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IN JEDES HAUS GEHÖRT DIESES WERK das ist das überzeugende Urteil von Presse und Rundfunk über die große, spannend geschriebene Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte" des Münchner Historikers Otto Zierer. Von ungeheurer Dramatik sind die Bände dieses neuartigen, erregenden Geschichtswerkes erfüllt. Hier sind nicht, wie in Lehrbüchern alter Art, die historischen Ereignisse mit trockener Sachlichkeit aneinandergereiht: die Vergangenheit wird vor dem Auge des Lesers in kulturgeschichtlichen Bildern zu neuem Leben erweckt. Menschen wie Du und idi schreiten über die wechselnde Bühne der Geschichte und lassen den Ablauf der Jahrhunderte, das Schauspiel vom Schicksal der Menschheit, ergriffen miterleben. Zierers „Bild der Jahrhunderte" ist ein Werk für die Menschen unserer Zeit, für die Erwachsenen wie für die Jugend. DER
KAUF
LEICHT
G E M A C H T . . .
„Schüler, deren Eltern das Bild der Jahrhunderte zu Hause haben, sind die besten Geschichtskenner in meinen Klassen", schreibt ein bekannter Erzieher. Der Verlag hat die Beschaffung der Bücherreihe leicht gemacht. Um jeder Familie den Kauf dieses prächtig ausgestatteten Standardwerkes zu ermöglichen, werden günstige Zahlungserleichterungen eingeräumt. Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen zwanzig Monatsraten erworben werden: DM 10,90 für die RotleinenAusgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Ausgabe. Das Werk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen und Zeittafeln.
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SEBASTIAN
LUX
MURNAU • M Ö N C H E N • INNSBRUCK • ÖLTEN (SCHWEIZ)
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DES
WISSENS
LUX-LESE BOGEN NATUR-
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K U LT U R K U N D LI C H E
THEODOR
HEFTE
SEIDENFADEN
Johann Peter Hebel DAS LEBEN EINES DICHTERS
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SEBASTIAN
LUX
MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
Hebels Vaterhaus in Hausen
Der Hunsrücker und die Schwarzwälderin 1720 — das Rheinland war damals noch ein Lappenteppich von Staaten und Herrschaften zwischen Alpen und Nordsee — erblickte zu Simmern auf dem Hunsrück, das zur Kurpfalz gehörte, ein unruhig Blut das Licht der Welt: Johann Jakob Hebel. Seine Väter, Schmiede und Weber, wohnten seit Menschenaltern dort: sie hatten sich wohlgefühlt in der Enge handwerklichen Daseins. Dem Johann Jakob aber erwachte, da er heranwuchs, jener fränkische Wandertrieb, der manchen Hunsrücker zwang, nach Kopenhagen zu ziehen, 2
nach Rom oder Palermo oder über das große Wasser an die Hudson-Bai, nach Mexiko, Brasilien, Kalifornien und Alaska. Bevor er auszog, die Welt „und das Fürchten kennenzulernen", mühte er sich, aus Büchern und Berichten, Landkarten und Bildern so viel Erdkunde zu gewinnen, daß er bestehen und ein rechtes Tagebuch führen konnte. Mit siebenundzwanzig Jahren stand er in Basel. Er spürte Geheimnisse der Geschichte, erlebte den Zauber um das Rheintal, den Gipfel des Belchen und des Feldbergs, die Jurahöhen und -tiefen und lauschte am Tisch der Schenke den Erzählungen der Schoppenstecher. Und eines Tages trat er in die Dienste des Majors Iselin, der einen wanderfesten Mann suchte. Der Major hatte ansehnlichen Besitz ererbt und erworben und führte zu Basel ein großes Haus. Er war ein Haudegen. Gleich einem Kondottiere des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts zog er, sobald irgendwo Krieg aufflackerte, hin und stellte sich einer der kriegführenden Armeen. Der Hunsrücker mit den klugen, lebhaften Augen, der schnellen Art und beweglichen Entschlossenheit gefiel dem Major. So kam es, daß Johann Jakob Hebels Wanderlust abenteuerlich genug schweifen und fahnden konnte und in Abend- und Nachtstunden auch im Tagebuche fabulieren durfte. Während des Österreichischen Erbfolgekrieges kämpfte er mit dem Major in den berühmten Schweizerkompanien, die England besoldete, stand zwischen Scheide und Maas und am Niederrhein und lernte bei den Kriegsfahrten das Elsaß, Lothringen, die Champagne, das Artois und den Hennegau kennen. Da Iselin 1756 unter die Fahne der Korsikaner trat, um deren Unabhängigkeit von der Herrschaft Genuas mit zu erzwingen, kam Johann Jakob Hebel auf die zerklüftete Insel zwischen dem Ligurischen und Tyrrhenischen Meere, wo der Mufflon hauste, Oliven-, Feigenund Kastanienkulturen gediehen und zwischen immergrünen Macchien Banditen wohnten. Seiner Art nach ging er bei den Fahrten auch geistigen Dingen nach. Er trieb mathematische, geschichtliche, erdkundliche und sprachliche Studien und schrieb das 3
ihm Wissenswerte nieder. Deshalb überragte er Männer seines Herkommens und war dem Major, der hin und wieder mit ihm nach Basel zurückkehrte, ein angenehmer und oftmals auch sangeslustiger Gesellschafter. Das Tagebuch hält über einhundert Volkslieder fest, nach den Anfangszeilen sorglich geordnet. Bei den letzten Kriegszügen begleitete ihn, gleich einem Schutzgeiste, die Erinnerung an Ursula Oertler, die junge Magd aus dem Dorfe Hausen, die auf dem Gut des Majors diente. Ihr sittsam-frommes, gemütvolles Wesen sagte ihm zu, und da sie seine Neigung erwiderte, führte er sie heim, sobald er mit dem Major nach Basel zurückkehrte. Im Tagebuch hatte er Leid- und Liebessprüche für sie gesammelt, die uns bezeugen, wie stark sein unruhiger Geist sich an ihre besonnte Stille gebunden fühlte. Der Werbebrief, dessen gezierte, verschnörkelte Schrift dem Zeitalter des Rokoko entsprach, versteckte unter scherzhaften Wendungen den warmen und echten Herzton des Schreibers, und Ursula Oertler bewahrte ihn, selbst als sie schon verheiratet waren, wie ein Heiligtum. Winters wohnte das Paar zu Hausen, wo die Frau ein einstöckiges Fachwerkhaus und einige Äcker besaß. Man duldete den Zuwanderer als Schutzbürger, und da er die Weberei, das Handwerk seiner Hunsrücker Ahnen, aufgriff und ordentlich übte, achtete man ihn und lauschte, wenn er von seinen Fahrten erzählte. Den Sommer über wohnten Ursula und Johann Jakob zu Basel, nahe dem Gute Iselins, in einem Häuslein am Petersplatze. Von dort aus konnten sie dem Major und seiner Frau helfen und mit ihnen jenes Leben der Eintracht führen, dem der Unterschied zwischen den Ständen eine gottgewollte Ordnung ist. Das Märchen der jungen Ehe krönte sich, als die Frau während eines Baseler Aufenthaltes in diesem Häuslein der Iselins ihrem Manne den erhofften Sohn schenkte. Es war am 10. Mai 1760, in einem Augenblick also, in dem das kriegerische Europa den Atem anhielt. Den Tag zuvor hatte der Major zu Johann Jakob Hebel gesagt, es falle ihm schwer, in Basel bleiben zu müssen; vier 4
Jahre schon widerstehe der Preußenkönig einer Welt von Feinden; sooft man glaube, er erliege der Übermacht, sooft verwandle sich die vermeintliche Niederlage in einen Sieg; wenn ihm auch die Berliner Kargheit mißfalle und dem Rhythmus der friderizianischen Marschmusik der Schmelz fehle: sein Degen rühre sich merklich, sobald er des Königs mit dem großen Blick und der scharfen Nase gedenke! Europa hielt den Atem an, wie wenn es die Wende spürte, die das lederne Runengesicht dieses Königs ankündigte. Wieder leuchtete der Frühling, blühten Himmelschlüssel auf den Wiesen, an den Feldrainen Maßlieb und Löwenzahn, in den Wäldern Anemonen, in den Gärten Birn-, Apfel- und Pfirsichbäume — allerorts blühte es: in Schlesien, ,wo Friedrich kämpfte, zu Basel im Park des Majors, zu Hausen im Gärtchen der HebelLeute, die derzeit wieder am Petersplatz wohnten und ihr Glück bewunderten: ein Knäblein, von dem sie nicht wissen konnten, daß aus ihm einmal der Deutschen „größter volksunmittelbare Dichter" werden solle. Ob Kriege die Erde pflügen und Menschenherzen zerreißen: der Lenz weckt Blumen. Irgendwo bergen Mütter künftige Dichter an der Brust: Begnadete, die den Zwiespalt der Welt tief erleben und dennoch Licht zünden. Mit ihm tragen sie den Glauben an die Unsterblichkeit des Geistes und die Einheit der Schöpfung durch die Zeit.
