sie lassen sich alle Beziehungen zwischen Begriffen zurckfhren.“ Frege, 1983 a, S. 128. Ebenda.
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des reinen Denkens sei. Dieses Ziel zu verfolgen, wre ihm sicherlich nicht vernnftig erschienen, htte er nicht die logischen Regeln, die in der Arithmetik gebraucht werden, als Regeln einer reinen Logik betrachtet. In diesem Beitrag mçchte ich zwei grundlegende Fragen aufwerfen, die Freges Programm betreffen, und ich mçchte sie in den beiden Teilen dieses Beitrags nacheinander beantworten: Meine erste Frage wird sein: Ist es wahr, daß alle Beziehungen zwischen Begriffen zurckgefhrt werden kçnnen auf eine Beziehung der Form F (a)? Auf diese Frage werde ich in Abschnitt II eingehen. Freges Ansicht, alle Begriffsbeziehungen kçnnten auf eine Beziehung der Form F (a) zurckgefhrt werden, setzt voraus, daß Begriffe Funktionen sind. Meine zweite Frage lautet daher: Ist es angemessen oder gar notwendig, Begriffe als Funktionen zu betrachten? Auf diese Frage werde ich in Abschnitt III eingehen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Nach meiner Ansicht sollte keine der beiden Fragen einfach mit Ja beantwortet werden. Aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß Kants Ansichten bezglich Syllogistik und reiner Logik auch aus heutiger Sicht nicht ohne weiteres als unhaltbar zu gelten haben. II. Frege entwickelte seine Ansicht, daß F (a) eine logische Beziehung sei, und zwar diejenige Beziehung, die in der Logik insgesamt als grundlegend gelten msse, im Zusammenhang einer Kritik an George Boole, der in seinen Laws of Thought 6 Begriffsbeziehungen („Verhltnisse der Begriffe“) als logisch grundlegend angesehen hatte. Boole betrachtete Verhltnisse der Begriffe als „primary propositions“, weil er annahm, daß Beziehungen zwischen Urteilen („Verhltnisse der Urteile“) auf Begriffsbeziehungen zurckgefhrt werden kçnnten. Urteilsbeziehungen nannte Boole dagegen „secondary propositions“.7 Nach Boole kçnnen nur diejenigen Urteile als primr angesehen werden, in denen Begriffsumfnge verglichen werden. Er gebrauchte lateinische Großbuchstaben fr Begriffsumfnge und algebraische Operationszeichen (wie z. B. ,+‘ , , 9‘ und ,=‘ ) als logische Konstanten, um Beziehungen, wie es logische Summen oder 6 7
Boole, 1854. Siehe Frege, 1983 d, S. 15.
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logische Produkte sind, und die logische Form von „primary propositions“ darzustellen. Es gab nun allerdings zwei Probleme, die mit Booles Methode der Darstellung logischer Beziehungen verknpft waren. Erstens hatte diese Methode den Nachteil, daß sie algebraische Zeichen zweideutig werden ließ. Booles Ausdrcke haben nmlich dieselbe Struktur wie algebraische Formeln, und ein und dieselbe Formel kann falsch sein, wenn sie als algebraischer Ausdruck verstanden wird, obwohl sie wahr sein mag, sofern sie als Begriffsbeziehung aufgefaßt wird (so z. B. die Formel ,A = A 9 A‘). Zweitens war Booles Methode nicht imstande auszudrcken, was Frege „das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff“ genannt hat.8 Da jede Zahl ein einzelner Gegenstand ist, war Booles Notation nicht imstande, die logische Form eines einfachen arithmetischen Satzes darzustellen. Zum Beispiel konnte sie nicht Gleichungen wie 22 = 4 („die Zahl 2 fllt unter den Begriff der Quadratwurzel aus 4“) wiedergeben. Freges Entdeckung, daß F (a) eine grundlegende logische Beziehung ist, bewirkte einen bedeutenden Fortschritt innerhalb der mathematischen Logik, da sie zur berwindung der Probleme in Booles Methode fhrte.9 Freges Entdeckung enthielt die Einsicht, daß jede arithmetische Gleichung eine Funktion zum Ausdruck bringt, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. So kann z. B. die Gleichung 22 = 4 als Ausdruck einer Funktion x2 = 4 angesehen werden, deren Wert immer der Wahrheitswert das Wahre ist, wenn 2 oder –2 als Argument auftritt, deren Wert dagegen der Wahrheitswert das Falsche ist, wenn z. B. 3 oder 5 als Argument auftritt. Demnach ordnen, ganz allgemein gesprochen, mathematische Gleichungen der Form ,y = f (x)‘ nicht nur einer Funktion f (x) einen Wert y zu, sondern sie stehen auch ihrerseits fr eine Funktion, deren Wert fr alle Werte von x und y einer der beiden Wahrheitswerte ist. Freges Entdeckung machte es mçglich, Booles „primary propositions“ auf funktionale Ausdrcke zurckzufhren, und es stellte sich damit sogleich heraus, daß „primary propositions“ in Wahrheit nicht 8 9
Frege, 1964 b, S. 99: „[…] Das Fallen eines Einzelnen unter einen Begriff, das von der Unterordnung eines Begriffes unter einen anderen ganz verschieden ist, […] hat bei Boole keinen besonderen, streng genommen gar keinen Ausdruck.“ Dieser Fortschritt ist vergleichbar dem Fortschritt, den Peano durch Einfhrung des Zeichens ,2‘ fr die Beziehung der Mengenmitgliedschaft bewirkte. Siehe Frege, 1990, S. 228.
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„primary“, also nicht logische Grundbeziehungen, sondern komplexe logische Beziehungen sind. Da Großbuchstaben in Booles Notation ausschließlich Begriffsumfnge bedeuten, war Boole nicht in der Lage, den Unterschied auszudrcken, der zwischen einer Subordination von Begriffen (wie in ,Jede Quadratwurzel aus 4 ist eine vierte Wurzel aus 16‘) und einer Subsumtion eines Gegenstands unter einen Begriff (wie in ,Die Zahl 2 ist eine Quadratwurzel aus 4‘) besteht. Im Gegensatz dazu war Freges Notation geeignet, diesen Unterschied einfach dadurch auszudrcken, daß sie die arithmetische Formelsprache, wie sie bereits im Gebrauch war, durch wenige vçllig neuartige Zeichen ergnzte. So war Frege in der Lage, z. B. die Subordination des Begriffs der Quadratwurzel aus 4 unter den Begriff der vierten Wurzel aus 16 als eine komplexe Beziehung der Form (x). F(x) G(x) zu behandeln, also darzustellen durch einen zusammengesetzten begriffsschriftlichen Ausdruck, der der Formel ,(x). x 2 = 4 x 4 = 16‘ entspricht, whrend er das Fallen einer Zahl a unter den Begriff der Quadratwurzel aus 4, darstellbar durch die Gleichung ,a 2 = 4‘, als eine elementare Beziehung der Form F (a) verstehen konnte. Durch den Gebrauch von Funktionsbuchstaben und durch Einfhrung ganz weniger logischer Symbole [den Allquantor, das Negationszeichen, den Bedingungsstrich etc.] war Frege imstande, alle primary propositions auf Beziehungen zwischen Funktionen und Argumenten zurckzufhren, und er konnte auf exakte und unzweideutige Weise sehr viel mehr durch seine Zeichensprache ausdrcken als Boole.10 Infolgedessen wurde nicht Boole, sondern Frege zum eigentlichen Begrnder der mathematischen Logik. Nun sind Beziehungen zwischen Begriffen, wie Boole sie ausgedrckt hatte, nicht genau die Beziehungen, mit denen es die traditionelle Syllogistik zu tun hat. Das heißt, es handelt sich nicht um Begriffsbeziehungen, die man durch kategorische Urteile zum Ausdruck bringt. Booles Formel fr ein Urteil der Form ,Jedes A ist ein B‘, nmlich ,A = A 9 B‘, hat nicht dieselbe Bedeutung wie ein universelles affirmatives kategorisches Urteil der Form A (b, a) (das heißt ,Jedes a ist ein b‘), obwohl beide Formeln die Subordination eines Begriffs zum Ausdruck bringen. Sie unterscheiden sich insofern, als ein affirmatives kategorisches Urteil nicht 10 Frege, 1964 b, S. 100. – Frege hielt die „Verschmelzung“ der Elemente der mathematischen Zeichensprache mit wenigen neu eingefhrten logischen Symbolen zu einer einheitlichen Formelsprache zu recht fr einen Vorzug seiner Begriffsschrift (Frege, 1964 a). Siehe Frege, 1983 b, 15 u. 51.
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wahr ist, wenn es nicht einen Gegenstand gibt, von dem das Urteil handelt, wohingegen es fr die Wahrheit von Booles Ausdruck ,A = A 9 B‘ hinreichend ist, daß A berhaupt keinen Umfang hat (so dass gilt: A = 0). Zwei Begriffe A und B haben ja denselben Umfang, wenn nichts unter sie fllt. Daher ist zu bedenken, daß Freges Behauptung, alle Begriffsbeziehungen seien reduzierbar auf Beziehungen, deren Grundform die Beziehung F (a) sei, keineswegs schon deshalb auf syllogistische Begriffsbeziehungen anwendbar sein muss, weil sie auf Booles „primary propositions“ zutrifft. Frege scheint indessen gar keinen Unterschied bemerkt zu haben, der zwischen Booles Logik auf der einen Seite und der Syllogistik auf der anderen Seite besteht. In § 12 seiner Begriffsschrift erwhnt er das syllogistische „Quadrat der Gegenstze“ und bersetzt die vier grundlegenden Modi kategorischer Urteile, als ob sie Boolesche Relationen wren. Er bersetzt nmlich die vier syllogistischen Begriffsbeziehungen A (a, b) (,Jedes a ist ein b‘), E (a, b) (,Jedes a ist nicht ein b‘), I (a, b) (,Irgendein a ist ein b‘) und O (a, b) (das heißt ,Nicht jedes a ist ein b‘) durch begriffsschriftliche Ausdrcke, die der Reihe nach den Formeln ,(x). F (x) G (x)‘, ,(x). F (x) ~ G (x)‘, ,~ (x). F (x) ~ G (x)‘ und ,~ (x). F (x) G (x)‘ entsprechen. Frege scheint nicht bemerkt zu haben, daß seine bersetzung der vier syllogistischen Modi (d. h. der A-, E-, I- und O-Formen) nicht vertrglich ist mit den Regeln, die das logische Quadrat der Gegenstze zum Ausdruck bringt; insbesondere scheint er nicht bemerkt zu haben, daß es nicht vertrglich ist mit den Regeln der Subalternation, nach denen man aus universellen Stzen partikulre Stze des gleichen begrifflichen Inhalts folgern darf. Da Frege grundlegende syllogistische Beziehungen so behandelte, als ob sie Boolesche primary propositions wren, ist es nicht verwunderlich, daß er es unterließ, eine Begrndung fr seine Behauptung zu geben, alle Beziehungen zwischen Begriffen, einschließlich der syllogistischen Beziehungen, seien zurckfhrbar auf Beziehungen der Form F (a). Die Tatsache, daß Frege den Unterschied zwischen Booleschen und syllogistischen Beziehungen außer acht ließ, hngt nun offensichtlich zusammen mit der Tatsache, daß, seiner Ansicht nach, die Boolesche Logik in genau demselben Sinne „reine Logik“ ist wie die Syllogistik.11 Aus heutiger Sicht wird man es vorziehen, Booles Behandlung von Begriffsbeziehungen als einen Beitrag zur Mengenlehre anzusehen, statt sie 11 Siehe Frege, 1983 b, S. 15.
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mit Frege der reinen Logik zuzuordnen. Denn logische Produkte und logische Summen von Begriffsumfngen sind wesentlich dasselbe wie Durchschnitte bzw. Vereinigungen von Mengen; und Mengen sind, auch in Freges Sicht, wesentlich nicht Begriffe, sondern Gegenstnde besonderer Art. So scheint es, daß Frege von Anfang an im Begriff war, den Titel „reine Logik“ fr ein grçßeres Gebiet zu gebrauchen, als es Kant fr berechtigt halten konnte. Wie wir sehen werden, ignorierte Frege die charakteristischen Eigenschaften, die, in Kants Augen, die Reinheit der syllogistischen und formalen Logik ausmachen. Was Kants Beschreibung der formalen Logik angeht, so entspricht sie sehr gut den wesentlichen Grundzgen der Syllogistik. Die syllogistische Logik (der aristotelischen Tradition) betrachtet nmlich deduktive Argumente (das heißt Syllogismen), indem sie Regeln fr Schlsse angibt, die gltig sind kraft der logischen Form der Urteile, aus denen die Schlsse bestehen. Indem sie die logische Form betrachtet, abstrahiert sie sowohl vom anschaulichen als auch vom begrifflichen Inhalt der Urteile und beachtet nur den propositionalen Gebrauch von Begriffen. Die logische Materie eines Urteils, das heißt dessen begrifflicher Inhalt, besteht dabei aus denjenigen Urteilskomponenten, fr die in einer syllogistischen Formel schematische Buchstaben (a, b, c etc.) gebraucht werden. Diese Buchstaben sind Platzhalter fr Begriffswçrter (genauer fr generelle Termini) in kategorischen Urteilen. Grundstzlich gebraucht die traditionelle Syllogistik schematische Buchstaben nur als Platzhalter fr generelle Termini. Kants Beschreibung des „logischen Verstandesgebrauchs berhaupt“ (usus logicus intellectus) als eines Gebrauchs von Begriffen in Urteilen12 kann interpretiert werden als allgemeine Beschreibung dessen, womit es die Syllogistik zu tun hat. Nach Kant ist ein Begriff (als conceptus communis) nichts anderes als ein (logisches) „Prdikat mçglicher Urteile“. Als solches ist es imstande, auch als logisches Subjekt anderer Urteile aufzutreten. Daher hat es nicht die Form eines grammatischen Prdikats (,( ) ist ein a‘); vielmehr ist ein logisches Prdikat dasjenige, wofr a, b, c oder ein anderer schematischer Buchstabe in einer syllogistischen Formel steht. Formale Logik, wie Kant sie definiert, als reine Logik des „allgemeinen Verstandesgebrauchs“13 fllt daher im wesentlichen mit syllogistischer Logik zusammen. Sie abstrahiert, in derselben Weise wie die Syllogistik, 12 KrV A 67–69, B 92–94. 13 Ebenda A 52, B 76.
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von allem Inhalt der „Verstandeserkenntnis“14, und dies bedeutet: von aller „Beziehung“ der Erkenntnis „auf ihren Gegenstand“.15 Daraus ergibt sich, daß sie vollstndig außer Betracht lßt, was Frege „die logische Grundbeziehung“ genannt hat, also „das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff“.16 Diese Abstraktion ist genau das, was die Reinheit der formalen Logik nach Kants Ansicht ausmacht. Klarerweise sind dagegen die logischen Systeme von Boole und Frege nicht abstrakt in dieser Weise. Daher sind sie nicht rein in Kants Verstndnis des Wortes „rein“. Obwohl Frege berzeugt war, daß seine Begriffsschrift fhig ist, „Urteile des reinen Denkens“ auszudrcken,17 macht es sein Gebrauch von Funktionszeichen unvermeidlich, Beziehungen von Begriffen zu Gegenstnden auszudrcken. Da ein Funktionsbuchstabe, wie er von Frege gebraucht wird, ein unvollstndiges Zeichen ist, wenn nicht ein Argumentbuchstabe hinzugefgt wird, ist es eigentlich systematisch unmçglich, die mathematische Sprache „fr das umfassendere Gebiet des reinen Denkens berhaupt nutzbar zu machen“.18 Argumentbuchstaben bezeichnen ja Gegenstnde in genau derselben Weise wie Buchstaben, die in der Algebra fr numerische Variablen gebraucht werden. Sie bezeichnen keine Begriffe. Nach Kant bezeichnet ein algebraischer Buchstabe, der eine Zahl, ein Liniensegment oder irgendein anderes mathematisches Objekt bezeichnet, ohne diesen Gegenstand nher zu bestimmen, zwar nicht unmittelbar einen Gegenstand empirischer oder reiner Anschauung, aber er bezeichnet einen Gegenstand der „Anschauung berhaupt“. So hat nach Kant eine algebraische Gleichung der Form x = x, die Frege als ein „Urteil des reinen Denkens“ klassifi14 Ebenda A 54, B 78. 15 Ebenda A 58, B 83. Vgl. das Zitat aus Kants Logik § 2 in Anm. 1. 16 Kants Annahme, daß die reine Logik eine Wissenschaft des reinen Denkens sei, bedeutet nicht, daß es ein reines Denken ohne eine Beziehung auf Gegenstnde gbe. Nach Kant gehçrt nicht nur Denken, sondern auch Anschauung zum Inhalt von Urteilen. Reine Logik ist nur mçglich, weil es mçglich ist, vom anschaulichen Inhalt von Urteilen zu abstrahieren. Dadurch daß Kant die logische Form von Urteilen als „objektive Einheit der Apperzeption von Begriffen die in Urteilen enthalten sind“ (KrV, § 19, B 140) ansieht, trgt er dem Umstand Rechnung, daß die logischen Konstanten der Syllogistik (,jedes […] ist […]‘, ,irgendein […] ist […]‘, ,dieses […] ist […]‘) nicht nur Beziehungen zwischen Begriffen bezeichnen, sondern auch Beziehungen von Begriffen zu (mçglichen) Gegenstnden. 17 Frege, 1964 a, § 13. 18 Frege, 1964 a, § 1.
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ziert,19 durchaus anschaulichen Inhalt. Nur lßt sie es unbestimmt, welche Art von Anschauung es sein mag, fr die x ein Gegenstand sein mag. Kant definiert Anschauung als unmittelbare einzelne Vorstellung eines individuellen Gegenstandes.20 Er definiert Anschauung als etwas „Unmittelbares“, da singulre Urteile gleichfalls singulre Vorstellungen eines individuellen Gegenstandes sind, aber von Anschauungen sich eben dadurch unterscheiden, daß sie durch Begriffe vermittelte, daher nicht unmittelbare Vorstellungen sind. Insofern also der Buchstabe ,a‘ in ,F (a)‘ einen individuellen Gegenstand unmittelbar bezeichnet, bringt ,F (a)‘ kein reines Denken zum Ausdruck, sondern ein Denken, das mit Anschauung gleichsam vermischt ist. Folglich ist das, was Frege „die logische Grundbeziehung“ genannt hat, nicht eigentlich ein Gegenstand des reinen Denkens im Kantschen Sinne dieses Ausdrucks. Wie man sieht, gibt es also einen fundamentalen Unterschied zwischen einer Kantischen Urteilsform, d. h. einem Aussageschema, wie es in der Syllogistik betrachtet wird, und einem funktionalen Ausdruck, wie er in Freges System der mathematischen Logik vorkommt. Freges These von der Zurckfhrbarkeit aller Begriffsbeziehungen auf die Beziehung F (a) kann demnach nicht richtig sein. Es sei denn, man nimmt eine grundlegende nderung im Begriff der reinen Logik vor. III. Nun haben wir zu beachten, daß Frege sich offensichtlich der Tatsache bewußt war, daß man die mathematische Logik nicht als reine Logik ansehen kann, ohne den Begriff des begrifflichen Inhalts auf ganz neuartige Weise festzusetzen. In § 3 und § 9 seiner Begriffsschrift fhrt er explizit eine neue Erklrung dieses Begriffs ein, indem er sagt, daß „der begriffliche Inhalt“ eines Urteils als eine „Funktion dieses oder jenes Arguments“ aufgefaßt werden soll.21 Im Vorwort zu seiner Begriffsschrift 19 Siehe Frege, 1964 a, § 21 in Verbindung mit § 13. 20 Nach Kant sind nicht nur Anschauungen, sondern auch singulre Urteile singulre Vorstellungen von individuellen Gegenstnden, aber sie sind nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch Begriffe. 21 „Eine Unterscheidung von Subject und Prdicat findet bei meiner Darstellung eines Urteils nicht statt. Um dies zu rechtfertigen, bemerke ich, daß die Inhalte von zwei Urtheilen in doppelter Weise verschieden sein kçnnen: erstens so, daß die Folgerungen, die aus dem einen in Verbindung mit bestimmten anderen gezogen werden kçnnen, immer auch aus dem zweiten in Verbindung mit
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betont er, daß diese neue Erklrung relevant sei fr das richtige Verstndnis des „Wesens“ seiner Formelsprache, ja daß sich daraus sogar der Name „Begriffsschrift“ ergeben habe.22 In seinen spteren Schriften entwickelt Frege dann die Ansicht, daß Begriffe definitionsgemß nichts anderes sind als Funktionen. Auf diese Ansicht werde ich gleich nher zu sprechen kommen. Diese Ansicht impliziert, daß der begriffliche Inhalt eines Urteils die Beziehung eines Begriffs auf ein Objekt einschließt. Denn wenn Begriffe Funktionen sind und wenn Funktionszeichen ohne Argumentbuchstaben unvollstndige Ausdrcke sind, so muß jeder Begriffsausdruck vervollstndigt werden durch einen Ausdruck, der fr einen Gegenstand steht. Es ist daher eine Konsequenz von Freges Theorie des Begriffs, daß wir anzunehmen haben, die reine Logik habe Beziehungen von Begriffen auf Gegenstnde (nmlich „das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff“) in Betracht zu ziehen. Nun mçchte ich im folgenden prfen, ob es nur auf definitorischen Festlegungen beruht, daß wir mit Frege annehmen sollen, die reine Logik habe mit Funktionen zu tun, oder ob es noch andere Grnde gibt, Freges Ansicht fr wahr zu halten. Mit anderen Worten, ich mçchte fragen, warum wir eigentlich die syllogistische Ansicht aufgeben sollten, daß der begriffliche Inhalt von Urteilen ausschließlich aus Begriffen besteht, das heißt aus logischen Subjekten und logischen Prdikaten, wie sie durch schematische Buchstaben a, b, c etc. reprsentiert werden? Meine Antwort wird sein, daß es jedenfalls keine guten Grnde gibt, die syllogistische Ansicht aufzugeben. Nach Freges Definition23 ist ein Begriff darstellbar durch ein einstelliges Funktionszeichen, hat also die Form ,F ( )‘ und ist dasselbe wie eine monadische Aussagefunktion. Frege selbst benutzt die Wçrter „monadisch“ und „Aussagefunktion“ freilich nicht. Aber, nach seiner denselben andern Urtheilen folgen; zweitens so, daß dies nicht der Fall ist. Die beiden Stze: ,Bei Plataeae siegten die Griechen ber die Perser‘ und ,bei Plataeae wurden die Perser von den Griechen besiegt‘ unterscheiden sich in der ersteren Weise. Wenn man nun auch eine geringe Verschiedenheit des Sinnes erkennen kann, so ist doch die bereinstimmung berwiegend. Ich nenne nun denjenigen Teil des Inhaltes, der in beiden derselbe ist, den begrifflichen Inhalt.“ Frege, 1964 a, § 3, S. 3. „Fr uns haben die verschiedenen Weisen, wie derselbe begriffliche Inhalt als Function dieses oder jenes Arguments aufgefaßt werden kann, keine Wichtigkeit, solange Function und Argument vçllig bestimmt sind.“ Frege, 1964 a, § 9, S. 17. 22 Frege, 1964 a, S. X. 23 Siehe Frege, 1983 a, S. 133. Siehe auch Frege, 1990 b, S. 133.
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Definition ist ein Begriff eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. Fr eine solche Funktion mçchte ich den technischen Ausdruck Aussagefunktion einfhren.24 Da außerdem ein Begriff nach Freges Definition eine Funktion ist, die nicht mehr als ein Argument hat, drfen wir sagen, daß ein Begriff eine monadische Funktion ist. Als monadische Aussagefunktion ist ein Begriff genau dasjenige, was ein grammatisches Prdikat der Form ,( ) ist ein a‘, bedeutet (wobei a ein genereller Terminus ist und ein solcher Terminus eine mehr oder weniger komplexe Nominalphrase sein kann). Nach Freges Verstndnis des Wortes „Begriff“ ist ein Begriff nichts, wofr der Subjektterminus eines Urteils stehen kçnnte, und Begriffe unterscheiden sich von logischen Prdikaten und logischen Subjekten insofern, als sie nur durch einen unvollstndigen (synkategorematischen) Ausdruck bezeichnet werden kçnnen. Da ein grammatisches Prdikat der Form ,( ) ist ein a‘ ein vollstndiger Satz wird, der wahr oder falsch ist, genau dann, wenn wir ein grammatisches Subjekt zu ihm hinzufgen, kann ein Begriff nach Freges Auffassung als eine Funktion betrachtet werden, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist. Zum Beispiel bezeichnet das grammatische Prdikat ,( ) ist eine Quadratwurzel aus 4‘ einen Begriff und kann als Funktionsausdruck der Form ,F ( )‘ betrachtet werden. In diesem Beispiel bezeichnet also ,F ( )‘ eine monadische Funktion, weil in ihm nur ein einziges Argument vorkommt. Eben deshalb handelt es sich um einen Begriff in Freges Verstndnis dieses Wortes. Wohlgemerkt ist ein Ausdruck wie ,Quadratwurzel aus 4‘ kein Begriffsausdruck im Sinne Freges. Nichtsdestoweniger gebraucht Frege manchmal eine Sprechweise, nach der zum Beispiel ,22 = 4‘ bedeutet, die Zahl Zwei falle unter den Begriff Quadratwurzel aus 4. 25 Dies klingt, als ob der Begriff Quadratwurzel aus 4 durch den Ausdruck ,Quadratwurzel aus 4‘ bezeichnet werden kçnnte, oder als ob, allgemein gesprochen, ,a‘ in ,( ) ist ein a‘ einen Begriff bezeichnen wrde. Aber gerade das ist nach Freges Ansicht nicht der Fall. Manchmal benutzt Frege die Phrase „der Begriff F“, um dadurch zu bezeichnen, wofr das Funktionszeichen ,F ( )‘ steht.26 So schreibt er: „Ich brauche das Wort ,Begriff‘ in der Weise, daß ,a fllt unter den Begriff F‘ die allgemeine Form eines beurteilbaren In24 Der Name „propositional function“ wurde von Bertrand Russell eingefhrt, aber in etwas anderer Weise gebraucht, als es hier geschieht. 25 Vgl. Frege, 1983 b, S. 17 f. 26 Frege gebraucht ,F (x)‘ manchmal anstelle von ,F ( )‘; siehe zum Beispiel Frege, 1990 b, S. 128 f. und Frege, 1983 a, S. 131.
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halts ist, der von einem Gegenstande a handelt und der beurteilbar bleibt, was man auch fr a setze.“27 Frege scheint zu meinen, daß ein Satz der Form ,a fllt unter einen Begriff F‘ die logische Form habe ,F (a)‘ und daß ,F (a)‘ bersetzt werden drfe durch ,a ist ein F‘ 28 und daß das grammatische Prdikat ,( ) ist ein F‘ genauso wie der unvollstndige Ausdruck ,F ( )‘ 29 den Begriff bezeichnet, unter den a fllt, wenn der Satz wahr ist. Nun ist allerdings das Funktionszeichen ,F ( )‘ ein unvollstndiges und zugleich unteilbares Zeichen. Daher ist der Buchstabe F in ,a ist ein F‘ entweder bedeutungslos oder ersetzbar durch einen Terminus a, der fr ein logisches Prdikat steht. Ich mçchte deshalb vorschlagen, den Symbolismus zu verbessern, und fhre zu diesem Zweck eine Indexnotation ein, indem ich die Formel eines prdikativen Ausdrucks ,( ) ist ein a‘ durch den Funktionsausdruck ,Fa ( )‘ wiedergebe. Frege nennt Aussagefunktionen mit mehr als einem Argument „Beziehungen“. Bei mehr als zwei Argumenten spricht er von „Beziehungen“ mit n „Fundamenten“.30 Es besteht nun eine strenge Analogie zwischen Beziehungen und Begriffen nach Freges Ansicht. In hnlicher Weise wie ein einzelner Gegenstand unter einen Begriff fllt, so fllt ein geordnetes n-Tupel von Gegenstnden unter eine Beziehung mit n Fundamenten. Wie Begriffe, so sind auch Beziehungen wesentlich unvollstndig und „ungesttigt“, aber sie bedrfen mehr als eines Arguments, um vervollstndigt zu werden. Begriffe sind daher Grenzflle von Beziehungen. Das heißt, fr jede Beziehung (im Sinne Freges) gibt es immer einen Begriff, der aus ihr durch partielle Sttigung erzeugt werden kann.31 Zum Beispiel kann man die Beziehung, die dem Ausdruck ,( ) ist eine Quadratwurzel aus ( )‘ entspricht, in einen Begriff verwandeln dadurch, daß man die zweite leere Klammer durch den Namen eines einzelnen Gegenstandes oder durch eine gebundene Variable ersetzt. Allerdings ist eine Transformation in umgekehrter Richtung (das heißt eine Transformation von Begriffen in 27 Frege, 1961, § 74. 28 „Wenn ich sage ,Plato ist ein Mensch‘, lege ich nicht etwa dem Plato einen neuen Namen bei, nmlich den Namen ,Mensch‘, sondern ich sage, daß Plato unter den Begriff Mensch falle.“ Frege, 1983 d, S. 231. Vgl. das Beispiel, das Frege in Frege, 1990 b, S. 133 gebraucht. 29 Frege, 1983 a, S. 29. 30 Frege, 1961, § 70. 31 Siehe Frege, 1983 d, S. 259; Frege, 1961, § 70, S. 79: „Der Beziehungsbegriff gehçrt der reinen Logik an.“
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Beziehungen) nicht immer mçglich. Das heißt – und dies ist wichtig zu beachten – : jedes Urteil, insofern es eine gesttigte Aussagefunktion ist, kann so betrachtet werden, als habe es die Form einer gesttigten monadischen Funktion Fa ( ), das heißt, als habe es ein grammatisches Prdikat der Form ,( ) ist ein a‘. Soweit besteht eine vollstndige bereinstimmung zwischen Freges Ansichten und der syllogistischen Auffassung: Fr beide Standpunkte gilt, daß ein Teil jedes Urteils die Form hat ,( ) ist ein a‘. Die beiden Standpunkte stimmen allerdings in zwei Hinsichten nicht berein. Erstens ergibt sich aus Freges Definition des Begriffs, daß Frege das grammatische Prdikat von Urteilen mit einem Begriffsausdruck identifiziert, wohingegen (wie wir gesehen haben) vom syllogistischen Standpunkt her das grammatische Prdikat vom logischen Prdikat eines Urteils streng unterschieden werden muß. Zweitens mssen nach Frege die leeren Klammern im Ausdruck ,( ) ist ein a‘ durch einen Argumentbuchstaben oder durch eine gebundene Variable gefllt werden, wohingegen vom Standpunkt der Syllogistik her diese Leerstelle nur als Stelle des grammatischen Subjekts eines Urteils betrachtet werden muß. Dabei versteht die Syllogistik unter einem grammatischen Subjekt einen Ausdruck, der grundstzlich aus zwei Teilen bestehen kann, (i) aus einem generellen Terminus (a, b oder c), der fr das logische Subjekt des Urteils steht, und (ii) aus Wçrtern wie ,alle‘, ,irgendein‘, ,dieses‘ etc. oder aus einem bestimmten oder unbestimmten Artikel. (Diese Wçrter zhlt die Syllogistik allesamt zu den logischen Konstanten (d. h. zur logischen Form) des Urteils.) An dieser Stelle mssen wir die folgende Frage aufwerfen: Hat Freges Standpunkt irgendeinen Vorteil gegenber dem syllogistischen Standpunkt? Meine Antwort wird sein, daß das nicht der Fall ist. Was den ersten Punkt (nmlich Freges Definition des Begriffs als eines grammatischen Prdikats oder als ungesttigter monadischer Aussagefunktion) angeht, so lßt sich ber Definitionen sicherlich nicht streiten. Aber Frege war berzeugt, daß Begriffe als ungesttigte Funktionen betrachtet werden mssen, weil er meinte, wir bedrften der Idee der Ungesttigtheit von Funktionen, um die Einheit eines Urteils erklren zu kçnnen und um zu verhindern, daß man Stze als bloße Reihen von Wçrtern oder Namen betrachtet.32 Dies sieht aus, als habe Frege damit ein Argument fr seine Definition des Begriffs vorgebracht. Aber wenn es wirklich ein Argument gewesen sein sollte, so war es sicherlich kein gutes Argument. Denn auch die Copula eines Urteils – insbesondere jede der 32 Siehe: Frege, 1983 e, S. 193, und Frege, 1983 c, S. 207.
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vier logischen Konstanten A, E, I, O, die in einem syllogistischen Aussageschema vorkommen – darf als unvollstndiger („ungesttigter“) Ausdruck angesehen werden, der zwei Leerstellen hat, und zwar die eine fr das logische Subjekt, das andere fr das logische Prdikat des Urteils.33 Daraus ergibt sich, daß wenn wir wirklich der Sttigungsidee bedrfen, um die Einheit von Urteilen erklren zu kçnnen, Freges Idee der Ungesttigtheit von Begriffen schlicht berflssig ist.34 (brigens: Kants Auffassung von der Urteilseinheit als objektiver Einheit der Apperzeption scheint Frege nicht gekannt zu haben; jedenfalls hat er sich mit ihr anscheinend niemals auseinandergesetzt.) Was den zweiten Punkt betrifft, so nimmt Frege an, daß wir auf die Vorstellung verzichten sollten, das logische Subjekt eines Urteils sei ein Begriff, weil er annimmt, die Sttigung eines Begriffs komme durch ein Argument (oder durch einen Gegenstand) zustande, nicht durch ein logisches Subjekt des Typs a, b, c.35 Nach Freges Ansicht steht in einem Ausdruck fr eine monadische Aussagefunktion (zum Beispiel der Form ,Fa (a)‘) der Argumentbuchstabe (hier der Buchstabe ,a‘) fr einen Einzelnamen, d. h. fr einen Eigennamen oder einen singulren Terminus, nicht fr einen generellen Terminus. Dies ist letztlich der Grund dafr, daß Frege annimmt, eine monadische Aussagefunktion (zum Beispiel ,F (a)‘) enthalte keine Beziehung zwischen Begriffen, das heißt keine Beziehung zwischen einem logischen Subjekt und einem logischen Prdikat, sondern nur eine Beziehung eines Begriffs auf einen Gegenstand. Aber fr diese (in der modernen logischen Semantik so gut wie allgemein akzeptierte) Auffassung gibt es nach meiner Ansicht berhaupt keinen zwingenden Grund, ja sie beruht sogar auf einer Tuschung. Diesen Gedanken mçchte ich zum Schluß nher begrnden. 33 Jonathan Barnes hat diesen Einwand gegen Freges Argument ausfhrlicher diskutiert. Siehe Barnes, 1996, S. 175–219. „Aristotelian syllogistic concerned itself exclusively with monadic predicates. Hence it could not begin to investigate multiple quantification. And that is why it never got very far. None the less, the underlying grammar of Aristotle’s logic did not in itself block the path to polyadicity.“ Ebd., S. 201. 34 Ich lasse hier den Umstand außer Betracht, daß Kant im Abschnitt ber die transzendentale Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft eine Erklrung fr die Einheit von Urteilen gegeben hat, die immun ist gegen den Einwand, dem Freges Erklrung ausgesetzt ist, und die außerdem den Vorteil hat, ohne Metaphern auszukommen. 35 Allerdings scheint mir Frege keinen deutlichen Unterschied zwischen grammatischem und logischem Subjekt zu machen. Siehe Frege, 1990 b, S. 134; Frege, 1983 d, S. 246, S. 263 und S. 230; Frege, 1983 b, S. 19–20.
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Wenn wir den Ausdruck fr eine monadische Aussagefunktion ,F (a)‘ bersetzen durch die Formel ,a ist ein a‘, so fllt der Argumentbuchstabe ,a‘ die Stelle des grammatischen Subjekts aus. Wenn wir annehmen, daß ,a‘ fr einen Eigennamen oder fr einen singulren Terminus steht, so mag das grammatische Subjekt ,a‘ ein einfacher Name oder ein zusammengesetzter Ausdruck sein. Allerdings mssen wir beachten, daß einfache Wçrter wie ,dies‘ oder ,zwei‘ oder ,Caesar‘ fr sich genommen gar keine bestimmte, unzweideutige Bedeutung haben, daß sie vielmehr eines unzweideutigen Kontexts bedrfen, der bewirkt, daß sie sich eindeutig auf einen bestimmten einzelnen Gegenstand beziehen. Wenn wir daher Wçrter wie ,dies‘ oder ,zwei‘ oder ,Caesar‘ innerhalb eines Kontexts gebrauchen, der nicht hinreichend eindeutig ist, so wird es immer sinnvoll sein zu fragen: Welcher Gegenstand bzw. welche Person ist denn gemeint? – Meinst Du mit ,dies‘ vielleicht diesen oder jenen Gegenstand? Meinst Du mit der ,Zwei‘ eine Straßenbahn der Linie 2 oder die gerade Primzahl? Meinst Du mit ,Caesar‘ einen dieser Imperatoren oder den Hund aus dem Nachbarhaus?36 Und so weiter. – Vom logischen Standpunkt her ist jeder einfache Eigenname ,a‘, sofern er sich eindeutig auf einen einzelnen Gegenstand bezieht, wesentlich eine Abkrzung fr einen zusammengesetzten Ausdruck. Denn er bedeutet streng genommen immer genau dasselbe wie der zusammengesetzte Ausdruck ,der in Rede stehende Trger des Eigennamens a‘. Daher kann jeder einfache Eigenname auf einen Standardausdruck zurckgefhrt werden, der aus zwei Teilen besteht, nmlich: aus einem bestimmten Artikel (oder aus einem Demonstrativpronomen) und einem generellen Terminus der Form ,Trger des Eigennamens a, von dem gerade die Rede ist‘. Frege selbst gebraucht das Wort Eigenname in der Weise, daß es einen singuren Terminus bedeutet, der ein zusammengesetzter Ausdruck ist, bestehend aus einem bestimmten Artikel (oder einem Demonstrativpronomen) und einem „Begriffswort“. Es ist bemerkenswert, daß Frege, in diesem Kontext, mit dem Terminus Begriffswort offensichtlich einen generellen Terminus und keinen Funktionsausdruck meint.37 Wenn wir die bestimmte 36 Der Umstand, daß Herrscher oft benannt werden durch Ordnungszahlen (, … der Erste‘, , … der Zweite‘ usw.) ist einer der Belege dafr, daß Eigennamen nicht strikt unterscheidbar sind von generellen Termini. 37 „Die Sprache bildet mit dem bestimmten Artikel oder dem Demonstrativpronomen aus Begriffswçrtern Eigennamen. […] Damit eine solche Bildung eines Eigennamens rechtmßig sei, muß der Begriff, dessen Bezeichnung dabei gebraucht wird, zwei Bedingungen gengen: / 1. Er darf nicht leer sein, / 2. es darf nur ein einziger Gegenstand unter ihn fallen.“ Frege, 1983 e, S. 193. Frege weist
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Bedeutung eines Eigennamens explizit machen durch den Gebrauch der Kennzeichnung ,Trger des Eigennamens a, von dem gerade die Rede ist‘, so kann diese Kennzeichnung offensichtlich weiter zurckgefhrt werden auf die Form ,der, die oder das b*, von dem gerade die Rede ist‘, wobei ,b*‘ als Abkrzung des generellen Terminus ,Trger des Einzelnamens a‘ betrachtet werden muß. Jetzt erkennen wir, daß jedes Urteil der Form ,F (a)‘ (oder der Form ,a ist ein a‘) gleichbedeutend ist mit dem Ausdruck ,der, die oder das in Rede stehende b* ist ein a‘. Und diese Form ist wiederum nur eine Spezialisierung der allgemeinen logischen Form ,Das in Rede stehende b ist ein a‘. Innerhalb der Syllogistik kann genau dieser Ausdruck betrachtet werden als die Standardform eines singulren affirmativen kategorischen Urteils.38 Fr diese Form gebrauche ich die Formel ,A* (a, b)‘. Jetzt hat sich also ergeben, daß eine Aussagefunktion der Form ,F(a)‘ immer betrachtet werden darf als ein singulres Urteil und daß ein singulres Urteil dieser Form eine Beziehung zwischen Begriffen ist, jedenfalls dann, wenn wir unter Begriff nichts anderes als die Bedeutung eines generellen Terminus verstehen, wie es in der Syllogistik stets blich gewesen ist. So scheint es, daß Frege nicht im Recht war, wenn er behauptet hat, daß alle Beziehungen zwischen Begriffen zurckgefhrt werden kçnnen auf das Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff. Vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall. Um es noch einmal allgemein zu sagen: Was Frege „die logische Grundbeziehung“ genannt hat (das „Fallen eines Gegenstandes unter einen Begriff“) kann grundstzlich immer zurckgefhrt werden auf eine Beziehung zwischen Begriffen. Um dies einzusehen, brauchen wir nichts auf den Umstand hin, daß Eigennamen und Begriffswçrter nicht scharf voneinander unterschieden werden kçnnen: „[…] dasselbe Wort dient zur Bezeichnung eines Begriffes und eines einzelnen unter diesen fallenden Gegenstand […];“ „der Unterschied zwischen Begriff und Einzelnem“ ist nicht „ausgeprgt.“ (Frege, 1964 c, S. 108) So „ist in der Sprache die Schrfe des Unterschiedes [zwischen Eigennamen und Begriffswçrtern] etwas verwischt, indem ursprngliche Eigennamen (z. B. ,Mond‘) Begriffswçrter und ursprngliche Begriffswçrter (z. B. ,Gott‘) Eigennamen werden kçnnen.“ (Frege, 1990 a, S. 405) – Es ist bemerkenswert, daß Frege in diesen Zitaten mit dem Wort Begriff niemals eine Aussagefunktion gemß seiner eigenen Definition des Begriffs meint. Offensichtlich folgt er hier dem traditionellen syllogistischen Sprachgebrauch. 38 Nebenbei bemerkt, erkennen wir hier, daß die Existenz dessen, was man einen singulren Terminus nennt, davon abhngt, daß es die logische Form singulrer Urteile gibt. Singulre Termini drfen aufgefaßt werden als grammatische Subjekte singulrer Urteile.
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weiter, als daß wir Freges willkrliche Festsetzung aufgeben, Begriffe seien Funktionen. Freges Meinung, daß die reine Logik mit Beziehungen von Begriffen auf Gegenstnden zu tun habe, beruht lediglich auf einer Definition, die wir nicht zu akzeptieren brauchen, und sie beruht auf Argumenten, die nicht berzeugend sind. Literatur Barnes, Jonathan, 1996, Grammar on Aristotle’s Terms, in: M. Frede & G. Striker, Rationality in Greek Thought, Oxford. Boole, George, 1854, An Investigation of the Laws of Thought on which are Founded the Mathematical Theories of Logic and Probabilities, London. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft [zitiert mit KrV unter Angabe der Seitenzahl der zweiten Auflage „B“], in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. [zitiert mit „AA“ unter Angabe des Bandes], Bd. III. Kant, Immanuel, Logik (Jsche), in: AA IX. Kenny, Antony, 1995, Artikel „Frege, Gottlob“, in: The Oxford Companion to Philosophy, Oxford. Frege, Gottlob, 1961, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung ber den Begriff der Zahl (1884), Darmstadt. Frege, Gottlob, 1964 a, Begriffsschrift, in: Begriffsschrift und andere Aufstze. 2. Auflage mit E. Husserls und H. Scholz’ Anmerkungen hrsg. von I. Angelelli, Darmstadt, V–88. Frege, Gottlob, 1964 b, ber den Zweck der Begriffsschrift, in: Begriffsschrift und andere Aufstze. 2. Auflage mit E. Husserls und H. Scholz’ Anmerkungen hrsg. von I. Angelelli, Darmstadt, 97–105. Frege, Gottlob, 1964 c, ber die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift, in: Begriffsschrift und andere Aufstze. 2. Auflage mit E. Husserls und H. Scholz’ Anmerkungen hrsg. von I. Angelelli, Darmstadt, 106–114. Frege, Gottlob, 1983 a, Ausfhrungen ber Sinn und Bedeutung (1892–1895), in: Nachgelassene Schriften und wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. v. Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg, 128–136. Frege, Gottlob, 1983 b, Booles rechnende Logik und die Begriffsschrift (1880/81), in: Nachgelassene Schriften und wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. v. Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg, 1–52. Frege, Gottlob, 1983 c, Einleitung in die Logik, in: Nachgelassene Schriften und wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. v. Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg, 201–212. Frege, Gottlob, 1983 d, Logik in der Mathematik, in: Nachgelassene Schriften und wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. v. Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg, 219–270.
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Michael Wolff
Frege, Gottlob, 1983 e, ber Schoenflies. Die logischen Paradoxien der Mengenlehre (1906), in: Nachgelassene Schriften und wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. v. Hans Hermes, Friedrich Kambartel u. Friedrich Kaulbach, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg, 191–199. Frege, Gottlob, 1990 a, Brief an Heinrich Liebmann vom 25. August 1900, in: Kleine Schriften, 2. Aufl., Hildesheim, 404–406. Frege, Gottlob, 1990 b, Funktion und Begriff (1891), in: Kleine Schriften, 2. Aufl., Hildesheim, 125–142. Frege, Gottlob, 1990 c, ber die Begriffsschrift des Herrn Peano und meine eigene (1896), in: Kleine Schriften, 2. Aufl., Hildesheim, 220–233.
Metaphysik und Metaphysikkritik in Kants Transzendentalphilosophie Robert Schnepf I. Probleme der Kantinterpretation und die Frage nach der Metaphysik Welche Rolle man die Philosophie Kants in der gegenwrtigen und zuknftigen Philosophie spielen lßt, hngt nicht zuletzt davon ab, wie man Kants Verhltnis zur tradierten Metaphysik einschtzt – und was man selbst von dieser Disziplin hlt. Dabei herrscht weder Einigkeit darber, wie es Kant mit der Metaphysik gehalten habe, noch wie man ihre Aussichten heute einzuschtzen habe. Zum einen sind die Interpreten schon seit dem Erscheinen der kritischen Schriften Kants uneins darber, ob Kant als „Alleszermalmer“ in Sachen Metaphysik aufzufassen sei, oder aber ganz im Gegenteil als ihr Neubegrnder. Zum anderen sind sie selbst in diesem Streit darber uneinig, was man unter „Metaphysik“ genau zu verstehen habe und wie die Aussichten eines wie auch immer gearteten Metaphysikprogramms zu beurteilen sind. Die Perspektiven eines Metaphysikprogramms, das die Frage nach den Dingen jenseits des empirisch Gegebenen in den Mittelpunkt rckt (und etwa die Gottesfrage verfolgt), sind nmlich gnzlich andere als die einer Metaphysik, die nach den allgemeinsten Charakteristika der Gegenstnde berhaupt fragt. Das letztere Programm bleibt auch dann sinnvoll, wenn man nicht von der Existenz und der Erkennbarkeit empirisch nicht gegebener Gegenstnde ausgeht bzw. diese Frage zunchst unentschieden lßt. Allerdings ist auch ein solches Programm auf die ebenfalls umstrittene These verpflichtet, daß es allgemeinste und invariante Charakteristika der Gegenstnde gibt – wenn nicht der Gegenstnde berhaupt, so doch wenigstens der Gegenstnde, die uns in Raum und Zeit gegeben sind und die Gegenstand berechtigter Erkenntnisansprche werden kçnnen. Diese Annahme kann dann bestritten werden, wenn man auf der Basis eines Pragmatismus die These aufgibt, die Wahrheit einer Behauptung oder eines Satzes sei eine Eigenschaft, die ihr invariant zukomme, oder wenn man die wechselhafte Geschichte der Naturwissenschaften zum Anlaß nimmt, von Wahrheit
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nur noch relativ auf wechselnde Paradigmen zu sprechen. Die Frage nach der Rolle von Kants theoretischer Philosophie scheint sich daher auf die Frage zu konzentrieren, ob seine Destruktion vermeintlich oder tatschlich hybrider Erkenntnisansprche der vorkantischen Metaphysik zureichend ist, und ob sein verbleibendes Programm einer Transzendentalphilosophie nicht seinerseits immer noch mit unerfllbaren Ansprchen verbunden ist. In Anlehnung an die tradierte Terminologie des 17. und 18. Jahrhunderts ist es vielleicht hilfreich, diejenigen Programme, die in irgendeinem Sinn nach allgemeinsten invarianten Charakteristika der Gegenstnde fragen, unter dem Titel „Ontologie“ zu subsumieren, und die unspezifizierte Redeweise von „Metaphysik“ fr solche Programme zu reservieren, die eher Erkenntnis von bersinnlichem beanspruchen. Der Name „Ontologie“ wurde ursprnglich nmlich als abkrzender Neologismus fr die „allgemeine Metaphysik“ eingefhrt, die im Unterschied zu und systematisch vor der „speziellen Metaphysik“ nicht besonderes Seiendes (wie etwa Gott) zum Gegenstand hat, sondern eben das Seiende im Allgemeinen, insofern es Seiendes ist.1 Dieser Sinn von „Ontologie“ ist in der jngeren Philosophiegeschichte abhanden gekommen, und viele Projekte, die unter dem Titel „Metaphysik“ bekannt sind, verdienten als Nachfolgeprogramme einer solchen „Ontologie“ verstanden zu werden.2 Das gilt auch fr Peter Strawsons „deskriptive Metaphysik“, in der es ja gerade nicht um die Erkenntnis eines bersinnlichen geht, sondern um allgemeinste invariante Zge unserer Erkenntnis von raum-zeitlichen Gegenstnden. Die Invarianz wie die Allgemeingltigkeit solcher Charakteristika soll dabei durch Argumente (oder Beweise) eigenen Typs nachgewiesen werden, nmlich durch transzendentale Argumente. Transzendentale Untersuchungen, so Strawson, analysierten die begriffliche Struktur, die in jeder empirischen Untersuchung vorausgesetzt werden msse. Weil etwa die Bedingungen der identifizierenden Bezugnahme auf Gegenstnde in Raum und Zeit bei aller empirischen Forschung vorausgesetzt werden mßten, bçten sie allgemeine und invariante Charakteristika aller Dinge, die berhaupt Gegenstand empirischer For1 2
Vgl. zum Hintergrund Zimmermann, 1965, und Honnefelder, 1990. „Ontologie“ hat es, so verstanden, nicht mit der Frage zu tun, was es gibt. Im Gegenteil kann man sie als von Existenzannahmen weitgehend befreite rekonstruieren. Fulda, 1988 u. 1997, hat seine Interpretation der Kantischen Transzendentalphilosophie vor diesem begrifflichen Hintergrund orientiert – und ist dabei auch zu einer Einschtzung neuerer Ontologiekonzeptionen von Heidegger und Quine gelangt.
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schung werden kçnnen. In vager Weise kann Strawson mit seiner Rede von „transzendentalen Argumenten“ zumindest scheinbar an Kants Programm einer revidierten Theorie allgemeinster Charakteristika von Gegenstnden der Erfahrung anknpfen. Strawsons eigene systematische Beitrge zu einer Metaphysik gehen entsprechend mit seiner Kant-Interpretation Hand in Hand.3 Die genaue Struktur solcher transzendentalen Argumente und die mit ihnen verbundenen Voraussetzungen sind allerdings kaum hinlnglich aufgeklrt, und es ist gar nicht offensichtlich, ob mit ihrer Hilfe die Skepsis gegen die Annahme invarianter begrifflicher Strukturen erfolgreich zurckgewiesen werden kann. So hat Richard Rorty ausfhrlich dafr argumentiert, die Mçglichkeit transzendentaler Argumentationen hnge davon ab, daß man erfolgreich zwischen invarianter Form (conceptual scheme) und Inhalt des Begreifens unterscheiden kçnne; daß die interne Kohrenz eines Schemas Legitimation deshalb nicht gewhrleiste, weil ein korrespondenztheoretischer Wahrheitsbegriff vorausgesetzt werde; daß das Begriffschema im Vergleich zum begriffenen Inhalt uns als epistemischen Subjekten besser bekannt sei; und daß die notwendige Legitimation des Schemas letztlich nur dadurch erreicht werde, daß das epistemische Subjekt sich den Inhalt erschaffe oder konstituiere.4 Nun attackiert Rorty im Rckgriff auf Darwin, Dewey und Davidson sowohl die Annahme, daß einem epistemischen Subjekt seine eigene Subjektivitt und damit das in ihr grndende Begriffschema besser bekannt sei als der Inhalt, als auch – grundlegender noch – die These, Form und Inhalt kçnnten unterschieden werden. Die Aufgabe transzendentaler Argumente luft nach diesen Einwnden darauf hinaus, die Alternativlosigkeit eines Begriffschemas darzutun. Genau das kçnnten sie aber nicht leisten, denn es kçnne nur von jeweils alternativ vorgeschlagenen Begriffschemata gezeigt werden, daß sie nicht funktionierten, woraus aber nur folge, daß unsere Erfindungsgabe gegenwrtig nicht hinreiche, ein anderes funktionierendes zu ersinnen. Die Konsequenz daraus besteht fr Rorty darin, mit der Idee eines alternativlosen Begriffschemas auch die Idee der Wahrheit als Korrespondenz aufzugeben und durch einen pragmatischen Wahrheitsbegriff zu ersetzen: Es sei schlicht „witzlos“, von der besten funktionierenden Theorie zu fragen, ob sie denn wahr sei (denn mehr, als 3 4
Vgl. Strawson, 1959 u. 1966 – ausfhrlich dargestellt und analysiert findet sich die anschließende Debatte beispielsweise bei Niquet, 1991. Vgl. hierzu und zum Folgenden Rorty, 1979. Rorty sttzt sich bei seinen Analysen auf Bubner, 1982.
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daß sie die bis jetzt beste funktionierende Theorie sei, lasse sich eben nicht zeigen, und ließe es sich zeigen, wre nur gezeigt, daß sie nicht die beste funktionierende Theorie sei).5 Aus der Attacke gegen den privilegierten epistemischen Zugang des Subjekts zu sich selbst und gegen die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt ist so ein Argument geworden, transzendentale Argumente und die mit ihnen verbundene Annahme invarianter und allgemeinster Charakteristika der Dinge berhaupt (oder auch nur der Erfahrung) zurckzuweisen. Dieser Argumentation fllt – so sie tragfhig ist – auch jede Transzendentalphilosophie zum Opfer.6 Doch ist der status quaestionis alles andere als klar. So ist offen, wie sich solche transzendentalen Argumente, die notwendige Bedingungen von empirischer Erkenntnis oder aber die Alternativlosigkeit eines kategorialen Begriffschemas ausweisen sollen, tatschlich zum Kantischen Projekt einer Transzendentalphilosophie verhalten. Denn das Eigentmliche des Kantischen Begriffs der Transzendentalphilosophie besteht darin, daß sie „nur den Verstand, und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundstze [betrachtet], die sich auf Gegenstnde berhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wren (Ontologia)“ (B 873).7 Statt sich also auf gegebene Gegenstnde zu beziehen und nach dem begrifflichen Rahmen zu fragen, der dabei vorausgesetzt werden muß, soll Transzendentalphilosophie in gewissem Sinn auf Begriffe von Gegenstnden berhaupt gehen, und zwar so, daß ihr erster Untersuchungsgegenstand gar nicht diese Begriffe selbst sind, sondern der Verstand bzw. die Vernunft „in“ ihnen. Dann kann aber die primre Argumentationsweise innerhalb der Transzendentalphilosophie gar nicht darin bestehen, empirische Gegenstnde als gegeben vorauszusetzen und nach den Bedingungen der Mçglichkeit ihrer Erkenntnis zu 5 6
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Vgl. Rorty, 1995. Gegen Rortys Argumente hat Bubner, 1984, transzendentale Argumente zu entwickeln versucht, und dabei die m. E. durchschlagenden Einwnde von Baumgartner, 1984, und Geuss, 1984, auf sich gezogen, die auf den komplexen Aufbau der Kritik der reinen Vernunft hingewiesen haben. Insbesondere Baumgartner verweist auf den zentralen Status der „Metaphysischen Deduktion“ in der Kritik der reinen Vernunft, die sich nicht in das Konzept einer „transzendentalen Argumentation“ einfgen lasse. Vgl. hierzu Cramer, 2001, S. 200 ff. Eine ausfhrliche und bisher vielleicht zu wenig bercksichtigte Interpretation des Kantischen Unternehmens bietet Picht, 1985, S. 146 ff. und S. 549 ff., der sehr genau den Bezug auf die tradierte Ontologie und die internen Schwierigkeiten der Kantischen Architektonik herausarbeitet.
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fragen. Das angestrebte System der Begriffe von Gegenstnden berhaupt scheint sich bei Kant also nicht dem Typ von Argumentation zu verdanken, der heute gerne als „transzendental“ analysiert wird. Vielmehr wird man – um ein vollstndiges Bild der Kantischen Transzendentalphilosophie zu erhalten – Theorieteile und Argumentationen unterstellen mssen, die nicht als „transzendentale Argumente“ im bisher diskutierten Sinn zu rekonstruieren sind. So kennt Kant in der Kritik der reinen Vernunft (um nur einige Beispiele zu nennen) neben der „transzendentalen Deduktion“ auch eine „metaphysische Deduktion“ und neben der „transzendentalen Erçrterung“ von Raum und Zeit auch deren „metaphysische“. Diese anderen Argumentationsschritte und Theorieteile mçgen helfen, die Annahme invarianter und allgemeinster (d. i. alternativloser) Charakteristika von Gegenstnden berhaupt wenigstens plausibel zu machen. Doch droht sich ein derartiges Insistieren auf den eigentmlichen Zgen der Kantischen Transzendentalphilosophie gerade auf solche Argumentationen zu versteifen, an die sich gegenwrtig nur schlecht anknpfen lßt. Kants mentalistisches Vokabular und seine Konzeption einer Transzendentalen Logik bieten Anlaß, zunchst mit Rorty skeptisch zu sein. Nun hat Kant seinen Begriff einer „transzendentalen Erkenntnis“ an prominenter Stelle expliziert, zu allem berfluß auch noch in den zwei unterschiedlichen Fassungen der beiden ersten Auflagen der Kritik der reinen Vernunft: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenstnden, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenstnden berhaupt beschftigt. Ein System solcher Begriffe wrde Transzendental-Philosophie heißen (A 12) Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenstnden, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenstnden, so fern diese a priori mçglich sein soll, berhaupt beschftigt. Ein System solcher Begriffe wrde Transzendental-Philosophie heißen (B 25)
Auf den ersten Blick werfen beide Explikationen mehr Fragen auf, als sie beantworten – insbesondere vor dem Hintergrund der Frage nach den systematischen Aussichten von Kants Transzendentalphilosophie heute. So muß irritieren, daß beide Formulierungen in den Punkten, die bis jetzt entscheidend zu sein scheinen, unterschiedliche oder zumindest unklare Ausknfte geben. Denn zum einen wird lediglich in der ersten Fassung zum Ausdruck gebracht, daß die Transzendentalphilosophie sich (in bereinstimmung mit der bereits zitierten Passage B 873) mit Begriffen von Gegenstnden berhaupt beschftige, whrend in der spte-
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ren Fassung durch den unklaren Bezug von „solcher Begriffe“ dieser Punkt undeutlich zu sein scheint; zum anderen wird erst in der spteren Fassung deutlich, daß sich transzendentale Erkenntnis mit unserer Erkenntnisart beschftigen soll, sofern sie a priori mçglich ist, und nicht lediglich mit Begriffen und Grundstzen (wie in der ersten Fassung), wodurch allerdings gerade der Bezug auf Verstandes- und Vernunfthandlungen (also auf problematische mentale Handlungen) in den Vordergrund rckt. Alle diese Unklarheiten betreffen also Punkte, in denen sich ein systematisches Philosophieren in den Bahnen von Strawson den Kantischen Vorgaben berlegen und gleichwohl nach den Argumentationen von Rorty immer noch wehrlos ausnehmen mag. Doch bieten diese anfnglichen Unklarheiten allererst den Ausgangspunkt fr die Arbeit des Interpreten. Denn die Schwierigkeiten, die beide Fassungen aufwerfen (und die noch lngst nicht alle registriert sind) lassen sich als Indikatoren der systematischen Schwierigkeiten nehmen, an denen Kant angesichts der ihm vorliegenden Tradition metaphysischen Denkens seinen Ansatz zu entwickeln hatte. Sie bieten aber zugleich auch Indikatoren fr die Schwierigkeiten, die es heute bereiten mag, Kants Programm einer Transzendentalphilosophie unbesehen plausibel zu finden. Die Probleme, mit denen sich Kant abgeplagt hat, mçgen nmlich gar nicht so verschieden sein von denen, die uns plagen. In den beiden zitierten Explikationen von „transzendentaler Erkenntnis“ treffen Kants berlegungen zu den Aussichten von Metaphysik und Metaphysikkritik wie die Strahlen im Brennpunkt zusammen. Seinen Argumenten wird man deshalb am ehesten auf die Spur kommen, wenn man die Probleme der unterschiedlichen Explikationen des Ausdrucks „Transzendentalphilosophie“ zunchst registriert (2.), dann das Programm und den methodischen Ansatz der tradierten „vorkritischen“ Metaphysik wenigstens im Umriß erinnert (3.), um schließlich, ausgehend von Kants frhen methodischen Einwnden gegen diese Methode, seine Explikationen des Begriff „Transzendentalphilosophie“ durchsichtig zu machen und die zuvor herausgearbeiteten Probleme aufzulçsen (4.). Dies wird insbesondere dann gelingen, wenn sich aus diesen Explikationen einzelne Zge des weiteren Aufbaus der Kritik der reinen Vernunft plausibel machen lassen (5.). Die Kernfrage, die alle diese berlegungen verbindet, lautet: Was spricht eigentlich dafr, gegen Rorty an einer Theorie von Gegenstnden berhaupt festzuhalten (und nicht nur – gegen Strawson – an einer Theorie allgemeinster Charakteristika von Gegenstnden empirischer Forschung)? Ich mçchte also, ausgehend von einigen eher philologischen Beobachtungen, ergnzt durch einige pro-
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blemgeschichtliche Erwgungen, einen bestimmten Punkt in Kants Konzeption der Transzendentalphilosophie herausheben, von dem mit guten Grnden noch heute eine gewisse Provokation in systematischen Fragen ausgeht. II. Von Interpretationsproblemen zu Sachfragen Kants zitierte Explikationen des Begriffs der Transzendentalphilosophie sind vor allem, aber nicht nur, aufgrund grammatischer Eigenheiten notorisch umstritten.8 Durch den grçßten zusammenhngenden Bestandteil dieser Begriffsbestimmung, der im bergang von der ersten zur zweiten Auflage unverndert bleibt, lassen sich jedoch zu Beginn der Interpretationsbemhungen einige Lesarten ausschließen, die gleichwohl weit verbreitet sind: Transzendentalphilosophie wird nicht als eine Unternehmung eingefhrt, deren erstes und bestimmendes Ziel eine Untersuchung der Erkenntnisvermçgen wre.9 Gegen eine solche Lesart, die Metaphysik durch Erkenntnistheorie als erste Philosophie ersetzen will, spricht die konstante Redeweise von „Gegenstnden“ und ihren Begriffen. Entsprechend kann es sich bei einer Transzendentalphilosophie im Verstndnis Kants auch nicht um ein Unternehmen handeln, das durch den Verweis auf die Frage, wie synthetische Urteile a priori mçglich sind, vollstndig durchsichtig wird. „Transzendentalphilosophie“ wird nmlich ausschließlich ein „System solcher Begriffe“ genannt – wobei allerdings
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Vgl. zur Problembersicht Pinder, 1986, der zugleich einen der differenziertesten Interpretationsanstze entwickelt. Bereits Vaihinger scheint zu resignieren, wenn er schreibt: „Es ist unmçglich, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen bei Kants terminologischer Lizenz und sachlicher Unklarheit.“ (Vaihinger, 1881, S. 474). Dagegen spricht auch nicht die viel zitierte Stelle der Prolegomena, A 71: „Das Wort transzendental aber, welches bei mir niemals eine Beziehung auf Dinge, sondern nur auf das Erkenntnisvermçgen meint, […]“ Das Wçrtchen „nur“ signalisiert hier nmlich nicht, daß die Bedeutung des Ausdrucks „transzendental“ erschçpfend expliziert wre, sondern den durch den Bezug auf die Erkenntnisvermçgen modifizierten und reduzierten Erkenntnisanspruch im Vergleich zu einer Theorie, die vorgibt, Dinge an sich zu erkennen. Kant hebt hier lediglich einen Aspekt seines Begriffs in polemischer Absicht hervor. So gelesen lßt sich diese Passage nicht im Sinne von Fçrster, 1988, nutzen, einen regelrechten Konzeptionswandel Kants zu diagnostizieren, in dessen letzter Konsequenz er sogar die transzendentale Logik aufgegeben habe.
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noch offen ist, um Begriffe wovon genau es sich handeln soll.10 Wie wichtig und selbstverstndlich Kant dieser in der berarbeitung stehen gebliebene Satz war, zeigt eben der Umstand, daß das Pronomen „solcher“ nur in der ersten Fassung einen grammatisch rekonstruierbaren Bezug im voranstehenden Satz hat (es bezieht sich dort nmlich auf „Begriffe a priori von Gegenstnden […] berhaupt“), whrend es in der zweiten Fassung nicht mehr sinnvoll bezogen werden kann (ist doch im neu gefaßten Vordersatz von Begriffen gar nicht mehr die Rede). Wenn sich nun „solcher Begriffe“ gleichwohl in beiden Fllen (wenn auch in je verschiedener Weise) auf Begriffe von Gegenstnden berhaupt beziehen soll und man zugleich diesen Ausdruck „Gegenstnde berhaupt“ als einen Nachfolgerbegriff zu demjenigen Ausdruck verstehen darf, mit dem blicher Weise der Gegenstand der traditionellen Metaphysik bezeichnet wurde (z. B. „das Seiende im allgemeinen“ oder „das Seiende, insofern es Seiendes ist“), dann wird deutlich, daß in diesen knappen Stzen Transzendentalphilosophie auch in ihrem Verhltnis zur vormaligen Metaphysik bestimmt wird. Wendet man sich nun den beiden Stzen in den beiden Fassungen genauer zu, dann sind mindestens vier Problemkreise zu registrieren. Diese Schwierigkeiten vorab genau zu registrieren, schtzt davor, in einmal gewohnten Lesarten zu verharren: (a) Es ist nicht auf Anhieb verstndlich, was genau die merkwrdige Wendung „nicht so wohl […], sondern […]“ genau besagen soll. Allzu hufig wird sie im Sinne von „nicht […], sondern […]“ gelesen, so daß sich die Transzendentalphilosophie berhaupt nicht mit Gegenstnden berhaupt beschftige.11 Ein anderer Vorschlag bersetzt die Formulierung zur Klrung ins Latein; sie besage „non tam […], quam potius […]“ und signalisiere eher eine Art Gewichtung 10 Die hier einschlgigen Argumente hat bereits Erdmann, 1917, S. 11 ff., ausgefhrt. Das hindert natrlich nicht, daß die Frage, wie synthetische Urteile a priori mçglich sind, eine Schlsselrolle spielt, um in die Transzendentalphilosophie hinein zu kommen. Deutlich wird brigens bereits hier, daß nicht jede „transzendentale Erkenntnis“ im Rahmen der „Transzendentalphilosophie“ ihren systematischen Ort hat, denn letztere ist eben nur das System der Begriffe, zur ersteren gehçren hingegen Argumentationen, die im Rahmen der Kritik der reinen Vernunft zur Untersuchung unserer Erkenntnisvermçgen gehçren. 11 Diese Lesart ist alt und verbreitet. Sie findet sich z. B. schon bei Vaihinger, 1881, S. 471. Die andere vertraute Lesart „sowohl […], als auch […]“ wird hingegen nicht erwogen, obwohl beide in hnlicher Weise verkrzend sind.
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der beiden mçglichen Themen.12 Unterschlagen wird dabei allerdings das adversative Moment, das in der Kantischen Formulierung enthalten ist und das auch in dem vergleichsweise przisesten Vorschlag unbercksichtigt bleibt, die Formel drcke aus, daß eine Beschftigung mit dem zweiten eine Beschftigung mit dem ersten impliziere.13 Dieses adversative Moment hat nun H. Cohen in seiner Paraphrase „Freilich […], aber […]“ recht gut eingefangen.14 Die Tragweite dieser Nuancierungen wird sofort klar, wenn man die erste Bestimmung, sich mit Gegenstnden berhaupt zu beschftigen, als Formulierung eines Nachfolgeprogramms fr die tradierte allgemeine Metaphysik bzw. Ontologie auffaßt. Whrend der erste Vorschlag aus der Definition von „transzendentaler Erkenntnis“ eine vçllige Abkehr von der Aufgabenstellung der vorgeblich zu destruierenden tradierten Ontologie suggeriert, implizieren alle drei anderen Vorschlge, daß auch die Transzendentalphilosophie in neuer Weise die alte Aufgabenstellung wenigstens mit umfaßt. (b) Angesichts der grammatischen Verhltnisse in den beiden Fassungen erscheint die Behauptung vorschnell, Transzendentalphilosophie habe sich mit „Gegenstnden berhaupt“ zu befassen. Denn sptestens beim zweiten Blick wird deutlich, daß sich auch in der ersten Fassung Argumente finden lassen, den Ausdruck „berhaupt“ nicht auf „Gegenstnde“ zu beziehen (von der zweiten ganz zu schweigen). T. Pinder hat nmlich darauf hingewiesen, daß diese Interpretation eine ungebhrliche Hrte unterstellt. Zu behaupten, daß sich „berhaupt“ auf „Gegenstnde“ beziehe, ignoriere den Umstand, daß „Gegenstnde“ in den beiden Teilstzen unterschiedliche grammatische Rollen spiele, so daß der Bezug in den beiden Satzgliedern nicht syntaktisch parallel laufe.15 Bezçge sich „berhaupt“ hingegen nur auf „unsere Begriffe a priori“ in der ersten bzw. „unsere Erkenntnisart“ in der zweiten Fassung, wre diese Hrte vermieden. In der zweiten Fassung htte der Bezug von „berhaupt“ auf „Erkenntnisart“ darber hinaus noch den schçnen Effekt, daß dann leicht erklrlich wre, warum es in der Kritik der reinen Vernunft neben der Lehre von Kategorien als Begriffen von Gegenstnden berhaupt (B 128) auch 12 So Hinske, 1970, S. 28 f. 13 So der Vorschlag von Pinder, 1886, der dazu vergleichbare Konstruktionen Kants heranzieht. 14 Cohen, 1907, S. 18. 15 Pinder, 1986, S. 20 ff.
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noch eine transzendentale sthetik und eine transzendentale Dialektik geben msse. Die von Pinder bevorzugte Lesart wre nicht darauf festgelegt, in der Kantischen Transzendentalphilosophie eine Lehre von den Gegenstnden berhaupt als Nachfolgedisziplin der vormaligen Ontologie entdecken zu mssen. Dafr, gleichwohl an dem Bezug von „berhaupt“ auf „Gegenstnde“ festzuhalten, spricht hingegen die oben zitierte Explikation von „Transzendentalphilosophie“ in B 873. (c) Eine weitere Unklarheit wird eher von den Interpreten denn von den Formulierungen Kants erzeugt. Folgt man den unterschiedlichsten Kommentaren, dann muß unklar erscheinen, was Kant mit seinen verschlungenen Stzen eigentlich zu erlutern beabsichtigt. So findet man als Definiendum (und zumindest um Nominal-Definitionen soll es sich vermutlich handeln) sowohl „transzendental“ wie „transzendentale Erkenntnis“ wie „Transzendentalphilosophie“ wie „das Transzendentale“.16 Kants Formulierungen sind in diesem Punkt jedoch eindeutig: Der jeweils erste Satz definiert den Ausdruck „transzendentale Erkenntnis“, der jeweils zweite Satz definiert den Ausdruck „Transzendentalphilosophie“. Der Ausdruck „transzendental“ isoliert genommen wird von Kant nicht definiert,17 ebenso wenig wie der Ausdruck „das Transzendentale“. (d) Die letzte zu nennende Unklarheit ist nun endgltig keine grammatische mehr. Es fragt sich schlicht, mit welchen Grnden und mit welchem Resultat Kant die erste Fassung seiner Definition von „transzendentaler Erkenntnis“ verndert hat. Es sind unterschiedliche Defizite der ersten Fassung angenommen worden, so etwa, daß der Bezug auf die Anschauung fehle, der in der zweiten Fassung durch die Rede von „Erkenntnisarten“ mçglich sei; oder die Mçglichkeit, neben Begriffen auch die Grundstze zu erçrtern bzw. auch die transzendentale Dialektik einzubeziehen. Alle diese Anstze unterstellen, daß sich aus der Definition von „transzendentaler Erkenntnis“ das gesamte Programm der Kritik der reinen Vernunft erschließen 16 Vgl. z. B. Pinder, 1986, der einmal schreibt, „transzendental“ wrde expliziert, ein anderes Mal aber „Transzendentalphilosophie“ (S. 1, S. 6, S. 16 f.). Hinske, 1970, S. 9 u. ç., spricht von einer Definition „des Transzendentalen“. Die Beispiele sind beliebig zu ergnzen. 17 Am ehesten findet sich eine solche Erluterung in den Prolegomena, A 71 – mir scheint diese Stelle jedoch nur den spezifischen Akzent hervorzuheben, den Kant einem tradierten Begriff geben will, und keine vollstndige Explikation.
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lassen msse.18 Ebenfalls unterstellt wird, daß die Defizite der ersten Fassung nicht auf konzeptionelle Defizite des in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verfolgten Programms zurckgehen. Man kann aber auch ganz im Gegenteil versuchen, eine konzeptionelle nderung zwischen der ersten und zweiten Auflage der Schrift anzunehmen, und die Vernderungen zwischen den beiden Fassungen der Definition als deren Niederschlag zu lesen. So mag man etwa meinen, erst mit den Prolegomena rcke die Frage nach der Mçglichkeit synthetischer Urteile a priori in den Mittelpunkt, und die neuartige Rede von „Erkenntnisarten“ meine genau dies.19 Diese Interpretationsschwierigkeiten bieten zunchst einmal einen Anlaß, feste Vormeinungen ber Kants Programm einer Transzendentalphilosophie zurckzustellen. Insbesondere stellen sie sich alle, bevor berhaupt sinnvoll nach dem Verhltnis von Transzendentalphilosophie und „transzendentalen“ Argumenten gefragt werden kann.20 Sie erçffnen damit einen Spielraum. Tritt man zustzlich noch einen Schritt zurck, dann wird berdies deutlich, daß die scheinbar nur philologischen Probleme recht gut die prekre Herausforderung der Kantischen Transzendentalphilosophie beschreiben, nach invarianten allgemeinsten Charakteristika von Gegenstnden berhaupt, zumindest aber von Gegenstnden der Erfahrung zu suchen. Denn es ist nun einmal unklar, ob ein solches Programm nicht in problematischer Weise Annahmen der tradierten Metaphysik teilt, die ihrerseits noch destruiert werden mßten (a); ob es tatschlich einen guten Grund gibt, an einer Theorie von Gegenstnden berhaupt festzuhalten, oder ob nicht gerade die Kantische Transzendentalphilosophie an deren Stelle eine Theorie der Erkenntnisarten setzt (b); ob nicht gleichwohl eine Reflexion auf das, was Erkenntnis aus18 Vgl. Vaihinger, 1881, S. 469; Cohen, 1907, S. 18 f.; Hinske, 1970, S. 39; sowie den berblick bei Pinder, 1986, S. 21. 19 So Pinder, 1986, S. 29. hnlich Fçrster, 1988, S. 128, unter Verweis auf Prolegomena § 5 (AA IV, S. 279). 20 Anders Niquet, 1991, S. 222 ff., der gegen Cramer, 1979, meint, die zitierte Kantische Definition von „transzendentaler Erkenntnis“ msse so ergnzt werden, daß nur eine solche Erkenntnis „transzendental“ sei, die „transzendental“ bewiesen sei. Selbst wenn man seinem Argument zustimmt, Kant habe eingesehen, „daß Erkenntnisse nur als deduzierte, bewiesene Erkenntnisse transzendental heißen kçnnen“ (S. 224), so folgt daraus nicht seine Behauptung, weil zumindest nicht gezeigt wurde, daß jede Deduktion transzendentaler Erkenntnisse eine „transzendentale“ sein msse. Zumindest in der Kritik der reinen Vernunft finden sich gengend Deduktionen anderen Typs.
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zeichnet, Grnde aufweisen kçnnte, an einer Theorie von Gegenstnden berhaupt festzuhalten (c); wobei es nicht gengt, einfach solche Begriffe a priori von Gegenstnden berhaupt zu untersuchen, sondern diese Begriffe vielmehr im Rahmen einer Untersuchung a priori unserer Erkenntnisart berhaupt aufzufinden sein mssen (d). Gerade weil die Texte selbst oftmals keine eindeutige Entscheidung zugunsten einer bestimmten Lesart fordern, bieten sie Anlaß, nach dem der Sache nach Plausiblen zu fragen. Textinterpretation ist daher auf Problemgeschichte angewiesen, von der ein Beitrag zur systematischen Frage zu erwarten ist und die letztlich doch nur durch systematische berlegungen rekonstruiert werden kann. Allerdings ist zuvor noch zu fragen, ob den bisher registrierten Schwierigkeiten nicht bereits die Richtung entnommen werden kann, in der die Problemgeschichte zu suchen ist. Wenn das Definiendum der untersuchten Definitionen tatschlich der zusammengesetzte Ausdruck „transzendentale Erkenntnis“ ist und der isolierte Ausdruck „transzendental“ keine umfassende Erluterung erfhrt (c), dann fragt sich, ob sich nicht das Spezifische des Kantischen Ansatzes einer Transzendentalphilosophie dem Umstand verdankt, daß er neuartig den zusammengesetzten Ausdruck „transzendentale Erkenntnis“ bildet. Beide Ausdrcke haben nmlich isoliert voneinander ihre Vorgeschichte. Die Ausdrcke „transzendental“ und „Transzendentalphilosophie“ gehen nun einmal zurck auf die mittelalterlichen Theorien der Transzendentalien.21 Unter „Transzendentalien“ verstand man Bestimmungen, die, in ihrem Allgemeinheitsgrad noch ber die aristotelischen Kategorien hinausgehend, auf jegliches Seiende angewendet werden kçnnen (also auch auf Gott, auf den die aristotelischen Kategorien nicht oder nur eingeschrnkt anwendbar zu sein schienen). Transzendentalien „berschreiten“ und erweitern also zunchst den Anwendungsbereich der tradierten Kategorien. Von seiner Herkunft her verweist der Ausdruck „transzendental“ ebenso wie der Ausdruck „Transzendentalphilosophie“ auf diese Theorie allgemeinster und univoker Bestimmungen des Seienden, insofern es Seiendes ist (und charakterisiert daher genauer den Gegenstand der Ontologie, verstanden als allgemeine Metaphysik). Mit dem Ausdruck „Erkenntnis“ ist aber allemal verbunden, daß nach den mçglichen 21 Das scheint mir auch nach der Kontroverse zwischen Hinske und Angelelli kaum bestreitbar, ob der Ausdruck „transzendental“ sich tatschlich unmittelbar der vormaligen scientia transcendentalis verdankt, oder aber in Anlehnung an Wolffs Begriff einer cosmologia transcendentalis gebildet worden ist – vgl. Hinske, 1970 u. 1973, Angelelli, 1972 u. 1975.
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Rechtfertigungsgrnden fr wahre Meinungen gefragt wird. Der Ausdruck „transzendentale Erkenntnis“, den Kant definiert, ist also bereits gebildet aus Begriffen, die eine Bedeutung tragen (selbst wenn Kant sie transformiert haben mag). Die Probleme, auf die der Ausdruck „transzendentale Erkenntnis“ verweist, mçgen vor diesem Hintergrund schlicht die sein, die mit dem Anspruch der vormaligen Transzendentalphilosophie verbunden sind, invariante allgemeinste Begriffe des Seienden, insofern es Seiendes ist, zu erkennen (also Transzendentalien). Doch kann das nach den zitierten Definitionen bestenfalls die halbe Wahrheit sein. Denn deutlich ist jedenfalls, daß im Rahmen transzendentaler Erkenntnisse nicht primr Gegenstnde berhaupt charakterisiert werden. Im Zentrum steht vielmehr (nach der zweiten Fassung) die Beschftigung mit „unserer Erkenntnisart von Gegenstnden, so fern diese a priori mçglich sein soll“. Man darf nun aus grammatischen Grnden diesen Satz nicht so lesen, als ob es hier nur um unsere Art von Erkenntnissen a priori ginge. Vielmehr geht es um eine Untersuchung unserer Erkenntnisart berhaupt (also auch der empirischen Erkenntnis), sofern jede dieser Erkenntnisarten a priori mçglich ist bzw. sofern ber deren Mçglichkeit etwas a priori ausgemacht werden kann. Das aber bedeutet, daß Kant – nimmt man die beiden Teilstze der Definition von „transzendentale Erkenntnis“ in der zweiten Fassung zusammen – offensichtlich davon berzeugt war, eine Charakterisierung unserer Erkenntnisart, sofern sie a priori mçglich ist, impliziere auch eine Beschftigung mit Gegenstnden berhaupt (b). Es wren also Probleme des Begriffs der Erkenntnis berhaupt, die auf eine Theorie der Transzendentalien fhrten. Die Frage, wie Kants Transzendentalphilosophie die vormalige Metaphysik aufgrund methodologischer und erkenntnistheoretischer berlegungen einer Transformation unterzieht, muß also ergnzt werden um die Frage, warum das Festhalten an einigen Zgen der vormaligen Transzendentalphilosophie durch eine Analyse des Begriffs einer Erkenntnis berhaupt begrndet werden kann. Tatschlich ergibt sich diese zweite Fragerichtung problemgeschichtlich aus Kants Analyse der methodologischen Schwierigkeiten der tradierten Ontologie (vgl. den folgenden Abschnitt) und sie bietet zugleich die systematischen Grnde, trotz skeptischer Einwnde an einer Theorie invarianter univoker Charakteristika von Gegenstnden berhaupt festzuhalten (Abschnitt 5). Der „Witz“ einer Theorie von Gegenstnden berhaupt erschließt sich daher am ehesten in der Problemgeschichte.
