Jenseits des Tores von Timothy Stahl
Das Skalpell eines dämonischen Chirurgen schien Landrus Gehirn zu verwüsten, bis ...
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Jenseits des Tores von Timothy Stahl
Das Skalpell eines dämonischen Chirurgen schien Landrus Gehirn zu verwüsten, bis die Schmerzen nicht mehr zu ertragen waren. Der einstige Hüter des Lilienkelchs und Verbreiter vampirischen Lebens hatte das Gefühl, in einer Seele, schwärzer noch als seine eigene, zu ertrinken – in ihrem Morast zu ersticken. Neeeeiiiinn! Zurück! Ich … muß … zurück …! Aber der Sog war stärker. Er trieb ihn immer weiter fort von jenem Tor, jenem Schlund, der sich in den Tiefen des Monte Cargano geöffnet hatte. Und schon bald verhallten Landrus Schreie in der Weite einer alptraumhaften Landschaft …
Was bisher geschah Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine ein Knabe geboren, der sich der Kraft der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Die Seuche macht auch vor einem Stamm von Vampir-Indianern nicht halt, die dem Bösen widerstehen, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, den Adlern, halten. Ihr Häuptling Makootemane kämpft mit dem Traumbild der Seuche, einem Purpurdrachen. Hidden Moon, sein Schüler, bittet Lilith Eden um Hilfe. Sie steht den Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler und letztlich – durch Lilith – auch Makootemane tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren. Weil Lilith Hidden Moons Adler tötete, »staut« sich nun das Böse in dem Arapaho – bis er erkennt, daß Lilith die Rolle des Adlers übernommen hat und er nur in ihrer Nähe dem Bösen widerstehen kann. So schließt er sich ihr an. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutieren diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverlei-
ben will, bevor er das Tor öffnet … Im Kloster befinden sich die Para-Träumer, aus deren Visionen Salvat aber noch nicht das wahre Ausmaß der kommenden Ereignisse lesen konnte. So entschließt er sich, eine Frau einzusetzen (und zu opfern), die die Träume anderer bewußt erleben kann. Als er sie mit den Visionen der Para-Träumer konfrontiert und in deren Alpträume eintauchen läßt, begleitet Salvat sie. So erfährt er vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes, der Rolle des Widderköpfigen – und daß das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie und Hidden Moon zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Beinahe kostet es ihn sein untotes Leben. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet, trotzt den bösen Energien, die aus dem Spalt dringen, und kann die Pforte wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru, der kam, um sich an dem Knaben zu rächen, und Lilith, die herausfinden wollte, was hier vor sich geht, geraten beide in die Welt hinter dem Tor …
Prolog Der Prager Frieden, den der sächsische Kurfürst mit dem Kaiser am 30. Mai im Jahre des Herrn 1635 geschlossen hatte, war kaum das Papier wert, auf dem seine Bedingungen geschrieben standen. Hehre Worte konnten das Grauen nicht vergessen machen, das der seit 1618 währende Krieg über Land und Volk gebracht hatte. Und sie vermochten die Greuel nicht zu tilgen, die im Kriege gesät worden waren und noch Jahre danach verderbliche Früchte trugen, die Elend, Hunger und Krankheit hießen. Doch auch der Gewalt und Grausamkeit war mit dem Friedensschluß kein Ende gesetzt. Im Gegenteil – das Los des einfachen Volkes wurde noch schwerer. Plündernde Horden zogen durch das Land, mordend und brandschatzend, und machten, daß das Leben allerorten ganz und gar zur Hölle geriet. Es gab nur einen Sieger in all der Zeit, nur einen, der triumphieren konnte, weil ihm alles zum Wohlgefallen gereift war, was er einst an Saat ausgebracht hatte. Das Böse selbst gedieh prachtvoll in diesen Kriegszeiten. Die in bunte Fetzen gekleidete Frau sah von dem Hügel, den die Einheimischen Kirchberg nannten, hinab auf die kleine Stadt, deren Mauern keinen Schutz vor der Zerstörungswut der Kaiserlichen und der Schweden geboten hatten. Geplünderte und niedergebrannte Häuser reihten sich aneinander. Die Felder ringsum lagen unbebaut und von Gesträuch und Dornengestrüpp überwuchert da, weil die Horden selbst Pferde und Ochsen niedergemacht hatten, so daß die Äcker nicht mehr bestellt werden konnten. Denn um die Pflüge von Hand zu bewegen, dazu fehlte es zum einen an Männern, und den wenigen, die die Mordlust der Plünderer überlebt hatten, an Kraft. Die kaiserliche Armee des Generals Holk hatte den »Menschenwürger« vor beinahe zwei Jahren aus dem pestverseuchten Sachsen
ins Fürstentum Bayreuth eingeschleppt. Und seither war man der Pest in der Gegend nicht Herr geworden. Nicht einmal die schlimme Kälte jenes Winters 1633/34 hatte sie zum Erlöschen gebracht. Und so gerieten noch heute, in der zweiten Hälfte des Jahres 1635, fast täglich neue Opfer in den Griff der Seuche, weil in kaum einem Leib noch genug Kraft war, sich ihrer zu erwehren. Der Krieg und seine Folgen hatten das Volk ausgezehrt, und nun füllte der Krieg sie mit all den unseligen Gaben, die er mit sich führte. Ein Lächeln von abseitiger Zufriedenheit spielte um die bleichen Lippen der Frau. Doch es hielt nur solange vor, bis sie den Kopf durch den Spalt in der Plane des Ochsenkarrens zurückzog. Als ihr Blick dann wieder ins dämmrige Innere des Karrens fiel, der ihre Wohnstatt war, verschwand das Lächeln wie fortgewischt, und ein sorgenvoller Ausdruck trat in ihre verhärmten Züge. Das Elend und den Tod draußen zu schauen, wo sie andere betrafen, bereitete ihr wohlige Lust. Hier drinnen jedoch, wo beides sie selbst anging, machte ihr der Anblick das Herz schwer. Das Gesicht des Mädchens auf dem Strohlager vor ihr leuchtete im Zwielicht weiß wie der Mond am Nachthimmel. Dunkle Ringe lagen um die geschlossenen Augen und ließen die Höhlen wie leer wirken. Hätte nicht Fieber den mager gewordenen Leib fortwährend geschüttelt, und hätte ihm der Schmerz nicht keuchende Atemzüge von den Lippen gerissen, es hätte schon für tot gelten können. Doch es konnte nur noch eine Frage ganz kurzer Zeit sein, bis der Schnitter das Mädchen zu sich nahm. Die Frau kroch näher an das Lager und sah auf die Kranke hinab. Eine Schönheit war sie bis vor kurzem noch gewesen, gerade am Anfang der Blüte ihres Lebens stehend. Zuhauf hatte sie den Kerlen, überall, wohin ihr Weg sie führte, die Köpfe verdreht, Zwietracht gesät unter Weibsleuten wie Mannsbildern. Schön wie ihre Mutter einst war sie gewesen. Und nicht minder verdorben …
Die Frau lächelte selig in Erinnerung an diese Zeit, derweil sie den Blick nicht von ihrer Tochter ließ. Der Krieg selbst und die Not des Volkes waren das Brot derer, denen sie beide zugehörten. Den Soldaten verkauften sie Waren, den Leuten versprachen sie Hilfe durch allerlei geheime Künste, die sie vor den Kriegsgreueln schützen würden – freilich gegen bare Münze oder wenigstens doch Naturalien. In Notzeiten wie diesen gedieh der Aberglaube gar prachtvoll, und das Volk griff nur allzu bereitwillig nach jedem Halm, der Rettung versprach, mochte das Angebot auch noch so absonderlich sein. Von offizieller Seite aus sah man dieses Treiben gar nicht gern, aber man duldete es, wohl auch, weil andere Probleme drängender waren. Und so konnte das so geheißene »Ziegäuner-Gesindel«, was sich von »umherziehenden Gaunern« herleitete, weitgehend ungestraft seinen Nutzen aus dem Kriege ziehen. Es gab diese Banden zuhauf, doch keine andere mochte sich solcherart am Kriegstreiben ergötzen wie jene, die gerade oberhalb des Städtchens Helmbrechts im Bayreuther Fürstentum lagerte. Sie fühlten sich den Greueln in besonderer Weise zugetan, wohl weil sie zu den wenigen zählten, die wußten, wer den Boden für das Grauen bereitet hatte. Alle anderen Banden mochten mehr oder minder ziellos umherziehen. Sie aber folgten der Spur des Tiergeborenen selbst und aalten sich schier in dem, was er hinterließ … Die Frau strich sanft über die fieberheiße Wange ihrer Tochter. Das Mädchen war ganz am Anfang des Krieges geboren worden, auf Boden, den der Dreigestaltige selbst betreten hatte. Deshalb hatte die Frau ihr Kind stets als etwas ganz Besonderes erachtet, und ganz in diesem Sinne hatte sich das Mädchen auch entwickelt. Nie und nimmer hätte sie geglaubt, daß eine Krankheit dem Kind etwas anhaben könnte. Und doch war es geschehen. Einer der Kerle in der Gegend, der ihrem verdorbenen Zauber erlegen war, hatte
mehr als nur seine Lust in sie entlassen. Die Pest hatte er dem Mädchen gebracht! Die Frau lächelte dunkel, als sie daran dachte, wie er hernach selbst zu Tode gekommen war – nicht durch die Seuche, sondern durch die Hand einer zürnenden Mutter. Den Tod ihres einzigen Kindes indes vermochte sie damit nicht abzuwenden. Oh, sie hatte freilich auch noch anderes versucht, um die Pest aus dem Leib des Mädchens zu vertreiben. Sie hatte den Tiergeborenen selbst angerufen, dafür zu sorgen, und sie hatte allerlei Rituale vollführt; andere natürlich als die, welche sie dem leichtgläubigen Volk verschacherte – echte und in ihrer Durchführung so abstoßende, daß kein Mensch, selbst in größter Not nicht, sich darauf eingelassen hätte. Tierblut war dabei noch die harmloseste Ingredienz … Doch nichts hatte geholfen. Das Mädchen, Kathalena mit Namen, siechte weiter dahin, unaufhaltsam dem Tode zu. Eines aber wollte die Mutter noch versuchen. In dieser Nacht sollte es geschehen. Doch sie fürchtete jetzt, da sie der Tochter ins Gesicht sah, daß es zu spät sein könnte. Der Sensenmann schien schon neben ihr zu stehen, und ihr war, als könnte sie selbst den eisigen Hauch spüren, mit dem er zum Schlag gegen Kathalena ausholte … »Adelheid? Bist du da?« Dem ungeduldigen Tonfall der jugendlichen Stimme nach rief der Bursche nicht zum erstenmal nach der Frau. Doch sie war so in Gedanken versunken gewesen, daß sie ihn nicht gehört hatte. »Ja, ich bin hier«, antwortete sie. »Komm herein.« Die Plane am Heck des Karrenaufbaus wurde zurückgeschlagen. Erst jetzt fiel Adelheid auf, daß sich draußen schon die Dämmerung übers Land gesenkt hatte. Nur im Westen verriet noch ein Streifen fahler Helligkeit, daß der Tag sich verabschiedet hatte. Eine schlanke Gestalt kletterte in den Wagen. Selbst im Zwielicht konnte Adelheid sehen, wie sein Gesicht sich bei dem Geruch des nahen Todes verzog, der unterhalb der Plane lag, als hätte jemand
verwesende Tiere in Ecken und Winkeln versteckt. »Wie geht es ihr?« fragte der junge Bursche, der nur wenig älter war als Kathalena, mit der er hatte vermählt werden sollen. Daß sie sich allenthalben anderen Mannsbildern hingab, hatte ihn nicht gerührt. Mit seiner Moral war es nicht weiter her als mit der aller anderen ihrer Gruppe. Er wußte, weshalb sie es tat, und daß nicht Liebe oder auch nur etwas Verwandtes sie dazu verleitete, es mit Fremden zu treiben. Etwas wie Liebe, das gab es nur zwischen Kathalena und ihm – wahre Liebe indes würden sie wohl nie erfahren. Zu sehr standen sie längst im Bann der Kreatur, deren Spuren sie nachfolgten. »Wie soll es ihr gehen, Moritz?« erwiderte die Mutter, mehr ungehalten denn schmerzlich. »Sie ist dem Tode längst näher als dem Leben. Vielleicht schon zu nahe.« Moritz kam näher, strich sich Strähnen seines blonden Haares aus der Stirn und sah auf Kathalena herab. »Wir sollten nicht länger warten mit dem, was wir vorhaben«, meinte er dann sorgenvoll. »Denn ich fürchte, sie lebt nicht mehr bis zur mittleren Nacht.« Adelheid nickte lahm. »Du hast vielleicht recht. Aber lassen wir erst den Tag noch ganz verschwinden vom Himmel. Wenigstens die Dunkelheit soll uns zur Seite sein.« »Ja«, sagte Moritz. »Möge sie genügen, unsere Worte und unser Tun zu stärken.« Adelheid wies mit einem Blick hinaus. »Ist draußen alles bereitet?« »Alles wurde so hergerichtet, wie du es vorgegeben hast. Aber sag, was ist das für ein Ritual, das du da vollziehen willst?« Adelheid wandte ihm das Gesicht zu und maß sein täuschend unschuldiges Knabengesicht mit müdem Blick. »Eines, wie es noch nie vollzogen wurde. Ich habe es selbst ersonnen, die zugehörigen Worte alten Überlieferungen entnommen und neu gefügt, auf daß sie einzig dem Zwecke dienen mögen, der in un-
serem Sinn steht.« Sie sah wieder auf Kathalena hinab. »Pest und Tod sollen sie austreiben.« Auch Moritzens Blick senkte sich wieder auf das darbende Mädchen nieder. »Möge es gelingen«, flüsterte er. »Bete zu unserem Herrn, daß es gelingt«, sagte Adelheid mit düsterer Stimme.
* Niemand kann mich von meinem Tod überzeugen. Stanislaw Jerzy Lec Es war eisig kalt, und es gab keine Horizonte. Zumindest keine sichtbaren. Landru kauerte nackt am Boden und ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Die Kälte und das, was sonst noch fühlbar da war, umschloß seinen Körper wie ein Panzer – nein, wie die Verhöhnung einer Rüstung, denn diese morbide Kruste schützte vor rein gar nichts, im Gegenteil! In der Hocke umwaberte ihn der Nebel bis zum Hals. Der Boden war nicht erkennbar, nur zu ertasten. Die dichten Schleier aus Schwärze türmten sich in der Ferne zu einem Wall, der sich mit den Wolken vermählte; Wolken, die keinen Regen führten, sondern wie die Stilübungen eines vom eigenen Wahnsinn inspirierten Malers aussahen … Landru hatte das Gefühl, auf einem Eiland zu stehen, das von einem wogenden Ozean umgeben war, in dessen unauslotbaren Tiefen das Grauen in unbekannter Gestalt schwamm. Vielleicht sogar zu ihm herüberstarrte, ihn belauerte und taxierte! Zeigte es sich ihm nicht, weil es so schwach …
… oder so klug war? Nicht weit von Landru lag das diesseitige Tor. Es sah so wirklich, so echt aus, wie er es »drüben«, auf der anderen Seite, nie empfunden hatte – vielleicht, weil er sich dort zu wenige Gedanken über seine Beschaffenheit gemacht hatte. Das größte Mysterium bestand jedoch zweifellos darin, daß es verschlossen schien, obwohl Landrus Empfindungen genau das Gegenteil geschworen hätten. Er richtete sich auf, ohne daran gehindert zu werden. Von wem auch? Er war allein. Über ihm spannte sich etwas, das kein Himmel sein konnte (so wenig wie die Wolken Wolken waren), und unter seinen Füßen federte ein Boden, der weder Erde noch Stein war … (Aber was dann?) Das Tor! Konzentriere dich auf das Tor! Wie ein Monolith, das Gewicht kaum geringer als das eines Mondes, ragte es vor ihm auf. Finster und von einer Präsenz, daß die Realität der übrigen Umgebung davon regelrecht abgesaugt wurde. Landru hatte keinerlei Vorstellung, wo er gelandet war. Die Rachsucht hatte ihn dazu getrieben, sich an Gabriels Fersen zu heften. Der Fährte jenes Kindes zu folgen, von dem eine unermeßliche Gefahr ausging und von dem immer noch nicht ausgeschlossen werden konnte, daß es der ersehnte Messias der Vampire war! Dieser gefährliche Junge hatte in den Tiefen des Klosters an etwas gerührt, was er womöglich selbst nicht hatte einschätzen können und das auch Landru erst als Tor begriffen hatte, als ihn die zerrende Kraft bereits unwiderstehlich in ihren Fängen gehalten und davongetragen hatte. Hinter das Tor! Hierher … wo immer das liegen mochte. Landru kannte sich in den dunklen Künsten aus, und im ersten Moment war es naheliegend gewesen, daran zu glauben, in eine magische Falle getappt zu sein. Inzwischen sah er es jedoch anders, denn wenn er etwas vermißte, dann war es seine Magie!