Das Büblein und die goldene Kugel
J
ohann Jakob Hebel hält den Jungen im Arm. Er mustert ihn mit dem Blick des Kundigen und meint zu der Frau, die in karierten Kissen und sauberen Bettdecken liegt: er habe ihre Augen und setze doch seine, des Vaters Art fort. In welchem Walde die goldene Kugel liege, die dem Knaben beschert sei, wisse freilich niemand; auch ihm selber habe zu Simmern im Hunsruck keiner voraussagen können, daß er sein Goldglück einmal zu Hausen, unweit Basel, bei einer gewissen Ursula 5
Oertler entdecke; dies aber stehe fest: Weber solle der Junge nicht werden, sondern ein Studierter, ein Richter, Professor, ein Pfarrer; dann finde er die goldene Kugel leichter! Die junge Mutter lächelt: der Herrgott werde dem Büblein die goldene Kugel schon an den rechten Platz gelegt haben; es müsse zunächst aus den Windeln wachsen und ein Junge werden; bis dahin trage der Rhein noch manchen Tropfen Wassers zum Meere. Auch Major Iselin kommt mit seiner Frau, einer geborenen Ryhner, das Knäblein anzuschauen, und Knechte und Mägde des Gutes folgen am nächsten Tage. Sie stehen beglückt um Vater, Mutter und Kind und bringen ihre Gaben und sprechen gute Wünsche. Da es am 13. Mai in der Kirche Sankt Peter „reformierter Weise" getauft wird und die Sonne gleich einer Königin über dem Rheine, der Stadt und den Bergen durch blaue Wolken fährt, glaubt Johann Jakob Hebel, er habe die goldene Kugel gesehen, die der Herrgott dem Peterle, seinem Büblein, bereit halte. Er bedenkt nicht, wie das Schicksal diesem Begnadeten Kümmernisse besonderer Art „schicken" muß, damit er reich werde, reife und einsam bleibe, um der Gemeinschaft das Edelgut wundersamer Dichtung vermitteln zu können. Es geschieht, daß Johann Jakob Hebel, der die Lebensäußerungen des Sohnes und eines nachgeborenen Töchterchens gewissenhaft ins Tagebuch einträgt, die Stätte seines Glücks verlassen muß, als das Büblein den ersten selbständigen Schritt zu seinem Ziele zurückgelegt hat. Eineinhalb Monate nach der ersten Geburtstagsfeier — Frau Ursula hatte einen Kuchen gebacken und ihn mit einer brennenden Kerze auf den Tisch gestellt — am 25. Juni 1761, stirbt er: vorzeitig und schnell zerreibt der Lebenskampf den sparsamen Mann, der bestrebt war, sein kleines Vermögen zu mehren. Als der Rheinfranke das Schifflein kurzen Glückes für immer verlassen hat und ins Grab der Ewigkeit gesunken ist, muß die Gefährtin seiner Treue hinfort das Steuer führen und dazu der Fahrt das Lied singen. 6
Frauen, die frühes Leid trifft, sind stark, und Mütter vermögen oft mehr als Minister und Feldherrn. Frau Ursula hat eine „schaffige" Hand und klugen Sinn. Da ihr Töchterlein — e s ist noch nicht drei Monate alt —• im Herbste hinwelkt und heimgeht ins ewige Reich, widmet sie sich ganz dem Knaben, der die Mitte ihres stillen Daseins wird. Sie meistert den Tag und sinnt am Feierabend über Hübners „Biblischen Historien und Fragen", auch wohl über dem Tagebuche ihres „Seligen" dem Born des Herzens nach, ohne dessen Fülle sie die Kümmernisse nicht hätte ertragen können. Begnadete wachsen umständlicher als „Eindeutige". Johann Peter wird ein rechter Wildling. Er zeigt wenig Beständigkeit, schweift von Ding zu Ding, ist zu „Spielereien und Streichen, zu Näschereien und Spitzbübereien" aufgelegt. Der Mittelweg zwischen liebender Strenge und sinnvoller Milde wird der Mutter schwer. Frau Ursula weiß, daß ein Kind heiliger ist „als die Gegenwart, die aus Sachen und Erwachsenen besteht". Sie will dem „Söhnlein" im einweihenden, wichtigsten Jahrzehnt des Lebens, im ersten, die gelagerte Kraft „mit allen zarten Gewohnheiten des schönen Herzens, mit allen Banden der Liebe" geben. Es soll einen Himmel empfangen, „der es immer leitet, vor welche fremde Länder es später kommen mag". Wenn Strafe und Mahnung verwehen, lacht die Sonne. Sie geht am Oberrhein goldener auf als anderswo. Frau Ursula erkennt, daß der Sohn ein gut Teil ihres Erbes im Blute trägt. Hingegeben betet und singt er. Er klettert auf Stuhl und Tisch, dem Pfarrer gleich zu predigen. Im Garten begräbt er, geradezu feierlich, Schmetterlingspuppen und harrt gläubigen Sinnes ihrer Auferstehung. Frau Ursula dankt Gott und denkt, ein Kind sei das größte und innigste seiner Wunder. Als Hanspeter, wie sie ihn nennt, sechs Jahre alt ist, schickt sie ihn in die Dorfschule. Der Schulmeister Andreas Grether nimmt sich des Halbwaisen an: er wird dem Jungen nicht nur Lehrer, sondern auch Vater. Da seinem lebhaften Geiste nach einigen Jahren der 7
Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen nicht genügt, schickt Grether ihn an den freien Nachmittagen in das benachbarte Schopfheim, in die lateinische Schule des berühmten Präzeptoratsvikars August Gottlieb Preuschen. Der Weg von Hausen nach Schopfheim bietet einem Jungen einhundert und mehr Gelegenheiten, den Schelmengeist spielen zu lassen, der ihm durch die Adern pulst. Lauschige Sträucher blicken ihn an, Finken und Meisen nisten darin, singen und rufen ihm zu, die Welt sei ein Geschenk und schmücke sich ihm täglich neu. Gräben und Tümpel bergen Salamander. Bachstelzen •wippen auf und ab. Tausend Kräuter verschwenden ihren Duft: Frauenmäntelchen, Hasenbrötchen, würziger Kümmel, Habermark, Dolden, Ruchgras. Sie prangen, daß es selbst den Schmetterlingen schwerfällt, die rechte Blüte zu wählen. Wenn der Sommer steigt, locken rote Erdbeerköpfchen aus den Gärten. Goldene Rübsaat leuchtet auf den Feldern, Bienenchöre summen darüber her. Da gibt es kein Brücklein, auf welches der junge Lateiner sich nicht setzen und dem Wasser nachsinnen muß, das unter ihm herspringt. Da ist kein Fischlein, das ihn nicht grüßt, keine Libelle, die nicht von zauberhaften Flügen berichtet. Im Herbst aber lachen Äpfel und Birnen aus dunkelgrünen Baumkronen. Der Feldschütz in spaßigem Hute ist ein alter Mann; was bedeutet schon sein Knotenstock? Ein Bürschlein, dem beim Blick auf die reifen Früchte das Wasser im Munde zusammenläuft, kann ihn nasführen, und junge Beine sind schnell. Über die Straße rollt manches Gefährt, das den Hanspeter aus Hausen anspricht. Auch gesellt sich ihm hier und da ein Kauz, der weit her kommt, das Felleisen trägt, von den Alpen, Budapest, vielleicht gar von Konstantinopel berichtet. Auf den Weiden grasen Kühe. Sie laufen an den Zaun, sooft es dem blonden Schopf, dem Teufelskerl, paßt — dann nämlich, wenn er stillstehend die Stimme eines Kalbes nachahmt. Füllen sind da: sie fressen Brot und Zucker aus der Hand und wiehern. Ja, der Weg von Schopfheim nach Hausen, so schnell er zu gehen ist, währt lang, zumal wenn das „Büblein" von den verworrenen Stunden heimgesucht wird, denen
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es manchmal ausgesetzt ist. Sooft sie aber abgelöst werden von solchen des „süßen Götterschlummers", ist er der Prinz, der das Königreich seines Vaters durchwandert. Dann stören weder „Haus- noch Europakriege" seine Seligkeit.