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III. Programme und Methoden vorkritischer Ontologie Man verfehlt die Methodenprobleme der tradierten „vorkritischen“ Ontologie von vornherein, wenn man sich an dem Zerrbild orientiert, das nicht zuletzt von Kant und den Kantianern befçrdert wurde. Hier sind einfach zu viele Legenden im Umlauf, die vielleicht nur dazu dienten, dem Neuansatz mit der Kritik der reinen Vernunft eine zustzliche Anfangsplausibilitt zu verleihen. Zu den gngigen Urteilen ber die „vorkritische“ Metaphysik gehçren die Unterstellungen, sie meine (1.) es unmittelbar mit den Dingen selbst zu tun zu haben, so daß ihre Begriffe unmittelbar die realen Strukturen und Charakteristika der Dinge erfaßten, wie sie fr sich genommen sind; (2.) dieses Wissen um die Dinge, wie sie fr sich sind, sei deduktiv aus einem Prinzip zu gewinnen, mehr noch, es handle sich durchgngig um reine Erkenntnis a priori; und (3.) diese Erkenntnis reiche hin, auch bersinnliche Gegenstnde zu erkennen, so daß sie der speziellen Metaphysik (also der Lehre von Gott, der Welt und der menschlichen Seele) ein sicheres Fundament biete. Zumindest die ersten beiden Urteile sind zu revidieren22 – und erst diese Revision lßt die methodischen Probleme erkennen, aus deren Bearbeitung Kants Projekt einer Transzendentalphilosophie recht eigentlich hervorgegangen ist.23 Dabei wird sehr schnell deutlich, daß Kant die 22 Zum problemreichen Verhltnis zwischen allgemeiner und besonderer Metaphysik und zu den Transformationen, die dieses Verhltnis in Kants Konzeption unterzogen wurde, vgl. Fulda, 1997, sowie Picht, 1985, S. 459 ff. 23 Die Diskussion um die Entwicklungsgeschichte der Kantischen Transzendentalphilosophie ist aus verschiedenen Grnden eng mit der Frage nach der Rolle der Metaphysik in Kants Denken verbunden. So hat Kreimendahl, 1990, vor allem deshalb wieder den Einfluß von Hume in den Mittelpunkt gerckt, weil er meint, man verfehle das Ziel der Kritik der reinen Vernunft, wenn man in ihr eine „sublimierte Fortsetzung der rationalistischen Tradition“ zu finden meint (S. 267). Entsprechend warnt er davor, einzelne Textpassagen berzubewerten, „zu denen es kam, als Kant infolge des Versuchs, die Kritik der reinen Vernunft als ein Werk von konzeptioneller Geschlossenheit erscheinen zu lassen, bei der Schlußredaktion die im weiteren Verlauf kritisierten Positionen und Probleme der tradierten Metaphysik bereits in der Sprache der Transzendentalphilosophie formulierte“ (S. 266). Eine gnzlich andere Einschtzung des Entwicklungsganges wie der Kohrenz der Kritik der reinen Vernunft ergibt sich, wenn man gegen Kreimendahl deutlich machen kann, wie sehr es die internen Methodendebatten der tradierten Metaphysik selbst sind, die nicht nur in einzelnen Etappen der Entwicklung von Kants Denken, sondern auch in der Kritik der reinen Vernunft bearbeitet werden – vgl. zu Kreimendahls Interpretation auch unten, Anm. 43. Die vorgeschlagene These schließt berhaupt nicht aus, daß
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Erkenntnisansprche der vormaligen Ontologie nur in bestimmter Hinsicht eingeschrnkt hat (in anderer Hinsicht hat er sie sogar erweitert). III.1. Zum Programm der aristotelisch-scholastischen Ontologie (1) Konstitutiv fr jede allgemeine Metaphysik sptestens seit Aristoteles ist, daß sie von einer prinzipiellen Differenz zwischen dem Begriff des Seienden, insofern es Seiendes ist, und seinen nachfolgenden Bestimmungen einerseits und den Dingen, wie sie fr sich sind, andererseits ausgeht. Entsprechend stellt sich auch immer die Frage, wie sich die in einer allgemeinen Metaphysik zu entfaltenden Bestimmungen zu den realen Charakteristika der Dinge verhalten (kçnnte es sich doch auch bloß um Kategorien unseres Verstehens handeln). Diese Struktureigenschaft allgemeiner Metaphysik lßt sich an derjenigen Tradition illustrieren, der sich die Konzeption eine Ontologie als allgemeiner Metaphysik in voller Schrfe verdankt, nmlich der scotistischen, also der auf Johannes Duns Scotus zurckgehenden.24 Ausgangspunkt der allgemeinen Metaphysik auch in scotistischer Tradition ist der allgemeine umfassende Begriff des Seienden, insofern es real Seiendes ist. Dieser Begriff ist identifizierbar, weil er ein Begriff ist, der von allem prdiziert werden kann, und zugleich ein einfacher Begriff ist, der nicht weiter analysiert werden kann. Als einfacher Begriff ist er fr den Verstand auch der erstgegebene Begriff. Dieser einfache Begriff ist eben deshalb univok. Doch gerade wegen seiner Einfachheit und Univozitt ist er von Beginn an ein defizitrer Begriff, der unklar ist und die Dinge prinzipiell verfehlt. Das ergibt sich daraus, daß sich die Annahme eines univoken allgemeinsten Gattungsbegriffs in eine Aporie verwickelt (daß nmlich der aristotelische Gattungsbegriff auch die Differenzen umfassen mßte, was die Mçglichkeit der Differenz verschwinden lßt). Die Entfaltung der Ontologie (bzw. der allgemeinen Metaphysik) besteht echte Entdeckungen Kants, wie etwa die Raum-Lehre in der Theorie der inkongruenten Gegenstcke, die Probleme der Kausaltheorie oder aber die Antinomien in dieser Entwicklungsgeschichte eine ganz bestimmte und unverzichtbare Rolle spielen (vgl. dazu auch Schnepf, 2001a). 24 Vgl. zum Folgenden Honnefelder, 1990, sowie speziell im Blick auf die Variante der Metaphysik bei Surez Courtine, 1990, und Darge, 2004. Auf Nachweise sowie auf den Versuch, diese Merkmale bereits an der aristotelischen Metaphysik zu belegen, muß hier verzichtet werden.
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entsprechend darin, begriffliche Bestimmungen zu gewinnen, mit deren Hilfe der anfnglich defizitre Begriff des Seienden als solcher durch ein ganzes Begriffssystem so weit expliziert werden kann, daß er am Ende der Explikation doch die Dinge trifft, wie sie fr sich sind. Dabei ist umstritten, ob der begrifflichen Zusammensetzung, die zu diesen angemessenen Begriffen fhrt, eine reale Zusammensetzung in den Dingen entspricht (ob also die compositio metaphysica eine compositio realis bzw. physica ist), oder ob sie sich nur unserer begreifenden Vernunft verdankt. (2) Dieses System von Begriffen kann nicht nach dem Schema von Gattungs-, Differenz- und Artbegriffen aufgebaut sein, eben weil „Seiendes“ kein allgemeinster Gattungsbegriff sein kann. Entsprechend ist nach Begriffen und Einteilungen besonderer Art zu suchen. Dabei gibt es verschiedene Arten von Begriffen, die in ein solches System eingehen und die auf verschiedene Weise aufgefunden und expliziert werden mssen: zunchst diejenigen Transzendentalbegriffe oder Transzendentalien, die mit dem allgemeinsten Begriff „Seiendes“ so konvertibel sind, daß alles, was mit diesem Ausdruck bezeichnet werden kann, auch unter sie fllt (unum, verum, bonum); dann diejenigen disjunktiven Transzendentalien, fr die gilt, daß sie oder ihr Oppositionsbegriff von jedem Seienden prdizierbar sind (z. B. Ursache-Wirkung; Substanz-Akzidenz); schließlich aber auch noch Bestimmungen, die daraus gewonnen werden, daß diese ganzen Bestimmungen auf Seiende unterschiedlichen Typs in unterschiedlicher Weise (Intensitt) zutreffen (ist Gott doch in anderer Weise Ursache als ein endliches Ding). Dabei kommen sptestens dann, wenn es darum geht, die Art und Weise zu bestimmen, in der univoke Transzendentalien auf Seiende unterschiedlichen Typs anwendbar sind, Analogieberlegungen ins Spiel. Doch so ausdifferenziert dieses System unterschiedlicher Arten von Bestimmungen und Explikationen des allgemeinsten univoken Begriffs des Seienden sein mag, so unterbestimmt bleiben die Mçglichkeiten, sie jeweils aufzufinden und zu explizieren – vom Nachweis einer Vollstndigkeit ganz zu schweigen. Mir scheint, am aussichtsreichsten ist ein solches Programm dann, wenn man zunchst formale Charakteristika der gesuchten Begriffe festhlt und dann vorliegende Dinge begrifflich dekomponiert oder analysiert, um auf die gesuchten Bestimmungen zu stoßen. Die formalen Rollenbeschreibungen der gesuchten Begriffe fungieren dabei als Kriterien dafr, ob man einen solchen Begriff auch tatschlich gefunden hat. Es ergbe sich so das, was man
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in den einschlgigen Texten faktisch findet – ein offenes Kategoriensystem, das fr Ergnzungen offen ist und nicht behaupten muß, die je gefundenen Explikationen kategorialer Begriffe seien endgltig.25 Sind damit einige Charakteristika einer allgemeinen Metaphysik benannt, die nach univoken allgemeinsten Bestimmungen des Seienden berhaupt sucht, dann kann man schlecht behaupten, die vorkritische Metaphysik habe immer beansprucht, sogleich bei den Dingen selbst zu sein und deren Bestimmungen aus einem Prinzip a priori und deduktiv gewinnen zu kçnnen. Mehr noch: Es ist noch nicht einmal ausgemacht, ob eine solche Ausdifferenzierung von Begriffen eine realistische Deutung voraussetzt, oder nicht auch rekonstruierbar wre aus der Differenz von einem vagen umfassendsten Begriff des Seienden und der Aufgabe, zu konkreten oder besonderen Bestimmungen zu gelangen. Doch reichen diese groben und umrißhaften Korrekturen einiger Urteile ber die „vorkritische“ Metaphysik noch nicht hin, die Problemkonstellation in Fragen der Transzendentalphilosophie zu rekonstruieren, in der Kant sein Projekt einer Transzendentalphilosophie entwickelt hat. Dazu muß man vielmehr noch die radikalen Innovationen (und entsprechenden Folgelasten) bercksichtigen, die mit den Entwrfen von Descartes, Leibniz und Wolff verbunden sind.26 Dabei orientiere ich mich vor allem an Wolffs Prima Philosophia sive Ontologia (1729). Die Innovationen betreffen sowohl den Gegenstand der Ontologie wie auch die in ihr zu verfolgende Methode.27
25 Einige Zge dieses Argumentierens habe ich in Schnepf, 2001b, herauszuarbeiten versucht. Mir sind keine Versuche bekannt, in einer solchen scotistischen Ontologie Vollstndigkeitsbeweise zu entwickeln. 26 Diese Innovationen werden regelmßig sowohl von denen unterschtzt, die eine Art Kontinuittsgeschichte der Metaphysik bis einschließlich Kant bevorzugen (z. B. Honnefelder, 1990), als auch von denen, die Diskontinuitten oder wenigstens Peripetien betonen, wie etwa Cramer, 2001. 27 Vgl. zum Folgenden ausfhrlicher Schnepf, 2007. Es ist natrlich umstritten, in welchem Umfang Kant Wolff gelesen und bearbeitet hat. Kaum bestreiten lßt sich hingegen, daß Kant mit den Diskussionen um die Gestalt einer ersten Philosophie im Anschluß an Wolff vertraut gewesen ist.
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III.2. Zur Modifikation der tradierten allgemeinen Metaphysik in der Ontologia Christian Wolffs (1) Eine der gravierendsten Revisionen, die sich unmittelbar am Aufbau der Ontologia Christian Wolffs ablesen lassen, besteht darin, daß in dieser Ontologie der Begriff des Seienden, insofern es Seiendes ist, methodisch nicht mehr die Rolle eines einfachen und ersterkannten Gegenstandes fr den Verstand spielt. Der erste Teil der Ontologia trgt zwar den Titel „De notione entis in genere et proprietatibus, quae consequuntur“, doch wird der Begriff „ens“ erst im dritten Kapitel des ersten Teils unter der berschrift „De essentia et existentia entis assignatisque nonullis notionibus“ eingefhrt, und zwar in § 134. Der Begriff des Seienden setzt nmlich die Explikation des Begriffs des Mçglichen voraus, dieser wiederum zumindest den Satz vom Widerspruch. Das aber bedeutet, daß der Begriff des Seienden, insofern es real Seiendes ist, nicht mehr als einfacher und zunchst unanalysierbarer Gehalt gegeben ist, sondern als analysierbarer bzw. genauer: als ein Begriff, der aus anderen, grundlegenderen Begriffen gebildet oder konstruiert werden kann (bzw. muß).28 Als Ausgangspunkt der gesamten Ontologie dient bei Wolff nmlich kein passiv aufgenommener Gehalt des ersten Begriffs „Seiendes“, sondern ein ganz anderes Faktum, nmlich der Umstand, daß wir uns unserer selbst und anderer Dinge bewußt sind.29 Ausgehend von diesem unbezweifelten Faktum werden der Satz vom Widerspruch (und der Satz vom Grund) als Mçglichkeitsbedingungen dieses Faktums erschlossen, die erst die Grundlage bieten, diejenigen Begriffe einzufhren, aus denen der Begriff „Seiendes“ dann gebildet werden kann. Vorausgesetzt wird dabei nicht der Bezug auf gegebene Objekte oder wirklich Seiendes, das unabhngig von unserem Bewußtsein existierte, sondern nur, daß wir uns anderer Dinge bewußt sind. Diese 28 Um die damit eingetreten Wende deutlicher zu belegen: Whrend bei Goclenius, 1598, die Definition von „ens“ unmittelbar auf die Bestimmung der Metaphysik als Wissenschaft vom Seienden, insofern es Seiendes ist, folgt, findet sich der Ausdruck „ens“ bei Baumgarten, 1779, hnlich wie bei Wolff erst in § 61 eingefhrt. Entsprechend unterscheiden sich beide Begriffseinfhrungen in ihrem Gehalt: Whrend Goclenius nur schreiben kann „Ens est quo unumquodque dicitur esse“, kann Baumgarten auf bereits eingefhrte Bestimmungen zurckgreifen: „Possibile, qua existentiam, determinabile est Ens.“ 29 Vgl. Wolff, Ontologia, § 27 (und die zugehçrige Anmerkung), sowie in der Deutschen Metaphysik das erste Kapitel. Bereits hier argumentiert Wolff im Rckgriff auf Erfahrung.
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Dinge sind zunchst nur mçgliche Dinge, die Ontologie ist als Wissenschaft vom Seienden, insofern es Mçgliches ist, eine Art Strukturwissenschaft, die zumindest im Anfang nicht auf weitergehende Existenzannahmen verpflichtet ist.30 (2) Die Methode, im Rahmen einer so angelegten Ontologie kategoriale Begriffe (als konvertible oder disjunktive Bestimmungen des mçglicherweise Seienden, insofern es mçglich ist) zu gewinnen, lßt sich nur unzulnglich als „deduktiv“ beschreiben. Das liegt nicht zuletzt daran, daß man aus einem Prinzip ohne Untersatz nichts deduktiv ableiten kann, der Untersatz als solcher dabei aber unabhngig vom Prinzip ausgewiesen werden mßte. Tatschlich ergeben sich zahlreiche Begriffseinfhrungen durch ein mehrstufiges Verfahren, das sich hier nur grob skizzieren lßt: Das Faktum, daß wir uns unserer selbst und von uns unterschiedener Dinge bewußt sind, setzt voraus, daß wir uns und die von uns unterschiedenen Dinge identifizieren (sowie reidentifizieren) und unterscheiden kçnnen. Unterschiedliche kategoriale Bestimmungen lassen sich nun dadurch gewinnen, daß verschiedene Bedingungen untersucht werden, Handlungen des Identifizierens und Unterscheidens erfolgreich zu vollziehen.31 So ergibt sich beispielsweise der Begriff der Quantitt ausgehend von dem Problem, wie zwei Dinge dann noch unterschieden werden kçnnen, wenn sie in qualitativer Hinsicht ununterscheidbar sind.32 Dabei geht Wolff durchaus von realen Handlungen des Unterscheidens (etwa durch Messen) aus. Die Bedingungen der Mçglichkeit solcher identifizierenden und unterscheidenden realen Handlun-
30 Die Bestimmung der Ontologie in § 1 als „scientia entis in genere, seu quatenus ens est“ muß im Lichte der spteren Einfhrung des Begriffs „ens“ interpretiert werden; und wenn „ens“ eben dasjenige genannt wird, „quod existere potest“, dann ist Ontologie als eine Lehre desjenigen, was in dieser Weise ist, zu verstehen, insofern es in dieser Weise ist. Existenzbehauptungen sind damit vorderhand nicht verbunden. 31 Wolff nimmt hiermit – wie mir scheint – die methodologischen berlegungen auf, die Leibniz in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis entwickelt hatte. Denn auch dort werden die Bedingungen des erfolgreichen Reidentifizierens und Unterscheidens genutzt, den Begriff einer klaren und deutlichen Erkenntnis zu explizieren (und um klar und deutlich definierte Begriffe soll es sich in Wolffs Ontologie handeln). 32 Vgl. Wolff, Ontologia, § 195 sowie §§ 348 ff. – vgl. zum Folgenden auch die aufschlußreiche Studie von Weber, 1998.
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gen,33 die auf Seiten der Dinge erfllt sein mssen, damit diese Handlungen erfolgreich vollzogen werden kçnnen, ergeben – wenn zustzlich von besonderen Umstnden abstrahiert wird – kategoriale allgemeinste Begriffe von mçglichen Dingen (entweder von allen mçglichen Dingen in Raum und Zeit (wie bei bestimmten Quantitten), oder von allen mçglichen Dingen berhaupt). Der Ausgang dieser Begriffsbildungen von Beispielen sichert, daß es sich immer in dem Sinn um Realdefinitionen handelt, daß die Mçglichkeit ihre Anwendbarkeit zumindest in einem Fall gesichert ist. In die Ontologie geht so empirisches Wissen als Ausgangspunkt der Begriffsbildung ein. Kategoriale Begriffe ergeben sich durch eine methodische Bereinigung von den alltglichen Begriffen, die sich in unserer „natrlichen Ontologie“ (ontologia naturalis) vorfinden.34 Entsprechend findet sich auch in Wolffs Ontologia kein Beweis der Vollstndigkeit seines Systems kategorialer Begriffe (und ein solcher Beweis wre auch aufgrund seiner methodologischen Vorgaben kaum zu fhren). Die Ontologia Wolffs bezeugt bereits eine tiefgreifende Revision des scotistischen Programms einer allgemeinen Metaphysik univoker Bestimmungen des Seienden, insofern es Seiendes ist, auf der Grundlage der erkenntnistheoretischen und methodologischen berlegungen von Leibniz und Descartes. Auf sie bezogen muß das Kantische Programm einer Transzendentalphilosophie rekonstruiert werden. Denn bereits diese Revision verdankt sich der Frage, wie eine Erkenntnis von Transzendentalien (also der Bestimmungen von Gegenstnden berhaupt) gesichert werden kçnne. Gegen die Annahme eines Begriffs des Seienden als erstgegebenen einfachen Inhalt liegt nmlich der Einwand nahe, darunter sei gar nichts Bestimmtes zu denken und das Verfahren zur Bestimmung von Transzendentalien sei einer erkenntniskritischen Betrachtung zu unterwerfen. Denn von einem konfusen und leeren Begriff lßt sich nicht ohne weiteres kontrolliert zu weiteren Bestimmungen gelangen, mit 33 Den Ausdruck „quo“ bzw. „wodurch“, den Wolff in seinen Begriffseinfhrungen durchweg verwendet, lßt sich am natrlichsten als Anzeige des Verhltnisses einer notwendigen Bedingung lesen. Daß es sich um eine Mçglichkeitsbedingung handelt, ergibt sich daraus, daß es sich um Bedingungen erfolgreichen Handelns dreht. 34 Vgl. Ontologia, § 23; dieser Ansatz findet sich in Baumgartens Metaphysica in § 3 unter dem Titel „Metaphysica naturalis“ angedeutet. Inwieweit Baumgarten den methodischen Vorgaben Wolffs folgt, kann hier nicht untersucht werden – vgl. aber unten, Anm. 41.
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denen man Seiendes erkennen kann, insofern es Seiendes ist. Werden diese Begriffe hingegen im Ausgang von Handlungen des Unterscheidens und Identifizierens gebildet, die den Satz vom Widerspruch und den Satz vom Grund als Mçglichkeitsbedingungen voraussetzen, sind sowohl eine Methode wie auch der Nachweis der Anwendbarkeit der Begriffe gegeben. Die Realitt aller dieser Begriffe wird nmlich gesichert durch das Faktum, daß wir uns unserer und anderer Dinge bewußt sind, und die besonderen kategorialen Begriffe ergeben sich als Begriffe von Bedingungen der Mçglichkeit dieser identifizierenden und unterscheidenden Bezugnahme auf uns selbst und andere Gegenstnde (unseres Bewußtseins). Ist man auf diese methodischen Grundzge einmal aufmerksam geworden, dann liegt die ironische Pointe nahe, daß sich „transzendentale Argumente“ im Stile Strawsons mit besserem Recht auf die „vorkritische“ Ontologie Christian Wolffs beziehen kçnnten als auf den Ansatz Kants. Es ist nmlich die Ontologie Wolffs, in der ausgehend vom Faktum gegebener Gegenstnde nach Mçglichkeitsbedingungen gefragt wird. Entsprechend liegt bereits gegen sein methodisches Vorgehen der Einwand von Rorty nahe, die scheinbare Alternativlosigkeit der Kategorien, auf die wir als Bedingungen der Mçglichkeit identifizierenden und unterscheidenden Handelns stoßen, ergebe sich nur daraus, daß wir nicht kreativ genug seien, andere Weisen zu imaginieren und zu praktizieren. Gerade der pragmatistische Zug der Methode Wolffs provoziert diesen pragmatistischen Einwand gegen seine Erkenntnisansprche. Denn auch fr Wolff gilt, daß in diesem Sinn „transzendentale“ Argumente ihre methodische Funktion einzig im Rahmen einer Theorie haben, die auf allgemeinste und univoke Bestimmungen des Seienden berhaupt gehen, also auf einen invarianten begrifflichen Rahmen unserer Erkenntnisse von uns selbst und allen anderen mçglichen Gegenstnden unseres Nachdenkens und Erkennens. IV. Die methodischen Probleme der tradierten Metaphysik und Kants Definitionen des Ausdrucks „transzendentale Erkenntnis“ Die Probleme einer Theorie von Gegenstnden berhaupt, vor denen Kant stand, sind den Problemen, die fr uns damit verbunden sein mçgen, hinreichend hnlich, um von der Problemgeschichte systematischen Gewinn zu erwarten – und umgekehrt die Problemgeschichte unter systematischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren. In gewisser Weise lßt
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sich sogar wahrscheinlich machen, daß sich Kant tatschlich an Argumenten abgearbeitet hat, wie sie Rorty gegen Strawson geltend macht. Das zentrale methodische Problem einer Ontologie im Sinne Wolffs entsteht nmlich daraus, daß die methodischen Schritte bei der Begriffsbildung letztlich nicht sichern kçnnen, daß die so gewonnenen Begriffe den Anforderungen an sie gerecht werden, die sich aus dem Ziel einer solchen Ontologie ergeben, univoke allgemeinste und invariante Charakteristika des Seienden zu gewinnen. Denn auf der einen Seite sollen diese Begriffe eben allgemeinste Begriffe sein, die univok und situationsinvariant von allem Seienden (oder zumindest von allem Seienden in Raum und Zeit) ausgesagt werden kçnnen, whrend sie auf der anderen Seite im Ausgang von besonderen Handlungen des Identifizierens und Unterscheidens in konkreten Situationen gleichsam durch eine im Sinne Strawsons „transzendentale“ Reflexion auf deren Bedingungen der Mçglichkeit und mehrere Schritte der Abstraktion gewonnen werden sollen. Zwar hat diese Methode den Vorteil, von vorneherein zu sichern, daß so gewonnene Begriffe tatschlich Begriffe von Seiendem sind (da es ja bereits Anwendungsflle gibt, im Ausgang von denen sie gebildet werden). Auch gehen in die kategorialen Begriffe bereits die Regeln ihrer Anwendung ein, so daß die Begriffe gleichsam ber die Kriterien ihrer korrekten Anwendung definiert werden, weil im ersten Schritt gleichsam operationale Begriffe von Handlungsregeln gebildet werden, aus denen die gesuchten kategorialen Bestimmungen eben als notwendige Bedingung erfolgreicher Handlungen gemß diesen Regeln definiert werden.35 Aber diesem Gewinn steht – so lßt sich Rortys Einwand in diesem Problemkontext wiederfinden – der gravierende Nachteil gegenber, daß damit gar nicht gesichert ist, ob die so gewonnenen Bestimmungen situationsinvariant und univok von allem Seienden prdiziert werden kçnnen (genau das bedeutet nmlich die Alternativlosigkeit des zu begrndenden Begriffschemas). Denn zum einen kçnnen in die Handlungsregeln Bestimmungen eingehen, die nicht in allen Fllen erfllt oder in gleicher Weise gegeben sind, so daß die so gewonnenen Begriffe gar nicht univok von allem ausgesagt werden kçnnen, sondern bereichspezifische Modifikationen erfordern; zum anderen gibt es kein Kriterium dafr, von welchen Merkmalen im Verfahren fortschreitender Abstraktion 35 Die Begriffe einer Ontologie sollen nmlich so eingefhrt sein, daß ihre Definitionen den Leser nach eifrigem Durchdenken dazu befhigen, die Begriffe angemessen anzuwenden und neue Begriffe zu erfinden – vgl. dazu bereits die Vorrede zur Deutschen Logik sowie Weber, 1998.
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man absehen muß, um garantieren zu kçnnen, es tatschlich mit einer univoken und allgemeinsten Bestimmung des Seienden als solchem zu tun zu haben.36 Hier liegt der Einwand Rortys nahe, es verdanke sich nur mangelnder Imaginationsfhigkeit, wenn man aus gewohnten Praktiken auf invariante und allgemeinste begriffliche Strukturen schließen und ein Begriffschema als alternativlos auszeichnen mçchte. Die historische Problemkonstellation lßt sich fr gegenwrtige Diskussionen jedoch noch fruchtbringender analysieren: Der Grund fr die methodischen Schwierigkeiten liegt nmlich in gewisser Weise bereits an dem Punkt, an dem die Wolffsche Ontologie den scotistischen Ansatz tiefgreifend modifiziert hat. Es hatte sich gezeigt, daß der Begriff des Seienden – soll es sich tatschlich um gesicherte methodische Erkenntnis handeln – nicht als einfachster erstgegebener Begriff dem Verstand prsentiert sein darf, sondern zu konstruieren ist im Ausgang von Prinzipien, die sich ihrerseits im Ausgang vom Faktum des Selbst- und Gegenstandsbewußtseins aus den Handlungen des Identifizierens und Unterscheidens als deren Mçglichkeitsbedingungen erschließen lassen. Nun ist der Begriff einer Handlung des Identifizierens respektive Unterscheidens aber mehrdeutig. Denn Wolff begreift unter solchen Handlungen einerseits die logischen Handlungen des Bildens von Urteilen, die Identitt oder Unterschiedenheit behaupten und auf den Begriff bringen (operationes mentis). Andererseits begreift Wolff unter den Handlungen des Identifizierens und Unterscheidens reale, kçrperliche Handlungen in Raum und Zeit, mit deren Hilfe man testen kann, ob zwei Dinge identisch oder unterschieden sind, und die deshalb die Produkte der logischen Handlungen des Identifizierens bzw. Unterscheidens – also die korrespondierenden Urteile – entweder verifizieren oder falsifizieren kçnnen (bzw. zumindest be- oder entkrften). Weil der grundlegende Begriff der Handlungen des Identifizierens und Unterscheidens in diesem Sinn mehrdeutig verwendet wird, ist nicht gesichert, daß solche Merk36
So gilt beispielsweise fr einige quantitative Grçßen, daß sie nur von Gegenstnden in Raum und Zeit sinnvoll prdiziert werden kçnnen, einige von ihnen wiederum nicht von einfachen Dingen, sondern nur von zusammengesetzten. Ob, und wenn ja, in welchem Sinn Grçßenbegriffe von Gegenstnden außerhalb von Raum und Zeit – fr die eben keine korrespondierenden operationalen Begriffe definiert werden kçnnen – berhaupt expliziert werden kçnnen (bzw. ob es ein Kriterium gibt zu entscheiden, von welchen Merkmalen man bei einer solchen bertragung von Begriffen aus einem Bereich, in dem sie wohl definiert sind, in einen anderen, in dem die Anwendungsbedingungen unklar sind, absehen muß) ist nicht abzusehen.
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male, die von Erfolgsbedingungen von realen Handlungen abstrahiert sind, unter der Hand zu Erfolgsbedingungen bloß logischer Handlungen werden.37 Zumindest zu kçrperlichen Handlungen des Identifizierens bzw. Unterscheidens lßt sich noch der Begriff von verfgbaren und auszudenkenden Alternativen bilden, so daß die Alternativlosigkeit des so zu begrndenden kategorialen Begriffschemas nicht gesichert werden kann. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Problemkonstellation erschließt sich nun die entwicklungsgeschichtliche und systematische Relevanz von Kants vorkritischer Schrift De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis aus dem Jahr 1770. Kant argumentiert in dieser Schrift dafr, daß Begriffe von Gegenstnden, wie sie an sich sind, nie durch Abstraktion gewonnen werden kçnnten, da sie dann immer „sinnlich“ blieben. Weil Sinnlichkeit immer unter den subjektiven Bedingungen des epistemischen Subjektes steht, die in so gebildete Begriffe irreduzibel eingehe, verfehlten sie die Anforderungen an kategoriale Begriffe, die Dinge so zu charakterisieren, wie sie an sich sind.38 Entsprechend postuliert Kant einen eigenstndigen Ursprung von Begriffen, nmlich den „realen Gebrauch des Verstandes“, durch den „Begriffe selber, der Dinge wie der Beziehungen, gegeben“ werden, und zwar „durch die Natur des Verstandes“.39 Genauer gilt fr diese Begriffe, daß sie dadurch erkannt werden kçnnen, daß man auf die Handlungen des Verstandes achtet.40 Die kategorialen Begriffe sind gerade nicht als Begriffe von den Mçglichkeitsbedingungen realer Handlungen des Identifizierens und Unterscheidens zu erschließen (also gerade nicht durch eine Art „transzendentales Argument“). Kant zieht damit aus den Methodenproblemen einer Ontologie in der Nachfolge Wolffs die Konsequenz, als Ausgangspunkt der Bildung kategorialer Begriffe ausschließlich mentale Handlungen zuzulassen. Die dafr einschlgigen mentalen 37 Es ist entsprechend auch kein Zufall, daß etwa die „deskriptive Metaphysik“ Strawsons nicht zu Charakteristika von Gegenstnden berhaupt, sondern nur von Gegenstnden unserer Welt gelangt. hnliches scheint mir fr eine Vielzahl von „transzendentalen Argumenten“ zu gelten. 38 Vgl. Kant, De mundi sensibilis, sec. 2, § 4, AA II, S. 392 f. 39 Vgl. Kant, De mundi sensibilis, sec. 2, § 5 und § 6, AA II, S. 392 ff. 40 Vgl. Kant, De mundi sensibilis, sec. 2, § 8, AA II, S. 395: „attendendo ad eius actiones occasione experientiae“ – die Handlungen des Verstandes werden also gelegentlich in der Erfahrung bemerkt und beachtet, doch bedeutet das nicht, daß es sich um solche Handlungen handelte, in die sinnliche Bestimmungen eingehen.
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Handlungen sind aber Gegenstand der Logik, so daß Logik und Ontologie fr Kant bereits um 1770 in ein enges systematisches Verhltnis rcken.41 Aus dieser Lehre vom realen Verstandesgebrauch zieht Kant dann im abschließenden 5. Abschnitt der Schrift Konsequenzen fr die Methode der Metaphysik, indem er regelrechte methodische Vorschriften zu entwickeln versucht. Es ist nmlich darauf zu achten, „daß die einheimischen Grundstze der sinnlichen Erkenntnis nicht ihre Grenzen berschreiten“.42 Ein Beispiel fr einen in diesem Sinne fehlgehenden „erschlichenen“ Grundsatz wre „Alles, was ist, ist irgendwo und irgendwann“.43 In diesem Grundsatz werde eine allgemeine Bedingung der Sinnlichkeit als allgemeines Charakteristikum von Gegenstnden berhaupt postuliert. Unmittelbar aus der von Kant geforderten Grenzziehung ergibt sich, daß der Begriff vom Gegenstand berhaupt ausschließlich aus der Analyse logischer Handlungen des reinen Verstandes gewonnen werden muß. Das so gewonnene Begriffschema wre dann in dem Sinne alternativlos, in dem die zugrunde liegende Logik als alternativlose ausgewiesen werden kann. Eine Theorie, die das versucht, kann deshalb nicht nur mit gutem Grund als Nachfolgedisziplin der vormaligen Ontologie angesehen werden,44 sondern sie lßt sich sogar mit 41 Vgl. dazu AA XVII, R 4150, R 4152, R 4152, R 4276, R 4360, R 4362 usf. 42 Kant, De mundi sensibilis, sec. 5, § 24, AA II, S. 411 f. Es geht hier also noch nicht um die Grenzen, die der Anwendbarkeit von Verstandesbegriffen gesetzt sind, sondern ausschließlich um die Grenzen, die der sinnlichen Erkenntnis zu setzen sind. Kant betritt mit diesen methodischen Regeln brigens kein Neuland, sondern wendet auf das faktische Vorgehen in vielen Ontologien nach Wolff nur eine erkenntnistheoretische berlegung an, die sich bereits bei Baumgarten findet. In den §§ 545 ff. seiner Metaphysica umreißt Baumgarten seine Lehre von den fallaciae sensuum. In Argumentationen fr das „praeiudicium thomisticum“, „quicquid non experior seu clare senti, non existit“, schlichen sich nmlich Bestimmungen ein, die sich den Sinnen verdankten (und folglich nicht als Bestimmungen der Dinge selbst anzusehen seien (§ 548). Baumgarten spricht in diesem Kontext von dem „vitium subreptionis“ (§ 546), so wie Kant von „axioma subrepticum“ (z. B. § 27, AA […]) spricht. Die Kantische Kritik an der Methode einer Ontologie, die sich mehr oder weniger direkt an Wolff anschließt, konnte also von berlegungen ausgehen, die sich in der empirischen Psychologie Wolffs vorfanden. Ich verdanke den Hinweis auf diese Stelle Aichele, 2005. 43 Kant zitiert damit nicht etwa ein Axiom von Wolff, sondern von Crusius – vgl. dessen Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, Ontologie, Kap. IV, § 46, S. 73. 44 Anders Kreimendahl, 1990, der meint, die ganze Schrift gelte „ganz und gar“ dem Antinomienproblem (S. 241): „Das Problem der Metaphysik ist ihm insoweit identisch mit dem der Antinomie geworden“ (S. 235). Die Trennungs-
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Argumenten gegenber der Vorgngerin plausibel machen. Statt Kants Weg in die Transzendentalphilosophie im Anschluß an seine Redeweise von der „Kopernikanischen Revolution“ als eine Art „Paradigmenwechsel“ zu deuten, bei dem die Untersuchungen unter den jeweiligen Paradigmen inkommensurabel und ein argumentativer bergang vom einen zum anderen nicht mçglich zu sein scheint, lassen sich so einzelne methodische Probleme der kategorialen Begriffsbildung im Rahmen tradierter Ontologien identifizieren, die Kants Transformation der Ontologie argumentativ sttzen. Doch ist mit den bisherigen berlegungen offensichtlich nur ein erster Schritt zu Kants Transzendentalphilosophie getan. Denn die geforderte Grenzziehung verschrft in anderer Hinsicht die methodischen Probleme. Es muß nun nmlich ein Weg gefunden werden, den realen Verstandesgebrauch zu rekonstruieren und die dabei zu gewinnenden kategorialen Begriffe in ihrer Reinheit zu entwickeln. Dafr gengt es nicht, vage von „der Natur unseres Geistes“ zu sprechen und das Mißverstndnis des mentalistischen Vokabulars in Kauf zu nehmen. Es ist nmlich unklar, wie die Analyse der logischen Verstandeshandlungen anzusetzen hat, soll sie dem Vorwurf begegnen kçnnen, ihrerseits eine nur subjektive Verfaßtheit des menschlichen Geistes, wie sie Gegenstand der Psychologie ist, zum Ausgangspunkt einer Theorie der Gegenstnde berhaupt machen zu wollen – und so die geforderte Alternativlosigkeit und Invarianz nicht nachweisen zu kçnnen. Soll das mçglich sein, muß die Untersuchung versuchen, solche logischen Handlungen zu identififorderung der Inauguraldissertation bezieht sich jedoch gar nicht ausschließlich oder auch nur primr auf ein der Antinomienproblematik verwandtes Problem, sondern am Beispiel des Weltbegriffs werden Methodenprobleme der Ontologie erçrtert. Die vorgeschlagene Lesart der Dissertation stimmt auch gut zusammen mit den zahlreichen Reflexionen aus dem zeitlichen Umfeld, in denen Kant nicht nur um eine Verhltnisbestimmung zwischen Ontologie und Logik bemht ist, sondern auch zu seinen Versuchen, Kategorien im Ausgang von logischen Formen zu entwickeln (z. B. R 4285, R 4327, R 4476 usf. sowie den Duisburg’schen Nachlaß). Daß Kant hier an Theorien gearbeitet hat, von denen sich in der Dissertation noch keine weiteren Spuren finden, erklrt recht gut die verschiedenen Selbstdistanzierungen Kants von dieser Schrift, auf die Kreimendahl zu Recht verweist (S. 215 ff.). Diese Selbstdistanzierung ist so verstanden jedoch kein Indiz dafr, daß sich Kant von den Aufgaben einer Ontologie aufgrund des Antinomienproblems unter dem Einfluß Humes verabschiedet habe, sondern ganz im Gegenteil ein Indiz dafr, daß er an den spezifischen methodischen Problemen, kategoriale Begriffe zu gewinnen, die Gegenstnde berhaupt charakterisieren sollen, festgehalten hat.
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zieren und zu charakterisieren, die ein jedes Denken – sei es nun menschlich, oder nicht – auszeichnen, insofern es eben nur Denken ist, und davon ausgehend in einem weiteren Schritt solche Bedingungen untersuchen, die erfllt sein mssen, damit aus diesem bloßen Denken von Gegenstnden ein Erkennen werden kann. Nur Charakteristika, die jedes Denken auszeichnen mssen, kçnnen invariant und alternativlos sein, und entsprechend den Ausgangspunkt zur Bildung kategorialer Begriffe bieten. Erst im Anschluß daran ist zu untersuchen, was das fr ein Erkennen unter spezifisch menschlichen Bedingungen bedeutet. Alles kommt deshalb darauf an, einen Ansatzpunkt fr eine Analyse logischer Handlungen zu finden, der nicht den skeptischen Einwnden ausgesetzt ist, wie sie heute Rorty in exemplarischer Weise geltend macht. Man kann die Kritik der reinen Vernunft als einen Versuch lesen, dieser Problemkonstellation gerecht zu werden. V. Vom Denken zum Erkennen – Kategoriale Begriffsbildung in der Kritik der reinen Vernunft Hat man die Fragen so weit vorangetrieben, dann liegt ein Einwand nahe, den auszurumen auf den gesuchten Ansatzpunkt der Analyse logischer Handlungen in der Kritik der reinen Vernunft fhrt. Es lßt sich nmlich bezweifeln, ob die allgemeinsten und invarianten Charakteristika von allem, was in irgendeinem Sinn als Denken berhaupt bezeichnet werden kann, durch Abstraktion im Ausgang von den spezifischen Charakteristika menschlichen Denkens, wie es uns gegeben ist, gefunden werden kçnnen. Die Art und Weise, solche Charakteristika des Denkens berhaupt zu suchen und als solche auszuweisen, muß nmlich methodisch so ausgefeilt sein, daß sich die beiden Einwnde Rortys nicht erheben lassen, sie als invariant und alternativlos zu bezeichnen, beruhe nur auf mangelnder Vorstellungskraft, und dabei sei ein zutiefst problematisches Verstndnis des Geistes und seiner Vorstellungen als Reprsentationen von Dingen bereits vorausgesetzt. Vorderhand bleibt Kants Ansatz einer solchen Kritik ausgesetzt. Er charakterisiert zwar die allgemeine reine Logik als eine Logik, die es mit „schlechthin notwendigen Regeln des Denkens, ohne welche gar kein Gebrauch des Verstandes stattfindet“ zu tun hat, wobei „von allen empirischen Bedingungen, unter denen unser Verstand ausgebt wird“ abzusehen sei (B 77 f.). In dieser Logik sei „von
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allem Inhalt“ zu abstrahieren (B 78), und das heiße auch, von jedem Bezug auf Gegenstnde.45 Fr die Zwecke einer Bestimmung von Gegenstnden berhaupt msse man jedoch nur in dem Sinn von einem Bezug auf Gegenstnde absehen, weil sonst unbesehen solche Bestimmungen einzufließen drohen, die sich der Art und Weise, wie dieses Denken auf Gegenstnde bezogen ist, oder aber den Typen von Gegenstnden, auf die es nun einmal bezogen ist, verdanken (so daß die Alternativlosigkeit und Invarianz der erreichten Begriffe wieder gefhrdet wre). Damit bleibe eine spezielle Logik denkbar, die nicht von allem Bezug auf Gegenstnde abstrahiere, sondern unter Absehung von der Art und Weise des Bezugs auf Gegenstnde und von den mçglichen Typen von Gegenstnden logische Handlungen des bloßen Denkens von Gegenstnden berhaupt analysiert. Diese Aufgabe fllt bereits in eine Logik, die Kant „transzendental“ nennt (B 81 f.), und eine solche Logik wrde entsprechend Begriffe vom Gegenstand berhaupt entwickeln. Aber – und dieses spte „aber“ wird durch die bisherigen Erluterungen noch nicht ausgerumt – der Ansatzpunkt einer solchen Logik bleibt den bekannten skeptischen Einwnden ausgesetzt. Denn eine logische Untersuchung, die sich strikt an den bisherigen methodologischen berlegungen zu orientieren sucht, verfgt gleichwohl ber kein Kriterium zu entscheiden, ob sich ein bestimmtes Merkmal dem „Inhalt“ verdankt, von dem zu abstrahieren ist, oder nicht, weil noch gar keine przisen Begriffe der bloßen Form und des Denkens berhaupt gewonnen sind. Solange „transzendentale Logik“ lediglich ber Abstraktionsschritte charakterisiert wird, wiederholen sich in neuer Gestalt smtliche Probleme, unter denen schon die „vorkritische“ Ontologie litt, sofern sie Transzendentalien durch Abstraktion gewinnen zu kçnnen glaubte. Unter problemgeschichtlichen Gesichtspunkten muß man deshalb die verschiedenen Erluterungen Kants zu seiner Konzeption einer transzendentalen Logik gewichten. Nicht in allen wird sein radikaler Lçsungsversuch deutlich, allzu oft bleiben seine Formulierungen den problembeladenen Begriffen und Wendungen der Tradition verhaftet.
45 Vgl. B 79: „Die allgemeine Logik abstrahieret, wie wir gewiesen, von allem Inhalt der Erkenntnis, d. i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt, und betrachtet nur die logische Form im Verhltnisse der Erkenntnisse auf einander, d.i. die Form des Denkens berhaupt.“
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V.1. Vom Ansatz der transzendentalen Logik zum Problem einer metaphysischen Deduktion der Kategorien Vermutlich ist eine andere Charakterisierung der transzendentalen Logik (bzw. genauer des Teils der transzendentalen Logik, der „Analytik“ genannt wird) fruchtbarer, die den Wahrheitsbegriff ins Zentrum rckt: „Der Teil der transzendentalen Logik also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntnis vortrgt, ohne welche berhaupt kein Gegenstand gedacht werden kann, ist die transzendentale Logik, und zugleich eine Logik der Wahrheit. Denn ihr kann keine Erkenntnis widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt verlçre, d. i. alle Beziehung auf ein Objekt, mithin alle Wahrheit“ (B 87). Dieser methodische Ansatz ist weder von einer Art Psychologie aus zu suchen, noch durch verschiedenartige Abstraktionsschritte, sondern durch eine Analyse des Wahrheitsbegriffs und der Bedingungen unterschiedlichen Typs, die erfllt sein mssen, soll sinnvollerweise von Wahrheit gesprochen werden kçnnen. Die Redeweise, daß die transzendentale Logik solche Regeln entwickle, bei deren Verletzung ein logisches Gebilde allen Inhalt verliere, lßt sich vielleicht am besten so reformulieren, daß die transzendentale Logik (zumindest in ihrem ersten Teil und in aufeinanderfolgenden Schritten) solche Bedingungen entwickelt, die erfllt sein mssen, soll berhaupt ein wahrheitswertfhiges und darber hinaus auch noch wahres bzw. falsches Gebilde entstehen, dessen Wahrheit oder Falschheit letztlich von uns erkannt werden kann. Man hat damit eine in sich gegliederte Leitfrage gewonnen, die frei ist von jedem mentalistischen Vokabular. Mehr noch: Solange man unter Denken im weitesten Sinne nichts anderes als etwas versteht, angesichts dessen es sich sinnvoll fragen lßt, ob es wahrheitswertfhig und (wenn ja) darber hinaus wahr oder falsch ist, solange wird man auch behaupten drfen, daß diese Regeln jedes Denken alternativlos und invariant auszeichnen mssen. Dabei ist dieser formale Begriff eines Denkens berhaupt durchaus bestimmt genug, um daraus einige weitere Charakteristika zu gewinnen.46 Hlt man nur daran fest, daß es um wahrheitswertfhige Gebilde gehen soll, dann lßt sich bereits dafr argumentieren, daß solche Gebilde in bestimmter Weise zusammengesetzt sein mssen. Denn jedes wahrheitswertfhige Gebilde, das als solches einen bestimmten, aber noch unbekannten Wahrheitswert haben 46 Es mßte also darum gehen, durch derartige Argumente zu zeigen, daß wahrheitswertfhige Gebilde bereits als solche nicht nur durch Strukturen wie Affirmation und Negation ausgezeichnet sind, sondern darber hinaus auch durch solche funktionale Einheiten wie Subjekt und Prdikat.
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kann, bietet Anlaß, genau das auszudrcken. Mehr noch: Jedes wahrheitswertfhige Gebilde muß aus Komponenten bestehen, weil es zum Teil mit demjenigen Gebilde bereinstimmt, das den Fall ausdrckt, daß genau das der Fall ist, was durch das ursprngliche Gebilde ausgeschlossen werden soll, zum anderen Teil jedoch zum Ausdruck bringen kçnnen muß, daß es sich von diesem zweiten Gebilde unterscheidet. Die Zusammensetzung dieser Teile mag dabei verschiedene Formen annehmen kçnnen. Nimmt man nun noch hinzu, daß etwas nur dann ein wahrheitswertfhiges Gebilde sein kann, das prinzipiell auf seine Wahrheit befragt werden kann, wenn ein von ihm Verschiedenes gedacht wird, in Bezug auf das es wahr oder falsch ist, dann ergibt sich als weiteres Strukturmoment eines jeden wahrheitswertfhigen Gebildes, daß in ihm diese Art von Bezug angelegt sein muß (und das mag man dann „Anschauung berhaupt“ nennen). Sicher sind noch weitere Schritte nçtig, um zu einer allgemeinen Definition des Urteils als wahrheitswertfhigem Gebilde zu gelangen, doch lassen sich die unterschiedlichen Versuche Kants, eine allgemeine Definition des Urteils zu gewinnen, als erste Schritte einer solchen Untersuchung interpretieren.47 Um die Radikalitt dieses Ansatzes, der sich in den Kantischen Texten dann abzeichnet, wenn man sie vor dem Hintergrund einer in systematischer Absicht rekonstruierten Problemgeschichte interpretiert, deutlicher zu fassen, gengt es, einige Einwnde auszurumen, die sich von Rortys berlegungen ausgehend aufdrngen. So mag man zweifeln, ob die Begriffe eines wahrheitswertfhigen Gebildes und des Denkens berhaupt tatschlich hinreichend von allem mentalistischen Vokabular, 47 Vgl. etwa die berlegungen Kants in B 93 f., in denen Kant deutlich macht, daß ein Urteil aus zwei Vorstellungen bestehen muß, die als auf einen in der Anschauung gegebenen Gegenstand bezogen verknpft werden mßten, aber auch seine Revision des Urteilsbegriffs der tradierten Logik in der transzendentalen Deduktion, B 140 f. Daß das Problem der Urteilsdefinition im Zentrum der Kantischen berlegungen stand und den Schlssel zu allen weiteren Aufgaben bieten sollte, macht auch die große Anmerkung in den Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft deutlich. Die Frage, „wie nun Erfahrung vermittelst jener Kategorien und nur allein durch dieselbe mçglich sei“, lasse sich „durch einen einzigen Schluß aus der genau bestimmten Definition eines Urteils berhaupt (einer Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden)“ verrichten (AA V, S. 275). Wie dornig allerdings das Geschft ist, eine solche Definition zu gewinnen, signalisiert nicht nur Kant selbst an derselben Stelle, sondern machen auch die Interpretationen etwa von Reich, 1986, und Wolff, 1995, mehr als deutlich. In diese Debatten ist hier nicht einzutreten.
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insofern es problematisch ist, bereinigt werden kçnnen. Dazu ist zunchst zu sagen, daß etwa der Begriff der Vorstellung, insofern er zur Charakterisierung des Denkens berhaupt herangezogen wird, vçllig unabhngig davon zu denken ist, wie uns Vorstellungen gegeben sein mçgen bzw. wie wir uns Vorstellungen bewußt sein mçgen. Vom Problem unseres Habens von Vorstellungen ist nmlich der rein formale Begriff einer Vorstellung als funktionale Komponente eines wahrheitswertfhigen Gebildes zu unterscheiden. Analoges gilt auch fr die Kantische Redewendung von der Vereinigung mehrerer Vorstellungen „in einem Bewußtsein“ zur Charakterisierung des Urteils berhaupt. Auch hier darf der Begriff „Bewußtsein“ nicht im Ausgang von der Art und Weise, in der uns etwas „bewußt“ sein mag, verstanden werden, wrde so doch gerade die intendierte Allgemeinheit und Invarianz verfehlt. Stattdessen ist auch dieser Ausdruck im Blick auf den durch ihn bezeichneten funktionalen Beitrag zu wahrheitswertfhigen Gebilden berhaupt zu interpretieren (auch wenn es sich um die wahrheitswertfhigen Gebilde handelt, die Fledermuse hervorbringen mçgen). Entsprechend ist – um einen anderen mçglichen Einwand aufzugreifen – durch die Rede von Vorstellungen in diesem Kontext noch nicht prjudiziert, daß Wahrheit allemal in korrespondenztheoretischem Sinn verstanden werden msse. Gefordert ist nmlich zunchst nur, daß das wahrheitswertfhige Gebilde von sich aus den Bezug auf etwas haben msse, angesichts dessen von seiner Wahrheit oder Falschheit die Rede sein kann. Dabei mag es sich vielleicht sogar nur darum handeln, daß das wahrheitswertfhige Gebilde im Sinne Rortys auf mçgliche Handlungen bezogen ist, an deren Erfolg sich seine Wahrheit oder Falschheit bemessen mag. Doch kann die Frage nach dem Wahrheitsbegriff – und das ist eine der Strken dieses Ansatzes – an dieser Stelle noch zurckgestellt werden. Entscheidend ist nmlich zunchst nur, daß ein in irgendeinem Sinn wahrheitsrelevanter Bezug hergestellt werden kann, so daß im Urteil etwas angenommen werden muß, das genau diesen Bezug herzustellen gestattet. Diese formale Anforderung ist sogar so umfassend, daß selbst der Fall bercksichtigt werden kann, daß der Wahrheitswert eines wahrheitswertfhigen Gebildes – wie in manchen Versionen pragmatischer Wahrheitstheorien angenommen – variabel ist. Entsprechend muß der Ausdruck „Anschauung berhaupt“ in solchen Kontexten in einem derartig weiten Sinn gelesen werden, daß er von allen unseren Vorstellungen darber, wie uns nun einmal Gegenstnde in Raum und Zeit gegeben sind, frei gehalten wird. Die Pointe bestnde entsprechend darin, daß selbst derjenige, der keine invarianten Wahrheitswerte annimmt, invariante Strukturen wahrheitswertfhiger Gebilde
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annehmen muß. Hat man diese allgemeinsten und invarianten Charakteristika wahrheitswertfhiger Gebilde in einem ersten Schritt aufgefunden und analysiert, mçgen sich in einem zweiten Schritt auch Argumentationen dafr entwickeln lassen, die einen pragmatischen Wahrheitsbegriff, insbesondere die These von situationsabhngigen Wahrheitswerten ausschließen. Bei alledem wird schließlich – um ein letztes Bedenken im Anschluß an Rorty zu bercksichtigen – nicht vorausgesetzt, daß wir zu diesen invarianten Strukturen wahrheitswertfhiger Gebilde einen privilegierten epistemischen Zugang htten. Das ergibt sich schon daraus, daß es methodisch verheerend wre, die Charakteristika wahrheitswertfhiger Gebilde berhaupt durch Abstraktion im Ausgang von uns vertrauten wahrheitsfhigen Gebilden zu gewinnen. Kant hat diesem Umstand trotz manch mißverstndlicher Formulierungen und Argumentationsskizzen Rechnung getragen, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft keinerlei Versuch unternommen hat, die allgemeinsten Charakteristika wahrheitsfhiger Gebilde etwa durch eine Analyse des Selbstbewußtseins zu gewinnen. Zwar ist die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption der „hçchste Punkt“, jedoch nicht so, daß aus ihm die Logik abgeleitet werden kçnnte, sondern so, daß man an ihn „die ganze Logik, und nach ihr, die TranszendentalPhilosophie heften muß“ (B 134 Anm.).48 Der Kantische Ansatz einer Transzendentalphilosophie verdankt sich – so gelesen – nicht etwa nur der erkenntnistheoretisch motivierten Kritik an den Ansprchen einer Ontologie vom Wolffschen Typ, sondern einer Analyse des Erkenntnisbegriffs selbst: Denn wenn Erkenntnis berhaupt, unabhngig davon, wie genau ihre Mçglichkeitsbedingungen im Einzelnen auszubuchstabieren sind, wahrheitswertfhige Gebilde impliziert und dieser Begriff des wahrheitswertfhigen Gebildes seinerseits allgemeinste Strukturen des Urteilens berhaupt, dann ist man damit auf einen Typ invarianter und alternativloser Strukturen fr jedes Denken gestoßen, die dem Versuch einer Neubegrndung einer transformierten allgemeinen Metaphysik festen Grund bieten kçnnten. Dazu mßte allerdings gezeigt werden, daß diese Strukturen des wahrheitswertfhigen 48 Anders beispielsweise Henrich, 1982, S. 182 f., der meint, in dem Wissen, das das Selbstbewußtsein ist, sei ein Wissen um die Regeln der Vorstellungsverknpfung enthalten, die Kategorien ausmachen. Einen anderen Weg schlgt Fulda, 1988, S. 54 ff. ein, der ebenfalls die Theorie der Gegenstnde berhaupt als Gegenstand mçglicher Urteile und nicht das Selbstbewußtsein in den Mittelpunkt rckt.
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Gebildes so reichhaltig sind, daß man sagen kann, sie implizierten notwendigerweise Formen des Denkens von Gegenstnden berhaupt. Die Aufgabe, dies zu zeigen, kommt der von Kant eigentmlich knapp gehaltenen „metaphysischen Deduktion“ zu. Sie muß gelungen sein, um berhaupt das Geschft einer Untersuchung der Mçglichkeitsbedingungen von Erkenntnis berhaupt aufnehmen zu kçnnen, expliziert sie doch im Umriß, was eigentlich Erkenntnis heißen kann. Transzendentalphilosophie, als System der Begriffe von Gegenstnden berhaupt, lßt sich so als durch Metaphysikkritik motivierte und im Ausgang von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs zu gewinnende transformierte Ontologie verstehen, die den skeptischen Einwnden gegen „transzendentale Argumente“ weitgehend entzogen ist und ihnen allererst den Grund bietet. Wie die so geleistete erste Bestimmung der Begriffe von Gegenstnden berhaupt (in ihrer bloß logischen Bedeutung) im Fortgang der Kritik der reinen Vernunft angereichert und die gewonnenen Kategorien in ihrem Anwendungsbereich zum Behufe des Erkennens eingeschrnkt werden mssen, ist im Folgenden nur noch anzudeuten. V.2. Transzendentalphilosophie als durch Metaphysikkritik motivierte Nachfolgedisziplin der tradierten allgemeinen Metaphysik Es gehçrt zu den aufregendsten Fragen, die Kants Kritik der reinern Vernunft aufwirft, ob es im Rahmen der „Metaphysischen Deduktion“ zu zeigen gelingt, daß zu den Anforderungen an wahrheitswertfhige Gebilde gehçrt, solche Strukturen aufzuweisen, die sich als Charakteristika von Gegenstnden berhaupt deuten lassen. Doch werden die Ansprche an eine Theorie invarianter und allgemeinster Charakteristika der Gegenstnde berhaupt in dieser Weise zugespitzt, dann wird andererseits problematisch, ob und wie sie berhaupt ausgefhrt werden kann. Das zu untersuchen, lßt sich im vorliegenden Zusammenhang nicht mehr leisten. Mçglich ist es jedoch, zum Abschluß die skizzierten Interpretationsprobleme von Kants Definitionen der Ausdrcke „transzendentale Erkenntnis“ und „Transzendentalphilosophie“ vom jetzt gewonnen Standpunkt aus zu betrachten und so einige weitere Hinweise auf das konzipierte Projekt zu erhalten. (a) Die erste durch den Text aufgeworfen Frage war, wie die merkwrdige Konstruktion des ersten Satzes („nicht so wohl […], sondern […]“) zu verstehen sei, wenn sie nicht schlicht als „nicht […], sondern […]“ gelesen werden darf. Parallelstellen legen nahe, daß zumindest mitgemeint sein muß, eine Erfllung des zweiten impli-
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ziere eine Erfllung des ersten. Es lßt sich nun in der Tat gut erklren, in welchem Sinn eine Beschftigung mit „unserer Erkenntnisart von Gegenstnden, sofern sie a priori mçglich sein soll“ eine Beschftigung mit Gegenstnden berhaupt impliziert. Denn „Erkenntnisart“ impliziert, daß in ihr wahrheitswertfhige Gebilde eine Schlsselrolle spielen. Die invariante Struktur wahrheitswertfhiger Gebilde soll aber im Zusammenhang der „Metaphysischen Deduktion“ zugleich den Kern kategorialer Begriffe von Gegenstnden berhaupt ausmachen.49 Weil jedoch eine Analyse wahrheitswertfhiger Gebilde noch lange nicht hinreicht, die Bedingungen von Erkenntnis, sofern sie a priori mçglich sein soll, vollstndig auf den Begriff zu bringen, mssen sich weitere Argumentationen anschließen. Zunchst ist im Rahmen der „Transzendentalen Deduktion“ unter Rckgriff auf die „transzendentale sthetik“ zu zeigen, daß wir nicht nur solche wahrheitswertfhigen Gebilde produzieren kçnnen, sondern daß diese Urteile auf die besondere Weise, in der uns in unserer Art von Anschauung Gegenstnde gegeben sind, angewendet werden kçnnen, so daß den kategorialen Begriffen im Blick auf Gegenstnde der Erfahrung objektive Realitt zukommt. Ist dies gezeigt, verbleibt noch immer die Aufgabe zu zeigen, wie solche wahrheitswertfhigen Urteile im Bereich dessen, worauf sie von vornherein bezogen sind, verifiziert bzw. falsifiziert werden kçnnen. Dazu ist es nçtig, in demjenigen, worauf Urteile so bezogen sind – und das ist fr Kant unsere raum-zeitliche Anschauung –, Kriterien im Umriß zu entwickeln, anhand derer man erkennen kann, ob ein bestimmtes wahrheitswertfhiges Gebilde wahr oder falsch ist (und erst dann hat es auch tatschlich einen Wahrheitswert). Diese Untersuchung unternimmt Kant im Schematismus- und im Grundsatzkapitel. Dabei ist seine Argumentation dort von der Tragfhigkeit seiner vorangegangen Argumentationen abhngig. Unabhngig davon ist jedoch ein weit grundlegenderes Ergebnis: Kriterien dieser Art mssen sich aus den allgemeinsten Strukturen wahrheitswertfhiger Gebilde in jedem Fall entwickeln lassen, soll Erkenntnis mçglich sein; und weil die Strukturen wahrheitswertfhiger Gebilde invariant sind, mssen das auch die Kriterien sein, die so oder anders 49 Vgl. KrV, B 128: „Vorher will ich nur noch die Erklrung der Kategorien voranschicken: Sie sind Begriffe von einem Gegenstande berhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird.“
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zu suchen sind. Selbst wenn der Wahrheitsbegriff zu Beginn der Untersuchungen wahrheitswertfhiger Gebilde unbestimmt bleibt, ergibt sich aus dieser berlegung, die nicht auf eine spezifische Theorie menschlicher Anschauung festgelegt ist, daß auch Wahrheitswerte nicht variabel gedacht werden kçnnen (und entsprechende pragmatische Wahrheitstheorien ausgeschlossen werden mssen). Deutlich ist damit auch – gegen Rorty –, daß die Frage, ob die beste derzeit verfgbare Erklrung auch wahr sei, durchaus ihren „Witz“ hat: Invariante Kriterien wahrer bzw. falscher Urteile geben nmlich einen Maßstab vor, an dem sich unsere Rechtfertigungsversuche messen lassen mssen – auch die besten unter den jeweils verfgbaren. (b) Die zweite Interpretationsschwierigkeit bestand darin, daß beim zweiten Lesen der Definitionen gar nicht mehr unstrittig zu sein scheint, daß Transzendentalphilosophie im Kantischen Sinne Begriffe vom Gegenstand berhaupt zu entfalten habe. Philologische Grnde, trotz grammatischer Hrten an dieser Lesart festzuhalten, bieten die zitierte Parallelstelle und vor allem die Kantische Bestimmung der reinen Verstandesbegriffe als Begriffe von Gegenstnden berhaupt. Das Ergebnis der transzendentalen Deduktion, daß reine Verstandesbegriffe nur dann Sinn und Bedeutung haben (d. h. zu wahrheitswertfhigen Gebilden fhren, die auch tatschlich einen Wahrheitswert haben), wenn sie auf Gegenstnde der Erfahrung angewendet werden kçnnen, widerspricht dem nicht. Gesttzt wird diese Lesart weiterhin durch den problemgeschichtlichen Zusammenhang, in dem die zu interpretierenden Definitionen stehen. Die Kantische Transzendentalphilosophie ist dadurch als eine Nachfolgedisziplin der tradierten Ontologie bestimmt, und hat sich als solche mit Gegenstnden berhaupt zu beschftigen. Den ausschlaggebenden Grund fr eine solche Interpretation bietet indessen der systematische Zusammenhang, daß eine Analyse des Erkenntnisbegriffs auf eine Theorie von Gegenstnden berhaupt fhrt (und zwar unabhngig davon, von welchem Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff man ausgeht). Das gilt zumindest dann, wenn die Struktur wahrheitswertfhiger Gebilde Begriffe vom Gegenstand berhaupt impliziert. Dann hat man guten Grund, gegen Strawson nicht auf eine Theorie invarianter Strukturen lediglich der Gegenstnde der Erfahrung zu setzen, die durch transzendentale Argumente solche Strukturen aus der Notwendigkeit der identifizierenden und reidentifizierenden Bezugnahme auf Gegenstnde der Erfahrung in jeder empirischen
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Untersuchung zu erschließen versucht. Eine solche Untersuchung setzt gleichsam zu spt und nicht radikal genug an. „Transzendentale“ Argumente setzen bereits Argumentationen anderen Typs voraus, sollen sie erfolgreich sein kçnnen. Damit ergeben sich auch plausible Antworten auf die Probleme unter (c) und (d). Die Grnde fr die Revision der Definition in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft liegen vermutlich darin, daß die Formulierung der ersten Auflage, transzendentale Erkenntnis beschftige sich mit „unsern Begriffen a priori von Gegenstnden berhaupt“, in der Tat die Pointe des ganzen Ansatzes auch der ersten Auflage noch gar nicht auf den Begriff bringt. Denn daß eine Beschftigung mit Begriffen a priori von Gegenstnden berhaupt eine Beschftigung mit Gegenstnden berhaupt impliziert, ist nahezu trivial. Daß jedoch eine Analyse unseres Begriffs von Erkenntnissen, so weit sie a priori mçglich sind (d. h. sofern ihre Mçglichkeit a priori dargetan werden kann), eine Theorie von Gegenstnden berhaupt implizieren muß, ist gerade die Pointe des Ansatzes, die erst durch die zweite Formulierung zum Ausdruck gebracht wird. Dabei hatte Kant gleichwohl Recht, auch in der zweiten Auflage den zweiten Satz trotz des zerstçrten grammatischen Bezugs zum ersten beizubehalten, bleibt doch Transzendentalphilosophie in diesem Sinne ein System von Begriffen von Gegenstnden berhaupt, das im Rahmen transzendentaler Erkenntnis entwickelt wird. Wie diese Untersuchung jedoch durchzufhren ist, und ob man dabei nicht auf Schwierigkeiten stçßt, die dazu zwingen, auch diesen radikalen Ansatz bei einer Logik der Wahrheit zu modifizieren, muß hier allerdings unausgemacht bleiben – doch bleibt zu vermuten, daß eine geeignete Interpretation des Kantischen Texts auch in den Details der Durchfhrung diesen Ansatz immer neu und fruchtbar im jeweils zeitgençssischen Problemzusammenhang geltend machen kann. Literatur Aichele, Alexander, 2005: Die Ungewißheit des Gewissens. Alexander Gottlieb Baumgartens forensische Aufklrung der Aufklrungsethik, in: Jahrbuch fr Recht und Ethik 13 [FS Joachim Hruschka]. Ameriks, Karl, 2000: Kant and the Fate of Autonomy. Problems in the Appropriation of the Critical Philosophy, Cambridge. Angelelli, Ignacio, 1975: On ,Transcendental‘ Again, in: Kant-Studien 66, S. 16 – 120.
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ERKENNTNISTHEORIE
Das Subjektive als Bedingung des Objektiven Wolfgang Carl Es gibt wenige Philosophen der Vergangenheit, die sich auch heute noch einer so interessierten Anteilnahme erfreuen kçnnen, wie Kant. Die Aktualitt seines Denkens zeigt sich nicht nur in dem Umfang philosophiehistorischer Forschung, die ihm gewidmet ist; sie wird auch und vor allem an der Relevanz deutlich, die seine berlegungen fr die gegenwrtige Philosophie haben. Will man diese erklren, so wird man nicht umhin kommen, die Bedeutung seiner berlegungen im Kontext der heutigen Diskussion verstndlich zu machen. Im Folgenden soll dies am Beispiel von Kants berlegungen zum Subjektiven und Objektiven gezeigt werden. Um den Kontext deutlich zu machen, innerhalb dessen diese berlegungen heute eine wichtige Rolle spielen oder – besser gesagt – spielen sollten, will ich von einer Frage ausgehen, deren philosophische Beantwortung einen nçtigt, auf die Unterscheidung zwischen dem, was subjektiv ist, und dem, was objektiv ist, einzugehen. Ich meine die Frage nach der Wirklichkeit. Wir alle wissen, daß es oft nicht so einfach ist herauszubekommen, wie es sich wirklich verhlt, oder welche Faktoren fr ein Ereignis in Wirklichkeit verantwortlich sind. Aber wie soll man die Frage nach der Wirklichkeit verstehen, wenn sie in der Philosophie gestellt wird? Sie scheint eine gewisse hnlichkeit mit der Frage nach der Wahrheit zu haben: wir alle wissen, wie wir mit der Frage nach dem, was wahr ist, umzugehen haben – was nicht heißt, daß wir sie stets beantworten kçnnen; aber die Frage nach der Wahrheit macht uns ratlos. Das hat Philosophen nicht davon abgehalten, diese Frage zu stellen; und dies gilt auch fr die Frage nach der Wirklichkeit. Um diese Frage als eine philosophische Frage verstehen zu kçnnen, ist es nçtig, sie mçglichst allgemein zu fassen. Als Antwort bietet sich Wittgensteins lakonische Bemerkung im Tractatus an: Die Wirklichkeit, oder „die Welt“, „ist alles, was der Fall ist“. Dazu gehçrt auch, daß Fragen gestellt und Antworten gesucht werden, und daß es Wesen wie uns gibt, die so etwas tun. Wie aber gehçren wir und unsere kognitiven Ttigkeiten zu dem, was der Fall ist? Darauf kann man verschiedene Antworten geben, aber fr die philosophische Frage nach der Wirklichkeit ist es
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zumindest seit Descartes wichtig, eine bestimmte Art und Weise unserer Zugehçrigkeit zu der Wirklichkeit zu betrachten: Wir sind Wesen, die Vorstellungen oder Meinungen ber das haben, was der Fall ist. Daß wir solche Vorstellungen oder Meinungen besitzen, ist auch der Fall, aber diese Feststellung wird nicht dem besonderen Charakter solcher Tatsachen gerecht. Denn bei ihnen stellt sich die Frage nach dem Verhltnis, in dem unsere Meinungen ber das, was der Fall ist, zu dem stehen, was der Fall ist. Dieses Verhltnis kann unter verschiedenen Gesichtspunkten der kausalen Interaktion, evolutionren Anpassung und Prozessen der Informationsverarbeitung betrachtet werden. Die philosophische Frage konzentriert sich auf einen bestimmten Punkt, nmlich darauf, ob und inwieweit unser Denken und Meinen ber das, was der Fall ist, dem entspricht, was der Fall ist, d. h. ob und in welchem Maße wir in der Lage sind, eine korrekte Vorstellung von dem, was der Fall ist, zu erwerben. Auf der Grundlage dieser Einschrnkung kann die philosophische Frage nach der Wirklichkeit als eine Frage nach der Beziehung zwischen unserer Reprsentation der Welt und der Welt selbst unter dem Gesichtspunkt der Korrektheit verstanden werden. Um diesem Gesichtspunkt adquat Rechnung zu tragen, mssen zwei Dinge bercksichtigt werden: Die Beziehung, um die es geht, kann erstens nur dann vorliegen, wenn die Welt in ihrer Existenz und Beschaffenheit unabhngig von unserer Reprsentation von ihr ist. Daher ist ein ausgezeichneter Fall unserer Reprsentation der Welt unser empirisches Wissen. Denn ein solches Wissen beruht auf Beobachtung, die uns darber belehrt, was unabhngig von dem Beobachter und seinem Beobachten gegeben ist. Zweitens ist zu betonen, daß die Reprsentation der Welt, die auf ihre Korrektheit hin betrachtet werden soll, unsere Reprsentation ist und somit fr uns verstndlich und beurteilbar sein muß. Weil unsere Reprsentation der Welt zur Diskussion steht, ist diese durch die besonderen Bedingungen bestimmt, unter denen fr uns eine Reprsentation einer von uns unabhngigen Welt mçglich ist. Gegeben diese Bedingungen, so muß die philosophische Frage nach der Beziehung zwischen unserer Reprsentation der Welt und der Welt selbst zwei Problemen Rechnung tragen. Weil die Welt in ihrer Existenz und Beschaffenheit unabhngig von unserer Reprsentation ist, besteht erstens die Mçglichkeit, daß die Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen, nichts damit zu tun haben, wie es sich wirklich verhlt. Unsere Vorstellungen kçnnen falsch sein; unsere Meinungen verbrgen nicht ihre Wahrheit. Dies ist die
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Grundlage fr die Aktualitt des Skeptizismus in der gegenwrtigen Philosophie. Weil es aber um unsere Reprsentation geht, besteht zweitens die Mçglichkeit, daß unsere Vorstellungen die Welt nicht so reprsentieren, wie sie wirklich ist. Damit ist nicht – oder zumindest nicht nur – gemeint, daß unsere Vorstellungen falsch sind. Um diese Mçglichkeit genauer zu verstehen, mssen wir den Begriff einer uns verstndlichen und durch uns beurteilbaren Reprsentation genauer explizieren : sie ist gebunden an unsere kognitiven Fhigkeiten, d. h. an unsere Erfahrung und an unsere Formen der Wahrnehmung. Es ist denkbar, daß Vorstellungen der Welt, die auf diese Weise erworben werden, sie nicht so reprsentieren, wie sie wirklich ist. Dieser Gedanke findet sich schon sehr frh in der Geschichte der Philosophie, etwa bei Demokrit, der erklrte, daß es nur durch Konvention so etwas wie Farbe, Sßes oder Bitteres gibt, in Wirklichkeit aber nur Atome und das Leere. In der neueren Philosophie hat der Gedanke zu der Unterscheidung zwischen sekundren und primren Qualitten gefhrt ; und heute ist es das spannungsreiche Verhltnis zwischen unserer alltglichen Lebenswelt und dem wissenschaftlichen Weltbild, in dem der alte Gedanke von Demokrit wieder hervortritt. Diese Tradition bildet einen wichtigen Hintergrund fr ein adquates Verstndnis der philosophischen Frage nach der Wirklichkeit, wenn man sie denn als eine Frage nach der Beziehung zwischen unserer Reprsentation der Welt und der Welt selbst begreift. Es geht um die Reprsentation einer von uns unabhngigen Welt in einer uns verstndlichen Form und somit um die Mçglichkeit, wie das, was unabhngig von uns gegeben ist, mit dem zusammenhngt und sich auf das beziehen lßt, was uns verstndlich und zugnglich ist. Es ist diese Mçglichkeit, die Philosophen dazu gebracht hat, zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven zu unterscheiden und das Verhltnis, das zwischen beiden besteht, zu thematisieren. Ich werde im Folgenden drei verschiedene Mçglichkeiten erçrtern, wie sich dieses Verhltnis bestimmen lßt. Als Beispiele sollen hier Quine, Nagel und Kant dienen ; und meine Absicht ist es zu zeigen, daß Kants berlegungen zu dem Verhltnis zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven zumindest den Vorteil haben, daß sie Schwierigkeiten vermeiden, die sich fr Quine und Nagel ergeben.
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I. Quine Ich beginne mit Quine, der in Word and Object schreibt: We cannot strip away the conceptual trappings sentence by sentence and leave a description of the objective world; but we can investigate the world, and man as part of it, and thus find out what cues he could have of what goes on around him. Subtracting his cues from his world view, we get man’s net contribution as the difference. This difference marks the extent of man’s conceptual sovereignity […]1
Die Unterscheidung von objektiven und subjektiven Zgen unserer Weltauffassung wird mit der Unterscheidung von Daten und begrifflicher Interpretation korreliert. Unsere Daten sind die Hinweise auf das, was in der Welt geschieht, whrend die Theorie die Interpretationen liefert, welche durch die Daten nicht eindeutig bestimmt und daher in das Ermessen unserer begrifflichen Autonomie („conceptual sovereignity“) gestellt sind. Dieses Bild hat Quine seit Two Dogmas of Empiricism immer wieder propagiert, und es ist die Basis fr seine bekannten Thesen von der „Unbestimmtheit der bersetzung“ und der „ontologischen Relativitt“. Fr unsere Fragestellung ist es nur wichtig festzuhalten, daß dieses Bild eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Unterscheidung von Subjektiv vs. Objektiv zu lesen ist, suggeriert: es handelt sich um Zge oder Elemente unserer Vorstellung der Welt, fr die verschiedene Faktoren verantwortlich sind. Objektiv ist all das, was durch das, was um uns herum so vorgeht, zu erklren ist, whrend subjektiv dasjenige ist, fr das wir durch unsere Begrifflichkeit, unseren Begriffsrahmen verantwortlich sind. Wichtig ist fr uns, daß das Subjektive und das Objektive als zwei voneinander unabhngige Elemente gedacht werden, die durch ein Subtraktionsverfahren voneinander getrennt werden kçnnen. Diese Unabhngigkeit wird nicht dadurch eingeschrnkt oder aufgehoben, daß wir es de facto nur mit „world views“, Theorien oder Sprachen zu tun haben, in denen diese Elemente nie getrennt, sondern immer nur miteinander verbunden vorkommen. Versteht man die Unterscheidung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven in dem von Quine vorgestellten Rahmen, so handelt es sich um zwei Elemente unserer Reprsentation der Welt, deren inhaltliche Verschiedenheit ihrem unterschiedlichen Ursprung zu verdanken ist. Das Objektive ist der empirische Gehalt dieser Reprsentation, die durch die Beschaffenheit der Welt bedingt ist. Das Subjektive ist die „begriffliche 1
Quine, 1960, S. 5.
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Einkleidung“ oder auch der Begriffsrahmen, der unsere „conceptual sovereignity“ zum Ausdruck bringt. Dieser Dualismus von Inhalt und Form ist mit einem Problem konfrontiert, das sich fr jeden Dualismus stellt: Wie ist die Verbindung der beiden Elemente zu erklren? Quine behandelt sie wie Faktoren, die man nur addieren muß, um unsere Reprsentation der Welt als Summe zu erhalten. Aber Begriffe kçnnen nur in logischen Beziehungen zu anderen Begriffen stehen: Wie sollen sie sich mit etwas verbinden lassen, das vor und unabhngig von allem Begrifflichen gedacht wird? Es droht das, was Sellars den ,Mythos des Gegebenen‘ genannt hat. Anders formuliert: wir haben Begriffe, von denen wir nicht wissen, wie wir ihnen einen empirischen Gehalt geben sollen, oder wir haben den empirischen Gehalt, wissen aber nicht, wie wir ihn ,auf Begriffe bringen‘ kçnnen. In beiden Fllen kçnnen wir unsere Additionsaufgabe nicht lçsen: ihre Verbindung zu einer Reprsentation der Welt. Davidson hat daher den Dualismus von empirischem Inhalt und begrifflichem Rahmen oder Schema als einen Mythos bezeichnet – „the third, and perhaps the last, dogma of empiricism“.2 Mythos hin, Mythos her – ein anderes Problem ist vielleicht noch gravierender. Ich hatte gesagt, daß die philosophische Frage nach der Wirklichkeit zu der Frage nach der Korrektheit einer uns verstndlichen Auffassung einer von uns unabhngigen Welt fhrt. Diese Frage nçtigt uns aber zu erwgen, welche Auffassung die Welt so reprsentiert, wie sie unabhngig von uns ist. Quine’s Unterscheidung zwischen empirischem Inhalt und begrifflicher Form kann auf diese Frage keine Antwort geben, weil diese beiden Elemente notwendige Bedingungen dafr sind, daß wir es berhaupt mit einer Reprsentation der Welt zu tun haben. Sie erlaubt es nicht, verschiedene Reprsentationen der Welt im Hinblick auf ihre korrekte Darstellung so, wie sie unabhngig von uns ist, voneinander zu unterscheiden. An diesem Punkte bietet es sich an, auf Nagels Konzeption der Unterscheidung zwischen dem, was objektiv ist, und dem, was subjektiv ist, einzugehen. II. Nagel Fr Nagel ist es nicht eine Unterscheidung zwischen zwei Momenten, die in jeder Vorstellung der Welt enthalten sind, sondern sie betrifft verschiedene Arten solcher Vorstellungen. Er spricht von einem Standpunkt 2
Davidson, 1984, S. 183–198, hier S. 189.
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(„point of view“) und behauptet, ein solcher Standpunkt sei „more objective than another if it relies less on the specifics of the individual’s makeup and position in the world …“.3 Es handelt sich also um eine komparative Charakterisierung verschiedener Vorstellungen der Welt, die mehr oder weniger determiniert sind von den subjektiven Besonderheiten ihrer Trger. Der Prozeß der Objektivierung besteht in der sukzessiven Eliminierung dieser Besonderheiten, in einer Distanzierung oder Ablçsung von ihnen („detachment“), und daher entsteht ein objektiver Standpunkt „by leaving a more subjective, individual, or even just human perspective behind …“.4 Dieses Vorgehen wird auch so beschrieben, daß „we must get outside of ourselves, and view the world from nowhere within it“.5 Nagel ist sich bewußt, daß es sich hier um Metaphern handelt, aber was er meint, kann man auch ohne sie sagen. Es geht darum, „to form a detached idea of the world that includes us, and includes our possession of that conception as part of what it enables us to understand about ourselves“.6 Man kann Nagels Auffassung der Unterscheidung von Subjektiv und Objektiv durch die folgenden Thesen charakterisieren: Ein objektives Verstndnis der Welt zeichnet sich erstens durch die Abwesenheit, die Eliminierung der Zge aus, die ein subjektives Verstndnis bestimmen. Dieses wiederum ist zweitens abhngig von einem Standpunkt und den spezifischen Bedingungen, die erfllt sein mssen, um ihn einzunehmen. Schließlich ist drittens ein objektives Verstndnis nicht schlicht durch die Abwesenheit subjektiver Momente charakterisiert, sondern es hat den Charakter eines reflektierten Verstndnisses: Es erklrt die Mçglichkeiten und Grenzen eines subjektiven Verstndnisses. Daher ist jeder Fortschritt in Sachen objektiver Erkenntnis ein Fortschritt im Hinblick auf ein adquateres Selbstverstndnis.7 Die letzte These entwickelt Nagel in Anlehnung an Williams’ „absolute conception of the world“. Im Folgenden beschftige ich mich mit den beiden ersten Thesen. Ein objektives Verstndnis der Welt ist ein „distanziertes“ Verstndnis – ein Verstndnis, das sich von den Bedingtheiten eines subjektiven Standpunkts befreit: „What we want is to reach a position as independent 3 4 5 6 7
Nagel, 1986, S. 5. Nagel, 1986, S. 7. Nagel, 1986, S. 67. Nagel, 1986, S. 69 f. Vgl. Nagel, 1986, S. 74 f.
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as possible of who we are and where we started …“8 Was das bedeutet, kann an dem von Nagel favorisierten Beispiel der primren und sekundren Qualitten verdeutlicht werden. Unsere Erfahrung ist u. a. dadurch charakterisiert, daß wir Blitze oder Regenbçgen in bestimmter Weise wahrnehmen. Diese Erfahrung ist von spezifischen Bedingungen unserer Wahrnehmung geprgt. Wie sieht eine Erfahrung aus, fr die diese Bedingungen nicht gelten? Liefert sie deswegen ein objektiveres Bild der Welt? Nagel diskutiert das fiktive Beispiel eines Wissenschaftlers vom Mars, der sich fr Regenbçgen und Blitze interessiert, ohne daß er ber unsere Fhigkeit optischer Wahrnehmung verfgt noch irgendwelche Kenntnisse davon hat. Ein solcher Marsbewohner kann zwar einen Regenbogen oder einen Blitz als physikalisches Phnomen entdecken und beschreiben, aber er ist nicht in der Lage, unsere Begriffe von einem Regenbogen und einem Blitz zu verstehen: „… the concepts themselves are connected with a particular point of view and a particular phenomenology …“9 Die physikalische Beschreibung des Marsbewohners gibt nach Nagel ein objektives Bild dessen, was geschieht, whrend unsere Begriffe sich zwar auf dieselben physikalischen Ereignisse beziehen, aber sozusagen in der Einkleidung der subjektiven Bedingung unserer Wahrnehmung. Diese Gegenberstellung scheint mir jedoch in die Irre zu fhren. Es ist charakteristisch fr unseren Begriff des Blitzes, daß dasjenige, was unter ihn fllt, unter normalen Wahrnehmungsbedingungen fr einen Betrachter in bestimmter Weise aussieht. Was Nagel „visual phenomenology“ dieses Begriffs nennt,10 bezieht sich auf die kausalen Wirkungen, welche die Entladung elektrischer Energie auf Wesen, die ber unsere Fhigkeit visueller Wahrnehmung verfgen, normalerweise ausben. Es gibt solche Wirkungen nicht weniger, als es die Entladung der Energie gibt. Nagels Gegenberstellung einer physikalischen Beschreibung und einer Beschreibung, die in unserer alltglichen Sprache formuliert ist und an unserer normalen Wahrnehmung anknpft, entwirft ein falsches Bild der Differenz, die zwischen uns und dem Marsbewohner besteht, und fhrt zu einer irrigen Auffassung des Subjektiven. Die Beschreibungen, die der Marsbewohner von Blitzen gibt, lassen bestimmte kausale Wirkungen außer acht und mssen dies tun, da er kraft Voraussetzung weder etwas sehen kann noch ein Verstndnis von visueller 8 9 10
Nagel, 1986, S. 74. Nagel, 1979, S. 137. Nagel, 1979, S. 137.
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Wahrnehmung hat; fr unsere ,Beschreibungen in der Alltagssprache‘ gilt dagegen, daß sie keine Angaben ber die physikalische Natur des Ereignisses enthalten. Doch diese Unterschiede sind kein Grund, die eine ,subjektiv‘ und die andere ,objektiv‘ zu nennen. Richtiger ist, daß beide Beschreibungen unvollstndig sind. Die Sache sieht freilich anders aus, wenn man die Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Beschreibung der Dinge unter dem Gesichtspunkt der Frage betrachtet, wie die Wirklichkeit zu beschreiben ist, wenn sie so erfaßt werden soll, wie sie unabhngig von uns und unseren Weisen der Wahrnehmung und Erfahrung existiert. Es geht dann darum, die Grenzlinie zu bestimmen zwischen dem Anteil unserer Erfahrungserkenntnis einerseits, der uns als wahrnehmenden Subjekten zuzurechnen ist, und dem Anteil, der auf die Welt außer uns Bezug nimmt, so wie sie unabhngig von unserer Art und Weise der Erfahrung beschaffen ist, andererseits.11 Im Lichte dieses Projekts ist unsere Erkenntnis von Blitz und Donner deswegen subjektiv, weil sie uns nur eine Erkenntnis der Welt, wie sie fr uns ist, gibt, whrend die Erkenntnis des Physikers vom Mars objektiv genannt zu werden verdient, weil sie uns ein Verstndnis der Welt vermittelt, wie sie an sich ist, und damit auch unabhngig von der kontingenten Beschaffenheit unserer Wahrnehmung. Sieht man von der Fiktion einer Physik der Marsbewohner ab, so schließt fr uns die Aufgabe einer objektiven Reprsentation der Welt es gerade aus, das Subjektive unserer Erkenntnis in irgendeinem Standpunkt zu sehen, und verbietet es daher auch, die objektive Erkenntnis als standpunktfreie Erkenntnis fiktiver Marsbewohner, als imaginren „view from nowhere“ zu verstehen. Denn die Unterscheidung von Subjektiv und Objektiv zielt nun nicht darauf, zwei Arten der Erkenntnis aufgrund des Standpunktes, von dem aus sie konzipiert sind, voneinander zu unterscheiden, sondern es kommt darauf an, in unserer Erkenntnis der Welt die Momente, die „nur in Bezug auf den Weltkontakt eines wahrnehmenden Wesens eine Bedeutung haben“,12 zu identifizieren und von den Momenten abzugrenzen, die etwas mit der Welt ganz unabhngig davon, daß und wie wir sie erfahren, zu tun haben. Eine solche Abgrenzung vorzunehmen, besagt jedoch nicht, daß wir die subjektiven Umstnde unserer Erfahrung hinter uns zurcklassen, gewissermaßen eliminieren und zu einer Erkenntnis fortschreiten, die vçllig unabhngig von unserer Erfahrung ist. Es geht 11 12
Krger, 1990, S. 70–73, hier S. 71. Krger, 1990, S. 83.