Ein paar Herzschläge lang wurde er an seinen Aufenthalt in Gottes Reich, am Anfang der Zeit, erinnert. Dort war das Gefühl eigener Ohnmacht ähnlich zermürbend über ihn gekommen … Nein! Aufhören! Sofort! Das Tor! Geh und kümmere dich um das TOR …! Das Tor … Es wirkte wie aus einem äonenalten, erloschenen Stern gehauen. Die düsteren Nebel legten sich allmählich. Sie hingen bereits merklich tiefer, umschmeichelten nur noch die Knöchel. Landru blickte an sich herab. Nicht seine Blöße an sich störte ihn – nur das, was sie bedeutete: Wenn ein Vampir zur Fledermaus oder – wie es Landrus spezieller Vorliebe entsprach – zum Wolf transformierte, löste er seine Kleidung mittels der zauberischen Kräfte auf und beförderte sie, unsichtbar verpackt in finstere Magie, mit sich, um bei Bedarf jederzeit auf sie zurückgreifen zu können. Doch Landru hatte weder diesseits noch jenseits des Tores bewußt auf die Metamorphose zurückgegriffen. Warum war er dann trotzdem nackt? Und warum gelang es ihm nicht, seine verlorene Kleidung magisch neu zu erschaffen? So simpel die Antwort war, so sehr weigerte sich Landru zunächst, sie zu akzeptieren. Weil sie ihn zum Krüppel machte – ihm die mächtigste Waffe nahm! Man hatte ihm seine Magie gestohlen! Aber wer? Und warum? Wohin hat es mich verschlagen? Tief im Herzen fürchtete Landru die Antwort, und eigentlich wollte er nur eines: So schnell wie möglich wieder nach dort zurück, wo er sich auskannte! Eine Erschütterung ließ ihn zusammenfahren. Sie entstand unter der Nebelschicht und war nicht einzuordnen. Aber sie war haarsträubend, und das begleitende vage Geräusch klang nicht eine Se-
kunde harmlos. Abermals senkte der Nebel sich ein Stück tiefer. Hie und da schimmerte bereits ein Abglanz des Bodens durch … Landrus Blicke zuckten zurück wie Finger, die die Glut eines Feuers berührt hatten. Vor ihm ragte das Tor auf. Es besaß eine geschätzte Höhe von vier Metern, war knapp drei Meter breit und einen Meter dick … ja, man konnte die Dicke sehen, denn dieses Tor fügte sich nahtlos in die surreale Landschaft ein. Es war losgelöst von der Umgebung, die Landru »drüben« wahrgenommen hatte. Den Fels gab es hier nicht, und niemand hielt den Vampir davon ab, um dieses Tor herumzugehen – es argwöhnisch von allen Seiten zu betrachten! Welches war die richtige Seite, durch die er hindurchgehen mußte, um zurückzukehren? Vielleicht gibt es gar kein Zurück, dachte Landru nach einer Weile. Diese verdammte Falle kann ebensogut eine Einbahnstraße sein! Aber wer hatte sie gestellt? Gabriel? Wer war Gabriel? Wer bediente sich der Maske eines Kindes? Landru fror jetzt stärker. Die Kälte hatte sich langsam durch sein Fleisch gefressen und die Knochen erreicht. Nun sickerte sie in sein Mark. Er straffte sich und ballte die Hände zu Fäusten. Drei Schritte trennten ihn von dem mattglänzenden, in seiner Kompaktheit mehr als unheimlichen Gebilde, in dem nicht der geringste Spalt, nicht der haarfeinste Riß auszumachen war. Es gelang Landru, die Füße aus dem wabernden Gespinst wie aus sumpfigem Morast zu heben und das Steinfeld zu erreichen, auf dem das Tor, leicht erhöht und unangetastet vom Nebel, ruhte. Im Gegensatz zur Umgebung wirkten das Geröll wie auch das Tor beunruhigend echt. Das Tor, die Steine und er schienen die einzigen Objekte zu sein, die wirklich existierten … Aber noch während Landru sich bemühte, sich mit diesem Gedan-
ken anzufreunden, lähmte ihn der Aberwitz, der daraus sprach. Viel wahrscheinlicher war, daß er sich immer noch im Berg unter dem Kloster aufhielt, irgendwo, und irgend etwas seine sinnliche Wahrnehmung manipulierte! Wer spielte mit ihm? »Gabriel?« »Glbblwrg?« Der Boden warf ein dumpfes Echo zurück, und an der Stelle, von wo der Schall widerhallte, wich der Nebel, so daß Landru gewahr wurde, worauf er schon die ganze Zeit ging und stand …
* Es konnte eigentlich nur eine Halluzination, ein perverses Trugbild sein! Trotzdem hätte es erklärt, warum sich der Boden unter Landrus Sohlen derart schwammig anfühlte … Gebannt starrte der Vampir auf den Strang, unter dessen Transparenz etwas dahinfloß, etwas strömte, was allem Anschein nach Blut war – so wie dieser Strang eine Ader war. Eine von unzähligen, die das umliegende weißgraue, von zarter Haut umschlossene Gewebe mit dem versorgten, was es … benötigte? Lebte dieser »Boden«, auf den Landrus ganzes Gewicht drückte? Der Kelchhüter erzitterte, und zum erstenmal kam ihm überhaupt in den Sinn, sich zu fragen, ob er in den Gewölben des Monte Cargano nicht auch gestorben sein könnte. Lag dieser Ort, dieser Alptraum einer Landschaft nicht nur jenseits eines Klostertors, sondern schon im Jenseits? War dies der Hort, in den die Seelen Verstorbener wechselten? Wieder bebte es unter Landrus Füßen, und nun ahnte er, daß er den Pulsschlag eines verborgenen Herzens spürte, das Nährstoffe durch fremde Arterien trieb, um die fremde Intelligenz darin gedeihen zu lassen …
Bin ich zur Mikrobe geschrumpft, dachte er benommen. Oder ist dieses »Gehirn« einfach nur gewaltig wie ein ganzer Kontinent? Plötzlich entstand ein Geräusch, das nichts mit den vorausgegangenen Beben, nichts mit dem vermeintlichen Pulsschlag zu tun hatte. Es kam aus der Ferne. Und es rückte näher! Landru duckte sich. Er fühlte die darin enthaltene Drohung. Und er fühlte seine davon wachgerufene Angst … Mit einem Satz beförderte er sich auf den schmalen Geröllstreifen, der das Tor umgab und hämmerte mit beiden Fäusten gegen die monolithische Barriere. Auch die so realen Steine, auf denen er stand, versprachen keinen Schutz, boten keinen Trost und verliehen keine neuen Kräfte. Der Lärm rückte näher. Manchmal erinnerte er an Stimmen: wild, aggressiv und völlig unverständlich. Einen Moment später klang es dann wieder, als bildete der Boden Klüfte oder als zerreiße Metall … Landrus Fingernägel schabten ein letztes Mal über die kalte Oberfläche des Klotzes, durch den es einen Fluchtweg geben mußte, auch wenn er für den Kelchhüter nicht erkennbar war. Was ist aus mir geworden? Er gab sich die Antwort selbst: Etwas Erbärmliches. Die pure Ohnmacht … Als er sich wieder umdrehte, erhob sich die Schwärze hinter ihm wie ein Gebirge. Sie war überall, nicht mehr nur Nebel, sondern … Rauch! Rauch, den es aus unsichtbaren Schründen nach oben zog wie den Odem eines feuerspeienden Drachens! Es roch nach Schwefel und nach Fäulnis. Landru hatte viele Leichenkammern besucht, aber in keiner war er dem Ersticken so nahe gewesen wie hier! Er hustete und überlagerte damit selbst die Klänge, die aus der Schwärze immer noch zu ihm drangen. Wer schlich dort herum?
Als er es endlich erfuhr, als sich Gesicht und Körper des Geschöpfs aus dem Wogen schälten und zu erkennen gaben, schrie Landru auf, wie er noch nie in seinem Leben geschrien hatte. Er brüllte sich die Lunge aus dem Leib! Die Gestalt beeindruckte es nicht. Unaufhaltsam kam sie näher, gekleidet in ihre wiedergewonnenen Häute und bewaffnet mit der schrecklichsten aller Erinnerungen, die sich je in Landrus Gedächtnis eingegraben hatten: mit der Opferschlange! »Mutter?« Seine Gedanken zerstoben. Kein Zweifel, es war die Frau, die er getötet hatte.* Die Urmutter aller Vampire …!
* Vor dem Steinfeld blieb sie stehen. Sie war unglaublich schön. Eine Frau, schlank von Gestalt, deren Blöße einen Sturm der Gefühle in Landru entfachte. Dunkelheit umrahmte ihr Gesicht, glänzendes Dunkel, das sich mühelos von der wabernden Nebelschwärze der Umgebung unterschied. Wie zwei tiefe Seen inmitten einer weiß verschneiten Winterlandschaft schimmerten ihre Augen. Augen, die den Grund von Landrus Seele nicht nur berührten, sondern ihn in einem einzigen Moment erforschten und alles dort fanden, was er niemandem je hatte zugänglich machen wollen! Auch (und gerade) ihr nicht! Sie konnte nur ein Trugbild sein! Ebenso wie die Waffe, die sie ihm vorwurfsvoll entgegenhielt. »Ich wußte, daß wir uns noch einmal gegenüberstehen würden – am jüngsten aller Tage!« *siehe VAMPIRA H50: »Das Erwachen«
Unter ihrer Stimmgewalt erzitterte selbst der Nebel. Am jüngsten aller Tage … zum Jüngsten Gericht? Gab es auch für Vampire ein solches Tribunal? Für die Kinder von Adams erster Frau Lilith? Landru löste mühsam den Blick vom Antlitz der spukhaften Erscheinung und heftete in an die Opferschlange in ihrer Hand. Die gebogenen Zähne des Stabs waren noch mit Blut besudelt. Liliths Blut? Die Erinnerung spülte verdrängten Ekel in ihm hoch. Ekel, weil der mörderische Stab ihn damals gezwungen hatte, nicht der Mutter Blut zu verschmähen … Diesen Moment würde er nie vergessen! Den Moment, als sie vor ihm im Staub gelegen hatte und verblutet war. Er war Hals über Kopf vom Ort seiner Tat geflohen, aber vor sich selbst, vor den Gedanken und der Schuld, die seither in ihm wucherten, gab es kein Entkommen. Er hatte etwas Unverzeihliches getan! Die eigene Mutter … Landru duckte sich und spannte die Muskeln. Wie ein zum Sprung bereites Raubtier stand er da. In seinen Augen glomm ein Hilfeschrei. Ein Flehen und Betteln, diese Halluzination möge wieder verschwinden, möge sich dorthin verflüchtigen, woher sie gekommen war, und ihn nie wieder heimsuchen …! »Verschwinde!« fauchte er rauh. Es rührte sie nicht. Auf andere Weise als das Tor wirkte auch sie wirklicher als die übrige Umgebung. Aber Landru mochte sich gar nicht erst vorstellen, daß sie aus Fleisch und Blut beschaffen sein könnte. Daß sie nicht am Anfang der Zeit zurückgeblieben und im Schatten des Garten Edens gestorben war, sondern seine feige Attacke überlebt hatte … (Was, wenn sie ihm diese Falle gestellt hatte? Wenn sie ihm jenseits des Tors aufgelauert hatte? Aber hätte dann dieses Tor nicht ähnlich
wie der Korridor der Zeit beschaffen sein müssen? Und welche Rolle hätte dann Gabriel innegehabt …?) Landru trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er wollte es nicht wahrhaben, doch die quälende Möglichkeit, daß es genau so sein könnte, blieb. »Was willst du?« herrschte er Lilith an. »Wenn es dich tatsächlich gäbe … was hättest du dann vor?« »Wie hübsch formuliert.« Ihr Gesicht blieb unbewegt. Maskenhaft kühl. Unnahbar in seiner arroganten Überheblichkeit. (Wie damals, dachte Landru. Als ich sie strafte.) »Ich will und werde dir wehtun! Ich werde auch dein Blut schmecken und mich ekeln …!« Sie hob die Schlange. Geformt aus der dunklen Macht, dem Chaos, das sie der göttlichen Ordnung entgegengesetzt hatte. Landru war hin und her gerissen zwischen dem Glauben, sie nicht fürchten zu müssen, und der Sorge, sich dessen nicht absolut sicher sein zu können. Was, wenn sie doch real war? Oder seine Realität aufgehoben worden war, um von dieser Gaukelei ausgelöscht werden zu können? Wer hätte solche Allmacht besitzen sollen? Er, dachte Landru und suchte vergeblich in den wabernden Nebeln nach Ihm. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht nur von seiner Mutter Bild, wurde stärker. Als er einen Schritt nach hinten weichen wollte, fühlte er das kalte, unzugängliche Tor in seinem Rücken – als wäre es nähergerückt. Unsinn! Lilith setzte erst einen, und gleich danach auch den zweiten Fuß auf die Steine, die von der wogenden Schwärze unberührt blieben. Für Landru war dies ein Indiz, das sein ganzes zum Selbstschutz errichtetes Gedankengebäude wie ein Kartenhaus zum Einsturz brachte. Sie ist es wirklich! dachte er schockiert. Sie hat dieses apokalyptische
Szenario aufgeboten, nur um meiner habhaft zu werden! Nur um mich büßen zu lassen, daß ich meine Hand gegen sie erhob …! War auch Gabriel nur ihr Werkzeug, ihr williges Instrument? Wenn Landru die Ränke in Betracht zog, die sie jahrhundertelang gegen die eigenen Kinder geschmiedet hatte, hielt er es für denkbar. Mehr noch: Er kam kaum daran vorbei! Lilith … Es gab zwei Frauen dieses Namens, und beide schienen sie erkoren, ihm zum Schicksal zu werden! Aber dies hier war die Urlilith, die Macht, mit der alles begonnen hatte! »Was willst du?« keuchte er, als sie noch einen Schritt näherkam und mit haßflackernden Augen die Opferschlange über ihren Kopf erhob. »Was willst du wirklich von mir? Sag es! Vielleicht können wir?« Ihr Lachen bestätigte ihm, was er selbst vorhin gefühlt hatte: Wie bemitleidenswert schwach er geworden war. Wie hilflos ohne seine Magie … … die niemand anderer als sie ihm einst als Anlage in die Wiege gelegt hatte. Einem von zwanzig geheimen Kindern, die an Gott vorbeigelogen und in die Zukunft geboren worden waren vom Bösen … Ihr Mund öffnete sich. »Vergiß es!« Sie schürzte die Lippen. Lüstern und abweisend zugleich tastete ihr Blick über seine Blöße. Landru fühlte, wie in seinen Lenden erst Hitze, dann Kälte strömte. Wie sein Glied anschwoll und sich unter den inzestuösen Phantasien verhärtete … … um im nächsten Moment in demütigender Weise wieder zu erschlaffen. Sie war die Ursache. Sie wies ihn ab. Zeigte ihm, wie sie ihn durchschaute – und was sie von seinen verbotenen Wünschen, die seine Zunge nie in Worte gekleidet hätte, hielt!
»Du bist Teil meiner Brut, eins von Adams Bälgern, die ich nie austragen wollte. Es dauerte lange, bis ich begriff, warum ich mich von euch abwandte. Jetzt weiß ich es: Ihr habt mich immer an ihn erinnert. An den Mann, der euch mit mir zeugte – den Mann, den ich mir nie ausgesucht habe. Adam … Du bist wie er! Anum, Adad, Ea, Schamasch … sie alle waren wie er – keines meiner Kinder war wie ich! – Und jetzt …«, noch einmal brannte ihr glutheißer, weltraumkalter Atem Landru ins Gesicht, »… stirb!« Ohne sich zu rühren, ohne den entscheidenden, den rettenden Schritt nach links oder rechts machen zu können, stand Landru gegen den Monolithen gelehnt und sah die Zähne der Opferschlange auf sich niederfahren. Sie trafen seine Brust und bohrten sich tief in sein ungeschütztes Fleisch. Und weiter, in sein uraltes Herz! Er konnte es nicht verhindern. Er konnte nichts dagegen tun. Nur zusehen. Ihr Gesichtsausdruck offenbarte, was geschah. Sie trank bereits. Aus ihm! Die Zähne der Opferschlange saugten sein Herzblut ab und führten es seiner Mutter über feine Kanülen zu, die sich als metallisches Wurzelwerk aus dem Griff des Schlangenstabs in ihren Körper gegraben hatten! Die verzückte Fratze bannte Landru. Er wußte, wie es enden würde. Wenn sie genug getrunken hatte, würde sie ihn sterbend vor dem Tor liegen lassen, denn diese Wunden würden nie mehr heilen. Und schon gar nicht an einem Ort, wo Magie, wie er sie kannte, weder existierte noch funktionierte … Landru begann konvulsivisch zu zucken. Matt und schicksalergeben wollte er zu Boden sinken, aber nicht einmal das war ihm gestattet. Er zappelte an der Opferschlange wie an einem Fleischerhaken. Seine Mutter ließ den Stab nicht los. Ließ den Blick nicht von
ihm und der Qual, an der sie sich weidete. Wie rachsüchtig sie ist, dachte er. Zumindest darin waren sie einander nicht nur ähnlich, sondern gleich! Er bettelte nicht um Gnade, sondern ließ einfach alles geschehen. Denn er wußte, daß er es verdient hatte. Bis zum bitteren Ende …
* Als er zu sich kam, herrschte Stille vor dem Tor. Und eine entsetzliche Dunkelheit, die aber erst ein paar Schritte entfernt richtig zur Entfaltung kam. Dort, wo das Steinfeld endete, auf dem der Monolith stand – und auf dem Landru lag. Immer noch nackt, und nun auch noch tödlich verletzt …? Mühsam drehte er sich auf den Rücken. Der Schmerz war ein Phantom, das sich in dem Moment verabschiedete, als Landru begriff, daß seine Brust unverletzt war. Kein mächtiges Artefakt hatte unheilbare Wunden hineingeschlagen! Er hatte alles nur … »Geträumt?« höhnte eine Stimme, die einfach da war, direkt neben, hinter, über ihm! Ruckartig richtete er sich auf. Und sah sie. Ihr Gesicht, ihre charismatische, unverwechselbare Physiognomie, die sich aus der schwarzen Wand hinter dem Rand der Steine hervordrückte. Schwarz wie die Seele, die sich mit Schönheit und Liebreiz maskiert hatte, um jeden, der ihr begegnete, zu täuschen! Landru zuckte zurück. Wenn sie ihn vorhin gar nicht mißhandelt und getötet hatte, konnte sie dann überhaupt wirklich und aus Fleisch und Blut sein? … Es nützte nichts. Gleichgültig, ob real oder nur Alptraum, er litt
unter ihrer Nähe! Dieses Gesicht, diese Augen saugten die Kraft aus seinem Körper und verheerten seinen Verstand. Wenn er ihnen noch lange ausgesetzt war … Landru Finger schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Plötzlich hielten sie eine Handvoll Steine umklammert und schleuderten sie der bei aller Schönheit abscheulichen Fratze entgegen! Staunend verfolgte Landru, wie die Steine, kaum daß sie in die Wand aus Dunkelheit tauchten, einen kometenähnlichen, weißen Schweif hinter sich herzogen und dort, wo sie zu Boden gingen, in der Schwärze sichtbar blieben. Als helle Flecke inmitten einer sonst lichtlosen Wüste … Mit verkniffenem Mund starrte er zu der Stelle, wo die Steine seiner Mutter Gesicht berührt – und ausradiert hatten. Im Moment der Berührung war es erloschen, und dort, wo die Steine herabgefallen waren, funkelte es nun ähnlich wirklich wie hier bei dem Tor … Landru überlegte nicht lange. Der Mangel an Alternativen erleichterte ihm die Entscheidung. Er raffte soviel Steine zusammen, wie er in der Armbeuge tragen konnte, und tauchte mit seiner Last hinein in die künstliche Nacht – hinein in die nebelhafte Schwärze, die ihn wie totes, geronnenes Licht empfing. Wieder hörte er Stimmen. Nicht aus seiner Mutter Mund, sondern das böse Flüstern von Seelen, die er einst auf den Grund des Lilienkelchs gebannt hatte. Kinderseelen, die unter seiner Hand gestorben waren. Der Bodensatz des dunklen Grals, der auf ewig verloren war … Überall waren Augen und Zungen, die ihn anstarrten und ihn an seine Taten erinnerten – selbst nach Jahrhunderten. Selbst nach Jahrtausenden. Seine ersten Opfer hatte er im Zweistromland gefunden, zwischen Euphrat und Tigris. Im Licht einer Sonne, die selbst als Gott verehrt wurde. Wie die Vampire, die als falsche Götzen in Uruks Weißem
Tempel gelebt und geherrscht hatten … Aaaah! Im Lande Niemalswieder! Aaah …! Landru stolperte weiter. Irgendwo mußte es etwas anderes geben als diese wabernde Finsternis und die Schatten der Erinnerung! Von Zeit zu Zeit ließ er einen Stein fallen, und wenn er zurückblickte, konnte er zwar das Tor nicht mehr sehen, wohl aber eine Kette von Punkten, hellen, gleißenden Steinen, die sich weit in die Ferne zogen und mit deren Hilfe er den Weg zurück zu seinem Ausgangspunkt, zum Tor, wiederfinden würde. Falls dieser Vorstoß keine neuen Erkenntnisse über das wahre Wesen seiner Umgebung, über ihre Beschaffenheit brachte! Noch immer federte der Boden unter seinen Füßen, als bestünde er aus dem, was er kurz gesehen hatte. Landru versuchte es zu verdrängen, aber als er wieder einmal einen Stein fallen ließ, bückte er sich und untersuchte die Stelle, wo er lag. Die Korona des Steins löste die sonst allgegenwärtige Schwärze auf. Und zeigte wieder weißgraues Gewebe. Hirnmasse … Landru richtete sich auf und ging weiter. Als ihm noch sieben kieselgroße Steine verblieben waren und immer noch kein Ende der Schwärze in Sicht kam, änderte er seine Taktik spontan. Er nahm alle sieben Steine und legte einen Kreis aus. Einen Kreis von etwa zwei Metern Durchmesser, den er nicht betrat, sondern von außerhalb betrachtete. Er wußte nicht, was er erwartete. Er wußte nicht, ob überhaupt etwas geschehen würde. Aber dann passierte es. Nach einer Weile floh die Finsternis aus dem Kreis – wie Wasser,
das bei Ebbe von den Gezeitenkräften fortgezogen wurde. Vor Landru entstand eine helle »Lichtung«, die wiederum einen Ausschnitt von dem enthüllte, dessen Wirklichkeit den Steinen erfolgreich trotzte. Aber nicht der wie die Hemisphäre eines Gehirns beschaffene Boden schockierte Landru, sondern das, was aus dieser monströsen Masse hervorwuchs. Eine Blume. Eine schwarze Lilie, kaum kleiner als er selbst …!