Der Tod auf der Landstraße D ie Basler sind klug und tatkräftig. Ihre alte Rheinbrücke legt sich bereits seit 1225 über das Knie des Stromes und vermittelt den Verkehr ins Burgundische, zum Gotthard, ins italienische Land. Wenn auch der Dorfbub aus Hausen den Jahrhundertdingen der Stadt kaum tiefer nachsinnt: ihre Schicksalslinien formen unbewußt an ihm. Er spielt auf dem weiten Petersplatze und geht in dem Patrizierhaus des Majors Iselin, zwischen der Fülle eines weltoffenen Wohlstandes, auf und ab. Auch dort fühlt er sich daheim, und alle Iselins begegnen ihm freundlich. Von der Stadt aus erlebt er die einsame Feierlichkeit der Berge, zumal die des Jura, doppelt stark. Steht er aber selber auf einem Gipfel, so empfindet er die sonnleuchtende Stadt mit ihren Türmen und Giebeln als farbiges Märchen. Er müsse, so haben Mutter und Schulmeister bestimmt, Pfarrer werden und seine Kraft dem evangelischen Leben schenken. Da Hanspeter einverstanden ist, liegt der Weg zur goldenen Kugel klar vor ihm. Vom zwölften Jahre an wohnt er in Schopf heim bei einem seiner Lehrer: so ernst nimmt die Mutter die vorbereitenden Jahre, daß sie sich für die. Unterrichtswochen von dem Jungen trennen zu müssen glaubt. Eine Mutter, die lieben lehrt, braucht nichts zu fürchten, wenn sie ihr Kind fortgibt, und Hanspeters Mutter lehrte ihn lieben. Es kommt vor, daß er zu Schopfheim in der Klasse von der Mutter träumt. Die Wolken, die eben über die Lateinschule wandern, lugten kurz vorher zu Hausen in den Kamin des Fachwerkhauses, 10
darin die Mutter schafft. Der Wind streifte, bevor er um den Schulhof fährt, die Bäume des Gärtchens, in welchem ihr Kohl wächst. Die Sonne, deren Strahlen vertraut über die Wandkarte des römischen Weltreiches wandern, schaut auch der Mutter ins Auge, die singt und sinnt und betet, derweil sie ihr Werk tut. Währenddem Cornelius Nepos vom römischen Schicksale und Gajus Julius Cäsar vom gallischen Kriege berichtet, kommt's vor, daß Hanspeters Gedanken Brücken spinnen zu ihren Liedern, ihren Sprüchen. Dann sieht er neben dem strengen Blick des Lehrers das gütige Auge der Mutter, deren Einziger er ist, von der er freilich nur vermuten kann, wie tapfer sie als junge Witwe ihr Leben meistert. Hanspeter kann nicht wissen, daß er zum Dichter erkoren ist, zu einem Führer der Stille. Er ahnt nicht, daß er berufen ist, dem Volk den Glauben an die Güte der Welt zu erhalten. Das Schicksal wird ihm keinen Zug des Schachspiels ersparen, in dem jeder Mensch zwischen Geburt und Heimgang König oder Königin, Turm oder Springer oder einfacher Bauer ist. Im Oktober 1773 erkrankt Frau Ursula bei einem Ferienaufenthalt zu Basel. Obwohl Frau Iselin sie herzlich pflegt, verlangt sie heim: zu Hausen genese sie leichter, sagt sie, Hanspeter werde ihr für den Rest der Ferien helfen. Am 16. des Monats kommt ein Fuhrwerk, sie zu holen, und der Junge setzt sich neben sie. In ihren Decken und Hüllen und der ungewohnten Schwermut ihres Blickes erscheint sie ihm fast wie ein fremdes Wesen. Die Bäume stehen gelb und braun. Der Altweibersommer spinnt seine Fäden, und aus dem blauen Himmel strömt verklärende Ruhe. Da tritt zwischen den Dörfern Brombach und Steinen der Tod an den Wagen. Er steht eine Weile, als der Fuhrmann hält, und hebt die Hand. Frau Ursula legt den Kopf zurück, schließt die Augen und stirbt, indes den Jungen das Leid der Welt überfällt. Dem Fuhrmann treten die Tränen in die Augen. Er läuft ins nächste Dorf und holt den Arzt. Der aber schüttelt den Kopf und sagt, die Tote betrachtend: die schwerkranke Frau sei weder in Basel noch in Hausen zu retten gewesen; seelische Not habe sie auf die Reise getrieben; 11
der Tod richte sich weder nach dem Kalender noch nach den Wünschen des Menschen! Die Sonne kommt und wärmt die Welt. Hanspeter fährt mit der toten Mutter durch die verklärende Sonne und ihr Silbergespinst heim. Fragen bestürmen ihn, derweil ihm der Schmerz die Kehle abschnürt. Plötzlich aber brennt eine Neugier durch seine Seele und fragt, was wohl die Nachbarn sagen werden, wenn er in den Hof fährt und man das Tuch fortnimmt, das die Leiche zudeckt. Der Weg ist nicht allzuweit, und bald taucht das Haus auf, sein behäbiges Dach, der hölzerne Vorbau des ersten Stockes. Schmuck steht es, sauber, und am Hofgiebel rankt ein Weinstock fast bis ans Bogenfenster unter der Dachspitze. Die Trauben hängen schwer, und ihre Blätter gilben bereits. Die grünen Läden sind geschlossen. Auf dem First sitzen die Tauben des Nachbarn. Die Trauben sind reif, sie wollen gepflückt sein: so denkt der Junge und wendet sich, es der Mutter zu sagen. Da fällt ihm ein, wer an den Wagen getreten ist, daß er den Tod gesehen hat, das dunkle Antlitz Gottes, und die Nachbarn kommen und heben, währenddem er weint, das Tuch . . . Hanspeter zählt knapp dreizehn, und der Gang zum Friedhof an das offene Grab, in das vier schwarze Männer den Sarg mit Frau Ursula Hebel, seiner Mutter-, senken, ist der schwerste seines Lebens. Nun bin ich allein — und nie mehr höre ich ihr Lied, sehe ich ihr Auge, näht sie mir Hemd und Hose, reicht sie mir Brot und Milch. Muß ich von den Büchern fort an den Webstuhl? Bleibe ich in Hausen? Wohin rollt die goldene Kugel, von der Mutter zu sprechen pflegte, wenn sie von seinen frühen Kindheitstagen erzählte? Doch noch im Bannkreis des Grabes spürt er ihre Liebe: sie hinterläßt ihm ein kleines Vermögen. Als Haus und Äcker verkauft sind, besitzt er 2500 Reichsgulden, die sein Vormund — Sebastian Währer aus Hausen — verwalten wird. Bei sparsamster Wirtschaft reicht der Betrag, das Studium zu ermöglichen. Der Hofdiakonus Preuschen, der zu Schopfheim als Vikariatspräzeptor sein Lehrer gewesen und einem Rufe 12