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vielmehr darum, eine Erkenntnis der Welt, die wir nur durch unsere Art von Erfahrung gewinnen kçnnen, so zu interpretieren, daß wir zwischen den beiden genannten Momenten unterscheiden kçnnen. Das Interesse an einer objektiven Weltauffassung verlangt von uns nicht, unsere durch subjektive Bedingungen bestimmte Erfahrung aufzugeben und einen anderen Standpunkt zu beziehen, sondern es erfordert einen reflektierten Umgang mit dieser Erfahrung, um im Hinblick auf das, was wir in Erfahrung bringen, zwischen dem, wie die Welt uns erscheint, und dem, wie sie unabhngig von uns ist, zu unterscheiden. Wie wir gesehen haben, fhrt Nagels Konzeption des Subjektiven als Abhngigkeit von einem Standpunkt dazu, daß der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Erkenntnissen oder Beschreibungen der Welt sich als eine bloß inhaltlich bestimmte Verschiedenheit herausstellt. Geht es aber um das Problem einer objektiven Erkenntnis der Welt unter kontingenten, aber fr uns unvermeidbaren subjektiven Bedingungen, dann ist das Subjektive nicht in der Abhngigkeit von einem Standpunkt, den es zu eliminieren gilt, zu sehen, sondern muß gerade als eine unverzichtbare Komponente unserer auf Erfahrung beruhenden Erkenntnis der Welt angesehen werden, welche zu identifizieren, aber nicht zu eliminieren ist. Die Rede von einem Standpunkt, den man aufgeben oder hinter sich zurcklassen muß, macht dann keinen Sinn. Dies bedeutet aber, daß Nagels Auffassung des Subjektiven im Sinne einer Abhngigkeit von einem Standpunkt kein angemessenes Verstndnis der Rolle erlaubt, die unser subjektiv bestimmtes Erfahren und Erleben fr unsere Mçglichkeit einer objektiven Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist, hat. III. Kant Es ist gerade Kant gewesen, der diese Rolle im Blick hatte, indem er einen Zusammenhang zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven herzustellen versuchte. Um Mißverstndnisse zu vermeiden, muß man darauf hinweisen, daß sich bei ihm auch berlegungen finden, die auf eine dichotomische Abgrenzung zwischen beiden zielen, in ihrer einfachsten Form als eine Differenz der Inhalte unserer bewußten Vorstellungen: Empfindungen als Vorstellungen, die „sich lediglich auf das Subject, als die Modification seines Zustandes beziehen“ vs. Erkenntnisse als Vorstellungen von Objekten, welche in Anschauung und Begriff eingeteilt
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werden.13 Eine interessantere Variante ist die Unterscheidung zwischen einem „Frwahrhalten“, das „in der besonderen Beschaffenheit des Subjects seinen Grund hat“, und einer Meinung, die auf einem „objectiven Grund“ beruht und „berzeugung“ genannt wird,14 wovon Wissen ein besonderer Fall ist.15 Die bekannteste Anwendung dieser Unterscheidung ist Kants Lehre von den Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen.16 Hier geht es um eine Verschiedenheit nicht der Inhalte unserer Vorstellungen, sondern der Form der Rechtfertigung von Urteilen. Objektive Urteile verlangen eine Form der Rechtfertigung, die einen Begriff der Wahrheit voraussetzt, der nicht relativiert ist bezglich Sprecher und Zeitpunkt der ußerung, whrend dies fr subjektive Urteile nicht gilt. Die Differenz zwischen Subjektivem und Objektivem ist kein gradueller Unterschied, wie bei Nagel, sondern eine Sache unterschiedlicher Standards der Rechtfertigung. Aber Kants subtilere berlegungen zielen nicht darauf, den Unterschied hervorzuheben, sondern auf den Zusammenhang zwischen beiden. Als ein Beispiel sei seine Auffassung der Empfindungen als „Erkenntnisstcken“ genannt.17 Empirische Erkenntnisse verlangen empirische Anschauungen, die sich „durch Empfindungen auf den Gegenstand“ beziehen,18 und daher leisten subjektive Vorstellungen einen Beitrag zur Erkenntnis von Objekten: Die Dichotomie zwischen subjektiven und objektiven Vorstellungen wird ersetzt durch das Konzept von „Erkenntnisstcken“, das eine funktionale Betrachtung der subjektiven Elemente unserer empirischen Vorstellungen von Objekten ermçglicht. Worauf es ankommt, ist nicht der Inhalt der Vorstellungen, sondern ihre epistemische Rolle oder Funktion. Weil empirische Anschauungen sich durch Empfindung auf ihren Gegenstand beziehen, kçnnen wir keine empirische Erkenntnis ohne subjektive Vorstellungen haben. In Anlehnung an Nagels Terminologie, aber gegen ihn gewendet, kann man sagen: Unsere empirischen Vorstellungen von Objekten kçnnen nicht von allem Subjektiven befreit werden; ein „detached view“ ist nicht mçglich. Die Verbindung von Subjektivem und Objektivem steht aber vor allem im Zentrum von Kants Transzendental-Philosophie, also seiner 13 14 15 16 17 18
Kant, KrV, B 376/7. Kant, KrV, B 848. Kant, KrV, B 850. Kant, Prolegomena, § 18, 297/8. Vgl. Kant, KU, 189; ders., Vorlesungen, 737. Kant, KrV, B 34.
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berlegungen zu den nicht-empirischen Bedingungen unserer empirischen Erkenntnis. Die Kategorien werden „subjektive Bedingungen des Denkens“ genannt, und die Aufgabe ihrer Deduktion besteht in dem Nachweis ihrer objektiven Gltigkeit.19 Schon diese Aufgabenstellung zeigt eine gegenber Quine und Nagel vçllig andere Auffassung des Subjektiven und Objektiven: An die Stelle einer exklusiven Antithese tritt ihre konjunktive Verbindung. Weshalb sind die Kategorien „subjektive Bedingungen des Denkens“? Eine Antwort besteht darin, daß sie Bedingungen von etwas Subjektivem sind – nmlich dem Denken. Aber wieso ist das Denken subjektiv? Wenn Kants Deduktion der Kategorien gelingt, dann kann ein solches Denken auch objektiv gltig und somit etwas Objektives sein. Daher kann diese Antwort nicht berzeugen. Eine bessere Antwort verweist auf den Zusammenhang von Aprioritt und Subjektivitt, wie er in Kants These zum Ausdruck kommt: Wir kçnnen uns nichts a priori vorstellen, als wovon wir selbst in unserer Vorstellungskraft die Grnde enthalten entweder in der Sinnlichkeit oder dem Verstande.20
Ich will diese allgemeine These zum apriorischen Wissen hier nicht genauer diskutieren, sondern mich auf den besonderen Fall von apriorischem Wissen beschrnken, der fr die Kategorien relevant ist. Kant betont an verschiedenen Stellen, daß dieses Wissen beschrnkt oder unvollstndig ist. So heißt es in ,B 146‘: Von der Eigenthmlichkeit unsers Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperception a priori zu Stande zu bringen, lßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine andere Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer mçglichen Anschauung sind.
Kant spricht von „unserem Verstand“ und von der „uns mçglichen Anschauung“. Sie sind fr ihn die beiden Erkenntnisvermçgen, auf denen alle unsere Reprsentationen der Welt basieren. Fr diese Vermçgen gelten bestimmte Bedingungen, die nur im Rekurs auf „uns“ als Subjekte der Erkenntnis identifiziert und verstndlich gemacht werden kçnnen. Diese subjektive Basis der uns mçglichen Reprsentationen der Welt wird als etwas angesehen, das keiner Erklrung zugnglich ist. Wie ist das zu verstehen? 19 20
Vgl. Kant, KrV, B 122. Kant, Reflexionen, R 5935, 394.
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Fr Kant besteht Erkenntnis in einer Synthesis, die gemß den logischen Funktionen des Verstandes erfolgt und das betrifft, was in Raum oder Zeit gegeben ist. Eine solche Erkenntnis ist eine objektive Reprsentation der Welt, welche Besonderheiten aufweist, die nur im Rekurs auf unseren Verstand und unsere Anschauung bestimmt werden kçnnen. Fr diese Besonderheiten, so Kant, kçnnen wir keine Erklrung geben. Demnach gibt es bestimmte formale oder apriorische Bedingungen, die wir als Bedingungen unserer Erkenntnis der Welt zu akzeptieren haben, ohne daß wir erklren kçnnen, warum das so ist. Das Subjektive erscheint als etwas, das nur als Faktum hingenommen werden kann und sich jeder Erklrung von einem von uns unabhngigen Standpunkt entzieht, und zugleich soll dieses Subjektive eine konstitutive Bedingung unserer objektiven Erkenntnis sein. In einem Brief an Marcus Herz vom 26. Mai 1789 gibt Kant ein interessantes Argument fr seine Auffassung: Wie aber eine solche sinnliche Anschauung (als Raum und Zeit) Form unserer Sinnlichkeit oder solche Functionen des Verstandes, als deren die Logik aus ihm entwickelt, selbst mçglich sey, oder wie es zugehe, daß eine Form mit der Andern zu einem mçglichen Erkenntnis zusammenstimme, das ist uns schlechterdings unmçglich weiter zu erklren, weil wir sonst noch eine andere Anschauungsart, als die uns eigen ist, und einen anderen Verstand, mit dem wir unseren Verstand vergleichen kçnnten und deren jeder die Dinge an sich selbst bestimmt darstellte, haben mßten: wir kçnnten aber allen Verstand nur durch unseren Verstand und so auch alle Anschauung nur durch die unsrige beurtheilen.21
Wir kçnnen also nicht erklren, daß oder wie bestimmte formale Bedingungen unserer Erkenntnis „mçglich“ sind. Was soll das heißen? Geht man von unserer Erkenntnis aus, so lßt sich die Mçglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit dieser Bedingungen begrnden – eine Aufgabe, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft zu lçsen versuchte. Aber Kant sagt, daß wir keine „weitere“ Erklrung geben kçnnen – d. h. wir kçnnen die Mçglichkeit und Notwendigkeit dieser Bedingungen nur im Hinblick auf unsere Erkenntnis begrnden. Was er im Sinne hat, wird deutlich, wenn man die Anforderungen an eine solche weitergehende Erklrung betrachtet. Er behauptet, daß wir eine andere Art von Anschauung und eine andere Art von Verstand betrachten mssen, um sie mit unserer Anschauung und mit unserem Verstand zu vergleichen, wobei vorausgesetzt wird, daß durch das Zusammenspiel dieser Erkenntnisvermçgen 21
Kant, Briefwechsel, 51.
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jeweils eine korrekte Darstellung dessen, was der Fall ist, zustandekommt („jede stellt die Dinge an sich selbst bestimmt dar“). Es wird also gefordert, daß wir zwei Darstellungen derselben Welt miteinander vergleichen – beide wahr, aber nicht ineinander bersetzbar, weil sie sich aufgrund ihrer formalen Bedingungen voneinander unterscheiden. Um die von Kant betrachtete Erklrung zu geben, ist es nçtig, unsere Auffassung der Welt als einen besonderen Fall eines allgemeinen Begriffs einer solchen Auffassung zu identifizieren. Dies aber kçnnen wir nur tun, indem wir von unseren spezifischen formalen Erkenntnisbedingungen absehen und zugleich ein Kriterium der Unterscheidung formal variierender Auffassungen der Welt zur Verfgung haben. Dazu sind wir aber nicht imstande, da „wir allen Verstand nur durch unseren Verstand beurtheilen kçnnen“. ,Beurteilen‘ besagt hier soviel wie Erkennen und in seiner Bedeutung Abschtzen. Es ist mehr als nur eine andere Auffassung der Welt zu verstehen – im Sinne von ,sich vorstellen‘ oder ,ein Gedankenexperiment anstellen‘. Wir sind ja in der Lage, das Konzept einer intellektuellen Anschauung zu verstehen; was wir aber nicht kçnnen, ist zu erkennen, daß es sich um eine korrekte Auffassung der Welt handelt, auf die auch unsere Erkenntnis gerichtet ist, denn wir kçnnen nicht wissen, ob jemand, der ber eine solche Erkenntnisfhigkeit verfgt, berhaupt etwas weiß. Um jemand anderem ein Wissen zusprechen zu kçnnen, muß man gemeinsame Kriterien oder Standards haben. Man kann nicht einem anderen ein Wissen zusprechen, das einem selbst im Prinzip unzugnglich ist. In der Terminologie Wittgensteins kann man auch sagen: Stze der Form ,ich weiß, daß p‘ gehçren zu demselben Sprachspiel wie Stze der Form ,er weiß, daß p‘. Aber in dem vorliegenden Fall ist die Mçglichkeit eines gemeinsamen Sprachspiels ausgeschlossen: Aufgrund der formalen Bedingungen unseres Wissens kçnnen wir nicht den Standpunkt der anderen teilen. Das Ergebnis dieses Arguments lßt sich in Nagels Worten so beschreiben: Wir haben kein externes oder objektives Verstndnis unseres objektiven Standpunktes. Wir kçnnen uns Alternativen ausdenken, aber wir kçnnen sie nicht „beurteilen“, wir kçnnen nicht wissen, ob sie existieren, und wenn es sie gbe, wren wir nicht in der Lage, sie zu erkennen. Frege vertritt dieselbe Auffassung im Hinblick auf die fundamentalen Gesetze der Logik:22 Wir kçnnen uns Wesen denken, die sich nicht an diese Gesetze halten; aber wir kçnnen nicht annehmen, daß sie berechtigt sind, dies zu tun. Denn unsere Vorstellung von ,berechtigt sein‘ ist – 22
Vgl. Frege, 1962, XVII.
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zumindest teilweise – durch diese Gesetze definiert. Unser Begriff von objektiver Erkenntnis kann nicht selber objektiv verstanden, von einem Standpunkt, der unabhngig von unseren Bedingungen der Erkenntnis ist, beurteilt werden; er kann nur im Hinblick auf die uns mçgliche Erkenntnis, also im Hinblick auf etwas Subjektives, erlutert werden. Deshalb spricht Kant so hufig von unserer Erkenntnis und von dem, was von uns erkannt werden kann. Das hat nichts mit Konventionalismus und Relativismus zu tun; es zeigt vielmehr, daß wir die formalen Bedingungen unserer Erkenntnis als Fakten zu akzeptieren oder, wie Wittgenstein von den „Lebensformen“ sagt, „hinzunehmen“ haben.23 Wir kçnnen uns Alternativen zu unserer Art von Erkenntnis denken, aber wir sind nicht in der Lage festzustellen, ob jemand ein solches Wissen hat, und um was fr ein Wissen es sich handelt, wenn er es denn hat. Der von Nagel so favorisierte „externe“, d. h. von allem Subjektiven befreite Standpunkt eines „view from nowhere“ ist fr uns nicht nur nicht erreichbar, sondern seine Annahme hat fr uns auch keinen epistemischen Gehalt. Ich hatte am Anfang die philosophische Frage nach der Wirklichkeit als eine Frage nach dem Verhltnis zwischen unserer Reprsentation der Welt und der Welt selbst verstanden und die Unterscheidung von Subjektiv und Objektiv mit der Idee einer uns verstndlichen Reprsentation der Welt so, wie sie unabhngig von uns ist, verbunden. Es ist diese Idee, die uns zwischen subjektiven und objektiven Zgen unserer Reprsentation der Welt zu unterscheiden nçtigt. Ich habe verschiedene Vorschlge zur inhaltlichen Interpretation der Unterscheidung skizziert. Abschließend will ich diese Vorschlge im Lichte ihrer Konsequenzen kurz betrachten. IV. Resmee Folgt man Quine, so ist die Unterscheidung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven als eine Unterscheidung zwischen den Daten und ihrer begrifflichen, theoretischen Interpretation zu verstehen. Da eine solche Interpretation durch die Daten nicht eindeutig bestimmt ist, ergibt sich die Mçglichkeit, daß wir unterschiedliche Interpretationen haben, die nicht ineinander zu bersetzen sind. Anders formuliert: Wir haben verschiedene Welt-Bilder, die zwar in ihren Daten konvergieren, aber in ihrer begrifflichen Interpretation vçllig divergieren kçnnen. Dies fhrt zu einem Relativismus, der, wie Davidson zu Recht betont hat, mit einer 23
Vgl. Wittgenstein, 1953, S. 226.
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dualistisch verstandenen Unterscheidung zwischen Daten oder empirischem Gehalt einerseits und begrifflicher Interpretation oder Begriffsschema andererseits unlçslich verbunden ist.24 Nagel vermeidet diesen Dualismus, indem die Unterscheidung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven nicht mehr zwei Elemente betrifft, deren Verbindung allererst eine Reprsentation der Welt konstituieren, sondern sie zur Abgrenzung verschiedener Arten von Reprsentationen benutzt wird. Subjektiv ist ein Bild der Welt, das durch den Standpunkt desjenigen, der es hat oder entwirft, geprgt ist. Dieser Standpunkt besteht nicht nur in seiner raum-zeitlichen Lokalisierung, sondern auch in den allgemeinen Bedingungen seiner Wahrnehmung und Erfahrung. Eine objektive Reprsentation der Welt ist demgegenber nur zu gewinnen, wenn wir uns von unseren subjektiven Umstnden und Bedingungen „distanzieren“, wenn wir ber einen „view from nowhere“ verfgen. Die antithetische Beziehung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven fhrt dazu, daß eine objektive Reprsentation zu einem Fluchtpunkt der Distanzierung und Elimination von subjektiven Bedingtheiten wird. Diese Reprsentation bleibt fr uns unerreichbar, denn fr Wesen wie uns, die auf die Standpunktabhngigkeit ihrer Wahrnehmung nicht verzichten kçnnen, ist eine Sicht von nirgendwo kein Blick auf irgend etwas. Es ist daher kein Zufall, daß Nagel einen direkten Zusammenhang zwischen seiner Konzeption von objektiver Erkenntnis und einem Skeptizismus herstellt.25 Er bedient sich hufig der Metapher des Standpunktes und beschreibt den Prozeß der Objektivierung auch als eine Vernderung des Standpunkts. Weil er aber das Verhltnis zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven als eine antithetische Beziehung versteht, kann er nicht der mit dieser Metapher verbundenen trivialen Einsicht gerecht werden, daß man gewisse Dinge besser von hier als von dort erkennt, und daß fr andere Dinge das Umgekehrte gilt. Anders formuliert: Nicht die Distanzierung und das Hinter-sich-Zurcklassen eines Standpunkts, sondern vielmehr die Integration und die wechselseitige Verbindung verschiedener Standpunkte charakterisieren den Prozeß eines um Objektivitt bemhten Verstehens der Welt. Der philosophische Preis, den Nagel fr dieses antinomische Verstndnis des Subjektiven und des Objektiven zu bezahlen bereit ist, ist nicht gering: ein
24 25
Vgl. Davidson, 1984, S. 189/93. Vgl. Nagel, 1986, S. 67 ff.
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starker oder auch „metaphysischer“ Realismus, „the view from nowhere“,26 und sein „Schatten“, der Skeptizismus. Kants Auffassung der Unterscheidung zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven ist weder dualistisch wie bei Quine noch antithetisch wie bei Nagel. Fr ihn steht eine objektive Reprsentation der Welt unter subjektiven Bedingungen, die mit uns als erkennenden Wesen zu tun haben. Diese Bedingungen unterscheiden sich von Quines „conceptual schemes“, weil es fr uns keine epistemischen Alternativen gibt, whrend die Unbestimmtheit der Theorien durch die Daten immer alternative Begriffsrahmen zu denken erlaubt, die nicht ineinander bersetzbar sind. Die subjektiven Bedingungen sind auch nicht eliminierbar, da es sich um konstitutive oder, wie Kant sagt, apriorische Bedingungen jeder uns mçglichen und verstndlichen Reprsentation der Welt handelt. Diese Bedingungen kçnnen „nicht weiter“ erklrt und daher nicht extern, d. h. unabhngig von unserer Erkenntnis und ihren Bedingungen beurteilt werden. Nagels Rede von Distanzierung und Hinter-sich-Zurcklassen verliert daher jeden Sinn. Indem Kant das Subjektive als apriorische Bedingung des Objektiven denkt, kann nur ein Zusammenspiel zwischen beiden die Mçglichkeit unserer Reprsentation der Welt so, wie sie unabhngig von uns ist, verstndlich machen. Weder Quine noch Nagel akzeptieren die Idee, daß es etwas Apriorisches gibt, das als konstitutive oder formale Bedingung jeder uns verstndlichen Reprsentation einer solchen Welt fungiert. Indem Kant dieses Apriori mit dem Subjektiven verbindet, zeigt sich, daß ein oder vielleicht das zentrale Thema der hier betrachteten Kontroverse zwischen ihm und zeitgençssischen Philosophen wie Quine und Nagel seine Konzeption des Apriori ist. Dies gilt nicht nur fr diese Kontroverse. Ich hatte am Anfang gesagt, daß die philosophische Frage nach der Wirklichkeit auf eine Erklrung der Mçglichkeit zielt, daß unsere Meinungen die Welt so reprsentieren, wie sie unabhngig von uns ist. Um diese Mçglichkeit zu denken, mssen wir sowohl die Idee einer Reprsentation der Welt so, wie sie unabhngig von uns ist, verstehen als auch berlegen, wie unsere Meinungen beschaffen sind und sein mssen, um als eine solche Reprsentation angesehen werden zu kçnnen. Quines berlegungen beschftigen sich im wesentlichen mit jener Idee; Nagel konzentriert sich ganz auf den Begriff unserer, d. h. uns verstndlicher Meinungen, die er als einen Standpunkt versteht, den man hinter sich zurckzulassen hat. Kant verbindet den Gedanken einer von uns unab26
Vgl. Nagel, 1986, S. 108 f.
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hngigen Welt mit der Konzeption ihrer uns verstndlichen Reprsentation, indem er konstitutive Bedingungen unseres Verstehens thematisiert. Ohne eine solche berlegung wird man die philosophische Frage nach der Wirklichkeit nicht beantworten kçnnen. Literatur Davidson, Donald, 1984, On the Very Idea of a Conceptual Scheme, in: Donald Davidson, Inquiries into Truth and Interpretation, Oxford. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft [zitiert mit KrV unter Angabe der Seitenzahl der zweiten Auflage „B“], in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. [im Folgenden zitiert mit „AA“ unter Angabe des Bandes]. Kant, Immanuel, Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen, in: AA IV [zitiert mit „Prolegomena“ unter Angabe der Seitenzahl]. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, in: AA V. [zitiert mit „KU“ unter Angabe der Seitenzahl]. Kant, Immanuel, Vorlesungen ber Metaphysik und Rationaltheologie, in: AA XXVIII [im Folgenden zitiert mit „Vorlesungen“ unter Angabe der Seitenzahl]. Kant, Immanuel, Reflexionen, in: AA XVIII [zitiert mit „Reflexionen“ unter Angabe der Seitenzahl]. Kant, Immanuel, Briefwechsel, in: AA XI [zitiert mit „Briefwechsel“ unter Angabe der Seitenzahl]. Frege, Gottlob, 1962, Die Grundgesetze der Arithmetik I, 2. Aufl. Darmstadt. Wittgenstein, Ludwig, 1953, Philosophische Untersuchungen, hrsg. v. G. E. M. Anscombe/Rush Rhees, Oxford. Krger, Lorenz, 1990, Materie fr uns und an sich – Was sind primre Eigenschaften?, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Gçttingen 1989, Gçttingen. Nagel, Thomas, 1979, Mortal Questions, Cambridge, New York. Nagel, Thomas, 1986, The View from Nowhere, New York, Oxford. Quine, W. V. O., 1960, Word and Object, New York, London.
Kant und Carl ber Apperzeption Rolf-Peter Horstmann Wolfgang Carl zum 65. Geburtstag
In seinem zurecht viel bewunderten Buch ber den schweigenden Kant,1 den Kant also, der sich ber faktisch mehr als ein Jahrzehnt von 1770 bis 1781 dem Publikum schriftstellerisch verweigert hat, weil sich sein Projekt der Bestimmung der Grenzen der Vernunft und der Sinnlichkeit, uns unter dem Titel Kritik der reinen Vernunft bekannt, doch als sehr viel schwieriger erwies als ursprnglich von ihm angenommen, – in diesem ebenso informativen wie informierten Buch hat Wolfgang Carl auf das Genaueste den Weg bzw. die Wege untersucht, die Kant bei dem Versuch der Beantwortung der Frage eingeschlagen hat, wie sich reine Begriffe auf Gegenstnde beziehen kçnnen, so die berhmt-berchtigte Formulierung der Frage in dem Brief an Markus Herz aus dem Jahre 1772.2 Wie wir – allerdings nicht erst seit Wolfgang Carl – wissen, ist es diese Frage, die Kant zu dem von ihm fr mhevoll erklrten Unternehmen3 einer Deduktion der reinen Verstandesbegriffe veranlasst hat. Welche Mhen im Detail tatschlich mit diesem Unternehmen verbunden gewesen sind, dies jedoch wird erst richtig durch das Buch von Wolfgang Carl deutlich, indem es das ganze Spektrum von Problemen und das Arsenal der begrifflichen Mittel exponiert, die fr Kant bei der Konzipierung einer Deduktion eine Rolle gespielt haben. Nun haben alle entwicklungsgeschichtlichen Rekonstruktionen der berlegungen, die zu den dann letztlich von Kant verçffentlichten Versionen der Deduktion gefhrt haben, notgedrungen einen sehr spekulativen Charakter. Dies nicht etwa deshalb, weil sie – was allerdings auch sein kann – zu Ausflgen in die Metaphysik verleiten, sondern in diesem Fall primr deshalb, weil sie auf eine ußerst schmale Textbasis zurck1 2
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Carl, 1989. AA 10, 130 f. Mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft, die nach der Originalpaginierung der ersten (A) bzw. zweiten (B) Auflage zitiert wird, werden die brigen Schriften Kants nach der Akademie-Ausgabe unter Angabe von Bandund Seitenzahl zitiert. KrV, A XVI.
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greifen kçnnen, die in wichtigen Hinsichten selbst schon das Produkt einer Rekonstruktion ist. Alles, worauf wir uns beziehen kçnnen, um den schweigenden Kant – wahrscheinlich gegen seinen Willen – wenn schon nicht zum Sprechen, so doch wenigstens zum Murmeln oder Grummeln bringen zu kçnnen, sind weitgehend undatierte Koan-hnliche Notizen (die sog. Reflexionen), lose Bltter und mehr oder weniger gut berlieferte Vorlesungsnachschriften, die auch nur in einen chronologisch geordneten Zusammenhang zu bringen, bereits mehrere Forschergenerationen beschftigt hat. Aus diesem hinreichend obskuren und heterogenen Material lsst sich manches Garn spinnen, und jeder, der sich auf dieses Geschft einlsst, wird sich das Urteil gefallen lassen mssen, dass – um im Bild zu bleiben – entweder die Festigkeit des so verfertigten Garns oder auch nur seine spezifische Frbung nicht unbedingt berzeugt und allen Ansprchen gerecht wird. Die Geschichte, die Wolfgang Carl in seinem Buch aus diesem Material entwickelt, gehçrt nun sicher zum festeren Garn, das sich aus dem gegebenen Material gewinnen lsst, wenn es nicht gar das festeste ist. Im Folgenden mçchte ich deshalb auch gar nicht erst versuchen, seine Reißfestigkeit in Frage zu stellen. Ich mçchte vielmehr eine Frage verfolgen, die sich mir bei der Betrachtung des fertiggestellten Carlschen Produkts gestellt hat und die in meinen Augen auf die Vermutung fhren kçnnte, dass in besagtes Garn ein Faden eingearbeitet worden ist, der so nicht dahin gehçrt. Es geht also im Folgenden weder um Zweifel an der Festigkeit des Carlschen Garns, noch um dessen Frbung, vielmehr geht es um seine Konsistenz, seine Beschaffenheit. Die Frage, mit der ich mich beschftigen werde, hat mit der Carlschen Einschtzung der Rolle zu tun, die der Einheit der Apperzeption im Rahmen des Kantischen Deduktionsprojekts zukommt, genauer: es wird um die Frage gehen, ob der von Carl diagnostizierte Wandel in der Kantischen Auffassung dessen, was an Voraussetzungen fr eine Deduktion der Kategorien in Anspruch zu nehmen erforderlich ist, tatschlich mit einem von Carl dafr mit haftbar gemachten Wandel von Kants Auffassung der Einheit der Apperzeption verbunden gewesen sein muss. Da das Ganze ein wenig kompliziert und vielleicht auch spezialistisch wirken mag, soll es eingebettet werden in einige Bemerkungen, die wenigstens anzudeuten versuchen, warum die hier vorgestellten Betrachtungen zum Kantischen Konzept der Einheit der Apperzeption doch von zumindest philosophiehistorischem Interesse sind. Sie kçnnen nmlich vielleicht dazu beitragen, ein Licht auf das Zustandekommen eines Missverstndnisses zu werfen, das von einiger Wichtigkeit fr die systematischen Anstze der Kant nachfolgenden
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idealistischen Versuche (also die der sog. Deutschen Idealisten) gewesen ist, der Kantischen Philosophie ein neues und besseres Fundament zu verschaffen. I. Fr einige der wirkungsmchtigsten Einschtzungen des Wertes der Kantischen Philosophie zu Kants Lebzeiten ist bekanntlich Friedrich Heinrich Jacobi verantwortlich gewesen. Von ihm stammen nicht nur solche plakativen Formulierungen wie die, dass man ohne die Annahme des Dinges an sich nicht in die Kantische Philosophie hineinkomme, mit dieser Annahme aber nicht in ihr bleiben kçnne. Er ist auch der zu seiner Zeit wortmchtigste Vertreter der Ansicht, dass die Kantische Auffassung des erkennenden Subjekts dieses Subjekt zu verflchtigen drohe, es zu einer Phantasmagorie, zu einem Gespenst mache, das, als beruhend auf einer unerkennbaren Einheit der Apperzeption, jenseits aller Realitt sein irgendwie rtselhaftes Wesen treibt. Fr Jacobi ist daher die Kantische Philosophie – wenigstens in ihren theoretischen Teilen – das ebenso beeindruckende wie grauenerregende Dokument einer menschen-, existenz- und realittsfeindlichen Konstruktion, die die uns erkennbare Welt zu einer letztlich inhaltsleeren Fiktion erklrt, eingefasst und getragen von zwei Ungedanken: dem unerkennbaren Subjekt der Apperzeption und dem ebenso unerkennbaren Ding an sich.4 Wenn, so Jacobi, eine solche Konstruktion tatschlich als kennzeichnend fr das angesehen werden muss, was Philosophie zu leisten in der Lage ist, dann sollte man sie nicht nur einfach vergessen, sondern sie durch Unphilosophie – so Jacobis Begriff fr die eigentlich philosophische Ttigkeit – aktiv bekmpfen. Man wird nun kaum behaupten kçnnen, dass diese Jacobische, durchaus polemisch angelegte Beurteilung des Wertes und der Voraus4
Eine schçne Formulierung der Jacobischen Monita findet sich in seinem David Hume ber den Glauben, oder Idealismus und Realismus von 1787. Dort heißt es bei der Wrdigung der Kantischen Resultate: „Ich bin alles, und außer mir ist im eigentlichen Verstande Nichts. Und ich, mein Alles, bin denn am Ende doch auch nur ein leeres Blendwerk von Etwas; die Form einer Form; gerade so ein Gespenst, wie die andern Erscheinungen, die ich Dinge nenne, wie die ganze Natur, ihre Ordnung und ihre Gesetze“ (Jacobi, 1976, Bd. II, S. 217). In neuerer Zeit sind hnliche Bedenken gegen die Kantische theoretische Philosophie wirkungsmchtig von P. F. Strawson in The Bounds of Sense (Strawson, 1966) und seinen anderen Schriften zu Kant vorgetragen worden. Vgl. zu Jacobis Kant-Kritik die etwas ausfhrlichere Darstellung in Horstmann, 32004, S. 28 ff.
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setzungen der Kantischen theoretischen Philosophie vollstndig aus der Luft gegriffen gewesen ist. Sie kann sich vielmehr ziemlich direkt auf den bisweilen obskuren Buchstaben der Kantischen Texte sttzen, ohne von vornherein dem Verdikt zu verfallen, gegen deren Geist zu verstoßen. Immerhin ist es Kant selbst, der uns in unterschiedlichen Kontexten nachdrcklich auffordert, einige uns natrliche Vorstellungen von uns selbst und der Beschaffenheit der Welt aufzugeben und sie durch andere Vorstellungen zu ersetzen. Was das Subjekt und seine Unerkennbarkeit betrifft, so denke man nur an folgende Deklarationen: „Es ist aber offenbar: daß das Subjekt der Inhrenz durch das dem Gedanken angehngte Ich nur transzendental bezeichnet werde, ohne die mindeste Eigenschaft desselben zu bemerken, oder berhaupt etwas von ihm zu kennen, oder zu wissen“.5 Oder: „Ich, durch den inneren Sinn in der Zeit vorgestellt, und Gegenstnde im Raum, außer mir, sind zwar spezifisch ganz unterschiedene Erscheinungen, aber dadurch werden sie nicht als verschiedene Dinge gedacht. Das transzendentale Objekt, welches den ußeren Erscheinungen, imgleichen das, was der innern Anschauung zu Grunde liegt, ist weder Materie, noch ein denkend Wesen an sich selbst, sondern ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen.“.6 Oder (verkrzt): Wir haben „keine Kenntnis von dem Subjekte an sich selbst, was diesem [dem Ich-Bewusstsein, R.P.H.], so wie allen Gedanken, als Substratum zum Grunde liegt“.7 Was die wahre Beschaffenheit der Wirklichkeit betrifft, so ußert sich Kant ebenfalls hufig in einer Weise, die durchaus als wenig common-sense-freundlich gelten kann. Auch hier wieder einige einschlgige Zitate: „Dass Raum und Zeit nur Formen der sinnlichen Anschauung, also nur Bedingungen der Existenz der Dinge als Erscheinungen sind, dass wir ferner […] von keinem Gegenstande als Ding an sich selbst, sondern nur sofern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d.i. als Erscheinung, Erkenntnis haben kçnnen, wird in […] der Kritik bewiesen“.8 Oder: Der transzendentale Idealist (also der Vertreter der Kantischen Position in Sachen Realitt) lsst „Materie und sogar deren innere Mçglichkeit bloß fr Erscheinung gelten […], die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist sie bei ihm nur eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche ußerlich heißen, nicht, als ob sie sich auf an sich selbst ußere Gegenstnde bezçgen, sondern weil sie 5 6 7 8
KrV, KrV, KrV, KrV,
A A A B
355. 380. 350. XXVI.
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Wahrnehmungen auf den Raum beziehen, in welchem alles außer einander, er selbst der Raum aber in uns ist“.9 Was auch immer im einzelnen zu derartigen Bemerkungen Kants gesagt werden kann, sie alle scheinen – nicht nur fr Jacobi, wie man sehen wird – auf folgendes Bild unserer epistemischen Situation hinaus zu laufen: Wenn wir uns berlegen, was zum Zwecke der Mçglichkeit der Erfahrung, und d. h. zum Zwecke der Mçglichkeit objektiv gltiger empirischer Urteile erforderlich ist, dann kommen wir nicht umhin, uns das Subjekt des Denkens bzw. des Erkennens als eine durch synthetische Leistungen charakterisierte einheitliche Instanz vorzustellen, die das uns durch die Sinne gegebene Mannigfaltige der Eindrcke nach bestimmten Regeln zu der Vorstellung eines Gegenstands vereinigt. Dieser Gegenstand ist insofern ein Produkt des erkennenden Subjekts, als er das Ergebnis der regelgeleiteten Aktivitt des Subjekts ist, und darf daher nicht identifiziert werden mit dem, was ihm ,an sich‘ oder unter Absehung der subjektiven synthetischen Leistungen entsprechen oder, wie Kant es nennt: ,korrespondieren‘ wrde. Dieser Gegenstand ist ,Erscheinung‘ und nicht ,Ding an sich‘. Das erkennende Subjekt, die einheitliche aktive Instanz selbst, ist, da der Form nach den Gegenstand konstituierend, kein Gegenstand der Erkenntnis.10 Dieses Bild nun in der hier Jacobi zugeschriebenen Weise zu kritisieren, setzt nun allerdings verschiedenes voraus. Unter anderem liegt einer solchen Kritik eine wenn auch naheliegende, so doch nicht selbstverstndliche Annahme zugrunde, die darauf hinausluft, dass die einheitliche, oder besser: vereinheitlichende Instanz, die Kant als transzendentale Einheit der Apperzeption in Anschlag bringt und von der gelten soll, dass sie kein Gegenstand der Erkenntnis werden kann, von ihm irgendwie als substantielle Einheit, als irgendeine Art von Seelending gedacht wird.11 Denn 9 KrV, A 370. 10 Man muss beachten, dass diese Kantischen Festlegungen bezglich des Dinges an sich und des erkennenden Subjekts die fr Jacobi inakzeptablen Konnotationen nur dann erhalten, wenn man das Ding an sich mit dem Gegenstand, wie er ,in Wahrheit‘ oder ,eigentlich‘ ist, identifiziert und wenn man als den sozusagen ,natrlichen‘ Kandidaten fr das erkennende Subjekt die empirische Person in Anschlag bringt. Nun ist es keineswegs unkontrovers, ob man Kant eine solche Interpretation dessen, was er mit ,Ding an sich‘ und mit ,erkennendem Subjekt‘ meint, unterstellen muss. Man ist wahrscheinlich gut beraten, wenn man Kant keine allzu empiristische Deutung dieser Konzepte unterstellt. 11 Diese Annahme liegt nahe, wenn man eine der mancherlei Charakterisierungen dessen zugrunde legt, was Kant unter einem Objekt, einem Gegenstand ver-
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die Jacobische Kritik an der Unerkennbarkeit des Subjekts der Erkenntnis macht ja nur Sinn, wenn man voraussetzt, dass es da etwas gibt, was erkannt werden kçnnte, und dass dieses etwas irgendwie gegenstndlich fixiert werden muss. Und genau diese Voraussetzung ist nicht nur von Jacobi, sondern auch von einer großen Anzahl kritischer Kant-Interpreten in den mehr als zwei Jahrhunderten seit Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft gemacht worden. Die Frage ist also: muss man diese Voraussetzung tatschlich machen? Muss man Kant unterstellen, dass er die transzendentale Einheit der Apperzeption substantialistisch verstanden wissen wollte? Diese Frage ist nun leider nicht ohne weiteres zu beantworten, weil sie auf ein kompliziertes Geflecht von berlegungen fhrt, das einigermaßen schwer zu berschauen ist. II. Doch immer, wenn es bei Kant in Sachen transzendentaler Einheit der Apperzeption kompliziert wird, ist man gut beraten, sich an Carl zu halten. Er hat nmlich, wenn ich ihn richtig verstehe, einen Vorschlag zur Beantwortung dieser Frage vorgestellt, der sowohl verstndlich macht, wieso Jacobi auf eine substantialistische Deutung der transzendentalen Einheit der Apperzeption zu Recht hat kommen kçnnen und warum diese Deutung dennoch nicht stimmt. Nach Carl lsst sich nmlich das Folgende gut dokumentieren:12 Kant habe Mitte der siebziger Jahre einen vçllig neuen Ansatz zur Deduktion der Kategorien erwogen, der von einem bestimmten Konzept von Apperzeption ausgeht. Dies sollen die Reflexionen aus dem sog. Duisburgschen Nachlass belegen, die wohl aus dem Jahre 1775 stammen. Dem zu dieser Zeit relevanten Kantischen Konzept von Apperzeption standen wissen will. Die wohl einschlgigste Formel lautet: „Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“ (KrV, B 137). Folgt man dieser Definition, dann kann man die Kantische These von der Unerkennbarkeit des Subjekts tatschlich besagen lassen, dass dieses Subjekt, die Einheit der Apperzeption also, kein erkennbares Objekt sein kann, obwohl es durchaus ein Gegenstand ist, wenn auch ein nicht erkennbarer. Nicht selbstverstndlich ist diese Annahme, weil sie unbefragt voraussetzt, dass, wenn man von einem Subjekt der Erkenntnis redet, man implizit immer ein Objekt im Sinne der angefhrten Definition meint. Vgl. zu der Bestimmbarkeit des Ich als Objekt neuerdings Emundts, 2006, S. 295 ff. 12 Vgl. Carl, 1989, S. 82 ff.
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hat, so Carl, der ,dogmatische‘ Ich-Begriff der rationalen Psychologie zu Grunde gelegen, demzufolge man das denkende Subjekt, die Einheit der Apperzeption, als eine Substanz, als ein Substratum anzusehen hat, das fr die synthetischen Leistungen in der Verbindung eines Mannigfaltigen zu der Vorstellung von einem Gegenstand aufzukommen hat. Dieser ,substantialistischen‘ Auffassung des denkenden Subjekts hat, nach Carl, Kant bis zum Ende der siebziger Jahre angehangen, wie man dem Fragment einer Nachschrift einer Metaphysik-Vorlesung Kants entnehmen kçnnen soll, das unter der Bezeichnung ,L1‘ gefhrt und von Carl auf die spten siebziger Jahre datiert wird. Erst die Entdeckung der sog. Paralogismen habe Kant zur Aufgabe der substantialistischen Konzeption des denkenden Subjekts veranlasst, an deren Stelle er (aus Grnden, die nicht direkt mit der Entdeckung der Paralogismen zu tun haben mssen) ein Vermçgenskooperationskonzept (dieser hssliche Ausdruck ist nicht Carl, sondern mir anzulasten) entwickelt habe.13 Es ist leicht zu sehen, was an dieser Carlschen Interpretation des Schicksals der Einheit der Apperzeption vom Duisburgschen Nachlass (1775) bis zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) dem gegen Jacobi auftretenden Kant-Apologeten gefallen kann. Sie gibt den Weg frei zu der Einsicht, dass Jacobis kritische Bedenken auf einem Missverstndnis beruhen, dem zwar der Kant der mittleren siebziger Jahre selbst erlegen ist (nmlich das denkende Subjekt als Substanz aufzufassen), das aber um 1780 herum von Kant korrigiert worden ist zugunsten einer nicht-substantialistischen Konzeption der Apperzeption aus Anlass der Entdeckung der Paralogismen. Jacobi, so kçnnte man Wolfgang Carl ergnzen lassen, ist diesem Missverstndnis nur aufgesessen, weil Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die Einheit der Apperzeption in einer Sprache beschreibt, die durchaus noch substantialistische Konnotationen nahe legt. Diese Carlsche Interpretation, so schçn und fr den Jacobi-Kontext erhellend sie auch ist, setzt nun allerdings voraus, dass sich zeigen lsst, (1) dass Kant tatschlich zu irgendeinem frhen Zeitpunkt vor bzw. bis 1780 eine substantialistische Deutung der Einheit der Apperzeption vertreten hat und (2) dass diese Deutung von ihm aus Anlass der Entdeckung der Paralogismen, also um 1780 herum, aufgegeben worden ist. Es sind nun diese beiden Punkte, die mir nicht zwingend zu sein schei13 S. die Zusammenfassung, Carl, 1989, S. 173 ff. Zu bedenken ist allerdings, dass Kants kritisches Verhltnis zur rationalen Psychologie eine Geschichte hat, die bis in die vorkritische Zeit zurckgeht.
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nen, obwohl, wie man sehen wird und wie ich gleich hier betonen mçchte, die von mir fr mçglich gehaltene alternative Deutung auch nicht gerade zwingend genannt werden kann. Zunchst zum ersten Punkt: Muss man Kant unterstellen, er habe vor 1780 eine substantialistische Deutung der Einheit der Apperzeption unterhalten? Fr Carl ergibt sich das aus einigen Bemerkungen Kants in den Losen Blttern aus dem Duisburgschen Nachlass und aus der Metaphysik-Nachschrift L1. Die beiden wohl einschlgigsten Passagen aus dem Duisburgschen Nachlass lauten wie folgt: Wenn etwas apprehendirt wird, so wird es in die function der apperception aufgenommen. Ich bin, ich denke, Gedanken sind in mir. Dieses sind insgesamt Verhaltnisse, welche zwar nicht regeln der Erscheinung geben, aber machen, daß alle Erscheinung als unter Regeln enthalten vorgestellt werden. Das Ich macht das Substratum zu einer Regel berhaupt aus, und die apprehension bezieht jede Erscheinung darauf.14
Ein wenig spter heißt es: Die Warnehmung ist die position im innern Sinne berhaupt und geht auf Empfindung nach Verhltnissen der apperzeption des Selbstbewußtseyns, nach dem wir uns unsres eignen Daseyns bewußt werden.15
Vor allem die in der ersten Passage verwendete Rede vom Ich als Substratum scheint darauf hinzudeuten, dass Kant die Einheit der Apperzeption als eine Art von Substanz auffasst. Dem scheinen auch nicht die sporadischen Erluterungen zu widerstreiten, die Kant dem Begriff der Apperzeption zuteil werden lsst, und die Carl auch ausfhrlich bedenkt. So schreibt Kant in R 4674, die sich auch im Duisburg-Nachlass befindet: „Die apperception ist das Bewußtseyn des Denkens, d.i. der Vorstellungen, so wie sie im Gemthe gesetzt werden“.16 Und es heißt von ihr in einer spteren Reflexion: Diese [die Apperzeption, R.P.H.] ist aber kein Sinn, sondern wir sind uns dadurch so wohl der Vorstellungen der ußeren als inneren sinne bewußt. Sie ist blos die Beziehung aller Vorstellungen auf ihr gemeinschaftlich Subjekt, nicht aufs object.17
Interessant nun ist, wie Kant sich solch eine Beziehung genauer denkt, weil dadurch Zweifel an der Substantialitts-These aufkommen kçnnen 14 15 16 17
R 4676, AA 17, 656. A.a.O., 659. AA 17, 647. R 224.
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und vielmehr eine andere, nicht-substantialistische, sondern eher ,dynamisch-prozessual‘ zu nennende Auffassung der Einheit der Apperzeption nahe gelegt wird. Diese Beziehung wird als die des Aufnehmens von mannigfaltigen inhaltsvollen, also nicht-leeren Vorstellungen in das als Einheit gedachte denkende Subjekt aufgefasst. Diese Beziehung des Aufnehmens kann trivialerweise nur dann vorliegen, wenn es mannigfaltige inhaltsvolle Vorstellungen gibt, die aufgenommen werden kçnnen. Bercksichtigt man nur diese Trivialitt, dann kann man sich die Einheit der Apperzeption tatschlich als eine Art der Substanz vorstellen, zu deren dispositionalen Eigenschaften es gehçrt, das Vermçgen des Aufnehmens zu haben, das bei Gelegenheit oder aus Anlass des Gegebenseins von Mannigfaltigem aktiviert wird. Kant scheint aber eine komplexere Auffassung von dieser Beziehung zu haben. Die Mçglichkeit des Vorliegens dieser Beziehung soll nmlich anscheinend nicht nur gegebenes Mannigfaltiges voraussetzen, sie soll vielmehr auch nur dann vorliegen kçnnen, wenn sie gedacht wird als eine Beziehung, die die Einheit, in die aufgenommen wird, allererst im Vollzug des Aktes des Aufnehmens konstituiert: Der Akt des Aufnehmens geht einher mit der Konstitution dessen, in das aufgenommen wird, d. h. die Einheit der Apperzeption wird im Aufnehmen von Mannigfaltigem selbst erst hergestellt.18 Mannigfaltige inhaltsvolle Vorstellungen sind daher nicht nur Voraussetzung der Beziehung des Aufnehmens, sie sind gleichzeitig eine notwendige Bedingung der Einheit der Apperzeption: diese Einheit gibt es nicht ohne gegebenes Mannigfaltiges. Anders gesagt: Es gibt keine Einheit (der Apperzeption), kein „einiges Subjekt“, ohne Mannigfaltigkeit (von inhaltsvollen Vorstellungen), und dies nicht nur aus begrifflichen Grnden, sondern weil es in diesem Fall ein ontologisches Faktum ist. Carl drckt diesen intrikaten Zusammenhang, den Kant zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit hergestellt wissen will, sehr schçn aus, wenn er schreibt: „Als Thema der Apperzeption ist dieses ,einige Subjekt‘ [die Einheit dieser Apperzeption, R.P.H.] wesentlich [Hvh. von mir] auf eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen und ihrer Inhalte bezogen; und die Apperzeption selbst als ein Bewusstsein eines solchen Subjekts ist das Wissen
18 Folgt man dieser Beschreibung dieser Beziehung, kann man sich unmittelbar an Weisen der Konzeptualisierung des Ich durch den frhen Fichte erinnert fhlen. Auch Fichte mçchte ja mit seinem Begriff der Tathandlung den Vollzug eines Aktes, einer Handlung, als Konstitutionsbedingung des Selbstbewusstseins thematisieren. Vgl. dazu Horstmann, (im Erscheinen).
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um eine Identitt, die nur in Hinblick auf eine Mannigfaltigkeit gedacht werden kann“.19 Folgt man dieser Deutung der Beziehung des Aufnehmens und den erwhnten Kantischen Hinweisen zur Einheit der Apperzeption (hauptschlich aus dem Duisburgschen Nachlass), dann wird allerdings die Annahme, Kant habe zu dieser Zeit auf Grund des Umstands, dass er vom Ich als von einem Substratum rede, eine substantialistische Deutung der Einheit der Apperzeption, des denkenden Subjekts also, favorisiert, ziemlich rtselhaft. Denn was soll man mit der Vorstellung einer Substanz anfangen, von der gelten soll, dass sie erst entsteht, wenn mannigfaltiges Anderes gegeben ist, dem sie als substantielle Einheit dienen kann, und dass sie vergeht, wenn dieses Mannigfaltige verschwindet? Eine so gedachte Substanz wrde wenigstens nicht von der Art sein, dass sie die einschlgigen Kantischen Kriterien fr Substantialitt, nmlich Permanenz und (quantitative) Unvernderlichkeit, erfllen kçnnte. Zugleich geben die Kantischen Bemerkungen aber auch keinen Anlass, jenes Substratum als identisch mit der Seele der rationalen Psychologie zu deuten und es in den Bereich zu verweisen, von dem sich spter herausstellt, dass sich in ihm nur Paralogismus-gefhrdete unerkennbare Dinge an sich tummeln kçnnen. Dies schon deshalb nicht, weil Kant (1) zu dieser Zeit die Vorstellung der Seele nicht fr Paralogismus-gefhrdet und insofern nicht fr unerkennbar gehalten hat (s. L1) und (2) weil ihn das Ich hier gar nicht als Seele interessiert, sondern als denkendes Subjekt qua Einheit der Apperzeption. Wenn er aber diese Einheit weder als Substanz noch als Seele konzipiert, wie kann er sie berhaupt fasslich machen? 19 Dass Wolfgang Carl in diesem Zitat von ,Identitt‘ spricht, gibt Anlass, daran zu erinnern, dass in Kants Konzept der Einheit der Apperzeption zwei Sinne von Einheit eine Rolle spielen, deren einer eine rumliche und deren anderer eine zeitliche Konnotation hat. In den Ausfhrungen hier ist nur auf den rumlichen Sinn Bezug genommen, dem zufolge ,in die Einheit der Apperzeption aufnehmen‘ bedeutet, mannigfaltige verstreute Inhalte zu einer Einheit zusammen zu nehmen. Dass Kant darber hinaus auch noch diese Einheit als in der Zeit numerisch identisch konzipiert, dass also der Apperzeption nicht nur Einheit, sondern auch numerische Identitt zukommen soll, ist zwar fr Kants Gesamttheorie der Einheit der Apperzeption von großer Bedeutung, kann jedoch hier vernachlssigt werden. Zu Einheit und Identitt als wesentlichen Merkmalen der Apperzeption s. Henrich, 1976. Zu einer in die ,dynamisch-prozessuale‘ Richtung gehenden Deutung der Einheit der Apperzeption, in der ,Einheit‘ im Sinne von ,numerischer Identitt in der Zeit‘ aufgefasst wird, vgl. Longuenesse, (unverçffentlichtes Ms.).
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III. Ein in meinen Augen nicht ganz abwegiger Versuch zur Auflçsung dieser Schwierigkeit wird darin bestehen kçnnen, sich an den kritischen Kant, also den nach 1781, zu wenden in der Hoffnung, bei ihm Hinweise auf die Art zu finden, in der er die Einheit der Apperzeption gedacht haben mçchte. Ein solcher Versuch kann deshalb als legitim angesehen werden, weil die kritischen Schriften das Thema der Apperzeption sehr viel expliziter behandeln als es die Reflexionen und auch die Vorlesungen tun. In den kritischen Schriften, vor allem natrlich in der Kritik der reinen Vernunft, wird man schnell gewahr, dass Kant ein sozunennendes ,dynamisch-prozessuales‘ Modell der Einheit der Apperzeption vor Augen gehabt zu haben scheint, dem zufolge das Ich als eine Art Kraftzentrum aufzufassen ist, das – gegeben irgendeinen empirischen Stoff in Gestalt mannigfaltiger inhaltsvoller Vorstellungen – diese Inhalte zu Inhalten eines Systems nach bestimmten Regeln vereinigt.20 Dieses Kraftzentrum, das denkende Ich, kann nun nicht als ein besonderes Objekt vorgestellt werden, weil es fr sich betrachtet gar kein Gegenstand ist, sondern nur, wie Kant sich ausdrckt, „durch die Gedanken, die seine Prdikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben kçnnen“.21 Dies liegt daran, dass dieses Ich ein Etwas ist, das „in der Tat existiert“, also ein Akt, eine Handlung ist, die nur stattfinden kann, wenn, so Kant, „irgendeine empirische Vorstellung“ gegeben ist.22 Dieses von mir ,dynamisch-prozessual‘ genannte Modell der Einheit der Apperzeption lsst sich, wie ich finde, durchaus angemessen mit einer Analogie aus dem Bereich physikalischer Phnomene veranschaulichen, genauer gesagt: mit Phnomenen, mit denen sich die Himmelsphysik befasst. Wir stellen uns Planetensysteme als eine Anzahl von Kçrpern vor, die um ein gemeinsames Zentrum, das Gravitationszentrum, rotieren. Dieses Gravitationszentrum kann, aber muss nicht selbst ein Kçrper (oder in einem Kçrper) des Systems sein, dessen Zentrum es ist. So ist z. B. im Falle unseres Sonnensystems dieses Zentrum ein Kçrper, nmlich die Sonne. Betrachtet man in einem anderen Beispiel den krzlich vom 20 Vgl. KrV, B 404 f./A 345 f. und KrV, B 423 Anm. 21 KrV, A 346. 22 KrV, B 423 Anm. Diese auch von mir favorisierte Deutung des „in der Tat“ an der hier zitierten Stelle ist, um es freundlich auszudrcken, nicht unkontrovers, obwohl sie keineswegs neu ist. Vgl. bereits Thiele, 1876, S. 144 ff. Diese Deutung kritisiert jngst Tobias Rosefeldt: Rosefeldt, 2006, S. 277 ff.
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Planeten zum Weltraummll degradierten Pluto und seinen Mond als ein System, dann ist das Zentrum dieses Systems ein immaterieller Punkt irgendwo zwischen Pluto und seinem Mond, um den sie beide rotieren, also kein Kçrper. Es ist dieser zweite Fall, der das Kantische Modell der Einheit der Apperzeption wenigstens analogisch erhellen kann: Das denkende Subjekt, das Ich, wre demnach zu denken wie ein immaterielles, nicht-gegenstndliches Gravitationszentrum, das inhaltsvolle Vorstellungen, die insofern seine sind, in dem Sinne in sich aufnimmt, in dem man sagen kann, dass materielle Kçrper in ein Gravitationssystem aufgenommen werden. Wie es kein Gravitationszentrum ohne gravitierende Kçrper gbe, so gibt es auch keine Einheit der Apperzeption ohne (empirisch gegebene) inhaltsvolle Vorstellungen, und umgekehrt: wie es keine gravitierenden Kçrper ohne ein Gravitationszentrum gbe, so gibt es auch fr das Subjekt keine Vorstellungsinhalte, ohne dass es zu ihnen eine Einheit der Apperzeption gibt.23 Dieses Bild ließe sich nach verschiedenen Hinsichten ausgestalten. So lsst sich an Hand seiner vielleicht verstndlich machen, warum Kant das Ich in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine rein intellektuelle, nicht-empirische Vorstellung nennt24 und wie er auf die Idee eines wechselseitigen Abhngigkeitsverhltnisses zwischen einer Mannigfaltigkeit von inhaltsvollen Vorstellungen und der sie aufnehmenden Einheit der Apperzeption hat kommen kçnnen. Doch dem soll jetzt nicht weiter nachgegangen werden (und es soll auch nicht erwogen werden, ob nicht die Kantische Vorstellung des Organismus als ein spezifischer Zusammenhang von Mannigfaltigkeit und Einheit ein passenderes Bild abgeben wrde als die astronomische Metapher). Worauf es hier nur ankommt und worauf die vorangehenden Bemerkungen allein abzielen, ist die mit ihnen angedeutete Mçglichkeit, Kants Rede im Duisburgschen Nachlass vom Ich als Substratum nicht substantialistisch zu deuten und dadurch ein Jacobi-Carlsches Bedenken aus dem Weg zu rumen.25 Doch selbst wenn man den hier vorgetragenen Erwgungen folgt, ist nun keineswegs ausgeschlossen, dass Carl in der Hauptsache dennoch 23 Um wirklich berzeugend zu sein, msste man diese Veranschaulichung durch das Bild von den Planeten und ihrem Gravitationszentrum so modifizieren, dass man das Zentrum mit Krften ausstattet und die Planeten kraftlos macht. 24 Vgl. KrV, B 423 Anm. 25 Ob dies tatschlich berzeugen kann, ist, wie gesagt, unklar. Denn man wird nicht umhin kommen anzuerkennen, dass es Formulierungen im Duisburgschen Nachlass gibt, die das Ich in die Nhe einer Substanz rcken. Erinnert sei nur an das Diktum: „… Ich bin das original aller objecte“ (AA 17, 646).
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Recht hat. Denn schließlich lsst die Mçglichkeit einer nicht-substantialistischen Deutung des ontologischen Status der Einheit der Apperzeption durchaus zu, dass Kant dennoch faktisch eine substantialistische Konzeption in der Zeit vor 1780 in Anschlag bringt. Denn, wie Carl klar sieht, ist es ja nicht nur der Duisburg-Nachlass, der dies nahe legen kçnnte. Ein weiteres gewichtiges Argument dafr, dass Kant faktisch eine solche substantialistische Deutung favorisiert, stellt die Nachschrift der Metaphysik-Vorlesung L1 dar. Man muss sich daher auch zu dieser Nachschrift verhalten kçnnen, wenn man Kant vom substantialistischen Verdacht in der hier betrachteten Zeit fern halten will. Dies ist nun zugegebenermaßen nicht einfach, weil man nicht umhin kann anzuerkennen, dass Kant in ihr ausdrcklich von der Seele als einer Substanz spricht und sie mit dem Ich identifiziert.26 Dennoch scheint es mir nicht vollstndig abwegig zu sein, die einschlgigen Passagen dieser Nachschrift27 wenn auch nicht eindeutig nicht-substantialistisch, so doch wenigstens als kompatibel mit einer nicht-substantialistischen Auffassung der Einheit der Apperzeption zu lesen. Da ich selber im Moment noch unsicher bin, wie weit solche kompatibilistischen Lesarten tragen, und da sich ihre detaillierte Prsentation im hiesigen Rahmen von selbst verbietet, will ich nur Hinweise auf die Richtung geben, in die es nahe liegt zu gehen, wenn man L1 nicht zum Stolperstein fr nicht-substantialistische Ambitionen werden lassen will.
26 „Das substratum, welches zum Grunde liegt, und welches das Bewußtseyn des inneren Sinnes ausdrckt, ist der Begriff von Ich, welcher blos ein Begriff der empirischen Psychologie ist. […] dieser Begriff von Ich drckt aus: 1) Die Substantialitt. – Substanz ist das erste Subject aller inhrirenden Accidenzen. Es ist dieses Ich aber ein absolutes Subject, dem alle Accidenzen und Prdicate zukommen kçnnen, und was gar kein Prdicat von einem andern Dinge seyn kann. Also drckt das Ich das Substantiale aus; denn dasjenige substratum, was allen Accidenzen inhriert, ist das substantiale. Dieses ist der einzige Fall, wo wir die Substanz unmittelbar anschauen kçnnen. […] in mir schaue ich die Substanz unmittelbar an. Es drckt also das Ich nicht allein die Substanz, sondern auch das substantiale selbst aus. Ja was noch mehr ist, den Begriff, den wir berhaupt von allen Substanzen haben, haben wir von diesem Ich entlehnt. Dieses ist der ursprngliche Begriff der Substanzen.“ (AA 28.1, 224 f.) 27 Gemeint sind die „Einleitenden Begriffe“ der Psychologie, a.a.O., 221 – 228.
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IV. Zunchst noch eine Vorbemerkung. L1 ist in vielerlei Hinsichten ein problematischer Text. Angefangen von der berlieferung ber die Datierung bis hin zur sachlichen Korrektheit, ist er immer wieder Gegenstand von Kontroversen gewesen, auf die einzugehen einen eigenen Aufsatz erforderlich machen wrde. Schon das kçnnte ein Grund sein, sie als ernst zu nehmendes Dokument der Kantischen Ansichten zu diskreditieren. Diese Strategie des argumentativen Umgangs mit L1 soll hier natrlich nicht verfolgt oder empfohlen werden. Doch selbst wenn man von dem problematischen Status von L1 absieht und mit Wolfgang Carl annimmt, dass es sich bei L1 um eine einigermaßen zuverlssige Nachschrift einer Metaphysik-Vorlesung Kants handelt, die er zwischen 1777/ 78 und 1779/80 gehalten hat, kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass sie in Sachen Ich-Bewusstsein, Substanz und Seele voller Ambiguitten und eher vage ist. Zwar wird auch hier (wie im Duisburgschen Nachlass) vom Ich als von einem „Substratum, welches zum Grunde liegt, und welches das Bewusstsein des inneren Sinnes ausdrckt“28 geredet, zugleich wird aber zwischen dem Ich als Intelligenz und dem Ich als Seele (auf sehr eigenartige Weise) so unterschieden, dass nicht deutlich wird, ob das Substratum ,Ich‘ in jedem der beiden Flle als Substanz auftritt. Anscheinend soll gelten, dass die Seele nur das mit dem Kçrper verbundene Ich als Intelligenz ist, sodass sie „nicht blos denkende Substanz [ist, R.P.H.], sondern insofern sie mit dem Kçrper verbunden eine Einheit ausmacht“.29 Dies scheint immerhin nicht auszuschließen, dass das nicht seelenhafte Ich (das Ich „allein betrachtet ohne den Kçrper“) zwar ein Substratum, aber keine Substanz ist. Ferner ist zu lesen, dass der „bloße Begriff vom Ich, der unvernderlich ist, den man gar nicht mehr beschreiben kann, sofern er das Object des innern Sinnes ausdrckt und es unterscheidet“30 viele andere Begriffe ,ausdrckt‘. Zu diesen ausgedrckten Begriffen sollen Substantialitt, Simplizitt und Immaterialitt gehçren. Die Rede von ,Ausdrcken‘ ist aber einigermaßen uneindeutig: ist der Begriff vom Ich als etwas, das Substantialitt ausdrckt, notwendigerweise eine Substanz? Kann man diese Rede nicht auch so verstehen, dass die Schwierigkeit, den Begriff des Ich zu beschreiben, dazu fhrt, ihn mit Termini zu charakterisieren, die ihn eigentlich unangemessen be28 A.a.O., 224. 29 A.a.O., 224 f. 30 A.a.O., 225.
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stimmen (was man ja, wie ich meine, durchaus auch an der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beobachten kann)?31 Zu solchen Ambiguitten gesellen sich Unplausibilitten. Verwiesen sei nur auf das berhmt-berchtigte Diktum: „Dieses [das Ich, R.P.H.] ist der einzige Fall, wo wir die Substanz unmittelbar anschauen kçnnen. Wir kçnnen von keinem Ding das substratum und das erste Subjekt anschauen; aber in mir schaue ich die Substanz unmittelbar an“.32 Man hat sich zu Recht immer schwer getan, diesen Ausspruch wçrtlich zu nehmen – angesichts der Auffassung, die Kant normalerweise ber Substanzen hat,33 nimmt das wahrhaftig nicht wunder. Warum also sollte man einem solchen Diktum bei der Frage nach dem ontologischen Status der Einheit der Apperzeption eine entscheidende Rolle zugestehen? Diese wenigen Bemerkungen mssen gengen, um wenigstens die Richtung anzudeuten, in die eine Bewertung von L1 gebracht werden msste, wenn man diese Nachschrift nicht zum substantialistischen Klotz am Bein des vorkritischen Kant werden lassen will. Angenommen, man kçnnte sich tatschlich mit dem hier Erwogenen anfreunden, was htte man fr Kants Siebziger Jahre-Konzeption der Einheit der Apperzeption gegenber der Carlschen, substantialistischen, Lesart gewonnen? In meinen Augen wenigstens dreierlei: (1) Man wrde Kants Konzeption der Einheit der Apperzeption von Jacobis Vorwurf des Undings freisprechen und sich darauf einigen kçnnen, dass diesem Vorwurf ein Missverstndnis zu Grunde liegt, das allerdings durch Kant selbst nahe gelegt wird. Dies htte zur Folge, dass man (2) keine sehr enge Bindung 31 An anderer Stelle habe ich die Auffassung vertreten, dass Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft die Seele mit dem ,Ich denke‘, also der Einheit der Apperzeption, identifiziere. S. Kants Paralogismen. In: Horstmann, 1997, S. 88 ff. Dies ist zweifelsohne richtig. Mittlerweile glaube ich aber, dass diese Identifikation eher das Produkt einer Verlegenheit als eine gefestigte berzeugung Kants darstellt. Angesichts der Schwierigkeiten, die mit der Vereinbarkeit einer dynamisch-prozessualen Konzeption der Einheit der Apperzeption und dem notwendig substantialistischen Konzept einer Seele verbunden sind, mag Kant zunchst, d. h. in der ersten Auflage, davon abgesehen haben, sich ein klares Bild von dem Verhltnis dieser beiden Konzeptionen zu machen. Wenn dem so gewesen ist, ist allerdings verwunderlich, dass er diese Identifikation auch in der zweiten Auflage beibehlt, obwohl er das Paralogismus-Kapitel insgesamt vollstndig revidiert hat. Zu den Differenzen zwischen den Fassungen des Paralogismus-Kapitels in den beiden Auflagen der Kritik der reinen Vernunft vgl. neuerdings Wolff, 2006, S. 265 ff. 32 AA 28.1, 226. 33 Vgl. z. B. KrV, B 408, B 421.
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zwischen Kants Ansichten zur Seele als dem Gegenstand der rationalen Psychologie und seiner Vorstellung von der Einheit der Apperzeption annehmen msste. Dies wiederum wrde bedeuten: (3) Man kçnnte Kant in aller Ruhe um 1780 herum die Paralogismen entdecken und ihn deshalb seine Einstellung zur rationalen Psychologie radikal ndern lassen, ohne gleichzeitig in einen Erklrungsnotstand in Sachen Einheit der Apperzeption zu geraten – wenn diese Einheit in der fraglichen Zeit erst gar nicht von ihm substantialistisch konzipiert worden ist, muss er sie offensichtlich auch nicht zu einer nicht-substantialistischen ndern.34 Literatur Carl, Wolfgang, 1989, Der schweigende Kant. Die Entwrfe zu einer Deduktion der Kategorien vor 1781, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Gçttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Gçttingen. Emundts, Dina, 2006, Die Paralogismen und die Widerlegung des Idealismus in Kants ,Kritik der reinen Vernunft‘, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 54, H.2, 295–309. Henrich, Dieter, 1976, Identitt und Objektivitt. Eine Untersuchung ber Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg. Horstmann, Rolf-Peter, 1997, Bausteine kritischer Philosophie. Arbeiten zu Kant. Bodenheim. Horstmann, Rolf-Peter, 32004, Die Grenzen der Vernunft. Eine Untersuchung zu Zielen und Motiven des Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. Horstmann, Rolf-Peter (im Erscheinen), Fichtes anti-skeptisches Programm. Zu den Strategien der Wissenschaftslehren bis 1801/02, in: Jrgen Stolzenberg/ Karl Ameriks (hg.), Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism, Bd. 5: Metaphysik/Metaphysics, Berlin 2007. Jacobi, Friedrich Heinrich, 1976, Werke, hrsg. von F. Roth und F. Kçppen, Nachdruck Darmstadt. Longuenesse, Beatrice, Kant on the Identity of Persons, (unverçffentlichtes Ms.). Rosefeldt, Tobias, 2006, Kants Ich als Gegenstand, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 54, H.2, 277–293. Strawson, Peter F., 1966, The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London. 34 Der hier abgedruckte Text ist die berarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich auf dem Festkolloquium aus Anlass des 65. Geburtstags von Wolfgang Carl gehalten habe. Ihm, sowie Reinhard Brandt, Andreas Kemmerling und Jrgen Stolzenberg sei fr Anregungen in der Diskussion gedankt. Ebenso danke ich den Teilnehmern meines Berliner Kolloquiums. Dank auch an Dina Emundts fr sachkundige Hinweise.
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Thiele, Georg, 1876, Kant’s intellektuelle Anschauung als Grundbegriff seines Kriticismus, Halle. Wolff, Michael, 2006, Empirischer und transzendentaler Dualismus. Zu RolfPeter Horstmanns Interpretation von Kants Paralogismen, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 54, H. 2, 265–275.
Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant? Katja Crone Die Frage, inwiefern der zentrale Begriff der Apperzeption, das so genannte transzendentale oder ursprngliche Selbstbewusstsein, in Kants Kritik der reinen Vernunft eine Form konkreten Bewusstseins jenseits rein formaler und funktionaler Bestimmungen impliziert, ist in der KantForschung lange Zeit nicht gestellt worden. Als weitestgehend unstrittig gilt, dass diejenige Instanz, die objektive Erkenntnis hervorbringt und die Kant mit dem Begriff der Apperzeption bezeichnet, allein transzendentalnotwendige Bedeutung hat und dem konkreten Bewusstsein gnzlich verschlossen ist. Diese nachhaltige Deutung lsst sich vor allem aus programmatischen Grnden erklren. Eine wichtige Rolle spielt dabei die inhaltliche Pointe des Paralogismus-Kapitels in der Kritik der reinen Vernunft. Darin fhrt Kant den Nachweis, dass die Annahme einer cartesianischen Seelensubstanz, die dem Erkennen zugnglich wre, nicht begrndet werden kann. Vor diesem Hintergrund muss es als sachlich irrefhrend erscheinen, das Apperzeptionsbewusstsein, das nach Kant dem strukturierten Denken zugrunde liegt, als eine Form phnomenalen Bewusstseins deuten zu wollen, die aus der Perspektive der ersten Person irgendwie einsichtig gemacht werden kçnnte. Bereits der Versuch, so kçnnte man argumentieren, in der Kritik der reinen Vernunft ein phnomenales Selbstbewusstsein ausfindig zu machen, steht quer zum gesamten Projekt der Erkenntniskritik. Geht es Kant darin doch um die Begrndung propositionalen Wissens im Rckgriff auf erfahrungsunabhngige Bedingungen, die berechtigterweise auf empirisches Anschauungsmaterial angewendet werden kçnnen. Und ein solcher Ansatz macht eine strikte Trennung zwischen apriorischen Strukturen einerseits und empirischen sowie psychologischen Aspekten des gegenstndlichen Bewusstseins andererseits theoretisch notwendig, was sich in der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich in der pointierten terminologischen Gegenberstellung von Attributen wie „empirisch“ und „rein/transzendental“
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oder „apriorisch“ und „aposteriorisch“ etc. widerspiegelt.1 Ein „phnomenales Bewusstsein“, das weder begrifflich strukturierte Erfahrung noch rein apriorische Form ist, lsst sich in die Kantischen erkenntnistheoretischen Grundstrukturen offensichtlich nicht sinnvoll einordnen. Akzeptiert man die theoretische Notwendigkeit der Kantischen dualistischen Prinzipienstruktur, scheint es in der Tat logisch fragwrdig, das Apperzeptionsbewusstsein, das erklrtermaßen seinem Wesen nach absolut einfach und Bedingung allen konkreten Bewusstseins ist, neben einer rein prinzipienorientierten Beschreibung zugleich im Sinne eines phnomenalen Bewusstseins zu explizieren. Allerdings sind in den letzten Jahren vereinzelt Vorschlge gemacht worden, die zumindest darauf hindeuten, dass Kant mit dem Apperzeptionsbewusstsein nicht nur analytische Bestimmungen des rein logisch zu verstehenden Selbstbewusstseins verbindet, sondern zugleich – im Unterschied zum konkreten empirischen Selbstbewusstsein – eine vortheoretische Komponente ins Spiel bringt. Dies legen etwa Interpretationen von Konrad Cramer und Dieter Sturma nahe, die sich dabei insbesondere auf ußerungen Kants im Paralogismus-Kapitel sttzen.2 Ob diese Hinweise fr die Feststellung eines vortheoretischen Selbstbewusstseins ausreichen, wird im Folgenden zu untersuchen sein. Damit verbindet sich aber auch die Frage, was Kant dazu veranlasst haben kçnnte, auf ein phnomenales Selbst ausgerechnet im Rahmen seiner strengen Erkenntniskritik hinzudeuten; denn das programmatische Ziel besteht ja gerade darin, Bewusstseinsphnomene daraufhin zu berprfen, ob sie als Erkenntnisse, deren Objekte ber spezifische Eigenschaften beschreibbar sind, gerechtfertigt werden kçnnen. Sucht man nach Belegen fr eine Theorie des phnomenalen, vortheoretischen Selbstbewusstseins, wre es allerdings verfehlt und verkrzt, sich dabei auf das Paralogismus-Kapitel der A- und B-Auflage als Referenztext zu beschrnken.3 Um eine reduktionistische Deutung zu vermeiden, sind vielmehr auch Kants Argumente aus den Deduktionen der reinen Verstandesbegriffe in der Transzendentalen Analytik hinzuzuziehen, in denen Kant das Apperzeptionsbewusstsein als oberstes Prinzip des 1 2 3
Die Schriften Kants werden im Folgenden nach der Band- und Seitenzahl der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften, Berlin 1902 ff., zitiert. Die Zitate der Kritik der reinen Vernunft (KrV) erfolgen nach der A- und B-Auflage. Z.B. Cramer, 1987 und 2003; Frank, 1993; Sturma, 1997, Stolzenberg, 2007. Darauf weist auch Rolf-Peter Horstmanns zu Recht hin. Vgl. Horstmann, 1993, S. 409.
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Denkens bestimmt, das den Verstandesbegriffen vorauszusetzen ist.4 Daher werde ich in einem ersten Schritt Kants Argumentationsstrategie fr die Annahme eines solchen Bewusstseins sowie dessen funktionale Eigenschaften in Grundzgen analysieren. Dabei ist es das vorlufige Ziel, diejenigen Aspekte zur Darstellung zu bringen, die bereits auf einen erstpersonal zugnglichen phnomenalen Gehalt des Apperzeptionsbewusstseins hinweisen kçnnten. In einem zweiten Schritt sollen solche Passagen des Paralogismus-Kapitels nher untersucht werden, in denen Kant sich bewusstseinstheoretischen Merkmalen des Urteils ,Ich denke‘ zuwendet. Ich werde hier fr die These argumentieren, dass in der Kritik der reinen Vernunft tatschlich – wenngleich in einem eingeschrnkten Sinn – von einem phnomenalen Selbstbewusstsein die Rede ist, das sich allerdings zum Programm der Erkenntniskritik in einem unauflçslichen Spannungsverhltnis befindet. 1. Apperzeptionsbewusstsein und erstpersonale Perspektive In § 16 der Kritik der reinen Vernunft bestimmt Kant die reine Apperzeption als die a priori gegebene Identitt des Bewusstseins und synthetische Einheit des Mannigfaltigen. Sie wird als diejenige apriorische Instanz gekennzeichnet, welche die „Vorstellung“ des ,Ich denke‘ hervorbringt. Diese Charakterisierung des – wie Kant sagt – ursprnglichen Selbstbewusstseins folgt aus den transzendentalen Argumenten in § 15, die eine spezifische Theorieperspektive erkennbar machen: Strukturbedingungen konkreter mentaler Akte werden vom objektiven Standpunkt der dritten Person aus in den Blick gebracht, womit die transzendentale Notwendigkeit, ein „ursprngliches“ Selbstbewusstsein anzunehmen, begrndet werden soll. Ohne Bezugnahme auf die Perspektive des denkenden Subjekts – obgleich als Theoriegegenstand thematisch –, ist von Verstandeshandlungen die Rede, in denen eine „Verbindung des Mannigfaltigen“ stattfindet, und diese Verbindung („Synthesis“) muss als ein Akt der Spontaneitt aufgefasst werden, der zugleich den Begriff der Einheit impliziert: „Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit 4
Zwar hebt Heiner Klemme hervor, dass die Ausfhrungen des ParalogismusKapitels in der spteren Auflage nicht mehr direkt an die Deduktion der Kategorientafel anschließen, dieser Aspekt ist jedoch fr die vorliegenden berlegungen nicht weiter relevant, da es hier nicht um die systematische Konsistenz der verschiedenen Teile der KrV geht. Siehe Klemme, 1996, S. 289 f.
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des Mannigfaltigen. Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst mçglich.“ (KrV, B 131) Kants Begrndung setzt also bei der Struktur mentaler Akte an, wonach die Mannigfaltigkeit der in der Anschauung gegebenen Daten unter einen ordnenden Begriff gebracht und mehrere Vorstellungen miteinander verknpft werden. Um diese Struktur zu erklren, ist dem konkreten Denkakt eine von allen empirischen Implikationen losgelçste spontane Synthesis und Einheit als zugrunde liegend anzunehmen – so das grob umrissene Argumentationsziel von § 15. Eine Annherung an die (erstpersonale) Perspektive des erkennenden Subjekts findet in § 16 statt. Darin geht es um die Begrndung der zentralen These, dass das ,Ich denke‘, hervorgebracht durch das Apperzeptionsbewusstsein, „alle meine Vorstellungen begleiten kçnnen [muss]“ (KrV, B 131 f.). Zwei funktionsgebundene Merkmale sind es insbesondere, die Kant an dieser Stelle mit dem „ursprnglichen Selbstbewusstsein“ in Verbindung bringt und nher charakterisiert: die Merkmale der Synthesis und der Einheit. Das Merkmal der Synthesis spricht dabei die zentrale und grundlegende Funktion kognitiver Leistungen an. Sie besteht in dem regelgeleiteten Verbinden von Daten, die durch die Sinne rezipiert und in diesem Prozess unter einer spezifischen allgemeinen Hinsicht, einem Verstandesbegriff, betrachtet werden. Dieses regelgeleitete aktive Verbinden eines ungeordneten Anschauungsmaterials kennzeichnet nach Kant jeden Akt des Erkennens: Ein Erkenntnisobjekt ist eine nach Regeln zur Einheit verbundene Datenmenge. Die grundlegende Bedeutung der Synthesis-Funktion wird allerdings erst hinreichend verstndlich, wenn man sie auf die zu explizierende These bezieht, wonach das Urteil ,Ich denke‘ alle Vorstellungen begleiten kçnnen muss. Denn die These drckt die bewusstseinstheoretische Forderung aus, dass verschiedene Vorstellungen insgesamt einem Selbstbewusstsein angehçren mssen, und hierfr ist die Synthesis-Funktion des Apperzeptionsbewusstseins vorauszusetzen: „[D]iese durchgngige Identitt der Apperzeption eines in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen, enthlt eine Synthesis der Vorstellungen, und ist nur durch das Bewußtsein dieser Synthesis mçglich.“ (KrV, B 133) Wodurch dieses Bewusstsein zustande kommt, erfhrt man gleich im Anschluss: „Diese Beziehung [auf die Identitt des Subjekts; Hinzufgung v. Vf.] geschieht also dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der
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Synthesis derselben bewußt bin.“ (ebd.) Wenn ich im Zuge eines komplexen kognitiven Aktes verschiedene Vorstellungen zusammenbringe und nach einer Regel miteinander in Beziehung setze, dann, so die Pointe von Kants berlegungen, habe ich darin nicht nur ein Bewusstsein der Einheit dieser Vorstellungen, sondern zugleich ein Bewusstsein meiner selbst als desselben Subjekts, das unterschiedliche Vorstellungen hat. Das Bewusstsein der Identitt steht insofern unter der Bedingung, dass Vorstellungen – nach einer Regel – aneinandergereiht und miteinander verbunden werden. Erst im Zuge des aktiven regelgeleiteten Verbindens erlange ich ein einheitliches Bewusstsein meiner selbst.5 Im Unterschied zu einem datensensualistischen Modell Humescher Prgung impliziert Kants Theorie der Apperzeption das Bewusstsein eines Subjekts, sich im Wechsel verschiedener Denkakte als Gleichbleibendes zu verstehen.6 So kann Kant sagen: „Der synthetische Satz: daß alles verschiedene empirische Bewußtsein in einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein msse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens berhaupt.“ (KrV, A 117, Anm.) Und ferner: „Es ist […] schlechthin notwendig, daß in meinem Erkenntnisse alles Bewußtsein zu einem Bewußtsein (meiner selbst) gehçre.“ (ebd.) In der skizzierten Begrndung fr die Annahme eines apriorischen Apperzeptionsbewusstseins liegt der theoretische Akzent zunchst deutlich auf den internen Bestimmungen des Apperzeptionsbewusstseins im Sinne eines funktionalen Bedingungsgefges; dabei bleibt die Frage weitestgehend unbercksichtigt, inwiefern das Apperzeptionsbewusstsein aus der Perspektive der ersten Person beschreibbar ist, aus der Perspektive des Subjekts also, das Vorstellungen hat und Denkakte vollzieht. Die transzendentale Apperzeption wird der erstpersonalen Perspektive dadurch etwas nher gebracht, dass sie in § 16 als dasjenige apriorische Bewusstsein bezeichnet wird, das die Vorstellung des ,Ich denke‘ hervorbringt, von dem Kant sagt, dass es alle Vorstellungen begleiten kçnnen muss. Das Verhltnis zwischen dem abstrakten Konzept der transzendentalen Apperzeption und der Vorstellung des ,Ich denke‘ wre damit in einer ersten Hinsicht so zu interpretieren, dass sich die transzendentale Apperzeption als notwendig anzunehmende apriorische Bewusstseins5
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Die Differenz zwischen der ursprnglichen synthetischen Einheit der Apperzeption und der Identitt des Selbstbewusstseins kommt in der Kantischen Terminologie nicht immer hinreichend klar zum Ausdruck. Siehe hierzu ausfhrlicher Sturma, 1985, S. 70 f. Zur Identittsfunktion des Apperzeptionsbewusstseins siehe Rohs, 1988, S. 62 ff.