* Landru hielt den Atem an, als ihn der verdorben-berauschende Duft der Lilie erreichte! Die Lockung war unwiderstehlich. Wie an einer Schnur gezogen, bewegte er sich auf den Blütenkelch zu. Auf Zehenspitzen konnte er über den Rand hinweg ins Innere schauen … … und sah anstatt des Stempels … … sie! Seine Mutter! Kniend, nackt, schamlos bot sie ihm ihre Brüste dar! Ihren sündigen Schoß! »Komm!« formten ihre Lippen, ohne daß ein Laut hörbar wurde. »Komm – und berühre mich!« Sie war die Königin im Lande Niemalsmehr! Dies war ihr Reich (ihr Gehirn?)! Landru bog die Blütenblätter beiseite. Eines riß auf und benetzte ihn mit einem klebrigen Saft, betörender als jedes Blut. Landru warf sich auf Lilith. Er hatte aufgehört zu denken, aufgehört, über Taten und ihre Folgen zu philosophieren. Hier und jetzt kauerte sie wieder vor ihm, und dieses Mal verließ
er sich nicht auf die Opferschlange, auf keine Waffe, nur auf seine Hände, die sich um ihren schlanken Hals schlossen und wie eine stählerne Schlinge zusammenzogen! Lächelnd blickte sie zu ihm auf, mit einem Ausdruck in den Augen, der Landru verhieß, daß sie ihn nicht noch einmal schonen würde – nicht noch einmal am Fuß des Tores zu sich kommen lassen wollte! Aus ihrem Hals schossen zuckende, tastende Stränge, die ihn in einem einzigen Moment gefunden und umschlungen hatten. Und durchbohrten wie tausend vergiftete Klingen! Gift, das augenblicklich zu wirken begann. Im letzten Moment, bevor sein Körper versteinerte und seine Seele ins Nirgendwo abdriftete, sah er seine Umgebung, wie sie war. Wirklich war! Nicht wirklich aus seiner subjektiven Sicht, und auch nicht verfälscht von den Farben und Formen seiner Alpträume und Ängste. Aber bevor er begriff, was er gesehen hatte, erlosch bereits der letzte Funke seines Bewußtsein und wurde von den Tentakeln, die sein Hirn mit dem dieses Ortes verband, gefressen … Es war aus! Das Herz in Landrus Brust hatte aufgehört zu schlagen.
* Italien, im Kloster Monte Cargano Halb blind vor Hast und Schrecken durchflog der Adler das Labyrinth in den Tiefen jenes Berges, auf dessen Höhen sich das Kloster der Illuminati-Bruderschaft erhob. Der Schock war noch allgegenwärtig in Hidden Moon. Der Schock über den Verlust jener Frau, die nicht nur seine Gefährtin, sondern auch sein Seelentier geworden war. Ihre Nähe, ihre Kraft hatte ihm
geholfen, dem schlimmsten Versucher, den es gab, zu widerstehen: dem Bösen. Einem Keim, den der Lilienkelch einst in ihm verankert hatte, damals, im Sommer des Jahres 1688 … Jetzt nahte der Sommer 1997, und in den vergangenen Jahrhunderten hatten sich die unsterblich gewordenen Arapaho mehr als einmal grundlegenden Wandlungen anpassen müssen. Den Veränderungen ihres Selbst. Und den Veränderungen ihres Lebensraums. Es war Fluch und Segen in einem, so lange leben zu dürfen wie Hidden Moon und die Besten seines Stammes … Ihn schauderte während des Flugs. Die Besten. Es war eine dämonische Auslese gewesen, mit der Landru seinerzeit den Stamm der Arapaho in zwei Lager gespalten hatte: in die Täuflinge und die ewig Ungetauften. Die Schwächsten der Schwachen hatte er damals eigenhändig umgebracht, als er von Zelt zu Zelt geschritten war, ohne einen Hauch von Mitleid.* Landru … Hidden Moon und Lilith – Adler und Fledermaus – waren der Fährte des ehemaligen Kelchhüters bis ins finstere Herz des Berges bis hin in die riesige Halle mit dem entfesselten Moloch gefolgt. Dem Moloch, den Hidden Moon nur mit allergrößtem Sträuben als Tor bezeichnet hätte. Der Arapaho-Vampir stieß im Flug einen grellen Schrei aus. Denn er wußte, daß mehr hinter diesem Schlund steckte, hinter dem gefräßigen Maul, in das es Lilith wie ein welkes Blatt gewirbelt hatte! Er hatte es fühlen können. Denn jener schreckliche Orkan, jener Sog, der Hidden Moon nur deshalb verschmäht hatte, weil sich ein monströses Geschöpf auf dieser Seite eingemischt hatte, konnte nicht einfach nur aus einem weiteren Gewölbe, einer weiteren Kammer in felsiger Tiefe gekommen sein. Zu unbarmherzig fremd und kalt und *siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
mächtig hatte er sich angefühlt. Und seit Hidden Moon von seinem Hauch getroffen worden war, schien etwas von dieser Fremde, Kälte und Macht in ihm zu stecken und ihm zu folgen. Egal, wohin er sich auch wenden würde, es würde bei ihm, in ihm, mit ihm sein … Gewaltig peitschten die Flügel des Adlers die klamme, modrige Luft im Gewirr der Gänge. Ein Irrgarten, der endlos schien. Ein System voller Fallen, magische und mechanische, denen Hidden Moon schon auf dem Weg ins Herz des Labyrinths wie durch ein Wunder hatte ausweichen können. Aber nun trug er in sich, worauf die Sicherungen ansprachen. Vermutlich entging er dem sicheren Tod nur durch seine Gestalt und die Geschwindigkeit. Mehr als einmal spürte er, wie an der Stelle des Korridors, die er gerade passierte, eine der Fallen ausgelöst wurde – und zuschnappte, als er bereits Meter davon entfernt war. Nur der Widerhall der magischen Schläge, die ihn zerschmettert hätten, wäre er auch nur um einen Flügelschlag langsamer gewesen, durchtobte seinen Tierkörper und fügte ihm Verletzungen – keine physischen, sondern geistige – zu. Von Schmerzen durchtobt und angeschlagen torkelte Hidden Moon durch den Verlauf des Stollens, näherte sich Treppen und fühlte schon das nächste Verhängnis, das auch ihn erspürte – – – Ungebremst und wie von Sinnen trieb er seinen Körper weiter. Er strauchelte mehr als einmal, wurde ständig attackiert, aber irgendwie ging er aus jedem Angriff hervor, ohne daß die Mechanismen, die besondere Menschen seit uralter Zeit hier installiert und gepflegt hatten, ihn wirklich aufhalten, stoppen und vernichten konnten! Hidden Moons Verstand setzte aus und erwachte erst wieder, als er unter sich bereits die Mauern des Klosters sah. Er entfernte sich davon in einem lädierten, aber unbesiegten Körper, und noch während er mit dem Wind davontrieb, während Monte Cargano mit seinen wildzerklüfteten Hängen von ihm wegrückte, wurde ihm klar,
daß er das, was ihm gelungen war, aus ureigener Kraft niemals hätte schaffen können. Etwas hatte ihm geholfen, den Fallen zu entkommen – obwohl es zugleich den Anschein hatte, als hätten diese Sicherungen genau auf dieses Etwas erst angesprochen. Hidden Moon wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Er wollte nur … Jaaaa! Widme dich deiner Gier! Öffne dich deinen Begehren …! Einen Moment stockte der Flügelschlag, der seit Erreichen der Freiheit wieder an Sicherheit gewonnen hatte. Aber dann peitschten die Schwingen den gefiederten Körper wieder um so entschlossener auf jenen fernen Punkt zu, den ein Menschenauge noch nicht als Dorf erkannt hätte, das Auge dieses Jägers aber sehr wohl …
* Im Kloster Monte Cargano Der Große Plan war erfüllt. Aber es war noch nicht vorüber. Weil der Große Plan nur Anweisungen, Rituale und Worte der Macht beinhaltet hatte für den Fall, daß das Tor tief im Bergmassiv unterhalb des Klosters geöffnet würde. Was zu geschehen hatte, wenn nach dem neuerlichen Schließen und Versiegeln des Portals die Gefahren nicht vollends ausgemerzt waren, darüber verriet der Große Plan nichts. Und so handelte Salvat, seines Zeichens Großmeister des geheimen Ordens, der in Monte Cargano residierte, nach eigenem Ermessen. Stille füllte die Gänge und Stollen, die den Fels als endloses Labyrinth durchzogen, wie etwas Greifbares aus. Salvat glaubte bei jedem Schritt, dagegen angehen zu müssen.
Der Eindruck mochte aber auch daher rühren, daß diese Ruhe in totalem Kontrast stand zu dem, was eben erst beinahe geschehen wäre – wenn er, Salvat, es nicht verhindert hätte. Im Grunde nichts Geringeres als das Ende der Welt. Oder wenigstens ihren Niedergang. Salvat wußte, in welcher Art die Menschen und ihre Welt sich verändert hätten, wenn die Mächte jenseits des Tores ins Diesseits entwichen wären. Die Saat des Übels wäre aufgegangen, und was ihr entwachsen wäre, hätte den Globus umrankt und verdorben mit seinem schleichenden Gift. Wie es in ferner Vergangenheit schon mehr als einmal beinahe geschehen wäre. Dieses Mal hatte die Personifizierung der Unschuld schlechthin den Weg für das Verderben bereiten sollen. Ein Kind mit engelsgleichen Zügen hatte das Tor öffnen sollen. Ein Knabe, den Salvat nun bei der Hand führte. Gehorsam, fast schon teilnahmslos folgte ihm der Junge. Nun, da er das Tor kraft seiner Macht kurz geöffnet hatte, schien diese Macht ihn verlassen zu haben – oder zumindest versiegt zu sein. Der Großmeister mutmaßte, daß die Konditionierung des Kindes nicht weiter reichte als bis zu dem Punkt, da sich das Portal aufgetan hatte. Sicher konnte er sich dessen jedoch nicht sein. Womöglich schlummerte die Kraft in dem etwa zwölf oder dreizehn Jahre alten Jungen nur. Und vielleicht würde sie bald schon von neuem geweckt werden. Salvat seufzte wie unter schwerer Bürde. Er würde sich dem Knaben noch in ganz besonderer Weise widmen müssen, um den Geheimnissen, die sich mit seiner Unschuld tarnen mochten, auf den Grund zu gehen. Zuvor jedoch mußte er die Ordnung im Kloster wiederherstellen, dafür Sorge tragen, daß Ruhe einkehrte in die Bruderschaft. Er hatte den Ordensmännern, nahezu samt und sonders Kämpfer von außer-
gewöhnlichem Talent, befohlen, ihm nicht hinab zum Tor zu folgen. Etwas wie ein Instinkt hatte ihm verraten, daß er der Aufgabe, das Tor zu hüten, dieses Mal allein nachkommen mußte. So war er ohne jede Begleitung in die Innere Halle hinuntergegangen – und hatte niemandem sein ganz eigenes Geheimnis, das seine Herkunft und sein Wesen umgab, offenbaren müssen. Es noch zu früh dafür. Ein anderes Mal – womöglich beim nächsten Mal – mochte die Zeit dafür gekommen sein … Salvat führte den Jungen durch geheime Gänge, die selten eines Menschen Fuß betreten hatte, fort von der Inneren Halle, vorüber an dunklen Schlünden und uralten Türen immer tiefer in das felsige Gedärm des Berges hinein. Bis sie vor jener Kammer anlangten, in der Salvat vor kurzem erst die Zwölf aus lebenslangem Schlaf geweckt hatte, auf daß sie sich dem entgegenstellten, was von jenseits des Tores kam, und es auffingen. Sie hatten es getan und den Preis gezahlt für ihr bis dahin friedvolles Dasein. Der Preis war der Tod gewesen, und die Zwölf selbst hatten im Tod das Tor von neuem versiegelt. Der Großmeister öffnete die niedrige Bohlentür. Als er sie vorhin erst geschlossen hatte, hatte er noch geglaubt, sie nie mehr öffnen zu müssen. Doch selbst einem von seiner Art waren Irrtümer nicht fremd … Die Kammer hinter der Tür lag in vagem Dunkel. Nur das von draußen einfallende Licht der Fackeln schuf diffuse Helligkeit, die sich schon wenige Schritte jenseits der Schwelle verlor. Sie genügte gerade, um ein paar der steinernen Liegestätten erkennen zu lassen, die sich im Kreis um eine andere reihten. Zu jener in der Mitte führte Salvat das Kind und hob es darauf. Sanft legte er ihm die Hand auf die schmale Brust und drückte es zurück, so daß es längs auf dem Steinpodest lag. Dann senkte er seinen Blick in den des Knaben, füllte die Leere darin mit seinem Willen. Und schließlich schloß er die Lider des Kindes mit seinen Fingern, wie man es bei Toten tat.