uaeh Karlsruhe gefolgt ist, nimmt sich des Verwaisten an. Hanspeter bleibt vorerst in Schopfheim bei einem seiner Lehrer — Obermüller heißt er und ist ein Mann vorbildlicher Treue —, wird vorzeitig konfirmiert und siedelt, vierzehnjährig, auf das Gymnasium der Hauptstadt Karlsruhe über. Gymnasiast und Student H ausen war ein Dorf, Schopf heim ein Städtlein. Karlsruhe jedoch, die Stadt, ist Residenz. Sie zählt zwar nur 4000 Einwohner. Dem Wäldlerbüblein aber, dem in der Erinnerung an Basel eine Stadt als ein Märchen vorschwebt, erscheint sie seelenlos arm. Was bedeuten ihre regelmäßigen Häuserzeilen? Herrscht hier das Lineal? Er liebt schnörklige Giebel, lauschige Gassenwinkel. Allem Getier ist er vertraut. Die Natur blickt ihn mütterlich an. Was wollen die Saridflächen der Stadtumgebung gegenüber den Wiesen und Äckern, den Schroffen, Gipfeln und Schluchten der Heimat? Gewiß: im Schloßgarten steht der Gingkobaum mit den fächerigen Blättern; man bewundert seinen Silberschein, läßt sich berichten, daß er den Chinesen heilig sei, uralt werde und ihre Tempel schütze. Doch man liebt ihn nicht. Wer würde sich in seinem kargen Schatten niederlassen? Er bleibt ein Fremdling, ob der Hofgärtner sich auch bemüht, den Gast bedachtsam zu hegen, den ein Europäer Anno 1757 in seiner ostasiatischen Heimat entwurzelte und herüberschaffte. Eine Buche am waldigen Feldberg spricht und raunt. Sie umfaßt das Herz. Würde es einem Chinesen, der durch Europa reist, einfallen, die Feldbergbuche nach Peking in den Garten des Kaisers zu setzen oder an den Fuß der tausendjährigen Chinesischen Mauer? Was sollen die Platanen hier mit ihren schwefelgelben, aschgrau gefleckten Rinden? Gehören sie nicht nach Nordamerika? Können sie raunen wie deutsche Linden im Tal der „Wiese", wo der Dengelgeist in mitternächtlicher Stunde auf silbernem Stock die goldene Sense schärft? 13
Der Schloßpark, den die Gymnasiasten hin und wieder besuchen dürfen — das gestattet Karl Friedrich, der Markgraf und Vater des Volkes seinen badischen Buben—, ist groß, ist „die Mitte des Landes". Das Gehege seiner Anlagen, in denen Rhododendron blüht, Magnolien glühen, der Flieder schäumt, ist üppig. Doch vor der Bergwelt daheim versinkt dieser gestutzte Park, vor jener Gotteswelt, die „immer so schön ist, in dem schönen einzigen Tal' von lustigen Bächlein und Sommervögeln, wo es immer tönt wie letzte Klänge ausgelüttener Festtagsglocken mit beginnenden Präludien mengeliert und verschmolzen, und wo jeder Vogel oberländisch pfeift, und jeder, selbst der schlechteste Spatz, ein Pfarrer und heiliger Evangelist ist, und jeder Sommervogel ein gemutztes Chorbüblein, und das Weihwasser träufelt unaufhörlich und glitzert an jedem Halm". Hast du gesehen, wie Feldberg, Beleben und Blauen mit dunkler Stirne ragen, wie die „Wiese", das muntere Flüßlein, talab springt und der Rhein den weiteren Umkreis schließt? Hast du erlebt, wie diese Landschaft lebt, atmet, handelt? Weißt du, daß man in ihr bei seligen Lenzfrühen die Silberbecher finden kann, aus denen die Spukgeister nächtlicherweile den Oberländer Wein schlürfen? Der Schüler Johann Peter Hebel, wie er jetzt heißt, ist kein Musterknabe, wohl aber ein Junge zarten Empfindens. Er leidet zu Karlsruhe unter dem Heimweh nach dem „Oberland", wiewohl sein Gönner, der Hofdiakonus, bei dem er wohnt und an zwei Wochentagen ißt — für die übrigen Tage muß er an Freitischen befreundeter Familien teilnehmen —, alles tut, dem Vater- und Mutterlosen das Einleben erträglich zu gestalten. Schließlich findet er jedoch auch in der Residenz stille Plätze zum Träumen, Vogelnester und Erdbeeren, gelbe Ginsterstauden, zwischen denen er liegen und himmelwärts schauen kann, wenn etwa „die Mittagshitze mit leisem Knistern ihre ersten reifen Fruchtkapseln sprengt". In der Klasse stellt er seinen Mann, nimmt gar, trotz seiner Jugend, an der „lateinischen Gesellschaft" teil. 14
Er arbeitet mit und hält die vorgeschriebenen Reden, von denen einige in den Akten erhalten sind und den der Zeit gemäßen Geist der Aufklärung verraten. Sie zeichnen vor allem jenen Fürstentyp, wie ihn die Mitte des Jahrhunderts und das Gymnasium Karl Friedrichs liebte: den Vater des Landes, der das Cäsarische, den Leichtsinn, die Unwahrhaftigkeit und Gottferne meidet und den Mittelweg geht, um die Gegensätze im Volke zu überwinden. Der Knabe ringt sich zum Jüngling durch und gewinnt in demütigen, stolzen, tapferen Erlebnissen — vater- und mutterlos — das Selbstbewußtsein, dessen er bedarf, in Erlangen Theologie studieren zu können. Es gilt, sich in dem freieren Leben der Universitätsstadt, die zur Markgrafschaft Bayreuth gehört, zu behaupten. Leicht ist es nicht. Er trinkt die akademische Ungebundenheit in vollen Zügen, obwohl er weiß, wie beschränkt seine Mittel sind. Bald zeigt sich auch, daß seiner Art „die liebe Schule des Lebens" mehr liegt als die der dicken Bücher, daß es ihm unmöglich ist, selbstvergessen einen der großen Philosophen durchzuarbeiten. Zwischen Hörsälen, „Bücherschäften" und vortragenden Perücken bleibt in ihm der Wäldlerbub lebendig, dessen alemannisches Erbteil zum Lied neigt, dessen fränkisches Blut den schnellen Wechsel und mit ihm das „Kurzgefaßte, Knappe und Sprichwörtliche" liebt. Sein tiefes Wesen bleibt sich in „dunklem Drange des rechten Weges wohl bewußt": da dieser Student der Theologie bestimmt ist, die Mundart seines Stammes zur hohen Dichtung zu erheben, da er berufen ist, in seinem Jahrhundert der Meister der Kurzgeschichte zu werden, behütet ihn die Natur. Sie bleibt stärker als die Schulweisheit und schützt ihn vor dem, was seiner Sendung zuwiderläuft. Er lebt mit klarem Blick und offenem Ohr und wird reich an innerer und äußerer Schau, obwohl er, 1780 nach zweijährigem Studium zurückkehrend, die theologische Staatsprüfung nur mit mäßigen Zensuren besteht und seine Gönner enttäuscht. Menschen, denen der Strom des Lebens in tausend Wellen durch Seele und Blut schäumt, sind „keine Studiermaschinen, deren 15