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struktur in dem Satz ,Ich denke‘, den Kant als „Vorstellung“ bezeichnet, ausdrckt. Will Kant nun mit der Bezeichnung „Vorstellung“ auf einen eventuellen empirisch-phnomenalen Aspekt des Satzes ,Ich denke‘ hinweisen? ber die eigentmliche Verwendung des Begriffs der Vorstellung bezglich des ,Ich denke‘ ist in der Forschung viel debattiert worden.7 Denn es scheint zunchst – begrifflich gesehen – nahe liegend, den Begriff der Vorstellung in Analogie zu Kants Verwendung im Kontext des empirischen Bewusstseins zu verstehen, also im Sinne einer gegenstandsbezogenen Vorstellung, Anschauung oder Erscheinung.8 Gegen eine solche Deutung spricht allerdings nachdrcklich, dass das, was Kognitionen „als ihr Vehikel“9 begleitet, selbst nicht bewusste Vorstellung, also nicht intentional gerichtet sein kann. Diesen Sachverhalt drckt Kant unmissverstndlich aus, indem er sagt, dass das ,Ich denke‘ diejenige Vorstellung ist, die „alle anderen muß begleiten kçnnen, und in allem Bewußtsein ein und dasselbe ist, von keiner weiteren begleitet werden kann.“ (KrV, B 132) Betrachtet man die spezifische Relation, die der mehrstellige Ausdruck „begleiten“ impliziert, so kommt darin eine charakteristische bewusstseinstheoretische Funktion des ,Ich denke‘ zum Ausdruck. „[A]lles Mannigfaltige der Anschauung [hat] eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird.“10 Das ,Ich denke‘ entspricht dem Postulat eines durchgngigen 7 Nach Rohs muss der Vorstellung des ’Ich denke’, im Gegensatz zu empirischen Vorstellungen, intertemporale Identitt zugeschrieben werden, was im Fall der empirischen Vorstellung jedoch nicht mçglich ist: Rohs, 1988, S. 62 f. Malte Hossenfelder hat dagegen die Ansicht vertreten, dass das ’Ich denke’, als Vorstellung charakterisiert, konsequent als ’Ich stelle vor’ htte bezeichnet werden mssen. Begrndet wird dies mit einer Zitatstelle aus der KrV, in der Kant dafr argumentiert, dass ohne das ,Ich denke‘ „Vorstellungen“ in mir wren, die gar nicht meine wren (Hossenfelder, 1978, S. 100). Allerdings, so wendet etwa Cramer zu Recht ein, kann aus dem Urteil ’Ich stelle vor’ nicht abgeleitet werden, dass eine Vorstellung nicht nur in mir, sondern auch etwas fr mich ist. Cramer, 2003, S. 62 f. 8 Diese Lesart ist zumindest im Kontext von Kants systematischer Entwicklung des gegenstndlichen Denkens in der transzendentalen Analytik nahe liegend. Eine differenziertere Analyse des Begriffs der Vorstellung, die auf eine Abgrenzung zum Begriff der Idee zielt, findet sich im ersten Buch der transzendentalen Dialektik. Hier definiert Kant die Vorstellung als Oberbegriff von (empirischen) Kognitionen unterschiedlicher Grade der Klarheit: von der bewussten Vorstellung, der Empfindung und der Erkenntnis. KdV, B 376 f. 9 KrV, B 405. 10 KrV, B 132.
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identischen Selbst und ist somit als Moment der formalen Selbstreferenz zu verstehen, durch das konkretes prdikatives Denken immanent strukturiert ist. Daher muss das ,Ich denke‘ intentionalen Kognitionen, deren Gegenstnde ber Begriffe und somit prdikativ bestimmt werden, zugrunde liegen, und diese Relation ist, weil sie „notwendig“ ist, eine logische Relation. Aber wie ist dies aus der Perspektive des ,Ich‘ zu verstehen, das denkt und mentale Akte hervorbringt? Weil in allen mentalen Akten, die ich vollziehe, eine formale Selbstzuschreibung stattfindet, handelt es sich um Akte, die fr mich sind, die ich als meine betrachte und mich auf sie als meine beziehen kann. In bewusstseinstheoretischer Hinsicht verweist das ,Ich denke‘ auf den Gedanken der Meinigkeit von konkreten Denk- und Vorstellungsakten, was bedeutet, dass ich ein Bewusstsein davon habe, mentale Akte zu vollziehen.11 Nun macht Kant jedoch deutlich, dass das darin thematisierte ,Ich‘ an der Subjektstelle des Satzes ,Ich denke‘ fr sich genommen – losgelçst von empirischen Denkakten, die ich durch ihn als meine bezeichne – keinen eigenen deskriptiven oder propositionalen Gehalt hat. Dies geht aus der viel zitierten Anmerkung im Paralogismus-Kapitel eindeutig hervor: „Denn es ist zu merken, daß, wenn ich den Satz: ich denke, einen empirischen Satz genannt habe, ich dadurch nicht sagen will, das I c h in diesem Satz sei empirische Vorstellung, vielmehr ist sie rein intellektuell, weil sie zum Denken berhaupt gehçrt.“ (KrV, B 424) Im Unterschied zum empirischen Bewusstsein, das je nach Sachbezug durch unterschiedliche Eigenschaften charakterisiert ist und einen Gegenstand ber Prdikate bestimmbar macht, lassen sich von dem ,Ich denke‘, also dem Gedanken der Meinigkeit von Vorstellungen, keine weiteren Eigenschaften prdizieren. Daraus, dass es sich nicht um eine empirisch selbststndig Vorstellung handelt, folgt aber auch, dass die „Vorstellung“ ,Ich‘ gerade nicht ein solches Bewusstsein sein kann, das auf sinnlichen Daten basiert. Die „Vorstellung“ ,Ich‘, die in konkreten und direkten Selbstzuschreibungen wie etwa „Ich weiß, dass ich v“ thematisiert wird, bezieht sich – fr sich genommen – auf keinerlei sinnliche Daten. So sagt Kant, das ,Ich‘ sei „die einfache und fr sich selbst an Inhalt gnzlich leere Vorstellung […] von der man nicht einmal sagen 11 Zutreffend interpretiert Cramer die Funktion der Meinigkeit eines mentalen Ereignisses: „Eine Vorstellung in mir ist genau dann etwas fr mich, wenn ich sie nicht nur habe, sondern auch ein Bewußtsein davon habe, daß ich sie habe.“ Cramer, 1987, S. 171.
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kann, daß sie ein Begriff sei, sondern ein bloßes Bewußtsein, das alle Begriffe begleitet.“12 Die hier bezeichnete Vorstellung hat keinen sinnlichen Gehalt und ist deswegen ohne Inhalt. Damit fehlt eine entscheidende Voraussetzung fr konkretes Bewusstsein, dessen Gehalt analysierbar und ber Prdikate beschreibbar wre. Dies wre nmlich nach Kants erkenntnistheoretischer Grundannahme nur dann der Fall, wenn ein mentaler Zustand auf sinnlich gegebenen Daten beruht, die unter kategorialen Hinsichten betrachtet werden kçnnen. Im Falle des ,Ich‘ ist diese Voraussetzung eindeutig nicht gegeben.13 Daher lsst sich das ,Ich‘ nicht als einzelner mentaler Akt ausweisen, weshalb Kant das ,Ich‘ bekanntlich als einfache Vorstellung bezeichnet.14 Damit ist festzuhalten, dass die Selbstzuschreibung von Vorstellungen auf formal-invariante Weise erfolgt – ein Prozess, mit dem keine sinnlich gegebenen Daten verbunden sind. In der B-Auflage macht Kant deutlich, dass der bloße Ich-Gedanke allein als Akt der Spontaneitt aufzufassen ist, er aber explizit keinen Inhalt hat, der in einer sinnlichen Vorstellung prsentierbar wre.15 Er bezeichnet also ein bloß ,logisches‘ Bewusstsein und kein Bewusstsein von etwas oder gar von sich in einem bewusstseinsphnomenologischen Sinn. Konsequent hat die Kant-Forschung mehrheitlich an dieser Stelle halt gemacht und es dabei bewenden lassen, das Apperzeptionsbewusstseins als ausschließlich logisches Selbstbewusstsein zu verstehen.16 Nun haben aber etwa Konrad Cramer, Dieter Sturma und Manfred Frank darauf hingewiesen, dass Kant dem „Ich“, an der Subjektstelle im Urteil ,Ich denke‘, obgleich inhaltlich ,leer‘, dennoch eine Form von „Gehalt“ zuspricht, was sich – sachlich wie terminologisch – dem erkenntnistheoretischen Rahmen der Erkenntniskritik eigentlich entzieht. Ein solcher „Gehalt“ kann unter den vorgenannten Bedingungen nur ein solcher sein, der ein nicht weiter analysierbares Phnomen prsentiert. 12 KrV, B 404. 13 „Denn das Ich ist zwar in allen Gedanken; es ist aber mit dieser Vorstellung nicht die mindeste Anschauung verbunden, die es von anderen Gegenstnden der Anschauung unterschiede.“ (KrV, A 350). Das Subjekt als transzendentale Apperzeption und mannigfaltige Vorstellungen stehen in einem wechselseitigen Abhngigkeitsverhltnis zueinander. Diesen Gedanken drckt Rolf-Peter Horstmann in seinem Beitrag im vorliegenden Band pointiert aus, indem er das Ich mit einem (immateriellen) Gravitationszentrum vergleicht, das, um zu ’existieren’, auf gravitierende Kçrper angewiesen ist (siehe S. XXX). 14 KrV, B 135. 15 Auf diesen zentralen Punkt weist Konrad Cramer nachdrcklich hin. Vgl. Cramer, 1987, S. 200. 16 Sehr pointiert ist dies bei Rohs zu lesen: Rohs, 1988, S. 76 ff.
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2. Die Relation zwischen den Urteilen ,Ich denke‘ und ,Ich existiere‘ Der Referenztext dieser These sind im Wesentlichen Kants Formulierungen im Paralogismus-Kapitel der B-Auflage, die in die Aussage mnden, dass der Satz ,Ich denke‘ den Satz ,Ich existiere‘ impliziert: „Das Ich denke […] enthlt den Satz, Ich existiere, in sich.“ (KrV, B 422) Kant spricht hier eine ganz eigene Art von Bewusstsein an, die offenbar ber die funktionale Eigenschaft der Zuschreibbarkeit von Denkakten („Meinigkeit“) hinausgeht. Es geht hier um den Umstand, dass, wann immer ich einen Denk- oder Vorstellungsakt vollziehe, ich mir darin gleichzeitig der Tatsache bewusst bin oder sein kann, dass ich bin. Diese Tatsache stellt sich also irgendwie im Bewusstsein dar. Wie aber lsst sich das damit angesprochene „Phnomen“ im Hinblick auf einen mçglichen Gehalt der „Vorstellung“ ,Ich‘ nher bestimmen? Die Frage, die als nchstes gestellt werden muss, betrifft das eigentmliche Verhltnis, das Kant bei der terminologischen Verwendung des „Enthaltenseins“ des Satzes ,Ich existiere‘ im Satz ,Ich denke‘ im Blick hat. Hierzu hat Konrad Cramer einen gangbaren Vorschlag gemacht. Cramer zufolge lsst sich die Relation von ,Ich denke‘ und ,Ich existiere‘ im Rekurs auf das Merkmal der Einfachheit, das nach Kant fr die „Vorstellung“ ,Ich‘ charakteristisch ist, aufklren. Er sttzt sich dabei auf drei Aussagen im Paralogismus-Kapitel der A-Auflage, in denen Kant die Einfachheit behauptet und denen sich insofern analytisch relevante Hinweise entnehmen lassen.17 Es sind bezeichnenderweise ausschließlich negative Bestimmungen, die Kant in diesem Zusammenhang vorbringt. So schließt der Begriff der Einfachheit – erstens – aus, dass die Vorstellung ,Ich‘ etwas in der Anschauung Gegebenes sein kann, sofern man Kants These akzeptiert, wonach anschaulich Gegebenes stets eine Mannigfaltigkeit sinnlicher Daten beinhaltet.18 Zweitens ist auszuschließen, dass die Vorstellung ,Ich‘ als Akt des Verstandes aufgefasst werden kann, dessen Gehalt ber Attribute beschreibbar wre; die Vorstellung ,Ich‘ ist kein Begriff von etwas anschaulich Gegebenem, da sie keineswegs eine „Synthesis des Mannigfaltigen enthlt“.19 Und es ist schließlich drittens auszuschließen, dass es sich bei der Vorstellung ,Ich‘ um eine Form der Anschauung oder Vorstellung handelt, also um etwas, worin Anschau17 Cramer, 2003, S. 66 f. 18 KrV, A 355. 19 KrV, A 356.
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ungen gegeben wrden und aufgrund ihres Status, Form zu sein, unwandelbar ist.20 Aber was entspricht dann – positiv gewendet – dem mentalen Zustand, der das ,Ich‘ ausdrckt? Aus den verschiedenen negativen Teilbestimmungen des Merkmals der Einfachheit folgert Cramer zunchst, dass der mentale Zustand in formaler Hinsicht den Status eines Gedankens haben msse, eines Gedankens, der weder auf etwas in der Anschauung Gegebenes oder Gebbares noch auf eine regelgeleitete Synthesis sinnlicher Daten gerichtet sei.21 So werde in der Verwendung des Indexwortes ,Ich‘ – im Rahmen einer Selbstzuschreibung von mentalen Akten – auf etwas Bezug genommen, „was nur gedacht, aber nicht angeschaut werden kann“.22 Was gedacht werden kann, muss eine Form von Intentionalitt besitzen und insofern einen Gehalt haben, wenngleich dieser, wie im Falle des ,Ich‘, kein prdikativ bestimmbarer empirischer Inhalt sein kann; denn dazu wrde es einer sinnlichen Anschauung bedrfen, die Kant jedoch, wie gezeigt, im Blick auf die „Vorstellung“ ,Ich‘ eindeutig ausschließt. Es sind genauer zwei Aspekte, die Cramer bei der Bestimmung des (nicht-sinnlichen) Gehalts der in Frage stehenden Kognition ins Spiel bringt: Der erste Aspekt, der im Wesentlichen dem Gedankengang der BAuflage des Paralogismus-Kapitels entspricht, ist Kants Feststellung, dass das ,Ich denke‘ seinem Status nach ein „Actus der Spontaneitt“ ist.23 Die Pointe ist also, dass die „Vorstellung“ ,Ich denke‘ nicht – wie im Falle prdikativ bestimmbarer Vorstellungsinhalte – auf einem Akt der Spontaneitt beruht, sondern ein solcher Akt ist. Fr Cramer deutet nun diese entscheidende Charakterisierung, zusammen mit der vorgenannten These, dass der Inhalt der „Vorstellung“ ,Ich‘ nur gedacht, aber nicht angeschaut werden kann, auf den Umstand hin, dass ich mir deswegen 20 KrV, A 350. 21 Cramer, 2003, S. 67. 22 Ebd. Dass „Gedanke“ nicht dem Fregeschen Begriff des Gedankens im Sinne eines objektiven (bergreifenden) Inhalts von Stzen und Vorstellungen gemeint ist, drfte klar sein. 23 KrV, B 132. Rolf-Peter Horstmann weist richtigerweise darauf in, dass die BAuflage des Paralogismus-Kapitels insbesondere von Kants These dominiert ist, wonach das Subjekt nur als Handlung oder Akt aufgefasst werden kann, woraus folgt, dass sich die Frage nach der Erkennbarkeit der ’Seele’ von vornherein nicht sinnvoll stellen lsst. Dass die Aktstruktur des Subjekts Parallelen zu Fichtes Begriff des Ich als Tathandlung sowie auf die Struktur der intellektuellen Anschauung erkennen lsst, bleibt allerdings unerwhnt. Horstmann, 1993, S. 416. Vgl. hierzu Stolzenberg, 2007.
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Denkakte zuschreiben und darin auf mich als Subjekt Bezug nehmen kann, weil ich „einen Begriff von mir besitze, der in jeder Selbstzuschreibung spontan erzeugt werden kann“ [Hervorhebung v. Vf.].24 Dass Cramer an dieser Stelle von einem „Begriff“ spricht, den ich (angeblich) von mir haben muss, wenn ich im Rahmen einer Selbstzuschreibung auf mich als Subjekt einer propositionalen Einstellung verweise, ist zunchst berraschend. Bei nherem Hinsehen wird allerdings klar, dass sich die Wendung „Begriff von mir“ auf den epistemischen Status des Bewusstseins bezieht, das ich habe, wenn ich inhaltsvolle Vorstellungen habe, die ich mir zuschreibe und sie als meine bezeichne.25 Trotz der erweiterten Charakterisierung des ,Ich denke‘ als Akt der Spontaneitt bleibt jedoch nach wie vor ungeklrt, worauf die „Vorstellung“ ,Ich‘ gerichtet ist, wenn man mit Cramer davon ausgeht, dass es ein „wovon“ dieser Vorstellung gibt (oder geben muss). An dieser Stelle kommt nun die bereits erwhnte zentrale Aussage Kants ins Spiel, wonach das ,Ich denke‘ ein Satz ist, der den Satz ,Ich existiere’ mit einschließt. Der Gehalt des ,Ich‘-Gedankens bin ich, und zwar insofern ich mir als Subjekt von Denkakten bewusst bin. Aus diesem Umstand ergibt sich nach Cramer, dass der ,Ich‘-Gedanke mit dem Bewusstsein meiner eigenen Existenz unmittelbar zusammenhngt. Das Existenzbewusstsein stellt sich zwangslufig ein, sobald ich mir kognitive Akte zuschreibe und das Bewusstsein der Zuschreibung in propositionaler Form zum Ausdruck bringe oder bringen kann. Insofern lsst sich sagen, dass die „Vorstellung“ ,Ich bin‘ nach Kant dem Bewusstsein entspricht, „welches alles Denken begleiten kann“, und damit ist es „das, was unmittelbar die Existenz des Subjekts in sich schließt“.26 Ich bin „mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellung berhaupt, mithin in der synthetischen ursprnglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich
24 Cramer, 2003, S. 68. 25 Es ist also zu bercksichtigen, worauf Cramer den systematischen Fokus legt: Cramer geht es um die Analyse einer spezifischen Funktion des Apperzeptionsbewusstseins, um das Urteil ’Ich denke’, insofern es inhaltlich gehaltvolle Vorstellungen begleitet und nher um die Explikation des Gedankens der ’Meinigkeit’ von Vorstellungen. Die Frage, was dem ,Ich‘ an der Subjektstelle des Urteils ,Ich denke‘ als Bewusstseinsphnomen korrespondieren kçnnte, steht also nicht im Zentrum von Cramers berlegungen. 26 KrV, B 277.
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an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin.“27 Dabei ist es wichtig zu sehen, dass man sich im Vollziehen eines mentalen Aktes lediglich seines faktischen Daseins bewusst wird, als ,unkonkretes’ Subjekt von mentalen Zustnden und Vollzgen. Anders ausgedrckt: Wenn ich etwas denke, vorstelle etc., bin ich mir zwar selbst gegenwrtig, habe dabei aber keine Vorstellung meiner selbst als eines raum-zeitlich existierenden konkreten Individuums. Auf diese Form der (mçglichen) unmittelbaren Selbstreferenz im Vollziehen konkreter Denkakte hat auch Peter Strawson hingewiesen. Und er betont, dass dies der Eigenheit der Verwendung von ,Ich‘ entspricht, nmlich nicht przisieren zu mssen, wer mit dem ,Ich‘ gemeint ist.28 Genau dies meint Kant, wenn er hinsichtlich der Relation des Satzes ,Ich denke‘ und dem spontanen Urteil ,Ich existiere‘, also meiner faktisch erfahrenen Existenz, sagt, dass sie letztlich identisch sind.29 Somit ist auch Dieter Sturma Recht zu geben, der die Identittsrelation nachdrcklich auf den involvierten Bewusstseinsvollzug bezieht und betont, „daß das Evidenzerlebnis des Selbstbewußtseins uno actu das explizite Bewußtsein der eigenen Existenz, die ersichtlich empirisch bestimmt ist, einschließt.“30 Insgesamt gesehen stellt Kants Argumentation – bezogen auf die Erfahrungsperspektive der ersten Person – tatschlich eine sachliche Erweiterung dar – verglichen mit der rein funktionalen Beschreibung des Apperzeptionsbewusstseins in der Transzendentalen Analytik. Berechtigt aber der Befund, dass das ,Ich denke‘ unmittelbare Selbstgewissheit ist, dazu, von einer Form vortheoretischen Selbstbewusstseins bei Kant zu sprechen? Zwar lsst sich vorlufig festhalten, dass der mentale Modus des Unmittelbaren, der fr das Evidenzerlebnis prgend ist, einen begrifflichen Gegensatz zu reflektierten und damit 27 KrV, B 157. Dabei ist außerdem zu beachten, dass „Existenz“ kein reales Prdikat darstellt, sondern etwas, das einer Vorstellung qua sinnliche Wahrnehmung hinzugefgt wird (so die Prmisse von Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises in der Transzendentalen Dialektik, KrV, B 620 ff.). Daher kann der Satz ’ich existiere’ im hier verstandenen Sinn zwar keinen prdikativ bestimmbaren, propositionalen Sachverhalt ausdrcken, wohl aber eine nicht nher zu differenzierende Wahrnehmung. 28 Strawson, 1987, S. 211. 29 „Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satz: Ich denke, als gefolgert angesehen werden, wie Cartesius dafr hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existiert, vorausgehen mßte), sondern ist mit ihm identisch.“ KrV, B 422. 30 Sturma, 1997, S. 121.
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theoretisch verankerten mentalen Akten darstellt. Und insofern kann die Eigenschaft der Unmittelbarkeit zumindest als wichtiges Indiz fr die These gedeutet werden. Die Frage lsst sich aber erst dann befriedigend beantworten, wenn man Nheres ber die Art der Kognition erfhrt, die Kant mit dem ,Ich denke‘ im Sinne von ,Ich existiere‘ verbindet. 3. Das ,Ich denke‘ als „unbestimmte Wahrnehmung“ Die entscheidende Angabe hierzu findet sich in der bereits genannten Anmerkung im Paralogismus-Kapitel der B-Auflage. Hier sagt Kant, dass es sich bei der Kognitionsform, die dem Urteil ,Ich denke‘ unterliegt, um eine „unbestimmte Wahrnehmung“ handelt.31 Was damit gemeint sein kçnnte, soll zwar der anschließenden erluternden Bemerkung entnommen werden, es lsst sich jedoch nicht leugnen, dass Kant sich hier in einer gewissen Begriffsnot befindet: „Eine unbestimmte Wahrnehmung“, so Kant, „bedeutet hier nur etwas Reales, das gegeben worden, und zwar nur zum Denken berhaupt, also nicht als Erscheinung, auch nicht als Sache an sich selbst (Noumenon), sondern als etwas, was in der Tat existiert, und in dem Satz, ich denke, bezeichnet wird.“32 Die vagen Formulierungen deuten darauf hin, dass Kant offensichtlich den Boden der klaren, systematisch verankerten erkenntniskritischen Terminologie verlassen und es mit Phnomenen zu tun hat, die sich einer analytisch scharfen Betrachtung entziehen. Immerhin lsst sich sagen, dass eine „unbestimmte Wahrnehmung“ kein Begriff ist, und „unbestimmt“ ist die Wahrnehmung im Unterschied zu einer bestimmten Wahrnehmung, einer durch Verstandesleistungen geordneten sinnlichen Anschauung; das geht aus der zitierten Wendung, wonach die unbestimmte Wahrnehmung keine Erscheinung ist, unmissverstndlich hervor. Diese Kontrastierung ist aber keineswegs trivial: Denn eine unbestimmte Wahrnehmung ist, nur weil sie epistemologisch unterbestimmt ist, nicht nichts; sie muss vielmehr als ein pr-reflexiver mentaler Zustand aufgefasst werden, in dem sich das Subjekt in einem minimalen Sinn seiner selbst bewusst, oder besser: sich selbst gegenwrtig ist. Ohne dass Kant hierzu nhere Angaben machen wrde, lsst sich dies als ein basales Bewusstsein deuten, als ein Ich-Erleben, das mit der erstpersonalen Perspektive unmittelbar gegeben ist. Dass es sich dabei durchaus um ein Phnomen des Bewusstseins 31 KrV, B 422 ff. 32 KrV, B 424.
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handelt, geht aus weiteren Formulierungen hervor, die in der Kantischen Erkenntnistheorie durchaus problematisch sind. So betont Kant etwa in der Zusammenfassung der Paralogismen in den Prolegomena: „[D]ie Vorstellung der Apperzeption, das Ich, […] ist nichts mehr als ein Gefhl“.33 In dieselbe Richtung weist die Aussage, wonach dem „Existentialsatz“, also dem ,Ich denke‘ im Sinne von ,Ich existiere‘, eine „Empfindung, die folglich zur Sinnlichkeit gehçrt […] zum Grunde liege“.34 Allerdings betont Kant gleich darauf, dass diese Empfindung in logischer Hinsicht nicht auf der Ebene des strukturierten Denkens, der Erfahrung, angesiedelt ist, weil die Empfindung des ,Ich denke‘ der Erfahrung vorhergehe. Diese knapp angedeutete Rckkehr zur logischen Bedeutung des Apperzeptionsbewusstseins macht aber zugleich klar, dass das ,Ich denke‘ als Bewusstseinsphnomen nicht rein empirisch-psychologisch verstanden werden kann. Und es scheint daher durchaus angemessen, hier von einem vortheoretischen Selbstbewusstsein, das zugleich die Grundlage des gegenstndlichen Denkens bildet, zu sprechen. Allerdings ist es wichtig zu sehen, dass fr Kant aus diesem Befund in systematischer Hinsicht nichts folgt – anders als etwa bei Fichte. Insbesondere in Fichtes Schriften zur Wissenschaftslehre um 1798 lsst sich eine systematische Bercksichtung und Integration des unmittelbaren, vorbegrifflichen Selbstbewusstseins nachweisen. Fichte vertritt hier im Unterschied zu Kant die spezifisch bewusstseinstheoretische These, dass die Begrndung von Subjektivitt aus der Perspektive der ersten Person einsichtig gemacht werden kann – und muss. Mit dieser These verbindet sich der Anspruch, dass der Gehalt transzendentaler Prinzipien im Bewusstsein selbst nachgewiesen werden kann.35 Anders ausgedrckt: Das „ursprngliche Selbstbewusstsein“, das sich-selbst-setzende Ich, ist ein transzendentales Prinzip, das man sich bewusst vergegenwrtigen kann. In der Wissenschaftslehre nova methodo sagt Fichte unmissverstndlich: „Wir mssen von diesem letzten Grund wissen, denn wir sprechen davon.“36 Deshalb kçnnen nach Fichte Strukturbedingungen von Selbstbewusstsein nicht ausschließlich eine Funktion im transzendentalen Sinn haben. Konsequent heißt das, dass der phnomenale Gehalt von Selbstbewusstsein in einem ursprnglichen Sinn, als unmittelbares Anschau-
33 34 35 36
AA 4:334 Anm. KrV, B 423. Siehe dazu ausfhrlicher Crone, 2005, S. 47 ff. WLnm S. 31.
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ungsbewusstsein, in die Begrndungskonzeption von Subjektivitt ebenso eingebunden sein muss.37 Dem Kantischen Text lassen sich hingegen keine weiteren, prziseren Angaben ber vorbegriffliches Selbstbewusstsein entnehmen, was, theoriestrategisch gesehen, allerdings auch nicht weiter verwundert. Im Gegenteil: Dass Kant sich ber vortheoretisches Selbstbewusstsein so bedeckt hlt, drfte ein Indiz dafr sein, dass er wusste, sich damit aus dem klar begrenzten Rahmen der Erkenntniskritik hinauszubegeben. Und diese ist nun einmal das zentrale Anliegen der theoretischen Philosophie Kants. 4. Schluss Die vorangegangen berlegungen lassen sich folgendermaßen resmieren: Kants Theorie des Apperzeptionsbewusstseins impliziert neben rein funktionalen Eigenschaften des logischen Selbstbewusstseins eine Form unmittelbaren Bewusstseins, das man als ein phnomenales, vorbegriffliches Selbstbewusstsein bezeichnen kann. Fr diese These gibt es mehrere Anhaltspunkte. Zum einen verweist die Relation der Urteile ,Ich denke‘ und ,Ich existiere‘ auf den mentalen Zustand eines Evidenzerlebnisses, nher auf das spontan erzeugte, unmittelbare Bewusstsein der eigenen Existenz. Zum anderen wird die Kognition, die sich mit dem ,Ich‘ verbindet, als „unbestimmte Wahrnehmung“ charakterisiert, als ein Bewusstsein also, das weder als begrifflich strukturierte Erfahrung noch als apriorische Form oder Strukturbedingung gedeutet werden kann. Allerdings muss nachdrcklich betont werden, dass von einem ausgearbeiteten Konzept des phnomenalen Selbstbewusstseins bei Kant nicht die Rede sein kann. Man hat es hier eher mit einigen Bemerkungen zu tun, die als Hinweise verstanden werden kçnnen, dass Kant sich der Thematik durchaus bewusst war und zugleich der Tatsache, dass der Bereich des Bewusstseins, der zwischen nichtsinnlichen Strukturbedingungen und (empirischen) propositionalen Einstellungen anzusiedeln ist, begrifflich schwer zu fassen ist. Anders als in Fichtes Konzeption von Subjektivitt, kommt dem phnomenalen Charakter des ,Ich denke‘ keinerlei theorieinterne Bedeutung zu. Denn Kant ist im Rahmen seiner Erkenntniskritik 37 Ob ein solches Vorgehen tatschlich dem Anspruch einer apriorischen Begrndung gengen kann, ist aus Sicht der Kantischen Transzendentalphilosophie ohne Zweifel mehr als fraglich; dieses Problem kann hier allerdings nicht weiter verfolgt werden.
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im Wesentlichen an der funktionalen Bedeutung des Apperzeptionsbewusstseins interessiert, und zwar mit Blick auf Strukturbedingungen sachhaltiger, prdikativ bestimmbarer mentaler Akte. Daher ist es fr das Kantische Vorhaben auch vçllig irrelevant, ob sich die „unbestimmte Wahrnehmung“ irgendwie przisieren und fr die Theorie fruchtbar machen ließe: „Diese Vorstellung [des ,Ich denke‘] mag nun klar (empirisches Bewusstsein) oder dunkel sein, daran liegt hier nichts, ja nicht einmal an der Wirklichkeit desselben; sondern die Mçglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses beruht notwendig auf dem Verhltnis zu dieser Apperzeption als einem Vermçgen.“38 So lsst sich schließlich sagen, dass das Apperzeptionsbewusstsein – innerhalb des erkenntniskritischen Rahmens – ausschließlich als epistemologisches Prinzip formaler Selbstreferenz zu verstehen ist, das den Sachverhalt begrndet, dass ich mir Vorstellungen zuschreibe und sie als meine bezeichne. Innerhalb des erkenntniskritischen Rahmens drckt das ,Ich denke‘ die bloß logische Einheit des Subjekts aus, eine Einheit, die vor aller Erfahrung gegeben und nicht Produkt der Erfahrung ist. Das phnomenale ,Ich‘ als „unbestimmte Wahrnehmung“ liegt außerhalb dieses Rahmens. Literatur Cramer, Konrad, 1987, ber Kants Satz: Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten kçnnen, in: Cramer, K./Fulda, H. F./Horstmann, R.-P./ Pothast, U. (Hrsg.), Theorie der Subjektivitt, Frankfurt a. M., S. 167 – 202. Cramer, Konrad, 2003, Kants ,Ich denke‘ und Fichtes ,Ich bin‘, in: Ameriks, K./ Stolzenberg, J. (Hrsg.), Konzepte der Rationalitt, Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus (1), Berlin/New York, 57 – 93. Crone, Katja, 2005, Fichtes Theorie konkreter Subjektivitt. Untersuchungen zur „Wissenschaftslehre nova methodo“ (Neue Studien zur Philosophie Bd. 18), Gçttingen. Fichte, Johann Gottlieb, 21994, Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K. Chr. Krause 1798/99, hrsg. sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen v. Fuchs, Hamburg. (Zitiert als „WLnm“). Frank, Manfred, 21993, Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre, Frankfurt a. M. Horstmann, Rolf-Peter, Kants Paralogismen, in: Kant-Studien, 83. Jahrgang, S. 408 – 425. Hossenfelder, Malte, 1978, Kants Konstitutionstheorie und die transzendentale Deduktion, Berlin/New York. 38 KrV, A 117 Anm.
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Dinge an sich und sekundre Qualitten Tobias Rosefeldt I. Transzendentaler Idealismus heute Bei der Lektre der Kritik der reinen Vernunft beschleicht einen manchmal der Verdacht, daß nicht so sehr Kant nie aus Kçnigsberg, sondern vielmehr Kçnigsberg nie aus Kant herausgekommen sei. So liest man, „daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstnde einer uns mçglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen, sind“ (A 490 f./B 518 f.)1, und man bekommt vom Autor der Kritik gesagt, daß „alle Gegenstnde, womit wir uns beschftigen kçnnen, insgesammt in [ihm], d.i. Bestimmungen [s]eines identischen Selbst“ (A 129), und „ußere Gegenstnde (die Kçrper) blos Erscheinungen, mithin auch nichts anders als eine Art [s]einer Vorstellungen“ seien (A 370). Diese Bemerkungen legen das folgende Bild nahe:2 Die Dinge, die ein erkennendes Subjekt gemeinhin fr seiner Erkenntnis zugngliche, aber ontologisch von ihm unabhngige außergeistige Entitten hlt – Stdte, Huser, Blumen, Materieteilchen –, sind in Wirklichkeit Dinge, die bloß in seinem Geist existieren, d. h. entweder, wie die Zitate es nahelegen, seine eigenen mentalen Reprsentationszustnde oder zumindest Dinge, deren Eigenschaften vollstndig ber den mentalen Eigenschaften des Subjekts supervenieren, wie etwa rein intentionale Reprsentationsobjekte.3 Daß es neben solchen im Geiste
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Kants Schriften werden zitiert nach: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [spter: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (abgekrzt „AA“). Die Angabe von Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft folgt dabei der Paginierung der Originalausgaben der ersten („A“) und zweiten Auflage („B“). In die Richtung des folgenden Bildes gehen zum Beispiel die Kant-Interpretationen von Strawson, 1966, Guyer, 1987, Kap. 15, und Van Cleve, 1999, Kap. 1 und 10. James van Cleve, der die Grundtendenz dieser Kantinterpretation verteidigt und sich bemht, sie systematisch plausibel zu machen, nennt die Gegenstnde un-
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existierenden Dingen auch noch außergeistige Entitten gibt – Dinge, die an sich selbst existieren –, ist zwar nicht ausgeschlossen und vielleicht sogar notwendig, damit es so etwas wie innergeistige Entitten berhaupt geben kann; empirische Erkenntnis aber kann ein Subjekt nur von Gegenstnden haben, die ausschließlich in seinem Geist existieren. Sollte dieses Bild der Wirklichkeit entsprechen, dann wre die Stadt Kçnigsberg nichts als eine Vorstellung im Geiste ihrer Bewohner. Es gibt heutzutage viele Kant-Interpreten, die der Meinung sind, daß das eben skizzierte Bild von der Welt und unserer Erkenntnis von ihr nicht nur systematisch absurd, sondern auch mit einigen wesentlichen Aspekten von Kants theoretischer Philosophie unvereinbar ist.4 So sind zum Beispiel Vorstellungen bei Kant allein Gegenstnde des inneren Sinns, Gegenstnde im Raum aber solche des ußeren Sinns. Von den geistigen Eigenschaften eines Subjekts hat nur das Subjekt selbst anschauliche Erfahrung,5 Gegenstnde im Raum sind aber intersubjektiv zugnglich, d. h. verschiedene Subjekte kçnnen alle ein und denselben rumlichen Gegenstand wahrnehmen.6 Kants Analogien der Erfahrung handeln von Substanzen, die zu allen Zeiten existieren und in kausalen Wechselwirkungen miteinander stehen, und diese Eigenschaften kçnnten nichts haben, das ontologisch von den mentalen Zustnden eines bestimmten Subjekts abhngig ist.7 Außerdem beruht das Bild auf der Annahme, daß wir in einem direkteren und sozusagen unverflschteren epistemischen Verhltnis zu unseren eigenen mentalen Zustnden stehen, als wir das zu außergeistigen Entitten tun, und dies ist eine Annahme, die Kant immer wieder explizit verneint: Wir erkennen uns selbst und unsere mentalen Zustnde seiner Meinung nach genauso nur als Er-
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seres empirischen Wissens logische Konstrukte aus Vorstellungen (vgl. Van Cleve, 1999, S. 11, 58 und 123). Fr einen hervorragenden berblick ber die Argumente fr diese Behauptung und die entsprechende Literatur vgl. Allais, 2004, S. 660–665; vgl. auch Ameriks, 1992. Vgl. z. B. A 347/B 405, A 353 f. und A 357. Vgl. Collins, 1999, S. 4 ff.; den Zusammenhang zwischen der objektiven Gltigkeit von Urteilen und ihrer Allgemeingltigkeit, d. h. intersubjektiven Geltung betont Kant vor allem in den Prolegomena (vgl. AA IV 298 f.). Vgl. Allais, 2004, S. 663; zudem gesteht Kant zu, daß es empirisch reale Gegenstnde gibt, die nicht unserer Wahrnehmung zugnglich sind, wie z. B. sehr kleine Dinge (A 522/B 550) und die sogenannte „magnetische Materie“ (A 226/ B 273).
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scheinungen, wie wir Dinge im Raum nur als Erscheinungen erkennen,8 und wir erkennen beide Dinge gleich unmittelbar,9 wobei Kant der Erkenntnis von außergeistigen Kçrpern sogar epistemische Prioritt gegenber der von den eigenen mentalen Zustnden einrumt.10 Und schließlich behauptet Kant immer wieder, daß es begrifflich ausgeschlossen ist, daß es Erscheinungen gibt, ohne daß es etwas gibt, was erscheint und auch existieren kçnnte, ohne zu erscheinen.11 Wren Erscheinungen rein geistige Entitten, dann wre zwar der Schluß auf die Existenz von einem Geist, dem sie erscheinen, begrifflich gerechtfertigt, der Schluß auf die Existenz von etwas Außergeistigem, das erscheint, wre aber allenfalls ein Schluß auf die beste Erklrung.12 Es scheint deswegen nicht nur aus systematischen berlegungen lohnend, Kantische Bemerkungen wie die eingangs zitierte, daß „alle Gegenstnde einer uns mçglichen Erfahrung nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen, sind“, anders zu verstehen, als diese das auf den ersten Blick nahelegen.13 Interpreten, die dies zu tun versuchen, zeichnen sich einerseits dadurch aus, daß sie Kant die Annahme unterstellen, daß Subjekte empirische Erkenntnis von intersubjektiv zugnglichen Gegenstnden haben, deren Existenz nicht von der Existenz der sie erkennenden Subjekte abhngt. Andererseits charakterisieren sie Kants Aussagen ber das Verhltnis zwischen geistabhngigen Erscheinungen und Dingen, die an sich selbst existieren, nicht als solche ber zwei verschiedene Arten von Entitten, sondern als Aussagen ber zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Art von Entitten:14 Ein und dieselben ontologisch von uns unabhngigen Gegenstnde kçnnen wir sowohl so thematisieren, „wie sie 8 Vgl. z. B. A 38 f./B 55 f.; Van Cleve reagiert auf diese Schwierigkeit mit der Annahme, daß Erscheinungen logische Konstrukte aus an sich selbst bestehenden und also uns unbekannten Sinnesdaten sind (vgl. Van Cleve, 1999, S. 59 f. und Rosefeldt, 2001). 9 Vgl. besonders B 275 ff. 10 Besonders in der zweiten Auflage der Kritik betont Kant, daß sich die Kategorien – deren Anwendung fr die Erkenntnis von Gegenstnden notwendig ist – nur auf Gegenstnde der ußeren Anschauung anwenden lassen (vgl. B 291 f.). 11 Vgl. A 251 f. und B 306. 12 Vgl. Allais, 2004, S. 661. 13 Eine sehr subtile Untersuchung von Kants Verwendung des Begriffs der Vorstellung und insbesondere seiner Bemerkungen darber, daß Dinge nur Vorstellungen sind und nur „in uns“ existieren, findet sich bei Collins, 1999, Kap. 5. 14 Sogenannte Zwei-Aspekte-Interpretationen werden zum Beispiel vertreten von Schultz, 1792, Bird, 1962, Prauss, 1974, Walker, 1978, Allison, 2004, Collins, 1999, Willaschek, 2001a, Abela, 2002, Allais, 2004.
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uns erscheinen“, d. h. insofern sie Gegenstnde unserer empirischen Erkenntnis sind, als auch insofern sie dies nicht tun, d. h. so, „wie sie an sich selbst sind“. Diese Interpretation kann sich auf eine Vielzahl von Stellen sttzen. So spricht Kant von der „Unterscheidung der Dinge als Gegenstnde der Erfahrung von eben denselben als Dingen an sich selbst“ (B XXVII). Er sagt, daß ein in der Anschauung gegebener Gegenstand „als Erscheinung von ihm selber als Object an sich unterschieden wird“ (B 69), und nennt „Gegenstnde als Erscheinungen Sinnenwesen (Phaenomena)“ und „eben dieselbe nach [ihrer Beschaffenheit an sich selbst], wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, […] Verstandeswesen (Noumena)“ (B 306).15 Mein Lieblingsbeleg ist eine Stelle aus dem Opus Postumum, wo es heißt: „Der Unterschied der Begriffe von einem Dinge an sich und dem in der Erscheinung ist nicht objectiv sondern blos subjectiv. Das Ding an sich (ens per se) ist nicht ein Anderes Object sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf dasselbe Object […]“ (AA XXII 26; vgl. auch ebd. 43). Schließlich scheint die Interpretation unvermeidlich, wenn Kant feststellt, daß man auch sich selbst sowohl als Erscheinung als auch an sich selbst betrachten kann, und bestreitet, daß es einen dazu doppelt geben muß (vgl. AA VII 132 Anm. und 142, B XXVII f. und AA XX 270). Die Annahme, daß Kant mit den Ausdrcken „Erscheinungen“ und „Dinge an sich“ nicht zwei verschiedene Arten von Gegenstnden bezeichnen will, sondern zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Art von Gegenstnden, lßt freilich die Frage offen, was solche Aspekte eigentlich sind. In der Literatur werden grundstzlich zwei verschiedene Antworten auf diese Frage gegeben. Zwei-Aspekte-Interpretationen lassen sich – je nachdem, welche dieser Antworten sie geben – in sogenannte „ontologische“ und sogenannte „methodologische“ Interpretationen einteilen. Laut der methodologischen Interpretation charakterisiert man mit dem Begriff des Aspekts nicht so sehr einen Unterschied auf Seiten der Objekte, sondern einen Unterschied in der Weise, diese zu betrachten.16 Wenn es, wie Kant annimmt, eine Bedingung gibt, die Gegenstnde erfllen mssen, um berhaupt Gegenstnde empirischer Erkenntnis zu sein, dann kann man diese Gegenstnde betrachten, insofern sie diese Bedingung erfllen (als Erscheinungen), und man kann sie unabhngig davon, daß sie diese Bedingung erfllen, betrachten (so wie sie an sich 15 Alle Hervorhebungen von mir, T.R; fr weitere Stellen siehe Allais, 2004, S. 658. 16 Vgl. besonders die in der vorletzten Fußnote erwhnten Interpretationen von Prauss und Allison.
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selbst sind). Bei der genannten Bedingung handelt es sich um die Existenz in Raum und Zeit, und deswegen kann Kant sagen, daß Gegenstnde, insofern sie den Bedingungen unserer Erkenntnis gengen, in Raum und Zeit existieren, dieselben Gegenstnde, insofern man sie unabhngig von den Bedingungen unserer Erkenntnis (d. h. an sich selbst) betrachtet, nicht in Raum und Zeit existieren.17 In der Literatur sind – meines Erachtens berechtigte – Zweifel daran erhoben worden, daß die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation der systematischen Funktion von Kants Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen gerecht werden kann.18 Kant ist der Meinung, daß die Dinge u.a. deswegen nicht an sich selbst in Raum und Zeit existieren, weil sich sonst die sogenannten Antinomien nicht vermeiden ließen und die kausale Determiniertheit der Welt die Mçglichkeit menschlicher Freiheit ausschlçsse.19 Nun mag es sein, daß die Existenz eines Gegenstandes in Raum und Zeit eine notwendige Bedingung dafr ist, daß wir von diesem Gegenstand Erkenntnis haben. Aber es ist falsch, daß Gegenstnde in irgendeinem Sinne nicht in Raum und Zeit existieren, nur weil man von dieser Bedingung absehen kann, das heißt davon abstrahieren kann, daß sie in Raum und Zeit existieren.20 Einer anderen Lesart zufolge liefe die These, daß Gegenstnde nur insofern in Raum und Zeit existieren, als sie den Bedingungen unserer Erkenntnis gengen, und daß die Existenz in Raum und Zeit eine solche notwendige Bedingung ist, darauf hinaus, daß Gegenstnde nicht in Raum und Zeit existieren wrden, wenn sie nicht in Raum und Zeit existieren wrden. Aber auch diese Trivialitt ist offenkundig kaum dazu geeignet, die philosophische Funktion von Kants Erkenntnisbeschrnkung zu erfllen.21 Die einzige Weise, wie man der Aussage, daß Gegenstnden, abgesehen von den Bedingungen, die fr 17 Vgl. Allison, 2004, Kap. 2. 18 Vgl. fr die Kritik an der Zwei-Aspekte-Interpretation Allais, 2004, S. 665 – 668, Guyer, 1987, S. 334 ff., Willaschek, 1992, Kap. 3, Van Cleve, 1999, S. 143 – 150. 19 Vgl. A 490 ff./B 518 ff. 20 Van Cleve bringt dieses Problem treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: „How is it possible for the properties of a thing to vary according to how it is considered? As I sit typing these words, I have shoes on my feet. But consider me apart from my shoes: so considered, am I barefoot? I am inclined to say no; consider me how you will, I am not now barefoot“ (Van Cleve, 1999, S. 8). 21 Vgl. Van Cleve, 1999, ebd.; man sollte erwhnen, daß Allison in der berarbeiteten zweiten Auflage seines Buches auf die hier genannten Kritikpunkte antwortet (vgl. Allison, 2004, S. 42 ff.). Ob seine Antwort berzeugend ist, kann ich hier allerdings nicht diskutieren.
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ihre Erkenntnis notwendig sind, nicht in Raum und Zeit existieren, so verstehen kann, daß sie die philosophischen Konsequenzen hat, die Kant ihr zuschreibt, impliziert die Annahme, daß die Eigenschaften, die ein Gegenstand haben muß, um von uns erkannt werden zu kçnnen, nur eine von zwei Klassen von Eigenschaften bilden, die diesem Gegenstand zukommen. Dieses Verstndnis luft aber auf die ontologische ZweiAspekte-Interpretation hinaus. Auch die ontologische Zwei-Aspekte-Interpretation wird in zwei verschiedenen Varianten vertreten. Beide Varianten schreiben Kant die Annahme zu, daß es zwei verschiedene Arten von Eigenschaften von Gegenstnden gibt, und daß wir nur Eigenschaften einer dieser beiden Arten (die Eigenschaften der Dinge, wie sie uns erscheinen) erkennen kçnnen. Die Varianten unterscheiden sich aber in der Charakterisierung dieser Eigenschaften. Die erste Interpretationsvariante wird hauptschlich von Rae Langton vertreten (Langton, 1998). Langton nimmt an, daß es Kant um eine Unterscheidung zwischen extrinsischen und intrinsischen Eigenschaften geht, also zwischen Eigenschaften, die ein Gegenstand nur dadurch hat, daß er in Relation zu anderen Gegenstnden steht, und solchen, die er auch haben kçnnte, ohne daß es dazu andere Gegenstnde geben mßte. In Reaktion auf Langtons Vorschlag ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß ihre Interpretation nicht nur, wie sie selber zugesteht, Kants Rede von subjektspezifischen Formen der Anschauung nicht gerecht werden kann, sondern daß sie insgesamt exegetisch eher fragwrdig ist (vgl. z. B. Bird, 2000). Meiner Ansicht nach stammen fast alle Stellen, auf die Langton ihre Interpretation sttzt, aus Passagen, in denen Kant die von ihm kritisierte Leibnizsche Position charakterisiert (vgl. Rosefeldt, 2001). Der zweiten Variante zufolge – die ich hier die subjektivistische Variante der ontologischen Zwei-Aspekte-Interpretation nennen mçchte – handelt es sich bei den erkennbaren Eigenschaften der Dinge um Eigenschaften, die außergeistige Gegenstnde nur in Relation zu Erkenntnissubjekten mit unseren epistemischen Vermçgen – insbesondere zu Subjekten, die Gegenstnde als rumlich und zeitlich strukturiert wahrnehmen – haben; bei den unerkennbaren Eigenschaften dagegen handelt es sich um solche, die ein Gegenstand auch unabhngig von seiner Relation zu solchen Subjekten hat. Die subjektivistische Variante der ontologischen Zwei-Aspekte-Interpretation findet sich in Anstzen bei Paton, Dryer und Putnam,22 sie wurde in den letzen Jahren aber am 22 Vgl. Paton, 1951, S. 442 ff., Dryer, 1966, Kap. 11.6, Putnam, 1981, S. 59 f.
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explizitesten von Arthur Collins und Lucy Allais ausformuliert.23 Diese Variante liefert meines Erachtens die derzeit erfolgversprechendste Lesart von Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich. Eine der Hauptaufgaben, die eine solche Interpretation zu leisten hat, besteht darin zu erklren, was es heißen soll, daß Eigenschaften im allgemeinen und alle raum-zeitliche Eigenschaften im besonderen einem Gegenstand nur im Verhltnis zu einem Erkenntnissubjekt mit bestimmten Erkenntnisvermçgen zukommen. Sowohl Collins als auch Allais erlutern diese These anhand einer Analogie mit sekundren Qualitten wie Farben:24 Es ist eine prima facie plausible (wenn auch der genaueren philosophischen Erluterung bedrftige) Annahme, daß Farben, anders als zum Beispiel Formen, Eigenschaften sind, die Gegenstnden nur relativ zu Subjekten mit bestimmten sensorischen Fhigkeiten zukommen. Dennoch kommen Farben denselben Gegenstnde zu, denen auch Formeigenschaften zukommen. Es sind nicht mentale Entitten wie Empfindungszustnde, die Farben haben, sondern ausgedehnte Gegenstnde, Dinge mit einer Oberflche. Farb- und Formeigenschaften kommen also denselben Gegenstnden zu, obwohl die ersten Eigenschaften in einem bestimmten Sinne subjektabhngig sind, d. h. den Gegenstnden nicht an sich selbst zukommen, sondern nur insofern sie uns erscheinen. Allais sttzt ihre Interpretation auf eine Passage aus den Prolegomena (vgl. AA IV 289), in der Kant selbst seine Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen mit Rckgriff auf die Unterscheidung zwischen sekundren und primren Qualitten erlutert, und sie hat einen Vorschlag dazu gemacht, welche Konzeption sekundrer Qualitten man zugrundelegen mßte, damit diese Erluterung funktioniert. Diesem Vorschlag zufolge sollte man sekundre Qualitten als Eigenschaften der Form, Subjekten einer bestimmten Art auf eine bestimmte Weise zu erscheinen, verstehen.25 Allais erlutert ihren Vorschlag anhand von Fllen nicht-veridischer Wahrnehmung.26 Wenn wir einen Stab durch ein Aquarium oder einen Menschen durch eine Scheibe Milchglas wahrnehmen, dann erscheint uns der Stab als gebogen und der Mensch als verschwommen. Gebogen bzw. verschwommen zu sein, sind weder Eigenschaften, die der Stab bzw. der Mensch selbst haben, noch Eigen23 Vgl. Collins, 1999, Allais, 2004, und Allais, im Erscheinen. 24 Vgl. Collins, 1999, S. 16 ff., Allais, 2004, S. 669 ff. und Allais, im Erscheinen, Abschnitt 1 und 3.2. 25 Vgl. Allais, 2004, S. 669 ff., und Allais, im Erscheinen, Abschnitt 3. 26 Vgl. Allais, im Erscheinen, Abschnitt 3.1, und Allais, 2004, S. 670 f.
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schaften geistiger Entitten wie etwa unserer mentalen Reprsentationen des Stabes bzw. des Menschen. Was wir sehen, sind nicht krumme oder unscharfe Reprsentationen, sondern uns erscheint der Stab durch das Wasser krumm und der Mensch durch das Milchglas verschwommen. Man kann deswegen sagen, daß es der Stab und der Mensch selber sind, die die Eigenschaft haben, Subjekten, die das betreffende Objekt durch ein Aquarium bzw. durch Milchglas betrachten, als krumm bzw. verschwommen zu erscheinen. Diese Eigenschaften sind sekundre Qualitten in dem von Allais intendierten Sinne. Obwohl sie dem Stab und dem Menschen selbst zukommen und intersubjektiv zugnglich sind, sind es Eigenschaften, die sozusagen eine Relativierung auf eine bestimme Art von Erkenntnissubjekten in sich enthalten. Wenn Farben sekundre Qualitten in diesem Sinne sind, dann heißt das, daß sie Eigenschaften (subjektunabhngiger Gegenstnde) der Art sind, Subjekten mit menschlichen Empfindungsfhigkeiten auf eine bestimmte Weise zu erscheinen. Fr Kant sind nun auch Eigenschaften wie Ausdehnung und Grçße subjektrelativ, d. h. auch sie sind Eigenschaften der Form, Subjekten einer bestimmten Art – genauer: Subjekten mit unseren Anschauungsformen, d. h. solchen, die Gegenstnde als Dinge in Raum und Zeit wahrnehmen – auf bestimmte Weise zu erscheinen. Es sind subjektabhngige, aber intersubjektiv zugngliche Eigenschaften subjektunabhngiger Gegenstnde. Ich halte die Grundidee von Allais’ Interpretation im Großen und Ganzen fr zutreffend, meine aber, daß man sie in zwei Hinsichten verbessern kann. Erstens kann man diese Idee meines Erachtens am besten anhand einer Textpassage erlutern, auf die Allais selbst nicht ausfhrlich eingeht und deren Interpretation zudem die Mçglichkeit bietet, den Begriff der Subjektabhngigkeit von nicht-geistigen Eigenschaften terminologisch przise zu fassen. Darum soll es im nchsten Abschnitt gehen. Zweitens wird Allais’ Interpretation meines Erachtens einigen Stellen nicht gerecht, in denen Kant ber sekundre Qualitten und Erscheinungen spricht. Im dritten Abschnitt mçchte ich zeigen, daß man diese Stellen besser verstehen kann, wenn man annimmt, daß es sich bei subjektabhngigen Eigenschaften außergeistiger Gegenstnde um Dispositionen handelt, in uns bestimmte Vorstellungen zu verursachen. Im vierten Abschnitt schließlich wird es um eine Frage gehen, die von den bisherigen Vertretern der subjektivistischen Variante der ontologischen Zwei-Aspekte-Interpretation meines Erachtens nicht hinreichend bercksichtigt worden ist. Die Frage lautet: Wenn alle raum-zeitlichen Eigenschaften Gegenstnden nur in Relation zu einer bestimmten Art
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von Subjekten zukommen, wie kçnnen wir uns dann eigentlich noch auf die Gegenstnde beziehen, denen wir diese Eigenschaften zuschreiben und inwiefern kann man dann noch davon sprechen, daß es sich bei diesen Gegenstnden um die gewçhnlichen Gegenstnde unsere empirischen Erkenntnis – Stdte, Huser, Blumen, Materieteilchen – handelt? II. Erscheinungen und sekundre Qualitten In der B-Fassung der „Transzendentalen sthetik“ schreibt Kant: Wenn ich sage: im Raum und der Zeit stellt die Anschauung sowohl der ußeren Objecte, als auch die Selbstanschauung des Gemths beides vor, so wie es unsere Sinne afficirt, d.i. wie es erscheint, so will das nicht sagen, daß diese Gegenstnde ein bloßer Schein wren. Denn in der Erscheinung werden jederzeit die Objecte, ja selbst die Beschaffenheiten, die wir ihnen beilegen, als etwas wirklich Gegebenes angesehen, nur daß, so fern diese Beschaffenheit nur von der Anschauungsart des Subjects in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhngt, dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Object an sich unterschieden wird. (B 69)
Eigenschaften, die Gegenstnde nur haben, insofern sie uns erscheinen, beschreibt Kant hier als Beschaffenheiten, die „von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm“ abhngen. Durch den Begriff von solchen Beschaffenheiten kann man einen „Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Object an sich“ unterscheiden. Diese Aussage impliziert, daß die subjektabhngigen Beschaffenheiten, von denen Kant hier redet, eben den Gegenstnden zukommen, denen auch von der Anschauungsart des Subjektes unabhngige Eigenschaften zukommen – genau wie das sekundre Qualitten nach Allais’ Auffassung tun. In einer Fußnote zu der eben zitierten Passage erlutert Kant den Begriff subjektabhngiger Beschaffenheiten nun selbst anhand einer Analogie zu sekundren Qualitten: Die Prdicate der Erscheinung kçnnen dem Objecte selbst beigelegt werden in Verhltniß auf unseren Sinn, z. B. der Rose die rothe Farbe oder der Geruch; aber der Schein kann niemals als Prdicat dem Gegenstande beigelegt werden, eben darum weil er, was diesem nur im Verhltniß auf die Sinne oder berhaupt aufs Subject zukommt, dem Object fr sich beilegt, z. B. die zwei Henkel, die man anfnglich dem Saturn beilegte. Was gar nicht am Objecte an sich selbst, jederzeit aber im Verhltnisse desselben zum Subject anzutreffen und von der Vorstellung des letzteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung, und so werden die Prdicate des Raumes und der Zeit mit Recht den Gegenstnden der Sinne als solchen beigelegt, und hierin ist kein
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Schein. Dagegen wenn ich der Rose an sich die Rçthe, dem Saturn die Henkel, oder allen ußeren Gegenstnden die Ausdehnung an sich beilege, ohne auf ein bestimmtes Verhltniß dieser Gegenstnde zum Subject zu sehen und mein Urtheil darauf einzuschrnken, alsdann allererst entspringt der Schein. (B 69 f. Anm.)
Betrachten wir erst einmal das, was Kant hier ber den Saturn und die zwei Henkel sagt. Der Hintergrund seiner Bemerkung ist der folgende: Als Galileo den Saturn das erste Mal durch ein Teleskop sah, schien ihm dieser an seinen Seiten zwei mit ihm verbundene Henkel zu haben. In Wirklichkeit hat der Saturn keine solchen Henkel an, sondern Ringe um sich, wobei letztere durch ein nicht hinreichend starkes Teleskop betrachtet wie zwei Henkel aussehen. Schein entsteht also – so kann man Kants Aussage hier interpretieren –, wenn Galileo das Prdikat „hat zwei Henkel“ auf den Saturn anwendet, denn der Saturn hat die durch das Prdikat ausgedrckte Eigenschaft nicht. Der letzte Satz der Fußnote impliziert nun, daß man das Prdikat „hat zwei Henkel“ dennoch dem Saturn selbst zuschreiben kann, solange man dabei „auf ein bestimmtes Verhltniß des Gegenstandes zum Subject“ achtet (bzw. darauf achtet, daß die Eigenschaft, zwei Henkel zu haben nur im „Verhltnisse [des Saturns] zum Subject anzutreffen“ ist), und „sein Urtheil darauf einschrnkt“. Diese Charakterisierungen legen nahe, daß laut Kant die folgenden Stze (1.a) und (1.a*) zwar falsch, die Stze (1.b) und (1.b*) aber wahr sind: (1.a) Der Saturn hat zwei Henkel. (1.a*) Der Saturn hat die Eigenschaft, zwei Henkel zu haben. (1.b) Der Saturn hat so, wie er Galileo erscheint, zwei Henkel. (1.b*) Der Saturn hat so, wie er Galileo erscheint, die Eigenschaft, zwei Henkel zu haben. Es ist offensichtlich, daß die Formulierungen (1.b) und (1.b*) gut zu Kants allgemeiner Rede davon passen, daß Gegenstnde bestimmte Eigenschaften nur als Erscheinungen, nur so, wie sie uns erscheinen, bzw. insofern sie uns erscheinen haben. Dennoch scheint mir das mit (1.b) und (1.b*) Gemeinte besser durch die Stze (1.c) und (1.c*) ausgedrckt zu werden: (1.c) Der Saturn erscheint Galileo als zwei Henkel habend. (1.c*) Der Saturn hat die Eigenschaft, Galileo als zwei Henkel habend zu erscheinen. In (1.c*) ist die Relativierung auf ein Subjekt Teil des Ausdrucks fr die dem Saturn zugeschriebene Eigenschaft. Diese Eigenschaft ist sozusagen
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selbst eine auf Subjekte relativierte Eigenschaft, und das Prdikat „erscheint Galileo als zwei Henkel habend“ in (1.c) enthlt einen Ausdruck, der eine solche Relativierung explizit macht. (1.b*) dagegen liegt die Vorstellung zu Grunde, daß nicht-subjektrelative Eigenschaften Gegenstnden in Verhltnis zu bestimmten Subjekten zukommen kçnnen, ohne daß sie diesen Gegenstnden abgesehen von diesem Verhltnis zukommen. Daß die Beschreibung in (1.c*) die natrlichere ist, kann man sich anhand von anderen Beispielen veranschaulichen. Betrachten wir die Prdikate „bewegt sich nach links“, „bewegt sich nach oben“ und „beginnt am 9. Juli 2006 um 20.00 Uhr“. Diese Prdikate drcken keine Eigenschaften aus, die Gegenstnden „an sich selbst“ zukommen. Ein Ball, der zwischen zwei sich gegenberstehenden Fußballspielern Hans und Franz hindurchrollt, kann sich von Hans aus betrachtet nach links und von Franz aus betrachtet nach rechts bewegen. Eine Rakete, die von der Erde zum Mond fliegt, kann sich relativ zur Erde nach oben und relativ zum Mond nach unten bewegen. Und das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006 kann relativ zur mitteleuropischen Zeitzone um 20.00 Uhr, relativ zur Zeitzone Spaniens aber um 19.00 Uhr beginnen. Es wre nun sonderbar zu sagen, daß dem Ball die standpunktunabhngige Eigenschaft, sich nach links zu bewegen, relativ zu Hans (nicht aber relativ zu Franz) zukommt, denn es gibt keine solche standpunktunabhngige Eigenschaft. Was es gibt, ist die auf einen Standpunkt relativierte Eigenschaft, sich von Hans aus gesehen nach links zu bewegen, und die kommt dem Ball schlechthin zu. (Dasselbe gilt fr das Raketenund das Finale-Beispiel.) Um die Darstellung im Folgenden einfacher zu machen, werde ich hier eine Terminologie einfhren, die ich im wesentlichen aus einem Text von Felix Mhlhçlzer ber den Begriff der Objektivitt bernehme (vgl. Mhlhçlzer, 1988). Mhlhçlzer nennt Stze und Prdikate objektiv, wenn alle Parameter, die fr ihren semantischen Wert relevant sind, in ihnen explizit gemacht sind, d. h. dieser Wert unabhngig vom Sprecher und dem ußerungskontext ist (ebd., S. 187 und 192). Prdikate sollen in diesem Sinne im Folgenden genau dann objektiv genannt werden, wenn ihre Extension unabhngig von allen Parametern ist, auf die sie nicht explizit (d. h. durch einen Teilausdruck des Prdikats) relativiert sind. Zudem soll ein Prdikat subjektrelativiert heißen, wenn es einen Ausdruck enthlt, durch den das Prdikat auf kognitive Subjekte als
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solche (oder Arten solcher Subjekte) relativiert wird.27 Schließlich werde ich davon sprechen, daß subjektrelativierte objektive Prdikate subjektrelativierte Eigenschaften ausdrcken. Die Prdikate „bewegt sich nach links“ und „bewegt sich nach oben“ sind nicht objektiv. Das Prdikat „bewegt sich nach links von Hans aus gesehen“ ist subjektrelativiert, denn es enthlt einen expliziten Bezug auf ein kognitives Subjekt. Es ist aber immer noch kein objektives Prdikat, denn seine Extension ist abhngig vom betrachteten Zeitpunkt. Das Prdikat „bewegt sich am 1. Juli 2006 um 20.30 Uhr MEZ von Hans aus gesehen nach links“ dagegen ist ein zugleich objektives und subjektrelativiertes Prdikat, das also eine subjektrelativierte Eigenschaft ausdrckt, ebenso wie das Prdikat „erscheint Galileo (zum Zeitpunkt t) als zwei Henkel habend“.28 Auch sekundre Qualitten in Allais’ Sinne, d. h. Eigenschaften der Form, Subjekten einer bestimmten Art auf eine bestimmte Weise zu erscheinen, werden durch subjektrelativierte Prdikate ausgedrckt, die, wenn auch ansonsten alle fr die Extension des Prdikats relevanten Parameter in ihnen explizit gemacht sind, objektive Prdikate sein kçnnen, d. h. – um mit Kant und in Allais’ Sinne zu sprechen – Prdikate, die „dem Objecte selbst beigelegt werden“ kçnnen. Bevor ich zu Kants zweitem Beispiel komme, muß ich noch kurz etwas dazu sagen, wie man in der eben entwickelten Terminologie Flle beschreiben sollte, die Kant als „Schein“ klassifiziert. Ich schlage vor: In solchen Fllen halten Personen nicht-objektive Prdikate fr objektiv, d. h. bersehen, daß deren Extension von bestimmten Parametern abhngig ist. Eine sehr egozentrische Person kçnnte zum Beispiel meinen, daß das Prdikat „ist links“ objektiv ist und bersehen, daß es von ihrem Standpunkt abhngt, ob etwas links oder rechts ist. Oder es kçnnte – schon leichter vorstellbar – jemand meinen, daß das Prdikat „beginnt am 1. Juli 2006 um 20.00 Uhr“ objektiv ist, und solange er seine Zeitzone nicht verlßt oder nicht mit Menschen aus anderen Zeitzonen zu tun hat, bliebe sein Irrtum vielleicht unbemerkt und richtete keinen Schaden an. Schließlich kann man bei bestimmten kosmologischen 27 Die Charakterisierung „kognitive Subjekte als solche“ soll ausschließen, daß ein Prdikat wie „klein im Vergleich zu Hans“ subjektrelativiert heißt. Dieses Prdikat ist zwar auf jemanden relativiert, der tatschlich ein kognitives Subjekt ist, aber nicht auf ihn als ein solches. 28 Dagegen ist das Prdikat „bewegt sich am 1. Juli 2006 um 20.30 Uhr MEZ relativ zum Gravitationsmittelpunkt der Erde und dem Punkt der Erdoberflche, an dem sich Kçnigsberg befindet, nach oben“ zwar ein objektives und relativiertes, nicht aber ein subjektrelativiertes Prdikat.
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Hintergrundannahmen meinen, daß sich Gegenstnde absolut betrachtet nach oben oder unten bewegen. (Epikur etwa war dieser Ansicht.)29 In diesen Fllen verwenden die Sprecher die relevanten Prdikate so, daß sie extensionsgleich mit Prdikaten sind, die explizit auf sie selbst als Subjekte (bzw. die Zeitzone, in der sie sich befinden, oder ihren Ort) relativiert sind. Da in den Prdikaten, die die Sprecher verwenden, die Relativierung nicht explizit gemacht ist, entgeht ihnen, daß sie den Gegenstnden dadurch relativierte Eigenschaften zuschreiben. Handelt es sich bei der bersehenen Relativierung um eine auf sie selbst als kognitive Subjekte, dann heißt das – in Kants Worten –, daß sie dem Gegenstand etwas, „was diesem nur im Verhltniß auf die Sinne oder berhaupt aufs Subject zukommt, […] fr sich beileg[en]“. Nun aber zur roten Farbe und dem Geruch der Rose – wobei ich mich hier auf das Beispiel der Farbe beschrnken werde. In der eben erluterten Terminologie kann man das, was Kant dazu in der Fußnote behauptet, folgendermaßen wiedergeben: Wer das Prdikat „ist rot“ auf eine Rose anwendet und dabei meint, daß dieses Prdikat objektiv ist, der erliegt dem Schein. Rot ist die Rose nmlich nur „in Verhltniß auf unseren Sinn“, d. h. relativ zu Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen. Macht man diesen Parameter explizit, erhlt man das Prdikat „erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot“. Dies ist ein subjektrelativiertes Prdikat, das – sieht man fr den Moment einmal von den weiteren zu explizierenden Parametern wie dem Zeitpunkt und naheliegenderweise einem Verweis auf geeignete Wahrnehmungsbedingungen ab – zugleich objektiv ist. Es drckt also eine subjektrelativierte Eigenschaft aus, die der Rose selbst zukommt. Dem Schein sitzt Kant zufolge jemand auf, der Satz (2.a) fr wahr hlt, nicht aber jemand, der den (in Anlehnung an Kant formulierten) Satz (2.b) bzw. den Satz (2.c) (mit der hier favorisierten Formulierung) fr wahr hlt: (2.a) Die Rose ist rot. (2.b) Die Rose ist so, wie sie Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen erscheint, rot. 29 Vgl. Mhlhçlzer, 1988, S. 193; Mhlhçlzer behandelt ein weiteres einleuchtendes Beispiel: Bis zur Entdeckung der Relativittstheorie war man der Meinung, daß ein zweistelliges Prdikat wie „x findet gleichzeitig mit y statt“ objektiv ist. Danach wußte man, daß Ereignisse nur hinsichtlich eines festzulegenden Bezugssystems gleichzeitig bzw. ungleichzeitig sind (vgl. Mhlhçlzer, 1988, S. 189).
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(2.c) Die Rose erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot. Man sollte beachten, daß man das Prdikat „erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot“ und Satz (2.c) nicht auf dieselbe Weise analysieren kann, wie man das Prdikat „erscheint Galileo als zwei Henkel habend“ und Satz (1.c) analysieren kçnnte. Etwas, das Galileo als zwei Henkel habend erscheint, ist etwas, das Galileo zwei Henkel zu haben scheint, d. h. etwas, von dem er prima facie den Eindruck hat, daß es zwei Henkel hat. Diese Analyse ist nur deswegen mçglich, weil auch das nicht-relativierte Prdikat „hat zwei Henkel“ (von weiteren relevanten Parametern abgesehen) objektiv ist, d. h. weil Gegenstnde auch tatschlich zwei Henkel haben kçnnen. Nun kann man zwar auch davon sprechen, daß ein Gegenstand nur rot zu sein scheint (zum Beispiel, wenn er durch eine rot getçnte Scheibe betrachtet wird), in Wirklichkeit aber hellgelb ist; dies ist allerdings wohl kaum der Sinn von Schein, der Kant in der zitierten Fußnote vorschwebt. Er scheint vielmehr zu meinen, daß Gegenstnde gar nicht unabhngig von einer Beziehung auf bestimmte Subjekte rot sein kçnnen. Das Prdikat „ist rot“ wre dieser Auffassung zufolge Prdikaten wie „ist links“ oder „ist oben“ hnlich, weil Dinge gar nicht an sich selbst, sondern nur relativ zu einem Betrachter oder Ort links und oben sein kçnnen. Dennoch kann es wiederum vorkommen, daß jemand, der das Prdikat „ist rot“ – vielleicht aus Mangel an philosophischer Reflexion – fr objektiv hlt, es so verwendet, daß es extensionsgleich mit dem Prdikat „erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot“ ist, dann nmlich, wenn er selbst ein Subjekt mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen ist und die Dinge rot nennt, die ihm rot erscheinen. Das ist genauso mçglich, wie es mçglich ist, daß jemand, der nie aus Kçnigsberg herauskommt, das Prdikat „ist oben“ extensionsgleich mit dem Prdikat „ist relativ zum Gravitationsmittelpunkt der Erde und dem Punkt der Erdoberflche, an dem sich Kçnigsberg befindet, oben“ verwendet. Wer das Prdikat „ist rot“ so verwendet, erliegt – anders als im Fall von Galileo – nicht deswegen dem Schein, weil er dem Gegenstand eine Eigenschaft zuschreibt, die dieser nicht hat, wohl aber haben kçnnte, sondern deswegen, weil ihm die Subjektrelativierung der zugeschriebenen Eigenschaft entgeht. Eben diese Art von Irrtum nun scheint jemand laut Kant zu begehen, der meint, rumliche und zeitliche Bestimmungen kmen Gegenstnden an sich selbst zu, d. h. auch unabhngig davon, wie sie uns erscheinen.
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Seiner Meinung nach sind Prdikate wie „ist ausgedehnt“, „ist rund“ oder „findet zu irgendeinem Zeitpunkt statt“ keine objektiven Prdikate – so wenig wie es die Prdikate „ist links“ oder „ist rot“ sind. Sie bedrfen, um zu objektiven Prdikaten zu werden und den Gegenstnden selbst zu Recht zugesprochen zu werden, einer Relativierung auf Subjekte mit unseren Anschauungsformen, d. h. auf Subjekte, denen Gegenstnde als raum-zeitlich verfaßt erscheinen. Hat Kant Recht, dann drcken die Stze (3.a) und (3.a*) wiederum Urteile aus, aus denen „Schein entspringt“, durch die Relativierung in (3.b) und (3.b*) bzw. (3.c) und (3.c*) hingegen wre dieser Schein vermieden: (3.a) Die Rose ist ausgedehnt. (3.a*) Die Rose hat die Eigenschaft, ausgedehnt zu sein. (3.b) Die Rose ist so, wie sie Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung erscheint, ausgedehnt. (3.b*) Die Rose hat so, wie sie Subjekten mit dem Vermçgen raumzeitlicher Anschauung erscheint, die Eigenschaft, ausgedehnt zu sein. (3.c) Die Rose erscheint Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt. (3.c*) Die Rose hat die Eigenschaft, Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt zu erscheinen. Es ist wieder wichtig zu beachten, daß Personen, die das Prdikat „ist ausgedehnt“ fr objektiv halten, es mit der gleichen Extension verwenden kçnnen, wie ein Kantianer das Prdikat „erscheint Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt“ verwendet. Die beiden wenden diese Prdikate auf dieselben Dinge an, so wie jemand mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen das von ihm fr objektiv gehaltene Prdikat „ist rot“ auf dieselben Gegenstnde anwenden kann, auf die ein anderer das Prdikat „erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot“ anwendet. Im Falle des Prdikats „ist ausgedehnt“ ist dies sogar notwendigerweise so, zumindest wenn Kant Recht hat, und allen Menschen, die sich berhaupt anschaulich auf Gegenstnde beziehen kçnnen, diese Gegenstnde in Raum und Zeit erscheinen. Man kann den Schein, der hier laut Kant besteht, deswegen auch nicht dadurch entdecken, daß man eines Tages auf Menschen trifft, die das Prdikat „ist ausgedehnt“ auf andere Gegenstnde anwenden als man selbst, so wie man die fehlende Objektivitt von „ist links“ entdecken kann, indem man mit einem Menschen kommuniziert, der einem gegenber steht, die von „beginnt am 1. Juli 2006
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um 20.30 Uhr“ bei einem Telephonat mit jemanden, der sich in einer anderen Zeitzone befindet, oder die von „ist rot“ im Gesprch mit einem Farbenblinden. Daß raum-zeitliche Bestimmungen Eigenschaften sind, die relativiert auf Subjekte mit unseren Anschauungsformen sind, hat Kant nicht deswegen angenommen, weil ihm oder jemand anderem Gegenstnde auf andere Weise erschienen wren, sondern deswegen, weil er meinte, daß man nur durch diese Annahme die Existenz apriorischen Wissens ber Raum und Zeit erklren und die sogenannten Antinomien der reinen Vernunft auflçsen kçnne.30 Fassen wir zusammen: Kants Behauptung, daß raum-zeitliche Eigenschaften den Dingen nicht an sich selbst zukommen, sondern nur, insofern diese uns erscheinen, kann man dahingehend verstehen, daß raum-zeitliche Prdikate der Form „ist F“ nicht objektiv sind, dies aber dadurch werden kçnnen, daß man sie zu Prdikaten der Form „erscheint Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung F umformt, also zu Prdikaten, die explizit auf Erkenntnissubjekte mit unseren Anschauungsformen relativiert sind. Diese Prdikate drcken subjektrelativierte Eigenschaften aus, die extramentalen Gegenstnden zukommen und deren Vorkommen intersubjektiv feststellbar ist. Will man alle subjektrelativierten Eigenschaften als sekundre Qualitten bezeichnen, dann kann man sagen, daß fr Kant auch Eigenschaften, die gewçhnlich als primre Qualitten bezeichnet werden, sekundre Qualitten sind. Ich werde im Folgenden, um Mißverstndnisse zu vermeiden, als sekundre Qualitten nur solche subjektrelativierten Eigenschaften bezeichnen, die traditionellerweise so bezeichnet werden, also Farben, Gerche oder Geschmcker, aber an diesem terminologischen Punkt hngt nichts. Daß sowohl Eigenschaften, die traditionellerweise als primre, als auch solche, die traditionellerweise als sekundre Qualitten bezeichnet werden, als subjektrelativierte Eigenschaften verstanden werden, heißt nicht, daß man nicht immer noch einen Unterschied zwischen ersteren und letzteren machen kann. Zwischen den Prdikaten „ist rund“ und „ist rot“ besteht nmlich insofern ein Unterschied in puncto Objektivitt, als die Klasse von Subjekten, auf die sie relativiert werden mssen, um objektiv zu sein, unterschiedlich groß ist. Im Falle von „ist rund“ ist das die Klasse aller Subjekte mit den Anschauungsformen Raum und Zeit, im zweiten Fall eine Teilklasse der ersteren, nmlich die Klasse aller Subjekte mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen. Farben sind also „subjektiver“ als etwa Formen, weil es sein kann, daß etwas fr den einen 30 Vgl. A 26 ff./B 42 ff. und A 490 ff./B 518 ff.
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Menschen rot, den anderen grn und den dritten farblos ist, nicht aber, daß es fr den einen Menschen rund, den anderen eckig und den dritten ganz ohne Form ist.31 Man kann das auch so formulieren: Zwar kçnnen die Prdikate „erscheint Menschen mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen als rot“, „erscheint Menschen mit invertiertem Farbspektrum als grn“ und „erscheint farbenblinden Menschen als farblos“ all drei auf ein und denselben Gegenstand zutreffen; aber es gibt keine entsprechenden Prdikate der Form „erscheint Menschen der Art A als rund“, „erscheint Menschen der Art B als eckig“ und „erscheint Menschen der Art C als formlos“, die alle auf denselben Gegenstand zutreffen kçnnen.32 Daß Kant auch Eigenschaften, die traditionellerweise als primre Qualitten bezeichnet werden, als subjektrelativierte Eigenschaften versteht, heißt ferner auch nicht, daß wir kein systematisches Wissen ber diese Eigenschaften haben kçnnen. Erstens kçnnen wir Regelmßigkeiten im Auftreten solcher Eigenschaften empirisch feststellen, und zweitens kann man laut Kant gerade durch die Subjektabhngigkeit erklren, daß wir nicht-empirisches Wissen ber diese Eigenschaften haben, das heißt zum Beispiel a priori wissen kçnnen, daß alle Gegenstnde, die wir 31 In den Prolegomena erwhnt Kant Flle, in denen Menschen alles nur in SchwarzWeiß sehen (AA VII 168) und in B 45 schreibt er, daß ein und dieselben Dinge fr verschiedene Menschen verschiedene Farben haben kçnnen. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sagt er von der „Sinnenwelt“ insgesamt, daß sie „nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit in mancherlei Weltbeschauern […] sehr verschieden sein kann“ (AA IV 451), was wohl heißt, daß es auch Subjekte mit anderen Anschauungsformen als den unseren geben kçnnte, denen die Dinge deswegen nicht in Raum und Zeit erscheinen wrde. Daß dies zumindest bei allen Menschen so ist, wird durch A 26/B 42 nahegelegt, wo es heißt, daß wir „nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden“ kçnnen. Abgesehen wie unterschiedlich Menschen untereinander bzw. Menschen und andere Subjekte hinsichtlich ihrer Empfindungs- und Anschauungsfhigkeiten tatschlich sind, kann man festhalten, daß es zumindest mçglich ist, daß verschiedenen Subjekten mit raum-zeitlicher Anschauung dieselben Gegenstnde in unterschiedlicher Farbe erscheinen, es aber unmçglich ist, daß einigen Subjekten mit unseren Farbempfindungsfhigkeiten die Dinge nicht als raum-zeitlich strukturiert erscheinen. Nur etwas, das jemandem ausgedehnt erscheint, kann ihm nmlich farbig erscheinen. 32 Die Ausdrcke sind hier wieder mit dem impliziten Zusatz „unter geeigneten Bedingungen“ zu versehen, wobei Bedingungen geeignet sein sollen, in denen es nicht zu perzeptuellen Tuschungen kommt. Natrlich kann zum Beispiel ein Turm Subjekten, die sich weit davon entfernt befinden, rund erscheinen, Subjekten, die sich in seiner Nhe aufhalten, hingegen eckig (vgl. AA VII 146).
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berhaupt als von uns selbst verschieden wahrnehmen kçnnen, im Raum sind. Jedenfalls gilt diese Annahme, „[w]enn wir die Einschrnkung eines Urtheils zum Begriff des Subjects hinzufgen […]. Der Satz: Alle Dinge sind neben einander im Raum, gilt unter der Einschrnkung, wenn diese Dinge als Gegenstnde unserer sinnlichen Anschauung genommen werden. Fge ich hier die Bedingung zum Begriffe und sage: Alle Dinge als ußere Erscheinungen sind neben einander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschrnkung“ (A 27/ B 43). Dieses Zitat kann man dahingehend verstehen, daß der folgende Satz (4.a) falsch, der Satz (4.b) – oder besser noch: der Satz (4.c) – aber wahr ist: (4.a) Alle Dinge sind nebeneinander im Raum. (4.b) Alle Dinge sind so, wie sie Subjekten mit dem Vermçgen raumzeitlicher Anschauung erscheinen, im Raum. (4.c) Alle Dinge erscheinen Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung als im Raum seiend.33 III. Sekundre Qualitten und Dispositionen Die im letzten Abschnitt entwickelte Konzeption subjektrelativierter Eigenschaften zeichnet sich dadurch aus, daß Prdikate wie „erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot“ und „erscheint Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt“ als primitiv behandelt, d. h. nicht weiter analysiert werden. Ich meine jedoch – und das ist ein Punkt, in dem sich meine Interpretation nicht nur terminologisch von der von Allais unterscheidet –, daß man diese Prdikate weiter analysieren kann und dies auch tun muß, um einer Reihe von Passagen gerecht zu werden, in denen Kant von sekundren Qualitten spricht. Wenn sekundre Qualitten subjektrelativierte Eigenschaften im oben erluterten Sinne sind, dann sind sie Eigenschaften außergeistiger Gegenstnde. Nun gibt es aber – zum Bedauern jedes Interpreten, der die subjektivistische Version der ontologischen Zwei-Aspekte-Interpretation favorisiert und diese anhand der Analogie mit sekundren Qualitten erlutern will – einige Stellen, an denen Kant 33 Genaugenommen mßte man hier die Einschrnkung anfgen: „abgesehen von dem Subjekt selbst und seinen inneren Zustnden“, denn jedes Subjekt erscheint sich selbst als denkendes Wesen laut Kant durch den inneren Sinn und deswegen nicht als im Raum seiend; vgl. A 357 f.