Als Salvat das schlafende Kind zurückließ und aus der Kammer trat, ertappte er sich bei dem sündigen Wunsch, der Junge möge tot sein. Die Welt – und nicht zuletzt er selbst – wäre um ein Problem ärmer gewesen …
* Das Dorf, das Haus, das Zimmer! Der Adler rauschte mitten hinein in das stille Gebet einer knienden Frau! Glas zersplitterte unter der brachialen Wucht, mit der er gegen die Scheibe des Fensters prallte, sie nicht nur eindrückte, sondern regelrecht nach innen explodieren ließ. Der Scherbenregen traf die Frau vor ihrem Hausaltar. Sie fuhr zusammen und richtete sich händeringend auf. Die Frau war nicht schön, aber jung, und sie in ihren angstgeweiteten, vor Entsetzen starren Augen waberte bereits das Wissen, daß sie sterben würde – so sonderbar und unerwartet der Tod auch in ihr Heim eingebrochen sein mochte! Sie öffnete den Mund und wollte schreien, aber mehr als ein kurzes Japsen, Fuchteln und Treten ließ Hidden Moon nicht zu. Er entledigte sich seiner lädierten Schwingen und wuchs vor seinem Opfer als der auf, der er im Purpurglanz des Lilienkelchs geworden war: ein unersättlicher, in diesem ihm geschenkten zweiten Leben nie mehr zur Ruhe findender Vampir! »Nein, bitte … nicht …!« bettelte die Frau in der schlichten Tracht. Hidden Moon riß mit einem einzigen Biß eine Wunde in den Hals der Frau und genoß die sprudelnde Labsal, die aus ihrer Schlagader pulste. Dabei schien er sich selbst dabei zuzusehen, als stünde er neben einem Ungeheuer mit zufällig gleichen Zügen. Aber was hier geschah, war kein Zufall. Es war die logische Folge
dessen, was im Herz von Monte Cargano geschehen war. Mit Lilith und mit ihm. Die Folge des Verlusts und dessen, was er wider Willen für Liliths Nähe eingetauscht hatte. Es war etwas so unbändig Hungriges und Gnadenloses, daß ihm schwindelte, während er seinen neuen und doch so alten Gelüsten frönte, die er nie wirklich besiegt, sondern immer nur klein gehalten hatte – bis von jenseits des Molochs die Finsternis, in ihn gefahren war. Hidden Moon steigerte sich in einen wahren Rausch. Und als die Tür aufsprang und offenbar wurde, daß die Frau in seinen Fängen nicht die einzige Bewohnerin dieses Hauses war, freute er sich wie ein kleiner böser Junge …
* Den Leib können sie töten; die Seele nicht. Letzte Worte Ulrich Zwinglis, als er 1531 fiel Lilith Eden hätte in ihrem Leben schon unzählige Gründe gehabt, sich den Tod zu wünschen. Nie hatte sie es getan; nicht wirklich und in völligem Ernst zumindest … Heute jedoch – jetzt! – tat sie es! Aus ganzem Herzen wollte sie sterben, auf der Stelle! Damit dieses elende Leiden ein Ende fand – und sie nicht erleben mußte, wohin es sie führte. Denn Lilith wußte mit quälender Gewißheit: Das Grauen, in dem sie gefangen war, würde unausweichlich in noch ärgeres münden. Sie konnte es bereits spüren und glaubte, schon jetzt daran zu zerbrechen, obwohl es erst ein bloßer Vorgeschmack war, kaum mehr als eine Ahnung. Lilith trieb in etwas wie einem schwarzen Ozean, den ein Sturm
peitschte, wie er über keinem der Weltmeere je wirklich getobt hatte. Denn das Wüten dieses Orkans war von einer Gewalt, zu der die Natur nie und nimmer imstande sein konnte. Die Macht des Sturmes war nicht von dieser Welt … … nicht von dieser Welt! Lilith öffnete die Lippen wie zu einem verächtlichen Laut ob des lächerlichen Gedankens. Augenblicklich flutete Schwärze in ihren Mund, zäh und erstickend. Die Halbvampirin würgte reflexartig, wollte nach Atem ringen, doch es war längst nichts mehr Atembares um sie her. Nur Schwärze, wie dicker Brei. Lilith wußte, daß dieser Vergleich, den sie im Chaos ihrer Gedanken zog, nicht gänzlich zutraf. Weil sie ebenso wußte, daß es einen treffenderen gegeben hätte. Einen, den sie sich zu ziehen verbieten wollte. Und doch hatte sie es längst getan. Die kochende Finsternis, in der sie mitgerissen wurde, seit sie über die Schwelle jenes Tores unter dem Kloster gezerrt worden war, erinnerte an nichts anderes als an Blut. Schwarzes Blut, wie es durch vampirische Adern kroch. Aus denen Lilith es ein ums andere Mal getrunken hatte, widerlich gierig und zutiefst angewidert zugleich. Weil es ihr Elixier geworden war und den Durst nach rotem, menschlichem Blut ersetzt hatte – und weil Gott sie dazu verdammt hatte, sich davon zu nähren. Doch vielleicht würde Lilith diesem unseligen Zwiespalt nie mehr ausgeliefert sein … Wenn doch nur ihr Wunsch nach Tod in Erfüllung ginge! Er schien ihr schon nahe. Und wenn er es war, dann roch und schmeckte er süß und faulig in einem. Aber beides mochte ebensogut von diesem reißenden Strom aus dunklem Blut herrühren, in dem Lilith hilflos und ohne Halt trieb. Sie hätte ums Haar bitter aufgelacht, doch sie wollte die Schwärze sich nicht von neuem in ihren Rachen ergießen lassen.
Oder …? Es wäre so einfach gewesen … So leicht, das Sterben zu beginnen … Lilith tat es nicht, weil sie fürchtete, tausendfach Schlimmeres als der Tod könnte über sie kommen, wenn sie zuließ, daß die Schwärze sie ertränkte. Dennoch konnte sie ihr nicht gelachtes Lachen hören, als dumpfen Laut inmitten des Tosens ihres eigenen Blutes und im Wirbeln ihrer Gedanken. Es lag grausame Ironie in der Tatsache, daß schwarzes Blut ihr mit einemmal zum Verhängnis werden sollte, nachdem sie in der jüngsten Vergangenheit keine Anstrengung hatte scheuen dürfen, um daran zu gelangen – und wenn es auch nur ein einziger, aber doch von unendlich schmerzendem Durst erlösender Schluck gewesen war. Und nun badete sie darin, wollte eine fremde Macht sie regelrecht in dem verdammten Elixier ersäufen wie eine räudige Katze! Lilith wußte nicht, wie lange sie den finsteren Gewalten schon ausgeliefert war. Nur die stetig wachsende Atemnot bewies ihr, daß Zeit nicht völlig bedeutungslos geworden sein konnte. Rote Schlieren, wie blutige Wunden ins Dunkel geschlagen, zogen an ihr vorüber. Sie war nicht sicher, ob sie Realität oder nur Folgen des Sauerstoffmangels waren, der auch einer Halbvampirin zu schaffen machte. Indes – es zählte nicht. Nicht in dem Maße jedenfalls, in dem es wichtig gewesen wäre, hätte Lilith noch an ihrem Leben gehangen … Schon seitdem sie in diesen lichtlosen Mahlstrom geraten war, glaubte Lilith zu spüren, daß etwas in der Gegenrichtung an ihr vorüberwehte. Etwas wie ein jenseitiger Atem, einem Maul entweichend, das von schier unvorstellbarer Größe sein mußte. Aber es war spürbar mehr als nur der Atem eines Wesens, gleich, von welcher Art es auch sein mochte. Dinge wehten darin mit. Weder körperlich noch von sonst einer
Substanz, sondern gestaltlos, aber doch – lebend … Oder zumindest von etwas erfüllt, das ihnen wie Leben sein mochte … Und sie zogen nicht stumm an ihr vorüber, obgleich sie weder Stimme noch Mund haben konnten. Ihr Kommen und Dahinschwinden ging einher mit einem unablässig an- und abschwellenden Chor mißtönenden Heulens und Kreischens … So, ging Lilith ein absurder Gedanke durch den trüb gewordenen Sinn, mußten Verdammte schreien, die meinten, damit ihrem ewigen Joch entfliehen zu können … Wieder und wieder spürte die Halbvampirin ihre nicht physischen Berührungen; es war, als streiften Zusammenballungen eisiger Kälte nicht ihre Haut, sondern ihr Fleisch und ihre Knochen selbst. Und jede dieser Berührungen biß sich ihr ins Fleisch und umkrustete ihre Knochen wie mit dünnem, aber ungeheuer schmerzenden Frost! Obwohl jene Gegenströmung in der sturmkochenden Finsternis stetig und für sich gewaltig war, konnte sie den Sog darin weder ausgleichen noch übertreffen. Immer tiefer fühlte Lilith sich in die Schwärze hinabgezerrt, als lauerte am Grund dieses wütenden Ozeans ein greulicher Moloch, der alles in sich zu schlürfen trachtete – jeden Tropfen dieses schwarzen Blutes, und alles, was darin trieb. Und womöglich, durchfuhr es Lilith, war es ja auch so! Oder noch viel schlimmer … Um sich von dem verzweifelten Wunsch zu atmen – und wenn es nur die Schwärze war, mit der sie ihre längst brennenden Lungen füllte – und von dem wahnsinnweckenden Sturm um sie her abzulenken, dachte Lilith daran, wie es begonnen hatte. Es konnten, wenn Zeit im herkömmlichen Sinn noch galt, nur Minuten vergangen sein, doch ihr schien es, als läge der Anfang dieser grauenhaften »Reise« in einem anderen Leben, das ihr so fern und fremd vorkam, als wäre es nicht einmal ihr eigenes … Auf der Suche nach einem geheimnisvollen Mann, der ihr wieder-
holt in Visionen erschienen und wie ein Mönch oder Ordensbruder gekleidet war, war Lilith mit ihrem indianischen Gefährten Hidden Moon zu einem Bergkloster gelangt. Den Weg dorthin hatten sie auf rätselhafte Weise zurückgelegt, so daß sie nicht einmal zu sagen wußte, wo dieses Kloster genau lag. Sie waren eingedrungen und hatten erfahren müssen, daß Landru, der einstige Hüter des Lilienkelchs und Liliths Todfeind, vor ihnen dort angekommen war. Die Mönche fürchteten offenbar, daß der Vampir etwas Ungeheuerliches zu tun im Begriff war und wollten ihn daran hindern. Doch Hidden Moon und Lilith waren den Brüdern vorausgeeilt in ein Labyrinth, das sich unterhalb des Klosters in den Berg hinein erstreckte, und schließlich in einem gewaltigen Felsendom angelangt. Landru hatten sie dort nicht gefunden, dafür aber ein haushohes Tor, dessen mächtige Flügel weit offen standen und das in lichtlose Schwärze führte. Ein mörderischer Sog, dem Lilith sich nicht widersetzen konnte, hatte sie gepackt und durch das Tor gerissen. Ob Hidden Moon ihr gefolgt war, wußte sie nicht zu sagen. Ihr letzter Blick auf ihn hatte ihr jedoch gezeigt, daß er dem Sturm aus dem Tor widerstanden hatte …* Und nun war sie Gefangene einer fremden Macht, auf scheinbar endlosem Weg in unauslotbare Tiefen. Die Distanz zum Tor, dem Ausweg, mußte längst unermeßlich sein, so lange währte Liliths rasender »Flug« schon. Und so war sie fast entsetzt, als die Schwärze plötzlich wich. Als sie mit grausamer Wucht aufschlug und doch beinahe weich landete. Als sie den Blick hob und hinter staubigen Nebeln – – das Tor sah!
* *siehe VAMPIRA T17: »Der Hort der Wächter«
… und sie werden gequält werden Tag und Nacht, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Offenbarung, Kap 20, Vers 10 Finster, wie von einer lichtfressenden Aura umgeben, ragte das Tor vor Lilith empor. An seiner gewaltigen Größe änderte sich auch dann nichts, als sie sich erst auf Hände und Knie stützte und schließlich langsam, als hätte sie mit jeder Bewegung gegen zähen Widerstand anzukämpfen, aufstand. Das Portal schien bis in den Himmel hinaufzureichen, um mit dessen Lichtlosigkeit eins zu werden. Himmel …? Lilith sah sich um, nur die Augen, nicht aber den Kopf bewegend, als wollte sie das Tor, ihren Rückweg, nicht für einen einzigen Moment aus dem Blick lassen. Was sich da über ihr spannte, war kein Firmament, wie sie es kannte. Dort oben war nichts als brodelnde Schwärze, doch diese Schwärze erschöpfte sich nicht in der Abwesenheit von Licht; sie schien auf unbegreifliche Weise materiell, und doch war sie auch gänzlich anders, als bestünde sie aus dichtgeballten Wolken oder auch nur etwas ähnlichem. Lilith fror wie in eisiger Kälte, obwohl die Luft um sie her fast stickig war und heiß. Was immer die Finsternis dort oben war – sie war nicht für eines Menschen Blickes bestimmt, und der menschlichen Sprache mußten die Worte fehlen, sie zu beschreiben. Sie vermittelte Bedrohung. Und böse mochte vielleicht ein Wort sein, das ihre Präsenz ganz vage bezeichnen konnte. Schaudernd und von aufsteigender Übelkeit geplagt wandte Lilith alle Aufmerksamkeit wieder dem Tor zu. Es glich dem, durch das sie gezogen worden war – drüben, tief im Fels unterhalb jenes geheimnisvollen Klosters.
Bis auf zwei Dinge: Es war geschlossen. Und es stand frei, war nicht umschlossen von Fels! Lilith war sich nicht sicher, welche dieser beiden Tatsachen sie in stärkerem Maße beunruhigte. Daß die Flügel des Portals geschlossen waren und beinahe fugenlos aneinanderlagen, bedeutete, daß sie es öffnen mußte, wenn sie diesem Ort den Rücken kehren wollte. Und nichts wollte sie mehr! Doch der bloße Versuch, es zu tun, schien ihr von vorneherein fast aussichtslos. Jede einzelne der beiden Torhälften sah tonnenschwer aus und würde es mit Gewißheit auch sein. Das geschwärzte Holz schien ihren Blicken wie Stein. Selbst ihre Kräfte, die als Folge ihres vampirischen Erbgutes denen eines Menschen weit überlegen waren, konnten nicht genügen, es zu bewegen. Zudem scheiterte der Versuch allein daran, daß sie schlicht keine Möglichkeit hatte, das Tor zu öffnen! Es gab nichts in der Art von Riegeln oder Zugringen, die Lilith hätte fassen können, um daran zu ziehen. Und der Spalt zwischen den beiden Flügeln war kaum breiter als ein Haar; zu schmal in jedem Fall, um auch nur die Fingerspitzen dazwischen zu zwängen. Nun wandte Lilith schließlich doch den Blick und sah zu beiden Seiten des Tores hin. Rings um sie her erstreckte sich unter der dräuenden Schwärze eine helle Ebene, nicht weiß, sondern eher von einem schmutzigen Gelb, durch das sich hier und da alle möglichen Schattierungen von Grau zogen. Winde aus dem Nichts strichen darüber, wehten den Staub empor und breiteten ihn zu Nebeln aus, die sich nur zögernd wieder senkten. Zugleich brachten die Böen einen Geruch mit, der Lilith vage vertraut schien. Einzuordnen oder zu benennen vermochte sie ihn jedoch nicht. Dennoch weckte allein die vage Erinnerung Ekel in ihr. Irgendwo in der Ferne verschmolz die Ebene mit dem brodelnden
Schwarz, doch Lilith machte keinen Horizont aus. Vielmehr hatte es den Anschein, als würde die Ebene dort draußen von der Finsternis verzehrt … Als die Halbvampirin am Portal entlangschritt (zwanzig Schritte brauchte sie, um den Rand zu erreichen), wölkte unter ihren Füßen mehliger Staub auf, der sich wie graugelber Puder auf ihr Mimikrykleid und die nackte Haut legte, die der schwarze, »lebende« Stoff freiließ. Lilith fröstelte unter dem seltsam seidigen Gefühl. Sie wußte, daß auch dieses Empfinden von dem herrührte, woran der Staub sie erinnerte, obwohl die Erinnerung nach wie vor nicht konkret war. Als zöge sie es vor, unbestimmbar zu bleiben. Zu Liliths eigenem Wohl … Die staubige Wüstenei führte auch hinter (oder mußte es heißen: vor?) dem Tor weiter und reichte ins Nichts, bis sie von der Schwärze verschlungen wurde. Nichts war dort draußen zu sehen, das auch nur auf die Gegenwart von etwas Lebendem hingewiesen hätte. Lilith war darüber nicht so unglücklich, wie sie selbst befürchtet hatte. Denn immerhin bedeutete die Leere nicht nur Einsamkeit, sondern auch, daß ihr keine Gefahr drohte. Zumindest dem Augenschein nach … Erstaunt nahm sie die Tiefe des Tores zur Kenntnis. Sie mußte einen Meter betragen, und diese Feststellung deckte sich nicht mit ihrer Erinnerung. Obwohl sie das Tor bei ihrem Eintritt nur kurz gesehen hatte, weil ihre vor Furcht und Hilflosigkeit durcheinanderstürzenden Gedanken sie fast blind und taub gemacht hatten, war sie ziemlich sicher, daß die Flügel des Portals nicht von solcher Stärke gewesen waren. Was ging hier nur vor? Vor allem aber beschäftigte Lilith eine andere, drängendere Frage: Wie komme ich wieder von hier weg? Das Tor würde nicht der Weg sein, auf dem sie zurückkehren konnte, wenn sie keine Möglichkeit fand, es zu öffnen. Und selbst
wenn: Wo sollte es hinführen? Es stand in dieser staubigen Ebene wie das allerletzte Überbleibsel eines einstmals unvorstellbar riesigen Bauwerks. Und der Weg hindurch würde nirgendwo anders hinführen als schlicht von einer Seite des Portals zur anderen. Oder …? Lilith legte vorsichtig die Hand gegen das rissige Holz und drückte ohne große Kraft dagegen. Sie schalt sich selbst eine Närrin, als sie sich tatsächlich bei dem Gedanken ertappte, das Tor könnte sich unter der bloßen Berührung auftun. Die lächerliche Hoffnung verging, ehe sie ihr willentlich ein Ende setzen konnte. Denn es geschah – nichts, natürlich nicht. Oder doch …? Lilith preßte ihre Hand ein klein wenig fester gegen das Tor, vor dem sie sich ausnahm wie eine Zwergin. Das Holz schien zu erzittern, in Intervallen, wie unter Rammstößen, unhörbaren und unsichtbaren. Als rannte jemand – oder viele – aus dem Nichts dagegen an. Allerdings ohne die geringste Aussicht darauf, es zu durchbrechen. Lilith wußte – und es war, als zöge sie ihr Wissen aus der Berührung des Holzes –, daß es anderer Macht bedurfte, um das Portal zu öffnen. Einer Macht, die jener, die es erschaffen hatte, wenigstens ebenbürtig sein mußte. Und allein diese Möglichkeit schien Lilith angesichts dessen, was sie beim bloßen Berühren des Tores empfing, schlichtweg unmöglich … Doch es waren nicht nur Empfindungen und die Ahnung von Wissen, die Lilith auf geheimnisvolle Weise in sich strömen fühlte, sondern auch – Gedanken, wie lautlose Worte und doch so verständlich, als spräche jemand in ihr zu ihr … Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest … »Nein!« Lilith schrak zurück wie vor einer glühenden Herdplatte, und für einen winzigen Augenblick hatte sie tatsächlich den Eindruck, als
würde aus den haarfeinen Ritzen zwischen den gewaltigen Bohlen des Tors ein blutrotes Glosen sickern … Ein Blinzeln genügte, um den gewohnten Anblick wiederherzustellen. Trotzdem wagte Lilith nicht, es ein weiteres Mal anzufassen. Zumal sie abgelenkt wurde. Etwas anderes zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie spürte ein Vibrieren, ganz sacht nur, doch es griff auf ihren Körper über, stieg darin auf und ließ jede einzelne Zelle zittern. Zunächst war das Gefühl nicht einmal unangenehm, wie ein vitalisierendes Prickeln. Doch als es sie zur Gänze erfüllte, fühlte Lilith sich wie von fiebrigen Schauern erfaßt. Die Quelle des Vibrierens schien weder das Tor zu sein, noch schien sie sich hinter dem Holz zu verbergen. Es war der Boden unter Liliths Füßen, der bebte wie unter fernen Erdstößen. Um sie her stieg der mehlige Staub auf. Der widerwärtige Geruch nahm zu. Nebel schränkten den Blick ein, bis Lilith ganz und gar in Wolken gehüllt war. Die pudrige Substanz kroch ihr in die Atemwege, reizte sie zu heftigem Husten und Keuchen. Als sie ihren Hals halbwegs von dem Staub befreit und sich mühsam zu flachem Atmen gezwungen hatte, öffnete sie die Augen, wischte die Tränenschlieren fort – – und schrie auf! Keuchend nur, weil neuer Staub ihren Schrei fast erstickte. Denn der Boden schien vor ihr regelrecht zu explodieren. Staub schoß auf, als wäre dicht unter der Oberfläche tatsächlich eine Bombe gezündet worden! Lilith hielt den Blick gesenkt, um ihre Augen zu schützen. So lange, bis sie etwas spürte. Die Gegenwart von etwas – nicht Lebendem! Erschrocken sah sie auf. Und sah – – etwas, wie sie es noch nie gesehen hatte! Und nie mehr sehen wollte.