-Leistungsfähigkeit sich errechnen läßt". Sie stehen immerfort „zwischen den Welten", im Zwielicht der Zeit: auch dann, wenn sie selbst um ihr Dichtertum noch nicht wissen. Hebel will Pfarrer werden, er möchte inmitten der Gemeinde wirken; es kümmert ihn wenig, daß der Staat den „Predigtamtskandidaten mit den geringen Noten" warten läßt und ihn einstweilen nicht anstellt. Er wandert heim, ins Oberland. Es wird ihm „wohl ums Herz wie dem Heustöffel in einem duftenden Blumenkelch seiner Geburtsmatte". Freunde verwenden sich für ihn und helfen dem Mittellosen. Beim Pfarrer Schotterbeck von Hertingen wird er Hauslehrer. Gelegentlich unterstützt er ihn bei kirchlichen Geschäften, und der Ursula Oertlers Sohn wird stolz gewesen sein, als ihm die ersten geistlichen Amtshandlungen gestattet werden. Kennst du Hertingen? Es liegt im Markgräflerlande, dem Herzstück der alemannischen Bezirke. Gegen Osten steigen die Weinhänge des Schwarzwaldes „wie Freitreppen in die majestätische Bergwelt", gegen Westen aber breitet „das fruchtbare Gartenland der Rheinebene einen bunten Teppich zu den Füßen der Kuppen und Gipfel". Dort atmet der Einklang von Erde und Himmel wunschlose Fülle, frohes Genügen. Der Kandidat reift zur Persönlichkeit. Da er, im Gegensatz zu den Zeitgenossen, Gipfeibesteigungen liebt und pflegt — das Wandern von Höhe zu Höhe —, weitet sich ihm die Seele. Sommers erscheinen ihm die Kornfelder der Ebene von oben her als wogendes Meer, die roten Kleeäcker als Hummelparadiese. Dem winterlichen Wanderer aber offenbart das weiße Schweigen der Welt die göttliche Unendlichkeit.
Der Vikar Im Jahre 1783 stellt man den Kandidaten an. Er wird Präzeptoratsvikar zu Lörrach. Der künftige Gestalter der alemannischen Gedichte, der vom J a h r hundert erwartete Erzähler der Kurzgeschichten, der lfi
Kalendermann der Deutschen, unterrichtet acht Jahre. Gewiß versucht er sich hin und wieder in hochdeutschen Gedichten; aber zu allererst ist er Schulmeister am Pädagogium des Städtchens, leistet mancherlei geistliche Aushilfe und predigt wohl auch an Sonntagen, meist in den Dörfern der Umgegend. Lörrach zählt 1800 Einwohner, und der junge Präzeptor knüpft jene Beziehungen an, die ihn durch das künftige Leben begleiten werden: Freundschaften der Seele und gegenseitiger Förderung. Der Prorektor der Anstalt, Tobias Günthert, der Pfarrer von Rötleln, Friedrich Hitzig, dazu ein Aktuar, dessen Name unbekannt ist, die Gattin Güntherts, Karoline Auguste, geborene Fecht, und deren Geschwister, unter ihnen vor allem Gustave Fecht, schließen mit Hebel einen Bund. Er ist zeitgemäß, und seine oberste Satzung fordert, die Freude an der Natur zu hegen und heiter zu leben. Wanderfahrten zum Beiehen, der „ersten Station zwischen Erde und Himmel", beleben die Naturfreunde des Bundes, die sich mit jugendlicher Phantasie zum „Belchimismus" auswächst. Er fordert eine eigene Sprache und Symbolik. Günthert ist der Vogt des Bundes, Hebel der Stabhalter, Frau Karoline Auguste die Vögtin. Auf der Höhe des ausgeprägtesten Gipfels im südlichen Schwarzwald, nahe der „Wies-Quelle", gewinnt Johann Peter Hebel, umzürnt vom Atem drohender Berggeister, getröstet vom Spiel lieblicher Sonnenstrahlen, die Heimat zurück. Birgt das Lörracher Idyll die goldene Kugel? Was soll er singen und sagen? Der Dichter spricht nur, wenn ihn Sehnsucht quält, und der Sohn Johann Jakob Hebels wird erst gestalten, wenn er sich des Zwiespaltes, der auch sein Leben durchzittert, bewußter wird, wenn er spürt, wie er zwischen Erträumtem und Erreichtem in der Schwebe bleibt, wohin ihn das Schicksal auch stellen mag, wenn er merkt, daß es ihn stets in eine seinem innersten Wesen entgegengesetzte Richtung drängt. 18
Johann Peter Hebel will Pfarrer werden; als ihm aber, von Lörrach aus eine Stelle winkt, kann er wegen einer stimmlichen Unfreiheit, unter der er zeitweise leidet, nicht zugreifen. Er gewinnt Gustave Fecht lieb. Das Mädchen erwidert seine Neigung, erwartet das entscheidende Wort: Hebel vermag es nicht auszusprechen, die „Jungfer" durch das Band der Ehe zu fesseln. Stets liegt ein Sehnen vor ihm, und der Überzarte, Überempfindliche, Überängstliche wagt den Schritt nicht: seinem Volke zum Segen, da ohne das heimwehselige Wandern des Einsamen wahrscheinlich weder die „Gedichte" noch auch die „Kurzgeschichten" entstanden wären. „Mein Gemüt ist Ihnen nie näher, als wenn ich weit von Ihnen bin, und ich habe immer mit Ihnen etwas zu plaudern, bis ich einmal hinaufkomme: dann habe ich nichts . . .", schreibt er der Freundin. Der Schaffende hat sein eigen Gesetz. Ob auch die Umwelt den Kopf schüttelt: er muß das Gesetz erfüllen, muß den Weg, den er angetreten, zu Ende gehen. D e r H e r r Prälat ITlebel lehnt den Aufwand äußerer Ehrungen ab — und plötzlich zwingt ihn das Schicksal, das der Wäldlerbub Vorsehung nennt, von Ehrung zu Ehrung. Gering beginnt's — und groß endet es. 1791 drängt es ihn aus dem Lörracher Idyll hinaus: er wird, was sein Gönner gewesen war — Hofdiakonus am Karlsruher Gymnasium und Hilfsprediger. Er kommt zum zweitenmal in die Residenz, zwischen die Häuserzeilen, in den Schloßpark mit seinen Fremdlingen. Die Zahl der Einwohner — sie setzt sich aus Hof- und Staatsbeamten, Gewerbetreibenden und Kleinkrämern zusammen — ist um etwa 5000 gestiegen. Hebel unterrichtet Latein, Griechisch, Hebräisch. Da er lebendig zu sprechen versteht, ist er auch als Hilfs19
Prediger bald kein Unbekannte!" mehr. Seine von der Mutter ererbte Art, Menschen zu gewinnen, schafft ihm schnell einen neuen Bund befreundeter Männer und Frauen: er hätte, trotz dem kargen Gehalte, glücklich sein können. Aber die Sehnsucht blieb. Immer wieder drängt sie nach einer ländlichen Pfarre. Was aber fragt die Welt der Residenz nach dem Verlangen eines Hofdiakonus, in dem das Wäldlerbüblein nicht sterben will? Sie macht ihn 1798 zum Professor der Dogmatik und der hebräischen Sprache, 1805 zum Kirchenrat, 1808 zum Direktor des Gymnasiums, das seit dem Einmarsch der Franzosen Lyzeum heißt. 1814 ernennt man ihn zum Mitglied der evangelischen Ministerialsektion der Landesregierung, 1818 zum Prälaten und zum Kammermitglied. Wohinaus hätte es noch gehen können? Oft sitzt das ehemalige Wäldlerbüblein, das zwischen Hausen und Schopfheim jedes Vogelnest gekannt hat, an der Tafel des Landesherrn, der nun Großherzog ist. Auszeichnungen und Fürstengunst bedrängen das sehnende Herz und den lebendigen Geist. Die Fakultät, die ihn 1780 die theologische Staatsprüfung schwer hat bestehen lassen, verleiht ihm die Doktorwürde. Ist das die goldene Kugel? Die Briefe, die der Prälat — der oberste Kirchenbeamte der badischen Heimat — von Karlsruhe aus den „Proteusern und Belchisten" im Oberlande und anderen Freunden schreibt, zeigen, wie die Sehnsucht unterwegs ist und den Dichter weckt, wie sie „auf der flinksten Drude Ofengabel über Sumpf und Moor, Querfeld und Kreuzweg auf die abenteuerliche Fahrt geht", wie sie „in Gedanken die Reben am Tüllinger Berge visitiert und abends durch die geschlossenen Fensterläden des Pfarrhauses von Lörrach lugt", „am Sonntag aber ihr Schöpplein Heurigen mittrinkt und dann wieder leise verschwindet", wie sie die „Wiese" begleitet, das anmutige „Mädel", das vom Berge zu Tal springt und — bald, wenn endlich ihr Dichter erwacht ist — zum Sinnbilde des Markgräfler Landes wird. 20