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sekundre Qualitten als Eigenschaften des eigenen Geistes zu beschreiben scheint.34 So heißt es in B 45, daß „Farben, Geschmack etc. mit Recht nicht als Beschaffenheiten der Dinge, sondern bloß als Vernderungen unseres Subjects, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein kçnnen, betrachtet werden“. Und in A 28 schreibt Kant: „Die Farben sind nicht Beschaffenheiten der Kçrper, deren Anschauung sie anhngen, sondern auch nur Modificationen des Sinnes des Gesichts, welches vom Lichte auf gewisse Weise afficirt wird“. Hier werden sekundre Qualitten wie Farben klarerweise nicht als subjektrelativierte Eigenschaften außergeistiger Gegenstnde behandelt, sondern als „Vernderungen unseres Subjekts“ bzw. „Modificationen des Sinnes des Gesichts“, das heißt als mentale Zustnde. Will man Kants Aussagen ber Dinge, wie sie uns erscheinen, anhand einer Analogie mit sekundren Qualitten interpretieren und wrde diese Konzeption sekundrer Qualitten zu Grunde legen, dann fhrte das gerade nicht zu einer ontologischen Zwei-Aspekte-Interpretation, denn dann liefe Kants Beschrnkung menschlicher Erkenntnis auf den Bereich der Erscheinungen darauf hinaus, daß wir nur unsere eigenen mentalen Zustnde erkennen kçnnen. Allais versucht, dem eben genannten exegetischen Problem durch zwei Schritte zu entgehen. Erstens behauptet sie, daß Kant nur in den Prolegomena eine Analogie zwischen Eigenschaften der Dinge, wie sie uns erscheinen, und sekundren Qualitten zieht, in der Kritik diese Analogie aber explizit ablehnt. Zweitens nimmt sie an, daß dieser Unterschied darauf zurckzufhren ist, daß Kant in beiden Werken eine unterschiedliche Konzeption sekundrer Qualitten vertritt – in der Kritik als mentaler Zustnde, in den Prolegomena als subjektrelativierter Eigenschaften außergeistiger Dinge.35 Ich halte beide Schritte fr problematisch. Erstens warnt Kant in der Kritik zwar vor einer Nivellierung des Unterschieds zwischen raum-zeitlichen Eigenschaften, so wie er sie versteht, und den traditionellen sekundren Qualitten. Aber er vertritt – wie im letzten Abschnitt gezeigt – auch dort die genannte Analogie, und er spricht auch dort wiederholt – in Kontexten, in denen es nicht um den Unterschied zwischen primren und sekundren Qualitten geht – wie selbstverstndlich von Farben als von Eigenschaften außergeistiger Ge34 Vgl. Allais, 2004, S. 669, und Allais, im Erscheinen, Abschnitt 2. 35 Allais erhebt allerdings nicht den Anspruch, durch ihre Konzeption sekundrer Qualitten Kants eigene Auffassung wiederzugeben. Sie will vielmehr eine Konzeption vorstellen, die so ist, daß die Analogie funktioniert (vgl. Allais, im Erscheinen, Abschnitt 2 und 4.1).
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genstnde, so etwa in B 5, wenn er darber spricht, was passiert, wenn man vom „Erfahrungsbegriffe eines Kçrpers alles, was daran empirisch ist, nach und nach weg[lßt], die Farbe, die Hrte oder Weiche, die Schwere, selbst die Undurchdringlichkeit“.36 Das zweite Problem mit Allais Reaktion ist, daß Kant auch in den Prolegomena von Farben zum Teil wie von geistigen Zustnden spricht. Die Passage, auf die Allais ihre Interpretation sttzt, lautet folgendermaßen: Daß man unbeschadet der wirklichen Existenz ußerer Dinge von einer Menge ihrer Prdicate sagen kçnne: sie gehçrten nicht zu diesen Dingen an sich selbst, sondern nur zu ihren Erscheinungen und htten außer unserer Vorstellung keine eigene Existenz, ist etwas, was schon lange vor Lockes Zeiten, am meisten aber nach diesen allgemein angenommen und zugestanden ist. Dahin gehçren die Wrme, die Farbe, der Geschmack etc. Daß ich aber noch ber diese aus wichtigen Ursachen die brigen Qualitten der Kçrper, die man primarias nennt, die Ausdehnung, den Ort und berhaupt den Raum mit allem, was ihm anhngig ist (Undurchdringlichkeit oder Materialitt, Gestalt etc.), auch mit zu bloßen Erscheinungen zhle, dawider kann man nicht den mindesten Grund der Unzulssigkeit anfhren; und so wenig wie der, so die Farben nicht als Eigenschaften, die dem Object an sich selbst, sondern nur den Sinn des Sehens als Modificationen anhngen, will gelten lassen, darum ein Idealist heißen kann: so wenig kann mein Lehrbegriff idealistisch heißen, blos deshalb weil ich finde, daß noch mehr, ja alle Eigenschaften, die die Anschauung eines Kçrpers ausmachen, blos zu seiner Erscheinung gehçren; denn die Existenz des Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht wie beim wirklichen Idealism aufgehoben, sondern nur gezeigt, daß wir es, wie es an sich selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen kçnnen. (AA IV 289)
Kant grenzt sich hier von dem, was er den „wirklichen Idealism“ nennt, ab, indem er klarstellt, daß man die Existenz der Gegenstnde, die uns erscheinen, nicht in Zweifel zieht, wenn man behauptet, daß bestimmte Eigenschaften dieser Gegenstnde nur etwas damit zu tun haben, wie uns diese Gegenstnde erscheinen. Es ist klar, daß der Grundgedanke dieser Argumentation sehr gut zur Interpretation des letzten Abschnitts und der dort zugrundegelegten Konzeption sekundrer Qualitten paßt. Dennoch darf man nicht bersehen, daß Kant auch an dieser Stelle davon spricht, daß Farben dem „Sinn des Sehens als Modificationen anhngen“, eine 36 Vgl. auch A 20 f./ B 35, A 100, B 133 und die folgende Passage aus der Kritik der Urteilskraft: „Die grne Farbe der Wiesen gehçrt zur objectiven Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur subjectiven Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird“ (AA V 206).
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Formulierung, die fast identisch mit der problematischen aus A 28 ist, wo er Farben als „Modificationen des Sinnes des Gesichts“ bezeichnet hatte.37 Zudem findet sich unmittelbar vor Kants Aussagen zum Zusammenhang von Erscheinungen und sekundren Qualitten eine jener Stellen, an denen er seine Version von Idealismus auf eine Weise erlutert, die gerade nicht zu einer Zwei-Aspekte-Interpretation zu passen scheint, wenn er nmlich sagt, daß uns zwar „Dinge als außer uns befindliche Gegenstnde unserer Sinne gegeben“ sind, wir aber „nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren“ kennen (AA IV 288 f.). Ich bin deswegen der Meinung, daß man auf den Konflikt im Kantischen Text anders reagieren muß, als Allais das tut. Erstens sollte man anerkennen, daß Kant – und zwar in beiden Schriften – Prdikate fr Farben und andere sekundre Qualitten in zwei Bedeutungen verwendet und den Unterschied zwischen diesen beiden Bedeutungen zweifellos nicht immer so explizit macht, wie man sich das als Interpret wnschen wrde. Mit einem Prdikat wie „rot“ drckt er manchmal eine Eigenschaften von Kçrpern aus – die Farbe Rot, wie ich diese Eigenschaft im folgenden nennen werde –, manchmal aber auch einen mentalen Zustand, den ich als Rotempfindung bezeichnen werde. Kant diese Mehrdeutigkeit zu unterstellen, ist im Rahmen des Vergleichs zwischen der Rede ber Farben und der Rede ber Erscheinungen nicht zuletzt deswegen naheliegend, weil er auch den Ausdruck „Erscheinung“ auf hnliche Weise mehrdeutig verwendet: Kein noch so gutwilliger Interpret – sei es einer Zwei-Aspekte-Lesart oder einer anderen Interpretation – kann leugnen, daß Kant diesen Ausdruck manchmal auf mentale Vorstellungen und manchmal auf Dinge, die uns erscheinen, anwendet.38 Zweitens sollte man, wenn mçglich, erklren, wie es zu der Ungenauigkeit in der Verwendung von Prdikaten fr sekundre Qualitten kommt und zeigen, daß sich die Stellen, an denen Kant ber sekundre Qualitten spricht, um seine Beschrnkung unserer Erkenntnis auf Erscheinungen zu erlutern, so interpretieren lassen, daß man dabei beide Verwendungsweisen bercksichtigt. Meiner Ansicht ist dies am besten dadurch mçglich, daß man Kant die Annahme eines engen begrifflichen Zusammenhangs zwischen Farben und Farbempfindungen unterstellt. 37 Van Cleve ist deswegen der Meinung, daß Kant in den Prolegomena die im Folgenden erluterte Berkeleysche Auffassung sekundrer Qualitten vertritt (vgl. Van Cleve, 1999, S. 167 f.). 38 Fr eine sehr gute Darstellung dieses Punktes vgl. Willaschek, 2001a.
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Diesen begrifflichen Zusammenhang sollte man so beschreiben: Bestimmte Farben sind Dispositionen, in Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen bestimmte Farbempfindungen zu verursachen.39 Bevor ich genauer erklre, was das heißen soll, mçchte ich kurz auf einen Einwand eingehen, der von Van Cleve gegen jeden Versuch gemacht worden ist, Kants Rede ber Erscheinungen anhand einer Analogie zu sekundren Qualitten zu erlutern. Dieser Einwand macht deutlich, welche Auffassung von Dispositionen man Kant unterstellen muß, damit seine Analogie sinnvoll ist. Laut Van Cleve gibt es in der Philosophie vor Kant zwei Konzeptionen sekundrer Qualitten, die von Berkeley und die von Locke. Laut Berkeley seien sekundre Qualitten Dinge, die nur im Geist existierten, genauer Ideen oder Empfindungen.40 Diese Konzeption von sekundren Qualitten wrde zwar gut zu Kants Rede ber Farben als Farbempfindungen passen, nicht aber zu der fr eine ontologische Zwei-Aspekte-Interpretation maßgeblichen Rede ber Farben als Eigenschaften außergeistiger Gegenstnde.41 Fr Locke dagegen sind sekundre Qualitten keine Ideen bzw. Empfindungen, sondern Krfte („powers“) außergeistiger Gegenstnde, solche Ideen bzw. Empfindungen in uns zu verursachen.42 Sekundr werden diese Qualitten nicht deswegen genannt, weil sie in irgendeiner Weise ontologisch von uns abhngen, sondern weil die Ideen, die durch diese Krfte verursacht werden, den Krften selbst nicht hnlich sind. Nun hat das Lockesche Modell zwar den Vorteil, daß sekundre Qualitten hier Eigenschaften außergeistiger Gegenstnde sind, aber es sind Eigenschaften, die nicht mehr als Modell fr die Hauptthese der subjektivistischen Variante der Zwei-Aspekte-Interpretation herhalten kçnnen, daß alles, was wir an Gegenstnden erkennen kçnnen, Eigenschaften sind, die auf uns als Erkenntnissubjekte relativiert sind.43 Die Bewegung der Molekle eines Gegenstandes zum Beispiel ist die Ursache fr die (dieser Ursache „unhnliche“) Wrmeempfindung bei der Berhrung des Gegenstands und wre also eine se39 Allais bestreitet explizit, daß es sich bei den Eigenschaften der Art, uns so-und-so zu erscheinen, um Dispositionen handelt. Sie geht bei ihrer Ablehnung aber von einem anderen Dispositionsbegriff aus, als ich ihn im Folgenden entwickeln werde (vgl. Allais, im Erscheinen, Abschnitt 3.2). 40 Vgl. Van Cleve, 1999, S. 167 und Berkeley, 1969, S. 22. 41 Zum Verhltnis von Kant und Berkeley vgl. auch Emundts, (im Erscheinen). 42 Vgl. Van Cleve, 1999, S. 167 und Locke, 1975, Abschnitt II.8.10. 43 Vgl. Allais, im Erscheinen, Abschnitt 2.
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kundre Qualitt im Lockeschen Sinne. Aber Molekularbewegung ist kein subjektrelativer Zustand. Der oben angekndigte begriffliche Zusammenhang zwischen Farben und Farbempfindungen in Kants Konzeption sekundrer Qualitten sollte also weder la Berkeley darin bestehen, daß Farben mit Farbempfindungen, noch darin, daß sie la Locke mit den Ursachen fr Farbempfindungen identifiziert werden. Daß es einen dritten Weg gibt, mçchte ich im Folgenden zeigen, indem ich mich der Terminologie bediene, die in der zeitgençssischen Debatte ber Dispositionen verwendet wird.44 Es ist heute blich, davon zu sprechen, daß Eigenschaften ber ihre funktionale Rolle charakterisiert werden kçnnen, wobei man eine funktionale Rolle dadurch angibt, daß die typischen Ursachen und/oder Wirkungen des Vorliegens der Eigenschaft genannt werden. Die fr eine Farbeigenschaft F relevante funktionale Rolle R einer Eigenschaft E kann man dabei so charakterisieren, daß E genau dann die Rolle R spielt, wenn durch das Vorliegen von E unter geeigneten Umstnden in geeigneten Subjekten F-Empfindungen verursacht werden. Als geeignet gelten dabei solche Subjekte, die ber normale menschliche Empfindungsfhigkeiten verfgen, und solche Umstnde, in denen sich die Subjekte hinsichtlich des Gegenstands, der F hat, in einer hinreichend guten Wahrnehmungssituation befindet (d. h. ihm unter den passenden Lichtverhltnissen nahe genug ist, die Augen geçffnet hat, keine Halluzinogene genommen hat, etc.). Es gibt nun zwei Mçglichkeiten, die Begriffe von Farbeigenschaften durch Bezugnahme auf eine solche funktionale Rolle zu definieren. Man kann eine Farbe F mit einer bestimmten Eigenschaft E identifizieren, die die fr F relevante funktionale Rolle R spielt; Farben sind dann identisch mit den ,Spielern’ funktionaler Rollen. Oder man kann eine Farbe F mit der Eigenschaft identifizieren, irgendeine Eigenschaft E zu haben, so daß E die funktionale Rolle R spielt. Fr den Eigenschaftsnamen „Rot“ ergeben sich dadurch die folgenden beiden Definitionen: „Rot1“ =Def. „diejenige Eigenschaft, durch deren Vorliegen unter geeigneten Umstnden in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten Rotempfindungen verursacht werden“ 44
Vgl. zum Folgenden Prior/Pargetter/Jackson, 1982, McLaughlin, 1995 und den fr den Zusammenhang zwischen dem Dispositionsbegriff und der Frage nach der Erkennbarkeit von Dingen an sich besonders interessanten Aufsatz Pettit, 1998.
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„Rot2“ =Def. „die Eigenschaft, irgendeine Eigenschaft zu haben, so daß durch das Vorliegen dieser Eigenschaft unter geeigneten Umstnden in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten Rotempfindungen verursacht werden“ Den Unterschied zwischen Rot1 und Rot2 kann man sich folgendermaßen verdeutlichen: Nehmen wir an, die Eigenschaft, deren Vorliegen an Gegenstnden unter geeigneten Umstnden de facto Rotempfindungen in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten verursacht, ist eine bestimmte physikalische Oberflcheneigenschaft P. Dann ist Rot1 nichts anderes als diese physikalische Eigenschaft P. Rot1 ist eine sekundre Qualitt in Lockes Sinne, denn es ist „die Kraft“, die Rotempfindungen verursacht. Rot1 ist deswegen auch keine subjektrelativierte Eigenschaft im oben genannten Sinne, so wenig, wie es Molekularbewegung ist. Zwar kçnnen wir uns – wie die Definition deutlich macht – auf Rot1 durch Ausdrcke beziehen, die einen Ausdruck enthalten, der sich auf Subjekte einer bestimmten Art bezieht, aber der Eigenschaft selbst ist ein solcher Bezug nicht wesentlich.45 Die physikalische Oberflcheneigenschaft P kçnnte existieren, ohne in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten Rotempfindungen zu verursachen, und in solchen Subjekten kçnnten Rotempfindungen verursacht werden, ohne daß P sie verursacht. Rot2 hingegen ist der Bezug auf Subjekte mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten wesentlich, denn nichts kann diese Eigenschaft haben, ohne daß in solchen Subjekten durch seinen Zustand unter geeigneten Umstnden Rotempfindungen verursacht werden. Rot2 ist weder mit P (d. h. Rot1) identisch, noch muß ein Gegenstand P haben, um Rot2 zu haben. Er muß nur 45 Die These, daß Rot1 keine subjektrelativierte Eigenschaft ist, ist mit der obigen terminologischen Festlegung kompatibel, daß alle subjektrelativierten, objektiven Prdikate subjektrelativierte Eigenschaften ausdrcken, und zwar obwohl das Prdikat „hat Rot1“ bzw. „hat diejenige Eigenschaft, durch deren Vorliegen unter geeigneten Umstnden in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten Rotempfindungen verursacht werden“ ein solches subjektrelativiertes Prdikat ist. Das Prdikat „hat Rot1“ drckt nmlich nicht die Eigenschaft Rot1 aus, was man sieht, wenn man die Kennzeichnung in der lngeren Formulierung auflçst. „x hat Rot1“ drckt die Eigenschaft aus, daß es genau eine Eigenschaft E gibt, so daß durch deren Exemplifizierung durch x unter geeigneten Umstnden in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten Rotempfindungen verursacht werden, und x diese Eigenschaft hat. Diese Eigenschaft ist, anders als Rot1, nicht mit der physikalischen Eigenschaft P identisch.
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irgendeine Eigenschaft haben, die die relevante funktionale Rolle spielt. Man kann auch sagen: Er muß die Disposition haben, in Subjekten mit normalen menschlichen Empfindungsfhigkeiten unter geeigneten Umstnden Rotempfindungen zu verursachen, denn Rot2 ist nichts anderes als diese Disposition.46 Rot1 dagegen ist das, was man in der Regel als die kategoriale Basis dieser Disposition bezeichnet. Mir scheint nun, daß man Kants Aussagen ber den Zusammenhang zwischen Erscheinungen und sekundren Qualitten am kohrentesten dann interpretieren kann, wenn man ihm eine Konzeption von sekundren Qualitten als Dispositionen im eben erluterten Sinne unterstellt. Wenn man fr den sperrigen Ausdruck „hat irgendeine Eigenschaft, so daß durch das Vorliegen dieser Eigenschaft“ den etwas eleganteren „ist so beschaffen, daß dadurch“ whlt,47 dann kann man die bislang favorisierte Paraphrase (2.c) durch (2.d) ersetzen: (2.c) Die Rose erscheint Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot. (2.d) Die Rose ist so beschaffen, daß dadurch unter geeigneten Umstnden in Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen Rotempfindungen verursacht werden.48 Die in (2.d) zugeschriebene Eigenschaft (so beschaffen zu sein, daß dadurch unter geeigneten Umstnden in Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen Rotempfindungen verursacht werden) teilt mit der in (2.c) zugeschriebenen Eigenschaft (Subjekten mit normalem menschlichen Empfindungsvermçgen rot zu erscheinen) die 46 Vgl. Pettit, 1998, S. 121. 47 Das „dadurch“ ist eine abgekrzte Form von „dadurch, daß sie so ist…“ bzw. „durch ihr So-Sein“. 48 (2.d) ist eine Analyse von (2.c), d. h. folgt daraus auf Grund des Begriffes des Rot-Erscheinens. Das darf natrlich nicht heißen, daß man nur dann ber den Begriff des Rot-Erscheinens verfgt, wenn man glaubt, daß rot zu erscheinen, eine bestimmte Art von Disposition ist, denn philosophisch nicht vorbelastete Menschen verfgen ber diesen Begriff, ohne dies zu glauben. Daß sie ber diesen Begriff verfgen, zeigt sich daran, daß sie Dinge rot nennen, wenn sie unter den richtigen Umstnden Rotempfindungen in ihnen verursachen. Kant wrde wohl sagen, daß solche Leute einen „klaren“ Begriff des Rot-Erscheinens haben, daß sie aber erst dann, wenn sie den begrifflichen Zusammenhang zwischen (2.c) und (2.d) kennen, ber einen deutlichen Begriff davon verfgen (fr Kants Unterscheidung zwischen deutlichen und undeutlichen Begriffen vgl. z. B. AA IX 34, R 2385 in AA XVI 338 und AA XXIV 617).
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beiden fr die subjektivistische Variante der ontologischen Zwei-AspekteLesart gewnschten Merkmale: Sie ist eine auf eine bestimmte Klasse von Subjekten relativierte Eigenschaft, und sie ist eine Eigenschaft, die außergeistigen Gegenstnden zukommt. (2.d) unterscheidet sich von (2.c) allerdings darin, daß in (2.c) die Eigenschaft, jemandem so-und-so zu erscheinen, als primitiv behandelt wird, in (2.d) aber weiter analysiert wird: Bestimmten Subjekten rot zu erscheinen heißt, die Disposition zu haben, in ihnen mentale Zustnde einer bestimmten Art hervorzurufen. Die Subjekte selbst kçnnen diese Disposition dadurch wahrnehmen, daß in ihnen die betreffenden mentalen Zustnde hervorgerufen werden.49 Verwendet man die Grundidee dieser Analyse, um zu verdeutlichen, daß auch Eigenschaften wie rumliche Ausdehnung auf bestimmte Subjekte relativiert werden mssen, dann kann man sagen, daß eine Eigenschaft wie die, Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt zu erscheinen, wiederum nichts anderes ist als die Eigenschaft, in solchen Subjekten mentale Zustnde einer bestimmten Art hervorzurufen. Bei diesen Zustnden handelt es sich aber nicht um Empfindungen, sondern um Anschauungen. Ich schlage vor, Satz (3.c) im Sinne von (3.d) zu analysieren: (3.c) Die Rose erscheint Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt. (3.d) Die Rose ist so beschaffen, daß dadurch in Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung unter geeigneten Umstnden Anschauungen von ihr als ausgedehnt verursacht werden.50 Auch die in (3.d) zugeschriebene subjektrelativierte Eigenschaft kommt einem außergeistigen Gegenstand zu. Sie ist eine Disposition dieses Gegenstands. Subjektrelativierte Eigenschaften als Dispositionen zu verstehen hat meiner Ansicht nach gegenber der Interpretation von Allais zwei exegetische Vorteile. Der erste Vorteil betrifft Kants Rede ber Farben und andere ,traditionelle’ sekundre Qualitten. Wenn solche sekundren Qualitten Dispositionen sind, bestimmte Empfindungen zu verursachen, dann wird verstndlich, weshalb Kant so hufig der Fehler unter49 Das heißt freilich nicht, daß die Subjekte allein dadurch auch schon ber einen Begriff von diesen Dispositionen als solchen verfgen (vgl. dazu die vorhergehende Fußnote). 50 Die Formulierung „Anschauungen von ihr als ausgedehnt“ bedarf einer genaueren Erluterung, die ich allerdings erst im nchsten Abschnitt geben werde.
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luft, die Rede ber Farben als Eigenschaften von Gegenstnden terminologisch nicht klar von der ber Farbempfindungen als mentalen Zustnden zu trennen. Was wir von einer bestimmten Farbe wissen ist ja nichts anderes, als daß sie die Eigenschaft ist, irgendwie so beschaffen zu sein, daß dadurch in uns bestimmte Farbempfindungen verursacht werden. Es sind solche Farbempfindungen, ber die Kant eigentlich redet, wenn er sagt, daß „Farben […] bloß als Vernderungen unseres Subjects“ zu betrachten sind (B 45), bzw. daß sie „Modificationen des Sinnes des Gesichts, welches vom Lichte auf gewisse Weise afficirt wird“ sind (A 28). Besonders gut paßt die Interpretation von Farben als Dispositionen zum Ende des Abschnitts der Prolegomena, aus dem das Zitate stammt, das Allais ihrer Interpretation zu Grunde legt: Ich mçchte gerne wissen, wie denn meine Behauptungen beschaffen sein mßten, damit sie nicht einen Idealism enthielten. Ohne Zweifel mßte ich sagen: daß die Vorstellung vom Raume nicht blos dem Verhltnisse, was unsre Sinnlichkeit zu den Objecten hat, vollkommen gemß sei, denn das habe ich gesagt, sondern daß sie sogar dem Object vçllig hnlich sei; eine Behauptung, mit der ich keinen Sinn verbinden kann, so wenig als daß die Empfindung des Rothen mit der Eigenschaft des Zinnobers, der diese Empfindung in mir erregt, eine hnlichkeit habe. (AA IV 289 f.)
Hier unterscheidet Kant selbst zwischen Rotempfindungen und den Eigenschaften von Gegenstnden, die diese Empfindungen in ihm verursachen. Wenn wir wieder annehmen, daß es die physikalische Oberflcheneigenschaft P ist, die Rotempfindungen in uns verursacht – die Locke’sche Kraft bzw. der Spieler der fr die Farbe Rot relevanten funktionalen Rolle –, dann ist klar, daß diese Eigenschaft keine hnlichkeit mit der Rotempfindung hat. Sie hat aber auch keine hnlichkeit mit der in meiner Interpretation ins Spiel gebrachten und allein ber die funktionale Rolle definierten dispositionalen Eigenschaft, so zu sein, daß dadurch Rotempfindungen verursacht werden. Denn erstens kçnnen wir wissen, daß etwas die letztere Eigenschaft hat, ohne zu wissen, daß es P hat, und zweitens kann etwas diese Eigenschaft haben, ohne P zu haben, und umgekehrt. Der zweite Vorteil meiner Interpretation besteht darin, daß Formulierungen wie (3.d) sehr gut zu vielen Formulierungen passen, in denen Kant erlutert, was er damit meint, daß wir Dinge nur so erkennen, wie sie uns erscheinen. Wie bereits erwhnt behauptet Kant in der bereits zitierten Passage aus den Prolegomena, daß uns zwar „Dinge als außer uns befindliche Gegenstnde unserer Sinne gegeben“ sind, wir aber „nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie
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unsere Sinne afficiren“ kennen (AA IV 288 f.). Das heißt, daß wir von den außergeistigen Gegenstnden, mit denen wir es zu tun haben, nur wissen, daß sie irgendwie so beschaffen sind, daß sie eine bestimmte Wirkung auf unseren Geist haben. Die einzigen fr uns erkennbaren Eigenschaften ontologisch von uns unabhngiger Gegenstnde sind deren Dispositionen, in uns bestimmte Vorstellungen zu verursachen. Diese Interpretation wird durch etliche Stellen gesttzt, an denen Kant die Weise, auf die uns Dinge erscheinen, als Weise, wie uns diese Dinge affizieren, charakterisiert. So schreibt er in den Prolegomena: „[W]enn wir die Gegenstnde der Sinne wie billig als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hierdurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas afficirt werden, kennen“ (AA IV 314 f.). In der Kritik heißt es, daß „die Anschauung sowohl der ußeren Objecte, als auch die Selbstanschauung des Gemths beides vor[stellt], so wie es unsere Sinne afficirt, d.i. wie es erscheint“ (B 69), und daß „die Vorstellung eines Kçrpers in der Anschauung gar nichts, was einem Gegenstande an sich selbst zukommen kçnnte, sondern bloß die Erscheinung von etwas und die Art, wie wir dadurch afficirt werden“ enthlt (A 44/ B 61). Wenn Kant in A 358 ber Nutzbarkeit seines transzendentalen Idealismus fr eine Lçsung des Leib-Seele-Problems spekuliert, schreibt er: „[Es] kçnnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den ußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so afficirt, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt etc. bekommt, dieses Etwas, als Noumenon (oder besser als transscendentaler Gegenstand) betrachtet, kçnnte doch auch zugleich das Subject der Gedanken sein, wiewohl wir durch die Art, wie unser ußerer Sinn dadurch afficirt wird, keine Anschauung von Vorstellungen, Willen etc., sondern blos vom Raum und dessen Bestimmungen bekommen.“51 Daß außergeistige Gegenstnde uns als erkennende Subjekte affizieren, heißt nichts anderes, als daß sie Vorstellungen in uns verursachen. Die Weise, wie sie uns affizieren, kann man charakterisieren, indem man 51 Alle Hervorhebungen von mir, T.R. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schließlich heißt es, „daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nmlich die Dinge an sich, einrumen und annehmen msse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, daß, da sie uns niemals bekannt werden kçnnen, sondern immer nur, wie sie uns afficiren, wir ihnen nicht nher treten und, was sie an sich sind, niemals wissen kçnnen“ (AA IV 451).
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die Art der Vorstellungen nennt, die sie in uns hervorrufen, zum Beispiel, indem man sie als Anschauungen von Dingen als rumlichen Gegenstnden beschreibt. Daß wir die Dinge nicht so kennen, wie sie an sich selbst sind, sondern nur so, wie sie uns affizieren, heißt also, daß wir von Gegenstnden nur wissen kçnnen, daß sie so beschaffen sind, daß sie dieund-die Vorstellungen in uns verursachen. Eine Rose zum Beispiel ist ein außergeistiger Gegenstand. Wenn Kants Argumente schlssig sind, dann existiert dieser Gegenstand an sich selbst nicht im Raum. Er hat aber die Eigenschaft, uns als rumlich zu erscheinen, d. h. so zu sein, daß er dadurch in uns Anschauungen von ihm als einem rumlichen Gegenstand hervorruft. Die Kehrseite dieser Erkenntnisbeschrnkung ist laut Kant bekanntlich, daß wir Wissen a priori von bestimmten Eigenschaften der Rose haben kçnnen. Weil wir a priori wissen, daß alles, das wir berhaupt anschauen kçnnen, so beschaffen ist, daß es in uns Anschauungen von ihm als etwas Ausgedehntem hervorruft, kçnnen wir diese Eigenschaft auch der Rose zuschreiben. IV. Die Gegenstnde, die uns erscheinen Ein Vorteil der in den letzten beiden Abschnitten entwickelten Interpretation besteht darin, daß man die Aussagen darber, daß Gegenstnde in uns Vorstellungen verursachen, mit denen Kant seinen transzendentalen Idealismus hufig erlutert, ernst nehmen kann, ohne ihn zu einem indirekten Realisten zu machen und ihm die Annahme zu unterstellen, daß wir eigentlich nur unseren eigenen Geist oder nur rein intentionale Gegenstnde kennen und die Existenz außergeistiger Gegenstnde nur durch einen Schluß von der gegebenen Wirkung auf deren Ursache erkennen. In der hier vorgestellten Interpretation werden die Dispositionen, in uns Vorstellungen einer bestimmten Art zu verursachen, als Eigenschaften außergeistiger Gegenstnde behandelt, und es ist mit ihr durchaus vereinbar, daß wir uns selbst als denkende Wesen gar nicht erkennen kçnnten, wenn wir nicht wissen wrden, daß außergeistige Gegenstnde solche Eigenschaften haben.52 Es drngt sich an dieser Stelle allerdings eine Frage auf, die fr das Gelingen einer jeden subjektivistischen Variante der ontologischen Zwei-Aspekte-Interpretation essentiell 52 Daß die Erkenntnis von Dingen im Raum in diesem Sinne eine notwendige Voraussetzung fr die Erkenntnis unserer selbst als denkender Wesen ist, behauptet Kant in der „Widerlegung des Idealismus“ (B 274 ff.).
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ist. Die Frage lautet: Wenn wir nur subjektrelativierte Eigenschaften von Gegenstnden erkennen kçnnen, wie kçnnen wir uns dann eigentlich berhaupt noch auf die Gegenstnde beziehen, denen wir diese Eigenschaften zuschreiben, und inwiefern handelt es sich bei diesen Gegenstnden um die gewçhnlichen Gegenstnde unsere empirischen Erkenntnis wie Stdte, Huser, Blumen oder Materieteilchen? Man kann diese Frage auch als Einwand dagegen verstehen, daß man alle von uns erkennbaren Eigenschaften von Dingen in Analogie zu den sekundren Qualitten dieser Dinge beschreiben kann. Daß wir einem bestimmten Gegenstand eine bestimmte sekundre Qualitt zuschreiben kçnnen – so der Einwand – setzt voraus, daß uns einige primre Qualitten dieses Gegenstands zugnglich sind, genauer gesagt diejenigen primren Qualitten, die fr unsere Bezugnahme auf den Gegenstand wesentlich sind. Einer bestimmten Rose kçnnen wir zum Beispiel deswegen die Eigenschaft der Rçte zuschreiben, weil wir auf die Rose zeigen oder sie mit einem Ausdruck meinen kçnnen, wenn wir sie sehen. Wenn nun aber auch alle raum-zeitlichen Gegenstnde subjektrelativiert sind, dann scheint man auf die Gegenstnde, denen wir diese Eigenschaften zuschreiben, weder zeigen zu kçnnen, noch scheint es klar, was es heißen sollte, sie wahrzunehmen, denn sowohl das Zeigen auf Dinge als auch das Wahrnehmen von Dingen scheinen Beziehungen zu sein, die nur zwischen Gegenstnden bestehen kçnnen, die sich tatschlich im Raum befinden. Ich halte diesen Einwand zwar nicht fr schlagend, aber doch fr sehr berechtigt. Wer behauptet, daß alle Eigenschaften subjektrelativiert sind, der muß eine Theorie darber liefern, wie unter dieser Annahme die Bezugnahme auf Gegenstnde noch mçglich ist. Meiner Ansicht nach hat Kant eine solche Theorie selbst entwickelt, und sie stellt sogar ein Kernstck seiner Philosophie dar. Auch wenn es weit ber das im Rahmen dieses Beitrags Mçgliche hinausginge, diese Theorie im Detail zu rekonstruieren, mçchte ich wenigstens in Umrissen skizzieren, wie sie aussieht. Wie so oft, ist es zu diesem Zweck ntzlich, einen Blick auf Kants vorkritische Philosophie zu werfen. Die Unterscheidung zwischen den Dingen, wie sie uns erscheinen, und den Dingen, wie sie sind, hat Kant bekanntlich bereits in seiner Dissertation De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis eingefhrt, und zwar im wesentlichen mit denselben Argumenten wie in seiner kritischen Philosophie, d. h. um zu erklren, daß wir Wissen a priori von Raum und Zeit haben (vgl. z. B. AA II 404), und um bestimmte Aporien der traditionellen Metaphysik zu
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lçsen (vgl. ebd. 413 ff.). Raum-zeitliche Eigenschaften erkennen wir durch sinnliche Anschauung, wobei die Sinnlichkeit das Vermçgen eines Subjekts ist, durch das es mçglich ist, daß „sein Vorstellungszustand von der Gegenwart irgendeines Gegenstandes auf eine bestimmte Weise affiziert wird“ („status ipsius repraesentativus obiecti alicuius praesentia certo modo afficiatur“, ebd. 392). Da die Weise, wie sich der Zustand des Subjekts durch Einwirkung des Gegenstands verndert, auch von der Beschaffenheit des Subjektes selbst abhngt und deswegen bei verschiedenen Subjekten verschieden sein kann, sind sinnliche Vorstellungen bloß „Vorstellungen der Dinge, wie sie uns erscheinen“ („rerum representationes, uti apparent“ ebd. 392). Anders als in der kritischen Philosophie geht Kant in der Dissertation allerdings davon aus, daß wir auch dazu in der Lage sind, die Dinge zu erkennen, „wie sie sind“ („sicuti sunt“, ebd. 392), und zwar weil uns unser Verstand Wissen darber verschafft, welche Eigenschaften die Dinge unabhngig davon haben, daß sie uns auf eine bestimmte Weise erscheinen. Das soll deswegen mçglich sein, weil es einen sogenannten „realen Gebrauch“ („usus realis“, ebd. 293) des Verstandes gibt, durch den dieser bestimmte Begriffe – und zwar Begriffe wie „Dasein“, „Notwendigkeit“, „Substanz“ und „Ursache“, also diejenigen, die Kant in der Kritik „Kategorien“ nennen wird (ebd. 395) – selbst hervorbringt (ebd. 393). Diese Begriffe reprsentieren Aspekte der Welt, die nichts mit der Weise zu tun haben, wie wir als Subjekte von Gegenstnden affiziert werden. Man sollte beachten, daß das ontologische Grundmodell, das Kants Theorie in der Dissertation zu Grunde liegt, dem seiner kritischen Philosophie insofern hnlich ist, als es einen Dualismus zweier Arten von Eigenschaften, nicht aber eine Dualismus zweier Arten von Gegenstnden oder Welten solcher Gegenstnde beinhaltet. Mit der Rede vom „mundus sensibilis atque intelligibilis“ im Titel seiner Dissertation spricht er entgegen dem ersten Anschein nicht von einer sinnlich wahrnehmbaren und einer davon unterschiedenen durch den Verstand erkennbaren Welt, sondern von einer einzigen Welt, auf die wir uns auf verschiedene Weise epistemisch beziehen kçnnen. Daß die uns sinnlich erscheinenden Dinge eine eigene Welt bilden, ist durch den von Kant verwendeten Weltbegriff ausgeschlossen. Eine Welt ist ein „Ganzes, das selbst kein Teil ist“ („tot[um] quod non est pars“, ebd. 387), wobei die Teile nur Substanzen sein kçnnen (ebd. 389). Da der Begriff einer Substanz niemals Teil einer sinnlichen Vorstellung sein kann (ebd. 395), die Dinge, die uns erscheinen, aber wesentlich durch die Sinne reprsentiert werden, wre es widersinnig, von einer eigenen Welt solcher Dinge zu sprechen. Vielmehr
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gibt es eine Welt von Substanzen, wobei uns einige dieser Substanzen auch sinnlich erscheinen kçnnen. Man nennt diese Dinge Erscheinungen („phaenomena“), wenn man ihnen diejenigen Eigenschaften zuspricht, als die habend sie uns sinnlich erscheinen (vgl. ebd. 392, 394 und 397 f.). Folgerichtig whlt Kant auch die Formulierung „Welt, insofern sie als Phnomen betrachtet wird, d. h. im Verhltnis zur menschlichen Sinnlichkeit“ („mundus […], quatenus spectatur ut phaenomenon, h.e. respective ad sensualitatem mentis humanae“, ebd. 398, vgl. auch 404), er spricht von dem „Verhltnis aller Substanzen, das anschaulich betrachtet Raum heißt“ („relatio omnium substantiarum […], quae intuitive spectata vocatur spatium“, ebd. 407, vgl. auch 409 f.) und er bestreitet nicht, daß es Substanzen und deren Akzidenzen sind, die uns z. B. als zeitlich strukturiert erscheinen (ebd. 400), sondern nur, daß wir die Gegenstnde, die wir durch den Verstand erkennen, als solche („noumenon, qua tale“, ebd. 396) sinnlich erfassen kçnnen. Besonders deutlich macht er seine Position in der aus der Entstehungszeit der Dissertation stammenden Reflexion 4108, in der es heißt: „[Der substantz nach] obiective kan nur eine Welt seyn, denn alle substantzen außer der obersten Ursache machen ein Gantzes aus; aber [der Form nach] subiective, d.i. der Art nach, wie das subiect sie vorstellt, kan eine andre Welt seyn“ (AA XVII 418). Wie wrde Kant im Rahmen seiner Theorie aus der Dissertation die Frage danach beantworten, wie wir uns auf Gegenstnde beziehen kçnnen, obwohl alle Eigenschaften, die wir sinnlich wahrnehmen, subjektrelativierte Eigenschaften sind, genauer – wenn meine Interpretation zutrifft – Dispositionen, in Subjekten wie uns bestimmte Vorstellungen zu verursachen? Angenommen es geht um die Eigenschaft, so beschaffen zu sein, daß dadurch in Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung unter geeigneten Umstnden Anschauungen von etwas Ausgedehntem verursacht werden. Ich denke, Kant wrde sagen: Wir haben eine Anschauung von der Ausdehnung und denken uns durch den Verstand einen Gegenstand, der die Eigenschaft hat, diese Anschauung in uns zu verursachen. Von diesem Gegenstand wissen wir darber, daß er diese Disposition hat, hinaus all das, was uns die philosophische Ontologie ber das Wesen der Dinge sagt, so zum Beispiel, daß er eine Substanz ist, die mit anderen Substanzen in der Beziehung der Wechselwirkung steht (vgl. AA II 407). Daß wir die Disposition zum Beispiel einer Rose zuschreiben, bedeutet ferner, daß der Gegenstand, den wir uns durch den Verstand denken, zudem die Disposition hat, in uns eine Anschauung von ihm als Rose zu verursachen. Und daß jemand, der eine
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Rose betrachtet, beide Dispositionen nicht irgendeiner, sondern einer ganz bestimmten Rose zuschreibt, liegt daran, daß er sich durch seinen Verstand einen Gegenstand denkt, der die Disposition hat, in ihm eine ganz bestimmte Anschauung zu verursachen. Ein Satz wie „Diese Rose ist ausgedehnt“ wre nach diesem Modell also folgendermaßen zu paraphrasieren (wobei mit „Substanz“ ein Gegenstand gemeint sein soll, auf den all das zutrifft, was die philosophische Ontologie ber Substanzen mitzuteilen hat): (3.e) Es gibt eine Substanz, die so beschaffen ist, daß dadurch in mir diese Anschauung von ihr als Rose verursacht wird, und so, daß dadurch in Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung unter geeigneten Umstnden Anschauungen von ihr als ausgedehnt verursacht werden.53 Bekanntlich zeichnet sich Kants kritische Philosophie dadurch aus, daß er nicht mehr annimmt, wir kçnnten durch den Verstand allein Erkenntnisse ber die Welt gewinnen. Wir erkennen ausschließlich Eigenschaften der Dinge, die etwas damit zu tun haben, wie sie uns sinnlich erscheinen, und also ausschließlich subjektrelativierte Eigenschaften. Dennoch bleibt Kants Theorie darber, wie wir diese subjektrelativierten Eigenschaften berhaupt Gegenstnden zuschreiben kçnnen, der eben geschilderten sehr hnlich. In der ersten Fassung der transzendentalen Deduktion der Kategorien stellt Kant sich die Frage, was wir unter der Voraussetzung, „daß Erscheinungen selbst nichts als sinnliche Vorstellungen sind, die an sich in eben derselben Art nicht als Gegenstnde (außer der Vorstellungskraft) mssen angesehen werden“, berhaupt noch damit meinen kçnnen, daß wir Erkenntnisse „von einem der Erkenntniß correspondirenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande“ haben (A 104). Und er antwortet, „daß dieser Gegenstand nur als etwas berhaupt =X msse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntniß doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntniß als correspondirend gegenbersetzen kçnnten“ (ebd.). Wenig spter schreibt er: 53 Es ist auch unabhngig von Problemen, die mit dem transzendentalen Idealismus zu tun haben, eine interessante Frage, wie Kant die Mçglichkeit singulrer Urteile, d. h. Urteile ber bestimmte einzelne Gegenstnde, erklren kann, obwohl er annimmt, daß es keine singulren Begriffe gibt. Fr eine etwas ausfhrlichere Beschftigung mit dieser Frage, die zu dem hier gemachten Vorschlag paßt, vgl. Rosefeldt, 2000, S. 108–117.
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Erscheinungen sind die einzigen Gegenstnde, die uns unmittelbar gegeben werden kçnnen, und das, was sich darin unmittelbar auf den Gegenstand bezieht, heißt Anschauung. Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann und daher der nichtempirische, d.i. transscendentale, Gegenstand = X genannt werden mag. Der reine Begriff von diesem transscendentalen Gegenstande (der wirklich bei allen unsern Erkenntnissen immer einerlei = X ist) ist das, was allen unsern empirischen Begriffen berhaupt Beziehung auf einen Gegenstand, d.i. objective Realitt, verschaffen kann. (A 108 f.)
Man kann diese Passagen als direkte Antwort auf die Frage verstehen, wie wir uns auf Gegenstnde beziehen kçnnen, wenn alle Eigenschaften, von denen wir wissen kçnnen, nichts als Dispositionen sind, in Subjekten wie uns bestimmte Vorstellungen zu verursachen. Dieser Bezug auf einen Gegenstand besteht nicht darin, daß wir diesen anschauen und seine nicht-subjektrelativierten Eigenschaften wahrnehmen – so wie im Rahmen der traditionellen Unterscheidung zwischen primren und sekundren Qualitten der Bezug auf den Gegenstand, dem wir die sekundren Qualitten zuschreiben, durch die Wahrnehmung des Gegenstandes und seiner primren Qualitten erklrt werden kann. Der Gegenstand, dem wir die von uns sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften zuschreiben, wird allein durch den Verstand reprsentiert und sozusagen zu den wahrgenommenen Eigenschaften hinzugedacht. Wir haben von ihm einen Begriff, den wir nicht aus der Erfahrung gewonnen haben, sondern der dem Verstand selbst entspringt. Der Unterschied zur Konzeption in der Dissertation besteht darin, daß Kant einrumt, daß wir von diesem Gegenstand unabhngig davon, wie er uns erscheint – d. h. abgesehen von seinen subjektrelativierten Eigenschaften – nichts wissen.54 Jedesmal, wenn wir eine subjektrelativierte Eigenschaft als Eigenschaft eines Gegenstandes reprsentieren, wissen wir von diesem Gegenstand ber dessen subjektrelativierten Eigenschaften hinaus nicht mehr, als daß er ein „etwas berhaupt =X“ ist. Im Rahmen von Kants kritischer Philosophie muß die Paraphrase (3.e) eines Satzes wie „Diese Rose ist ausgedehnt“ also folgendermaßen umformuliert werden: (3.f ) Es gibt einen Gegenstand x, der so beschaffen ist, daß dadurch in mir diese Anschauung von ihm als Rose verursacht wird, und so, daß dadurch in Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung 54 In der Deduktion ist Kant hauptschlich mit der Frage beschftigt, ob und weshalb wir berhaupt berechtigt sind, unsere Vorstellungen als Vorstellungen von solchen Gegenstnden zu reprsentieren.
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unter geeigneten Umstnden Anschauungen von ihr als ausgedehnt verursacht werden. Man kann also durchaus sagen, daß es sich fr Kant bei den Gegenstnden, denen wir die von uns wahrgenommenen subjektrelativierten Eigenschaften zuschreiben, um die gewçhnlichen Gegenstnde unserer empirischen Erkenntnis und Bezugnahme wie Stdte, Huser, Blumen und Materieteilchen handelt. Man muß dabei nur bedenken, daß wir uns auch schon auf diese Gegenstnde durch ein Zusammenspiel von Anschauung und Denken beziehen. Solange ich mit „diese Rose vor mir“ denjenigen Gegenstand meine, der so ist, daß dadurch in mir eine ganz bestimmte Anschauung von ihm als Rose verursacht wird, kann ich sagen, daß es diese Rose vor mir ist, der ich die subjektrelativierte Eigenschaft, mir als ausgedehnt zu erscheinen, zuschreibe, und bezglich deren ich einen Begriff davon haben kann, wie sie an sich selbst ist. Zwei kleinere Korrekturen sind zu dem bislang Gesagten hinzuzufgen: Erstens ist es nicht ganz richtig, daß wir von den Gegenstnden, denen wir die subjektrelativierten Eigenschaften zuschreiben, nicht mehr wissen, als daß sie „etwas berhaupt“ sind. Wir wissen von ihnen, daß sie diejenigen Charakteristika haben, die etwas haben muß, damit wir es berhaupt als einen von uns unabhngigen Gegenstand bezeichnen. Im Anschluß an die eben zitierte Passage aus A 104 beschreibt Kant diese Charakteristika folgendermaßen: Wir finden aber, daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntniß auf ihren Gegenstand etwas von Nothwendigkeit bei sich fhre, da nmlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Gerathewohl oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sind: weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch nothwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander bereinstimmen, d.i. diejenige Einheit haben mssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht. (A 104 f.)
Subjektrelativierte Eigenschaften kçnnen wir uns also nur dadurch als Eigenschaften von Gegenstnden denken, daß wir diese Gegenstnde als den Grund dafr ansehen, daß diese Eigenschaften miteinander bereinstimmen, d. h. sich nicht gegenseitig widersprechen und – so wohl Kants Meinung – nach Gesetzmßigkeiten miteinander verbunden sind. Wie in der transzendentalen Deduktion der Kategorien erlutert wird, schreiben wir diese Rolle den Gegenstnden dadurch zu, daß wir annehmen, daß sie ber die subjektrelativierte Eigenschaft, uns in Raum und Zeit zu erscheinen, hinaus noch andere subjektrelativierte Eigen-
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schaften haben, von denen wir a priori wissen kçnnen. Solche Eigenschaften werden durch die sogenannten schematisierten Kategorien reprsentiert. Der Gegenstand, dem wir die Eigenschaft zuschreiben, uns als Rose zu erscheinen, ist zum Beispiel insofern der Grund fr einen Zusammenhang der von uns wahrnehmbaren Eigenschaften, als er die Eigenschaft hat, die durch die schematisierte Kategorie der Kausalitt ausgedrckt wird: Er hat die Eigenschaft, daß es fr jede seiner subjektrelativierten Eigenschaften eine andere subjektrelativierte Eigenschaft gibt, so daß die Exemplifizierung der ersteren immer der Exemplifizierung der letzteren folgt.55 Den Unterschied zur Konzeption in der Dissertation kçnnte man so beschreiben: Wir wissen von den Gegenstnden, denen wir die wahrgenommenen Eigenschaften zuschreiben nicht a priori, daß sie in kausalen Wechselwirkungen stehende Substanzen sind, aber wir wissen a priori, daß sie uns als solche erscheinen. Zweitens ist es nicht ganz richtig, daß wir uns die Gegenstnde, denen wir die wahrgenommenen Eigenschaften zuschreiben, nur zu diesen hinzudenken, zumindest wenn unter diesem Denken das Fllen eines Urteils verstanden wird. Kant ist bekanntlich der Meinung, daß der Verstand, durch den wir uns Gegenstnde denken, auch einen Einfluß auf unsere Wahrnehmung hat.56 Die Kategorien, durch die wir uns die Gegenstnde samt ihren apriorischen subjektrelativierten Eigenschaften denken, sind auch dafr verantwortlich, daß der reprsentationale Gehalt unserer Anschauungen eine bestimmte Struktur hat, genauer daß diese Anschauungen von perzeptuell unterscheidbaren und identifizierbaren Gegenstnden sind. Welche Aktivitt der Verstand bei der Entstehung von Wahrnehmung genau ausfhrt, ist eine beraus schwierige Frage, auf die ich keine genaue Antwort weiß und auf die ich im Rahmen dieses Beitrags auch nicht eingehen kçnnte. Ich habe der Tatsache, daß es laut Kant eine solche Aktivitt gibt, aber durch die Charakterisierung der Disposition Rechnung getragen, die bei Kants Analyse raum-zeitlicher Eigenschaften eine Rolle spielt. Diese ist anders als bei den traditionellen sekundren Qualitten keine Disposition zur Verursachung von Empfindungen, sondern eine Disposition zur Verursachung von selbst schon gegenstandsbezogenen Anschauungen und wurde hier deswegen als 55 Zur schematisierten Kategorie der Kausalitt vgl. A 144/B 183. 56 Vgl. A 79/B 104 f.: „Dieselbe Function, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urtheile Einheit giebt, die giebt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrckt, der reine Verstandesbegriff heißt“; vgl. auch A 103 ff. und A 124 f.
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Disposition eines Gegenstands beschrieben, in bestimmten Subjekten unter bestimmten Umstnden, Anschauungen von ihm als so-und-so seiend zu verursachen. Bislang ging es mir in meiner Interpretation von Kants transzendentalem Idealismus hauptschlich darum zu erklren, wie dieser Idealismus mit der Tatsache vereinbar ist, daß wir uns auf außergeistige Gegenstnde beziehen. Ich mçchte abschließend noch kurz darauf hinweisen, wie gut das bislang Gesagte zu Kants Aussagen dazu paßt, daß wir einen Begriff von diesen Gegenstnden haben, so wie sie an sich selbst sind, obwohl wir nicht erkennen kçnnen, wie sie an sich selbst sind. In der A-Fassung des Kapitels ber die Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena nimmt Kant die These aus der Deduktion auf, daß wir durch den Verstand alle von uns wahrnehmbaren Eigenschaften „auf ein Etwas als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung“ beziehen, das nur ein „transscendentale[s] Object, […] ein Etwas =x“ ist (A 250). „Dieses transscendentale Object“, so schreibt er, „lßt sich gar nicht von den sinnlichen datis absondern, weil alsdann nichts brig bleibt, wodurch es gedacht wrde. Es ist also kein Gegenstand der Erkenntniß an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen unter dem Begriffe eines Gegenstandes berhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist. Eben um deswillen stellen nun auch die Kategorien kein besonderes, dem Verstande allein gegebenes Object vor, sondern dienen nur dazu, das transscendentale Object (den Begriff von etwas berhaupt) durch das, was in der Sinnlichkeit gegeben wird, zu bestimmen […]“ (A 250 f.; vgl. auch A 253). Diese Passage paßt insofern sehr gut zu der hier vertretenen Interpretation, als Kant hier klarstellt, daß wir das transzendentale Objekt, das wir durch den Verstand als Gegenstand unserer Anschauung erfassen, zwar nicht an sich selbst erkennen, daß es aber keineswegs so ist, daß wir berhaupt keine seiner Eigenschaften kennen. Er wird vielmehr durch die „sinnlichen datis […] gedacht“ bzw. „durch das, was in der Sinnlichkeit gegeben wird, […] bestimm[t]“. Im Rahmen der hier gegebenen Interpretation wrde man sagen: Wir kçnnen seine subjektrelativierten Eigenschaften, genauer seine Dispositionen, bestimmte Anschauungen in uns zu verursachen, erkennen. In A 494/B 522 f. nennt Kant das transzendentale Objekt in diesem Sinne „die bloß intelligibele Ursache der Erscheinungen“, der wir aber dennoch „allen Umfang und Zusammenhang unserer mçglichen Wahrnehmungen zuschreiben“. Wenig spter sagt Kant nun, daß es zum Begriff eines solchen Gegenstandes als Trger subjektrelativierter Eigenschaften gehçrt, daß dieser
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Gegenstand auch nicht-subjektrelativierte Eigenschaften hat, Eigenschaften, die ihm an sich selbst zukommen: […] es folgt […] natrlicher Weise aus dem Begriffe einer Erscheinung berhaupt: daß ihr etwas entsprechen msse, was an sich nicht Erscheinung ist, weil Erscheinung nichts fr sich selbst und außer unserer Vorstellungsart sein kann, mithin, wo nicht ein bestndiger Cirkel herauskommen soll, das Wort Erscheinung schon eine Beziehung auf Etwas anzeigt, dessen unmittelbare Vorstellung zwar sinnlich ist, was aber an sich selbst, auch ohne diese Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit (worauf sich die Form unserer Anschauung grndet), Etwas, d.i. ein von der Sinnlichkeit unabhngiger Gegenstand, sein muß. Hieraus entspringt nun der Begriff von einem Noumenon, der aber gar nicht positiv ist und eine bestimmte Erkenntniß von irgend einem Dinge, sondern nur das Denken von Etwas berhaupt bedeutet, bei welchem ich von aller Form der sinnlichen Anschauung abstrahire. (A 251 f.)
Der Begriff der Erscheinung, von dem Kant hier spricht, ist meines Erachtens der Begriff eines Gegenstandes, wie er uns erscheint, d. h. der Begriff eines Gegenstandes als Trger subjektrelativierter Eigenschaften. Es ist klar, daß jemand, der diesen Begriff hat, auch ber einen Begriff von diesem Gegenstand als Trger nicht-subjektrelativierter Eigenschaften verfgt.57 Kant scheint nun zudem zu meinen, daß nichts unter den ersten Begriff fallen kann, wenn es nicht auch unter den zweiten fllt: Ein Gegenstand kann nicht ausschließlich Eigenschaften der Form, Subjekten der-und-der Art so-und-so zu erscheinen, haben, sondern muß auch irgendwelche nicht auf Subjekte relativierte Eigenschaften haben, d. h. ein „von der Sinnlichkeit unabhngiger Gegenstand“ sein. Anders formuliert: Er muß irgendwie an sich selbst sein, damit er uns irgendwie erscheinen kann. Wenn ich Recht habe und Kant die subjektrelativierten Eigenschaften als Dispositionen versteht, dann gibt es fr diese Behauptung einen guten Grund. Von der subjektrelativierten Eigenschaft, uns ausgedehnt zu erscheinen, hatte ich gesagt, daß ein Gegenstand sie genau dann hat, wenn er so beschaffen ist, daß dadurch unter geeigneten Umstnden in Subjekten wie uns Anschauungen von ihm als etwas 57 Vgl. dazu auch B 306: „Gleichwohl liegt es doch schon in unserm Begriffe, wenn wir gewisse Gegenstnde als Erscheinungen Sinnenwesen (Phaenomena) nennen, indem wir die Art, wie wir sie anschauen, von ihrer Beschaffenheit an sich selbst unterscheiden: daß wir entweder eben dieselbe nach dieser letzteren Beschaffenheit, wenn wir sie gleich in derselben nicht anschauen, oder auch andere mçgliche Dinge, die gar nicht Objecte unserer Sinne sind, als Gegenstnde, bloß durch den Verstand gedacht, jenen gleichsam gegenber stellen und sie Verstandeswesen (Noumena) nennen.“
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Ausgedehntem verursacht werden, bzw. – in der ausfhrlicheren Formulierung – wenn er irgendeine Eigenschaft F hat, so daß durch sein Haben von F unter geeigneten Umstnden in Subjekten wie uns Anschauungen von ihm als Ausgedehntem verursacht werden. Um noch einmal daran zu erinnern: Die Eigenschaft, irgendeine Eigenschaft F zu haben, so daß durch das Haben von F unter geeigneten Umstnden bestimmte Anschauungen verursacht werden, ist eine subjektrelativierte Eigenschaft, genauer eine Disposition. Die Eigenschaften aber, ber die bei der Charakterisierung dieser Disposition unter Zuhilfenahme der Variablen „F“ quantifiziert wird, sind keine subjektrelativierten Eigenschaften oder Dispositionen. Sie kommen dem Gegenstand an sich selbst zu und sind – wie die Lockeschen Krfte – die Ursachen unserer Vorstellungen. Der Begriff der subjektrelativierten Disposition ist also berhaupt nur dann auf einen Gegenstand anwendbar, wenn dieser Gegenstand auch nicht-subjektrelativierte Eigenschaften hat. In zeitgençssischer Terminologie wrde man sagen: Es gibt keine Disposition ohne eine kategoriale Basis. Man muß beachten, daß wir allein durch die Einsicht, daß die Dinge nicht-subjektrelativierte Eigenschaften haben mssen, um uns erscheinen zu kçnnen, keine einzige dieser nicht-subjektrelativierten Eigenschaften kennen. „Die nichtsinnliche Ursache [unserer] Vorstellungen ist uns gnzlich unbekannt“ (A 494/B 522 f.). Alles, was wir durch die Einsicht wissen, ist, daß die Gegenstnde, die wir kennen, irgendwelche (uns unbekannten) nicht-subjektrelativierten Eigenschaften haben, die dafr verantwortlich sind, daß und wie sie uns erscheinen. In der zweiten Fassung der Kritik beschreibt Kant den transzendentalen Gegenstand als Trger subjektunabhngiger Eigenschaften deswegen als „Noumenon im negativen Verstande“, das heißt als „ein Ding […], so fern es nicht Object unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahiren“ (B 307). Um die Eigenschaften kennen zu kçnnen, die diesem Gegenstand an sich selbst zukommen, mßte er – wie Kant in der Dissertation noch annahm – „ein Object einer nichtsinnlichen Anschauung, […] nmlich [der] intellectuelle[n], die aber nicht die unsrige ist“ sein, d. h. ein „Noumenon in positiver Bedeutung“ (ebd.).58 58 Ich widerspreche mit meiner Interpretation der Unterscheidung zwischen Noumena in positiver und in negativer Bedeutung der von Marcus Willaschek (vgl. Willaschek, 2001b). Laut Willaschek scheitert Kants transzendentaler Idealismus unter anderem deswegen, weil Kant gezwungen ist, Eigenschaften der Dinge an sich fr kontingente Aspekte unserer Erfahrung verantwortlich zu machen. Die
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Die Unterscheidung zwischen dem Wissen davon, daß ein Gegenstand, um zu erscheinen, irgenwelche subjektunabhngigen Eigenschaften haben muß, und dem Kennen solcher Eigenschaften kann meines Erachtens auch dazu beitragen, ein notorisches Problem mit Kants Rede ber Dinge an sich zu lçsen. Das Problem lautet folgendermaßen: Darf Kant berhaupt davon sprechen, daß die subjektunabhngigen Eigenschaften eines Dinges kausal dafr verantwortlich sind, wie uns dieses Ding erscheint, wenn er doch sagt, daß sich der Verstand zwar „Dinge an sich selbst denken muß“, von ihnen aber „zugleich begreift, daß er von seinen Kategorien in dieser Art sie zu erwgen keinen Gebrauch machen kçnne“ (B 307 f.)? Das Problem wird unbersehbar an einer Stelle wir A 288/B 344, wo es heißt, daß der Verstand „sich einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transscendentales Object, [denkt], das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist und weder als Grçße, noch als Realitt, noch als Substanz etc. gedacht werden kann“. An der Stelle des „etc.“ htten als nchstes die Kategorien der Ursache und Wirkung gestanden. Wendet Kant also die Kategorie der Kausalitt nicht auf etwas an, worauf er sie, will er nicht seiner eigenen Begrenzung menschlicher Erkenntnis auf Erscheinungen widersprechen, gar nicht anwenden darf ? Ich denke, Kant kçnnte diese Frage mit guten Grnden verneinen, und zwar indem er auf zwei Dinge aufmerksam macht. Erstens werden die Begriffe der Ursache und Wirkung strenggenommen Dinge mssen zum Beispiel an sich selbst strukturiert sein, d. h. verschiedene Eigenschaften haben, damit sie uns auf verschiedene Weise erscheinen kçnnen (ebd. S. 225). Dem stimme ich zu, nicht aber Willascheks Behauptung, daß man dadurch zu der im Rahmen der Kantischen Philosophie unzulssigen Annahme gelangen wrde, daß „Dinge mit uns unerkennbaren Eigenschaften (also Noumena in positiver Bedeutung) unsere Sinne affizieren“ (ebd.). Einen Gegenstand als Noumenon in negativer Bedeutung zu betrachten heißt laut Willaschek „nicht, ihm irgendeine fr uns unerkennbare Beschaffenheit zuzuschreiben, sondern nur, von der fr uns erkennbaren (subjektabhngigen) Beschaffenheit abzusehen“ (ebd., S. 215). Ich wrde auf diesen Einwand gegen Kant antworten: Wir mssen dem Gegenstand, den wir abgesehen davon betrachten, wie er uns erscheint (dem Noumenon in negativer Bedeutung) keine einzige unerkennbare Eigenschaft zuschreiben, um wissen zu kçnnen, daß er irgendwelche solcher Eigenschaften hat. Um solche Eigenschaften zuschreiben zu kçnnen, mßte man sie kennen, und dazu wiederum mßte der Gegenstand tatschlich ein Noumenon in positiver Bedeutung, d. h. ein Gegenstand nicht-sinnlicher Anschauung sein. Aber um – aus philosophischen berlegungen wie der von Willaschek zu den kontingenten Aspekten unserer Erfahrung – erkennen zu kçnnen, daß die Dinge irgendwelche verschiedenen subjektunabhngigen Eigenschaften haben mssen, muß man solche Eigenschaften nicht durch den Verstand wahrnehmen.
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nicht auf Gegenstnde angewendet, sondern auf das Haben von Eigenschaften durch Gegenstnde, d. h. auf so etwas wie Ereignisse oder Zustnde.59 Es ist also ohnehin nicht ein bestimmtes transzendentales Objekt a, das die Ursache dafr ist, daß es uns auf die-und-die Weise erscheint. Die Ursache ist vielmehr, daß a eine bestimmte subjektunabhngige Eigenschaft F hat, bzw. das Ereignis, das in a’s Exemplifizieren von F besteht. Zweitens gibt es kein transzendentales Objekt a und keine subjektunabhngige Eigenschaft F, so daß Kant die Kategorie der Ursache auf das Ereignis der Exemplifikation von F durch a anwenden wrde. Man wendet einen Begriff nmlich nicht schon deswegen auf etwas an, daß man sagt, daß etwas unter ihn fllt. Man kann sagen, daß es Zahlen gibt, die grçßer als 1 Millionen und durch 19 teilbar sind, ohne den Begriff des Grçßer-als-1-Millionen-und-durch-19-teilbar-Seins auf irgendeine bestimmte Zahl anwenden zu mssen. Und jemand kann wissen, daß es Gegenstnde gibt, an die er im Moment nicht denkt, auch wenn er diesen Begriff auf keinen Gegenstand anwenden kann, ohne sich selbst zu widersprechen.60 Um einen Begriff auf ein Ding anwenden zu kçnnen, muß man dieses kennen. Um zu wissen, daß etwas unter einen Begriff fllt, muß man aber kein Ding kennen, das unter ihn fllt. Kants Aussagen ber die nicht-sinnlichen Ursachen der Erscheinungen implizieren allein die Behauptung, daß es fr einen bestimmten transzendentalen Gegenstand a eine subjektunabhngige Eigenschaft F gibt, so daß a’s Haben von F die Ursache dafr ist, wie uns a erscheint. Dies ist keine unzulssige Anwendung des Begriffs einer intelligiblen Ursache, denn in dieser Behauptung wird dieser Begriff gar nicht auf eine Eigenschaft angewendet, und Kant muß also auch nicht unzulssigerweise annehmen, daß wir die subjektunabhngigen Eigenschaften, deren Exemplifikation die Ursache dafr ist, wie uns die Dinge erscheinen, doch irgendwie kennen. Den Begriff von einem Gegenstand unserer Erkenntnis, wie er an sich selbst ist, d. h. von ihm als Gegenstand, der irgendwelche subjektunabhngigen Eigenschaften hat, kann er deswegen 59 Kant leitet die Kategorie der Kausalitt aus der Form des hypothetischen Urteils her (A 76 ff./B 102 ff.). Ein solches Urteil – wie etwa das Urteil „Wenn a F ist, ist b G“ – verbindet selbst wiederum zwei Urteile („a ist F“ und „b ist G“). Das Kausalverhltnis sollte also zwischen den beiden Dingen bestehen, um die es jeweils in den beiden verbundenen Urteilen geht, d. h. in diesem Fall zwischen a’s F-sein und b’s G-sein. 60 Auf die Relevanz dieser berlegung fr die Widerlegung von Berkeleys sogenanntem Meisterargument hat Andreas Kemmerling aufmerksam gemacht (vgl. Kemmerling, 2001).
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trotz seiner Aussagen ber unsere Affektion durch diesen Gegenstand immer noch als einen „ganz unbestimmten Begriff von einem Verstandeswesen als einem Etwas berhaupt außer unserer Sinnlichkeit“ bezeichnen, der kein „bestimmte[r] Begriff von einem Wesen [ist], welches wir durch den Verstand auf einige Art erkennen kçnnten“ (B 307, Hervorhebung von mir, T.R.). „Bestimmen“ nmlich heißt bei Kant, einem Gegenstand ein Prdikat unter Ausschließung seines Gegenteils zuzuschreiben (vgl. AA I 391). Das hat man aber dadurch, daß man sagt, daß ein Gegenstand irgendwelche Eigenschaften der-und-der Art hat, noch nicht getan. Ich sehe keinen Grund, weshalb man es mit einem so verstandenen Begriff eines Dinges an sich nicht gut in Kants Philosophie aushalten kçnnen sollte. Zumindest ist man durch die Annahme, daß etwas unter ihn fllt, die Sorge los, die ich zu Beginn dieses Beitrags hinsichtlich des Verhltnisses zwischen Kant und der Stadt Kçnigsberg geußert hatte. Denn ohne das Ding an sich kme Kant zwar nicht nach Kçnigsberg hinein, mit ihm aber muß Kçnigsberg nicht in ihm bleiben. Literatur Abela, P., 2002, Kant’s Empirical Realism, Oxford. Allais, L., 2004, Kant’s One World. Interpreting ‘Transcendental Idealism’, in: The British Journal for the History of Philosophy, 12, S. 655–684. Allais, L., im Erscheinen, Kant’s Idealism and the Secondary Quality Analogy (erscheint in: Journal of the History of Philosophy). Allison, H., 2004, Kant’s Transcendental Idealism. An Interpretation and Defense, revised and enlarged edition, New Haven, London (1. Aufl. 1983). Ameriks, K., 1992, Kantian Idealism Today, in: History of Philosophy Quarterly, 9, S. 329–342. Berkeley, G., 1969, Three Dialogues Between Hylas and Philonous, hg. v. R. Adams, Indianapolis. Bird, G., 1962, Kant’s Theory of Knowledge, London. Bird, G., 2000, Rezension von Langtons Kantian Humility, in: The Philosophical Quarterly, 50, S. 105–108. Collins, A., 1999, Possible Experience. Understanding Kant’s Critique of Pure Reason, Berkeley, Los Angeles. Dryer, D.P., 1966, Kant’s Solution for Verification in Metaphysics, London. Emundts, D., im Erscheinen, Kant’s Critique of Berkeley’s Notion of Objectivity, in: B. Longuenesse/D. Garber (Hg.), Kant and the Early Modern, Princeton. Guyer, P., 1987, Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge.
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ETHIK
UND
RECHT
Recht und Ethik in Kants praktischer Philosophie Manfred Baum I. Kant hat die Unterscheidung der praktischen Philosophie in Rechtslehre (ius) und Tugendlehre (ethica) vorgefunden, sie neu begrndet und ausgebaut zu einem vollstndigen System der Pflichten. Dieses Gesamtsystem der reinen praktischen Philosophie, das Kant mit einem von ihm selbst geprgten Terminus „Metaphysik der Sitten“ genannt hat, liegt in dem gleichnamigen Werk von 1797 vor, und hier allein hat Kant die Einteilung seiner Pflichtenlehre in ihrer Vollstndigkeit gerechtfertigt und vollendet. Die beiden moralphilosophischen Grundlagenschriften, die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und die Kritik der praktischen Vernunft (1788) enthalten zwar (wie auch die Kritik der reinen Vernunft) Hinweise auf das knftige Werk, aber die schließlich erreichte Einteilung der Metaphysik der Sitten in Rechtslehre und Tugendlehre wird erst 1797 ausgefhrt und begrndet. In einer Vorlesung von 1784 ber Achenwalls Ius naturae findet sich die Bemerkung, daß das in der Schule Christian Wolffs bliche Verstndnis des Naturrechts fehlerhaft sei: Man hat noch gar nicht dem jure naturae seine Stelle in der praktischen Philosophie aus Prinzipien zu bestimmen, und die Grenzen zwischen demselben und der Moral [lies: Ethik] zu zeigen gewußt. Daher laufen verschiedene Stze aus beiden Wissenschaften in einander. – Dieses also auszumachen, muß man die Begriffe des Rechts zu entwikeln suchen. (AA XXVII, 2.2; 1321)
Indem Kant die Rechtslehre neu begrndet, sprengt er das traditionelle Naturrecht und ermçglicht zugleich die Metaphysik der Sitten als gemeinsames System von ius und ethica. In der Tat findet sich etwa in Baumgartens Initia philosophiae practicae die Definition des Naturrechts im weiteren Sinne als „complexus legum naturalium moralium“ bzw. „hominem obligantium“. Dieser Teil der Philosophie werde bequemer „philosophia practica objective spectata“ genannt und er umfasse die „leges morales naturales tam internas, quam
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externas.“ (§ 65) Ein Teil dieses so umfassend verstandenen Naturrechts sei der „complexus legum naturalium externarum sive cogentium“ und dies sei das „ius naturae“ im engeren Sinne (ebenda). Die Ethik oder „Sitten“- bzw. „Tugendlehre“ wird von Baumgarten in seiner Ethica philosophica (1763) als „scientia obligationum hominis internarum in statu naturali“ (§ 1) definiert. Sie ist also das complementum ad totum zum Naturrecht im engeren Sinne innerhalb des Naturrechts im weiteren Sinne. Darin zeigt sich, daß die bei Christian Thomasius vorbereitete Unterscheidung von Jus und Ethik, die Wolff noch nicht bernommen hatte, innerhalb seiner Schule wirksam wird. Das Ergebnis, das Kant vorliegt, ist also die Unterscheidung von Recht und Ethik nach den Gesetzen, unter denen der Mensch handelt: Das Recht ist der Inbegriff der ußeren und zwingenden moralischen Gesetze, die Ethik enthlt alle inneren moralischen Verpflichtungen des Menschen, wobei implizit „Moral“ als Oberbegriff beider Disziplinen angesehen, nicht selten aber auch mit „Ethik“ gleichgesetzt wird. Kants Neubestimmung dieses Unterschiedes lßt sich bruchstckhaft an seinen Vorlesungen verfolgen. Die Nachschrift einer Vorlesung ber die Metaphysik der Sitten vom Wintersemester 1793/94, die unter dem Namen Vigilantius berliefert ist, lßt das neue Fundament erkennen, auf dem Kant die ihm vorgegebene Einteilung errichtet, und ein Mißverstndnis, dem sie ausgesetzt ist: Da […] alle Verbindlichkeit auf der Freiheit selbst beruht, und darin insoweit ihren Grund hat, als die Freiheit unter der Bedingung betrachtet wird, unter welcher sie allgemeines Gesetz seyn kann, so nennt Herr Kant alle moralischen Gesetze (d.i. die die Bedingung festsetzen, unter welcher etwas geschehen soll, in opposito gegen leges naturae, physicae, die nur die Bedingung, unter welcher etwas geschieht, festsetzen) leges libertatis, Freiheitsgesetze, und begreift darunter die erwhnten leges justi et honesti (ethicae), jedoch allein in der Rcksicht, daß sie der Handlung die einschrnkende Bedingung geben: der Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz, und grndet darauf den Unterschied zwischen ius und ethica oder Rechts- und Tugendlehre.
Der Nachschreiber fgt in Klammern hinzu: „der daher seiner Meynung nach hinfllig seyn muß“ (AA XXVII, 523 f.) Kant hat diesen Unterschied natrlich nicht fr hinfllig, sondern fr notwendig gehalten. Aber das neue Fundament, die Freiheit, dominiert die alte Unterscheidung. Gemeinsam ist jetzt allen moralischen Gesetzen nicht nur, daß sie die Freiheit des Wollens und Handelns voraussetzen und also in diesem Sinne Gesetze der Freiheit sind, sondern daß sie die
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Freiheit selbst zum allgemeinen Gesetz machen, wenn auch in einem unterschiedlichen Sinne. Das innere und ußere Handeln des Menschen wird durch sie jeweils auf die Bedingung eingeschrnkt, daß seine Maxime oder der ußere Freiheitsgebrauch selbst „tauglich“ ist zum allgemeinen Gesetz, d. h. als ein mir selbst und allen anderen Vernunftwesen gegebenes Gesetz des Wollens und Handelns mçglich ist. In der Metaphysik der Sitten wird „der oberste Grundsatz der Sittenlehre“, also aller Moral, deshalb so ausgedrckt: „Handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann“ (AA VI, 226). Durch diesen kategorischen Imperativ soll nur allgemein ausgesagt sein, „was Verbindlichkeit sei“ (AA VI, 226), bzw. was berhaupt moralische Pflicht sei. Kant erlutert das neue Prinzip und die Abhngigkeit von Ius und Ethik von ihm im Anschluß an die traditionelle Auffassung von Pflicht so: Der Pflichtbegriff steht unmittelbar in Beziehung auf ein Gesetz (wenn ich gleich noch von allem Zweck als der Materie desselben abstrahiere); wie denn das formale Prinzip der Pflicht im kategorischen Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden kçnne“ es schon anzeigt; nur daß in der Ethik dieses als Gesetz deines eigenen Willens gedacht wird, nicht des Willens berhaupt, der auch der Wille anderer sein kçnnte: wo es alsdann eine Rechtspflicht abgeben wrde, die nicht in das Feld der Ethik gehçrt. (AA VI, 388 f.)
In dieser Unterscheidung von Recht und Ethik wird, wie ersichtlich, vorausgesetzt, daß alle freien Handlungen einen Zweck haben, zu dessen Verwirklichung die Handlung selbst nur das Mittel ist, und daß die Vernnftigkeit der Handlung darin besteht, daß dieser Zweck zur Regel fr die dazu zweckmßigen Handlungen dient, wobei die Regelung in der entsprechenden Maxime ausgedrckt wird. Habe ich etwa den Zweck der Glckseligkeit, so befolge ich in meinem Handeln die Maxime, nur solche qualitativ oder der Zahl nach verschiedenen Handlungen auszufhren, die mit diesem Zweck mindestens kompatibel sind. Das gilt natrlich auch fr Handlungen, durch die die Freiheit und das subjektive Recht anderer Menschen betroffen sind. Auch das Handeln unter Rechtsgesetzen ist ein Befolgen von Maximen, wenn auch im Recht von diesen Zwecken und Maximen abstrahiert wird und nur die Handlungen selbst in den Bereich der juridischen Regelung fallen. In der Ethik hingegen ist das Setzen von Zwecken (das Wollen) und das Annehmen und Haben von Maximen Gegenstand der Gesetzgebung. Deshalb sagt Kant: „Die Ethik gibt nicht Gesetze fr die Handlungen (denn das thut das Ius), sondern nur fr die Maximen der Handlungen.“ (AA VI, 388).