Das Ding war weder Fleisch, noch sonst etwas, von dem Lilith auch nur gehört hätte. Es bestand aus einer schwärenden und pestilenzhaft stinkenden Substanz, die hier in ihrer Farbe an rohes und dort an totes Fleisch erinnerte und doch etwas gänzlich anderes sein mußte. Nur die Gestalt der Kreatur hatte etwas entfernt Menschliches an sich. Doch sie war die eines auf furchtbare Weise Verkrüppelten, und nicht eines seiner Glieder saß an seinem von der Natur befohlenen Platz. Der Mund (das Maul!) war eine klaffendes Loch in der entstellten Fratze. Die Nase bestand nur aus zwei schrundigen Öffnungen, die in die wimmelnde Fäulnis des unförmigen Schädels hineinreichten. Die Augen waren – – vertraut … Lilith stöhnte auf unter dem bloßen Eindruck. Es konnte nicht sein. Weil es nicht sein durfte! Aber sie konnte nichts, gar nichts tun gegen das, was vor ihrem geistigen Auge geschah. Sie wollte es verhindern, wollte es nicht sehen, nicht sehen müssen, doch es ließ sich nicht aufhalten. Als hätte eine andere Macht alles Handeln an sich gerissen, formte sich in Lilith ein neues und doch altes Bild von dem grauenhaften Wesen, dem sie gegenüberstand. Obwohl es nur die Augen gewesen waren, die noch wie einst ausgesehen hatten, hatte ein Blick genügt, um etwas wie eine Initialzündung in Lilith auszulösen. Die monströse Gestalt schien ihre Unform zu verlieren, gewann eine andere, wurde – menschlich. Und schließlich Mensch. Ein Mensch, den Lilith kannte. Gekannt hatte … Daß seine Verwandlung nur von scheinbarer Art war, wurde Lilith bewußt, als das Wesen sich auf sie stürzte. Und in sie! Das Fremde drang in ihren Leib, mühelos, als hätte es jede Substanz verloren und wäre nicht mehr als ein – Geist …? Es geschah mit einer Gewalt, als wollte es sich diesen Körper erobern, um den
Verlust des eigenen wettzumachen. Als neue Heimstatt seiner verdammten Seele … Gefühle und Gedanken, die nicht die ihren waren, fluteten Liliths Innerstes. Sie schrie auf vor Schmerz und Entsetzen. »Nein! Bitte – NICHT!« Und in ihrem Schrei klang ein Name mit. »Duncan!«
* Tief im Fels unter dem Kloster Monte Cargano … … schlief ein Kind. Es schlief und träumte. Und in Schlaf und Traum fand es neue Kraft, denn alle bis dahin gewonnene war vergangen in einem einzigen großen Moment. Als der Knabe Gabriel sein Ziel erreicht hatte, angelangt war bei dem gewaltigen Tor, erfüllt von dem Wissen um sein Wesen und seine Bestimmung, hatte er Dinge in Bewegung gesetzt, die in der Folge ohne sein bewußtes Zutun abgelaufen waren. Der Junge selbst hatte nur die Kraft dazu herbeigebracht – und dann war sie aus ihm geflossen und hatte gewirkt. Gabriel hatte das Portal geöffnet, hinter dem eingesperrt war, was er hatte hinaustragen sollen in alle Welt. Doch das Tor war wieder geschlossen worden, bevor es wirklich vollbracht gewesen war. Nicht mehr als ein Hauch der jenseitigen Macht hatte den Knaben gestreift. Doch das Wenige genügte, um ihn am Leben zu halten. Und es war genug, daß eine dunkle Saat von neuem in ihm aufgehen konnte. Gabriel schlief und träumte. Von Dingen, die noch kommen sollten. Von großen Dingen. Von
Angst und Schrecken. Und der Knabe wußte, daß manche Träume in Erfüllung gingen. Wenn man nur fest daran glaubte.
* Die Hölle, das sind wir selbst Thomas S. Eliot Platzangst im eigenen Leib und Geist! Eine andere Beschreibung fand Lilith nicht für das Gefühl, das sie empfand, als das fremde Ding ihren Körper vereinnahmt hatte. Alles was ihr Sein ausmachte, wurde unter dem plötzlichen Ansturm verdrängt, doch nichts davon verließ die Hülle ihres Leibes. Sie kam sich vor wie in einen viel zu kleinen Raum gepfercht, und sie hatte Mühe, selbst die geringste ihrer Bewegungen zu koordinieren, weil sie nicht mehr die alleinige Herrschaft führte. Alles mußte sie mit dem fremden Ding teilen. Fremd …? Nein, es war ihr nicht fremd. Liliths Wahrnehmung hatte sie nicht getäuscht. Sie erfuhr es spätestens jetzt, da der andere in ihr war, seine Gedanken und Empfindungen zu ihren machte, so wie er an den ihren teilhatte. Und es war kein bloßes Ding. Es war ein Mensch. Zumindest war es einmal einer gewesen. Was noch übriggeblieben war von ihm, hatte sich in dieser Unform manifestiert – oder mochte vielmehr zu dieser unwürdigen Gestalt und zu diesem elenden Dasein verdammt worden sein! Was Lilith in sich spürte, war ohne jeden Zweifel – – Duncan Luther.
Oder die Essenz seines Wesens, seine – Seele vielleicht … Denn Duncan Luther war nicht mehr. Der junge Priesteranwärter aus Sydney hatte sein Leben verloren – letzten Endes, weil er Liliths Bekanntschaft gemacht hatte. Doch nach seinem Tod hatte sein grausames Schicksal erst richtig begonnen! Er war im Auftrag Landrus wiedererweckt worden von den Toten und als Marionette des Kelchhüters zu Lilith zurückgekehrt, auf daß er seinen Herrn über ihre Pläne und Ziele informierte. Als Lilith schließlich in der Not von seinem Blut getrunken und mit dem Biß ihren besonderen Keim in seine Ader gepflanzt hatte, war er Landrus Kontrolle entglitten. Er war nach Uruk gegangen und hatte dort mit Hilfe weiterer Untoter den Korridor durch die Zeit freigelegt. Am Anfang der Zeit hatte er schließlich geholfen, das Ritual zur Erweckung der Ur-Lilith vorzubereiten, damit Lilith Eden ihre Bestimmung erfüllen konnte – die Mutter aller Vampire mit dem Schöpfer zu versöhnen. Duncan Luther war mit allen anderen Dienern der Halbvampirin verbrannt, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten. Bislang hatte Lilith nicht umfassend von Duncans Werdegang gewußt. Nun aber, da er selbst in ihr war, hatte sie auf sein Wissen und seine Erfahrungen Zugriff, als wären es ihre eigenen. Doch dies war nicht mehr als ein Nebeneffekt der »Verschmelzung«. Und Lilith blieb auch kaum Gelegenheit, tiefer in dieses Wissen einzutauchen, um weitere Einzelheiten zu erfahren. Denn in allererster Linie teilte sie nicht Duncan Luthers bildliche Erinnerungen, sondern seinen Schmerz! Lilith empfand das Leiden des einstigen Freundes mit einer Macht, die sie nur noch schreien ließ. Die seelische Pein und alle Qualen, die Duncan mit Beginn seines Todes hatte erleiden müssen, schienen groß genug, um die eines ganzen Volkes zu sein. Und doch hatte ein einzelner Mensch sie erdulden müssen – so wie Lilith sie jetzt in einem einzigen, nicht enden wollenden Augenblick erfuhr!
Und irgendwo inmitten dieses mörderischen Orkans fremden Leids vernahm sie etwas wie ein Lachen – dunkel und hämisch. Sie wußte, wer es ausstieß und aus welchem Grund er es tat. Duncan Luther genoß es, Lilith heimzahlen zu können, was sie ihm angetan hatte. Sie hatte ihm dieses unmenschliche Schicksal aufgebürdet, und nun endlich konnte er es mit ihr teilen. Ganz am Rande ihres flammenden Bewußtseins brachte Lilith sogar Verständnis für Duncans Reaktion auf. Was die Qualen, die er ihr mit der Wucht herabstürzender Tonnengewichte auferlegte, freilich um keinen Deut minderte. Schließlich brach Lilith in die Knie und stürzte vornüber in den mehligen Staub, der sich auf ihre Lippen, ihre Zunge legte. Nie hatte sie etwas Schlimmeres erleiden müssen als dies. Lilith erfuhr, was aus Duncan geworden war, nachdem er am Anfang der Zeit verbrannt war. Wohin es seine Seele verschlagen hatte. Und was sie dort – hier! – durchlitt. Duncan Luther hatte Schuld auf sich geladen, hatte im Dienste eines Wesens gestanden, das nicht nach dem Bilde des Herrn war. Für eine verdorbene Seele wie die seine konnte es keine Erlösung geben, nicht vor dem Jüngsten Tag. Lilith erlebte wie am eigenen Leib, was es hieß, an einen Ort wie diesen gebannt zu sein. Es war mörderisch, und doch stand am Ende nicht der Tod als Ziel, denn es gab weder Ende noch Ziel. Nur Ewigkeit, angefüllt mit nie endendem Leiden … Obwohl sie längst wie von Sinnen war, kroch ein Gedanke aus den Trümmern ihres Ichs empor. Lilith schrie auf wie irr, als ihr seine Bedeutung bewußt wurde. Duncan Luther war nicht der einzige Mensch, dem sie den Tod gebracht hatte! Andere hatten sein Schicksal geteilt, auf die eine oder andere Weise. Was, wenn sie alle an diesen Ort hier verbannt worden waren? Wenn sie alle nur darauf warteten, daß Duncan von ihr abließ, damit sie ihren eigenen Rachedurst stillen konnten …?
Liliths Schrei brandete gegen die Schwärze, die das Firmament dieser Welt war. Denn auf einmal spürte sie die Präsenz all jener anderen ganz in der Nähe! Ihr Haß schlug Lilith entgegen und über ihr zusammen wie alles erstickende und niederschmetternde Sturmwogen. Sie spürte, daß sich etwas näherte. Noch zögernd, aber unaufhaltsam. Etwas wie eine stinkende Aura wehte der fremden Seele voran. Andere kamen hinzu. Das Warten war vorüber. Sie kamen. Lilith stöhnte unter der bloßen Ahnung dessen, was ihr bevorstand. Und dann fuhr die zweite Seelenkreatur in sie ein.
* Monte Cargano Salvat hinterließ nichts als Schweigen, als er von der steinernen Galerie trat. In der Felsenarena tief darunter hatte sich die Bruderschaft auf sein Geheiß versammelt, und er hatte ihnen erklärt, daß die Gefahr gebannt war. Er hatte es ihnen nicht allein mit Worten bedeutet, und so war Salvats Gang müde und sein Teint von ungesunder Färbung, als er sich abwandte und ging. Doch durfte er sich weder Schwäche noch Ruhe zur Regenerierung seiner Kräfte gönnen. Noch nicht. Denn noch standen wichtige Dinge an, deren Erledigung nicht aufzuschieben war … »Du siehst aus, als wärst du ein Bruder des Todes.« Die Stimme erreichte Salvat aus einer Nische im Fels, und er kannte sie seit so langer Zeit, daß er sie blind unter Tausenden erkannt hätte. »Mag sein, Adrien«, erwiderte er, »aber große Dinge verzehren nun einmal große Kraft. Und sie sind noch nicht alle ausgeräumt.«
Der Lehrmeister des Ordens, ein alter Mann von eher kleinem Wuchs und unscheinbarem Aussehen, trat zu ihm. »Du hast die Brüder belogen«, sagte er Salvat auf den Kopf zu. »Nein.« »Dann hast du ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt.« »Das macht einen Unterschied.« »Und nun belügst du dich selbst.« Adrien sagte es mit einem stillen Lächeln, das jedoch nicht über seine Sorge hinwegtäuschte. Sie füllte seinen Blick mit Schatten, und seine Stimme selbst klang schwer von Ernst. »Damit muß ich leben«, antwortete Salvat im Weitergehen. »Laß mich dir zur Seite stehen, Salvat«, hielt Adrien ihn auf. Der Großmeister verhielt ein weiteres Mal und drehte sich um. Sein Ton war beinahe beschwörend, als er zu Adrien sprach: »Dein Platz ist bei den Brüdern, alter Freund. Du sollst sie lehren, und eines Tages wirst du sie vielleicht führen müssen – wenn …« »… wenn es dich nicht mehr gibt?« vollendete der Alte. »Wenn ich für andere Aufgaben abberufen werde«, korrigierte Salvat, aber es klang, als würde er dasselbe nur mit anderen Worten ausdrücken. »Welcher Art sollen diese Aufgaben sein?« »Du wirst es erfahren, wenn es an der Zeit ist.« Adrien sah den Freund und Herrn eine Weile schweigend an. Sein Blick forschte in den steinernen Zügen Salvats, denen auch die Erschöpfung nichts von ihrer herben Wirkung nehmen konnte. Obwohl sie starr wie tatsächlich aus Stein gemeißelt aussahen, schien Adrien in ihnen zu lesen wie in einem Buch. »Du fürchtest, diese Zeit könnte nahe sein.« Es war keine Frage; Adrien stellte nur fest. »Ich fürchte mich nicht«, erwiderte Salvat hart und leidenschaftslos. Adrien nickte. »Ich weiß.« Und mit einem bitteren Lächeln fügte er
hinzu: »Denn auch du bist nicht frei von Fehlern.« Wortlos wandte Salvat sich um und entfernte sich in einer Art, die den Eindruck erweckte, als würde er vor etwas fliehen. Sein Weg führte ihn von neuem in die Tiefe des Felses hinab. Über zahllose Treppen und durch endlos scheinende Tunnel eilend, erreichte er schließlich die Innere Halle. Den Ort, an dem sich das befand, was in der Bruderschaft auch Das Heiligtum genannt wurde. Das Tor. Haushoch ragte es jenseits der Felssäulen auf, die die Decke des gewaltigen Domes stützten. Die beiden riesigen Flügel aus dunklem Holz waren geschlossen, durch Riegel, Schlösser und Siegel verschlossen. Wie Metall schimmernde Nieten schufen sinnverwirrende Symbole auf dem Portal, und ihre Macht sicherte es zusätzlich. Aber es war nicht das Tor, weswegen Salvat hierher gekommen war. Es berührte seine Gedanken nur insofern, als er daran dachte, daß er den Kreis der Wächter erneuern mußte, nachdem die zwölf Brüder unter der Macht des Kindes gestorben waren. Der eigentliche Grund seines Hierseins war jedoch der Gefangene, den er in flammende Ketten geschlagen zurückgelassen hatte. Zusammen mit einer Gefährtin war er ins Kloster eingedrungen. Sie waren einem weiteren Eindringling gefolgt, der unter den Brüder blutig gewütet hatte. Dieser Mörder und das Weib, das Salvat aus Visionen kannte, waren verschwunden gewesen, als er selbst hier unten angelangt war. Die Macht jenseits des Tores mußte sie gefressen haben. Zurückgeblieben war nur jener, der in die Gestalt eines Adlers zu schlüpfen vermochte – ein dem Anschein nach junger Bursche mit langem schwarzen Haar und indianischen Zügen. Salvat hatte ihn zwingen wollen, von hier zu verschwinden, doch der andere hatte sich geweigert. In der Hoffnung, daß er noch zur Besinnung kommen mochte, hatte Salvat ihn hier unten zurückgelassen, um sich seiner später erneut anzunehmen.
Doch nun, als er eben dies tun wollte, konnte er es nicht. Denn der Gefangene war verschwunden! Diese Tatsache allein hätte nie und nimmer das Entsetzen geweckt, das Salvat in sich aufsteigen spürte. Das Gefühl gründete vielmehr in dem, was er mit seinen feinen Sinnen wahrnahm. Eilends schützte er sich vor dem fremden Einfluß. Etwas war von jenseits des Tors herübergelangt! Das allermeiste dieser unheiligen Macht hatten die Zwölf zwar in sich aufgenommen, aber ein kleiner Rest war geblieben, als hätte er sich mit unsichtbaren Klauen im Fels verkrallt. Und nun war diese finsteren Macht fortgetragen worden, hinweg über die Mauern des Klosters – und hinaus in die Welt. Entflohen auf Adlerschwingen …
* Virgil Codd! Lilith »las« in der Seele, die wie ein Sturm in sie kam, und erkannte sie. Codd war der Polizeipräsident von Sydney gewesen – und eine Dienerkreatur der dortigen Vampirsippe. Unmittelbar nach Liliths Erwachen in ihrem Geburtshaus an der Paddington Street war Codd in die Ereignisse, die bis heute nicht geendet hatten, hineingezogen worden. Er war von seinem Dasein als Dienerkreatur erlöst worden, hatte wieder Mensch werden dürfen – aber nur, um Lilith zu dienen. Und dieses Privileg wiederum hatte er mit dem Leben bezahlt – um mit ewigem Sterben entlohnt zu werden, hier, in dieser Welt … Auch den Schmerz, den seine Existenz unter Liliths Fluch ihm beschert hatte, empfing die Halbvampirin, und auch er wurde zu ihrem eigenen. Es war, als hätte sie diese fremden Leben tatsächlich gelebt. Dabei war ihr eigenes schon Fluch genug, um einen Normalsterblichen daran zerbrechen zu lassen.