Dichter der Mundart U i c h t e r der Hebeischen Art reifen spät. Johann Peter schlägt Wurzel in Karlsruhe. Er singt 1792 beim Geburtsfeste des Erbprinzen wacker im „Chorus der Feiernden" mit, obwohl er nicht gerade musikalisch ist. Er sieht 1795 — am selben Festtage-—, wie der Physiker Böckmann sich mit einem Luftballon vom Erdboden hebt, wie er fliegt. Die Belchisten werden die Köpfe zusammengesteckt haben, da sie miteinander lesen, was der „Stabhalter" von diesem wunderlichen Vorgange schreibt. Im „Zirkel" von Drechslers Kaffeehaus ist Hebel bald heimisch wie im Zimmer der Lesegesellschaft, beim Adlerwirt zu Knielingen und beim Posthalter von Durlach. Doch ob auch der Markgraf seine Predigten besucht — manche legt er, handgeschrieben, den Briefen an Gustave Fecht bei —, ob der Fürst den Schulprüfungen beiwohnt, die der Kammerrat und Direktor abhält: die Sehnsucht bleibt und mit ihr das „Erinnerungsland" Lörrach. Es läßt ihn wehmütig zurückblicken, und diese Wehmut um das Verlorene wirft ihm schließlich die goldene Kugel zu: da er vierzig Jahre alt ist, zwingt ihn das Sehnen Laute, Silben, Worte, Sätze der Mundart, der Sprache „zwischen Hausen und Basel" ins Gedicht zu bringen, festzuhalten, was die Seele durchbebt: Heimweh und heiteren Sinn. Was er formt, ist Wunder, weil nicht der Literat spricht, sondern der Dichter, der ein Wäldlerbub geblieben ist und die Welt, die Menschen, Berge, Matten, Wildbäche und Pflanzen und Tiere tief innen erlebt: zwischen 1799 und 1802, in einem Weltaugenblick, da Napoleon Europa zutiefst erschütterte, entstehen die alemannischen Gedichte. Im Lichte beseligender Rückschau tauchen die Eindrücke der Kindheit und des Lebensmais der Hertinger und Lörracher Jahre „aus dem Unbewußten, wachgeküßt vom Zauber der Sehnsucht, dem Reize des Unerfüllten". Wie die Blume aus langgehüteter Knospe, so bricht Hebels Wortkunst auf, lebt und bildet, ohne Anlehnung an fremde Vorbilder, das „in Ding und 21
Natur Ruhende" der Heimat, jene Einheit, in der es keine toten Gegenstände gibt. Selbst der Zaunpfahl des Winters, der das Schneekäpplein trägt, wird zum Sinnbild. Wiesen und Felder, der Wald und sein Bach, die Berge, Blumen und Sterne, die Irrlichter, das Gewitter und der Januarmorgen, die Menschen mit ihren Nöten und Freuden: alles atmet irgendwie blühendes Leben und wird, taufrisch, zum Bilde Gottes. „Wirklich" — nicht „allegorisch" — steht und spricht, lacht und schafft, weint es im Ringe der heiligen Schöpfung. Wer könnte Verse vergessen, wie die aus dem Idyll von der „Wiese", der lieblichen Tochter des Berges, in denen es heißt: „. . . No nie nenn menschliche Auge Güggelet un gseh, wie schön my Maideli do lyt, Im christalene Ghalt un in der silberne Wagle; Un kei menschlich Ohr het no sii Otmen erlustret Oder sii Stimmli ghört, sii heimli Lächeln un Brigge . . ." (Weinen). Das lebt im Gesichtskreise des Dörflers und erhebt sich doch zu Höhepunkten der Dichtung. Wo das Dasein des Spinnleins oder das des Käfers von innen her festgehalten wird, „ist in der Spinne das Weltengesetz der alles erhaltenden Arbeit, im Käfer das der fortzeugenden Befruchtung lebendig". Das ist höchste Vergeistigung im Sinnlichen, aber ebenso höchste Versinnlichung des Geistigen. Der Wäldlerbub, der 1803 die „Alemannischen Gedichte" erscheinen läßt, wird berühmt, wird es in dem Jahre, das durch den Reichsdeputations-Hauptschluß zu Regensburg einen großen Teil der deutschen Kleinstaaten beseitigt und eine Neuordnung Europas vorbereitet. Erste Männer des geistigen Lebens grüßen ihn: Johann Heinrich Voß, der Homer-Übersetzer, Christoph August Tiedge, Ludwig Tieck, vor allem Goethe. Er würdigt die zweite Auflage der Gedichte, die 1804 erscheint, am 13. Februar 1805 in der Jenaischen Allgemeinen Zeitung und schreibt, der ihm „stammverwandte" Verfasser sei unschätzbar und erwerbe sich einen eigenen Platz auf dem Parnaß, dem Berg der Musen. 22
Der hochdeutsche Dichter J ohann Peter Hebel war Dichter, in tiefstem Sinne ein Naturphänomen. Als der lyrische Frühling „verstummte", quälte er sich nicht mehr mit „Versen": die Mutter in ihm hatte ihr Werk getan. Das väterliche Erbteil erwachte. Seit 1750 gibt das Karlsruher Gymnasium den badischen Landeskalender heraus. Da Hebel 1802 eine idealere Ausstattung des Jahrbuches anregt, das in alle „Volksstuben" wandert, nimmt man ihn beim Wort, und hinfort muß er „erzählen". Der Ton reiner Epik, geboren aus der Gabe ruhigen Schauens und klaren Erkennens, gelingt dem Sohne des Rheinfranken Johann Jakob Hebel so, daß man ihn 1807 bittet, den Kalender ganz zu übernehmen. Er folgt dem Wunsche der Heimat: seit 1808 erscheint der Kalender, von ihm geleitet, unter dem Titel „Der Rheinländische Hausfreund oder neuer Kalender mit lehrreichen Nachrichten und lustigen Erzählungen". Wie stark dem Dichter der erzählerische Drang des Vaters im Blute steckt, verraten seine Briefe, die hier und da Meisterstücke erzählerischer Kleinkunst bewahren. Er „zählt auf", wendet sich an das bluthafte Gegenüber. Er sitzt, sobald seine Feder anhebt, auf der abendlichen Ofenbank oder am Tisch der Bauernschenke, fährt in der Postkutsche oder weilt am Sonntagmorgen im Geheimbunde der Freunde und fühlt sich, den Faden des Ereignisses, dem sein Wort gilt, nicht einen Augenblick verlierend, in die Person der Lauscher hinein, ohne den „leichten Dunstkreis des Geheimnisvollen, der um seine Persönlichkeit gebreitet scheint, zu lüften". Johann Peter Hebel erzählt. Der epischen Haltung ist die Welt das Überlegene, das vor dem jeweiligen Menschen da ist und ihn überdauert. Hebel erzählt nur, wenn ihn Stoff und Handlung, die er „findet", nicht „erfindet", persönlich ansprechen, wenn sie, also mit einer Seite seines Wesens übereinstimmen. Seine Erzählungen sind demnach Bekennt23