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Kehren wir zurck zur Vorlesung von 1793/94, wo Kant seine Unzufriedenheit mit der durch Baumgarten reprsentierten Tradition zum Ausdruck bringt: „Die Prinzipia juris mssen von den Principiis ethicis sehr wohl unterschieden werden, welches Baumgarten außer Acht gelassen, so wie die Bestimmung des obersten Distinctions-Princips, die an sich sehr schwierig ist, noch bis jetzt nicht entwickelt worden.“ (AA XXVII, 539) Das besagt nichts weniger als daß Kant beansprucht, der erste Philosoph zu sein, der die vorhandene und notwendige Unterscheidung von Recht und Ethik innerhalb der praktischen Philosophie auf dem gemeinsamen Einteilungsgrund, den Gesetzen der Freiheit, begrndet hat. In dieser Neubestimmung der Einteilung der praktischen Philosophie bezieht sich Kant aber nicht nur auf die ihm unmittelbar vorhergehenden Philosophen, sondern auch auf die Griechen: „Von Wichtigkeit aber auch schwierig sind in der Moral die Eintheilungen der Pflichten“ hinsichtlich ihres „inneren Unterschiedes und ihrer Rangordnung“ (AA XXVII, 576). Dabei nimmt Kant an, daß Moral oder Sittenlehre berhaupt soviel bedeutet wie Pflichtenlehre fr das Handeln, also eine Disziplin innerhalb der vom menschlichen Verhalten handelnden praktischen Philosophie ist. „Nach der Eintheilung der Griechen gehçrt […] die Sittenlehre zum praktischen Theil der Philosophie und macht im Gegensatz der Physik die Ethic aus.“ (ebenda) So verstanden ist Ethik also die ganze praktische Philosophie, sofern diese zum Thema hat, nicht wie allgemein oder unter Bedingungen der technischen Realisierung von Zwecken gehandelt wird, sondern wie aus Freiheit gehandelt werden soll. Im engeren Sinne ist also die praktische Philosophie Freiheitslehre: Man versteht in specie unter der praktischen Philosophie sogar nur die Sittenlehre oder Lehre von der Freiheit unter Gesetzen. So nehmen die griechischen Philosophen das Wort Ethic als Verbindlichkeitslehre berhaupt. Die Neueren theilen die praktische Philosophie ab in Rechts- und Tugendlehre, nennen die letztere in specie Moral, worunter sub voce Ethic die Alten beyde Theile verstanden, mithin in sensu lato nahmen, was wir jetzt in sensu stricto von den legibus justi unterscheiden, ob wir gleich fr das genus beyder Theile, nmlich fr das de legibus justi et honesti, keine Benennung haben. (AA XXVII 577)
Denn „Naturrecht im weiteren Sinne“, wie die Neueren seit Grotius und Hobbes es dachten, scheint Kant unpassend. Obwohl also Ethik und Moral ursprnglich und bei den Alten fr die ganze Pflichtenlehre gelten und im brigen dasselbe bedeuten, wird diese Bezeichnung bei den Neueren, also nach Thomasius, fr den Teil der praktischen Pflichtenlehre gebraucht, der dem Jus entgegengesetzt wird, whrend Kant selbst
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fr das Gesamtgebiet von „Sittenlehre“ spricht, ein Ausdruck, der eigentlich unangemessen ist, oder von „Moral(philosophie)“, was ebenfalls mißverstndlich ist. Damit ist zur Genge dokumentiert, daß Kant sich der Herkunft und Tradition der Einteilung der praktischen Philosophie bewußt ist und daß er mit seiner eigenen Neubestimmung dieser Einteilung beansprucht, etwas geleistet zu haben, was der Philosophie menschlichen Handelns seit der Antike nicht gelungen sei. II. Gehen wir zum Ergebnis der jahrzehntelangen Bemhungen Kants um ein vollstndiges System der Pflichtenlehre in der Metaphysik der Sitten, so stellt sich das Problem ihrer Einteilung in Rechts- und Tugendlehre als dasjenige des Verhltnisses dreier kategorischer Imperative zueinander. Wir kennen schon den obersten und allgemeinsten Grundsatz der gesamten Sittenlehre: „Handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann“. Zur Erluterung fgt Kant hinzu: „Jede Maxime, die sich dazu nicht qualificirt, ist der Moral zuwider.“ (AA VI, 226) Der oberste Grundsatz der Rechtslehre ist das allgemeine Rechtsgesetz: „Handle ußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkr mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinem Gesetze zusammen bestehe kçnne“ (AA VI, 231). Und schließlich lautet das oberste Prinzip der Tugendlehre: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben fr jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ (AA VI, 395). Wie verhalten sich diese drei Stze zueinander? Wenn der Satz „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden kçnne“ (AA VI, 389) ein allgemeines Prinzip aller Pflichten, d. h. aller moralisch notwendigen Handlungen, und aller Verbindlichkeit sein soll, dann muß zunchst der Grundsatz aller Rechtspflichten von ihm abgeleitet werden kçnnen. Das heißt, das allgemeine Rechtsgesetz muß durch Einsetzung der fr den Begriff des Rechts charakteristischen Merkmale in die allgemeine Formel gewonnen werden kçnnen. Das Handeln, von dem das Rechtsgesetz spricht, ist das Handeln gegenber anderen Menschen, die ihrerseits als Personen zu vernnftigen, auf Maximen beruhenden Handlungen fhig und somit frei sind; es ist ußeres Handeln. Das Rechtsgesetz bezieht sich zwar der Formulierung nach („Handle ußerlich so …“) nur auf diese Handlungen, aber es ist klar, daß diese ußeren Handlungen nach Maximen erfolgen. Es kçnnte
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also auch lauten: ,Handle nach einer Maxime ußerer Handlungen so …‘. Ein solcher ußerer Gebrauch meiner Willkr kann mit der ußeren Freiheit von jedermann beliebig in Konflikt geraten. Infolgedessen fordert das Rechtsgesetz die Zusammenstimmung von wechselseitig aufeinander einwirkenden Freiheiten. Es wird in der Rechtslehre also „jedermanns freier Willkr berlassen, welchen Zweck er sich fr seine Handlungen setzen wolle“ (AA VI, 382), aber die Maximen solcher ußeren Handlungen und diese selbst sind apriori und formaliter durch das Rechtsgesetz bestimmt. Eine Freiheit, die mit der Freiheit von jedermann nicht nur faktisch zusammenstimmt, sondern nach einem allgemeinem Gesetz der ußeren Freiheit und also notwendig zusammenstimmt, ist eine Befugnis oder ein subjektives Recht, dem eine Pflicht aller anderen Personen entspricht, ihrerseits ihre Freiheit auf die Bedingung der Zusammenstimmung mit dieser gesetzlichen Freiheit, dem subjektiven Recht der brigen Menschen, einzuschrnken. Die Verbindlichkeit zu dieser Einschrnkung entspringt dem allgemeinen Gesetz der Zusammenstimmung, aber dieses Gesetz selbst folgt seinem Inhalt nach schon aus dem bloßen Begriff des Rechts, das als subjektives Recht oder als Befugnis zum Gebrauch meiner Willkr in ußeren Handlungen seinerseits nur unter Zugrundelegung des objektiven Rechts definiert werden kann, als des „Inbegriffs der Bedingungen, unter denen die Willkr des einen mit der Willkr des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (AA VI, 230) Ein derart aus dem bloßen Rechtsbegriff folgendes Gesetz der Einschrnkung meiner Freiheit auf die Bedingungen des Rechts kann auch als durch den Willen anderer Rechtspersonen oder von einem ußeren Gesetzgeber gegeben gedacht werden, ohne daß ich als ein dergestalt Eingeschrnkter meines subjektiven Rechts oder meiner mit anderer Freiheit kompatiblen ußeren Freiheit verlustig ginge. Ein ußerer Zwang, der durch das subjektive Recht eines anderen oder durch einen Rechtsgesetzgeber auf mich ausgebt wird, kann also meiner Rechtspflicht entsprechen und ist dann in notwendiger bereinstimmung mit meiner gesetzmßigen Freiheit. Darum sagt Kant in der Tugendlehre: „das oberste Rechtsprinzip [ist] ein analytischer Satz“ (AA VI, 396). Lege ich nmlich den Begriff der ußeren Freiheit zugrunde, so folgt nach dem Satz des Widerspruchs, „daß der ußere Zwang, sofern dieser ein dem Hindernisse der nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden ußeren Freiheit entgegengesetzter Widerstand […] ist, mit Zwecken berhaupt zusammen bestehen“ kann (ebd.). Umgekehrt begrnden beliebige Zwecksetzungen, die meinem freien Willkrgebrauch
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zugrunde liegen und sich in ußeren Handlungen verwirklichen, gemß dem Begriff der Freiheit als einem angeborenen Recht Verpflichtungen anderer mir gegenber und eine Zwangsbefugnis meiner ihnen gegenber. Die Ableitbarkeit des allgemeinen Rechtsgesetzes aus dem obersten Moralprinzip kann also als gesichert gelten. Aber eben weil dieses oberste Moralprinzip von allen besonderen Zwecken der Willkr abstrahiert und nur formal die Gesetzlichkeit der ihnen entsprechenden Maximen und der nach diesen Maximen erfolgenden Handlungen zur Pflicht macht, scheint es ganz unmçglich zu sein, aus ihm auch Gesetze fr die Zwecksetzung selbst und damit Pflichten fr den Gebrauch der inneren Freiheit abzuleiten. Was hier gefordert ist, ist der Nachweis, daß es in der Ethik mçglich ist, Maximen der Zwecksetzung in der Weise nach moralischen Prinzipien zu begrnden, daß gesagt werden kann, welche Zwecke wir uns setzen sollen. Gbe es solche obligatorischen Zwecke, Zwecke, die zu haben Pflicht ist, so kçnnten wir sie „Tugendpflichten“ nennen, die sich von (inneren oder ußeren) Rechtspflichten, die sich immer nur auf den ußern Freiheitsgebrauch in Handlungen gegenber anderen beziehen, eindeutig unterscheiden. Das hier gestellte Problem der Ableitbarkeit von Tugendpflichten lßt sich also auch so formulieren: Wie kann der Imperativ „Du sollst dir Dieses oder Jenes (z. B. die Glckseligkeit Anderer) zum Zweck machen“ (AA VI, 389) aus dem formalen Prinzip aller Pflicht „Handle so, daß die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden kçnne“ (ebd.) hergeleitet werden? Whrend das letztere Gesetz nur ein negatives Prinzip ist, das gebietet, in seiner Maxime einem Gesetz berhaupt nicht zu widerstreiten, ist der zuerst genannte Imperativ ein affirmatives Gesetz fr die Zwecke und damit auch fr die Maximen von Handlungen. Die Zwecke, die ich fr mein Handeln habe, kann ich nur dadurch haben, daß ich sie dazu mache, und auf diese innere Handlung der Zwecksetzung, die auch aller ußeren Handlung vorhergeht, wird jetzt das allgemeine Gesetz fr die Maximen von Handlungen bezogen. Es lßt sich nun leicht einsehen, daß „das oberste Princip der Tugendlehre: Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben fr jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann“ (AA VI, 395) sich ebenso durch Einsetzung der fr die innere Zwecksetzung relevanten Begriffe in die allgemeine Formel gewinnen lßt, wie das beim Rechtsgesetz der Fall war. Was hier geboten wird, ist das Handeln nach einer Maxime, die nicht nur selbst als allgemeines Gesetz gedacht werden kçnnen muß, sondern die darber hinaus einen objektiv gebotenen Zweck fr verschiedene
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Handlungen enthlt, der seinerseits es zu einem allgemeinen Gesetz machen kann, auch subjektiv eine ihm entsprechende Handlungsmaxime wirklich anzunehmen und zu haben. Ein solches Gesetz fr die Annahme von Maximen kann es im Recht mit seiner ußeren Gesetzgebung fr Handlungen nicht geben. Es geht hier also nicht mehr nur um die Auswahl mçglicher Maximen nach dem Kriterium der Verallgemeinerbarkeit zu einem allgemeinen Gesetz, sondern um ein Gesetz fr Maximen, deren Auszeichnung darin besteht, daß fr sie ein Gesetz, sie zu haben, denkbar ist. Um in der Ethik das Handeln nach einer bestimmten Maxime zur Pflicht machen zu kçnnen, gengt es also nicht, daß diese Maxime selbst gesetzestauglich und also erlaubt ist (obwohl nur erlaubtes Handeln Pflicht werden kann), sondern es wird hier geboten, eine solche Maxime der Zwecksetzung anzunehmen, in welcher es um Zwecke von Handlungen (nicht aber einzelne Handlungen selbst) geht, von denen es aus anderen Grnden schon feststeht, daß sie Pflicht sein kçnnen. Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist also negativ ausgedrckt ein Verbot der Indifferenz meiner Maximen, als der wirklich von mir befolgten Handlungsregeln, gegenber mçglichen verpflichtenden Zwecken. Was die vorausgesetzten Grnde sind, kann hier noch nicht gezeigt werden. Jedenfalls ist das oberste Tugendprinzip damit als Spezialfall des allgemeinen Gesetzes der Maximen erkannt, der durch die Beziehung dieser Maximen auf Zwecke und die Einschrnkung dieser Zwecke auf gesetzliche Zwecke entsteht. Das Verhltnis des obersten Prinzips der Tugendlehre zum obersten Prinzip der gesamten Sittenlehre lßt sich nun dahingehend bestimmen, daß im Falle des letzteren von einer vorausgesetzten Maxime des Handelns nur die Gesetzestauglichkeit gefordert wird, whrend im Falle des ersteren die „Annahme“ (AA VI, 355) von Maximen und das Setzen von Zwecken selbst als innere Handlung betrachtet und eine Maxime fr ein solches Handeln zur Pflicht gemacht wird (vgl. AA VI, 382). Ein moralischer Zweck ist ein solcher, „den sich zu setzen die Maxime selbst Pflicht ist“ (AA VI, 354), und das heißt mit anderen Worten, es ist durch die reine praktische Vernunft zur Pflicht gemacht, die Maxime anzunehmen, sich objektive Zwecke der Vernunft auch subjektiv zum eigenen Zweck zu machen. Whrend die Rechtslehre aus dem bloßen Begriff der ußeren Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz den ußeren Zwang auf die Freiheit je anderer, beliebige Zwecke im ußeren Handeln zu verwirklichen, auf rein analytische Weise (d. h. nach dem Satz des Widerspruchs) als mçg-
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lich erweist, sagt Kant von dem erçrterten Prinzip der Tugendlehre, daß es „synthetisch“ sei. Dieses Prinzip geht nmlich ber den Begriff der Freiheit berhaupt hinaus, verknpft mit ihm „nach allgemeinen Gesetzen noch einen Zweck“ (AA VI, 396) und macht die Maxime zur Pflicht, sich selbst einen solchen Zweck zu setzen. Der damit gegebene Selbstzwang durch reine praktische Vernunft ist gleichbedeutend mit der inneren Freiheit, deren Maxime fr die Zwecksetzung durch das Tugendprinzip geboten wird, whrend das Rechtsprinzip von allen Zwecken abstrahierte. Im Imperativ der Tugendpflichten „kommt noch ber den Begriff eines Selbstzwanges der eines Zwecks dazu, nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat.“ (AA VI, 396) Somit hngt die Deduktion des obersten Tugendprinzips davon ab, daß sich apriori angeben lßt, ob und welche Zwecke des Menschen als obligatorische gedacht werden kçnnen, weil sie nmlich schon in der reinen praktischen Vernunft enthalten sind. Die von Kant vorgefhrte Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft fhrt ein gegenber den rein formalen Grundgesetzen der Moral im Ganzen und der Rechtslehre neues materiales (auf Zwecke bezogenes) Prinzip ein, von dem her sich der Grundsatz der Tugendlehre verstehen und rechtfertigen lßt. Dieses Prinzip lautet: „Was im Verhltnis der Menschen zu sich selbst und anderen Zweck sein kann, das ist Zweck vor der reinen praktischen Vernunft“ (AA VI, 395). Zur praktischen Vernunft als solcher gehçren Zwecke, sie ist gar nichts anderes als das Vermçgen der Zwecksetzung als vernnftiges, durch Begriffe geleitetes Begehrungsvermçgen. Als reine praktische Vernunft aber dient sie nicht ihr von außerhalb ihrer selbst gegebenen Zwecken, die sie haben kann oder auch nicht, sondern hat ihre Zwecke aus sich selbst. Solche Zwecke haben also nicht die Zuflligkeit und Beliebigkeit, mit der sich der Mensch etwas zum Zweck machen kann. Sofern sie aber die reine praktische Vernunft des Menschen ist, gebietet sie ihm aus sich selbst, die Menschheit als das Vermçgen der Zwecksetzung in ihm und in anderen Menschen sich zum Zweck zu machen. Die Zwecke, die der Mensch im Verhltnis zu sich selbst und zu anderen Menschen sich apriori setzen kann, sind also diejenigen Zwecke, die eben dieses Zwecksetzungsvermçgen in ihm selbst und anderen Menschen betreffen. Solche Zwecke sind also fr ihn ebensowenig beliebige Zwecke wie die Zwecke der reinen praktischen Vernunft in ihm. Daß also vor der reinen praktischen Vernunft etwas Zweck ist, bedeutet demnach, daß der Mensch, sofern die reine praktische Vernunft in ihm wirksam ist, sie haben soll. Sich selbst qua Mensch zum Zweck zu haben, heißt also fr den Menschen, daß ihm
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etwas, nmlich er selbst, ein solcher Zweck ist, den zu haben fr ihn zugleich Pflicht ist. Der Mensch soll also sich selbst, den er nach einem allgemeinen Gesetz fr jedermann zum Zweck haben kann, auch wirklich zum Zweck haben. Was fr ihn in Beziehung auf sich selbst eine mçgliche Pflicht ist, daß ist auch wirklich fr ihn Pflicht, nmlich Tugendpflicht. „Nach diesem Princip ist der Mensch sowohl sich selbst als anderen Zweck, und es ist nicht genug, daß er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen berhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht“ (ebd.). Das bedeutet, daß die beiden einzig mçglichen Tugendpflichten darin bestehen, das Vermçgen der Zwecksetzung im handelnden Menschen selbst und die (erlaubten) Zwecke anderer Menschen sich zum Zweck zu machen, also eigene Vollkommenheit und fremde Glckseligkeit. Damit ist im Umriß gezeigt, wie das kantische System der Rechtsund Tugendpflichten sich aus dem gemeinsamen obersten Prinzip der Sittenlehre begrnden lßt. III. Vergleicht man die Kantischen Rechts- und Tugendpflichten mit den Pflichtenlehren der Lehrbcher von Baumgarten und Achenwall, nach denen Kant die Moralphilosophie in seinen Vorlesungen vorgetragen hat, so fallen zwei Differenzen sofort in die Augen. Bei Kant gibt es so etwas wie innere Rechtspflichten, die sich von ethischen Pflichten gegen sich selbst unterscheiden, und er hat dem Unterschied von Legalitt und Moralitt, der dem berlieferten Unterschied von Recht und Ethik zu entsprechen scheint, innerhalb seiner Ethik einen wichtigen Platz angewiesen. Was zunchst den ersten Punkt angeht, so tritt die traditionelle Lehre von den Pflichten gegen sich selbst bei Kant als Lehre von der Tugendpflicht auf, die sich auf den „Zweck der Menschheit in unserer Person“ bezieht (AA VI, 240). Der Mensch ist, wie wir gesehen haben, verpflichtet, sich die Menschheit in seiner Person, oder seine Persçnlichkeit, zum Zweck zu machen, d. h. sie gegen sich und andere zu erhalten und sie durch Kultivierung zu vervollkommnen. Diese letztere Pflicht ist eine weite oder unvollkommene Pflicht, d. h. eine solche, die nur die Maxime zu haben gebietet und keine bestimmten (affirmativen) Handlungen. Dagegen gibt es die vollkommene und enge Pflicht, das „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“ (ebd.) durch alle seine ußeren
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Handlungen gegenber anderen Menschen zu bewahren. Das angeborene Recht des Menschen besteht in seinem Freiheitsvermçgen, wobei diese rechtliche Freiheit definiert ist als „Unabhngigkeit von eines anderen nçtigender Willkr“ (AA VI, 237). Diese Unabhngigkeit des ußeren Handelns im Verhltnis zu anderen Menschen kommt jedem Menschen kraft seiner Menschheit zu, sie ist nach Kant das einzige (von uns so genannte) Menschenrecht. Dieses jedem Menschen als solchem zustehende subjektive Recht ist zugleich das Vermçgen, andere zu verpflichten. Ihm entspricht die ethische Pflicht gegen sich selbst, die Kant so ausdrckt: „Werdet nicht der Menschen Knechte; laßt euer Recht nicht ungeahndet von Anderen mit Fßen treten“ (AA VI, 436), die eine Unterlassungspflicht der moralischen Selbsterhaltung, und zwar der Maxime nach (keine falsche Demut) ist. Die aus der Menschheit in seiner Person entspringende innere Rechtspflicht des Menschen lautet hingegen nach Kant: „Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei fr sie zugleich Zweck“ (AA VI, 236), die sich, trotz der mißverstndlichen Formulierung „sei […] Zweck“ auf das ußere Handeln bezieht. Kant gibt dies als Interpretation der klassischen Naturrechtsformel des Ulpian, „honeste vive“ aus, die er bersetzt „sei ein rechtlicher Mensch“, d. h. erhalte dir deine Persçnlichkeit als Rechtsfhigkeit gegenber allen anderen, und zwar in allen deinen Handlungen ihnen gegenber. Was es ihm ermçglicht, dies als Rechtspflicht zu formulieren, ist die Unterscheidung von Menschheit qua rechtlicher Persçnlichkeit vom Menschen, der dadurch in seinen ußeren Handlungen von seinem inneren Selbst, das er nur durch den allgemeinen moralischen Imperativ kennt, verpflichtet wird. Die zweite der genannten Eigentmlichkeiten der kantischen Metaphysik der Sitten ist besonders geeignet, seine Ethik als revolutionre Neuschçpfung auszuweisen. Das oberste Sittengesetz ist, seinem ’Geiste’ nach, nicht bloß das Prinzip aller Moral und aller moralischen Pflichten, wie wir gesehen haben, sondern es wird, seit seiner Introduktion in der Grundlegung (1785) als Prinzip der Moralitt oder Sittlichkeit bezeichnet. „Gegenwrtige Grundlegung ist […] nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralitt.“ (AA IV, 392) Der konkrete Sinn dieser Kennzeichnung ist das fr die Ethik Kants konstitutive Zusammenfallen von Prinzip der Beurteilung (principium diiudicationis) und der Ausfhrung von Handlungen (principium executionis). Der allgemeine kategorische Imperativ kann nicht nur als „oberste Norm“ der „richtigen Beurteilung“ von Handlungen, denen Maximen zugrunde liegen, angesehen werden, aus der sich deren moralische
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Mçglichkeit und Unmçglichkeit und die moralische Notwendigkeit ihres Gegenteils einsehen lßt. Bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gesetzmßigkeit nur sehr zufllig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmßige, mehrmalen aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird (AA IV, 390),
dann nmlich, wenn das Sittengesetz nicht um seiner selbst willen, sondern aus einem anderen Motiv befolgt wird. Dieser schon in der Vorrede der Grundlegung eingeschrfte Unterschied von bloßer Legalitt und moralischer Gte der Gesinnung (Moralitt bzw. Sittlichkeit) wird von Kant aus seinem traditionell naturrechtlichen Kontext herausgelçst und in die Ethik verpflanzt. Das ist um so erstaunlicher, als gerade die Rechtsgesetze definiert sind durch die Gleichgltigkeit gegenber den Beweggrnden ihrer Befolgung. So heißt es gleich vom allgemeinen Rechtsgesetz, daß es zwar mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschrnken solle […] Wenn die Absicht nicht ist, Tugend zu lehren, sondern nur, was recht sei, vorzutragen, so darf und soll man selbst nicht jenes Rechtsgesetz als Triebfeder der Handlung vorstellig machen. (AA VI, 231)
Diese mit dem traditionellen Naturrecht bereinstimmende Aussage steht natrlich nicht im Widerspruch mit der ethischen Forderung, alle Pflichten, also auch die Rechtspflichten, um ihrer selbst willen oder „aus Pflicht“ zu erfllen. Aber die Zulssigkeit auch eigenschtiger Motive fr die Erfllung der ußeren Pflichten gehçrt zum eisernen Bestand des Naturrechts, auch fr Kant, whrend das Prinzip der Moralitt gerade alle anderen Triebfedern außer dem Sittengesetz selbst ausschließt. Man kçnnte daher erwarten, daß der Gegensatz von Legalitt und Moralitt sich innerhalb der Ethik nicht finden lßt. In der Metaphysik der Sitten jedoch findet sich in der Einleitung zur Tugendlehre eine Tabelle der Tugendpflichten, aus der hervorgeht, daß die beiden an sich gebotenen Zwecke, meine eigene Vollkommenheit und die Glckseligkeit anderer, anstelle des Tugendprinzips selbst, nicht bloß Objekte des Handelns, sondern im handelnden Subjekt „zugleich Triebfeder“ sein kçnnen (AA VI, 398), „worauf“, wie Kant hinzufgt, „die Legalitt aller freien Willensbestimmung beruht“ (ebd.). Man kann also an sich oder durch reine Vernunft gebotene Zwecke subjektiv aus
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anderen Beweggrnden wollen, d. h. sich selbst zum Zweck machen, als dem obersten Grundsatz der Sittenlehre und dem von ihm abhngigen obersten Prinzip der Tugendlehre. Das steht scheinbar im Widerspruch mit der klaren Unterscheidung der Einleitung in die Rechtslehre, wo es ber die moralischen Gesetze der Freiheit heißt: „Sofern sie nur auf bloße ußere Handlungen und deren Gesetzmßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgrnde der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch, und alsdann sagt man: die bereinstimmung mit den ersteren [Gesetzen] ist die Legalitt, die mit den zweiten die Moralitt der Handlung.“ (AA VI, 214) Das schließt aus, daß ethische Gesetze, die Gesetze nicht bloß der Moral, sondern der Moralitt oder sittlichen Gte der Gesinnung sind, wie bloß juridische gelten, nmlich unangesehen der Triebfeder ihrer Befolgung. Dasselbe Problem stellt sich angesichts der kantischen Unterscheidung von ethischer und juridischer Gesetzgebung in derselben Einleitung: Diejenige [Gesetzgebung], welche eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch. Diejenige aber, welche das letztere nicht im Gesetze mit einschließt, mithin auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zulßt, ist juridisch. (AA VI, 219)
Auch danach scheint es in der Ethik keine bloße Legalitt der Handlungen geben zu kçnnen. Gleichwohl ist die Kantische Lehre von der Moralitt, als des Eigentmlichen der Ethik, gerade durch ihr Insistieren auf der Notwendigkeit einer Identitt von pflichtgebietendem Gesetz und dem Motiv seiner Befolgung in Handlungen, um dem so motivierten Wollen und Handeln einen moralischen Wert zuschreiben zu kçnnen, nichts anderes als eine Lehre vom Kriterium der Beurteilung von Handlungen. Bekanntlich lehrt Kant, daß wir weder ber uns selbst noch gar ber andere Menschen ein sicheres Urteil hinsichtlich der Moralitt von Handlungen fllen kçnnen. Es bleibt also nach Kant mçglich, daß noch niemals eine Handlung geschah, deren allein zureichender Grund die zuvor erkannte Gesetzmßigkeit ihrer Maxime und die moralische Unmçglichkeit ihres Gegenteils war, so daß bisher nur solche Handlungen vollzogen wurden, die bloße moralische Legalitt hatten. Ich gebe nur ein einziges Beispiel aus der Kritik der praktischen Vernunft fr die Anwesenheit der Unterscheidung von Legalitt und Moralitt in der Ethik. Dort heißt es: Selbst eine Neigung zum Pflichtmßigen (z. B. zur Wohlttigkeit) kann zwar die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern, aber keine her-
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vorbringen. Denn alles muß in dieser auf die Vorstellung des Gesetzes als Bestimmungsgrund angelegt sein, wenn die Handlung nicht bloß Legalitt, sondern auch Moralitt enthalten soll. (AA V, 118).
Wenn also die Maxime der Wohlttigkeit nicht das Gesetz der Allgemeingltigkeit der Maximen selbst mit enthlt, so hat die wohlttige Handlung bloß ethische Legalitt. Ihr Motiv ist ja nicht die Vorstellung des Gesetzes selbst. Gerade indem Kant die Moralitt als die Wirksamkeit des Sittengesetzes selbst definierte, hat er einen neuen Begriff von Tugend und ethischer Pflichterfllung geschaffen, der nach seiner Selbstinterpretation nur mit den Heiligkeitsforderungen des Christentums vergleichbar ist. Aber eben diese zur Beurteilung der moralischen Gte dienende Idee des pflichtgemßen Handelns aus Pflicht, die fr die Abgrenzung des Ethischen gegenber dem Juridischen entscheidend ist, scheint ihre Herkunft einer bertragung der Gesetzmßigkeit der ußeren Handlungen auf die innere Handlung von Maximenannahme und Zwecksetzung in Kombination mit der durch die Achtungslehre gegebenen Mçglichkeit eines apriori durch reine Vernunft gewirkten Gefhls zu verdanken zu haben. Die kantische Lehre von der Autonomie der reinen praktischen Vernunft ist somit eine dezidiert ethische Lehre von der positiven Freiheit des menschlichen Willens, die in seiner Rechtslehre kein Gegenstck haben kann. Aber der diese Lçsung erst ermçglichende Formalismus im obersten Grundsatz der Sittenlehre, seine Abstraktion von allen motivierenden Zwecken, scheint mir fr den juridischen Ursprung dieser Ethikkonzeption zu sprechen. Das bleibt bislang nur eine Vermutung. Zitierweise Die Angabe der Belegstellen bezieht sich auf: Kant’s Gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kçniglich-Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. (abgekrzt AA unter Verwendung rçmischer Bandzahlen).
Autonomie und das Faktum der Vernunft Matthias Kaufmann „Autonomie“ drfte in den normativen Diskursen der Gegenwart weit ber die Grenzen der philosophischen Fachdiskussion hinaus einer der am positivsten besetzten Begriffe sein. Autonomie streben unterdrckte Vçlker und Volksgruppen an. Der eine oder andere Fachbereichsrat mancher Universitt pocht hin und wieder mit grçßerem oder geringerem Erfolg auf seine Autonomie. Autonomie zeichnet den erwachsenen Menschen, die mndige Brgerin, die ausgereifte Persçnlichkeit und berhaupt das vernunftfhige Wesen, die zurechnungsfhige Person gegenber anderen Wesen aus. Patientenautonomie gilt als einer der entscheidenden Gesichtspunkte in den gegenwrtigen Diskussionen in der medizinischen Ethik (z. B. Taupitz, 2002). Fr einen derart çffentlichkeitswirksamen Begriff wohl nicht verwunderlich, vom philosophischen Blickwinkel gleichwohl mißlich erscheint die zunehmende Unklarheit darber, was mit Autonomie eigentlich gemeint ist. Die meisten Menschen wrden intuitiv wohl mit Autonomie verbinden, daß sie ihre Entscheidungen selbst treffen und von niemandem bevormundet werden. Umstritten ist dann wieder, ob dies primr fr reflektierte Entscheidungen zutrifft oder fr jede Lebensußerung. In extremer Verflachung wird unter Autonomie im Alltag mitunter verstanden, daß man alles tun kann, was man mçchte, was einem einfllt, was einem in den Kram paßt. Zur Kuriositt gelangte der Sprachgebrauch in der Politszene, wo junge Menschen ihre Autonomie in paramilitrischen Verbnden suchten. Der Begriff der Autonomie steht freilich auch im Zentrum der innerphilosophischen Diskussion um ethische Fragen der Gegenwart, sei es im Kontext der Genetik (vgl. Habermas, 2001), sei es in der politischen Philosophie (vgl. z. B. Nagl-Docekal, 2003; Rçssler, 2003) oder einem der anderen Felder philosophisch-ethischer Forschung.1 Der Autonomiebegriff durchlief dabei einige Differenzierungen, manche Kritik und auch semantische Verschiebung. Man untersuchte die Struktur der vom 1
Vgl. dazu z. B. Sullivan, 1989, 46 f., Betzler/Guckes, 2001; eine Anwendung des Autonomiebegriffs im Umfeld der feministischen Philosophie findet sich bei Beate Rçssler, 2001.
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Anspruch auf Autonomie implizierten Rechte und kritisierte u. a. die angeblich zu geringe Bercksichtigung der sozialen Natur des Selbst in einer autonomiezentrierten Ethik. Im Vergleich zur Autonomiediskussion bei Kant steht heute eher die Selbstbestimmung als die Selbstgesetzgebung im Mittelpunkt (Nagl-Docekal, 2003, 297 ff.). Beate Rçssler sieht in wesentlichen Texten der neunziger Jahre eine „(plausible) Entkoppelung von Moralitt und Autonomie“ am Werk (Rçssler, 2003, 330n.8). Onora O’Neill stellt eine geradezu „radikale“ Differenz fest (O’Neill, 2002a, 82 f.). Wird nun auch in gegenwrtigen Kontexten immer wieder darauf hingewiesen, daß der Autonomie-Begriff deutlich anders verwendet wird als bei Kant, so bleibt eine gewisse Bindung an Kant doch unbersehbar und wird mitunter sogar explizit gesucht, um in den auseinanderstrebenden Bedeutungselementen einen gemeinsamen Kern zu geben (vgl. Nagl-Docekal, 2003). Mçglicherweise bietet jedoch die Rckwendung zu Kant aus der Perspektive der gegenwrtigen Autonomie-Diskussion die Chance, Teile seines Werkes anderen Fragen auszusetzen, als sie blicherweise gestellt werden. Vielleicht hlt dieses Werk zudem Lçsungsanstze bereit, die auch heute noch von Nutzen sein kçnnten. Anerkanntermaßen wurde der Begriff der Autonomie von Kant zu seiner Blte gebracht, nach einer bewußt provozierenden These Jerome Schneewinds wurde er von Kant erfunden (Schneewind, 1998). Das Konzept der Autonomie ist laut Schneewind die von Kant erarbeitete Antwort auf die durch die Entwicklungen des Naturrechts, v. a. seit Grotius, des Voluntarismus, etwa bei Crusius, und des Rationalismus entstandenen Problemstellungen. Und Kant beansprucht hier tatschlich Originalitt. Mußten doch „alle bisherige Bemhungen, die jemals unternommen wurden, um das Prinzip der Sittlichkeit ausfndig zu machen“ genau deshalb fehlschlagen, weil man den Menschen zwar Gesetzen unterworfen sah, sich jedoch nicht klar darber wurde, „daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei“ (GMS BA 73). Dies scheint auch der Grund, warum man im Naturrecht, insbesondere im Vçlkerrecht, nicht unbedingt nach den Ursprngen des Autonomiebegriffs suchen sollte. In der Tat findet er sich in den gngigen Vçlkerrechtsgeschichten (z. B. Grewe, 1988; Ziegler, 1994) gar nicht als Stichwort oder allenfalls erst in Verbindung mit Entwicklungen nach der Grndung der UNO. Der im Vçlkerrecht noch immer erheblich wichtigere Begriff ist jener der Souvernitt. Bei Kant erweist sich allerdings die Autonomie angesichts des immer wieder betonten „inneren Zwangs“, welchen das moralische Gesetz ber
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uns ausbt, als deutlich verschieden von dem, was man im alltglichen Verstand und in der neueren philosophischen Diskussion unter freier Selbstbestimmung zu verstehen geneigt ist, selbst wenn man sie nicht in der angesprochenen Form als Freiheit des Beliebens ansieht. Das Sittengesetz, dem wir vermçge dieser Selbstgesetzgebung unterworfen sind, ist nach der berhmten Formulierung in der Kritik der praktischen Vernunft eben ein „Factum der Vernunft“, dem wir uns zu beugen haben. Ich werde – nach der Exposition eines Problems, das mir hier zu entstehen scheint – zu zeigen versuchen, daß eine bestimmte Interpretation der Rede vom Faktum der Vernunft uns einen Teil der Selbstbestimmung als Akteure bei der Formulierung des Sittengesetzes zurckgibt. Diese Interpretation wird durch die Art, wie Kant den Terminus verwendet, zwar nicht gerade durchgngig gesttzt. Sie scheint mir als Interpretation gerade fr unseren heutigen Umgang mit der Ethik Kants jedoch auch nicht abwegig und systematisch fruchtbar. I. Moralische Autonomie und Sittengesetz Bei Kant ist demnach die Autonomie, ganz gemß der Wortbedeutung, untrennbar verbunden mit dem Begriff des moralischen Gesetzes: „Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu whlen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen sein.“ (GMS BA 87). Dieses moralische Gesetz unterscheidet sich in dem fr unseren Kontext relevanten Punkt zunchst dadurch von den meisten anderen Gesetzen, daß man ihm als vernnftiges Wesen nicht nur unterworfen ist, sondern zugleich als Gesetzgeber im sogenannten Reich der Zwecke und darber hinaus als Bercksichtigter auftritt, insofern man als Vernunftwesen von allen anderen Vernunftwesen niemals bloß als Mittel, sondern stets auch als Zweck an sich selbst angesehen werden soll. Kant hebt hervor, daß jedes vernnftige Wesen, als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend msse ansehen kçnnen, weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet, imgleichen, daß dieses seine Wrde (Prrogativ) vor allen bloßen Naturwesen mit sich bringe. (GMS BA 83)
Diese Gleichsetzung all derer, von denen man moralisches Verhalten erwartet, weil man ihnen als Vernunftwesen ihre Taten zurechnen kann, wie es dann in der Metaphysik der Sitten heißt (MS AB 22), mit denen,
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die einen absoluten Anspruch auf Bercksichtung als Zweck an sich selbst besitzen, als Personen und nicht bloß als Sachen, stellt ein bis dato wohl unerreichtes Maß an Gleichheit der Menschen in moralischen Fragen her. Ob sich der Kreis der moralisch Bercksichtigungsfhigen heute um weitere „Schutzgenossen“ erweitern lßt, etwa um manche Tiere, wie gelegentlich gefordert, kann hier nicht erwogen werden. Der dem „Begriff eines jeden vernnftigen Wesens […] anhngende“ (GMS BA 74) Begriff eines Reichs der Zwecke, quasi die moralische Republik der Vernunftwesen, worin alle Vernunftwesen allgemeine Gesetze fr alle Vernunftwesen beschließen, durch die v. a. alle Vernunftwesen bercksichtigt werden, lßt sich unschwer als Internalisierung der volont gnrale Rousseaus identifizieren, nur daß kein begrenzter corps politique, sondern die Gemeinschaft aller Vernunftwesen teilhat (ber den Einfluß Rousseaus vgl. z. B. Schneewind, 1998, 487 ff.). Allerdings ist das Ziel der Allgemeinheit dieser Gesetzgebung nicht der Interessenausgleich oder die bloße Vermeidung des berwiegens eines partikulren Interesses gegenber dem Allgemeininteresse, an dem die einzelnen teilhaben. Die Frage, ob die Maxime des Wollens Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann, gewhrt uns dem Anspruch nach ein einfaches Testverfahren, das etwa im Falle der Lge durch die Selbstwidersprchlichkeit derartig verallgemeinerter Maximen ihre moralische Untauglichkeit erweist. Wie erfolgreich dies geschieht, muß uns im Augenblick nicht interessieren, es geht im Moment darum, daß die Interessen, auch die langfristigen Interessen des Handelnden, generell dessen Glck und berhaupt die erwarteten Folgen fr die moralische Richtigkeit einer Handlung keine Rolle spielen. Fr die moralische Richtigkeit einer Handlung dient als einziges Kriterium – und zwar sowohl als Beurteilungsinstanz wie als Ausfhrungsmotiv – die bereinstimmung mit dem Sittengesetz. Angesichts unserer Unkenntnis ber den Verlauf der Welt, wre es, so Kant, unangemessen, die Frage nach der Richtigkeit unserer Handlungen an ihren erwarteten Folgen festzumachen. Whrend „was Pflicht sei, sich jedermann von selbst darbiete, sei, was wahren, dauerhaften Vorteil bringe, „in undurchdringliches Dunkel gehllt“ (KpV A 65). Glck strebt zudem ein jeder sowieso an, daher wre es unsinnig, es zum Gegenstand einer moralischen Forderung zu erheben (KpV A 65) – als ob das jemals jemand getan htte –, außerdem ist der Begriff der Glckseligkeit zu unbestimmt, individuenbezogen und zufllig (KpV A 46), um Gegenstand moralischer Erwgungen zu sein. Zwar ist es durchaus Pflicht, die eigene Glckseligkeit zu fçrdern. Doch soll man dies tun, um die Ver-
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suchung zu unmoralischem Handeln zu minimieren, nicht etwa, weil Glckseligkeit fr sich etwas ist, was erstrebenswert wre. Somit hat uns der von Kant benutzte Begriff der Autonomie dahin gefhrt, daß er gleichbedeutend ist mit der Unterordnung unter ein moralisches Gesetz, als dessen Urheber wir uns als Vernunftwesen zwar anzusehen berechtigt sind, dem wir aber auch unbedingt, ohne Einschrnkung und ohne Vorbedingung Folge zu leisten haben, ohne Rcksicht darauf, ob uns das beliebt, ganz besonders ohne Rcksicht darauf, ob es langfristig unsere Glckseligkeit befçrdert. Das Prinzip der eigenen Glckseligkeit ist sogar „am meisten verwerflich, […] weil es der Sittlichkeit Triebfedern unterlegt, die es eher untergraben und ihre ganze Erhabenheit zernichten“ (GMS BA 90). Doch damit nicht genug, das moralische Gesetz wirkt sich erklrtermaßen nachgerade repressiv auf uns aus, in dem es unseren „Eigendnkel“ schwcht, ja sogar „niederschlgt“ (KpV A 130). Kant wird gar nicht mde, hervorzuheben, wie sehr uns die praktische Vernunft durch ihre moralischen Gesetze erniedrigt: „Also demtigt das moralische Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indem dieser mit demselben den sinnlichen Hang der Natur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung, als Bestimmungsgrund unseres Willens, uns in unserem Selbstbewußtsein demtigt, erweckt, so fern als es positiv und Bestimmungsgrund ist, fr sich Achtung“ (KpV A 132). Achtung war bekanntlich das moralische Gefhl, welches „lediglich durch Vernunft bewirkt“ ist (KpV A 136) und „so wenig ein Gefhl der Lust, daß man sich ihm in Ansehung eines Menschen nur ungern berlßt“, eben aufgrund jener demtigenden Wirkung (KpV A 137). Unser Wille nun, als Begehrungsvermçgen der Vernunft, der uns das alles antut, um ein guter Wille zu sein, der damit bekanntlich das einzig Denkbare ist „in der Welt, ja berhaupt auch außer derselben […], was ohne Einschrnkung fr gut kçnnte gehalten werden“ (GMS BA 1), ist in eigenartiger Weise abgelçst von allen anderen unserer kçrperlichen und seelischen Vermçgen und Streben. Gerade dadurch wird seine Freiheit ermçglicht, seine Fhigkeit zu einer eigenen Art von Kausalitt, eben zur „Kausalitt durch Freiheit“ (KpV A 83), die unabhngig ist von fremden, sie bestimmenden Ursachen: „was kann denn wohl die Freiheit des Willens sonst sein als Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst Gesetz zu sein“ (GMS BA 97). In Abwandlung eines Dichterwortes: Und wenn ich will, dann will nur ein Teil von mir […] jedenfalls dann, wenn mein Wille ein guter Wille ist, andernfalls ist er „pathologisch infiziert“ (KpV A 36).
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Beim Handeln aus Pflicht bezieht die Vernunft die Maxime des Willens allein „aus der Idee der Wrde eines vernnftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich sich selbst gibt“ (GMS BA 76 f.). Die Neigungen dagegen, „als Quellen der Bedrfnis, haben so wenig einen eigenen Wert, […] daß […] gnzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch eines jeden vernnftigen Wesens sein muß“ (GMS BA 65). Das gilt brigens nicht nur dann, wenn wir Verwerfliches erstreben. Gegenber der Neigung beweist Kant generell eine tiefe Ab-Neigung: „Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht“ (KpV A 214). Dies gilt fr jede Neigung, selbst fr die zum tugendhaften Leben und zur Kultivierung der verfeinertsten geistigen Fhigkeiten. Kant erkennt ausdrcklich an, daß beides Vergngen bereiten kann, bestreitet jedoch nachdrcklich einen kategorialen Unterschied zur kçrperlichen Lust. Er lobt in diesem Zusammenhang Epikur fr seine philosophische Konsequenz und bestreitet nachhaltig den von Mill spter so hervorgehobenen qualitativen Unterschied zwischen geistigen und kçrperlichen Freuden, obwohl er – quasi wie Bentham – sofort zugesteht, daß die geistigen Freuden dauerhafter sind, mehr in unserer Macht stehen „und, indem sie ergçtzen, zugleich kultivieren“ (KpV A 43). Alle, die daraus aber eine vom Sinn getrennte Art der Willensbestimmung machen wollen, vergleicht Kant mit jenen Unwissenden, „die gerne in der Metaphysik pfuschern“ und meinen, wenn sie sich die Materie ganz fein dchten, „so berfein, daß sie selbst darber schwindlig werden mçchten“ (ebd.), kmen sie bei etwas Geistigem heraus. Solange man die Verbindungen zur Glckseligkeit – und sei es zur Glckseligkeit durch Tugend und geistige Freuden – nicht vollstndig lçst und reine Vernunft durch die bloße Form der Willensbestimmung nicht selbst praktisch wird, kann es daher kein oberes Begehrungsvermçgen geben (KpV A 44).2 Es deutet sich also an, auf welchen Prmissen die Annahme einer praktisch werdenden reinen Vernunft beruht: auf der eines ontologischen Hiatus zwischen Materie und Geist, die Kant spter vielleicht selbst nicht mehr in dieser Hrte aufrecht erhalten mçchte, und der Vorstellung, daß zwischen dem praktisch Werden der reinen Vernunft, wodurch sich die Autonomie definiert und jeder anderen Bestimmungsform der Willkr 2
Die von der Akademie-Ausgabe vorgenommene Text-Konjektur, die Ergnzung von „oberes“ in: „es gibt also entweder gar kein Begehrungsvermçgen oder reine Vernunft muß fr sich allein praktisch sein“ (A 44) scheint mir evident, zumal sie mit der Formulierung der Folgerung aus Lehrsatz II bereinstimmt (A 41).
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eine unberwindliche psychologische Schranke liegt. Diese theoretischen Prmissen, im ethischen Kontext Risiken und Nebenwirkungen der erklrten methodischen Zielsetzung, alles Anthropologische aus der Ethik zu entfernen, werde ich im Moment nicht nher betrachten.3 Mir geht es um die praktische Frage: Warum sollen wir uns das eigentlich antun? Warum sollen wir in diesem Sinne autonom sein, warum moralisch sein? II. Warum moralisch sein? Allerdings behauptet Kant an diesem Punkt der Entwicklung seiner Gedanken auch gar nicht, beweisen zu kçnnen, daß es „praktische Stze gbe, die kategorisch gebçten“ (GMS BA 71), er stellt lediglich dar, wie diese auszusehen htten, wenn es sie gbe. Warum sollten wir dann annehmen, daß es sie gibt? Kant selbst stellt diese Frage mit aller Hrte und Konsequenz: „Warum aber soll ich mich diesem Prinzip unterwerfen und zwar als vernnftiges Wesen berhaupt, mithin auch alle andere mit Vernunft begabte Lebewesen?“ (GMS BA 102). Kant versucht drei Wege, diese Frage zu beantworten, deren letzter fr uns relevant wird, dessen oftmals unterschtzte Relevanz jedoch m. E. nicht ohne die Probleme der beiden anderen deutlich wird. Den ersten Weg (vgl. dazu Schçnecker, 1999) findet man direkt im Anschluß an die gerade zitierte Frage Kants. Er erklrt den vermeintlichen oder tatschlichen Zirkel – „eine Art Zirkel“, wie er sagt –, der entsteht, wenn wir uns gegenber der Welt der Kausalitt als frei annehmen, um uns unter sittlichen Gesetzen und nicht unter Naturgesetzen stehend zu deuten, und dann behaupten, wir seien diesen Gesetzen unterworfen, weil wir frei seien und Freiheit nun einmal in der Autonomie, der Selbstgesetzgebung des Willens bestehe, durch einen Perspektivenwechsel (GMS BA 104 f.). Zum einen sind wir Mitglieder der Sinnen3
Herta Nagl-Docekal bezieht sich in ihrer Verteidigung der Kantischen Moralphilosophie gegen den Vorwurf der „Sinnenfeindlichkeit“ auf die in der Tat erheblich versçhnlichere Religionsschrift, in der sich der Unterschied zwischen gut und bçse daran festmacht, ob der Selbstliebe oder dem moralischen Gesetz der Vorrang eingerumt wird, wodurch das eine jeweils zur „obersten Bedingung“ des anderen wird; I. Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 36; Nagl-Docekal, 2003, 310. Die hier vorgenommenen berlegungen sollen dem nicht unbedingt widersprechen, jedoch darauf hinweisen, daß es die „demtigende“ Seite bei Kant zumindest auch gibt. Vgl. ber innere Notwendigkeit und Nçtigung durch das Sittengesetz Engstrom, 2002, 300 f.
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welt, wo wir stets nur zur Erkenntnis der Erscheinungen, nicht jedoch der Dinge an sich gelangen kçnnen, zum anderen unterscheidet sich der Mensch durch die Vernunft, die er „in sich findet, […] von allen anderen Dingen, ja von sich selbst, so fern er durch Gegenstnde affiziert wird“ (GMS BA 107 f.). Als vernnftiges Wesen nun „kann der Mensch die Kausalitt seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken“ (GMS BA 109), da diese wiederum durch Selbstgesetzgebung bestimmt ist, wird der kategorische Imperativ mçglich. Man kçnnte also sagen, daß ein Begehren entweder mein Wille ist, dann ist es aus Prinzip nicht gut, oder es ist ein guter Wille, dann ist er vom „lieben Selbst“, also von mir nicht affiziert. Das Problem bleibt dabei, daß einmal vorausgesetzt werden muß, daß der Mensch in sich Vernunft vorfindet, vor allem aber wird damit nach Kants Einschtzung nicht klar, „wie reine Vernunft praktisch werden kçnne“ (GMS BA 125), wozu denn auch menschliche Vernunft „gnzlich unvermçgend“ ist (GMS BA 125, 128; vgl. Schçnecker, 1999, 131). Letztlich, so sei in bewußter Verkrzung festgehalten, wird eben auch hier ein Faktum konstatiert. Ein Weg, auf dem uns ein Motiv zur Befolgung des Sittengesetzes erwachsen kçnnte, ist die besondere Konzeption des hçchsten Gutes als eines notwendigen Objekts der praktischen Vernunft, wie sie sich in der Postulatenlehre findet, die aus dem Vernunftbedrfnis, die Glckswrdigkeit und die Glckseligkeit zusammendenken zu kçnnen, entsteht. Darin, daß die Unsterblichkeit der Seele Hoffnung auf moralische Vervollkommnung ermçglicht und die Existenz eines von der praktischen Vernunft als allwissend und allmchtig bestimmten (KpV A 252) Gottes Hoffnung auf eine der Glckswrdigkeit entsprechende Glckseligkeit gewhrt (KpV A 234), sieht Kant die berlegenheit der Lehre des Christentums gegenber den Ethiken der Epikurer und der Stoiker. Erstere hatten die Ethik flschlicherweise an der Glckseligkeit festgemacht, waren darin aber wenigstens konsequent, letztere vernachlssigten durch die Identifikation von Tugend und Glckseligkeit die „Stimme ihrer eigenen Natur“ (KpV A 228 ff.). Kant weiß, denke ich, auch, warum er hinzufgt, diese christliche Lehre sei „noch nicht als Religionslehre betrachtet“ (KpV A 229). Allem Anschein nach ist der in der Kritik der praktischen Vernunft postulierte Gott deutlich verschieden von dem aus einem Teil der Offenbarung bekannten, dem Kant in der Grundlegungsschrift bescheinigt hatte, daß „der uns noch brige Begriff seines Willens aus den Eigenschaften der Ehr- und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht
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und des Racheeifers verbunden, zu einem System der Sitten, welches der Moralitt gerade entgegengesetzt wre, die Grundlage machen mßten“ (GMS BA92). Es ist also eher nicht der Gott Abrahams, der das Opfer des Sohnes fordert und der Gott Hiobs, der seinen Knecht aufgrund einer Wette ins Verderben strzt und der sich im ersten Gebot des Dekalogs offen zu seiner Eifersucht bekennt. Die Art, wie Kant den christlichen Gott zumindest in der Kritik der praktischen Vernunft konstruiert, als Urheber der Natur (KpV A 226), der uns den unverzichtbaren Grund zur Hoffnung auf Glckseligkeit gibt, „in dem Maße […], als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nicht unwrdig zu sein“ (KpV A 234), gert zumindest fr den theologischen Laien auch aus christlicher Sicht in bedenkliche Nhe zu pelagianischer Hresie, da sie die Bedeutung von Gottes Gnade weitgehend unterschlgt. Die von Kant selbst ohne Umschweife als „subjektiv“ bestimmte moralische Notwendigkeit dieses „Vernunftglaubens“ (KpV A 226 f.) erweist sich damit als kaum mehr denn die Notwendigkeit, durch besagte Hoffnung die Furcht vor der Sinnlosigkeit moralischen Verhaltens fernzuhalten. Kants These, wonach „unsere Vernunft“ nicht anders kann, als Sittlichkeit mit dieser Konzeption des hçchsten Gutes als ihrem Objekt zu verknpfen und daher auch mit dem „Dasein“ einer „hçchsten Intelligenz“ zu denken (ebd.), erscheint heute in dieser Allgemeinheit bezweifelbar. Allemal ist fr ihn die Postulatenlehre, insbesondere „die Annehmung des Daseins Gottes“ nicht der Grund fr die Verbindlichkeit des Sittengesetzes, dieser „beruht lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst“ (ebd.), so daß wir bei der Frage, warum man moralisch sein solle, wieder auf diese zurckverwiesen sind. Hierzu erfahren wir dann im Lehrsatz IV der Kritik der praktischen Vernunft (§8), daß das moralische Gesetz nichts anderes ausdrckt als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft (KpV A 59). Zuvor haben wir in der Anmerkung zum § 7 erfahren, daß man das Bewußtsein des Grundgesetzes der praktischen Vernunft und auch das Gesetz selbst, also: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kçnne“ ein „Faktum der Vernunft“ nennen kçnne, und zwar ihr einziges (KpV A 54 ff.). Es ist eben so, daß wir auf diese Weise zu handeln haben, scheint dies zu bedeuten, weitere Herleitungen sind nicht mçglich und/oder nicht nçtig. Wir haben, wenn wir unsere bisherigen Resultate zusammenfassen, als Kants Angelpunkt des Autonomiebegriffs das moralische Gesetz ermittelt, welches uns kategorisch, uneingeschrnkt gebietet, uns nçtigt, demtigt, inneren Zwang antut, das uns in seiner formalen Bestimmtheit
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schlicht vorgegeben ist, vermittelt durch eine praktische Vernunft, die von unseren Hoffnungen, Wnschen, Befrchtungen – alles „pathologisch“ – kategorial abgetrennt ist und die dieses Gesetz schlicht vorfindet. So unbedingt aber das moralische Gesetz befiehlt, so wenig wissen wir jemals, ob wir ihm gengen, ob wir aus Pflicht gehandelt haben oder ob uns nicht „das liebe Selbst“ (GMS BA 27) wieder einen Streich gespielt hat. Nun haben wir auch noch erfahren, daß als einziger Grund, warum wir dem Befehl des moralischen Gesetzes folgen sollen, das Faktum – um seiner Erhabenheit willen sollte man es wohl nicht „factum brutum“ nennen – seiner Vorhandenheit in unserem Bewußtsein gelten kann. Wenn man aber erst durch den inneren Zwang gegen „das liebe Selbst“ autonom wird, wie es heißt, wie soll man sich denn dann selbstbestimmt fhlen? Tritt nicht an die Stelle der aussichtslosen Suche aufrechter Protestanten nach dem eigenen gndigen Gott, der sich als eben solcher die Entscheidung ber die Gnade vorbehlt, eine noch ungndigere Vernunft, die dem Menschen, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, jede Freude am Leben mit dem eisernen Ruf zur Pflicht austreibt, „zernichtet“? Schlimmer steht es noch um den, dessen Maxime nach Kants berzeugung nicht mit dem Sittengesetz bereinstimmt, der sich etwa das vermeinte Recht, aus Menschenliebe zu lgen, herausnimmt. Er muß schlicht als unvernnftig und unfrei gelten. Verliert so nicht diese Art von Autonomie zumindest heute jede intuitive Plausibilitt, wird sie nicht eine verinnerlichte Parallele zu Rousseaus Ansicht, der zur Galeere verurteilte Strfling werde gerade dadurch frei, daß mit der Galeerenstrafe sein in der volont gnrale enthaltener Wille an seinen falschen berzeugungen und Begierden vollstreckt wird (contrat social I.7, IV.2n.)? Damit wre eine weitgehende Entkoppelung von moralischer Autonomie und Selbstbestimmung tatschlich naheliegend, da angesichts der Erniedrigung und Nçtigung durch das Sittengesetz kaum noch emphatisch von Selbstbestimmung gesprochen werden kann. Allerdings wre es meiner Ansicht nach falsch, dieses dstere Bild rundweg mit Kants Ethik zu identifizieren. Gerade die zunchst etwas eigenartige und von den Kommentatorinnen und Kommentatoren heftig kritisierte, aber auch oft verteidigte4 Behauptung, das sei eben ein „Faktum der Vernunft“, kçnnte dazu einen Hinweis geben. 4
Z.B. Henrich, 1973; Bittner, 1983, 138 ff.; Ameriks, 2000, 70 ff.. O’Neill (O’Neill, 2002a, 88 f.) zweifelt dagegen daran, daß es Kant berhaupt um eine Begrndung geht.
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III. Was ist ein Faktum der Vernunft? Was kçnnte mit dem etwas eigenartigen Ausdruck „Faktum der Vernunft“ gemeint sein? Nun, umgangssprachlich scheint es das Naheliegendste, wenn man den Genitiv in der Formel „Faktum der Vernunft“ als genitivus subjectivus liest, also als ein Faktum, das durch die Vernunft entsteht. Ein genitivus possessivus, welcher ein factum nahelegte, welches der Vernunft gehçrt, scheint ebenso unwahrscheinlich wie ein genitivus objectivus, welcher annimmt, die Vernunft wrde da gemacht. Auch ein genitivus partitivus wie bei der „Faust des Boxers“ oder der Empfindung, wie in „der Lohn der Angst“, kommt weniger in Frage. Die wohl bliche Lesart des kantischen Ausdrucks, das Faktum der Vernunft gemß der zweiten Wortbedeutung des lat. „factum“ im Sinne einer Tatsache zu deuten, welche die Vernunft vorfindet, htte zumindest nach heutigem Sprachgefhl den Nachteil, den Genitiv nicht unmittelbar aufgreifen zu kçnnen. Man mßte ihn als Verkrzung des mit einem Dativ gebildeten Relativsatzes: „Ein Faktum, welches der Vernunft gegeben ist“ interpretieren, was mir zumindest nicht selbstverstndlich erscheint. Allenfalls wre der Genitiv in „Faktum der Vernunft“ als Abkrzung eines Relativsatzes zu lesen, analog zu der „Tatsache des Bevçlkerungswachstums“ oder dem „Verdacht des Wahlbetrugs“. Doch ginge es da ja um das Faktum, daß wir vernnftig sind. So wird der Ausdruck in der Kritik der praktischen Vernunft zwar durchaus auch einmal gebraucht (KpV A 96), doch leuchtet nicht allen unmittelbar ein, daß damit auch schon die Notwendigkeit zur Befolgung des Sittengesetzes erklrt ist. Es kçnnte indessen mit dem Faktum der Vernunft eine Tat derselben gemeint sein, gemß der bersetzung des Wortes factum als „Tat“, etwa in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten (MS AB 22), generell im Kontext der Zurechnungslehre, wie er sich beispielsweise in der sog. Vigilantiusnachschrift findet.5 Eine „strukturelle Entsprechung“ dieser rechtlichen Begrifflichkeit mit der hier behandelten Problematik aus der Analytik der reinen praktischen Vernunft „behauptet“ Manfred Riedel (Riedel, 1989, 110) und wendet sich damit gegen eine wesentlich von 5
Vgl. MS AB 22: „Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkr betrachtet wird.“ Vgl. Vorlesungsnachschrift von Vigilantius, AA XXVII.2.1, 562, wo als Beispiel fr eine imputatio facti angefhrt wird: „Er hat mich beschimpft“, was wohl eher als Zurechung einer Tat, denn als Konstatieren einer Tatsache zu verstehen ist.
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Heidegger getragene Deutung als bloß Hinzunehmendes (Riedel, 1989, 103 unter Verweis auf Heidegger, 1982, 278 f., 187 ff.). Sollte dem so sein, oder sollte das Faktum der Vernunft etwas sein, das durch die Vernunft gemacht wird, dann wren wir uns des Grundgesetzes der reinen praktischen Vernunft schon deshalb bewußt, weil wir gemß einem Grundsatz der neuzeitlichen Wissenschaft, wie er etwa bei Hobbes formuliert wird, das erkennen kçnnen, was wir selbst gemacht haben (vgl. Hobbes, Vom Kçrper, Kap. I u. VI). Bei Vico wird der Grundsatz der Austauschbarkeit von verum und factum, von Wahrem und Gemachtem, dann aus der Geometrie und der Naturwissenschaft auf die Erkennbarkeit der menschlichen Geschichte und der menschlichen Gesetzgebung bertragen (vgl. Cacciatore, 2002, 43 ff.). Vico wird von Kant, so weit mir bekannt ist, zwar nicht erwhnt, doch ist der von Hobbes wiedergegebene Grundsatz natrlich in der Kritik der reinen Vernunft, generell in Kants theoretischer Philosophie prsent, wenn auch kaum je durch den Terminus „Faktum“ ausgedrckt. Wenn zweitens die besagtes Faktum hervorbringende praktische Vernunft keine in uns auffindbare, aber von unserem intentionalen Tun weitgehend unabhngige Instanz wre, sondern als das uns als empirischen Menschen eigene Vermçgen angesehen wrde, uns ber das Gute und das Rechte mit anderen Menschen diskursiv, den Gesetzen der Logik folgend, zu verstndigen: Dann wren es tatschlich wir, die das Gesetz der reinen praktischen Vernunft machten und ihm dann allerdings auch zu gehorchen htten. Wir wren nicht mehr die Befehlsempfnger einer erhabenen, uns aber letztlich fremden Autoritt, sondern wir kçnnten insbesondere bei der Anwendung des Grundgesetzes wesentlich mitentscheiden, wie das Prinzip der allgemeinen Gesetzgebung im jeweiligen Falle lauten mßte, mit dem wir die Maximen unseres Willens prfen kçnnten. Darber hinaus kçnnten wir sogar beginnen, ber Ausnahmen nachzudenken, wenn sich in einem konkreten Fall zwei einander widerstreitende Prinzipien formulieren ließen, eine Mçglichkeit, die Kant bekanntlich nicht ohne Weiteres akzeptiert. Mit einer derartigen Interpretation kmen wir einer strker vom Gedanken der Selbstbestimmung getragenen Worterklrung von Autonomie deutlich nher. Autonomie wre dabei so etwas wie die Mçglichkeit, ohne Zwang und Druck nach bestem Wissen und Gewissen gemß unseren moralischen berzeugungen selbst zu entscheiden und auch diese berzeugungen immer wieder einer ernsthaften Prfung zu unterziehen. ber die Analogie zum Gesetzgebungsverfahren mitsamt der Identifikation der Gesetzgeber mit den dem Gesetz Unterworfenen und den vom Gesetz Geschtzten htten wir
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einen Przisionsgewinn erzielt. Dadurch, daß wir bei der Anwendung dieser Gesetze unsere eigenen Situationseinschtzungen und Urteile heranziehen mssen, htte das Sittengesetz sehr wohl eine Verbindung zu unserem konkreten Leben. Wie Gertrud Nummer-Winkler jngst gezeigt hat, entspricht eine derartige „Ethik der freiwilligen Selbstbindung“ dem Ethikverstndnis, das sich in den letzten Jahrzehnten auch in breiteren Bevçlkerungsschichten in Deutschland (und wohl generell in grçßeren Teilen Europas) herausgebildet hat (Nummer-Winkler, 2003). Eine von vielen Kant-Kennern gerne benutzte Antwort-Strategie auf derartige Interpretationsanlufe lautet: „Das wre vielleicht schçn so, aber es ist nicht Kant.“ Und sie haben damit auch zunchst einmal Recht. Wenn man die elf Vorkommen des Wortes „Faktum“ in der Kritik der praktischen Vernunft, die allesamt um das hier diskutierte Problem des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft kreisen, also zum Explanandum gehçren, einmal ausklammert, so spricht Kant an verschiedenen Stellen seiner Werke von „Faktum“ mehr oder minder selbstverstndlich sowohl in der Bedeutung von „Tat“ wie in der von „Tatsache“ und verlßt sich offenbar selbstverstndlich darauf, daß der Leser weiß, in welchem Sinne es hier gemeint ist. Im Anhang erluternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgrnden der Rechtslehre (MS B 185) taucht beides auf einer Seite beinahe nebeneinander auf.6 Die Entscheidung zugunsten der Interpretation des Faktums der Vernunft als „Tatsache“ scheint in der Kritik der praktischen Vernunft dann aufgrund zweier Textpassagen aus anderen Schriften zu fallen: Laut der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten ist „Gewissen […] die dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft […] also eine unausbleibliche Thatsache, nicht Obliegenheit und Pflicht“ (AA VI 400). Gemß der Kritik der Urteilskraft wiederum „ findet sich sogar eine Vernunftidee […] unter den Thatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realitt als einer besondern Art von Causalitt […] sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung darthun lßt.“ (AA V 468). Auch 6
MS B 185: „[…] dieses Prinzip, welches ein Faktum (die Bemchtigung) als Bedingung dem Recht zugrunde legt“ wird zunchst erlutert: „Ein jedes Faktum (Tatsache) ist Gegenstand in der Erscheinung der Sinne“, kurz darauf jedoch heißt es: Unbedingte Unterwerfung des Volkswillens….unter einem souvernen… Willen, ist Tat, die nur durch Bemchtigung der obersten Gewalt anheben kann, und so zuerst ein çffentliches Recht begrndet“ (MS B 187). Offenbar ist das Faktum der Bemchtigung eben doch zumindest auch als Tat zu verstehen.
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wenn es sich hier um „wirkliche“ Handlungen in der Erfahrung, also in Raum und Zeit bzw. um psychische Zustnde in der Zeit handelt, kann man wohl davon ausgehen, daß es sich beim Faktum der reinen Vernunft nicht viel anders verhlt. Ferner kçnnte man hinzufgen, daß wir im Falle, daß wir das Sittengesetz machen, wiederum neue Grnde bruchten, warum dieses die angegebene moralische Struktur haben sollte. Wir wren also dabei angekommen, daß es sich beim Faktum der Vernunft doch um eine von der Vernunft vorgefundene Tatsache, vielleicht gar so etwas wie eine „Offenbarung“ (Riedel, 1989, 113) handelt. Und doch scheint mir die Lage etwas differenzierter. Sehen wir uns etwa die genannte Passage aus der Kritik der praktischen Vernunft an, in welcher diese Redewendung zweimal auftaucht, gewissermaßen eingefhrt wird: Man kann das Bewußtsein dieses Grundgesetzes (der reinen praktischen Vernunft, M.K.) ein Faktum der Vernunft nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernnfteln kann, sondern weil es sich fr sich selbst aufdringt als synthetischer Satz a priori, […] Doch muß man, um dieses Gesetz ohne Mißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken: daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprnglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankndigt. (A 55 f.).
Soll nun aus der Feststellung dieses Faktums, welches die Grundlage unserer moralischen Verpflichtung ist, kein naturalistischer Fehlschluß werden – weil es eben so ist, soll es auch so sein –, so mssen wir annehmen, daß Kant auch hier mit zwei Perspektiven arbeitet, die eng ineinander verschlungen sind: Eine externe, in welcher er feststellt, daß es ein Bewußtsein des Sittengesetzes gibt,7 und eine interne, in der wir seine Verbindlichkeit annehmen. Ob dies die beiden Perspektiven aus der „Art Zirkel“ der Grundlegungsschrift in verwandelter Form wieder aufgreift – das Bewußtsein des Grundgesetzes und diejenigen, denen es sich aufdrngt, mssen ja mehr oder minder in Raum und Zeit bestehen, das Gesetz selbst jedoch bleibt rein intelligibel und normativ, als Befehl der reinen praktischen Vernunft – erscheint nicht eindeutig. Um so wichtiger wird die Frage: Wer oder was ist diese Vernunft und wie befiehlt sie? Wie also wird sie praktisch ttig? Eine gewisse Ambivalenz in der Deutung des Faktums der Vernunft scheint demnach zu bleiben. 7
Auch Onora O’Neill weist darauf hin, daß an dieser Stelle zunchst einmal das Bewußtsein des Sittengesetzes, nicht das Gesetz selbst als Faktum der Vernunft bezeichnet wird (O’Neill, 2002, 89).
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Einen ersten Hinweis gibt die an das Zitat anschließende „Folgerung“: „Reine Vernunft ist fr sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen“ (KpV A 56). Vom internen Standpunkt schließt sich hier die Frage an, was die Vernunft zur legitimen Gesetzgeberin macht. Die rumliche Metapher allein, daß da etwas „in“ uns sei, was den anderen Vermçgen, die auch „in“ uns sind, zu gebieten habe, beweist gar nichts. Es mag auf den ersten Blick berraschen, doch eine Antwort darauf, die zugleich unsere zweite Prmisse betrifft, die Vernunft msse mit unserem Vermçgen in Verbindung stehen, uns als tatschlich lebende Menschen ber moralische Fragen zu verstndigen, findet sich just im Kontext des Faktums der Vernunft. Nachdem Kant nmlich die genannte „Folgerung“ gezogen hat, merkt er an: „Das vorher genannte Faktum ist unleugbar. Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen ber die Gesetzmßigkeiten ihrer Handlungen fllen“ (KpV A 56; vgl. GMS BA 88). Nachdem er dann in Kurzform die eben dargelegte Begrifflichkeit entwickelt und noch festgestellt hat, daß die in der „allergenugsamsten Intelligenz“ anzunehmende „Heiligkeit des Willens“ uns „zum Urbilde dienen“ und uns zum „bestndigen Fortschreiten“ hin zur Tugend gemahnen mçge, stellt er fest, daß „praktische Vernunft […] wenigstens als natrlich erworbenes Vermçgen nie vollendet sein kann“ (KpV A 57 f.). Praktische Vernunft kann somit zumindest auch als „natrlich erworbenes Vermçgen“, somit als eine Fhigkeit tatschlich lebender Menschen angesehen werden, nicht nur als etwas, das auch ohne diese Menschen in einem Ideenhimmel schwebt, woran sie vielleicht etwas teilhaben drfen, wie manche Interpreten nahezulegen scheinen. Kant zieht seine Formulierungen und Bedingungen des Sittengesetzes also explizit aus dem Alltagsverstand, bzw. wie man nach dem immer noch nicht ganz revidierten linguistic turn sagen wrde, aus der Umgangssprache. Es geht ihm immer wieder darum, was wir meinen, wenn wir moralisch urteilen. Die praktische Vernunft, die beim moralischen Urteilen ttig wird, ist zumindest auch ein natrliches Vermçgen wirklicher Menschen, wie wir feststellten. Manche unserer normativen Stze, so kçnnte man seine These der Unbedingtheit moralischer Forderungen vielleicht andeutungsweise rekonstruieren, enthalten irreduzibel moralische, nicht auf Klugheitserwgungen reduzible Elemente. Wir kçnnen also die auf Tatsachen bezogene, faktische Komponente seines Faktums der Vernunft „metaethisch“ durch Verweis auf das Vorhandensein derartiger Stze rekonstruieren oder wir kçnnen „metaethische“ Aussagen ber gewisse, unverzichtbar moralische Strukturelemente des praktischen
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Diskurses machen. In dem Moment, wo sie etwas begrnden sollen, werden sie natrlich wieder zu ethischen Behauptungen. Nur wissen wir heute, daß es unterschiedliche Alltage, unterschiedliche Umgangssprachen gibt, daß grundlegende Intuitionen ber das moralisch Richtige und Falsche kulturellen, religiçsen, vielleicht auch geschlechtsspezifischen Schwankungen unterworfen sind. Hier hat nun vernnftige Argumentation tatschlich die grçßten Chancen, den auf diese Weise und durch individuelle, vorbergehende Befindlichkeiten verursachten Beschrnkungen des Urteilsvermçgens ein Stck weit zu entkommen. Fr die durch das Faktum der Vernunft behauptete Unentrinnbarkeit des Sittengesetzes kçnnte es Hinweise geben wie die interkulturelle Verbreitung derartiger moralischer Strukturelemente oder auch die pragmatischen Probleme, in die man gert, wenn man sein Recht einfordern wollte, von moralischen Forderungen unbehelligt zu bleiben, was ja wiederum eine moralische Forderung wre. Ob es Kant gelungen ist, fr die genannten moralischen Strukturelemente normativer Diskurse in verschiedenen Kulturen die universell gltige Formel zu finden, mag bezweifelbar sein, daß er zentralen Elementen dieser Diskurse eine heute noch fr Viele einleuchtende Formulierung gegeben hat, zeigt sich an den Erfolgen seiner Ausdrucksweisen in den weltweit im Anschluß an Autoren wie Rawls und in der Menschenrechtsfrage gefhrten Diskussionen. Auf Rawls wurde hier nicht zufllig verwiesen. Gilt ihm doch in seinen Vorlesungen zur Geschichte der praktischen Philosophie gerade Kants Umgang mit dem Faktum der Vernunft, insbesondere im Kontext der Zurckweisung jeder Deduktion (KpV AA 46 f.), als Hinweis darauf, daß Kant „zur Zeit der Arbeit an der zweiten Kritik nicht nur eine konstruktivistische Auffassung der praktischen Vernunft, sondern auch eine kohrentistische Erklrung des Verfahrens ihrer Beglaubigung entwickelt“ habe (Rawls, 2002, 352). Es ist, in anderer Redeweise, unser durch logische Kriterien kontrollierter Diskurs um praktische Fragen, in dem sich unter anderem als Kriterium der Moralitt herausbildet, daß man notfalls auch ohne jeden Lohn fr das Glck im Diesseits und Jenseits das moralisch Richtige zu tun habe. Offenbar ist man dann der Auffassung, hier gebe es so etwas wie Evidenz. Wir sind auf eine derartige Interpretation der reinen praktischen Vernunft als idealisierte Form des normativen Diskurses, die dann der Ausfhrung, Diversifizierung und immer neuen kritischen Befragung in faktischen Diskussionen ausgesetzt ist, angewiesen, wenn es um die Anwendung des Sittengesetzes geht, um die richtige Formulierung der
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Maxime, um die angemessene Interpretation im Einzelfall. So vehement Kant in verschiedenen Kontexten die Metapher eines Gerichtshofes der Vernunft bemht, so wenig erklrt er uns in der Kritik der praktischen Vernunft, wie dieser bei der Auslegung des Sittengesetzes vorzugehen habe. Kant scheint trotz seiner auch von vielen Juristen bewunderten Rezeption der vernunftrechtlichen Diskussion seiner Zeit weitgehend in der kontinentaleuropischen berzeugung des achtzehnten Jahrhunderts verhaftet, Rechtsanwendung sei bloße Subsumtion des Einzelfalls unter den Gesetzestext. Von „Auslegung“, „Interpretation“, „Deutung“ ist jedoch, soweit mir bekannt ist, primr im Zusammenhang mit der biblischen Offenbarung oder auch dem Benehmen anderer Menschen die Rede, nicht aber bei Gesetzen. Diese Einstellung teilt man heute kaum noch. Ronald Dworkin vertritt sogar die Ansicht, Recht sei gerade das Resultat kreativer Interpretation aus dem Gesetzestext und den anderen Rechtsquellen (Dworkin, 1986). Die Methodenlehre der reinen praktischen Vernunft befaßt sich jedoch ausdrcklich nicht mit der wissenschaftlichen Erkenntnis der praktischen Grundstze, sondern mit der Art, „wie man den Gesetzen der reinen praktischen Vernunft Eingang in das menschliche Gemt […] verschaffen […] kçnne“ (KpV A 269). Der von Kant und vor allem von seinen Interpreten immer wieder bemhte Verweis auf die Urteilskraft trgt nicht sehr viel aus, weil Kraft ohne die geeigneten Hebel ihrer Anwendung wenig bewirkt. Und Kants „Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wrest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen mçglich, ansehen kçnntest.“ (KpV A 122). Es bedarf keiner prophetischen Gaben, um vorherzusagen, daß verschiedene Menschen sich hier sehr verschiedene Antworten geben. Wichtig wre es also, die reine praktische Vernunft wie ihre Umsetzung durch die Urteilskraft als çffentliche Veranstaltung einer rationalen, der steten Revision unterworfenen Diskussion anzusehen. Durch diesen Rckverweis an die çffentliche Rede ber normative Forderungen wird aber noch nicht geklrt, welches Motiv ich haben kçnnte, den moralischen Forderungen auch dann nachzukommen, wenn niemand meine bertretung bemerken wrde. Die Hoffnung auf das hçchste Gut, wie sie Kants Postulatenlehre bietet, hatte ich oben als allgemeines Vernunftbedrfnis bezweifelt, da es an die Annahme, bei Kant muß man fast sagen, Konstruktion hçherer Wahrheiten geknpft ist, die nicht von allen vertreten werden; doch gibt es keinerlei Grund, jeman-
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dem diese Hoffnung nehmen oder gar verbieten zu wollen. Allerdings muß sie als Motiv fr moralisches Handeln vielleicht ergnzt werden durch andere Formen der Hoffnung, die den Menschen befhigen, notfalls nicht nur gegen das momentane, sondern auch das langfristige eigene Wohlergehen aus moralischen Grnden Entscheidungen zu treffen. Man muß diese Hoffnung wohl auf die breitere Basis stellen, auf der sie sich seit jeher befand, ehe sie durch die christliche Interpretation zur Hoffnung auf jenseitiges Wohlergehen verengt wurde, auch wenn das Erhoffte dann vielleicht deutlich weniger erhaben ist. In der Antike und teilweise in der Renaissance gab es die Hoffnung auf unsterblichen Ruhm, welche die Menschen Opfer bringen ließ. Vielleicht ist es heute fr manche Menschen die Hoffnung, zu einer in Zukunft lebenswerteren Welt, damit auch zum Glck der eigenen Kinder beitragen zu kçnnen, vielleicht die Hoffnung auf ein – auch nach moralischen Maßstben – gelingendes, nicht unbedingt freudvolles Leben. Dies scheint ja auch Mills Botschaft, die er in dem Satz pointiert, es sei besser ein unglcklicher Sokrates zu sein als ein zufriedener Narr, nicht eine bloße Kultivierung des Genußlebens, welche ein eingefleischter Kantianer daraus machen kçnnte. Dies widerspricht der hier gegebenen Interpretation des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft im Sinne relativ konstanter Strukturelemente des von Menschen gefhrten praktischen Diskurses keineswegs, fgt nur dem in der Tat bei den meisten Menschen beobachtbaren Wunsch nach Teilhabe an diesem Diskurs ein weiteres mçgliches Motiv hinzu und gibt der Postulatenlehre eine breitere Anbindung. Andererseits: Auch wenn man die Autonomie heute wesentlich lebensweltlicher interpretiert, bleibt doch die Suche nach einem Kriterium, wodurch sie sich von der bloßen Beliebigkeit und der mçglicherweise krankhaften, nicht nur im kantischen Sinne pathologischen Laune abhebt. Literatur Ameriks, Karl, 2000, Kant and the Fate of Autonomy, Cambridge. Betzler, Monika/Guckes, Barbara, 2001, Autonomes Handeln. Beitrge zur Philosophie von Harry G. Frankfurt, Berlin. Bittner, Rdiger, 1983, Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg/Mnchen. Cacciatore, Giuseppe, 2002, Metaphysik, Poesie und Geschichte. ber die Philosophie von Giambattista Vico, Berlin. Engstrom, Stephen, 2002, The Inner Freedom of Virtue, in: M. Timmons (Hrsg.), Kant’s Metaphysiscs of Morals, Oxford, 289 – 315.
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Kants Ethik und die Mçglichkeit des Altruismus (Thomas Nagel) Jrgen Stolzenberg We cannot evade our freedom. Thomas Nagel, The Last Word
Thomas Nagels erste selbstndige Monographie The Possibility of Altruism ist die Grundlegung einer Ethik.1 Hier bekennt Nagel sich gleich zu Beginn zu Kant, gegen Hobbes und Hume. Die in Aussicht gestellte Grundlegung einer ethischen Theorie, so Nagel, „resembles that of Kant in two respects“.2 Die erste Hinsicht betrifft das Problem der Motivation. Gegen Hobbes, der die Motivation fr moralisches Handeln aus dem Streben nach Selbsterhaltung ableitet und gegen Hume, fr den stets eine Neigung wie das Gefhl der Anteilnahme an Glck und Not anderer die Motivationsbasis fr moralisches Handeln darstellt, pldiert Nagel fr das, was man die Autonomie der moralischen Motivation nennen kann. Damit ist gemeint, daß die Motivation, moralisch zu handeln, nicht im Rekurs auf ein außermoralisches Gefhl oder Begehren begrndet werden kann. „The ethical motivation“, so lautet Nagels These, „can […] be understood only through ethics.“3 Eben dies, so Nagel, ist die Position Kants. Und in der Tat ist es fr Kant bekanntlich allein die Wahrheit des moralischen Anspruchs, aus der die Motivation, moralisch zu handeln, abzuleiten ist, und nicht ein in der menschlichen Natur gegrndetes moral-neutrales Gefhl oder Streben. Das bedeutet, daß es fr Kant wie fr Nagel eine spezifisch moralische Motivation gibt, die aus der moralischen Forderung selber und nicht aus moral-neutralen Faktoren begrndet werden kann. Wie eine solche Begrndung auszusehen hat, verspricht Nagel zu zeigen. 1
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Ich beziehe mich im folgenden auf Nagel, 1970 (dt.: Nagel, 1998; vgl. hier auch die z. T. kommentierten Literaturhinweise der Herausgeber, 209 ff.). Die jeweils angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die englische und die deutsche Ausgabe. Nagel, 1970, S. 13/24. Nagel, 1970, S. 11/22.
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Die zweite Hinsicht, in der Nagel eine hnlichkeit mit Kants ethischer Theorie sieht, betrifft die Verbindung zwischen einem bestimmten Selbstverstndnis der moralisch handelnden Person und ihrer Motivation. Fr Kant ist es bekanntlich die Freiheit als Autonomie, welche dem Selbstverstndnis der moralisch handelnden Person zugrunde liegt, und auf die auch Kants Motivationstheorie, die Theorie der Achtung fr das moralische Gesetz, bezogen ist. Fr Nagel ist es eine weniger schwergewichtige und weniger problematische, fast mçchte man sagen, schlichte, wenngleich, so Nagel, unabweisbare und fundamentale Weise der Selbstauffassung. Sie besteht darin, daß die handelnde Person sich selbst als lediglich ein Individuum bzw. nur eine Person unter einer Vielzahl von anderen Individuen bzw. Personen auffaßt.4 Damit, so muß es scheinen, fllt Nagels Anschluß an die Ethik Kants in systematischer Hinsicht eher bescheiden aus. Dieser Eindruck wird noch dadurch bestrkt, daß weder von Kants Motivationstheorie, noch von Kants Ethik im allgemeinen weiterhin mehr die Rede ist. Statt von einer hnlichkeit und Nhe wre daher wohl eher von einer ,entfernten Analogie‘ zur Kantischen Ethik zu sprechen, sofern Nagels Untersuchung sich bloß auf die Idee der Autonomie moralischer Motivation, aber nicht auf Kants Achtungstheorie und auch nicht auf das Fundament der Ethik Kants, das Prinzip der Freiheit als Autonomie, bezieht. Doch ist dies nicht Nagels letztes Wort geblieben. In The Last Word 5 gilt Nagels bisher letztes Wort in Sachen Ethik dem Problem der Willensfreiheit und Kants Lehre von der Autonomie. Beides sucht Nagel nun in den Zusammenhang der Argumentation, der fr seinen ersten Ethikentwurf grundlegend war, zu integrieren. Die der Kantischen Autonomie-Konzeption gegenber reduziert anmutende Beschreibung der Selbstauffassung des handelnden Subjekts als einer Person unter einer Vielzahl anderer Personen gewinnt hier eine berraschende Pointe dadurch, daß sie als strukturelle Grundlage eben des Kantischen Autonomie-Konzepts interpretiert wird. Damit gewinnt das Verhltnis KantNagel eine philosophisch ernstzunehmende Brisanz. Denn offensichtlich geht es nun um nicht mehr und nicht weniger als die Mçglichkeit der Grundlegung einer rationalen Ethik in der Perspektive Kants, die sich dadurch empfiehlt, daß sie von einem unabweisbaren und fundamentalen Zug menschlicher Selbstauffassung ausgeht. Nagels These ist es, daß diese 4 5
Vgl. Nagel 1970, S. 14/25. Nagel, 1997 (dt.: Nagel, 1999). Die jeweils angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die englische und die deutsche Ausgabe.
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Selbstauffassung die Grundlage des Altruismus ist, und daß Kants Ethik als eine Ethik des Altruismus verstanden und begrndet werden kann. Zu fragen ist, ob diese These sowie Nagels Interpretation des Kantischen Autonomiekonzepts berzeugen. In dieser Absicht ist zunchst Nagels frher Entwurf einer Ethik des Altruismus vorzustellen. In zwei weiteren Schritten soll Nagels vorerst ,letztes Wort‘ in dieser Sache sowie das Verhltnis zur Ethik Kants beleuchtet werden. I. Thomas Nagels frher Entwurf einer Ethik des Altruismus Unter Altruismus versteht Nagel eine Einstellung oder ein Verhalten von Menschen, das allein von der berzeugung geleitet ist, daß man einem anderen Gutes tun oder Schaden von ihm abwenden solle.6 Nicht gemeint sind alle Formen edelmtiger Selbstaufopferung fr das Wohl anderer, die man gemeinhin oft als Altruismus bezeichnet. Gemeint ist vielmehr bloß die Bereitschaft, „to act in consideration of the interests of the other persons, without the need of ulterior motives.“7 Eine solche Einstellung hat Nagel zufolge ihren Grund in der Selbstauffassung einer Person, sich selbst als lediglich eine weitere Person unter einer Vielzahl anderer Personen zu verstehen. Diesen Schritt tut Nagel mit methodischem Bedacht. Mit ihm folgt er der von ihm sogenannten method of interpretation. Sie besteht darin und dient dazu, die objektive Gltigkeit ethischer Prinzipien an gewisse fundamentale und unabweisbare Zge der Selbstauffassung einer Person und ihrer Beziehung zur Welt zu binden.8 Der Begriff der Interpretation in Nagels method of interpretation bezieht sich also nicht primr auf die Art und Weise, wie eine Person sich selber versteht, sondern darauf, daß die ethischen Prinzipien als Ausdruck einer solchen Selbstauffassung angesehen werden und daraus auch gerechtfertigt werden kçnnen. Die method of interpretation besagt daher: Ethische Prinzipien haben ihren Grund in einem bestimmten Typ von Handlung; und dieser Handlungstyp folgt aus einer bestimmten Selbstauffassung einer Person, die fr sie und ihr Weltverhltnis schlechthin grundlegend ist. Dies ist die Fhigkeit, sich als nur eine weitere Person unter einer Vielzahl anderer 6 7 8
Nagel, 1970, S. 16/28. Nagel, 1970, S. 79/111. Vgl. Nagel, 1970, S. 18/30.
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Personen zu verstehen. Die method of interpretation dient damit dazu, Bedingungen der Rationalitt einer ethischen Theorie anzugeben. Diese Bedingungen sind mit der beschriebenen Selbstauffassung einer Person gegeben bzw. lassen sich aus ihr ableiten. In dieser Absicht fhrt Nagel eine Unterscheidung ein, die fr den gesamten weiteren Argumentationsgang grundlegend ist.9 Die beschriebene Selbstauffassung einer Person lßt sich Nagel zufolge als eine Verbindung zweier Aspekte, Perspektiven oder Standpunkte verstehen, unter denen eine Person sich selber und die Welt ansehen kann: zum einen der persçnliche oder personale, zum anderen der impersonale Standpunkt. Der personale Standpunkt ist bekanntlich der Standpunkt der ersten Person. Hier ist die Person selber das Subjekt bzw. der Urheber von Urteilen, berzeugungen und Einstellungen; sie selber ist der Ort bzw. der Standpunkt, von dem aus sie sich auf sich selbst und auf die Welt bezieht. Von diesem je eigenen Standpunkt sieht der impersonale Standpunkt ab; von ihm aus faßt die Person sich selber und ihre Stellung in der Welt lediglich so auf, daß sie sich als eine Person unter einer Vielzahl anderer Personen versteht, als „someone“, „jemand“, nicht als „ich“.10 Der zweite Schritt beschreibt eine Folge dieser Selbstauffassung. Mit ihm macht Nagel darauf aufmerksam, daß der Unterschied zwischen diesen beiden Perspektiven nicht den propositionalen Gehalt von Urteilen oder Einstellungen, sondern nur die Gegebenheitsweise dieses Gehalts betrifft.11 Denn sich selbst nur als eine weitere Person unter anderen Personen aufzufassen, ist bedeutungsgleich damit, andere in derselben Weise als Personen aufzufassen, wie man sich selbst als eine Person auffaßt. Das bedeutet, daß man alle Gehalte, die man sich selbst von einem personalen Standpunkt aus zuschreibt – das, was man denkt, fhlt, meint oder beabsichtigt –, auch anderen von einem impersonalen Standpunkt aus zuschreiben kann. Der personale Satz „Ich bin erfreut“ weist daher mit Bezug auf den propositionalen Gehalt oder die Tatsache, erfreut zu sein, keinen Unterschied zu der impersonalen Aussage „Er ist erfreut“ 9 Vgl. Nagel, 1970, S. 100 ff./140 ff. 10 Nagel, 1970, S. 19/31. Vgl. zur Sache auch Nagel, 1986, bes. Kapitel IV u. VII – X (dt.: Nagel, 1992). Die erste systematisch orientierte kritische Besprechung ist Henrich, 1989. Vgl. auch die kritische Besprechung Ltterfelds, 1999. Mit Bezug auf Nagels Konzept eines objektiven Selbst und Nagels berlegungen zum Verhltnis von Idealismus und Realismus verweist Ltterfelds am Ende seiner Besprechung u. a. auf die Position Fichtes (220, 222), ohne dem genauer nachzugehen. 11 Vgl. Nagel, 1970, S. 101/141.