Lilith hatte längst nicht mehr die Kraft zu schreien. Sie wand sich nur noch im Staub dieser Welt, in der nichts gedieh außer Schrecken und Leid. Die Erinnerungen Duncan Luthers und Virgil Codds beanspruchten ihr Sehen für sich. Von ihrer wahren Umgebung empfing Lilith nurmehr Momentaufnahmen. Doch sie genügten, um ihr zu zeigen, welches Ausmaß an Leid ihr noch bevorstand. Überall um sie her brach der Boden auf, und finstere Krater spien immer weitere der grauenhaft entstellten Kreaturen aus – jede einzelne von ihnen einst die Seele eines Menschen, den sie gekannt hatte. Und sie alle hatten nur eines im Sinn: ihren Schmerz abzuladen auf Lilith Eden. Sie krochen unaufhaltsam näher. Geifernde, hechelnde, heulende Dinge, die sich mit verrenkten Gliedmaßen durch den Staub schleppten. Lilith erkannte jeden von ihnen. Fand an jedem der Wesen eine Auffälligkeit, die ihr verriet, um wen es sich handelte. Hora, der Führer der Sydney-Sippe. Feyn, der mit lebenden Tattoos gezeichnete Vampir. Guillaume, das einstige Oberhaupt der Blutsauger von New Orleans. Jeff Warner, der Police-Detective aus Sydney. Pater Greorgius, der eine koptische Mission in Kairo geleitet hatte. Marsha, die ihr Leben in Liliths Geburtshaus hatte zubringen müssen. Und selbst ihr leiblicher Vater war unter den Kreaturen! Der Anblick Sean Lancasters war der grausamste von allen. Denn auch er zeigte nichts anderes als Haß – auf seine eigene Tochter! Gläserne Perlen fielen in den Staub vor Liliths Gesicht, schlugen winzige Vertiefungen. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, daß es Tränen waren, die da zu Boden tropften, ohne zu versickern. Tränen, die brennend über ihre Wangen rollten und doch nicht das geringste Quentchen von all dem Schmerz aus ihr wuschen.
Erste Klauen, verkrüppelt und stinkend, streckten sich nach ihr aus, berührten sie. Lilith registrierte, wie die unförmigen Krallen in ihre Haut drangen und dann ihre Substanz verloren, damit sie tiefer und wirklich in sie fahren konnten. »Gott, warum haßt du mich so? Was habe ich getan?« brüllte Lilith hinauf in die Schwärze, selbst erstaunt darüber, daß sie es noch vermochte. Ein machtvolles Beben erschütterte das Staubmeer. Es durchlief den Staub, sammelte sich an einem Punkt. Und dann jagte eine Fontäne aus Staub empor, so hoch, daß sie bis in die Schwärze hinaufreichte. Grelle Funken knisterten dort, wurden zu haarfeinen Blitzen, die sich über dem Brodeln verästelten und schließlich erloschen. Über Lilith schloß sich auch die allerletzte Lücke mit dem stinkenden Leib einer Seelenkreatur. Daß dem eben entstandenen Krater ein weiteres Wesen entstieg, bekam sie nicht mehr mit. Ebenso wenig, daß es mit schier verzweifelter Anstrengung auf das Tor und damit auf sie selbst zulief. Denn Lilith Eden starb tausend Tode. Von denen nicht ein einziger ihr eigener war.
* Monte Cargano Salvat empfand die Berührung der Finger wie Samt auf Stirn und Schläfen. Sie weckte Gefühle und Verlangen in ihm, denen er nicht mehr nachgegeben hatte, seit er sich ein einziges Mal in Liebe mit einer Frau verbunden hatte. Eine Verbindung, die nicht ohne Folgen geblieben war. Ein Sohn war ihr entsprossen, den Salvat später nach Monte Cargano geholt hatte. Raphael Baldacci hatte nie erfahren, daß Salvat sein Vater war. Selbst gestorben war er ohne dieses Wis-
sen … Salvat erschauerte und hielt mit Mühe ein Stöhnen zurück. Vielleicht würde er den Verlust des Sohnes nie verwinden. Es schien ihm die Buße dafür zu sein, daß er selbst Raphael letztlich in den Tod geschickt hatte … »Was ist mit dir?« Der Großmeister schlug die Augen auf und sah in ein Gesicht, in dem dunkle, schwarz umrandete Augen alles beherrschend waren. Obwohl auch der Rest von fast überirdischem Reiz war. »Nichts, schon gut«, entgegnete Salvat knapp. Dann fragte er: »Hast du ihn gesehen?« Er hatte das Band zwischen ihnen kraft eines Gedankens gekappt. Die rothaarige Schöne nahm die gespreizte Hand von seiner Stirn und seinen Schläfen, als der Kontakt erlosch, und nickte. »Ich habe es in deiner Erinnerung gesehen. Und ich kann es kaum erwarten, diesen Burschen zu finden. Er sieht – phantastisch aus.« Ihre Stimme klang rauchig, ohne verrucht zu sein. Es schwang nur ein ganz sanft kratzender Unterton darin mit. Ihrem Lächeln wohnte etwas Raubtierhaftes inne, ohne daß es bedrohlich gewesen wäre. Salvat erwiderte es auf eine Art, die außerhalb dieser Mauern vielleicht als verwegen gegolten hätte. »Das ist nicht der Grund, weshalb du ihn suchen sollst.« »Und warum soll ich es tun?« Salvat hätte sich in seiner Antwort auf ein knappes »Weil ich es dir befehle!« beschränken können, doch es war nicht seine Art, die Gesandten solcherart abzufertigen und auf den Weg zu schicken. »Er ist der Bote einer Macht, deren Saat nicht aufgehen darf in dieser Welt«, sagte er statt dessen. Die Dunkeläugige trat einen Schritt zurück und begann dann, in der Kammer auf und ab zu gehen. Selbst ihre Art, sich zu bewegen, hatte etwas Katzenhaftes. Das leise Knirschen des Leders ihrer Kleidung und ihre Schritte waren für eine Weile die einzigen Geräusche.
Salvat störte die Gesandte nicht. Er wußte, daß sie die Informationen, die sie aus seinen Gedanken empfangen hatte, sichtete und ordnete. Und er beglückwünschte sich im stillen zu der Vorsichtsmaßnahme, jeden Gedanken, der nicht einzig den entflohenen Gefangenen betraf, vor ihrem Zugriff abgeschirmt zu haben. Denn niemand mußte erfahren, daß er Vater eines Sohnes war – gewesen war … »Die Informationen sind dürftig«, sagte die Gesandte schließlich. »Mehr kann ich dir nicht anbieten, Enya«, erklärte Salvat. »Aber ich habe nicht ohne Grund dich für diese Suche auserkoren.« »Du meinst …?« Salvat nickte. »Er scheint kein – Mensch zu sein.« »Du glaubst, er sei ein …?« hakte Enya nach, ohne das entscheidende Wort auszusprechen. Salvat konnte sich nicht erinnern, es auch nur ein einziges Mal von ihr gehört zu haben. Sie haßte das bloße Wort – und alles, was ihm anhaftete … »Einer von jenen, die sich die Alte Rasse nennen«, sagte Salvat. Das flüchtige Verzerren ihrer Züge entging ihm nicht. »Aber …«, erwiderte die Gesandte,»… er verwandelte sich in einen Adler, nicht in eine Fledermaus.« »Ergründe sein Geheimnis, wenn du ihn gefunden hast«, meinte Salvat. Finstere Entschlossenheit schwärzte das Dunkel in Enyas Augen. Doch es stoben winzige Funken darin, und Salvat wußte, daß sie aufstiegen aus einem Feuer, das einzig von Haß geschürt wurde. »Und wenn ich das getan habe?« fragte die Gesandte. »Dann töte ihn!« befahl Salvat.
* Sich selbst bekämpfen, ist der allerschwerste Krieg. Friedrich von Logau
Lilith brannte in ihrem ganz eigenen Fegefeuer! Doch weder verbrannte sie noch verging sie. Sie starb nur, wieder und wieder, ohne den eigenen Tod zu erreichen. Längst war Lilith nicht mehr in der Lage zu zählen, wie viele verdammte Seelen sich mittlerweile um das Recht stritten, sie peinigen zu dürfen. Aber jede brachte etwas auf furchtbare Weise Vertrautes mit. Nur eine vermißte Lilith fast. Jene, von der sie gefürchtet hatte, sie würden allerärgsten Schmerz in ihrem Körper abladen. Weil Lilith mit ihr am übelsten umgesprungen war. Nach langer Freundschaft hatte die Halbvampirin die Freundin – die einzige, die sie je besessen hatte – mit eigenen Händen getötet. Doch von der Seele Beth MacKinseys empfing Lilith nicht die geringste Spur. Als hätte es Beth nach ihrem Tod nicht an diesen Ort verschlagen. Als wäre sie nicht verdammt worden … Lilith konnte diese Möglichkeit kaum glauben. Gerade Beth wäre ein prädestiniertes Opfer gewesen für diesen Ort hier, der nichts anderes sein konnte als … Ihr Gedanke zerstob unter dem neuerlichen Ansturm der fremden Kräfte. Sie wüteten in ihrem Körper und Geist. Beides war längst zu einem Schlachtfeld geworden, auf dem Gewalten tobten, die jeden wirklichen Krieg in den Schatten stellten. Lilith meinte, das Leid, das alle Kriege der Menschheit je hervorgebracht hatten, in sich zu spüren. Doch zugleich wußte sie, daß es so nicht war. Was da in ihr wütete, war »nur« die Pein jener, die sie in ihren ganz persönlichen Krieg hineingezogen hatte. In einen Krieg, der nichts anderes gewesen war als ihr Leben. Ihr Leben, das sich nun immer wieder dem Ende zuneigte und doch stets dann, wenn es die letzte Barriere überwinden wollte, zurückgezerrt wurde von Dutzenden substanzloser Klauen. Dennoch – wenn Lilith eben noch an Krieg gedacht und ihr Schicksal mit diesem Begriff belegt hatte, so hatte sie sich geirrt.
Denn der wahre Krieg begann erst – – in dieser Sekunde! Als ein neuer Krieger das Schlachtfeld, zu dem ihr Leib und ihre Seele geworden waren, betrat. Das Wesen, welches das Beben des Staubmeeres aus der Tiefe dieser Welt entlassen hatte, stürzte sich in Lilith. Und augenblicklich begann es zu wüten mit einer Macht, als steckten die Kraft und Gewalt eines ganzen Heeres in ihm!
* Lilith glaubte, ihr Innerstes würde zerrissen unter dem stummen Aufschrei aus den ungezählten Kehlen jener, die sich ihr Innerstes erobert hatten. Weit öffnete sie den Mund und schrie selbst – mit den Zungen all derer, die in ihr schrien. Ein vielstimmiges Kreischen und Heulen drängte über ihre Lippen und schien nie mehr verstummen zu wollen. Das zuletzt erschienene Seelenwesen, jenes machtstrotzende und spürbar andersgeartete, stieß wie ein Berserker in das gestaltlose Wimmeln der anderen. Obschon dieses Wesen seinen eigenen Schmerz nicht auf Lilith übertrug, empfing sie doch unweigerlich einen Hauch davon, als es an ihrem eigenen Ich vorüberstrich. Aber es teilte definitiv nicht die Absicht der anderen, Lilith unter Schmerzen zu begraben. Obwohl auch dieses andere Wesen allen Grund dazu gehabt hätte, sich an der Halbvampirin zu rächen. Denn sie erkannte auch diese Seele. Aber der, dem sie einst innegewohnt hatte, war schon zu Lebzeiten auf vielfältige Weise anders gewesen. Lilith erinnerte sich, daß die Macht dieses anderen Wesens schon einmal eine Welt hatte untergehen lassen. Eine Welt, die zwar nur eine Vision gewesen war, die ihr aber doch ums Haar zum Verhäng-
nis geworden wäre, hätte sich jener andere nicht für sie geopfert … Nichts anderes tat er auch jetzt und hier. Mit Kräften, die des Körperlichen nicht bedurften, griff das Wesen nach den anderen, packte sie, schlug sie. Er fügte ihnen Schmerzen zu, die jene übertrafen, die sie schon zur Genüge kennengelernt hatten. Und Lilith hatte an allem teil … Irgendwie bekam sie mit, daß Staub um sie her aufwölkte. Wieder und wieder. Immer dann, wenn ein Körper, der wieder Substanz erlangt hatte, in ihrer Nähe zu Boden schlug, nachdem die Macht des anderen ihn aus Liliths Leib vertrieben hatte. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, war es vorbei. Duncan Luthers Seele war die letzte, die der andere aus Lilith verbannte. Mit einem Heulen fuhr sie aus. Lilith sackte in sich zusammen wie eine Hülle, die allen Inhalts beraubt worden war. Sie sah sich selbst auf einer nachtfarbenen Klippe liegen, nur Zentimeter von einem endlosen Schlund entfernt, der den Tod symbolisieren mußte. Doch sie fand nicht die Kraft für die geringe Bewegung, der es bedurft hätte, um sich über den Rand der Klippe zu wälzen und in den erlösenden Abgrund zu stürzen. Obgleich sie es von Herzen gern getan hätte. Nach einer Weile begannen ihre Lider wie von selbst zu flattern und sich schließlich zu öffnen. Und im allerersten Moment, in dem ihr Blick in die Wirklichkeit zurückfand, lag sie tatsächlich auf schwarzem Fels, eine Handbreit entfernt von jener finsteren Schlucht. Erst ihre sich erneut senkenden Lider schienen dieses Bild auszulöschen, und beim nächsten Hinsehen fand Lilith sich dann inmitten des mehligen Staubes wieder, aus dem sich in ihrer Nähe das Tor erhob wie aus den Wogen eines erstarrten Ozeans. Doch nicht überall war die Wüste ohne Bewegung. Hie und da zogen sich die Kreaturen, die sie gequält hatten, zurück in die Tiefe. Nur eine blieb. Jenes Wesen, das zuletzt gekommen war und das Lilith befreit hat-
te von all den anderen. Es kauerte zwischen ihr und dem Tor, und sein Anblick unterschied sich von dem, den die anderen geboten hatten. Dennoch schnitt auch er wie eine glühende Klinge durch Liliths Herz. Denn auch dieses Wesen war ihr vertraut, und eine vage Ähnlichkeit zu seiner früheren Hülle war vorhanden. Er erschien ihr als hohlwangiger, weißhäutiger junger Mann, der doch zugleich uralt wirkte, ausgemergelt und müde. Sein Haar war schwarz und strähnig, seine Augenhöhlen gefüllt nur mit Finsternis, in deren Tiefe zwei winzige Punkte in roter Glut glommen. Sie hatte sich nicht getäuscht, als er vorhin in ihr gewesen war. Ein weiteres Mal war er zu ihrem Retter geworden, obgleich er sie bei ihrer allerersten Begegnung hatte töten wollen. Doch das war in einem anderen Leben gewesen, in einer anderen Welt. Jetzt hockte er da, seine finsteren Augenhöhlen auf Lilith gerichtet. Also war selbst dieser Blick noch des Sehens fähig. Grausam … Lilith öffnete die staubverkrusteten Lippen. Doch sie brauchte lange, ehe sie auch nur ein Krächzen hervorbrachte. Eine Folge wirrer Laute, aus denen schließlich zwei Worte verständlich wurden. Ein Name. Aber wirklich sein Name? »Raphael Baldacci?«
* Raphael Baldacci … Der Name wehte nach allen Seiten hin über das gelbgraue Staubmeer. Nur das Tor bot den geflüsterten Worten Widerstand und ließ sie zersplittern in Echos, die wie von fremden Stimmen gesprochen klangen. Raphael … phael … el … el … el …
Baldacci … dacci … ci … ci … Die Trümmer ihrer eigenen Worte kehrten zu Lilith zurück, drangen in sie und beschworen Erinnerungen herauf, die in ihrer Gesamtheit nicht angenehm waren, denn Haß und Tod hielten sie zusammen. In Salem’s Lot war Lilith zum ersten Mal auf den jungen Mann mit dem südeuropäischen Aussehen getroffen, als sie beide die Spur der Para-Träumerin Jennifer Sebree aufgenommen hatten. Zunächst waren da zarte Gefühle und schließlich das Feuer der Leidenschaft zwischen ihnen gewesen. Doch als Baldacci Liliths wahres Wesen erfahren, ihr vampirisches Gesicht geschaut hatte, da hatte er sie nur noch töten wollen.* Ihre zweite Begegnung hatte wenig später in Nova Scotia stattgefunden. In einem verlassenen Burggemäuer hatten sie Kontakt zu einem geheimnisvollen Kind gefunden, das sie schließlich beide in eine Traumwelt schleuderte, in der die Erde vollends von Vampiren unterjocht war, die Menschen wie Vieh hielten. Landru, ihr Todfeind, war der König dieses Reiches gewesen, und mit ihm hatte Lilith in einer Bluthochzeit vermählt werden sollen. Raphael Baldacci hatte die Zeremonie verhindert – indem er sich selbst geopfert und all seine Macht für einen finalen Schlag genutzt hatte, der die Welt der Vampire hatte untergehen lassen.** Lilith hatte nie daran gezweifelt, daß Raphael Baldacci dabei ums Leben gekommen war. Aber sie hatte auch nie damit gerechnet, ihm wiederzubegegnen – oder dem Teil von ihm, der unsterblich war. Und der jetzt an diesem Ort hier zu vegetieren verdammt war, obgleich noch etwas von seiner mysteriösen Macht in ihm war. So sehr Baldaccis Schicksal sie auch selbst rührte, konnte Lilith doch nur von Glück sagen, daß es so war. Denn wenn er sie nicht erlöst hätte aus der Gewalt der hassenden Seelenkreaturen, wäre end*siehe VAMPIRA T05: »Para-Träume« **siehe VAMPIRA T08: »Im Bann des Kindes«
loses Leiden ihr eigenes Schicksal geworden … Die Bilder aus der Vergangenheit verblaßten und ließen die realen wieder hervortreten. Lilith sah Baldacci – oder das Wesen eben, zu dem er geworden war – unverändert in ihrer Nähe im Staub kauern. Und trotz seines mitleiderregenden Aussehens verspürte sie eine in dieser Situation eigenartige, aber wohlige Wärme in sich aufsteigen. Sie rührte von dem her, was ganz am Anfang zwischen ihr und Raphael gewesen war. Und von dem Gedanken, daß sehr viel mehr daraus hätte werden können, wenn nicht die Alte Rasse ihr Stiefvolk gewesen wäre … »Bist du es wirklich?« fragte sie stockend, obwohl sie sich dessen längst sicher war. Sie tat es nur, um die lastende Stille zu vertreiben – und um das Gefühl von Wärme zu verdrängen. Der schmale Kopf bewegte sich nickend, und fast schien es, als würde er von dem mageren Hals nicht länger getragen werden können. Die Stimme des Wesens schien nicht nur aus einem Mund zu dringen. »Ja, ich bin es.« Dutzende von Fragen drängten sich auf Liliths Zunge und wollten über ihre Lippen. Doch sie ließ nur ein einziges Wort hervor. »Danke.« Wieder nickte Baldacci. »Schon gut«, gurgelte es aus vielen Mündern, die Lilith erst jetzt überall an seinem weißen Leib entdeckte. Wie lebende Wunden öffneten sie sich und gaben den Blick auf schwärendes Dunkel frei. Und nach einer Weile sagten sie: »Für dich lohnt es sich, sein Leben selbst nach dem Tod noch in die Waagschale zu werfen.« Lilith fand keine Bitternis in Baldaccis Worten, und auch keine Ironie. Nur etwas wie ein Echo jener Wärme, die sie in sich selbst verspürte ob der Erinnerung an ihn. Mühsam Kraft in sich sammelnd, schob Lilith sich in Baldaccis Richtung. Ihre Finger fanden kaum Halt in dem pulvrigen Boden, und so verging eine endlose Zeit, bis sie ihm auch nur halbwegs
nahe gekommen war. Und als sie schließlich innehielt, fühlte sie sich noch erschöpfter und zerschlagener als zuvor. Dennoch schaffte sie es irgendwie, ihre Hand nach ihm auszustrecken. Das Wesen senkte den Blick und sah schweigend auf ihre Hand herab. Erst nach einer Weile hob es den Arm, an dessen Ende etwas wie eine Hand saß, von der wiederum etwas wie Finger hing. Sie bewegten sich wie die Beine einer zappelnden Spinne. Lilith spürte fast eisige Kälte und eine Feuchte, die trotz dieser Kälte nicht gefror, als sich die dürren Finger des Wesens um ihre Hand schlossen. Dann begegneten sich ihre Blicke, blieben lange ineinander. Lilith erkannte in Baldaccis wie blinden Augenhöhlen dasselbe Gefühl, wie sie es auch verspürte. Dort aber gerann es zu etwas wie einer boshaften Karikatur, hinter der sich die wahre Emotion zu verstecken suchte. »Ich …«, setzte sie endlich an. Der Griff seiner Finger verstärkte sich um eine Nuance. »Sag nichts«, unterbrach er sie, um dann aber auf seine Weise auszudrücken, was Lilith hatte sagen wollen: »Was zwischen uns hätte sein können, konnte nicht geschehen in unserer Welt. In dieser Welt jedoch darf es nicht geschehen.« »Aber …« »Kein Gefühl, das nicht Wut und Zorn ist, kann hier gedeihen. Kein Gefühl, das nicht Schmerz und Qual bedeutet, hat hier Bestand. Alles andere würde sich ins Gegenteil verkehren. Wollte man Liebe hier säen, würde sie zu nichts erblühen als zu finsterstem Haß«, erklärte Baldacci. »Je stärker wir uns zueinander hingezogen fühlten, um so mehr würden wir einander hassen.« Lilith sah sich um, mit flackerndem Blick und am ganzen Körper zitternd, als ihr die Tragweite seiner Worte bewußt wurde. Dann fing ihr Blick sich wieder an ihm, als sie die Ödnis ringsum nicht länger ertrug.