nisse, wie es seine Gedichte sind. Aus ihnen läßt sich seine Art, die Welt anzuschauen, klar umreißen. Zu ihr gehören, selbstverständlich, die moralischen Hinweise, die seine Geschichten mitunter schließen. Nur Literaten können sie streichen. Was er sagt, klingt absichtslos, und doch bleibt der Erzähler streng formender Dichter, der jedes Wort abwägt. Die Sätze der Geschichten blitzen wie sauber geputztes Silber- und Zinnwerk aus den Bauernstuben des Markgräfler Landes. Sie beweisen seit nunmehr einhundertundfünfzig Jahren, wie vollkommen die Dreiheit des Schulmeisters, Kirchenmannes und Kalendermachers in diesem Dichter zur Einheit geworden ist. „Der Rheinländische Hausfreund geht fleißig am Rheinstrom auf und ab, schaut zu manchem Fenster hinein, man sieht ihn nicht; sitzt in manchem Wirtshaus und man kennt ihn nicht; geht mit manchem Mann einen Sabbaterweg oder zwei, wie es trifft, und läßt nicht merken, daß er's ist", so heißt es irgendwo im Kalender. Der Dichter hält seine Lauscher im Banne. Kein müdes Wort trübt die Frische der Handlung, keine ausgeleierte Wendung die Sicherheit der Sprache. Seine Augen funkeln, solange er erzählt, wiewohl er doch im Alltag ein geruhsamer Herr ist. Was ihm aber solche Kraft gibt, ist der Geist, mit dem er die Gespräche anfüllt, deren „bewegter Hauch von Gegenstand zu Gegenstand schweift, mitunter auch beim scheinbar Nebensächlichen mit Liebe verweilt und eine Welt der Empfindungen vom losen Scherz bis zu Ernst und tieferer Bedeutung umspannt". Ob er aus altem Volksgut schöpft, aus literarischen Quellen seiner Zeit, einer Zeitung oder aus mündlicher Überlieferung: immer wirkt seine Geschichte neu, mag sie eine Denkwürdigkeit des fernen Morgenlandes, eine Mordtat in Frankreich berichten, von Kannitverstan in Amsterdam erzählen oder jenes Geschehen um einen Bergmann festhalten, der fünfzig Jahre nach seinem Tode nahezu unverändert im Eisenvitriol seines Schachtes gefunden wird. Wer jedoch meint, Hebel habe die außerordentlichen Ereignisse und Gegensätze seiner Epoche nicht empfun24
Illustration aus dem „Rheinländischen Hausfreund"
den, vermag seine Erzählungen und Betrachtungen nicht recht zu lesen. Er ist kein Mitstreiter, wohl aber ein Schauender, der sie „als sicherer Betrachter" erlebt. Wie seine „Weltbegebenheiten" beweisen, versucht er, den Sinn des „Zusammenprallens" zu ergründen, das in dieser unruhevollen Zeit Europa jährlich ein neues Schlachtfeld bringt. Im Getrennten ahnt er Bindungen. Er sieht die geheimnisvollen Verknüpfungen zwischen „Größtem und Geringstem, Altem und Neuem", weshalb er aus scheinbar alltäglichem Geschehen einen Blick ins Weltschicksal werfen und zeigen kann, auf welche Art etwa die Seeschlacht bei Trafalgar, wo „Kanonenkugeln und Menschenleben billige Waren sind", 25
einer Laus hilft, Lebensretterin werden zu können. Die Geschichte des Bergmannes von Falun, die er 1809 in der Zeitschrift „Jason" als dürren Bericht findet, bettet er unter dem Titel „Unverhofftes Wiedersehen" in die geschichtlichen und kosmischen Zusammenhänge zwischen 1757 und 1807 und beweist so, daß ein kleines Kunstwerk denkmalhaft wirken kann, sobald es die schicksalsträchtigen Beziehungen zum Sinnbild des Weltablaufes steigert und bei aller Spannung der epischen Ruhe treu bleibt. Der Verleger Cotta sieht sich veranlaßt, ihn zu bitten, die zwischen 1803 und 1811 im Kalender erschienenen Beiträge, damit sie „mit den Jahren nicht untergingen", in einem besonderen Büchlein herauszugeben. So erscheint 1811 das „Schatzkästlein des rheinländischen Hausfreundes". Es ist der zweite Gipfel im inneren Reich seines Dichtertums. V e r m i t t l e r der Bibel H i n dritter Gipfel taucht auf, als er im letzten Lebensjahrzehnt seinen Markgraf lern die biblischen Geschichten neu erzählt und als Volksdichter die fernen Begebnisse in den Sprach- und Lebensraum der alemannischen Heimat stellt: hochdeutsch zwar, doch bestimmt vom Klang der Mutterworte. So schafft er ein Werk, das mit den alten Weihnachts-, Passions- und Osterspielen zugleich genannt werden darf. Johann Peter Hebel ist kein Klopstock, der den „Messias" in barocker Sprachgewalt dichtet. Der Wäl'dlerbub, der Prälat eines „aufgeklärten" Kirchentums, das sich vor umstürzenden Zeitgewalten zu bewähren hat, kann die urtümliche Wortkraft alttestamentlicher Seher und Propheten, in denen die Glut des Morgenlandes brennt, nicht nachahmen. Er verdeutscht alemannisch, und über siebzig Jahre bleibt sein BibelBüchlein im Badischen Schulbuch, auch im Religionsunterricht der katholischen Jugend. „Ich habe das Büchlein mit Liebe für das Vaterland geschrieben. Ich habe fast bei jeder Zeile oberländische Kinder belauscht", schreibt er einem Freunde. Einem 26
anderen gesteht er: „Immer, wenn ich schreibe, habe ich mir meinen alten Schulmeister Andreas Grether in Hausen und mich und meine Mitschüler unter dem Schatten seines Stabes vorgestellt." Gott, den er schaut, lebt und wirkt um und in ihm. „Die duftende Blume des Feldes verkündet uns Deine Allmacht und Güte, die alle Morgen neu ist." „Wohin der Landmann seine Blicke wendet, begegnet ihm sein Gott. Die ganze Natur wird ihm zum Tempel des Vaters aller Wesen, in dessen Händen sein Schicksal ruht." „Wir nähren uns doch alle an dem großen Hausvatertisch und aus der nämlichen milden Hand: die Biene, die Grundel im Bach, der Vogel im Busch, das Rößlein und der Vogt, der darauf reitet." Das ist der freudige Glaube ans Leben wie an Gott, aus dem heraus er das Schatzkästlein der biblischen Geschichten zu formen vermag. Es ist das, was auch den Sänger der „Alemannischen Gedichte" und den Erzähler des „Rheinländischen Kalenders" beseelt hat. Ihm ist Gott selbst der erste und größte Dichter. So wird ihm die Welt Kunstwerk, und er gesteht: „Die ganze Idee des Weltalls mit all seinen Teilen und Entwicklungen war in Gott, ehe sie realisiert wurde, ein großes harmoniereiches Gedicht, herausgegeben Anno mundi 1 und bis jetzt nicht nachgedruckt, nicht einmal in Reutlingen." Er aber, der Markgräfler, will „einem stillen Wasser gleichen, nicht einem wilden Strudel, damit der Lichtund Freudenstrahl sich aus allen Gesichtern und Sternen in ihm abbilden kann, ohne ein Wort zu sagen".