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bzw. zu der personalen Aussage einer anderen Person ber sich auf. Der Unterschied ist lediglich ein Unterschied der Perspektive. Daraus folgt, daß eine Person Aussagen, die sie ber sich selbst, ihre eigenen Erlebnisse, berzeugungen, Einstellungen und Handlungen macht, stets als Aussagen auffassen kann, die sie mit Bezug auf eine Person macht, die in diesem Falle mit ihr selbst identisch ist. Wer sich also unter einer personalen Perspektive als nur eine weitere Person unter einer Vielzahl anderer Personen auffassen kann, der kann sich auch unter einer impersonalen Perspektive auffassen. Da er hierbei zugleich ber ein Bewußtsein von der Differenz beider Hinsichten verfgt, ist er in der Lage zu sagen, daß die Person, auf die er sich bezieht, er selbst ist. Es ist nun leicht abzusehen, was daraus fr die Rationalittsbedingungen einer ethischen Theorie folgt. Da die Selbstauffassung einer Person in Nagels Sicht durch die Einheit dieser beiden Standpunkte oder Perspektiven definiert ist, muß das, was als ethisches Prinzip im Sinne eines obersten Kriteriums der Moralitt von Handlungen und der sie leitenden Absichten gelten kçnnen soll, eben dieser Einheit entsprechen. Das bedeutet, daß ein solches Prinzip universal sein muß.12 Ein ethisches Prinzip ist nmlich genau dann universal, wenn es fr alle Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, gilt, und wenn es von einer Person ohne Rcksicht auf ihre je eigene Situation und Befindlichkeit, und das heißt, auf impersonale Weise, akzeptiert wird. Damit schließt sich der Kreis der Argumentation. Denn genau dies gilt fr das von Nagel namhaft gemachte Prinzip des Altruismus: Es beruht allein auf der Anerkennung der Realitt und der Interessen anderer Personen, ohne auf die spezifischen Interessen und Gefhle des jeweils handelnden Subjekts Rcksicht zu nehmen. Daher liegt dem Altruismus ein universales Prinzip zugrunde, und daher kann der Altruismus auch als Ausdruck der Einheit der beiden beschriebenen Weisen der Selbstauffassung einer Person verstanden und begrndet werden.13 12 Nagel, 1970, S. 107/149. Vgl. zur Sache auch Nagel, 1996. 13 Damit ist zugleich ein Argument gegen die Position eines praktischen Solipsismus oder ethischen Egoismus gegeben. Beide Positionen fhren zu einer Dissoziation der beiden Perspektiven, unter denen eine Person sich versteht, denn beide folgen ausschließlich der personalen Perspektive, indem sie einem Prinzip folgen, das ausschließlich fr die Person gilt, die sich dieses Prinzip zu eigen gemacht hat. Die Einheit beider Perspektiven sieht dagegen vor, daß man ein ethisches Prinzip auf sich als die Person, die man ist, anwendet, und das heißt, auf sich als lediglich einer Person unter anderen Personen. Hierbei spielt die Tatsache, daß man selbst diese Person ist, fr den Gehalt und die Gltigkeit des Prinzips keine substan-
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II. Das Problem der Motivation Erst der folgende dritte Schritt ist der entscheidende. Er gilt dem Problem der Motivation. Im vorliegenden Kontext ist dies die Frage, wie die bloße Rcksicht auf die Realitt und die Interessen anderer Personen von sich aus einen Motivationsgrund fr eine entsprechende Handlung enthalten kann, ohne daß die Person hierbei auf ihre eigenen Wnsche, Bedrfnisse und Neigungen Rcksicht nimmt. Es ist Nagels These, daß die Antwort auf diese Frage sich ebenfalls aus der beschriebenen Selbstauffassung einer Person als einer unter einer Vielzahl anderer Personen ergibt. Nach dem, was sich bisher ergeben hat, scheint es jedoch alles andere als klar, wie dies geschehen soll. Zwar leuchtet es ein, daß nur die Einheit der personalen und impersonalen Perspektive der zugrundegelegten Selbstauffassung einer Person gerecht wird. Doch scheint es gar nicht absehbar, wie aus dieser Einheit ein Motivationsgrund abgeleitet werden kann. Ein solcher Grund, so mçchte man meinen, muß doch ein Grund sein, der fr eben die Person gilt und von ihr angeeignet werden kann, deren Handeln in Frage steht. Dies folgt aus dem Begriff eines handlungsmotivierenden Grundes. Ein solcher Grund scheint nun aber gar nicht aus einer impersonalen, sondern nur aus einer personalen Perspektive heraus begriffen werden zu kçnnen. Denn nur unter dieser Perspektive vermag die Person sich als Subjekt und Urheber ihrer Handlungen anzusehen, und nur unter dieser Perspektive kann einem Grund auch eine handlungsmotivierende Kraft zukommen. Davon sieht die impersonale Perspektive aber gerade ab. Genau das also, was im Zuge der Bestimmung des Prinzips des Altruismus und der Rechtfertigung seiner Gltigkeit keine substantielle Rolle spielen sollte, der personale Standpunkt, das scheint im Rahmen des Motivationsproblems nun sozusagen die Hauptrolle spielen zu mssen, wenn anders ein handlungstielle Rolle – wie im Falle des Egoismus. Das Prinzip des Altruismus ist daher nur der praktische Ausdruck der Einheit des basalen Selbstverstndnisses einer Person und verhindert die Spaltung oder Dissoziation der personalen von der impersonalen Perspektive. Damit tritt der Altruismus nicht nur der Position des ethischen Egoismus entgegen, sondern auch dem Standpunkt eines ethischen Indifferentismus, dem allein die impersonale Perspektive zugrunde liegt. Aus ihr lßt sich zwar eine objektive bersicht ber die Welt und auch der Personen, die in ihr handeln, gewinnen; dieser Perspektive ist aber, wenn es aufs Handeln ankommt, sozusagen alles egal, weil sie sich von einem personal motivierten praktischen Engagement grundstzlich distanziert. Vgl. hierzu Nagel, 1970, S. 99 ff./138 ff.
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leitender Grund angegeben werden kann. Wie dies mçglich ist, scheint nicht absehbar. Dieses vermeintliche Dilemma sucht Nagel mit der folgenden berlegung aufzulçsen.14 Sie geht von der Einsicht aus, daß ein Prinzip, das seinem Inhalte nach bloß subjektiv bedingt ist, die Einheit der Selbstauffassung einer Person als einer unter einer Vielzahl anderer Personen aufhebt, und dies deshalb, weil ein seinem Inhalte nach subjektiv bedingtes Prinzip die Rcksicht auf die Interessen anderer Personen, durch die die Selbstauffassung einer Person ja definiert ist, gerade ausschließt. Daher kann es gar kein seinem Inhalte nach subjektiv bedingtes Prinzip geben, das als Motivationsgrund fungieren kann. Also kann nur ein objektives, aus der impersonalen Perspektive formulierbares und zu rechtfertigendes Prinzip zu einem Motivationsgrund fr das Handeln einer Person gemacht werden. Dies kann nun aber nur so geschehen – und dies ist der entscheidende Schritt –, daß die Person einen Perspektivenwechsel vom impersonalen zum personalen Standpunkt vollzieht, bei dem – hier tritt die eben vorgestellte berlegung wieder auf –, der Gehalt des Prinzips gewahrt bleibt. Dieser Perspektivenwechsel besteht genauer darin, daß die Person das, was sie aus der impersonalen Perspektive als einen objektiven Grund fr eine Person zu handeln anerkannt hat, zu ihrer eigenen Sache macht, sich damit identifiziert und fr ihr eigenes Handeln als verbindlich anerkennt. Der entscheidende Punkt besteht somit darin, daß die motivierende Kraft nicht aus einem eigenstndigen subjektiven Prinzip gewonnen wird, sondern allein aus der von der Person geleisteten Anerkennung und bernahme des objektiven Prinzips fr ihr eigenes Handeln. So wird die personale Perspektive mit dem Akt der Aneignung der Rechtfertigung dafr, daß etwas getan oder geschehen sollte, fr Nagel gleichsam zum Umschlagplatz, an dem aus objektiven Grnden subjektive Handlungsmotive werden. Ein subjektives Handlungsmotiv ist demnach ein objektiver Grund, daß etwas getan werden oder geschehen sollte, den eine Person sich fr ihr eigenes Wollen und Handeln aneignet und sich damit identifiziert.15 14 Zum folgenden vgl. Nagel, 1970, S. 109 – 124/S. 151 – 171, bes. S. 122 f./168 f. 15 Die logische Struktur dieses Aktes ließe sich im Anschluß an Nagel in der folgenden Weise formalisieren. Er geht aus von einer impersonalen Aussage: „Der Person X ist ein objektiver Grund gegeben zu wollen, daß Y getan werden sollte.“ Es folgt die personale Aussage: „Ich selber bin die Person X“ und eine weitere personale Aussage, die aus der ersten und zweiten Aussage folgt und mit der der objektive Grund angeeignet wird: „Ich habe einen objektiven Grund zu wollen, daß Y getan werden soll.“
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Das Prinzip des Altruismus, darauf macht Nagel im weiteren Verlauf eigens aufmerksam, stellt lediglich eine universale formale Bedingung dar, dem materiale Handlungsgrnde gengen mssen, wenn sie moralische Grnde sein sollen. Als solche materialen Grnde nennt Nagel zunchst einige Prima-facie-Grnde, die subjektive Grnde sind, wie die Beseitigung von Leiden und Schmerz, die Sicherung des Lebens und berlebens sowie die Befriedigung elementarer Bedrfnisse und die Mçglichkeit zur Gestaltung des eigenen Lebens, fr die die sozialen, çkonomischen und politischen Bedingungen geschaffen werden mssen.16 Darber hinaus diskutiert Nagel Verfahrensweisen und Prinzipien, mit denen Konflikte und Kollisionen zwischen objektiven oder objektivierbaren Prima-facieGrnden vermieden oder verringert werden kçnnen. Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden, und auch fr Nagel ist dies erklrtermaßen nicht das eigentliche Anliegen. Systematisch bedeutsam ist vielmehr der beschriebene Perspektivenwechsel. Hier liegt der Berhrungspunkt mit der Ethik Kants, und hier liegt das Thema, ber das Kant und Nagel in ein systematisch fruchtbares Gesprch zu bringen sind. Dieses Gesprch hat Nagel, wie erwhnt, in seinem Buch The Last Word erçffnet. III. Freiheit Das Stichwort ist mit dem gegeben, was Nagel the standpoint of decision nennt. Ihm liegt die berzeugung zugrunde, daß in einer Konfliktsituation die in Anbetracht aller relevanten Umstnde zu treffende Entscheidung darber, was man tun soll, und das heißt, was zu tun moralisch gut ist, wie Nagel es ausdrckt, „mir selbst berlassen“ ist – „it is up to me to decide, all things considered, what I should do“.17 Hier zeigt sich die Fhigkeit einer Person, sich von allen persçnlichen und kontingenten Umstnden zu distanzieren und aus dieser Distanz heraus eine Entscheidung darber zu treffen, was zu tun ist, die sich an verallgemeinerbaren und allgemein anwendbaren Kriterien ausrichtet. Genau dieser Akt – und hier fhrt Nagel einen gegenber seinem ersten Buch neuen Gedanken in die Diskussion ein – ist fr ihn der Grund, der auf die Wirklichkeit des Bewußtseins der Freiheit schließen lßt:
16 Vgl. Nagel, 1970, S. 125ff/172 ff. 17 Nagel, 1997, S. 117/172.
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The sense of freedom depends on the decision’s not being merely from my point of view. It is […] the demand that my actions conform to universally applicable standards.18
Und hier zitiert Nagel mit Zustimmung Kant, und zwar Kants Lehre vom Bewußtsein des moralischen Gesetzes als eines Faktums der Vernunft, das zugleich der Grund fr die Einsicht in die Wirklichkeit der Freiheit als Autonomie ist, illustriert durch das bekannte Beispiel vom Frsten, der mir droht, mich an den Galgen zu bringen, wenn ich mich weigere, einen Unschuldigen, den der Frst sich vom Halse schaffen will, durch eine Lge zu belasten. Hier weiß ich, daß ich mich weigern kann, weil ich unmittelbar, ohne mich zu bedenken, weiß, daß ich mich unangesehen meiner Liebe zum Leben weigern sollte. Ob ich es wirklich tue, steht dahin. Das Bewußtsein, daß diese moralische Forderung auf eine unbedingte Weise besteht und an mich ergeht, ist fr Nagel wie fr Kant das Indiz fr die Wirklichkeit von Freiheit als Autonomie. Sie besteht darin, sich von den eigenen kontingenten Wnschen, Bedrfnissen und Neigungen zu distanzieren und sein Handeln nach objektiv gltigen Kriterien auszurichten. Diesem Gedanken von der Wirklichkeit des Bewußtseins der Freiheit, den Nagel in The Last Word so entschieden vertritt, kommt im vorliegenden Zusammenhang eine zentrale systematische Bedeutung zu. Er enthlt Implikationen, die ber das, was Nagel hierzu sagt, hinausreichen. Das ist in mehreren Schritten zu zeigen. Der erste Schritt betrifft die Einheit der personalen und der impersonalen Perspektive. Sie hat Nagel in seiner Beschreibung der Selbstauffassung einer Person stets nur konstatiert bzw. als ein unhintergehbares Faktum behauptet, ohne einen strukturellen Grund anzugeben, aus dem die Notwendigkeit, bzw. wie Nagel es ausdrckte, „the inescapibility“,19 dieser Einheit begriffen werden kçnnte. Jetzt zeigt sich, daß der personale Standpunkt, von dem aus die Person ein objektives Prinzip zur Grundlage ihres eigenen Handelns macht, der Grund der Einheit beider Perspektiven ist und daß davon auch ein Bewußtsein auf seiten der Person vorliegt, die ihn innehat. Denn der entsprechende Akt lebt sozusagen ganz davon, daß er von der Person selber in bewußter Weise vollzogen wird und nicht durch andere vertretbar ist; zugleich ist der Gehalt dieses Aktes, mit dem die Person sich identifiziert, nicht nur auf die Person eingeschrnkt, die ihn vollzieht, denn diesem Gehalt liegt ja der Gedanke von einem allgemeinen Prinzip zugrunde, nach dem man seine berzeugungen und 18 Nagel, 1997, S. 117/173. 19 Nagel, 1970, S. 3/12.
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Handlungen ausrichten soll. Daß beide Perspektiven von der Person, die man ist, unterhalten werden, kann nur in personaler Perspektive gewußt werden. Daher ist die personale Perspektive als der Grund des Bewußtseins der Einheit und zugleich der Differenz beider Perspektiven zu beschreiben. Doch ist das im personalen Akt aktualisierte Bewußtsein der Einheit beider Perspektiven noch nicht das Entscheidende. Der Gedanke von einem allgemeinen Prinzip und seiner Anerkennung fr das eigene Handeln wird von Nagel in The Last Word als Ausdruck unserer praktischen Vernunft interpretiert. Ihre Funktion sieht Nagel darin, die Forderung nach einer verallgemeinerungsfhigen Rechtfertigung – „the demand for generalizable justification“20 – aufzustellen. Dies folgt fr Nagel ebenfalls unmittelbar aus der beschriebenen Selbstauffassung einer Person. Daher bezeichnet jene Forderung eine wesentliche Eigenschaft des Personseins. Wer sich nmlich lediglich als eine Person unter einer Vielzahl anderer Personen auffaßt und dies zur Grundlage seiner Handlungen macht, der faßt sich, wie eingangs gezeigt, zugleich als jemand auf, der von seinem eigenen Standpunkt aus unabhngige, allgemeingltige Prinzipien fr sein Wollen und Handeln anzuerkennen vermag. Daher ist der personale Standpunkt auch als der Standpunkt der praktischen Vernunft zu bezeichnen. Es ist der Standpunkt, unter dem eine Person ihre eigenen Wnsche, Neigungen und berzeugungen der Forderung nach einer verallgemeinerungsfhigen Rechtfertigung unterwerfen kann und mit dieser Forderung auf sie einwirken kann. Damit ist ein zweiter Aspekt namhaft gemacht. Aber auch damit sind die logische Struktur und die Funktion des personalen Standpunktes noch nicht hinreichend przise erfaßt. Geht man nmlich mit Nagel davon aus, daß die Funktion der praktischen Vernunft und die Anerkennung ihrer normativen Kraft mit Bezug auf die eigenen Handlungen und die ihnen zugrundeliegenden Wnsche, Neigungen und berzeugungen eine wesentliche Eigenschaft unseres Personseins darstellt, dann, so kann man weiter sagen, erkenne ich damit nur etwas an, daß aus mir selber, sofern ich mich als Person verstehe, stammt. Daher werde ich mir mit dem personalen Akt der Anerkennung eines allgemeinen praktischen Prinzips fr mein Handeln nicht nur meiner Freiheit als Autonomie bewußt, die mir ohne dies, mit Kant zu sprechen, „unbekannt geblieben wre“;21 darber hinaus gewinne ich auch ein 20 Nagel, 1997, S. 109/161. 21 Kant, KpV, S. 30.
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Bewußtsein davon, daß die Forderung nach einer verallgemeinerungsfhigen Rechtfertigung in Wahrheit nur der Ausdruck meines eigenen Wesens als einer Person ist. Daraus folgt, daß der personale Akt angemessen nicht nur, wie Nagel es allein tut, als ein Akt der Entscheidung, objektive Grnde fr das eigene Handeln anzuerkennen und auch nicht nur als ein Akt der Anwendung allgemeiner Prinzipien auf das eigene Handeln aufzufassen ist. Er ist vielmehr der Ausdruck eines reinen praktischen Selbstbewußtseins auf seiten der Person, die ihn vollzieht. Denn das, was die Person sich zueignet und womit sie sich identifiziert, wenn sie von allen zuflligen Neigungen und Wnschen absieht und nur das mit Bezug auf ihr Handeln gelten lßt, was fr sie wie fr alle anderen Personen gltig und verbindlich ist, das ist gar nichts anderes als die wesentliche Eigenschaft ihres Personseins, die in der Anerkennung jener ihr wesentlich zukommenden, ,reinen‘, und das heißt, von allen subjektiven Bedrfnissen unabhngigen praktischen Vernunft besteht. Ein in diesem Sinne reines praktisches Selbstbewußtsein ist es daher eigentlich, was den fundamentalen Charakter der Selbstauffassung einer Person, den „inneren Kern“ der Person – „a core“ –,22 wie Nagel es ausdrckt, ausmacht. Diesen fr eine Theorie der moralischen Person und ihre Rolle in der Begrndung einer Ethik des Altruismus durchaus entscheidenden Schritt, den Schritt in die Analyse der reflexiven Binnenstruktur des personalen Standpunktes, hat Nagel nicht vollzogen. Diesen Schritt htte Nagel aber vollziehen mssen, um zurecht das sagen zu kçnnen, was er sagt: „Thus I find within myself the universal standards, that enable me to get outside of myself.“23. Das ,eigene Innere‘, von dem Nagel hier spricht, ist jenes reine praktische Selbstbewußtsein einer Person. Der propositionale Gehalt dieses Selbstbewußtseins ist das Wissen einer Person, daß sie selber kraft des ihr wesentlich zukommenden Charakters der Vernnftigkeit Grund des Bewußtseins der Freiheit und zugleich Grund der Allgemeinheit der Standards ist, unter die sie ihr Handeln stellt. Mit Bezug auf den personalen standpoint of decision wre dann das Folgende przisierend zu sagen: Ihm entspricht ein spezifisches Selbstbewußtsein einer moralischen Person. Auf dem Standpunkt der Entscheidung geht dem Selbst, von dem Nagel spricht, sozusagen ein Licht auf. Es sieht ein, daß die letzte Bedingung, unter der es sich entscheidet und die es fr sein Handeln anerkennt, nur der Ausdruck seiner ,reinen‘ praktischen Vernunft ist, die der wesentliche Charakter seines Personseins 22 Nagel, 1970, S. 23/37. 23 Nagel, 1997, S. 117/173.
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ist und daß das, was ihm da als eine universale Forderung zu handeln entgegentritt, in Wahrheit nur der Ausdruck seines eigenen wesentlichen Charakters als einer Person ist. Obwohl Nagel sich auch noch in The Last Word zu einer Theorie des praktischen Selbstbewußtseins in Distanz hlt, scheint er schon in seinem ersten Buch das Phnomen, dem eine derartige Theorie zu gelten htte, der Sache nach vor Augen gehabt zu haben, wenn er mit Bezug auf jene universalen Standards schreibt: There is nothing regrettable about finding oneself, in the last analysis, left with something which one cannot choose to accept or reject. What one is left with is probably just oneself, a core without which there could be no choice belonging to the person at all. Some unchosen restrictions on choice are among the conditions of its possibility.24
Im Standpunkt der Entscheidung bezieht sich die Person somit in einem dreifach differenzierten Sinn auf sich, nmlich so, daß sie sich selber sowohl als den Ursprung der Forderung der Anwendung des Prinzips der Allgemeinheit von Handlungsgrnden als auch als den Adressaten wie auch als die Instanz seiner Aneignung und Anwendung versteht. Dies erst ist das Bewußtsein der Freiheit, das Nagel wohl meint, dessen reflexive Binnenstruktur mit dem Ausdruck „just oneself“ aber nicht deutlich wird. Diese offenkundig Kantische Perspektive hat Konsequenzen fr Nagels Konzeption des Prinzips des Altruismus. Es war Nagels These, daß sich das Prinzip des Altruismus aus der eingangs beschriebenen Selbstauffassung einer Person begrnden lassen kann, und die Pointe der diesbezglichen Argumentation war darin zu sehen, daß die geforderte uneingeschrnkte Anerkennung der Realitt anderer Personen nur dann gerechtfertigt werden kann, wenn eine Person sich selbst impersonal betrachten und sich objektive Grnde zu handeln zu eigen machen kann. Nun ist deutlich geworden, daß Nagel in The Last Word den Begriff der Person eng an das Bewußtsein der Freiheit als Autonomie bindet, diesen Schritt aber in Kontinuitt mit seinem ersten Ethik-Entwurf zu halten sucht. Dies hat Konsequenzen fr die Interpretation des Prinzips des Altruismus, die Nagel nicht gezogen hat, die er aber leicht htte ziehen kçnnen. In die Forderung des Altruismus, die Realitt anderer Personen anzuerkennen, ohne auf die eigenen Wnsche und Bedrfnisse Rcksicht zu nehmen, ist nunmehr der durch den Gedanken der Freiheit als Autonomie definierte Begriff der Person aufzunehmen. Dem hat Nagel zwar 24 Nagel 1970, S. 23/37, Hvh. v. Vf.
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insofern Rechnung getragen, als er im Anschluß an seine frheren berlegungen der Person einen objektiven Wert zuspricht.25 Diese These folgt aus der Fhigkeit einer Person, sich selbst nach Maßgabe objektiver Grnde zu bestimmen und von zuflligen und subjektiven Prferenzen absehen zu kçnnen. Die Forderung nach der Anerkennung der Realitt anderer Personen ist unter dieser Perspektive dann dahingehend zu verstehen, daß dieser ihnen ursprnglich zukommende objektive Wert gewahrt und garantiert sein soll. Doch ist damit die eigentliche Pointe des Arguments noch nicht erreicht. Sie kommt erst dann in den Blick, wenn man bercksichtigt, daß dieser objektive Wert seinen Ausdruck im Bewußtsein der Freiheit als Autonomie findet und die Anerkennung der Realitt anderer Personen daher gar nichts anderes als die Anerkennung und Garantie dieser ihrer ursprnglichen Autonomie sein und meinen kann. Es ist das, was Kant bekanntlich die Wrde der Person nennt, die es verbietet, Personen als Sachen und das heißt, als Mittel fr beliebige Zwecke zu betrachten und zu gebrauchen. Personen sind vielmehr Zwecke an sich selbst, sofern sie den Grund ihrer Existenz in sich selbst haben, und dieser Grund ist ihre Autonomie. Deswegen kommt ihnen auch fr Kant ein objektiver oder absoluter Wert zu. Nagels Pldoyer fr eine Ethik eines rationalen oder reinen Altruismus luft damit auf das Pldoyer fr eine Ethik der Humanitt hinaus, die auf dem Selbstverstndnis einer Person als eines freien und autonomen Wesens beruht. „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ – diesen Imperativ Kants mßte Nagel ohne Zçgern anerkennen kçnnen. Blickt man von dem, was sich bisher ergeben hat, zurck, dann erscheint Nagels frher Ausgang von der Selbstauffassung einer Person als einer unter einer Vielzahl anderer Personen nun als der auf eine handliche Formel reduzierte Ausdruck des Prinzips einer Metaphysik der Person, die eine Theorie personaler Freiheit als Autonomie enthlt. Daß damit die systematische Pointe von Nagels berlegungen angemessen zum Ausdruck gebracht ist, zeigt die folgende Erklrung, die den Begriff der Freiheit noch einmal mit dem fr den Begriff der Person charakteristischen Bewußtsein der Einheit beider Perspektiven verbindet und ihn zuglich auf das Ganze eines Lebensentwurfs einer individuellen Person anwendet: 25 Nagel, 1970, S. 122 ff./180 ff.
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Freedom requires holding oneself in one’s hands and choosing a direction in thought or action for the highly contingent and particular individual that one is, from a point of view outside oneself, that one can nevertheless reach from inside oneself.26
Daß der Standpunkt fr die Orientierung im Denken oder Handeln einer individuellen Person nur aus dem eigenen Inneren heraus erreicht werden kann, heißt, daß er nur als Folge der beschriebenen Selbstauffassung einer Person zugnglich ist. Der in diesem Standpunkt gelegene Grund, der geeignet ist, dem kontingenten Leben einer individuellen Person eine auf Dauer angelegte und allgemeingltige Orientierung zu geben, wre insofern wohl ein Grund im Bewußtsein zu nennen. Von ihm gilt jedoch, daß er unabhngig von der subjektiven Bezugnahme auf ihn besteht – genau das meint Nagels Formulierung „a point of view outside oneself“–, und von der Person auch als ein solcher gemeint und gewußt wird. Nagels ,letztes Wort‘ in der Frage der Begrndung einer ethischen Theorie ist daher ein Pldoyer fr eine auf dem Begriff personaler Freiheit als Autonomie beruhende internalistische Begrndung eines ethischen Realismus.27 IV. Das Problem der Motivation Ein Punkt steht noch zur Diskussion. Es ist Nagels These, daß die personale bernahme und Aneignung eines objektiven Prinzips auch motivierende Kraft fr das eigene Handeln habe. Nagel hat sie in gegenber seinem ersten Buch alternativen Konzepten zu profilieren und zu verteidigen gesucht. Fr den vorliegenden Zusammenhang ist Nagels Diskussion der Rolle aufschlußreich, die Wnschen bzw. einem Begehren fr die Entscheidung darber, was zu tun sei, zukommt. Sie sind in seiner Sicht keine Grnde, aus denen sich der wirkliche Vollzug einer Handlung erklren lassen kann; vielmehr liegen Wnschen, wenn sie motiviert sind, ihrerseits rationale Entscheidungen zugrunde, die nicht wiederum auf Wnsche zurckgefhrt werden kçnnen.28 Daher sind Urteile in der ersten Person, die objektive Grnde enthalten, daß etwas getan werden soll, schon von sich aus fr die diesbezgliche Entscheidung relevant. Nagel hat diese These in einem spteren Zusammenhang przisiert. Mit ihr soll kein notwendiger Zusammenhang zwischen der Aneignung 26 Nagel, 1997, S. 118/174. 27 Zur Sache vgl. Scarano, 2001. 28 Nagel, 1970, S. 43 f./63 f.
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eines objektiven Handlungsgrundes und dem wirklichen Vollzug der Handlung einer Person behauptet werden. Es soll daher nicht behauptet werden, daß die Anerkennung eines objektiven Handlungsgrundes von sich aus immer auch mit Notwendigkeit einen Antrieb zum Handeln hervorbringt. Vielmehr, das ist die przisierte These, reicht die personale Anerkennung und bernahme eines objektiven Handlungsgrundes gewçhnlicherweise aus, um die Person zum Handeln zu bewegen – „in the absence of contrary influences or interferences this type of influence becomes operative.“29 Daher sind zustzliche oder alternative Erklrungen, die den bergang von der Aneignung objektiver Handlungsgrnde zum Antrieb zu einer entsprechenden Handlung erklren sollen, wie etwa Wnsche oder Begehrungen, nicht nçtig. Diese Konzeption lßt einige Fragen offen. Zunchst bleibt unklar, wie die personale bernahme und Anerkennung eines objektiven Handlungsgrundes von sich aus eine handlungsmotivierende Kraft haben kann. Nagels These, daß mit der Anerkennung eines objektiven Handlungsgrundes auch ein Motiv gegeben ist, das ,gewçhnlicherweise‘ die Person zum Handeln bewegt, bleibt ohne nhere Begrndung – abgesehen davon, daß es fraglich ist, ob dies wirklich gewçhnlicherweise der Fall ist. Die Erfahrung zeigt, daß eher das Gegenteil der Fall ist. Sieht man davon einmal ab, dann ließe sich ein diesbezgliches Argument aus dem Prinzip der Rationalitt gewinnen, sofern eine vernnftig handelnde Person nur dadurch ein konsistentes und auf Dauer angelegtes Selbstverstndnis ausbilden kann, daß sie sich in ethischen Konfliktfllen rational verhlt, und das heißt, daß sie einer rationalen berlegung folgt, mit der sie die Forderung nach einer verallgemeinerungsfhigen Rechtfertigung anerkennt. Eine Person, die einem objektiven Handlungsgrund nicht folgt, verhlt sich irrational und befindet sich im Widerspruch mit den berzeugungen, die sie von sich selber als einer rational handelnden Person ausgebildet hat. Daher enthlt die Anerkennung eines objektiven Handlungsgrundes auch eine Motivationskraft fr moralisches Handeln. Ein solches Argument reicht indessen nicht aus. Erklrungsbedrftig bleibt der Sachverhalt, den Nagel offenbar als ein Faktum in Anspruch nimmt, der Sachverhalt, daß eine Person der direkten Einwirkung der Triebe, Wnsche und Neigungen Einhalt gebieten, den Standpunkt der Entscheidung einnehmen und damit die Frage nach dem Tun des Richtigen stellen und ihrer Entscheidung entsprechend handeln kann. Erklrungsbedrftig bleibt somit, auf welche Weise die praktische Ver29 Nagel, 1970, S. 111/154.
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nunft gerade unter den Bedingungen der Kontingenz und der Individualitt einer Person, zu denen auch das System der Triebe und Neigungen gehçrt, eine handlungsmotivierende Kraft entfalten kann. Dazu sagt Nagel nichts. Da die Fhigkeit, von kontingenten Einflssen abzusehen und die Allgemeinheit eines objektiven Prinzips anzuerkennen und eben darin auch eine motivierende Kraft fr das eigene Handeln zu sehen, ein wesentlicher Bestandteil der personalen Perspektive ist, kann die Aufklrung ber diese Fragen als ein weiterer Schritt im Gang der Aufklrung der Struktur des moralisch-praktischen Selbstbewußtseins einer Person angesehen werden. Es bietet sich daher an, noch einmal zu Kant zurckzukehren. V. Kants Theorie moralischer Motivation Dies geschieht durchaus in Nagels eigener Perspektive. Denn auch fr Kant, darauf hatte Nagel zu Beginn seiner ersten Untersuchung ber die Mçglichkeit des Altruismus hingewiesen, gilt die Autonomie moralischer Motivation und damit der Verzicht auf subjektiv bedingte Neigungen und Interessen als Motive fr moralisches Handeln. Anders als Nagel sieht Kant jedoch ein spezifisches Gefhl vor, das als ein „subjektiver Grund“ einer moralisch guten Handlung, wie Kant sagt, fungieren und als solcher eine motivierende Kraft im Sinne einer „Triebfeder“ entfalten soll.30 Auf diese Theorie ist Nagel nicht mehr zurckgekommen, vermutlich aus der berzeugung heraus, daß es eines solchen Gefhls gar nicht bedarf, da objektive Handlungsgrnde von sich aus handlungsmotivierende Kraft haben. Da eben dieser Zusammenhang in Nagels berlegungen unverstndlich bleibt, ist es sinnvoll, sich nunmehr Kants Theorie moralischer Motivation zuzuwenden. Das von Kant vorgesehene Gefhl ist bekanntlich das Gefhl der Achtung fr das moralische Gesetz.31 Es zeichnet sich dadurch aus, daß es keine empirischen Quellen hat, sondern „durch einen intellektuellen Grund gewirkt“32 ist, der mit dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes gegeben ist. Kant beschreibt es als ein gemischtes Gefhl. Es besteht aus einer negativ bewerteten Komponente, der Einschrnkung der Wirk30 Kant, KpV, S. 79. 31 Zur Sache vgl. Scarano, 2002 und die dort angegebene Literatur sowie Kant, KpV, S. 135–151. 32 Kant, KpV, S. 73.
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samkeit bloß subjektiv bedingter Neigungen und Bedrfnisse, die mit dem Bewußtsein der universalen Allgemeinheit des Sittengesetzes verbunden ist, und einer positiv bewerteten Komponente, einer Kraft, die mit der im Bewußtsein der Freiheit als Autonomie enthaltenen Spontaneitt erlebt wird. Die Funktion dieses Gefhls soll nun darin bestehen, zwischen der Einsicht in die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes und der sinnlich bedingten Natur des handelnden Subjekts zu vermitteln und auf diese Weise, wie Kant schreibt, „dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen befçrderlich“33 zu sein. Es ist deutlich, daß Kant damit genau den von Nagel nicht vorgesehenen bzw. nicht als erklrungsbedrftig angesehenen Zusammenhang zwischen der Anerkennung eines objektiven Prinzips und dem Vorliegen eines Handlungsmotivs im Sinne einer „Triebfeder“ zu erklren sucht. Dieser Zusammenhang ergibt sich fr Kant aus dem Umstand, daß das moralische Gesetz, wird es in seinem Verhltnis zu den natrlichen Neigungen und Bedrfnissen einer Person betrachtet, selber die Ursache des Gefhls der Achtung ist, dem als Gefhl seinerseits die Rolle einer Ursache im Sinne einer „Triebfeder“ fr moralisches Handeln zugesprochen werden kann. Genauer besehen, kommt ihm diese Rolle aufgrund eines Urteils der praktischen Vernunft zu, denn es ist die praktische Vernunft selber, die in dem Umstand, daß natrliche Neigungen und Bedrfnisse mit der universalen Anwendbarkeit des moralischen Gesetzes kompatibel gemacht werden sollen, eine Befçrderung ihrer Aktivitt sieht, „denn“, so fhrt Kant aus, „eine jede Verminderung der Hindernisse einer Ttigkeit ist die Befçrderung dieser Ttigkeit selbst.“34 Das Gefhl der Achtung erscheint daher als subjektiver Ausdruck dieser Wertschtzung der Wirkung des moralischen Gesetzes auf die Ttigkeit der praktischen Vernunft. Dem korrespondiert eine positive Wirkung auf das System der natrlichen Neigungen einer Person, die sich als „Triebfeder“ fr moralisches Handeln verstehen lßt. Da Kants Theorie moralischer Motivation kein moralneutrales, externes Motiv in Ansatz bringt, kann sie mit Nagel eine internalistische Theorie genannt werden. Und mit Nagel geht sie davon aus, daß allein ein universales Prinzip ein Grund fr moralisches Handeln sein kann. Anders als Nagel sucht sie aber zu erklren, wie ein universales Prinzip zu einem subjektiven Handlungsmotiv werden kann; und dies tut sie genau dadurch, daß sie das Verhltnis dieses Prinzips zu den natrlichen Trieben 33 Kant, KpV, S. 75. 34 Kant, KpV, S. 79.
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und Neigungen einer Person zum Thema ihrer berlegungen macht, was Nagel unterlassen hat. Die systematisch entscheidende Pointe besteht darin, daß das Gefhl der Achtung sozusagen nicht autark, sondern derivativ ist, sofern es nur der Ausdruck der Wirkung jenes objektiven Prinzips auf das System der Neigungen und Triebe ist. Dieses Prinzip ist und bleibt daher die ,echte‘, oder, wie Kant es ausdrckt, die „eigentliche Triebfeder“,35 da es sich aufgrund der Befçrderung der ungehinderten Funktionsweise der praktischen Vernunft nur in der Gestalt eines Gefhls darstellt, bei dem die positiv bewertete Komponente berwiegt und insofern als ein Gefhl der Lust erlebt wird und auf diese Weise auch seine motivierende Kraft entfalten kann. Es ist leicht zu sehen, daß mit Kants Konzeption eines Gefhls der Achtung fr das moralische Gesetz die von Nagel reklamierte Einheit der personalen und impersonalen Perspektive eine neue Interpretation erhlt. Denn zum einen ist dieses wie jedes andere Gefhl nur aus der personalen Perspektive zugnglich, zum anderen aber besteht der rationale Gehalt dieses Gefhls darin, Ausdruck eines universalen Gesetzes und nicht eines bloß subjektiv gltigen Sachverhalts zu sein. Daher ist das Gefhl der Achtung fr das moralische Gesetz zugleich ein Gefhl der Achtung gegenber allen anderen Personen, die das moralische Gesetz als fr sich verbindlich anerkennen bzw. dazu in der Lage sind. Auch unter dieser Perspektive lßt es sich durchaus im Sinne einer Mischung aus zwei entgegengesetzten emotionalen Zustnden beschreiben. Denn indem ich eine Person als moralische Person achte, anerkenne ich zwar die Einschrnkung meiner unbeschrnkten Handlungsfreiheit und meiner natrlichen Wnsche und Neigungen, zugleich erkenne ich aber auch, daß ich in der Gemeinschaft und in bereinstimmung mit anderen Personen die Ttigkeit meiner praktischen Vernunft in einer auf Dauer angelegten Weise entfalten kann, und dies so, daß dabei auch meine eigenen Neigungen wie die aller anderen Anerkennung und Erfllung finden kçnnen. Genau dies ist das Prinzip des Altruismus, um dessen Begrndung es Thomas Nagel geht. Das ist auch gemeint, wenn von der Achtung vor der Wrde einer Person die Rede ist. Sie besteht, wie oben bemerkt, eben darin, die Autonomie einer Person anzuerkennen. Da Autonomie in der Anerkennung der Gltigkeit des moralischen Gesetzes fr das eigene Handeln besteht, besteht die Achtung vor der Wrde einer Person darin, die Gltigkeit des moralischen Gesetzes in einer anderen Person in der35 Kant, KpV, S. 129.
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selben Weise wie im eigenen Falle anzuerkennen. Daher erlaubt ein Handeln unter dem moralischen Gesetz die Realisierung meiner eigenen Interessen, Neigungen und Bedrfnissen in derselben Weise, wie es die Realisierung der Interessen, Neigungen und Bedrfnisse aller anderen erlaubt. So erscheint Kants Gefhl der Achtung fr das moralische Gesetz als die ,eigentliche‘ subjektive Grundlage des rationalen Altruismus, den Nagel vertritt. Ob Thomas Nagel sich damit einverstanden erklren kçnnte, ist eine andere Frage. Vielleicht sollte er es. Literatur Henrich, Dieter, 1989, Dimensionen und Defizite einer Theorie der Subjektivitt, in: Philosophische Rundschau 36, Heft 1/2, Tbingen, S. 1–24. Kant, Immanuel, 1913, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. V, S. 1–163 (zitiert als „Kant, KpV“, mit Angabe der Seitenzahl). Ltterfelds, Wilhelm, 1999, Nagels „Blick von nirgendwo“ – Eine aporetische Rehabilitierung der Transzendentalphilosophie?, in: Kant-Studien 90, Heft 2, S. 204–222. Nagel, Thomas, 1970, The Possibility of Altruism, Princeton (Nachdr. Princeton 1978). Nagel, Thomas, 1998, Die Mçglichkeit des Altruismus, hrsg. u. bers. von Michael Gebauer u. Hans-Peter Schtt, Bodenheim. Nagel, Thomas, 1986, The View from Nowhere, New York/Oxford. Nagel, Thomas, 1992, Der Blick von nirgendwo, bers. von Michael Gebauer, Frankfurt. Nagel, Thomas, 1997, The last Word, Oxford. Nagel, Thomas, 1999, Das letzte Wort, bers. v. Joachim Schulte, Stuttgart. Nagel, Thomas, 1996, Universality and the Reflective Self, in: The Sources of Normativity, hg. v. Christine Korsgaard, Cambridge, S. 200–209. Scarano, Nico, 2001, Moralische berzeugungen. Grundlinien einer antirealistischen Theorie der Moral, Paderborn. Scarano, Nico, 2002, Moralisches Handeln, in: Hçffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Berlin, 135–151.
STHETIK
Kant und Strawson ber sthetische Urteile Eckart Fçrster 1998 erschien in der Reihe The Library of Living Philosophers ein Band zu Ehren von Sir Peter Strawson. In der ,Intellektuellen Autobiographie‘, mit der ein solcher Band immer eingeleitet wird, erwhnt Strawson u. a. auch seine zahlreichen Arbeiten zu Kant, die er im Anschluß an The Bounds of Sense verfaßt hat. In diesem Zusammenhang schreibt er: „More recently I paid tribute to his [Kant’s] insight into the nature of aesthetic judgment“.1 Dies drfte jeden erfreuen, der wie ich viel von Strawsons brillianter Lektre der ersten Kritik gelernt hat und der zudem dessen hohe Wertschtzung von Kants Kritik der sthetischen Urteilskraft kennt. Leider ist aber dieser Tribut, von dem Strawson spricht, außerordentlich kurz, denn er wird gezollt im Rahmen einer Buchbesprechung. Trotzdem mçchte ich mich im Folgenden mit diesem Tribut beschftigen. Worin besteht nach Strawson Kants „insight into the nature of aesthetic judgment“? Genauer sind es zwei Behauptungen Strawsons, die ich nher betrachten mçchte. Hier ist die erste: One of the distinctive features of Kant’s genius is his power of unifying his thought, of waving together the many diverse strands of theory into a single fabric, or – to vary the image – of building a single complex structure out of many prima facie heterogenous parts which are nevertheless exhibited as interlocking and mutually supportive. Nowhere is this power more strikingly manifested than in the third Critique, where the theory of aesthetic judgment is brilliantly integrated with the espitemology of the Critique of Pure Reason. 2
Die zweite Behauptung betrifft die Rolle der Erkenntnisvermçgen im aesthetischen Urteil, das sog. freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand: As Kant implies, and as any sensitive person appreciates, no general concept could conceivably capture or encapsulate the essential source of one’s delight in the beautiful object, whether natural scene or work of art […] One could say that while no general concept can capture the unique aesthetic essence of 1 2
Strawson, 1998, 13. Strawson, 1993, 226.
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the beautiful thing, the thing, as object of beauty, is the necessary unique instance of its own necessarily indiviual concept, incapable of being expounded in general terms; or even that it embodies, or is, that concept itself (cf. some idealists’ talk of the ,concrete universal‘); so that the very faculties, whose normal and mundane function is fulfilled when they reach for and find an already existing general concept, are here engaged in free and harmoneous play around, or with, the unexponible ,concept‘ embodied in the beautiful object.3
Im Folgenden mçchte ich beide Behauptungen nher betrachten. Whrend ich gewisse Bedenken hinsichtlich der zweiten Behauptung habe, auf die ich spter eingehen werde, mçchte ich mit einigen berlegungen zur Bekrftigung von Strawsons erster Behauptung beginnen. Dazu mçchte ich ein Problem erçrtern, bei dem der Zusammenhang der dritten mit der ersten Kritik alles andere als klar zu sein scheint. Genauer handelt es sich um die Beziehung zwischen dem Anhang zur transzendentalen Dialektik der ersten Kritik („Vom regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft“) einerseits, und dem Prinzip der reflektierenden Urteilskraft (dem Prinzip einer formalen Zweckmßigkeit der Natur) in der dritten Kritik andererseits. Kant behauptet, daß das letztere ein vçllig neues Prinzip sei, doch fast alle Kommentatoren scheinen darin bereinzustimmen, daß es sich bei diesem Prinzip lediglich um eine kondensierte Form der drei Vernunftgrundstze der Gleichartigkeit, Variett und Affinitt handelt. Und sie stimmen auch darin berein, daß Kant uns keinerlei Begrndung oder Erklrung gegeben hat, warum eine solche Kondensierung – und die damit verbundene Relokalisierung des Prinzips in der Urteilskraft anstatt der Vernunft – gerechtfertigt ist. So schreibt z. B. Paul Guyer: In the Critique of Pure Reason Kant assigns the origin as well as the employment of the regulative ideal of systematicity in empirical knowledge to the faculty of pure theoretical reason although, to be sure, to reason in its hypothetical rather than apodictic employment. In the Critique of Judgment, however, published only three years after the revised second edition of the Critique of Pure Reason, the regulative ideal of systematicity is reassigned to the newly introduced faculty of reflective judgment. Kant offers some explanation of what he means by reflective judgment but he does not mention that the assignment of the regulative ideal of systematicity to this new faculty represents a revision of his previous view. Indeed, he does not even mention that he had a previous view about systematicity.4 3 4
Strawson, 1993, 227 f. Guyer, 1998, 17.
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I. Was ist denn nun die Beziehung zwischen Kants beiden Kritiken? Zuerst mssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Kants Plne fr eine Kritik des Geschmacks zeitlich zusammenfallen mit seiner Arbeit an der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. In einem Brief an Schtz vom 25. Juni 1787 berichtet Kant, daß er nun an einer Kritik des Geschmacks zu arbeiten begonnen habe, und der Katalog der Leipziger Buchmesse kndigt fr das selbe Jahr bereits ein neues Buch von Kant mit dem Titel „Grundlegung zur Kritik des Geschmacks“ an. Besonders ausfhrlich berichtet Kant jedoch von seinem neuen Vorhaben in seinem Brief an Reinhold vom Dezember 1787. Dort schreibt Kant: So beschftige ich mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine neue Art von Prinzipien a priori entdeckt wird als die bisherigen. Denn der Vermçgen des Gemts sind drei: Erkenntnisvermçgen, Gefhl der Lust und Unlust und Begehrungsvermçgen. Fr das erste habe ich in der Kritik der reinen (theoretischen), fr das dritte in der Kritik der praktischen Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch fr das zweite, und ob ich es zwar sonst fr unmçglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, was die Zergliederung der vorher betrachteten Vermçgen mich im menschlichen Gemte hatten entdecken lassen und welches zu bewundern und womçglich zu ergrnden mir noch Stoff genug fr den berrest meines Lebens an die Hand geben wird, mich doch auf diesen Weg, so daß ich jetzt drei Teile der Philosophie erkenne, deren jede ihre Prinzipien a priori hat, die man abzhlen und den Umfang der auf solche Art mçglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann – theoretische Philosophie, Teleologie und praktische Philosophie […] Ich hoffe, gegen Ostern mit dieser unter dem Titel der ,Kritik des Geschmacks‘ im Manuskript obgleich nicht im Drucke fertig zu sein. (AA X, 514 f.)5
Drei Dinge fallen hier auf: 1. Kant behauptet, ein neues Prinzip gefunden zu haben und nicht nur drei heuristische Maximen der Vernunft in ein einziges Prinzip der Urteilskraft zusammengefaßt zu haben. 2. Zu dieser Zeit plant Kant lediglich eine Kritik des Geschmacks. Die Kritik der teleologischen Urteilskraft ist sicherlich spteren Ursprungs. 3. In seinem Brief an Reinhold identifiziert Kant explizit diese Kritik des Geschmacks oder die Analyse des sthetischen Urteils mit der Teleologie. Wie ist das zu verstehen? Schauen wir uns erst einmal Kants Analyse dieses Urteilstypes nher an. 5
Ich zitiere Kants Schriften im Text unter Angabe von Band- und Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe, die Kritik der reinen Vernunft nach der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B).
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Wie jeder gute Philosoph beginnt auch Kant seine Untersuchung mit einer Definition dessen, was zu untersuchen ist. „Die Definition des Geschmacks, welche hier zum Grunde gelegt wird, ist: daß er das Vermçgen der Beurteilung des Schçnen sei. Was aber dazu erfordert wird, um einen Gegenstand schçn zu nennen, das muß die Analyse der Urteile des Geschmacks entdecken.“ (5:203) Da die einzelnen Schritte dieser Analyse wohlbekannt sind, brauche ich sie hier nur kurz zusammenzufassen. Ein Urteil der Form ,x ist schçn‘ ist nach Kant kein Erkenntnisurteil, das einen Gegenstand bestimmt. Es gibt keine Verifikationsregeln fr Geschmacksurteile so wie es sie fr Erkenntnisurteile gibt. Obwohl das Urteil ,x ist schçn‘ also subjektiv ist, ist es doch nicht psychologisch. Es unterscheidet sich von allen subjektiven Urteilen hinsichtlich dessen, was fr ein bestimmtes Individuum angenehm ist, darin, daß es von der Erwartung genereller Zustimmung begleitet wird. Wir erwarten, so behauptet Kant, daß andere menschliche Wahrnehmungssubjekte hinsichtlich des Gegenstandes, den wir fr schçn halten, mit uns bereinstimmen werden – eine Erwartung, die wir nicht mit einem Ausdruck des Angenehmen verbinden wrden. ußerungen ber Angenehmes sind immer an gewisse Subjekte gebunden in einer solchen Weise, daß wir immer fragen kçnnen: angenehm fr wen? Und wir fhlen uns im Prinzip frei, dem nicht zuzustimmen oder sogar anderer Meinung zu sein hinsichtlich dessen, was angenehm ist. Bei Geschmacksurteilen ist dies aber anders. Hier fragen wir nicht: schçn fr wen?, genauso wenig, wie wir fragen wrden: blau fr wen?, wenn die Farbe des wolkenlosen Himmels erwhnt wrde. In einem Geschmacksurteil, sagt Kant, muten wir die Lust, die wir dabei fhlen, einem jeden anderen als notwendig zu, als ob es ein objektives Erkenntnisurteil wre. Und es ist genau diese Eigenschaft des sthetischen Urteils, daß es nmlich einerseits subjektiv ist, andererseits aber wie ein objektives oder Erkenntnisurteil allgemeine Zustimmung beansprucht, die laut Kant die Bemhung des Transzendentalphilosophen auf den Plan ruft, um diesen Sachverhalt zu erklren. Seine Erklrung ist kurz gefaßt die folgende. In der Erkenntnis eines jeden Gegenstandes spielen Einbildungskraft und Verstand zusammen. Die Einbildungskraft apprehendiert das Mannigfaltige, das die Urteilskraft dann unter einen Begriff subsumiert, der von der Vernunft zur Verfgung gestellt wird. Ist der Gegenstand auch schçn, so realisiert die Urteilskraft, daß diese Unterordnung den Gegenstand nicht erschçpft: vielmehr bemerkt sie in ihrer Reflexion, daß Verstand und Einbildungskraft nun in einem freien Spiel zueinander stehen, in welchem das Darstellungsvermçgen der Einbildungskraft und die begriffsbildende
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Fhigkeit des Verstandes sich gegenseitig beleben und fçrdern. Auf dieses freie Spiel reagieren wir mit dem Gefhl der Lust. Dieses Gefhl bringen wir dadurch zum Ausdruck, daß wir sagen, der Gegenstand ist schçn. Da wir Einbildungskraft und Verstand in allen menschlichen Wesen voraussetzen kçnnen, kçnnen wir auch annehmen, daß andere Menschen das gleiche Gefhl empfinden wie wir angesichts des Gegenstandes und folglich mit unserem Urteil bereinstimmen werden. „Die Belebung beider Vermçgen (der Einbildungskraft und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch vermittels des Anlasses der gegebenen Vorstellung einhelliger Ttigkeit, derjenigen nmlich, die zu einem Erkenntnis berhaupt gehçrt, ist die Empfindung, deren allgemeine Mitteilbarkeit das Geschmacksurteil postuliert.“ (AA V, 219) Ist dieses die Erklrung, warum wir von anderen bereinstimmung in Sachen der Schçnheit erwarten kçnnen, dann hat diese Erklrung eine Konsequenz, die nicht bersehen werden darf. Wenn Schçnheit nicht einen Gegenstand bestimmt, sondern das Gefhl des harmonischen Spiels zweier Vermçgen bezeichnet, die in jeder Erkenntnis involviert sind, dann folgt daraus, daß nur Wesen mit diesen beiden Vermçgen auch das freie Spiel erfahren kçnnen und folglich Schçnheit genießen kçnnen. Kant betont diesen Punkt schon im § 5 der Kritik der Urteilskraft, wo er schreibt: Annehmlichkeit gilt auch fr vernunftlose Tiere; Schçnheit nur fr Menschen, das ist tierische, aber doch vernnftige Wesen, aber auch nicht bloß als solche (z. B. Geister), sondern zugleich als tierische; das Gute aber fr jedes vernnftige Wesen berhaupt. (AA V, 210)
Folglich kçnnen nur Menschen Schçnheit erfahren. Darber hinaus ist das Schçne an und fr sich nichts. Es muß also so scheinen, als ob gewisse Naturprodukte – nmlich solche, die wir schçn nennen – lediglich zum Zwecke des menschlichen Wohlgefallens (und seiner moralischen Bildung, wie wir gleich sehen werden) da wren. Die Naturschçnheit zeigt damit eine Zweckmßigkeit in ihrer Form, die – da sie vom Standpunkt des transzendentalen Naturbegriffs her vçllig zufllig ist – den Gegenstand so erscheinen lßt, als sei er fr unsere Urteilskraft gleichsam vorherbestimmt. Und es ist genau diese Tatsache, so mçchte ich behaupten, die Kants Ausspruch zugrunde liegt, daß er ein neues apriorisches Prinzip entdeckt habe. Die tatschlich vorliegende Erfahrung der Naturschçnheit (und nur sie) veranlaßt die Urteilskraft in ihrer Reflexion, das Prinzip aufzustellen, daß die Natur ihre allgemeinen Gesetze zu besonderen Gesetzen fr die Urteilskraft spezifiziere. So scheinen gerade die Kommentatoren, die behaupten, daß dieses Prinzip schon in der
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ersten Kritik zu finden sei, Kants wiederholten Hinweis darauf zu bersehen, daß das Prinzip einer formalen Zweckmßigkeit der Natur weder durch die systematischen Tendenzen der Vernunft, noch durch irgendeine teleologische Reflexion, sondern allein durch sthetische Urteile ber Naturschçnes entdeckt wird. So schreibt Kant z. B.: Es ist eigentlich nur der Geschmack, und zwar in Ansehung der Gegenstnde der Natur, in welchem allein sich die Urteilskraft als ein Vermçgen offenbart, welches sein eigentmliches Prinzip hat und dadurch auf eine Stelle in der allgemeinen Kritik der oberen Erkenntnisvermçgen gegrndeten Anspruch macht, den man ihr vielleicht nicht zugetraut htte. (AA XX, 244)
Oder an anderer Stelle: Die selbstndige Naturschçnheit entdeckt uns eine Technik der Natur, welche sie als ein System nach Gesetzen, deren Prinzip wir in unserem ganzen Verstandesvermçgen nicht antreffen, vorstellig macht. (AA V, 246)
Jetzt wird deutlich, warum Kant von einer Teleologie sprechen kann, wenn er in seinem Brief an Reinhold das Prinzip des Geschmacks beschreibt. Die Erfahrung von unabhngiger Naturschçnheit erweitert unseren Naturbegriff. Sie erweitert unseren Naturbegriff von dem eines blinden Mechanismus – der Begriff der Natur der ersten Kritik und der Metaphysischen Anfangsgrnde der Naturwissenschaft – zu dem Begriff von Natur als Kunst, d. h. zu einer Natur, die in sich selbst zweckmßig und systematisch ist. Und von einer solchen Erweiterung des Naturbegriffs kann natrlich im Anhang zu der Dialektik der ersten Kritik keine Rede sein, wo es der Vernunft darum geht, grçßtmçgliche Einheit in die verschiedenen mechanistischen Erkenntnisse zu bringen, die ihr durch die Operationen des Verstandes zugefhrt wurden. Und es ist dieser erweiterte Naturbegriff, der auch ein neues Prinzip a priori von der eigenen Systematizitt der Natur nçtig macht – ein Prinzip, das von den heuristischen Maximen der Vernunft deutlich unterschieden ist. Kants bemerkenswerte Fhigkeit, verschiedene Elemente seiner Philosophie zur Einheit zusammenzufgen, erscheint jetzt in klarerem Licht. Ursprnglich, d. h. am Anfang seiner transzendentalen Untersuchungen, ging es ihm lediglich um die Mçglichkeit einer Metaphysik der Natur. Die grundlegenden Prinzipien der Moral, so glaubte er damals von Rousseau gelernt zu haben, sind sogar dem gemeinen Menschenverstand wohlbekannt. Transzendentalphilosophie ist folglich, ursprnglich, nur eine Untersuchung der Mçglichkeit apriorischen Wissens von Gegenstnden. Genauer gesagt, ist es eine Untersuchung der Frage, wie apriorische Begriffe oder Vorstellungen Gegenstnde bestimmen kçnnen ohne
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die Hilfe der Erfahrung. Woher kommt die angebliche „bereinstimmung“ dieser reinen Begriffe mit ihren Gegenstnden, wenn keine Erfahrung zu Hilfe kommen darf ? Dies ist die Frage, die Kant zuerst in seinem berhmten Brief an Markus Hertz von 1772 formuliert hat und die zu der Definition von transzendentaler Erkenntnis am Anfang der Kritik der reinen Vernunft, A 11 ff., gefhrt hat. Transzendentale Erkenntnis, so verstanden als Theorie eines wahrheitsfhigen, aber nichtempirischen Gegenstandsbezugs, schließt deshalb notwendig moralphilosophische Fragen aus, da hier der Bezug apriorischer Vorstellungen auf ihre Gegenstnde unproblematisch ist: Im Praktischen bringt der Begriff oder die Vorstellung von dem, was sein sollte, den entsprechenden Gegenstand oder Sachverhalt selbst hervor. Das Moralische ist deshalb „der transzendentalen Philosophie fremd“, wie Kant A 801 schreibt, da letztere „lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat“. Aber schon die erste Rezension der Kritik nçtigte Kant zu der Einsicht, daß a) das grundlegende Prinzip der Moral, nmlich der kategorische Imperativ, doch nicht so klar erkannt und eindeutig anerkannt war, wie er dachte, und daß b) die Frage, wie ein kategorischer Imperativ mçglich sei, eine „bemerkenswerte hnlichkeit mit dem Problem der Transzendentalphilosophie“ (AA XX, 60) habe – nmlich, wie synthetisches Wissen a priori mçglich sei. Das unmittelbare Resultat dieser Einsicht ist die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1785. Als aber im folgenden Jahr eine zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft nçtig wurde, entschied sich Kant, zuerst eine Kritik der praktischen Vernunft in diesen Text zu integrieren (vgl. AA III, 556; AA X, 469; AA X, 471). Diesen Plan hat er aber bald aufgegeben. Lewis White Beck spekulierte in seinem Kommentar zur zweiten Kritik, daß der Plan aufgegeben wurde, weil die Integration einer Kritik der praktischen Vernunft in den Korpus der ersten Kritik deren architektonische Struktur und ihre Methodologie zerstçrt haben wrde und einen schon langen Text ber alle Maße hinaus zum Anwachsen gebracht htte.6 Dies ist sicherlich nicht falsch, aber ich denke, der wahre Grund fr Kants Gesinnungswechsel lßt sich in seinem Brief an Reinhold finden, den ich oben erwhnte. Sobald nmlich die allgemeine Frage, wie synthetisches Wissen a priori mçglich ist, ins Zentrum der Kantischen Transzendentalphilosophie gerckt ist, ist es nur naheliegend zu fragen, ob das „dritte Vermçgen des Gemts“, das Gefhl der Lust und Unlust, ebenfalls ein eigenes Prinzip a priori habe. Und mit Hilfe des erkennt6
Vgl. Beck, 1974, 25.
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nistheoretischen Apparates, den er in der ersten Kritik entwickelt hatte, glaubte Kant nun, diese Frage tatschlich positiv beantworten zu kçnnen. Die Kritik des Geschmacks mßte also ebenfalls in die Neuauflage der ersten Kritik integriert werden, zusammen mit ihrem moralphilosophischen Gegenstck! Es kann deshalb wohl kaum berraschen, daß Kant sich stattdessen fr drei einzelne Kritiken entschied. Vor der ersten Kritik, in den siebziger Jahren, glaubte Kant noch, daß der Geschmack kein eigenes Prinzip a priori hat. Zwar ging er auch damals davon aus, daß das Angenehme lediglich subjektiv ist, whrend Geschmacksurteile allgemeine Zustimmung verlangen. Aber dies konnte er damals nur empirisch erklren als eine gemeinsame Subjektivitt oder als einen sensus communis: „Der Geschmack“, so schrieb er deshalb, „ist also die Urteilskraft der Sinne, wodurch erkannt wird, was mit dem Sinne anderer bereinstimmt; es ist also eine Lust und Unlust in Gemeinschaft mit anderen.“ (AA XXVIII, 251) Genauer gesagt: was mit den allgemeinen Gesetzen der Wahrnehmung bereinstimmt, z. B. die Wahrnehmung von Ordnung und Harmonie in einem Gegenstand, muß allgemein erfreuen und ist deshalb schçn genannt. Dem liegt aber kein apriorisches Prinzip zugrunde; die Regeln des Geschmacks (Ordnung, Harmonie, Einheit usw.) mssen immer aus dem gewonnen werden, was uns die Erfahrung liefert. Nach der ersten Kritik wurde Kant jedoch deutlich, daß er nun eine Erklrung des sthetischen Urteils geben konnte, die auf nichts anderem aufbaut, als den allgemeinen Bedingungen der Gegenstandserkenntnis. Darber hinaus sah er, daß diese Erklrung es ihm zudem erlauben wrde, eine apriorische Rechtfertigung – eine Deduktion – fr den Anspruch des Geschmacksurteils auf allgemeine Zustimmung zu geben, die es zugleich mit den Ergebnissen seiner Moralphilosophie verbinden wrde. Durch die Anbindung der Geschmacksansprche an die allgemeinen Bedingungen der Erkenntnis ergab sich damit die vorher ungeahnte Mçglichkeit, die Gebiete der Erkenntnis, der Moral und des Geschmacks in ein sich gegenseitig sttzendes Ganzes zu integrieren. Ich werde darauf im dritten Teil meines Beitrags zurckkommen. Vorher mçchte ich aber noch etwas nher auf das freie Spiel der Erkenntniskrfte in der dritten Kritik eingehen und auf die Erklrung, die Strawson dafr bereit stellt.
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II. Es sind, wenn ich recht sehe, zwei allgemeine Beobachtungen, die den Hintergrund fr Strawsons Erklrung des sthetischen Urteils in Kant abgeben: 1. Der Gegenstand der sthetischen Wertschtzung ist immer ein einzelner und einzigartig (unnachahmbar), und 2., die sthetische Wertschtzung enthlt keinerlei allgemeine deskriptive Kriterien. When you draw attention to some feature on account of which terms of aesthetic evaluation may be bestowed – schrieb er einige Jahre frher in Aesthetic Appraisal and Works of Art – you draw attention, not to a property which different individual works may share, but to a part or aspect of an individual work of art […]. If this is true, then the impossibility of general descriptive criteria of aesthetic excellence follows as a consequence.„7 Und kurz darauf: „When we have a class of objects of which the name, ,work of art‘, marks them out primarily to be assessed in this way, then there cannot be numerically distinct members of the class, or parts of these members, which yet share all the features relevant to this kind of assessment.8
Strawson scheint folgendes Bild vorzuschweben: Da etwas als etwas zu erkennen bedeutet, es als unter einen Begriff fallend zu erkennen, kann das, was uns einen Gegenstand als schçn erkennen lßt, nur durch einen Begriff eingefangen werden, von dem der Gegenstand die notwendigerweise singulre Instanziierung ist, d. h. durch einen Individualbegriff. Unsere normale Tendenz, nach einem allgemeinen Begriff Ausschau zu halten, versagt im Falle sthetischer Wertschtzung, da keine allgemeinen oder geteilten Eigenschaften die Tatsache erklren kçnnen, daß ein Gegenstand schçn sein kann, whrend ein qualitativ ununterscheidbarer es nicht sein mag. Um erklren zu kçnnen, warum der eine Gegenstand Lust in mir erweckt, whrend der andere es nicht tut, muß ich folglich nach einem Individualbegriff Ausschau halten, von dem das schçne Objekt die einzige Instantiierung ist. Oder anders ausgedrckt: Wenn zwei im relevanten Sinne qualitativ ununterscheidbare Gegenstnde beide schçn genannt werden kçnnen, ist es nicht, weil sie eine Eigenschaft gemein haben (welche Eigenschaften sie de facto teilen, ist im sthetischen Fall irrelevant9), sondern weil der eine Gegenstand unter einen Individualbegriff fllt, unter den der andere Gegenstand nicht fallen kann, und der andere Gegenstand unter einen anderen Individualbegriff fllt, der ebenfalls, notwendigerweise, auf andere Gegenstnde nicht an7 8 9
Strawson, 1974 a, 186. Strawson, 1974 a. Vgl. Strawson, 1974 a, 188.
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wendbar ist. Kants freies Spiel wrde demnach darin bestehen, daß der Individualbegriff inexponibel ist, daß folglich das Wesen des Schçnen nicht ausgedrckt werden kann, obwohl wir immer versuchen, es auszudrcken. Die Freiheit besteht in einem Unvermçgen, obwohl einem notwendigen Unvermçgen, mit einem Individualbegriff das auszudrcken, was nur ein Allgemeinbegriff ausdrcken kçnnte, nmlich etwas von allgemeiner Gltigkeit. Oder wie Strawson schreibt: […] the very faculties, whose normal and mundane function is fulfilled when they reach for and find an already existing general concept, are here engaged in free and harmoneous play around, or with, the unexponible ,concept‘ embodied in the beautiful object.10
Wie gut drckt diese Interpretation den Geist der Kantischen Analyse sthetischer Urteile aus? Eine erste Antwort kçnnte sein, daß Kant keine Individualbegriffe im vorgeschlagenen Sinne kennt. Wenn Kant den Begriff ,Begriff‘ definiert, wie z. B. in seiner Logik-Vorlesung, dann definiert er ihn als eine allgemeine Vorstellung (repraesentatio per notas communes), nmlich als eine Vorstellung, die das enthlt, was verschiedenen Gegenstnden gemein ist. Folglich sind Begriffe wesentlich allgemeiner Natur, wohingegen Anschauungen immer einzelne Vorstellungen sind. Dies ist auch die Position, die uns von der ersten ,Kritik‘ her vertraut ist. Trotzdem meine ich, daß dieser Einwand voreilig wre. Denn in einigen seiner Reflexionen spricht Kant auch von conceptus singularis (z. B. AA XVI, 342). Als Beispiele hierfr nennt er solche Begriffe wie ,Erde‘, oder den Eigennamen ,Julius Caesar‘. Daraus kçnnte man eine gewisse Rechtfertigung ableiten, Individualbegriffe bei der Analyse sthetischer Urteile ins Spiel zu bringen, obwohl Kant diese in der Kritik der Urteilskraft nicht ausdrcklich erwhnt. Wichtiger ist allerdings Kants wiederholt gemachte Behauptung, daß berhaupt keine bestimmten Begriffe vom Gegenstand fr solche Urteile von Relevanz sind. So schreibt er z. B.: Das Geschmacksurteil unterscheidet sich darin von dem logischen: daß das letztere eine Vorstellung unter Begriffe vom Objekt, das erstere aber gar nicht unter einen Begriff subsumiert, weil sonst der notwendige allgemeine Beifall durch Beweise wrde erzwungen werden kçnnen. (AA V, 286)
Oder an anderer Stelle: Der Geschmack als subjektive Urteilskraft enthlt ein Prinzip der Subsumtion, aber nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermçgens 10 Strawson, 1993, 227 f.
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der Anschauungen oder Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das Vermçgen der Begriffe (d.i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmßigkeit zusammenstimmt. (AA V, 287)
Kant spricht hier nicht von der Subsumtion einer Anschauung unter einen Begriff – allgemein oder individual – sondern von zwei Vermçgen, Einbildungskraft und Verstand, die in ein Verhltnis des freien oder harmonischen Spieles eintreten, sobald sie mit einem schçnen Gegenstand konfrontiert sind. Ich vermute nun, daß es Strawsons wohlbekanntes Mißfallen an solcher Vermçgenspsychologie ist, die ihn nach einer Erklrung sthetischer Urteile bei Kant suchen lßt, die einen Bezug auf Vermçgen vermeidet. Wir mssen folglich sehen, ob eine Erklrung der Kantischen Theorie mçglich ist, die ohne Individualbegriffe auskommt, die andererseits aber auch nicht Strawsons fundamentalen Einwnden ausgesetzt ist. Zuerst mssen wir zur Kenntnis nehmen, daß Kant dasjenige, was ihm an beiden Vermçgen in diesem Zusammenhang von Wichtigkeit erscheint, als Darstellungsvermçgen beschreibt. So haben wir gerade gehçrt, daß der Geschmack ein Prinzip der Subsumtion enthlt, „aber nicht der Anschauung unter Begriffe, sondern des Vermçgens der Anschauungen oder Darstellungen (das ist der Einbildungskraft) unter das Vermçgen der Begriffe (d. i. den Verstand)“. Und in der ersten Einleitung schreibt Kant, daß „die Urteilskraft, die keinen Begriff fr die gegebene Anschauung bereit hat, die Einbildungskraft (bloß in der Auffassung desselben) mit dem Verstande (in Darstellung eines Begriffes berhaupt) zusammenhlt.“ (AA XX, 223) Hier wird zwar die Darstellung des Verstandes mit der Auffassung der Einbildungskraft verglichen und gesagt, daß beide sich gegenseitig beleben, doch braucht dies nicht zu irritieren, da Kant selbst ausdrcklich behauptet, daß „das Vermçgen der Darstellung mit dem der Auffassung eines und dasselbe ist.“ (AA V, 279) „Das Vermçgen der Darstellung aber ist die Einbildungskraft.“ (AA V, 232) Die Aspekte sowohl der Einbildungskraft als auch des Verstandes, die fr Kants Analyse relevant sind, werden folglich mit demselben Terminus bezeichnet: Darstellung.11 Was bedeutet dies? In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant definiert: „einen Gegenstand […] darstellen, ist nichts anderes, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder mçgliche) beziehen.“ (A 156/B 195) Und in der dritten Kritik wird entsprechend ,Darstellung‘ definiert als „dem Begriffe eine korrespon11 Vgl. auch Henrich, 1992, 46 ff.
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dierende Anschauung zur Seite zu stellen.“ (AA V, 192) Was es fr den Verstand bedeutet, Begriffe darzustellen, lßt sich damit leicht sehen: Es ist das Vermçgen des Verstandes, Begriffe anzuwenden. Was bedeutet es aber, daß die Einbildungskraft das Vermçgen der Darstellung sei? Um diese Frage zu beantworten, mssen wir uns zuerst der Kritik der reinen Vernunft und der Deduktion der Kategorien zuwenden. In der Erkenntnis eines jeden Sinnengegenstandes, so hatte Kant dort argumentiert, mssen drei Dinge zusammenkommen: 1. muß die Mannigfaltigkeit des Sinnes durchlaufen und zusammengenommen werden, um sie als Einheit vorstellen zu kçnnen. 2. Was so durchlaufen und zusammengenommen wurde, muß aber auch reproduziert werden, da die bloße Apprehension noch keine Verbindung von Wahrnehmungen herstellt. Damit dies mçglich wird, muß die vorherige Wahrnehmung zusammen mit der folgenden Wahrnehmung, in die sie bergegangen ist, reproduziert werden und so eine Reihe von Wahrnehmungen hergestellt werden. Es ist in diesem Zusammenhang, daß Kant den Terminus ,Einbildungskraft‘ einfhrt (A 100 ff.). Sie wird definiert als das Vermçgen, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen (vgl. B 151). Die hier vorliegende Synthesis ist also die Synthesis der Reproduktion in der Einbildung. 3. Es darf aber diese Reproduktion der Einbildungskraft, soll aus ihr Erkenntnis eines Gegenstandes entspringen, nicht willkrlich sein. Die Einbildungskraft darf Wahrnehmungen nicht einfach in der Ordnung, in der sie zufllig zusammenkamen, verbinden, sondern muß sie in der Ordnung, in der sie zusammengehçren, erfassen. Die Regel, der sich die Einbildungskraft dazu in ihrer Synthesis bedient, ist der Begriff von dem jeweiligen Gegenstand. Denn ein Begriff, in Kants Terminologie, ist das, „was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproduzierte in eine Vorstellung vereinigt.“ (A 103) Nun ist es gerade die zweite Synthese, von der Kant hier spricht, nmlich die der Einbildungskraft in der Gegenstandserkenntnis, der Strawson einen hochinteressanten Aufsatz unter dem Titel ,Imagination in Perception‘ gewidmet hat. Ausgehend von der Wahrnehmung eines Hundes versucht er zu zeigen, daß in der gegenwrtigen Wahrnehmung des Hundes notwendig der Gedanke vergangener Wahrnehmung mitklingen muß, obwohl nicht unbedingt bewußtermaßen. Denn wir kçnnten keine Wahrnehmung, die ja immer flchtig ist, als Wahrnehmung eines dauerhaften Gegenstandes ansehen, wenn wir nicht bereit wren, andere flchtige Wahrnehmungen fr Wahrnehmungen desselben Gegenstandes zu halten. Und diese Art von Verbindung hngt natrlich
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ab von dem Besitz und der Anwendung eines Begriffes von dem Gegenstand.12 Wahrnehmungen dieser Art zu verbinden und unter einen Begriff zu bringen, ist unter normalen Umstnden nichts anderes, als den Gegenstand als von einer bestimmten Art zu erkennen und damit die gegenwrtige Wahrnehmung auch als in Zusammenhang stehend sehen mit mçglichen Wahrnehmungen des Gegenstandes, die vielleicht noch gar nicht gehabt worden sind. Um bei Strawsons Beispiel zu bleiben, den Gegenstand als Hund zu sehen, der ruhig und schlafend ist, bedeutet zugleich, ihn als ein Wesen zu sehen, das sich bewegen und bellen kçnnte, selbst wenn wir diesen Hund nur in seinem ruhigen Zustand gesehen haben. It seems, then, not too much to say that the actual occurent perception of an enduring object as an object of a certain kind, or as a particular object of that kind, is, as it were, soaked with or animated by, or infused with – the metaphores are choix – the thought of other or possible perceptions of the same object.13
Damit kann Kants Bemerkung, daß die Einbildungskraft das Vermçgen der Darstellung ist, eine deutlichere Bestimmung bekommen. Es ist das Vermçgen, mit einer gegebenen Wahrnehmung vergangene oder mçgliche Wahrnehmungen desselben Objektes zu verbinden. Mit diesem Ergebnis kçnnen wir zu Kants Analyse des sthetischen Urteiles zurckkehren. Ein Urteil dieser Art setzt immer einen Wahrnehmungsgegenstand voraus, auf den es angewandt wird. Sinn, Einbildungskraft und Verstand mssen gemeinsam einen Wahrnehmungsgegenstand gebildet haben, bevor das Urteil ,dieser Gegenstand ist schçn‘ gefllt werden kann. Und dieses Urteil ist nach Kant nur der Ausdruck fr das Gefhl, daß der gegebene Wahrnehmungsgegenstand Einbildungskraft und Verstand in ein freies und sich gegenseitig belebendes Spiel versetzt hat: „Die Erkenntniskrfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hierbei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschrnkt.“ (AA V, 217) Dies war nicht der Fall in dem gerade erwhnten Beispiel des schlafenden Hundes. Die vergangenen und mçglichen Wahrnehmungen, von denen man sagen konnte, daß sie die aktuelle Wahrnehmung des Hundes animierten, mußten vergangene oder mçgliche Wahrnehmungen eines Hundes sein. Die Einbildungskraft war also nicht frei in ihrer Animierung der gegenwrtigen Wahrnehmung mit nichtaktuellen Wahrnehmungen, son12 Vgl. Strawson, 1974 b, 51 f. 13 Strawson, 1974 b, 53.
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dern an eine bestimmte Erkenntnisregel gebunden, die ihr durch den Verstand, genauer: durch den Begriff ,Hund‘, vorgegeben war. Wenn die Einbildungskraft also frei sein soll, dann muß sie eine Vorstellung oder nichtaktuelle Wahrnehmung des Gegenstandes darstellen, ohne von einem bestimmten Begriff eingeschrnkt zu sein. Wir hçrten aber bereits, daß dies nicht willkrlich sein darf. ,Freiheit‘ bedeutet fr Kant nie: ohne Regel. Die Verbindung von Vorstellung durch die Einbildungskraft darf also nie „etwa gar grundlos“ (AA V, 342) sein, sondern muß in einer Ordnung stattfinden, in der sie zusammen auftreten kçnnten, auf der Basis der gegebenen Wahrnehmung des Gegenstandes, der schçn genannt wird. Da das freie Spiel darber hinaus wechselseitig sein soll, mssen dies außerdem Vorstellungen sein, auf die der Verstand Begriffe anwenden kçnnte auf der Basis der gegebenen Wahrnehmungen. Wir mssen nun versuchen, diesen Gedanken etwas mehr zu przisieren. In einem Erkenntnisurteil ist die Einbildungskraft durch den Verstand eingeschrnkt und muß sich der Regel fgen, die in dem Verstandesbegriff des Gegenstandes gedacht ist. Im sthetischen Urteil dagegen, so schreibt Kant, „ist die Einbildungskraft frei, um noch ber jene Einstimmung zum Begriffe, doch ungesucht reichhaltigen unentwickelten Stoff fr den Verstand, worauf dieser in seinem Begriffe nicht Rcksicht nahm, zu liefern.“ (AA V, 316 ff.) Diesen Reichtum an unentwickeltem Stoff, von dem Kant hier spricht, bezeichnet er auch als „eine Menge von Empfindungen und Nebenvorstellungen, fr die sich kein Ausdruck findet.“ (AA V, 316) Das, was schçn genannt wird, erregt Vorstellungen der Einbildungskraft, die vielerlei Gedanken veranlassen, fr die kein bestimmter Begriff adquat sein kann, ohne daß sie dadurch selbst willkrlich oder grundlos sein wrden. Im Gegenteil, das Schçne erlaubt es der Einbildungskraft, sich selbst in ihrer Zweckmßigkeit zur Darstellung von Begriffen berhaupt und damit in ihrer Harmonie mit der Gesetzmßigkeit des Verstandes zu zeigen. Die Einbildungskraft belebt den Verstand und erweitert dessen Begriffe sthetisch, so schreibt Kant, wenn sie dessen Begriffe mit ihren eigenen Vorstellungen derart unterlegt, daß, obwohl diese zur Darstellung des Begriffes gehçren, sie Gedanken ber Implikationen und Verwandtschaft mit anderen Begriffen initiieren, die durch keinen bestimmten Begriff zusammengefaßt werden kçnnen. Sie erçffnen, wie Kant sich ausdrckt, „die Aussicht in ein unabsehliches Feld verwandter Vorstellungen.“ (AA V, 315) Ist ein Beispiel erwnscht, um Kants Gedanken zu illustrieren, so kçnnte man an den Apfel denken, den die Schlange in Evas Hand legt in Drers
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berhmtem Kupferstich Der Sndenfall von 1504. Hat der Betrachter den Apfel in seinem Zusammenhang erkannt, bilden sich gewisse Nebenvorstellungen in seinem Geiste, von Versuchung und Fruchtbarkeit, von Snde und Verlust von Unschuld. Oder es kçnnte der Gedanke an eine felix culpa entstehen und an die Geburt menschlichen Bewußtseins, wie z. B. bei Hegel und anderen deutschen Idealisten. In einem anderen Zusammenhang kann der Apfel Unsterblichkeit symbolisieren, wie z. B. die goldenen pfel der Hesperiden in der griechischen Mythologie, oder weltliche Macht, wenn er etwa als Reichsapfel dargestellt ist, wie z. B. in Drers Nrnberger Bild von Karl dem Großen; oder der Apfel kçnnte assoziiert werden mit Gedanken spirituellen Wissens, wie etwa in den Epen der Keltischen Tradition, usw. usw. Das freie Spiel der Vermçgen, von dem Kant spricht, bedeutet folglich die Einsicht in die wesentliche Unerschçpfbarkeit des sthetischen Gegenstandes, der eine Vielzahl mçglicher Interpretationen zulßt, von denen keine die erschçpfende oder letzte sein kann. Schçnheit erlaubt und befçrdert eine Aktivitt der Einbildungskraft, die jede begriffliche Bestimmung bersteigt. Diese Befçrderung erfahren wir als lustvoll, als stimulierend und belebend, und wir drcken diese aus, indem wir den Gegenstand als schçn bezeichnen. Das Spektrum mçglicher Interpretation und Deutung ist in diesem Fall unbegrenzt und wandelt sich mit der Zeit. Neue Begriffe werden die Einbildungskraft stimulieren, neue und unvorhergesehene Vorstellungen darzustellen; die Darstellung der Einbildungskraft wiederum wird neue, aber damit verbundene begriffliche Verbindungen befçrdern, die wir vielleicht niemals vorher erfaßt haben. Kants Analyse des sthetischen Urteils besttigt damit nicht nur das Grundprinzip der Hermeneutik, daß verschiedene Epochen Kunstwerke notwendig verschieden interpretieren, sondern liefert uns zugleich die Erklrung, warum das so ist. Dieser Aspekt der Kantischen Theorie geht verloren in Strawsons Erklrung sthetischer Urteile mittels Individualbegriffen. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, dem dessen Erklrung meiner Meinung nach nicht gerecht wird, und dem ich mich im Rest meines Beitrags widmen mçchte. Damit kann ich zugleich zum Thema des ersten Teiles zurckkommen.