»Was ist dies für ein Ort?« flüsterte sie. »Du weißt es längst«, meinte er. »Dann ist es –«, setzte sie an, und nach einem Zögern: »– die Hölle?« »Ja und nein. Diese Welt ist eine Hölle«, antwortete das BaldacciWesen. Die Ernsthaftigkeit seiner Worte verlieh seiner schwer verständlichen Stimme einen drohenden Unterton. »Was bedeutet das?« fragte Lilith. »Eine Hölle? Gibt es denn mehrere?« »Ungezählte. Vielleicht so viele, wie es Menschen gibt – und vielleicht noch mehr.« »Und diese hier …?« »… ist deine Hölle, Lilith Eden«, sagte Raphael Baldacci ruhig. »Deine ganz eigene Hölle, in der alle Sünden und alle Schuld, die du auf dich geladen hast, deiner harren. In die all jene verdammt sind, die durch dich zu leiden hatten. Und in der all deine Ängste wahrhaftig sind.« Lilith schluckte. Es schmerzte. Ihre Kehle war trocken, fast ausgedörrt. Und das Gefühl reichte tiefer, kroch hinab bis in ihre Eingeweide … Nicht – daran – denken! zwang sie sich mühsam, als ihr gewahr wurde, woher dieses Gefühl rührte, dieser – Durst … »Warum hast du nicht versucht, mich – zu strafen?« fragte sie. Ein seltsames Geräusch drang aus Baldaccis Mündern. Es klang resignierend, und leise Verzweiflung schwang darin. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Aber ich fühle mich – anders als die anderen hier. Als wäre ich schon zu Lebzeiten anders gewesen als alle anderen Menschen. Und so war es ja wohl auch. Im Grunde war ich ein Ausgestoßener, schon im Leben verflucht zur Einsamkeit. Und diesen Fluch habe ich mit in den Tod genommen. Wie immer man die Macht auch nennen mag, die an diesem Ort hier wirkt, sie durchdringt mich nicht völlig. Als wäre da etwas wie ein Schild,
der mich schützt.« »Das verstehe ich nicht …« »Ich verstehe es ja selbst kaum. Vielleicht liegt das Geheimnis in meiner Herkunft, an die ich mich kaum erinnern kann«, erwiderte Baldacci leise. »Aber wenn hier die Kraft des Bösen wirkt, dann muß jene, die mich behütet, der Gegenseite angehören.« »Du meinst, du stehst unter Seinem Schutz …?« Liliths Blick ging zögernd nach oben, dorthin, wo in ihrer Welt der Himmel war. Die weißhäutige Gestalt zuckte die mageren Schultern. »Wer weiß? Auf jeden Fall fühlte ich mich vorhin erst zu dir gerufen, als du in größter Not Seinen Namen genannt hast. Möglicherweise war das ja ein Hinweis …« Liliths Blick blieb unverwandt nach oben gerichtet. Obwohl sie nichts sah außer kochender Schwärze, glaubte sie dahinter etwas zu erahnen, zu spüren. Eine schwarze Sonne, deren Strahlung in ihren Körper eindrang, um dort das schwarze Lebenselixier, von dem sie wie aus geheimen Reservoiren zehrte, zu verdunsten und aufzulösen. Der Durst wurde schlimmer … »Aber wie bin ich hierher gelangt?« fragte sie, nicht nur, um sich abzulenken, sondern weil der Grund ihres Hierseins wirklich von Bedeutung war. Immerhin konnte er der Schlüssel zu ihrer Rückkehr sein. Wenn es eine gab … Baldacci wies stumm auf das Tor. »Es ist geschlossen«, sagte Lilith. »Wie kann ich es öffnen, um wieder …?« »… zurückzugelangen?« vollendete das Wesen Liliths Frage. »Für keinen, der hierher verbannt wurde, gibt es eine Rückkehr. Nicht bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Und vielleicht dürfen jene hier –«, er beschrieb einen groben Kreis, »– nicht einmal dann vor den Herrn treten.« »Aber«, begehrte Lilith auf, »ich bin nicht tot!« »Woher weißt du das?«
Lilith sackte in sich zusammen. Eine gute Frage. Sie wünschte, ihr wäre eine gute Antwort eingefallen. Doch statt dessen stieß sie in ihren Gedanken nur auf Zweifel. Vielleicht war sie ja tot. Gestorben, als sie durch das Tor gezogen wurde. Der Schmerz, den ihr die Passage bereitet hatte, war schlimm genug gewesen, um daran zu sterben. Und hatte sie den Tod nicht herbeigesehnt? Vielleicht war ihre Bitte ja erhört und erfüllt worden. Und womöglich war es ihre ewige Strafe, nie zu erfahren, ob sie nun tot oder lebendig war …? »Ich lebe!« Lilith zischte die Worte hervor, voll von emotioneller Energie, von der sie selbst nicht wußte, woher sie stammte. »Ach, ja?« machte die Kreatur. »Ich bin keine Normalsterbliche!« fuhr Lilith mit glühendem Blick fort. »So leicht bin ich nicht zu töten!« Den Gedanken, daß dies nicht unbedingt eine erstrebenswerte Auszeichnung war, verbot sie sich. Wieder wanderte ihr Blick in die Höhe. Nein, dachte sie, so leicht nicht … Es bedarf anderer Mittel, mich zu töten! Der Durst brannte ärger in ihr. Und er weckte finstere Gelüste, die befriedigt werden wollten – mußten! Dieses Trachten begann in Lilith zu wuchern, und es gewann an Bedeutung, während alles andere unterging in seinem Schatten. »Das ist ja das Üble hier«, meinte Baldacci leichthin. Sein Tonfall stand in krassem Widerspruch zu seinem gespenstischen Äußeren. »Daß die Leute einfach nicht sterben dürfen.« »Das habe ich auch nicht vor«, knurrte Lilith. Ihr Durst wuchs mit der Geschwindigkeit von Gedanken. Der Wunsch, ihn zu löschen, zermalmte alles andere. »Ich muß hier weg!« »Das müßten wir alle.« »Ich werde es schaffen!« »Ach was …?«
Liliths Durst wurde zu Brand. Nur eines konnte ihn löschen – und sie mußte es haben! Unbedingt, um jeden Preis! »Schwarzes Blut!« Daß sie den Gedanken laut hinausgebrüllt hatte, wurde ihr erst bewußt, als die eigene Stimme in ihren Ohren dröhnte. Sie packte Baldacci an den hageren Schultern und schüttelte ihn durch. »Ich brauche das Blut eines Vampirs!« schrie sie ihn an, zornbebend und flehend in einem. »Gib es mir! Und dann – bring mich von hier fort!« »Vampirisches Blut?« entgegnete er. »Das wirst du hier nicht finden. Immerhin ist dies deine Hölle, Lilith Eden. Was glaubst du, woraus diese Wüste besteht?« Seine dürre Hand wies, einen Halbkreis beschreibend, in die Weite. Liliths irrlichternder Blick folgte seiner Bewegung, dann heftete sie ihn auf die Schwärze seiner Augenhöhlen. Die glimmenden Punkte darin flackerten ganz leicht, wie – amüsiert? »Was?« fuhr sie ihn an. »Wovon sprichst du?« Raphael Baldacci ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort; gerade solange, um Liliths Beherrschung bis an die Grenze zu belasten. Erst als er sah, daß sie im nächsten Augenblick vollends ausrasten würde, sagte er: »Dieser Staub –«, er ließ eine Handvoll des mehligen Pulvers durch seinen spinnenhaften Finger rieseln, »– ist der Staub von Knochen.« »Knochen?« ächzte Lilith. Eine fürchterliche Ahnung dämmerte in ihr herauf, die Baldacci bestätigte: »Der Staub der Knochen aller Vampire, die je gelebt haben.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine fast unsichtbaren Lippen. »Von ihrem Blut ist nichts übriggeblieben, fürchte ich.« Liliths Schrei brachte selbst die Hölle zum Erbeben.
* Es war Nacht, als Enya das Haus erreichte, noch nicht ahnend, daß sie hier am Ende der Spur angelangt war, der sie seit Stunden folgte. Sie tat es voller Inbrunst, seit Salvat ihr angedeutet hatte, wer das »Wild« war, das sie jagen sollte: einer vom selben Schlage nämlich wie derjenige, der ihre Familie ermordet hatte, als sie noch ein Kind, ein Mädchen von acht Jahren, gewesen war. An dem Tag, als ihre Eltern dem Blutdurst eines Vampirs zum Opfer fielen, war das in Enya erwacht, was alle Angehörigen der Illuminati – aber jeden in unterschiedlicher Form – auszeichnete: die Kraft! Das, was die Wissenschaftler das Paranormale nannten, obwohl es abseits jeglicher Normalität angesiedelt war! Enya seufzte und gestattete sich, die Augen für die Dauer von drei Herzschlägen zu schließen. Auch während dieser Spanne blieb sie jedoch sehend, auf einer Ebene, wie sie Unbegabten auf ewig verschlossen bleiben würde. Sie schickte ihre geistigen Fühler in das Haus, und die Stille des sie umgebenden Dorf rückte ein wenig von ihr ab. Das Fahrzeug, mit dem Enya gekommen war, parkte in sicherer Entfernung. Es war auszuschließen, daß jemand ihre Ankunft bemerkt hatte. Enya straffte sich. Sie trug eine spezielle, von Salvat erhaltene Waffe bei sich – wie geschaffen, um die Beute zu erlegen! Ihr mentales Suchen hatte Erfolg! In dem Haus, das sie mit traumwandlerischer Sicherheit gefunden hatte, hielt sich etwas auf, das kein menschliches Echo warf! Enya ging zur Tür. Es war weit nach Mitternacht, aber nun wußte sie, daß die Bewohner dieses Hauses nicht schliefen, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach tot waren. Die Gesandte drückte die Klinke nieder, aber die Tür selbst gab
nicht nach. Sekunden später knackte es im Schloß. Enya erhob sich aus der Hocke und verstaute das Werkzeug, das ihr auch ohne Einladung den Zutritt in die meisten Häuser verschafft hätte, in ihrem Gürtel, der das hautenge Trikot in der Taille schnürte. Einen Moment zögerte sie noch, dann setzte sie ihren Fuß über die Schwelle. Die Stille dahinter war fast greifbar anders als draußen. Als würde etwas hier drinnen jedes Geräusch unterdrücken. Die Spannung lauerte spürbar in jedem Winkel, und Enya bereitete sich auf die Abwehr vor. Noch ein anderer Atem als ihr eigener durchwehte die Räume des zweigeschossigen Hauses, das über nicht sehr viele Zimmer verfügen konnte. In eines gelangte Enya, nachdem sie einen kurzen Flur durchquert hatte: eine Wohnstube mit Herd, Schränken, Regalen, einem Tisch und einer Handvoll Stühle. Nirgends brannte Licht, und Enya beließ es dabei. Sie tastete sich vorwärts. Sie besaß eine unglaublich ausgeprägte Intuition, die vermutlich ebenfalls mit ihrer Para-Begabung zusammenhing. Sie spürte nicht nur die Nähe von Hindernissen, ehe sie gegen sie stieß, sondern konnte sich sogar ein ungefähres Bild von ihrem Aussehen machen! Langsam bewegte sie sich durch das Haus. Als sie unten nicht fündig geworden war, bewegte sie sich über eine steile Treppe ins darüberliegende Geschoß. Die Stufen knarrten, aber sonst blieb alles, wie es war. Totenstill. Bis Enya eine offene Tür erspürte. Sie ging darauf zu. Niemand brauchte es ihr zu sagen; sie wußte plötzlich, daß er hier war. Der, den sie töten sollte. Bald rückte ihr, obwohl sie ihn noch nicht sehen konnte, sein Atem so nah, daß er sich mit dem ihren vermischte.
Aber das erste, worüber Enya stolperte, war die Leiche eines Mannes. Ab diesem Moment war es Zeit, sich Gedanken über die Zuverlässigkeit ihrer Talente zu machen, denn dieses Hindernis hatte sie definitiv nicht gesehen. Doch es kam noch schlimmer …
* Lange Zeit verstrich, in der Lilith tobte und brüllte wie eine Wahnsinnige. Und nichts anderes schien sie in dieser Zeit zu sein: eine wahnsinnige, im Blutrausch wütende Kreatur, die nichts fand, was ihre Gier befriedigt hätte. Sie grub sogar mit ihren Händen im Staub, wie eine Verdurstende auf der Suche nach wenigstens einem Tröpfchen Wasser. Doch sie fand nichts – außer Knochenstaub. Die zermahlenen Reste jener, die zu jagen und zu töten ihr Fluch war. Irgendwann stürzte Lilith vornüber und blieb reglos liegen, wie tot. Ihre Kräfte waren aufgezehrt worden in ziellosem Wüten. Und wieder verging eine Weile, bis Lilith sich auch nur zu regen begann. Als sie schließlich das Gesicht aus dem Staub hob, mochte Baldacci fast den Eindruck haben, in einen Spiegel zu sehen: Liliths Gesicht war weiß vom stinkenden Mehl der Knochen, Erschöpfung hatte tiefe Spuren hineingegraben, und die Haut schien trocken und ausgedörrt vom Mangel an dem so wichtigen Elixier, das es hier nicht gab. »Fühlst du dich jetzt besser?« Leiser Hohn schwang in Raphael Baldaccis noch immer schwer verständlicher Stimme mit. Daß Lilith ihr anderes Gesicht gezeigt hatte, schien die Wärme, die sie vorhin noch in ihm geweckt hatte, etwas abgekühlt zu haben. »Nein, verdammt«, knirschte Lilith. Ihre Finger gruben sich wie in
Krämpfen in den Staub. Ihr Körper zitterte wie der eines Junkies auf Entzug. »Ich muß hier raus …«, wisperte sie. »Ich brauche Blut … einen gottverdammten Vampir …« »Den wirst du hier nicht finden.« »Ich weiß!« fuhr Lilith auf, kraftlos und mit vor Verzweiflung bebender Stimme. Dann sah sie in Baldaccis Gesicht, in die Leere seiner Augenhöhlen, und ihr Ton wurde flehend: »Bring mich hier raus, Raphael – bitte!« »Wie könnte ich dich befreien aus etwas, das in dir selbst ist?« erwiderte er ernst. »Du mußt einen Weg kennen«, wimmerte Lilith. »Wenn nicht du – wer dann?« Sie wies mit dem Kinn auf das gewaltige Tor. »Was ist damit?« fragte sie. »Wie läßt es sich öffnen?« »Es wird nicht geöffnet!« entgegnete er hart. »Niemand wird es je wieder öffnen!« Aber Lilith registrierte sehr wohl, daß er nicht behauptete, es nicht tun zu können … »Wo führt es hin?« Das Wesen schwieg. »Was muß ich tun, was verlangst du von mir, damit du es für mich öffnest? Nur ein wenig, so daß ich …« »Kein Preis könnte hoch genug sein, kein Opfer groß genug, als daß das Tor dafür geöffnet würde«, erklärte Baldacci mit klirrender Kälte im Ton. »Aber du könntest es …?« »Nein.« »Ich glaube dir nicht.« »Dazu kann ich dich nicht zwingen.« Lilith vibrierte förmlich unter einem weiteren Schub ihres ganz besonderen Entzugs.