Abschied Ais Johann Peter Hebel den letzten Gipfel erklommen hat, wird es einsam um ihn. Der Freunde gedenkend, die vor ihm hinübergegangen, schreibt er in dieser Zeit: „Soll man die nicht glücklich preisen, die ihre Ruhe gefunden haben, und die Sehnsucht nach ihnen mit dem Trost, daß sie glücklich sind, und mit der Hoffnung versüßen, es einst auch zu werden und bei ihnen zu 27
sein? . . . Es ist kein Trost dabei, lange zu leben. Man wandelt zuletzt gleichsam auf einem Gottesacker." Ein Jahr darauf, am 22. September 1826, stirbt Johann Peter Hebel. Auf einer Reise, die er als hoher Aufsichtsbeamter des Ministeriums unternimmt, trifft's ihn: er teilt dieses Todesschicksal mit der Mutter. Wie oft hat er des unvergeßlichen Tages gedacht, der traurigen Oktoberfahrt des Jahres 1783, als sie heimging, während er als Dreizehnjähriger neben der Sterbenden auf dem Wagen saß! Immer war er „unterwegs": er, der Junggeselle zwischen den Wirklichkeiten des Alltages und den Zielen seiner Sehnsucht. Am 23. September wird der Dichter unter einem alten Baume des Friedhofes zu Schwetzingen beigesetzt . „Das Oberland", heißt es, „hat ihn geboren, das Unterland begraben: so haben sie ihn beide." Seine Sendung war vollendet: drei Gipfel kündeten die dichterische Lebensarbeit dieses Mannes, „um welche das heitere Band einer zu innigster Gotteserkenntnis geläuterten Lebensweisheit geschlungen ist".
Was mag im Herzen der Freundin vorgegangen sein, da sie die Nachricht vom Tode des Verehrten, von dem schnellen Begräbnis zu Schwetzingen empfängt. Auch Gustave Fecht ist unverheiratet geblieben. Wird sie des Briefes gedacht haben, den ihr der Freund Ende August 1809 geschrieben hat; eines Briefes, in dem er sich um ihre Gesundheit sorgt und länger, als es sonst seine Art ist, vom Abschied spricht? Wird sie nun verstehen, was er meinte, als er schrieb: „. . . Ich habe beim letzten Abschied sehr gefühlt, was Sie schreiben, daß der Zurückbleibende ein schwereres Herz behaltet, als der Scheidende mitnimmt . . . Aber ich bin noch aus einem Grund bei dem Abschied am schlimmsten dran. Sie haben sich alle nur von einem zu trennen. Aber ich allein von allen . . ." Zur Stunde seiner Geburt dröhnten die Trompeten des Siebenjährigen Krieges. Indes der Knabe wuchs, kämpfte Rußland gegen die Türken, tobte der Nord28
Hebels G r a b auf dem Friedhof zu Sdiwetzingen
amerikanische Freiheitskrieg. Der Lörracher Präzeptoratsvikar erlebt, wie die Kaiserin Maria Theresia und Friedrich der Große — die unerbittlichen Gegner — sterben. Er sieht den Glutschein der Französischen Revolution. Der Karlsruher Professor erfährt die Wirbel der Napoleonischen Kriege, den Brand Moskaus, die Schlacht bei Leipzig, die Morgenröte der deutschen Befreiung. Er erlebt, wie seine Heimat Baden als erstes der deutschen Länder sich eine Verfassung gibt. Das Vertrauen der Wähler schickt ihn in die Kammer; er wird gezwungen, politische Reden zu halten. 29
Da er zu Schwetzingen stirbt und beim milden Licht des frühen Herbstes begraben wird, versteinert und erstarrt bereits wieder das so hoffnungsvoll Begonnene, das Freiheitswerk der Fichte, Schenkendorf und Arndt, der Stein, Jahn und Blücher in den Formeln der Reaktion. Vor so gewaltigem Hintergrunde vollziehen sich Morgen, Mittag, Abend und Nacht dieses „Lebenstages". Seine Stufen wirken „wie idyllische Zwischenspiele eines größeren Weltgeschehens". Dennoch ist ihm das Große, Erschütternde zutiefst verbunden: Sein geistiges Werden vollzieht sich innerhalb der Strömungen, die wir als Aufklärung, Sturm und Drang, als Klassik und Romantik bezeichnen. Seine menschliche Entwicklung wird bestaunt von den nationalen Bewegungen, die seine Zeit erregen. Hebel ist weder Soldat noch eigentlich Politiker, doch liebt er sein Volk und dient ihm mit seinen Kräften — ohne daß ihn Unverständnis der Umwelt an seiner Art des Dienens gehindert hätte. Nie trägt er sein gutes deutsches Herz auf den Lippen: dafür schlägt es ihm zu selbstverständlich. Das hindert ihn nicht, in entscheidender Stunde letzte Hingabe zu fordern. Die fast unbekannten Mahnworte „An den Vetter" aus dem Januar 1814 beweisen es. Johann Peter Hebel ist fromm und froh zugleich: immer lebt er im Ewigen. Doch nie wird er Frömmler. Er liebt das Theater. Er besucht es häufig und ohne Scheu. Regelmäßig sitzt er mit Freunden beim Schoppen. Da er zum Prälaten ernannt werden soll, nimmt er das Amt erst an, als man ihm versichert, in seinen Lebensgewohnheiten brauche sich nichts zu ändern; auch jetzt dürfe er an den Weintisch der Freunde. Er blieb ein Begnadeter, der sich das Recht nahm, nach eigenem Schnitt zu leben. Wie der Mensch Hebel sich der Natur als einem unzerstörbaren Ganzen innig verbunden fühlte, so weitete des Dichters Schau sich zum allumfassenden, in Gott ruhenden Weltbilde. Der Einklang seines Wesens gestattete es ihm, seine Weltauffassung heiteren Herzens vorzutragen. 30
„Trübsinn nagt am Leben, Heiterkeit hilft ihm auf, und mit der frommen Liebe zu denen, die allem Leid entronnen sind, verträgt sich wohl ein heiterer Sinn." So schließt der Dichter am 25. Mai 1812 einen Brief an die „liebe Freundin", an Gustave Fecht. Das Wort könnte über seinem Leben stehen, weil es den Grund aufdeckt, der Johann Peter Hebels Dichtung in jeder Generation neu zum Erblühen bringt.
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