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III. Eine befriedigende Darstellung des Kantischen sthetischen Urteiles muß irgendwie der Tatsache Rechnung tragen, daß es nicht die Unerschçpfbarkeit des sthetischen Gegenstandes, sondern die Rechtfertigung des Anspruches auf allgemeine Gltigkeit war, die Kant zur Kritik des Geschmacks veranlaßte (vgl. AA V, 266). Wie wir im ersten Teil sahen, hatte Kant schon in seiner vorkritischen Phase diesen Anspruch zu den Wesensmerkmalen des sthetischen Urteils gezhlt, aber ihn als empirisch betrachtet, als quid factum, nicht quid iuris. Dies nderte sich mit der Integration der sthetischen Theorie in den epistemologischen Rahmen der kritischen Philosophie. Von nun an betrachtete Kant die Erwartung auf Zustimmung als a priori rechtfertigbar, und die Zustimmung selbst als eine „Art von Pflicht“. Wie ist eine Deduktion eines Anspruchs auf Zustimmung zu verstehen? Eine solche Deduktion lßt sich nicht im Zusammenhang einer bloßen Analyse eines gegebenen Urteilstyps erwarten. Die bloße Analyse von etwas Gegebenem, in diesem Fall das Vorliegen einer bestimmten Urteilsform, kann keinen normativen Anspruch rechtfertigen. In dieser Hinsicht kann die Analytik der sthetischen Urteilskraft verglichen werden mit dem Verfahren der Prolegomena. Dort hatte Kant gewisse synthetische Urteile a priori in der Mathematik und den Naturwissenschaften aufgezhlt, die ihm selbst als unproblematisch erschienen, und untersuchte sie dann hinsichtlich ihrer Mçglichkeit. Aber eine solche Untersuchung ergibt bestenfalls ein Ergebnis, das Gltigkeit hat relativ zur Prmisse, in diesem Fall relativ zu der Annahme, daß es in der Tat gltige synthetische Urteile a priori in Mathematik und den Naturwissenschaften gibt. Deshalb war ein analytisches Verfahren wie das der Prolegomena nur erlaubt, nachdem die Kritik der reinen Vernunft synthetisch die grundstzliche Mçglichkeit eines solchen Urteilstypes etabliert hatte (vgl. AA IV, 274 f.). Das Verfahren der Prolegomena wurde ja auch nur gewhlt, um einen sonst ausgesprochen trockenen und komplizierten philosophischen Gedankengang allgemein verstndlicher darzustellen. Und auch der Hinweis auf bestimmte kognitive Vermçgen, die alle Menschen gemeinsam haben, kann bestenfalls erklren, warum wir de facto Zustimmung in sthetischen Urteilen erwarten, wenn wir das denn tun, aber nicht, daß wir in diesen Fllen auch berechtigt sind, Zustimmung als eine Art von Pflicht zu verlangen. Ein analytisches Argument kann nur erlutern, was in solchen Urteilen impliziert ist; es kann nicht
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selbst deren Anspruch auf universelle Gltigkeit rechtfertigen (so ausfhrlich: AA V, 278.). Entgegen dem ersten Eindruck gibt Kant auch tatschlich keine Deduktion des sthetischen Anspruchs auf Allgemeingltigkeit in der Analytik der Kritik der sthetischen Urteilskraft. Obwohl die §§ 30 – 38 die berschrift tragen „Deduktion der reinen sthetischen Urteile“, fhrt Kant hier nur noch einmal die Ergebnisse der vorherigen Analyse des Geschmacksurteils aus. Daß keine Deduktion in den §§ 30–38 stattgefunden hat, ist auch aus Kants Bemerkung am Ende von § 40 ersichtlich, wo er schreibt: Wenn man annehmen drfte, daß die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefhls an sich schon ein Interesse fr uns bei sich fhren msse, welches man aber aus der Beschaffenheit einer bloß reflektierenden Urteilskraft zu schließen nicht berechtigt ist: So wrde man sich erklren kçnnen, woher das Gefhl im Geschmacksurteile gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werde. (AA V, 296)
Das heißt, wir kçnnen diese Annahme bisher noch nicht machen. Und im § 57, schon fast am Ende der Dialektik, macht Kant noch einmal deutlich, daß die Deduktion noch lange nicht vollendet ist, wenn er schreibt, „rumt man aber unserer Deduktion wenigstens so viel ein, daß sie auf dem rechten Wege geschehe, wenngleich noch nicht in allen Stcken hell genug gemachet sei […]“ (AA V, 346) Und tatschlich wird die Deduktion erst im letzten Abschnitt der Dialektik (§ 59) abgeschlossen, dem vorletzten der ganzen Kritik des Geschmacks. Die bloße Explikation des sthetischen Urteils war also nur ein erster Schritt in Kants Theorie, und es kann deshalb nicht berraschen, daß er von der Analytik zur Dialektik fortschreitet, von Naturschçnheit zu Kunstschçnheit und von der Analyse des sthetischen Urteils zu einer Erçrterung des Genies. Wie geht das Argument nun weiter? Wir haben gerade gehçrt, daß der sthetische Anspruch auf allgemeine Zustimmung eine Deduktion erfahren kçnnte, wenn „die bloße allgemeine Mitteilbarkeit seines Gefhls an sich schon ein Interesse fr uns bei sich fhren msse“; dann kçnne die Zustimmung gleichsam als Pflicht jedermann zugemutet werden. Bereits im § 4 hatte Kant darauf hingewiesen, daß das Wohlgefallen am Guten immer mit einem Interesse verbunden ist, da dieses der Gegenstand eines reinen Willens ist. Etwas wollen und an seinem Dasein ein Interesse zu nehmen, sind fr Kant synonyme Begriffe. Als moralisch Handelnde sind wir auch unweigerlich an den Folgen unserer Handlungen interessiert, da die Realisierung des hçchsten Gutes in dieser Welt das letzte Ziel all unserer moralischen Handlungen sein
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muß. Da wir aber die objektive Realitt des Begriffes vom hçchsten Gut nur postulieren kçnnen, darum sind wir unweigerlich interessiert an jedem Wink oder Hinweis, den die Natur uns geben mag, daß sie die Realisierung unserer moralischen Ziele im physikalischen Bereich auch zulßt. Deshalb muß auch in jedem Menschen mit moralischer Sensibilitt Naturschçnheit ein Interesse erwecken. Ihm kann es nicht gleichgltig sein, daß die Natur schçne Formen hervorbringt und damit eine formale Zweckmßigkeit fr unsere menschlichen Fhigkeiten und Vermçgen zum Ausdruck bringt: Folglich kann das Gemt ber die Schçnheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch; und der, welcher es am Schçnen der Natur nimmt, kann es nur sofern an dem selben nehmen, als er vorher schon sein Interesse am Sittlich-Guten wohl gegrndet hat. (AA V, 300)
Wenn wir dieses Argument akzeptieren, haben wir damit zugleich eine Erklrung, warum wir die Zustimmung anderer Menschen erwarten kçnnen hinsichtlich Naturschçnheit. Da unser Endziel die Realisierung einer moralischen Welt ist, in der alle Vernunftwesen in bereinstimmung mit dem Sittengesetz handeln, kçnnen wir nicht gleichgltig gegenber der moralischen Sensibilitt anderer Vernunftwesen sein. Aber die Schwche dieses Argumentes ist zugleich offensichtlich. Es lßt sich nmlich nicht ohne weiteres auf schçne Kunst bertragen. Folglich wendet Kant nun, d. h. ab § 43, seine Aufmerksamkeit nicht mehr dem Naturschçnen, sondern der schçnen Kunst zu. Was ist schçne Kunst? Sie ist zuerst einmal das Produkt des kreativen Knstlers, oder in der Sprache des 18. Jahrhunderts: des Genies. Neben einer umfassenden technischen Kompetenz bedarf es zum Genie vor allem Talent, genauer gesagt: einer kreativen Originalitt, die weder kopiert noch gelehrt werden kann. Viele Fhigkeiten kçnnen und mssen erworben werden, bevor ein Kunstwerk selbst mçglich wird, aber das kreative Talent selbst ist ein Geschenk der Natur, das nicht vom Lehrer auf die Schler weitergegeben werden kann. Das Genie ist eine Naturgabe, betont Kant, „eine angeborene Gemtsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“ (AA V, 307) Diese Naturgabe ist das belebende Prinzip, das es dem Knstler ermçglicht, sthetische Ideen in einer solchen Weise darzustellen, daß gewissermaßen eine zweite Natur aus dem Stoff der ersten, der existierenden Natur geschaffen wird. Damit ist aber auch eine wichtige Verbindung zur Analyse des Geschmacksurteils gegeben, denn die sthetischen Ideen, die das Genie in
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seiner Arbeit darstellt, sind nichts anderes als jene Vorstellungen der Einbildungskraft, „die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, das ist Begriff, adquat sein kann.“ (AA V, 314) Es sind dies die Vorstellungen der sthetischen Einbildungskraft, die wir schon vorher kennengelernt haben, so daß Kant Genie auch definieren kann „als die mustergltige Originalitt der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauch seiner Erkenntnisvermçgen.“ (AA V, 318) Hiermit kommt das Argument der Analytik zu einem gewissen Abschluß, und Kant geht nun zur Dialektik ber, um eine Antinomie des Geschmacks zu erzeugen, die den Leser dazu nçtigen soll, zwischen zweierlei Begriffen von Natur zu unterscheiden: dem physischen oder empirischen Bereich der Natur und der Natur, die der physischen Natur als ihr Grund unterliegt und der Kant den Namen der bersinnlichen Natur gibt. Denn die Natur, die dadurch, daß sie dem Genie ein besonderes Talent verleiht und damit der Kunst die Regel gibt, kann nicht die physische Natur sein, die wir aus der ersten Kritik kennen – die Natur, die durch die transzendentalen Prinzipien des Verstandes konstituiert ist. Die Naturgabe, die es dem Genie erlaubt, gewissermaßen eine zweite Natur aus dem Stoff der ersten zu schaffen, ist genauso unabhngig von den Kausalmechanismen des physischen Bereichs, wie unsere Erkenntniskrfte in der Konstitution der Sinnesgegenstnde es sind (vgl. AA V, 344). Nun braucht Kant aber nur eine weitere Erluterung der knstlerischen Ttigkeit hinzuzufgen, um das Ziel seiner Deduktion zu erreichen. Das Genie, sagten wir, schafft eine zweite Natur aus dem Stoff der ersten. Das bedeutet genauer genommen, daß der Knstler in seiner Arbeit Vorstellungen der Einbildungskraft darstellt, die als Nebenvorstellungen oder sthetische Ideen gegebener Begriffe bezeichnet werden kçnnen. Auf diese Weise erhalten die Begriffe ihnen entsprechende Anschauungen, aber nicht direkt, wie wenn z. B. auf eine Instantiierung eines Begriffes gezeigt wird oder wenn ein reiner Begriff schematisiert wird, sondern indirekt, mittels einer Analogie. Kant nennt dies die symbolische Darstellung und illustriert sie mit dem folgenden Beispiel: Ein monarchischer Staat wird symbolisch vorgestellt durch einen beseelten Kçrper, wenn er nach inneren Volksgesetzen beherrscht wird; durch eine bloße Maschine aber, wie z. B. eine Handmhle, wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird. Hier wird die Handmhle, die das zermahlt, was sie enthlt, benutzt, um symbolisch darzustellen, was der Despot mit den Menschen tut, die in seinem Staat enthalten sind. Die Urteilskraft bt hier eine doppelte Ttigkeit aus: 1.
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wendet sie den Begriff auf den Gegenstand einer sinnlichen Anschauung an und 2. wendet sie die bloße Regel der Reflexion ber jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand an, von dem der erstere das Symbol ist. (AA V, 352) Die Art, wie wir ber eine Handmhle reflektieren, ist hier bertragen auf einen ganz anderen Gegenstand: den Despoten. Nun ist Kant endlich in der Lage zu erklren, warum wir zu Recht allgemeine Zustimmung fr unsere Geschmacksurteile verlangen: Eine Deduktion dieses Anspruches ist mçglich, weil wir sagen kçnnen, daß das Schçne das Symbol des sittlich Guten ist: „Nun sage ich, das Schçne ist das Symbol des sittlich Guten; und auch nur in dieser Rcksicht […] gefllt es mit einem Anspruch auf jedes anderen Beistimmung.“ (AA V, 353, Hervorhebung E. F.) Warum? Wir haben zwei Gegenstnde, Schçnheit und das sittlich Gute oder „den letzten Zweck der Menschheit.“ (AA V, 298) Wenn das Schçne nun das Symbol des sittlich Guten ist, dann muß es eine Analogie geben in der Art, wie wir ber beide reflektieren. Mit Bezug auf das Schçne sagt Kant von der Urteilskraft: „Sie gibt in Ansehung der Gegenstnde eines so reinen Wohlgefallens ihr selbst das Gesetz, so wie die Vernunft es in Ansehung des Begehrungsvermçgens tut.“ (AA V, 353) Wie aber tut die Vernunft das? Dies kommt am deutlichsten in der Kritik der praktischen Vernunft zum Ausdruck, wo es z. B. heißt: Dieses moralische Gesetz soll der Sinnenwelt als einer sinnlichen Natur, (was die vernnftigen Wesen betrifft) die Form einer Verstandeswelt, d. i. einer bersinnlichen Natur, verschaffen, ohne doch jener ihrem Mechanismus Abbruch zu tun. (AA V, 43)
Die moralische Reflexion besteht im Erfassen einer nicht-empirischen Idee bzw. eines Gesetzes, des Sittengesetzes, und im Vorschreiben einer Handlung, die in der empirischen Welt das realisiert, was sein soll. Das heißt, als moralisch Handelnde sollen wir die bestehende Natur in bereinstimmung mit der Idee von der Form einer anderen Welt verndern. Analog dazu schafft der Knstler eine zweite Natur, durch Umgestaltung der physischen Welt in bereinstimmung mit nicht-empirischen oder sthetischen Ideen. Wenn wir ber Schçnes und sittlich Gutes reflektieren, so realisieren wir, daß in beiden Fllen der physischen Welt eine Form aufgençtigt wird derart, daß das Ergebnis als Darstellung von Ideen – sthetischer oder moralischer – angesehen werden muß. Deshalb obliegt es jedem, am Kunstschçnen genauso interessiert zu sein wie am Naturschçnen, und ich bin folglich gerechtfertigt, auch die Zustimmung anderer fr mein Geschmacksurteil zu fordern.
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Abschließend lßt sich damit sagen, daß das tatschliche Ausmaß von Kants erstaunlicher Fhigkeit, die verschiedenen Elemente seiner Philosophie in einem System zusammenzufassen, nur dann deutlich wird, wenn wir ber die Unerschçpfbarkeit der sthetischen Beurteilung hinausschauen und auch auf sein Insistieren achten, daß Geschmacksurteile wesentlich einen Anspruch auf allgemeine Zustimmung machen, und daß dieser Anspruch mittels einer Deduktion gerechtfertigt werden kann. Erst aus dieser Perspektive wird das Ausmaß deutlich, in welchem Kants Epistemologie, Moral, sthetik und Teleologie sich gegenseitig sttzen und zusammen ein integriertes Ganzes bilden.14 Literatur Beck, Lewis White, 1974, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“, Mnchen. Guyer, Paul,1998, Reason and Reflective Judgment. Kant on the Significance of Systematicity, in: Nous 24, S. 17–43. Henrich, Dieter, 1992, Aesthetic Judgment and the Moral Image of the World, Stanford. Kant, Immanuel, Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. [zitiert unter Angabe von Band- und Seitenzahlen; die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert nach der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B)]. Strawson, Peter F., 1998, The Philosophy of P.F. Strawson, The Library of Living Philosophers Volume XXVI, ed. Lewis Edwin Hahn, Chicago and Lasalle. Strawson, Peter F., 1993, Review of Paul Guyer, ed., The Cambridge Companion to Kant, in: The European Journal of Philosophy 1, S. 224–228. Strawson, Peter F., 1974 a, Aesthetic Appraisal and Works of Art, in: Freedom and Resentment and Other Essays, London, S. 178–188. Strawson, Peter F., 1974 b, Imagination in Perception, in: Freedom and Resentment and Other Essays, London, S. 45–65.
14 Dieser Aufsatz wurde ursprnglich fr eine Tagung zu Ehren von Sir Peter Strawson geschrieben, die 1999 an der University of Reading stattfand. Er erschien 2003 auf Englisch in dem von H.-J. Glock herausgegebenen Tagungsband Strawson and Kant, Oxford, S. 185–204.
Die Lust im Erkennen: Kants emotionales Apriori und die Rehabilitierung des Gefhls Wolfgang Wieland I. Unternimmt man es, sich mit Kant als einem der klassischen Denker der Vergangenheit unter den Bedingungen unserer Gegenwart zu beschftigen, optiert man fr einen Zugang zur Geschichte, bei dem man sich fr diese nicht um ihrer selbst willen interessiert. Man nimmt eine pragmatische Einstellung ein, wenn man danach fragt, was von der Vergangenheit in der Gegenwart noch prsent und lebendig ist, aber auch dann, wenn man, gerade umgekehrt, diagnostizieren will, was der Gegenwart fehlt und in der Vergangenheit geeignete Therapeutika zu suchen beginnt. Hufig geht man auch so vor, daß man in der Vergangenheit die Keime von Heutigem in der Erwartung aufsucht, auf diese Weise die Gegenwart und damit zugleich sich selbst besser verstehen zu kçnnen. Keiner dieser Zugangsweisen lßt sich die Legitimitt absprechen, vorausgesetzt, man gibt sich ber die Voraussetzungen, ber die Ziele und ber die Grenzen seines Vorgehens Rechenschaft. Das Bewußtsein gegenwrtiger Problemlagen und Aporien hilft einem nicht selten dabei, gerade bei den Denkern der Vergangenheit, denen man den Rang von Klassikern zuzugestehen pflegt, Dinge zu entdecken, auf deren Bedeutsamkeit man erst aufmerksam wird, wenn man mit seinen eigenen Fragen an sie herantritt. Freilich sind derartige Aktualisierungen nicht frei von Gefahren. Gerade Kant hat auf sie aufmerksam gemacht und sie auf den Begriff gebracht: „So kann es nicht leicht fehlen, daß nicht zu jedem Neuen etwas Altes gefunden werden sollte, was damit einige hnlichkeit htte“.1 Auf geradezu sarkastische Weise distanziert er sich von einem derartigen Vorgehen, wie es praktiziert wird von „Gelehrten, denen die Geschichte der Philosophie selbst 1
AA IV, 255.
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ihre Philosophie ist“2 und die auf diese Weise nur ihr eigenes denkerisches Unvermçgen bemnteln: „Die, so niemals selbst denken, besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was sonst schon gesagt worden, aufzusphen, wo es doch vorher niemand sehen konnte“.3 Dennoch sollte man sich dadurch nicht daran hindern lassen, auch Kant immer wieder unter neuen Blickwinkeln zu lesen. Man erçffnet sich damit die Chance, Dinge zu entdecken, die einem sonst, verschuldet durch eingefahrene Vormeinungen und Lesegewohnheiten, schwerlich zu Gesicht gekommen wren. Vor allem der Perspektivenreichtum der Klassiker des philosophischen Denkens und damit gleichsam die Mehrdimensionalitt jeder Philosophie von Rang hindern einen daran, alle ihre Seiten und Aspekte zugleich in den Blick zu fassen. Die Philosophie befindet sich hier in einer anderen Situation als die meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Denn in dem Maße, in dem jede Fachwissenschaft ihre Ergebnisse mit der Vorgabe erarbeitet, daß sie schon im Zuge ihrer Fragestellung die Intention immer nur auf einzelne, aus einem komplexen Zusammenhang isolierte Aspekte ihres jeweiligen Gegenstandes richtet, stellt sich die Philosophie die dazu reziproke Aufgabe, das zusammenzusehen und aufeinander zu beziehen, was ursprnglich einmal zusammengehçrt hat. Gewiß kann auch sie in ihrer Arbeit nicht darauf verzichten, zu abstrahieren und mit den Resultaten dieser Ttigkeit umzugehen. Das darf sie jedoch nicht daran hindern, bei allen ihren Abstraktionen zugleich auch das im Auge zu behalten, wovon ursprnglich abstrahiert worden ist, und damit diese Abstraktionen zumindest virtuell zu neutralisieren. Gewiß kann man Philosophiegeschichte auch nach der bekannten Devise des weisen Ben Akiba betreiben: „Es ist alles schon einmal dagewesen“. Obwohl das Arbeiten gemß dieser Devise fast schon mit einer Erfolgsgarantie verbunden ist, begibt man sich mit ihr in eine Sackgasse. Bringt man nmlich die nçtige Ausdauer und Findigkeit mit, wird es einem so gut wie berall gelingen, irgendwelche Analogien oder Parallelen aufzuspren, auch wenn es sich dabei oft nur um Trivialitten handelt. Eine fruchtbarere Beschftigung mit der Vergangenheit, die zugleich von gegenwrtigen Fragestellungen und Interessen Gebrauch machen will, muß daher von anderen Vorgaben ausgehen. Am meisten kann man sich immer noch von jenem Umgang mit den klassischen philosophi2 3
AA IV, 255. AA IV, 270.
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schen Autoren der Vergangenheit versprechen, bei dem man sich darum bemht, ihre Texte sub ratione veritatis zu lesen. In diesem Fall befaßt man sich mit ihnen unter der Voraussetzung, daß man nicht nur ber sie, sondern auch von ihnen etwas lernen kann, da man erwartet, daß einen diese Texte nicht nur ber die Vorstellungen ihrer Autoren, sondern auch ber die von ihnen behandelten Gegenstnde zu belehren vermçgen, daß diese Autoren mithin Wahrheit mitgeteilt haben. Das ist allerdings nur eine Hypothese, bei der man sich, wie bei jeder anderen Hypothese auch, darauf gefaßt machen muß, in der Arbeit mit ihr immer wieder auch zu scheitern. Aber wenn es irgendein Kriterium gibt, das es einem erlaubt, einen philosophischen Autor als einen der klassischen Autoren seines Fachs auszuzeichnen, dann ist es diese Hypothese – dann nmlich, wenn er es wirklich aushlt, unter ihrer Voraussetzung befragt zu werden. Es liegt auf der Hand, daß nicht sehr viele philosophische Autoren der Vergangenheit einem solchen Test standhalten. Immerhin ist man gut beraten, wenn man sich bei der Anwendung jenes Kriteriums der Mhe unterzieht, notfalls auch selbst auf die Suche nach Zusatzbedingungen zu gehen, unter denen sich die zu prfende These eines Autors als wahr herausstellt. Wer darauf verzichtet, unter solchen Auspizien Philosophiegeschichte zu betreiben, wird nur schwer rechtfertigen kçnnen, daß man es dem Studenten der Philosophie, einem von Hause aus gerade nicht historisch, sondern systematisch ausgerichteten Fach, nicht erspart, einen betrchtlichen Teil seiner Arbeitskraft auf die Beschftigung mit seiner Geschichte und mit Autoren vergangener Zeiten zu wenden. Noch ein anderer Gesichtspunkt verdient es in diesem Zusammenhang, bercksichtigt zu werden. Der Philosophie stehen fr ihre Arbeit und fr die Prfung ihrer Resultate nicht so viele leistungsstarke Korrekturfaktoren zur Verfgung wie den meisten anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Das gilt in besonderem Maße in bezug auf die Erfahrung – sowohl auf das von den empirischen Wissenschaften planmßig erarbeitete Erfahrungswissen als auch auf die vortheoretische und vorreflexive, sich in einem persongebundenen Habitus verfestigende Erfahrung, wie sie sich im Laufe der Zeit einstellt, wenn sich der Mensch mit seiner Lebenswelt auseinandersetzt und zugleich von ihr geprgt wird. Die Philosophie macht nmlich kraft eigenen Rechts keine Erfahrungen, die sie fr ihre Arbeit als Korrekturfaktoren fruchtbar machen kçnnte. Entsprechendes gilt im brigen auch in bezug auf das formale Operieren nach der Weise der Mathematik, da die Philosophie als solche auch keine formalen Operationsregeln entwickelt. Deshalb kçnnte die Philosophie, gerade ihrer Armut an empirischen oder formalen Korrekturfaktoren
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wegen, nur zu ihrem eigenen Nachteil darauf verzichten, die klassischen Denker der Vergangenheit auch fr ihre eigene, sachbezogene Arbeit als Prfinstanzen in Anspruch zu nehmen und ihre jeweiligen Resultate der virtuellen Kontrolle durch sie auszusetzen, zumal dann, wenn sie, wie Kant, auch in der Gegenwart immer noch auf ihre Weise prsent sind. II. Lust im Erkennen und Rehabilitierung des Gefhls – es scheint, als wrden hier Dinge aufeinander bezogen, die im Grunde unvereinbar sind, zumal im Blick auf Kant, in dem manch einer einen auf rigorose Weise sinnenfeindlichen Erzrationalisten sieht, der sich, wie es scheinen kçnnte, gegenber allem Irrationalen, gegenber allem nicht auf strikte Weise Begrndbaren abschottet und die Bestimmung des Menschen nur in einem im Denken wie im Handeln ausschließlich durch die Vernunft bestimmten Leben erfllt sieht, das Emotionalem allenfalls noch einen untergeordneten Platz einrumt. Ein so gesehener Kant scheint all denen entgegenzukommen, die das gerade in unseren Tagen von einer gewissen Hektik nicht freie Pochen auf Rationalitt schon fast zu einer Zwangshaltung verfestigt haben. So ist der Irrationalismusverdacht lngst zu einer wohlfeilen, ihren Zweck nur selten verfehlenden Waffe in den Diskussionen der Philosophen geworden. Niemand, der mit ihm konfrontiert wird, will ihn auf sich sitzen lassen, auch wenn er sich gewçhnlich keine Rechenschaft gibt ber die Motive seines Bekenntnisses zur Rationalitt und ber die Herkunft sowie die Tragweite der Berhrungsngste gegenber allem, was als irrational denunziert wird. Gerade deshalb sollte er sich aber bewußt machen, daß er das Risiko eingeht, jene Haltung einzunehmen, die Kant im Auge hat, wenn er mit einem zu seiner Zeit nicht ungebruchlichen Ausdruck von der Gefahr spricht, daß man auch „mit Vernunft rasen“4 kann. Man darf nicht vergessen, daß die Philosophie in ihrer Geschichte oftmals zu den Gefhlen, zu den Emotionen berhaupt eine eigentmlich distanzierte und hçchst zwiespltige Einstellung eingenommen hatte. Ihrer manchmal auch destruktiven Potenzen wegen traten sie immer wieder als Hemmnisse eines vernunftgeleiteten Denkens ins Blickfeld, aber auch als Stçrfaktoren eines um die Orientierung an allgemeingltigen Normen bemhten vernnftigen Handelns, die gerade deswegen 4
AA V, 275.
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irritieren, weil sie die Rationalitt zu durchkreuzen und zu korrumpieren fhig sind. Dazu kam, daß ihnen der kategoriale Status von Widerfahrnissen eigen ist, die der Souvernitt und der Planungshoheit des Individuums, das nicht ber sie verfgen kann und dem sie deswegen niemals unmittelbar zu Gebote stehen, entzogen sind. In der Tat machen vor allem starke Gefhle dem Individuum die Grenzen seiner Herrschaft ber sich selbst evident. Dem widerspricht nicht, daß ein betrchtlicher Anteil alles menschlichen Handelns und Strebens faktisch darauf abzielt, Bedingungen zu schaffen, die den Eintritt derartiger Widerfahrnisse zumindest begnstigen, da das Individuum, das sie aus eigener Kraft hervorzurufen nicht imstande ist, sich nur auf passive Weise zu ihnen verhalten kann. Eine weitere Eigentmlichkeit im Umgang mit Gefhlen kommt hinzu. Sie grndet in dem Widerstand, den sie jedem Versuch entgegensetzen, sie zu identifizieren und randscharf voneinander abzugrenzen. Obwohl dem Menschen nichts auf so distanzlose Weise vertraut zu sein scheint wie die eigenen Gefhle und Empfindungen, lassen sich diese gerade der Unmittelbarkeit ihrer Prsenz wegen gegenstndlich kaum fassen. Sie werden allein schon dadurch verndert, daß man die Aufmerksamkeit gezielt auf sie richtet.5 Leicht gert auch in Vergessenheit, daß jedem Menschen die Welt, in der er lebt und mit seinesgleichen zusammenlebt, die eigene Person nicht ausgenommen, zu einem guten Teil durch seine Empfindungen und seine Gefhle erschlossen ist, die fr ihn ursprnglich gar nicht den Status von Gegenstnden haben, von denen er sich, wenn er dies nur wollte, auch distanzieren kçnnte.6 Anders als mit seinen Gedanken, anders auch als mit vielen seiner Handlungen hat man sich mit den meisten seiner Emotionen immer schon vor aller Reflexion identifiziert. Es ist allerdings ein bloßes Vorurteil, daß Kant ber das Reich des Emotionalen mit Verstndnislosigkeit, ja mit Geringschtzung hinweggesehen haben soll. Gewiß hat er deutlich gemacht, daß man Emotionen bestimmte Leistungen schlechterdings niemals abverlangen kann. Das bekannteste Beispiel hierfr betrifft die Rolle der Neigungen und den Umgang mit ihnen. Hier stehen Begrndungsfragen der Ethik im Vor5 6
Dies ist fr Kant sogar ein Grund, der Psychologie die Fhigkeit abzusprechen, jemals den Status einer strengen Naturwissenschaft zu erreichen, vgl. AA, IV 471. In diesem Zusammenhang verdient auch Beachtung, daß das Ich, nach kantischer Lehre ohnehin kein Begriff, seinem formalen Status nach das „Gefhl eines Daseins“ ist (AA, IV 334; vgl. KrV, A 346 / B 404, B 423).
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dergrund, deren Erçrterung auf den Nachweis zielt, warum alle Neigungen, gleich welcher Art, schon von Hause aus so geartet sind, daß sie sittliches Verhalten weder zu motivieren noch zu rechtfertigen fhig sind. Trotzdem bleibt den Emotionen immer noch ein weites Feld, innerhalb dessen sie sich unangefochten entfalten kçnnen. Die große Mehrzahl der Gefhle ist gerade deswegen zunchst ethisch neutral, weil es schon ihres Widerfahrnischarakters wegen niemals eine Pflicht geben kann, bestimmte Emotionen zu empfinden oder nicht zu empfinden. Sie werden dadurch aber keineswegs abgewertet, etwa in dem Sinn, als wrde eine sittliche Norm gebieten, die eigenen Neigungen zu unterdrcken oder gar, sofern berhaupt mçglich, ein emotionsfreies Leben zu fhren. Deswegen macht sich Kant keiner Inkonsequenz schuldig, wenn er sich zwar nicht im Zentrum, aber doch am Rande der Thematik des „kritischen Geschfts“ mit Fragen beschftigt und einschlgige Empfehlungen gibt, die den sinnvollen Umgang des Menschen mit seiner Emotionalitt bis hin zur Optimierung des Lebensgenusses zum Gegenstand haben. In diesem Sinn macht er beispielsweise in der Anthropologie von dem lebensnahen Grundsatz Gebrauch, daß fr den Menschen die Arbeit das beste Mittel ist, um sein Leben zu genießen.7 Nun gibt die „Kritik der Urteilskraft“ Zeugnis von einer Entdeckung, die auch fr Kant selbst eine berraschung bedeuten mußte. Es handelt sich um die Einsicht, daß sich die Region des Apriorischen, des unabhngig von der Erfahrung Geltenden, deren przise Vermessung Kant dem „kritischen Geschft“ als Aufgabe zugewiesen hatte, an mindestens einer Stelle mit der Sphre der Gefhle berschneidet. Diese Stelle wird von einem der Vermçgen der Subjektivitt, nmlich von der Urteilskraft markiert. Zuerst hatte Kant noch angenommen, daß diese Sphre als die des „Gefhls der Lust und Unlust“, wie er sie in der Sprache seiner Zeit formelhaft nennt, mit der einzigen Ausnahme des Gefhls der Achtung fr das Sittengesetz, nur von der Empirie aus und nur fr sie zugnglich ist.8 So hatte der ursprngliche Plan des kritischen Unternehmens auch nur zwei Teile vorgesehen, eine Kritik der theoretischen und eine Kritik der praktischen Vernunft. Erst jene Entdeckung veranlaßte Kant, diesen Plan zu revidieren und um einen dritten Teil zu erweitern, der dann in der Dritten Kritik Gestalt annehmen sollte. Der „Kritik der Urteilskraft“ wird man nicht gerecht, wenn man sie nur als ein Supplement ansieht, das die Grundlegung der theoretischen und der praktischen Philosophie 7 8
Vgl. AA, VII 232. Vgl. KrV, A 15 / B 29, A 569 / B 597; AA IV, 401.
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durch eine sthetik und durch eine regionale Theorie der belebten Natur anhangsweise ergnzt. Schon die tabellarische Synopse am Ende der Einleitung macht die systematische Ordnung deutlich:9 Erst mit diesem Werk haben alle der insgesamt drei „Vermçgen des Gemts“ ihre Kritik erhalten, das Erkenntnisvermçgen in der Ersten, das Begehrungsvermçgen in der Zweiten, das Gefhlsvermçgen schließlich in der Dritten Kritik. Dies war freilich erst auf der Grundlage der Entdeckung mçglich, daß das Gefhlsvermçgen wegen seines Anteils an der Region des Apriorischen berhaupt Gegenstand einer Kritik im przisen kantischen Sinn sein kann. Damit stellt sich die Frage, warum bei der kritischen Untersuchung des „Gefhls der Lust und Unlust“ mit der Urteilskraft gerade ein Erkenntnisvermçgen bedeutsam wird. Denn die Prinzipien, die dazu bestimmt sind, das Gefhlsvermçgen zu regulieren, sollen letztlich nur aus der Urteilskraft als solcher gewonnen werden und damit nicht aus den Gegenstnden, an denen sie sich bewhrt. Um so merkwrdiger ist es, daß fr die Analyse dieses erst jetzt in den Vordergrund von Kants Interesse tretenden Vermçgens ein ganz spezielles, auf den ersten Blick geradezu untypisch und randstndig erscheinendes Produkt seiner Ttigkeit, nmlich das Geschmacksurteil das leitende Paradigma abgibt. So entsteht das Problem, mit welchem Recht und aus welchen Grnden in der kantischen Kritik Urteilskraft, Lustgefhl und Geschmack, drei auf den ersten Blick heterogen erscheinende Elemente, im Rahmen der Erçrterung eines philosophischen Prinzipienproblems in eine so enge Nachbarschaft gerckt werden. III. Will man eine Lçsung finden, empfiehlt es sich, zuvor zwei Punkte zu klren, bei denen sich die Kantdeutung immer wieder in Irrtmer verstrickt hat. Das ist zum einen Kants Begriff vom Urteil. Wir sind heute gewohnt, in unseren philosophischen Erçrterungen zunchst bei den Spuren anzusetzen, die der jeweilige Gegenstand in der Sprache hinterlassen hat. Zu einer beraus beliebten Methode ist die Analyse sprachlicher Aussagen auch deswegen geworden, weil fr sie dank der Arbeit der Logiker und der Linguistiker mittlerweile hçchst leistungsfhige Instrumentarien zur Verfgung stehen. Zeitweise hat man der Sprachanalyse sogar zugetraut, zur zentralen Methode der Philosophie schlechthin zu 9
Vgl. AA V, 198; AA XX, 246.
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avancieren. Aber auch wer der Sprachanalyse diesen Rang nicht zuzugestehen bereit ist, wird schwerlich bereit sein, die von ihr gebotenen Chancen leichtfertig preiszugeben. Betrachtet man die Dinge vor diesem Hintergrund, so kçnnte es scheinen, als wrde Kant ein jenen modernen Techniken verwandtes Vorgehen berall dort kultivieren, wo er Urteile und ihre Spielarten, wie in der Dritten Kritik das Geschmacksurteil, zum Leitfaden seiner Analysen whlt. Hier ist jedoch Vorsicht geboten. Urteilsanalyse und Sprachanalyse haben gewiß ein Stck ihres Weges gemeinsam; gleichwohl trennen sie sich bald, um in der Folge unterschiedliche Richtungen einzuschlagen. Fr Kant ist nmlich nicht die Sprache, sondern das Bewußtsein der angestammte Ort aller Urteile. Die sprachliche Aussage erfllt nur eine sekundre Aufgabe, wenn sie das Urteil dokumentiert und mitteilbar macht. Beim Urteil selbst handelt es sich hingegen um eine „Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein“.10 Ohne Zweifel muß jedermann seine Urteile sprachlich dokumentieren, wenn er sie erçrtern und sich mit seinesgleichen ber sie verstndigen will. Um so dringlicher wird es deswegen, das im Bewußtsein verortete Urteil selbst und seine sprachliche Dokumentation przise auseinanderzuhalten. Das eigentliche Urteil ist jedenfalls ein Sachverhalt im Bewußtsein oder eine Handlung des Bewußtseins; es ist keine sprachliche Aussage, die sich auf eine Tatsache des Bewußtseins nur als auf ihren Gegenstand beziehen wrde. Behlt man diese Differenz im Auge, empfiehlt es sich, auch auf den Status der Elemente zu achten, die bei Urteilen und auf der anderen Seite bei Aussagen ins Spiel kommen. Der Status der Elemente einer sprachlichen Aussage ist allemal klar, da es sich stets um Zeichen im Rahmen eines vorgegebenen Systems handelt, auf die sich das Bewußtsein zwar wie auf alle anderen Gegenstnde der Erscheinungswelt richten kann, die aber selbst ihren natrlichen Ort nicht in diesem Bewußtsein haben. Sie verweisen lediglich auf reale, mentale oder ideale Inhalte; das gilt auch fr den Fall, daß sie fr logische oder grammatische Funktionen stehen. Die Elemente eines Urteils sind dagegen stets Tatsachen des Bewußtseins. Auch ihnen kann zugleich der Status von Zeichen zukommen, ohne daß dies fr sie notwendig wre. In jedem Fall sind sie indessen mentale Vorstellungen, die auf eine hinter ihnen stehende, vorstellende Instanz angewiesen sind. Diese Vorstellungen kçnnen Wahrnehmungen oder Phantasmata der Einbildungskraft, Begriffe oder Ideen sein, aber auch Empfindungen und Gefhle kçnnen als solche in ein Urteil als dessen 10 AA IV, 304.
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Elemente eingehen. Wenn sie zu den Bestandteilen eines Urteils gehçren, werden sie von ihm gerade nicht als seine Gegenstnde intendiert oder bezeichnet. Beispielsweise bestehen die von Kant in den „Prolegomena“ eingefhrten Wahrnehmungsurteile in einer vom Verstand im Bewußtsein gewirkten Verknpfung zweier sinnlicher Vorstellungen.11 Da es keine Urteile sind, die dergleichen als ihren Gegenstand nur intendieren, sind sie monovalente Gebilde, deren Wahrheit bereits durch ihre Faktizitt verbrgt wird. Zu ihnen gehçren auch die meisten sthetischen Urteile, insofern sie sich auf Gefhle oder auf andere nichtobjektivierbare Empfindungen nicht beziehen, sondern diese unmittelbar als ihre Elemente enthalten. Erfahrungsurteile und andere Erkenntnisurteile sind dagegen Tatsachen des Bewußtseins, die sich auf Sachverhalte beziehen, die von ihnen selbst verschieden sind. Sie sind bivalent, weil sie diese Sachverhalte treffen, aber auch verfehlen kçnnen. Ein zweiter Punkt, der einer vorgngigen Klrung bedarf, betrifft Kants Umgang mit den Ausdrcken „sthetik“ und „sthetisch“. Man spricht heute gerne abkrzend von Kants „sthetik“, wenn vom Lehrgehalt der ersten Hlfte der „Kritik der Urteilskraft“ die Rede ist. Dabei versteht man den Ausdruck „sthetik“ gewçhnlich als Bezeichnung einer Disziplin, die sich vornehmlich mit der Erarbeitung einer philosophischen Theorie der Kunst oder des Schçnen befaßt. Nun weiß jeder, der sich mit Kants Philosophie auch nur flchtig beschftigt hat, daß die „Transzendentale sthetik“ der Ersten Kritik eine philosophische Lehre von der Kunst oder vom Schçnen weder enthlt noch begrnden will, und daß Kant den Ausdruck „sthetik“ hier noch in seiner alten Bedeutung verwendet, die im brigen auch seinem ursprnglichen Wortsinn entspricht, wenn mit ihm in der Ersten Kritik eine Lehre von der Sinnlichkeit berhaupt und von ihren Formen, von der Wahrnehmung und von der Anschauung bezeichnet wird. Wie ist vor diesem Hintergrund dann aber die Rede von der sthetik und vom sthetischen in bezug auf die „Kritik der Urteilskraft“ zu verstehen? Man kçnnte zunchst annehmen, wenigstens hier wrden die entsprechenden Ausdrcke in der heute vertrauten Bedeutung verwendet, zumal da das Geschmacksurteil sowohl den Anknpfungspunkt als auch den Leitfaden der Untersuchungen abgibt. Doch gerade hier ist Vorsicht geboten, wenn man sich nicht auf eine falsche Fhrte locken lassen will. Leicht bersieht man die Merkwrdigkeit, daß Kant in der Dritten Kritik den Ausdruck „sthetik“ vermeidet – von einer einzigen, als echtes Ge11 Vgl. AA IV, 297 ff.
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genbeispiel wenig tauglichen Stelle abgesehen.12 Schon in der Ersten Kritik hatte er im Rahmen der „Transzendentalen sthetik“ in einer Fußnote dafr pldiert, anders als der dort apostrophierte „vortreffliche Analyst Baumgarten“ diesen Ausdruck ausschließlich zur Bezeichnung einer Wissenschaft von der Sinnlichkeit zu verwenden, zumal da sich die Inhalte der nur durch den Geschmack erschlossenen Welt dem Zugriff einer Wissenschaft entziehen.13 Diese terminologische Konvention wird, obwohl in der zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“ abgeschwcht,14 auch in der „Kritik der Urteilskraft“ nicht mehr aufgekndigt. Fr die Geschmackskunde im Sinne einer Disziplin, von der eine kritische Beurteilung des Schçnen erwartet wird, einer Disziplin, der Kant die Fhigkeit abspricht, jemals den sicheren Gang einer Wissenschaft aufzunehmen, gilt nach wie vor der in einer Reflexion formulierte Grundsatz: „Daher muß der Schulname sthetik vermieden werden, weil der Gegenstand keinen Unterricht der Schulen verstattet“.15 Kants Entscheidung in der den Umgang mit dem Ausdruck „sthetik“ betreffenden terminologischen Frage strahlt auch auf seine Verwendung des Epithetons „sthetisch“ aus. Im Gegenzug zu ber einen langen Zeitraum eingefahrenen Lesegewohnheiten wird man sich daran gewçhnen mssen, bei Kant auch dieses Wort so zu verstehen, daß die Sache, die mit ihm charakterisiert wird, nicht speziell der Region des Geschmacks, sondern nur der Welt der Sinnlichkeit im allgemeinen zugeordnet werden soll. Dies gilt auch fr die Rede vom sthetischen Urteil und von der sthetischen Urteilskraft. Unter dieser Voraussetzung lßt sich das sthetische Urteil nicht dadurch bestimmen, daß es Inhalte intendiert, die den Geschmack beschftigen, sondern allein dadurch, daß es schon in seiner Eigenschaft als Urteil der Region des Sinnlichen im allgemeinen zugeordnet ist, also nicht in bezug auf das, was es mçglicherweise intendiert, sondern lediglich auf das, was es ist und von welchen Elementen es konstituiert wird. Auf dieser Grundlage lßt sich manch eine sperrige Schwierigkeit in der „Kritik der Urteilskraft“ auflçsen, die unberwindlich bleibt, solange man den Ausdruck „sthetisch“ nur so versteht, als wrde er lediglich eine Zuordnung zur Welt der den Geschmack beschftigenden Dinge oder zur Region der Kunst anzeigen. Kants sthetische Urteile – unter ihnen auch die Geschmacksurteile – 12 13 14 15
AA V, 269. KrV, A 21 f.; vgl. auch AA V, 355. KrV, B 35 f. R 626.
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sind daher nicht dadurch bestimmt, daß sie Sinnliches als Gegenstand intendieren wrden, sondern dadurch, daß sie ausschließlich Sinnliches, mithin keine Begriffe unmittelbar als ihre Elemente enthalten, mag es sich dabei um Wahrnehmungen, um Empfindungen oder um Gefhle handeln. Entsprechend ist auch die Urteilskraft sthetisch nicht dann, wenn sie sich auf sinnliche oder auf geschmacksrelevante Dinge bezieht, sondern dann, wenn sie in einer Weise am Werk ist, in der sie und ihre Ttigkeit vom Urteilenden auf sinnliche Weise erfahren wird. IV. In bezug auf die Lçsung der mit der Lust im Erkennen verbundenen Probleme sind wir mit diesen Vorklrungen noch nicht sehr weit gekommen. Immerhin erreicht auch Kant selbst sein Ziel nur ber einen Umweg. Auf ihm betraut er das Geschmacksurteil damit, gleichsam als Wegweiser zu dienen. Von der Analyse dieses Urteils und der Legitimation seines Geltungsanspruchs verspricht er sich mit Recht auch Einsichten in die Struktur des Geschmacks; vor allem aber erwartet er von ihr als Resultat von allgemeinerer, das Erkenntnisvermçgen im ganzen betreffenden Bedeutsamkeit, daß sie „eine Eigenschaft unseres Erkenntnisvermçgens aufdeckt, welche ohne diese Zergliederung unbekannt geblieben wre“.16 Er richtet seine Intention auf eine Eigenschaft der Urteilskraft, die in den auf sie bezogenen Analysen der Ersten Kritik, nmlich in der „Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft“ noch nicht zur Sprache gekommen war, die aber jetzt durch eine Untersuchung des Geschmacksurteils ans Licht kommen soll. Hier wird deutlich, daß die Untersuchung des Geschmacksurteils fr Kant kein Selbstzweck ist. Es dient ihm letztlich nur als Paradigma, weil sich gerade bei ihm Strukturen unverstellt sichtbar machen lassen, die auch im Hinblick auf Urteile im allgemeinen und auf die Urteilskraft als solche von Bedeutung sind, die aber in den meisten Fllen verborgen bleiben und deswegen bersehen werden. Sieht man sich die Merkmale des Geschmacksurteils genauer an, die im Zuge von Kants Analysen wichtig werden, so ist zu beachten, daß lngst nicht jedes Urteil ber einen Gegenstand, der das Geschmacksvermçgen herauszufordern vermag, als Geschmacksurteil eingestuft werden darf. Den Kreis genuiner Geschmacksurteile hlt Kant beraus 16 AA V, 213.
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eng begrenzt. Als Geschmacksurteil im strengen Sinn gilt nur ein Gebilde, dessen korrekte sprachliche Dokumentation von einem Ding oder genauer von einer Vorstellung aussagt, sie sei schçn. Alles andere, was sich darber hinaus noch treffend prdizieren lßt, ist schon keine Darstellung eines genuinen Geschmacksurteils mehr und bleibt deswegen fr seine Theorie ohne Belang. So konzentriert sich Kants Interesse vor allem auf die Urteilsstruktur, die sich hinter dem sprachlichen Prdikator „[…] ist schçn“ verbirgt. Wie diese Struktur im einzelnen auch beschaffen sein mag – schon an dieser Stelle ist klar, daß smtliche berhaupt mçglichen Geschmacksurteile dasselbe Prdikat haben. Mit keinem dieser Urteile werden weitere inhaltliche Bestimmungen einer Sache vorgenommen, die ber die Tatsache hinausgehen, daß mit ihrer Hilfe nur unterschieden werden soll, „ob etwas schçn sei oder nicht“.17 Die berschrift des ersten Paragraphen der „Kritik der Urteilskraft“ besteht aus der Feststellung, das Geschmacksurteil sei ein sthetisches Urteil. Wer den Ausdruck „sthetisch“ hier im heute gebruchlichen Sinn versteht, muß die These „Das Geschmacksurteil ist sthetisch“18 als einen analytisch wahren, aber inhaltlich trivialen Satz einstufen. Versteht man den Ausdruck hingegen in der genuin kantischen, auf Sinnlichkeit berhaupt bezogenen Bedeutung, so kommt diesem Urteil der Charakter des sthetischen nicht deswegen zu, weil es einen Gegenstand intendieren wrde, der fhig ist, den Geschmack herauszufordern. Objektive Gegenstnde im streng kantischen Sinn lassen sich nmlich stets nur mit Hilfe von Begriffen erreichen. Zwar bedarf es dazu auch der Vermittlung der Sinnlichkeit, doch aus eigener Kraft kann Sinnliches keinen Gegenstand zur Erscheinung bringen. Ohne die Mitwirkung des vergegenstndlichenden Begriffs ist Sinnliches nur als Modifikation der Subjektivitt und ihres Zustandes erfahrbar. Weil das Geschmacksurteil als ein sthetisches Urteil keinen Begriff enthlt, auch nicht den Begriff der Schçnheit, kann es keinen sthetisch relevanten Gegenstand intendieren. Die angefhrte These ist daher ganz wçrtlich zu verstehen, wenn sie feststellt, daß dieses Urteil sthetisch ist. Denn sthetisch ist es genau deswegen, weil es ausschließlich sinnliche, aber keine begrifflichen Elemente als seine Bestandteile enthlt und deswegen niemals einen objektiven Gegenstand erreichen kann. Das ist der Grund, warum das Geschmacksurteil unmittelbar gar nicht mit dem geschmacksrelevanten Gegenstand als solchem befaßt ist, sondern nur mit der Vorstellung von 17 AA V, 203. 18 AA V, 203.
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ihm und mit seiner Form, die streng genommen nur den Anlaß zu diesem Urteil gibt und die Stelle besetzt, die im gegenstandsbezogenen Erkenntnisurteil und in seiner sprachlichen Dokumentation das Urteilssubjekt einnimmt. Entsprechendes gilt auch fr das Prdikat des Geschmacksurteils. Es hat den Status eines Gefhls und damit gerade nicht den eines Zeichens, das auf dieses Gefhl lediglich verweist. Es handelt sich bei ihm um ein ganz spezielles, lustbetontes Gefhl, das Kant mit der Formel „interesseloses Wohlgefallen“ dokumentiert. Die fhlende Instanz kann es niemals willkrlich provozieren oder ins Werk setzen, da es, soll es in eminentem Grade empfunden werden, einer prinzipiell unvorhersehbaren, unmanipulierbaren und begrifflich nicht weiter bestimmbaren Veranlassung bedarf, zu der nur bestimmte Dinge oder die Vorstellungen von ihnen fhig sind. Sie sind es, die auf Grund dieser Empfindung als schçn bezeichnet zu werden pflegen. Daß im Geschmacksurteil dieses Gefhl selbst und nicht der Begriff von ihm die Stelle des Prdikats besetzt, bedeutet unter der Voraussetzung eines an der Urteilslogik orientierten Verstndnisses von einem Prdikat eine Hrte. Kant ist sich bewußt, was er dem Leser der Dritten Kritik damit zumutet. Er macht ihn denn auch ausdrcklich auf das Befremdende und Abweichende aufmerksam, das darin liegt, „daß es nicht ein empirischer Begriff, sondern ein Gefhl der Lust (folglich gar kein Begriff ) ist, welches doch durch das Geschmacksurteil, gleich als ob es ein mit dem Erkenntnisse des Objekts verbundenes Prdikat wre […] mit der Vorstellung desselben verknpft werden soll“.19 Damit ist der Angelpunkt des Geschmacksurteils eingekreist. Daß das Subjekt eines Urteils weder ein begriffliches noch ein begrifflich bestimmtes Gebilde ist, kommt freilich auch bei gegenstandsbezogenen Erkenntnisurteilen vor. In deren sprachlichen Dokumentationen pflegt dieses Subjekt dann mit einem Namen oder mit einem deiktischen Ausdruck bezeichnet zu werden. Niemals wird jedoch in normalen Erkenntnisurteilen die Stelle des Prdikats von einem nichtbegrifflichen Element oder gar von einem Gefhl besetzt. Aus der Bestimmung des Geschmacksurteils als eines sthetischen, also ganz in der Region der Sinnlichkeit verorteten Urteils ergibt sich eine 19 AA V, 191. Vgl. auch AA V, 288, wo von den Geschmacksurteilen gesagt wird, daß sie selbst ber „die Anschauung des Objekts hinausgehen und etwas, das gar nicht einmal Erkenntnis ist, nmlich Gefhl der Lust (oder Unlust), zu jener als Prdikat hinzutun“.
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weitere seiner Eigenschaften. Weil es nur sinnliche Gebilde als Elemente enthlt, kann es seiner formallogischen Quantitt nach nur ein singulres Urteil sein, da die Welt der Sinnlichkeit stets nur Einzelnes prsentiert, jedoch niemals Allgemeines, das ohnehin nur durch die Vermittlung eines Begriffs zu erreichen ist. Deshalb widersteht das Geschmacksurteil jeder Quantifizierung. Genauer: Bei jedem Versuch, das Geschmacksurteil zu quantifizieren, geht es seiner Eigenschaft verlustig, ein sthetisches Urteil zu sein: „Z. B. alle Tulpen sind schçn; aber das ist alsdann kein Geschmacks-, sondern ein logisches Urteil, welches die Beziehung eines Objekts auf den Geschmack zum Prdikate der Dinge von einer gewissen Art berhaupt macht; dasjenige aber, wodurch ich eine einzelne gegebene Tulpe schçn […] finde, ist allein das Geschmacksurteil“.20 Von hier aus wird sogleich auch die formallogische Quantitt des Geschmacksurteils deutlich. Als sthetisches, also sinnliches Urteil kann es nur ein positives Urteil sein. Dies ergibt sich zwingend aus dem Status seines Prdikats als eines Gefhls. Jedes Gefhl ist seinem formalen Status nach stets ein Positivum, auch wenn es als noch so widrig empfunden wird. Zwar lßt es sich zum Gegenstand einer sprachlichen Aussage machen, die sich als solche natrlich negieren lßt. Wenn dagegen ein zunchst prsentes Gefhl nicht mehr empfunden wird, ist es dadurch nicht zu einem negativen Gefhl geworden. Ein emotionales Prdikat von der Art eines Gefhls kann, anders als ein begriffliches Prdikat, als solches jedenfalls nicht negiert werden. Daher gibt es zwar hçchst abstoßende, aber niemals im formalen Sinn negative oder negierte Empfindungen. Die Negation ist ein Kind des Verstandes, nicht der Sinnlichkeit. Von hier aus lßt sich erklren, warum und inwiefern dort, wo Urteile verbalisiert werden, die wie die sthetischen Urteile Empfindungen oder Gefhle als ihre Elemente enthalten, die sprachliche Dokumentation so oft zu einer Fehlerquelle wird. Jede grammatisch korrekt formulierte sprachliche Aussage lßt sich negieren, jedoch nicht jedes Urteil. Ein Geschmacksurteil oder ein Wahrnehmungsurteil wird als positives Urteil gefllt oder es wird berhaupt nicht gefllt. Als Pendant zu derartigen Gebilden kann man deswegen kein negatives Urteil fllen, weil immer nur dort negiert werden kann, wo bereits der Verstand und mit ihm wenigstens ein Begriff im Spiel ist. Das Geschmacksurteil ist ferner stets ein authentisches Urteil. Arbeitet man mit Erkenntnisurteilen, sind manche Schwierigkeiten zu berwinden, will man Kriterien sachgerecht anwenden, die es erlauben, 20 AA V, 285, vgl. 215.
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im Einzelfall authentische von nichtauthentischen Urteilen zu unterscheiden. Anders liegen die Dinge im Fall des Geschmacksurteils: Es kann nur als authentisches Urteil gefllt werden. Die meisten Erkenntnisurteile kann man auf dem Weg ber ihre sprachlichen Dokumentationen auch von einem anderen bernehmen, da die inhaltliche Gltigkeit eines gegenstandsbezogenen Erkenntnisurteils jedenfalls nicht von seiner Authentizitt abhngt. Sie wird durch deren Fehlen weder eingeschrnkt noch in Frage gestellt. Wer ausschließlich nichtauthentische, von anderen nur bernommene Urteile fllt, muß sich allerdings darauf einstellen, gemß einer sarkastischen Formulierung Kants nur noch als ein „Gipsabdruck von einem lebenden Menschen“21 zu gelten. Ein Geschmacksurteil kann man dagegen immer nur originr, in eigener Person und in eigener Verantwortung fllen. Das gilt auch dann, wenn man sich dazu von der verbalen Dokumentation des Urteils eines anderen Menschen hat anregen lassen. In Kants Sprache stellt sich die essentielle Authentizitt des Geschmacksurteils so dar: „Der Geschmack muß ein selbst eigenes Vermçgen sein; wer aber ein Muster nachahmt, zeigt, sofern als er es trifft, zwar Geschicklichkeit, aber nur Geschmack, sofern er dieses Muster selbst beurteilen kann“.22 Im Bereich des Geschmacks kann daher ein jeder immer nur „fr sich“ urteilen, „ohne nçtig zu haben, durch Erfahrung unter den Urteilen anderer herumzutappen“.23 Deshalb ist der Urteilende hier in den Inhalt seines Urteils stets auch selbst involviert. Auch die essentielle Authentizitt eines jeden Geschmacksurteils grndet in dem formalen Status seines Prdikats als eines Gefhls. Zwar kann man ein Gefhl wie jeden beliebigen Inhalt des Bewußtseins zum Gegenstand begrndenden Redens und Urteilens machen. Empfinden kann man ein Gefhl dagegen immer nur in eigener Person. Das gilt auch dann, wenn man sich, wie etwa im Fall „unechter“ Freude oder Trauer, ber die wahre Natur seiner Empfindungen gelegentlich einmal tuscht. Arbeit kann man delegieren; das gilt auch fr die Arbeit, die im Dienst der Erkenntnis steht. Niemals lßt sich hingegen das Empfinden delegieren. Man kann einen anderen fr sich arbeiten, sogar erkennen lassen; doch es ist prinzipiell unmçglich, einen anderen fr sich fhlen zu lassen. Von hier aus betrachtet erscheint es keineswegs als ein Zufall, wenn Kant an Stellen, an denen er fr die sprachliche Dokumentation sthetischer Urteile eine Verbalisierung in elaborierter Gestalt whlt, einer Aussage in 21 KrV, A 836 / B 864. 22 AA V, 232. 23 AA V, 282.
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der ersten Person den Vorzug gibt: „Die Rose, die ich anblicke, erklre ich durch ein Geschmacksurteil fr schçn“.24 Die Aussage in der ersten Person wird zudem auch der Tatsache gerecht, daß das urteilende Subjekt in den Inhalt seines Urteils selbst involviert ist. Entsprechendes gilt fr die Wahrnehmungsurteile im Sinne der „Prolegomena“.25 Auch sie sind authentische Urteile, in die der Urteilende selbst involviert ist und die er deshalb nur in eigener Person fllen kann. Dieser Sachverhalt wird allerdings oft dadurch verdunkelt, daß man sich außerhalb von streng analytisch ausgerichteten Kontexten bei der sprachlichen Dokumentation von Wahrnehmungsurteilen derselben Aussagetypen zu bedienen pflegt, wie man sie verwendet, wo gegenstandsorientierte Urteile von der Art der Erkenntnisurteile dargestellt und mitgeteilt werden sollen. Mit dem emotionalen Status des Prdikats im Geschmacksurteil hngt es zusammen, daß der Urteilsakt hier kein Ergebnis hat, das man isolieren und dem Akt selbst auch nur virtuell gegenberstellen kçnnte. Dieses Urteil ist ausschließlich im Prozeß des Beurteilens existent, und zwar nur solange, als das in ihm enthaltene spezifische Lustgefhl vom Urteilenden aktuell empfunden wird. Auch wird dieses Gefhl des interesselosen Wohlgefallens vom Geschmacksurteil nicht nur nicht intendiert, sondern es kann dieses Urteil auch nicht motivieren, wenn es in ihm bereits als Element enthalten ist. Ihm liegt ein Reflexionsvorgang zugrunde, dem der Status eines freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand eigen ist, das gerade seiner Freiheit wegen vom urteilenden Subjekt nur hingenommen, aber nicht planmßig ins Werk gesetzt oder gesteuert werden kann. Es ist dieses Spiel seiner Erkenntnisvermçgen, dessen sich der Urteilende im Modus des interesselosen Wohlgefallens bewußt wird. So empfindet er im Prdikat seines Urteils zugleich den Prozeß des Urteilens. Darin liegt der Grund dafr, daß sich dieses Urteil nicht nur durch seinen Inhalt, sondern schon durch die formale Urteilsstruktur vom objektbezogenen Erkenntnisurteil unterscheidet. Aus demselben Grund fordert seine sprachliche Dokumentation, ist sie auf Korrektheit bedacht, stets eine prsentische Aussage. Auf Grund der hier skizzierten formalen Eigenschaften der Geschmacksurteile lßt sich ein Sachverhalt verstndlich machen, der fr den korrekten Umgang mit ihnen bedeutsam ist. Diese Urteile lassen sich, anders als ihre sprachlichen Dokumentationen, nicht als Elemente in nach logischen Regeln konstruierte Begrndungs- oder Ableitungs24 AA V, 215. 25 Vgl. AA IV, 297 ff.; KrV, B 142; AA IX, 113.
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systeme einfgen. Sie kçnnen zwar erlutert, aber schon ihrer Begriffsferne wegen niemals aus anderen Urteilen gefolgert werden. Umgekehrt lassen sich auch aus einem Geschmacksurteil mit Hilfe logischer Techniken keine anderen Urteile, auch keine anderen Geschmacksurteile ableiten. Aus diesem Grund bleibt jedes Geschmacksurteil ein solitres Gebilde. Von hier aus wird auch verstndlich, warum Kant eine Wissenschaft von der durch den Geschmack erschlossenen Welt aus prinzipiellen Grnden fr unmçglich hlt.26 Wo es mangels eines Begriffs keine schlssigen Begrndungen gibt, kann sich keine Wissenschaft entfalten. V. Dem Ziel, Kants Lust im Erkennen zu verstehen, sind wir nunmehr schon nher gekommen. Auch ist deutlich geworden, inwiefern man von einer Rehabilitation des Gefhls sprechen kann, wenn es mçglich ist, daß ein bestimmtes, lustbetontes Gefhl nicht nur zum Gegenstand eines Urteils wird, sondern selbst in ein Urteil als eines seiner Elemente eingeht und dort die Stelle des Prdikats besetzt. Somit besteht kein Anlaß, dieses Gefhl nach dem Vorschlag mancher Interpreten einer dem Geschmacksurteil vorausgehenden Sphre von der Art einer sthetischen Einstellung des Urteilenden zuzuordnen, die selbst noch nicht die Struktur eines Urteils aufweist. Aber auch wenn Klarheit darber besteht, daß zum Kern des Geschmacksurteils und zur Freude am Schçnen ein Gefhl gehçrt, das zugleich eine Selbsterfahrung des Urteilenden vermittelt, ist immer noch offen, in welcher Weise diese Dinge mit einer Lust zusammenhngen kçnnen, die im Erkennen verortet ist. Will man dieser Lust gerecht werden, muß man sich daran erinnern, daß das Geschmacksurteil selbst zwar keine Erkenntnis enthlt, daß es aber dennoch mit dem Verstand und mit der Einbildungskraft Erkenntnisvermçgen sind, von denen dieses Urteil zustande gebracht wird, wenngleich nur vermittels ihres freien, nicht unter der Herrschaft eines Begriffs stehenden und daher auch nicht auf ein bestimmtes gegenstndliches Objekt ausgerichteten Spiels. Obgleich die Beurteilungen des Geschmacks „fr sich allein zum Erkenntnis der Dinge gar nichts beitragen, so gehçren sie doch dem Erkenntnisvermçgen allein an und beweisen eine unmittelbare Beziehung dieses Vermçgens auf das Gefhl der Lust und Unlust“.27 Die 26 Vgl. AA V, 304, 354 f. 27 AA V, 169.
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Wendung, mit der Kant Geschmack und Erkennen verknpft, ist berraschend einfach: Obwohl die Reflexion des Geschmacks in der Gestalt eines freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand selbst keine inhaltliche Erkenntnis enthlt, erschließt gleichwohl gerade sie dem Urteilenden zumindest jene Sphre des Erkennens, die Kant mit dem Ausdruck „Erkenntnis berhaupt“ bezeichnet.28 Eine solche Sphre muß bereits erçffnet sein, wenn die auf konkrete Objekte ausgerichteten Erkenntnisvermçgen damit beginnen, Urteile ber gegenstndliche Inhalte zu erarbeiten und mit ihnen diesen Raum zu besetzen. Der Brckenschlag vom Geschmack zum Erkennen ist damit vorbereitet, aber noch nicht realisiert. Will man ihn zustande bringen, ist es zweckmßig, die Situation auch von der anderen Seite, vom gegenstandsbezogenen Erkenntnisurteil aus zu betrachten. Hier sieht man sich an die Lehrstcke verwiesen, in denen Kant dieses Urteil auf seine Struktur hin analysiert und die prinzipielle Mçglichkeit seines Anspruchs auf objektive Geltung erçrtert. Dies geschieht in der Ersten Kritik vor allem in der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Dieser Abschnitt fragt nach den Bedingungen, unter denen begrndbare Erkenntnis von Gegenstnden berhaupt mçglich ist und unter denen sich der von ihr erhobene Geltungsanspruch legitimieren lßt. Doch auch wenn diese Aufgabe gelçst ist, steht immer noch die Frage nach dem Weg offen, der von der prinzipiellen Mçglichkeit objektiven Erkennens zur Realisierung einer konkreten, sachhaltigen Erkenntnis fhrt. Zu den Aufgaben der „Kritik der reinen Vernunft“ gehçrt es, die Grenzen zu vermessen, außerhalb deren sich begrndbare Erkenntnis niemals gewinnen lßt. Wenig sagt die Erste Kritik darber aus, wie das Feld innerhalb dieser Grenzen besetzt werden kann und unter welchen Bedingungen sich berhaupt eine Chance erçffnet, jene prinzipielle Mçglichkeit zu realisieren. Die Vernunftkritik belehrt einen nicht darber, woran sich der Erkennende orientieren kann, wenn er sich inmitten der Welt der Erscheinungen auf die mhsame Arbeit des Erkennens einlßt, ob es am Ende vielleicht nur ein Zufall ist, wenn seine Bemhungen im konkreten Einzelfall auch einmal zum Erfolg fhren.29 Richtet man den Blick auf den zur Erkenntnis fhrenden Weg von der Warte seines Ziels aus, so ist zunchst die triviale Feststellung zu treffen, daß dieses Ziel schwerlich zu erreichen ist, wenn dazu nicht die Urteilskraft als das hierfr zustndige Vermçgen in Anspruch genommen 28 Vgl. AA V, 217 ff., 238, 292. 29 Vgl. AA V, 185.
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wird. Begrndbare objektive Erkenntnis wird nun einmal stets in Gestalt von Urteilen realisiert. Nun unterscheidet Kant zwei Spielarten, oder genauer zwei Funktionen dieses Vermçgens, nmlich eine bestimmende von einer reflektierenden Urteilskraft.30 Wo die Urteilskraft im Dienst des Erkennens ttig wird, kann sie gewçhnlich davon ausgehen, daß der Erkennende schon ber Begriffe verfgt, seien sie apriorischen oder empirischen Ursprungs. Wo diese Voraussetzung gegeben ist, orientiert sich Kant in der Regel an dem einfachsten Fall, in dem unter ein gegebenes Allgemeines vom Status eines klassifikatorischen Begriffs ein Besonderes oder Einzelnes, beispielsweise ein speziellerer Begriff oder eine Anschauung, subsumiert werden soll. Es ist die Aufgabe der bestimmenden Urteilskraft, diese Subsumtion vorzunehmen. Anders liegt der Fall, wenn ein geeignetes Allgemeines, unter das ein gegebenes Besonderes subsumiert werden soll, noch nicht vorliegt, sondern erst noch gesucht oder zumindest approbiert werden muß. Hier wird die Urteilskraft in ihrer reflektierenden Funktion in Anspruch genommen. Als Reflexion bezeichnet Kant jenen „Zustand des Gemts, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjektiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen kçnnen“; sie hat es daher gerade „nicht mit den Gegenstnden selbst zu tun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen“.31 Wo immer objektbezogene, unter der Herrschaft des Begriffs stehende Erkenntnis gesucht wird, arbeitet die Urteilskraft in ihrer reflektierenden Funktion ihrem mit der bestimmenden Aufgabe betrauten Pendant zu, indem sie die Leistung lediglich vorbereitet, die von ihm erbracht werden soll. Aus diesem Grund steht im Bereich des Erkennens die reflektierende zumeist im Schatten der bestimmenden Urteilskraft. Diese setzt im Beurteilungsprozeß gleichsam den Schlußstein, indem sie mit ihrem subsumierenden Akt das Erkenntnisurteil allererst zustande bringt. Deshalb ist es die Leistung der bestimmenden Urteilskraft, die als erste, im Fall des erkennenden Urteilens oft sogar als einzige ins Auge fllt. Fr die Fragestellungen der „Kritik der reinen Vernunft“ ist nur der Nachweis von Bedeutung, daß derartige Erfolge mçglich sind, wie immer sie im Einzelfall zustande gekommen sein mçgen. Dennoch ist die Frage berechtigt, wie sich die Wege auffinden lassen, die zu solchen Erfolgen fhren. Will man sie erkunden, ist es zweckmßig, die reflektierende Urteilskraft auch einmal abgelçst von den Zielen ins Blickfeld zu rcken, 30 Vgl. AA V, 179 ff. 31 KrV, A 260 / B 316.
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fr deren Erreichen sie vom Erkennenden sonst in Anspruch genommen wird. Hier werden die Beurteilungen des Geschmacks bedeutsam. Nur bei ihnen ist die reflektierende Urteilskraft in einem Modus prsent, in dem das Ziel ihrer Ttigkeit schon in ihr selbst liegt und deswegen nicht im Dienst anderer Zwecksetzungen steht. Wo die reflektierende Urteilskraft in der Rolle des Geschmacks am Werk ist, kann sie daher den Urteilenden sein bloßes Reflektieren in Gestalt des noch nicht durch einen Begriff bestimmten, keinen objektiven Gegenstand intendierenden und deshalb freien Spiels der Erkenntnisvermçgen auf lustbetonte Weise unmittelbar empfinden lassen. Am Beispiel der in der Rolle des Geschmacks auftretenden reflektierenden Urteilskraft lßt sich zugleich studieren, wie sich das Reflektieren vermittels der Lust, in der es vom Urteilenden empfunden wird, selbst steuern kann. Dazu ist es deswegen fhig, weil diese Empfindung danach strebt, sich selbst zu erhalten.32 Darin ist sie jedem anderen lustbetonten Gefhl gleich. Wo die Urteilskraft im Erkenntnisprozeß erst noch auf die Suche nach einem fr die Klassifikation eines gegebenen Sachverhalts geeigneten Begriff geht, gelangt ihr Reflektieren mitsamt dem Lustgefhl, das vom Urteilenden erfahren wird, an ein natrliches Ende, sobald sie fr einen bestimmten Begriff optiert hat, mit dem sie fortan ihrer bestimmenden Funktion gemß arbeiten kann. Solange sie diesen Punkt noch nicht erreicht hat, kann sie sich, wie in den Beurteilungen des Geschmacks, nur an sich selbst orientieren, nmlich daran, wie sie sich in dem mit ihrer Ttigkeit verbundenen, lustbetonten Gefhl selbst empfindet. Darin besteht der Kern der die Urteilskraft auszeichnenden Autonomie.33 Sie zeigt sich auch darin, daß es fr dieses Vermçgen kein objektives Prinzip gibt, von dem es sich in seiner reflektierenden Ttigkeit regulieren lassen kçnnte. Jede Suche nach einem solchen Prinzip fhrt in die Aporie eines unendlichen Regresses, da jeder Begriff, auch wenn er als potentieller Kandidat fr ein Prinzip der Urteilskraft in Anspruch genommen wird, darauf angewiesen bleibt, appliziert zu werden. Fr eine solche Applikation mßte aber eine funktionsfhige Urteilskraft bereits zur Verfgung stehen.34
32 Vgl. AA V, 220, 222, 230. 33 Vgl. AA V, 281, 288, 350, 353, 385 f. 34 Vgl. AA V, 169; A 133 / B 172.
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VI. Mit der nach ihrer Selbsterhaltung strebenden und sich auf diese Weise selbst steuernden Reflexionslust ist endlich das Zwischenglied gefunden, das es erlaubt, die Brcke vom Geschmack zur Erkenntnis zu schlagen. Dieser Brckenschlag steht und fllt mit der Annahme, daß die reflektierende Urteilskraft, die das Erkenntnisurteil mit ihrer Suche nach dem fr den jeweiligen Fall geeigneten Begriff vorbereitet, mit jenem Reflexionsvermçgen identisch ist, das in reiner und unverstellter Gestalt, noch nicht in den Dienst an der Erkenntnis eingebunden, in den Beurteilungen des Geschmacks am Werk ist. In der formalen Genese, gleichsam in der Archologie des Erkenntnisurteils muß sich deshalb ein Gebilde finden, mit dem jenes Lustgefhl verbunden ist, das die geglckte Ttigkeit des Geschmacks begleitet. In der Sprache der heutigen Philosophie besagt dies, daß ein Gebilde von der Art jenes Reflexionsprozesses, wie ihn in unverstellter Gestalt das Geschmacksurteil reprsentiert, zwar nicht in den Begrndungskontext der Erkenntnis, wohl aber in ihren Entdeckungskontext gehçrt. Findet sich in der Entstehungsgeschichte eines jeden Erkenntnisurteils, zumindest wenn es ein authentisches Urteil ist, ein Element von der Struktur eines Geschmacksurteils mitsamt dem lustbetonten Gefhl, von dem es begleitet wird, dann ergibt sich eine weitreichende Folgerung, wenn man in Rechnung stellt, daß sich in diesem Gefhl auch die Erfahrung des Schçnen ausdrckt. Diese Folgerung zwingt dazu, eine Koinzidenz, zumindest eine Konvergenz von Schçnem und Erkennbarem anzunehmen. Alles Schçne mßte danach erkennbar, alles Erkennbare auch schçn sein. Diese in Kants Voraussetzungen angelegte Koinzidenz ist von der Forschung seit langem bemerkt und hufig erçrtert worden. So gut wie einhellig zeigen sich die Teilnehmer an der Kantdiskussion davon berzeugt, daß eine derartige Folgerung nicht akzeptabel ist und auf jeden Fall vermieden werden muß, da eine Lehre, die Schçnheit inflationr ber smtliche Bereiche der erkennbaren Welt verbreitet sein lßt, schon der elementarsten Weltkenntnis widerspricht. So meint man Kant vor einer Konsequenz bewahren zu mssen, von der die ganze Wirklichkeit, wie es scheint, zu einem sthetischen Phnomen herabgestuft wird. Es lßt sich hingegen zeigen, daß sich der nur scheinbar paradoxen Koinzidenz von Schçnem und Erkennbarem durchaus ein vertretbarer Sinn abgewinnen lßt. Man kommt der Sache nher, wenn man Textstellen betrachtet, an denen Kant auch im Blick auf Einzelflle von der Schçnheit spricht, die
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mit einer Erkenntnis verbunden sein kann. So gesteht er selbst den hochabstrakten Partien der analytischen Teile der Metaphysik „eine gewisse Schçnheit“35 zu. In einer Reflexion findet sich sogar der Satz: „Selbst ein Vernunftschluß enthlt Schçnheit“.36 Was dieses Zugestndnis fr Kant bedeutet, ermißt man nur, wenn man zugleich an die Reserve, ja an die Aversion denkt, mit der er nicht erst in der Vernunftkritik,37 sondern schon in der vorkritischen Epoche seines Denkens der Syllogistik begegnet. Den von dieser Lehre behandelten Schlußfiguren wirft er bereits im Titel einer kleinen vorkritischen Schrift eine „falsche Spitzfindigkeit“38 vor; in den „Beobachtungen ber das Gefhl des Schçnen und Erhabenen“ werden sie sogar als bloße „Schulfratzen“39 apostrophiert. Wenn aber Schçnes und Erkennbares wirklich koinzidieren sollte, bleibt es um so merkwrdiger, daß mit dem Erkennen in sehr vielen Fllen eben doch keine vom Erkennenden deutlich empfundene Lust verbunden ist. Ein Satz aus der Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft“, der sich auf die mit der Erforschung der Natur und mit der Einsicht in ihre Gesetzlichkeiten verknpfte Lust bezieht, hilft weiter: „Zwar spren wir an der Faßlichkeit der Natur […] keine merkliche Lust mehr: aber sie ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht mçglich sein wrde, ist sie allmhlich mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt und nicht mehr besonders bemerkt worden“.40 Damit wird erklrt, warum die Lust im Erkennen dem Urteilenden in vielen Fllen nicht in voller Deutlichkeit zum Bewußtsein kommt. Zum einen werden diese Dinge durch die Gewçhnung im Laufe der Zeit unter die Aufmerksamkeitsschwelle abgedrngt; zum anderen wird jenem Lustgefhl im Prozeß des Erkennens die Aufmerksamkeit des Urteilenden von anderen Inhalten des Bewußtseins streitig gemacht, besonders dann, wenn sie den vom Erkennenden intendierten Gegenstand der Erkenntnis betreffen. Dadurch wird jedoch der Grundsatz nicht berhrt, daß genau die Konfiguration der Erkenntnisvermçgen, „welche zum Geschmack erfordert wird, auch zum gemeinen und gesunden Verstande erforderlich ist, den man bei jedermann voraussetzen darf“.41 Dieselbe Lust, die im Geschmacksurteil in der Erfahrung des Schçnen prsent ist, begleitet 35 36 37 38 39 40 41
AA IV, 326. R 621. Vgl. KrV, B 141. AA II, 45. AA II, 215. AA V, 187, vgl. 184. AA V, 293.
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auch „die gemeine Auffassung eines Gegenstandes durch die Einbildungskraft […] in Beziehung auf den Verstand […] vermittelst eines Verfahrens der Urteilskraft, welches sie auch zum Behuf der gemeinsten Erfahrung ausben muß“.42 Das ist der Grund, warum die Bedingungen der Reflexionslust zugleich „subjektive Bedingungen der Mçglichkeit einer Erkenntnis berhaupt“43 sind. VII. Damit ist die Richtung angezeigt, die man einschlagen muß, wenn man der nur scheinbar paradoxen Konsequenz gerecht werden will, die das Schçne ber den ganzen Bereich des Erkennbaren verbreitet sein lßt. Das mit dem Wirken der reflektierenden Urteilskraft verbundene Lustgefhl gehçrt nmlich zu den intensiven und deswegen graduierbaren Grçßen. Seine Graduierbarkeit ist ein Merkmal, das ihm mit allen anderen sinnlichen Empfindungen gemeinsam ist. Dies wird in den „Antizipationen der Wahrnehmung“ der Ersten Kritik begrndet.44 Dieser Abschnitt zeigt, warum zwischen jedem beliebigen Intensittsgrad einer bestimmten Empfindung und dem Nullpunkt stets noch andere, geringere Intensittsgrade mçglich sind. Allerdings kann keine Empfindung einen negativen Grad annehmen, da sie schon von Hause aus durch ihre essentielle Positivitt ausgezeichnet ist.45 Diese Graduierungsfhigkeit ist freilich die einzige Eigenschaft, die sich a priori von jeder Empfindung ausmachen lßt. Immerhin macht sie es mçglich, daß „wir selbst die Schçnheit groß oder klein nennen“.46 Unter diesen Bedingungen lßt sich erklren, warum eine Koinzidenz von Schçnem und Erkennbarem im Grundsatz selbst dort noch realisiert sein kann, wo Reflexionslust und Schçnheit nur in bescheidenem, ja in minimalem Grade prsent sind. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß der Urteilende im Zuge des Erkennens mit der Option fr einen bestimmten Begriff das freie Reflektieren beendet und damit die dem mit ihm verbundenen Lustgefhl eigene Tendenz auf Selbsterhal42 43 44 45
AA V, 292. AA V, 292. Vgl. A 166 / B 207 ff. Vgl. auch AA XXVIII, 62: „Abwesenheit lßt sich nicht sehen“; AA XXVIII, 235: „Die Negation kann die Sinne nicht affizieren“. 46 AA V, 249.
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tung durchkreuzt. Dies fllt ihm um so leichter, je schwcher die Reflexionslust ausgeprgt ist. Es bedarf ohnehin eines besonderen Talents, um die Reflexionslust auch dann noch empfinden zu kçnnen, wenn sie nur in geringem Grade prsent ist. Dieses Talent ist der Scharfsinn.47 Ihn zeichnet die Fhigkeit aus, bereinstimmungen und Differenzen auch dort noch zu entdecken, wo das gewçhnliche Bewußtsein keine Unterschiede mehr wahrnimmt. Ihm nahe verwandt ist das von Kant mit dem Namen der Sagazitt bezeichnete Vermçgen, das sich in der Fhigkeit zeigt, „Bescheid zu wissen, wie man gut suchen soll: eine Naturgabe, vorlufig zu urteilen, wo die Wahrheit wohl mçchte zu finden sein; den Dingen auf die Spur zu kommen und die kleinsten Anlsse der Verwandtschaft zu benutzen, um das Gesuchte zu entdecken oder zu erfinden“.48 Den Weg dorthin weist der reflektierenden Urteilskraft jenes Gefhl der Reflexionslust, das allein der Scharfsinnige auch dann noch empfindet, wenn es nur geringgradig ausgeprgt ist. Die „zutrglichste Stimmung der Erkenntnisvermçgen“, durch die der Gewinn einer Erkenntnis erst ermçglicht wird, kann jedenfalls „nicht anders als durch das Gefhl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden“.49 Unter diesen Voraussetzungen geht die Reflexionslust zwar nicht mehr in das Resultat des Erkenntnisprozesses ein, wohl aber gehçrt sie zu seiner sinnlich empfindbaren Vorgeschichte. Scharfsinn kann den Weg zur Erkenntnis bahnen, dagegen kann er niemandem den Gewinn belangvoller Erkenntnis garantieren. Gerade der mit Scharfsinn Begabte muß sich davor hten, sich in inhaltsarmen Quisquilien zu verlieren. Er luft das Risiko, Spitzfindigkeiten zu entwickeln und Dinge zu entdecken, die letztlich belanglos sind. Gerade er bedarf daher der Fhrung durch eine Instanz, die Grade des Wissenswerten unterscheiden kann, wenn er sich nicht dem hingeben will, was Kant ansieht als „Wissenschaft, die ein Werkzeug der Eitelkeit ist“.50 Auf alles derartige Wissen ist eine spitze Bemerkung in den Logikvorlesungen gemnzt: „Unser Wissen ist nichts, wenn andere es nicht wissen, daß wir es wissen“.51 So kommt gerade die Philosophie einer ihrer Aufgaben nach, wenn sie sich um das wahrhaft Wissenswerte bemht: „Philosophie zeigt den wenigen Nutzen von vielen Kenntnissen. Das Wissen lßt eine große 47 48 49 50 51
Vgl. AA VII, 201; R 463 ff., 988. AA VII, 223. AA V, 239 f. R 165; vgl. AA V, 433. AA XXIV, 813.
Die Lust im Erkennen
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Leere“.52 Deswegen gehçrt es zu den vornehmsten Obliegenheiten des Philosophen, dem Menschen zu zeigen, „wozu am Ende alle Gelehrsamkeit ntze“.53 Zu den begrndbaren Inhalten der Erkenntnis steuert der Geschmack keine eigenen Elemente bei. Seine Funktion in ihrer Genese fhrt daher nicht dazu, diese Inhalte zu sthetisieren. Da er aber, auf sich selbst gestellt, nicht mit Hilfe von Begriffen, sondern immer nur mittels eines Gefhls urteilt, ist er dazu prdestiniert, sich der sinnlichen Momente anzunehmen, die jeder Tatsache des Bewußtseins und damit auch allen Elementen der Erkenntnis eigen sind, auch wenn sie die Aufmerksamkeitsschwelle nicht berschreiten. Denn es gilt ohne Ausnahme, daß „alle Vorstellungen in uns […] subjektiv mit Vergngen oder Schmerz, so unmerklich beides auch sein mag, verbunden werden kçnnen“.54 Daher kann auch in seinen Bemhungen um Erkenntnis kein Mensch eine Position außerhalb des Einzugsbereichs des Gefhls beziehen. „Weil die Selbstempfindung der letzte Beziehungsgrund von allen unseren Ttigkeiten ist, so bezieht sich alles auf das Gefhl“.55 Auch in diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß das Ich im „Ich denke“ dem Menschen auf unmittelbare Weise nur im Modus eines Gefhls prsent ist.56 „Der chte Geschmack erleichtert das Denken“;57 er „macht dem Verstande Empfehlung“.58 Diese Formulierungen aus Kants Reflexionen sind Keimzellen, die den Kern dessen enthalten, was auch die „Kritik der Urteilskraft“ zum Problemkreis des Konnexes von Gefhl und Erkennen nur andeutet, nicht aber in extenso ausfhrt. Denn der Geschmack bleibt ein auch „uns selbst seinen Quellen nach verborgenes Vermçgen“.59 Doch es ist dieselbe Urteilskraft, die das eine Mal reflektierend nach Begriffen in der Hoffnung sucht, damit den Erwerb einer Erkenntnis vorbereiten zu kçnnen und die das andere Mal in der Rolle des Geschmacks, frei von Verpflichtungen im Dienste des Erkennens, die Erfahrung des Schçnen macht. In beiden Fllen wird ihre Ttigkeit vom Urteilenden in lustbetonter Weise empfunden, wenn auch in unterschiedlichen Graden der 52 53 54 55 56 57 58 59
AA XXIX, 1, 13. AA XXIV, 46. AA V, 277. R 711. Vgl. oben Anm. 6. R 856. R 806. AA V, 341.
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Intensitt. Auch wenn dieses Gefhl in das Resultat und damit in den Inhalt des Erkennens nicht eingeht, begleitet es den Weg, der dorthin fhrt. Diese Tatsache macht verstndlich, daß – sptestens seit Lessing ein vielberufener Topos – nicht der gegenstndliche Besitz der Wahrheit, sondern die Bemhung um sie das dem Menschen angemessene Verhltnis zu ihr anzeigt. Kants Rehabilitierung des Gefhls findet den Angelpunkt in der Reflexionslust, wie sie in unverstellter und eminenter Form in den Beurteilungen des Geschmacks prsent ist, aber auch in der Genese der Erkenntnis eine unvertretbare Funktion ausbt. Da in diesem Gefhl nur das freie, unbeschadet des jeweiligen kontingenten Anlasses noch nicht von konkreten Inhalten und Zielen regulierte Spiel der Erkenntnisvermçgen vom Subjekt empfunden wird, kommt ihm ein Status zu, der dem eines emotionalen Apriori vergleichbar ist. So ist die im Aufweis der sthetisch-sinnlichen Vorgeschichte der Erkenntnis grndende Rehabilitierung des Gefhls ein Ergebnis von Kants Denken, dessen Tragweite verkennt, wer das Verhltnis von Gefhl und Erkennen nur im Sinne einer plakativen Entgegensetzung von Irrationalismus und Rationalitt diskutiert. Vermutlich wird man auf diese Dichotomie nicht gnzlich verzichten kçnnen. Von Kant lßt sich indessen lernen, daß einen diese Abstraktion nicht bersehen lassen darf, wie sich ihre Elemente verschrnken, wenn gerade dem erkennenden Menschen tragende Elemente seiner Rationalitt auch im Modus des Gefhls, einige von ihnen sogar nur in diesem Modus prsent sind. So kommt die Philosophie auch hier einer ihrer ureigensten Aufgaben nach, wenn sie bei allen Abstraktionen, die sie vornimmt und mit denen sie arbeitet, zugleich jenen Ursprung ins Auge faßt, von dem sie abstrahiert worden sind.60 Literatur Kant, Immanuel, 1900 ff., Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin [zitiert unter Angabe von Band- und Seitenzahlen; die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert nach der ersten (A) bzw. zweiten Auflage (B)]. Wieland, Wolfgang, 2001, Urteil und Gefhl. Kants Theorie der Urteilskraft, Gçttingen. 60 Ausfhrlichere Erçrterungen der hier skizzierten Thesen enthlt die Monographie Wieland, 2001.