»Siehst du denn nicht, wie ich leide?« schrie sie verzweifelt. »Rührt dich denn gar nichts mehr? Bist du so kalt wie die Macht, die an diesem Ort regiert? Oder gar schon – Teil von ihr …?« »Gewiß nicht«, sagte Baldacci. »Dann hilf mir – bitte!« »Was soll ich denn tun?« rief er, selbst mit einer Spur von Hilflosigkeit in der Stimme. »Bring mich weg von hier …« Die Worte wichen wie im Tod entfliehender Atem aus Lilith. Wieder breitete sich Schweigen zwischen sie, erwuchs zu einer Mauer, die an Stärke dem Tor hinter ihnen kaum nachstand. Baldacci wirkte selbst wie tot, so reglos saß er da. Doch Lilith konnte sehen, daß sich das Glosen in der Tiefe seiner Augenhöhlen bewegte. Als suchte er nach etwas, das nur er mit seinem ganz eigenen Blick finden könnte … Nach einer kleinen Ewigkeit sagte er endlich: »Vielleicht gibt es einen Weg aus dieser Hölle …« »Welchen?« Lilith fuhr auf, nur ein wenig; zu größerer Anstrengung reichte ihre Kraft nicht mehr. »Nun«, begann Baldacci, »ich weiß nicht, ob es funktioniert, und am wenigsten weiß ich, wohin dieser Weg dich führen würde. Sicher nicht an den Ort, von dem du gekommen bist.« »Wo beginnt dieser Weg?« fragte Lilith hastig. »In dir.« Sie sah ihn zweifelnd und verzweifelt in einem an. »Wovon redest du?« Baldacci zeigte hinaus in die Weite der Staubwüste. »Diese Welt, diese Hölle ist geboren aus deinen Ängsten und deiner größten Schuld. Wenn es aber eine Angst gibt, die tiefer in dir verborgen ist und jene, die hier Gestalt geworden ist, überwiegt, dann vermag sie dich vielleicht an einen anderen Ort zu führen.« »In eine andere Hölle, meinst du?«
Baldacci nickte. »Ja. Aber vielleicht findest du dort einen weiteren Weg – oder wenigstens eine Quelle, aus der du deinen absonderlichen Durst zu stillen vermagst.« Ekel und Abscheu zeichneten sich in seinem Gesicht ab und ließen es noch ausgezehrter wirken. »Eine Angst, die größer ist als die, kein schwarzes Blut mehr zu finden …«, flüsterte Lilith, mehr zu sich selbst als zu Raphael hin, »… etwas, daß ich mehr fürchte, als von meiner Sündenschuld erdrückt zu werden …« Die Ängste, fand Lilith heraus, waren Teil ihres Bewußtseins. Sie durchsetzten es, waren gegenwärtig. Wenn es eine größere Furcht gab, dann mußte sie tiefer schürfen. In ihrem Unterbewußtsein danach forschen. Sie tat es, aber es bereitete ihr wegen des brennenden Durstes unendliche Mühe, sich darauf zu konzentrieren. Sie schloß die Augen, suchte, tastete … … und fand diese andere Angst, die alles überwog. Worin sie bestand, überraschte Lilith selbst. Nie hätte sie gedacht, daß sie sich davor in einem solchen Maße fürchten würde. Vor einer Begegnung, einer Konfrontation. »Es gibt diese Angst«, sagte sie schließlich. »Ich weiß«, hörte sie Baldaccis Stimme. »Du weißt …?« »Sieh hin!« Lilith schlug die Augen auf – und schrie auf! Die Hölle, ihre Hölle, hatte sich verändert! Einzig das Tor war geblieben. Es stand nun leicht erhöht inmitten eines steinübersäten Feldes, noch immer, ohne sich in eine Wand zu fügen. Doch um das Portal her war nicht länger die Wüstenei aus Knochenstaub. Dunkle Nebel wogten, soweit der Blick reichte. Und darunter – unter ihren Händen und Füßen – spürte Lilith einen schwammigen, feuchten Boden, wie Morast beinahe, aber doch zäher, so daß sie nicht darin versank.
»Wo bin ich?« fragte sie leise. Und wo war Raphael? Er hatte doch eben noch zu ihr gesprochen! Hastig sah sie sich um, doch es war nichts außer brodelnder Schwärze um sie her. »Raphael?« fragte sie zaghaft, als könnte sie durch unbedachtes Rufen verborgenes Grauen wecken. »Wo bist du?« Ich kann dich nicht begleiten … »Wo bist du?« wiederholte Lilith, als sie seine Stimme hörte. Sie schien direkt in ihr aufzuklingen. Ich bin Teil deiner Schuld, die die erste Hölle erschaffen hat. In diese zweite kann ich dir nicht folgen … »In welcher Hölle bin ich?« Das mußt du selbst am besten wissen … Besinne dich deiner größten Angst … Sie hat dich an diesen Ort geführt … Lilith schauderte, als sie es tat, – als sie sich ihrer größten Angst besann. Nichts fürchtete sie tief in ihrer Seele mehr als – – Landru!
* Enya umklammerte die Stichwaffe aus Salvats Arsenal. Sie steckte in einer Gürtelschlaufe und sah wie ein schnörkelloses Werkzeug aus. Aber um ein solches wirklich zu sein, hätte sie nicht mit dieser Patina aus getrocknetem schwarzen Blut umgeben sein dürfen. Sie war unterarmlang und verjüngte sich vom hornigen Schaft aus immer weiter bis hin zu einer Spitze, die selbst bei leichtestem Druck jede Haut und die meisten Kleiderstoffe durchdrang. Noch einmal tippte die Gesandte mit der Schuhspitze gegen die Leiche, die ihr im Weg lag und mit ihren besonderen Sinnen nicht zu erfühlen gewesen war. Warum nicht? Nachdem das Leben aus dem männlichen Toten gewichen war,
besaß er keinen höheren Status mehr … In diesem Augenblick ging Licht an. Eine elektrische Birne streute Helligkeit, die Enya im ersten Moment blendete und erstarren ließ. Dennoch gestattete sie sich nicht, ihre Augen im Reflex zu schließen. Sie hielt sie offen, und so gewahrte sie jenseits der blinden Flecke, die über ihre Netzhäute tanzten, denjenigen, dem ihre Suche galt. Er trat ihr aus der offenen Tür entgegen. Und er widersprach ihren Vorstellungen völlig! Er war etwa einen Kopf größer als sie selbst, vielleicht einsfünfundachtzig, und von atemberaubender Sinnlichkeit. Sinnlichkeit? (O Gott, nein, es ist eine Bestie!) Enya kämpfte gegen das Gefühl an, der Dielenboden unter ihren Füßen hätte zu schwanken begonnen. Noch fester umschloß sie die Waffe. Ihre Knöchel traten weißlich unter der gebräunten Haut hervor, aber sie ahnte längst, daß diese Waffe, obwohl von Salvat stammend, machtlos sein würde, weil sie sie nie gegen einen solchen Körper hätte erheben können! Enya erbebte. Nie zuvor war sie versucht gewesen, sich für gefährdet zu halten, eines Tages dem Wahnsinn zu verfallen, aber in diesen Sekunden, in denen sie das Bild des Indianers in sich aufnahm, war sie sich dessen nicht mehr sicher. »Wie ist dein Name?« fragte er mit einer rauhen, männlichen Stimme, die seine Anziehungskraft noch zu erhöhen schien. Nachdem sie meinte, ihre eigene Stimme wieder in der Gewalt zu haben, entgegnete sie: »Ich werde dir die Fragen stellen, Vampir!« Er lächelte kühl wie Marmor. »Möchtest du meinen Namen wissen?« »Es wäre ein Anfang.« »Ich bin Hidden Moon.«
Sein Lächeln gerann zu einem Ausdruck, bei dessen Anblick alles schmolz, was Enya an ehernen Vorsätzen mitgebracht hatte. »Allein bin ich nichts«, sagte er dunkel. »Drüben war ich nie allein …« »Drüben?« Er trat auf sie zu. Sie wollte zurückweichen, aber dann harrte sie doch aus, immer noch die Finger an der Waffe, immer noch von dem Irrglauben beseelt, dem, was da kam, gewachsen zu sein. Seine Blicke glitten über ihr Trikot. Nein, dachte Enya und ließ sich bereitwillig von einer Gänsehaut umschmeicheln, nicht über, unter mein Trikot! Der Gedanke hatte nichts Abstoßendes … … und spätestens daran hätte die Gesandte erkennen müssen, daß sie, wenn sie jetzt nicht Einhalt gebot, verloren war! Aber sie ließ auch zu, daß er noch einen Schritt auf sie zu machte. Und noch einen. Dann berührte etwas ihre Zunge hinter den geschlossenen Lippen. Etwas, das sich anfühlte wie … eine andere Zunge. Erschüttert horchte sie in sich. Salvat? Brüder und Schwestern? Wo seid ihr? Hört mich denn keiner? Laßt mich nicht allein … … mit IHM! Niemand hörte ihr ersterbendes Flehen, das wie ein letztes Aufbäumen war, bevor – Sie schmiegte sich in Arme, die ihr so vertraut waren, als hätte sie sich ihnen schon tausendmal hingegeben. Die Waffe blieb in ihrem Gürtel. Aber der Gürtel fiel. Und dann das Trikot, die künstliche Kluft zwischen zwei Häuten. Enya verlor jede Hemmung. Sie wehrte sich nicht einmal, als Hidden Moon seine Zähne in sie grub und ihr nahm, was er brauchte, um ihr im Gegenzug zu geben, was sie brauchte – um von dieser
Stunde an derselben Macht zu dienen, die schon ihn gefügig gemacht hatte. Er und sie waren nur der Anfang. Die Wegbereiter dessen, was folgen würde. Aus dem Tor …
* Der Jäger und Hüter des Lilienkelchs war schon vor ihrer Geburt Liliths ärgster Feind gewesen. Nichts hatte er unversucht gelassen, um zu verhindern, daß Creannas Balg erwachte. Und als es doch geschehen war, hatte Landru die Halbvampirin gejagt – bis an den Anfang der Zeit. Sie waren einander nicht oft begegnet. Aber jedes Zusammentreffen war grauenhaft gewesen. Und Lilith wollte nichts weniger, als Landru je wiederzusehen. Denn er war ihr an Kraft überlegen, und jede Begegnung mit ihm konnte die letzte für sie sein. Nun hatte ihr diese Angst also eine neue Hölle geboren. Doch schien sie ihrem Ziel, einen Weg zurück oder wenigstens schwarzes Blut zu finden, um kein Stück nähergekommen zu sein. »Raphael!« rief sie. Ich muß gehen … zurück in meine Verdammnis … in deine Hölle … »Aber ich sehe keinen Weg, der hier herausführt!« Es gibt ihn … Sieh hin … Lilith tat, wie ihr geheißen. Und sie sah – – helle Punkte, dicht unter der Oberfläche des schwarzen Nebelmeeres. Sie verliefen schnurgerade vom Tor hinaus in die Schwärze, einer vom anderen getrennt durch die Weite eines Steinwurfes … »Eine Spur? Wohin führt sie?« fragte Lilith. Folge ihr und finde die Antwort … Lebe wohl, Lilith Eden … Ich muß gehen … Baldaccis Stimme wurde leiser, bis sie nur noch ein Hauch in Li-
liths Kopf war. »Werden wir uns wiedersehen?« rief sie. Vielleicht … denn die Hölle währt ewig … Sie verstand Raphael kaum noch, und sie hörte seine letzten Worte vielleicht nur wegen ihres niederschmetternden Gewichts. … dein Leben jedoch nicht …! Liliths Blick wanderte zurück zu den hellen Punkten innerhalb des Nebels. Während sie auf den nächstliegenden zuging, die Füße knöcheltief in den Nebelschwaden, dachte sie wieder an Landru. Was hatte dieses Szenario mit ihm, dem Mächtigsten der Alten Rasse, zu tun? Sie fand keine Verbindung, keine Parallele. Und mußte sich eingestehen, daß sie im Grunde kaum etwas über den einstigen Hüter des Kelchs wußte. Er dagegen kannte sie gut, hatte ihr Leben und ihren Werdegang genau verfolgt. Auch dieser Umstand mochte zu ihrer Furcht vor ihm beitragen. Doch neben Angst brachte sie Landru noch etwas entgegen – eine Form von abartigem Respekt … Der Boden federte unter ihren Schritten, feucht und schwammig, und hie und da glänzte es weißgrau durch die Nebelschicht. Lilith widerstand der Versuchung, sich niederzuknien und den Untergrund näher in Augenschein zu nehmen. Sie bückte sich erst, als sie den ersten der hellen Punkte erreichte. Ein Stein … Einer, wie sie hinter ihr um das Tor herum lagen. Wie eine Spur zogen sich die anderen weiter in die Ferne, so aneinandergereiht, daß der Blick mühelos zum jeweils nächsten reichte. Wohin mochte die Spur führen? Und vor allem: Wer hatte sie gelegt? Lilith wußte, wo sie die Antworten finden würde. Am Ende. Sie schritt los.
* Es war nicht heiß, noch nicht einmal warm. Trotzdem litt Lilith einen Durst, wie sie ihn schlimmer noch nicht erlebt hatte. Obwohl sie glaubte, schon meilenweit gelaufen zu sein, konnte sie hinter sich das Tor noch immer ausmachen. Es war zwar kleiner geworden, aber die Entfernung war nicht so weit, wie sie es hätte sein müssen. Raum und Zeit mochten eine andere Bedeutung haben an diesem Ort … Mittlerweile lief Lilith nicht mehr von Stein zu Stein, sie schleppte sich dahin. Es fehlte nicht mehr viel, und sie würde in die Knie brechen und tatsächlich kriechen müssen, wie eine Verdurstende durch die Wüste, auf der verzweifelten Suche nach einer lebensrettenden Oase. Aber noch hielt sie sich aufrecht, wenn auch Zentnergewichte jeden ihrer Schritte zum Kraftakt machten. Was aber nicht das Schlimmste war. Viel ärger war das Brennen ihrer Eingeweide. Lilith hatte das schreckliche Gefühl, jenseits ihrer Bauchdecke würde alles in Flammen stehen. Glühende Zähne fraßen in ihrem Gedärm. Vielleicht, dachte sie, hätte sich selbst dieser Schmerz ertragen lassen, wenn die Aussicht bestanden hätte, daß irgendwo vor ihr etwas war, aus dem sie ihren Durst stillen konnte. Aber die steinerne Spur schien nirgendwohin zu führen. Oder …? Lilith hielt inne. Etwas war da vor ihr. Noch immer weit entfernt, aber es erhob sich aus den Nebeln, klobig und schwarz. Und ein Stück davor lag der letzte Stein. Lilith sammelte alle noch verbliebene Kraft und taumelte weiter. Die Aussicht auf ein Ziel, was immer es auch sein mochte, beflügelte sie zwar nicht, aber es ließ ihre Schritte ein klein wenig fester und steter werden. Sie passierte die letzte Markierung des Weges … und hielt ver-
blüfft inne. Was sie da aus der Ferne gesehen hatte, war ein – Brunnen? Eine dunkle Umrandung, nicht aus einzelnen Steinen gefertigt, sondern wie aus einem schwarzen Guß wirkend, wuchs aus dem Boden, etwa zwei Meter durchmessend. In ihrer Mitte gähnte eine finstere Öffnung. Lilith trat näher, berührte mit den Händen die Wandung, sah hinab in die Tiefe. Ihr Blick verlor sich in Schwärze. Aber nicht im Nichts … Etwas war da unten. Die Finsternis dort schien ihr kompakt … Nein – flüssig! Flüssige Schwärze …? Schwarzes Blut! assoziierten ihre Gedanken wie von selbst. Sie beugte sich über den Rand des Brunnens. Ihre Hände griffen hinab und berührten doch nicht, was dort unten lockte. Sie konnte es riechen und fast schon schmecken. Nur eine Fingerlänge trennte Lilith davon. Sie rutschte noch ein kleines Stück über den Rand des Brunnens. Keinen Gedanken verschwendete sie daran, weshalb er hier stand. Der kochende Durst verschlang jede klare Überlegung, noch bevor sie entstehen konnte. Lilith beugte sich noch ein bißchen tiefer. Sie streckte ihren Arm, daß es in der Schulter schmerzte. Nur noch ein paar Zentimeter …! Ihr eigenes Gewicht schien plötzlich wie Blei in die obere Hälfte ihres Körpers zu schießen! Lilith merkte, wie ihre Füße sich vom Boden lösten. Wie sie stürzte! Und eintauchte. In Schwärze, die kein Blut war, sondern – – ein Moloch. Lilith glaubte zu schreien, doch die Schwärze fraß auch jeden Laut. So wie sie Lilith selbst fraß. Als erstes verschlang das Ding den Symbionten.
Das Mimikrykleid, dem Lilith befehlen konnte, sie in jede denkbare Kleidung zu hüllen, war untrennbar mit ihrer Haut verbunden. Es hatte sich einst darin festgehakt wie mit tausend widerhakenbesetzten Zähnen … … und nun wurde ihr jeder einzelne dieser Zähne aus dem Fleisch gerissen! Doch dieser Schmerz war nur der Auftakt. Ihre Haut brannte unter der unsichtbaren Berührung der Finsternis wie in einem Säurebad. Und als wäre der gedanklich gezogene Vergleich ein Stichwort gewesen, löste sich ihre Haut auf wie in Säure! Fleisch und Muskeln und Nerven wurden Lilith wie mit diamantharten Scherben von den Knochen geschabt, die Knochen selbst zermalmt wie zwischen riesigen, basaltschwarzen Mühlsteinen. Nur Liliths Gedanken blieben übrig, und mit ihnen alles, was nicht von echter Substanz war.
* Helmbrechts im Bayreuther Fürstentum, 1635 Dunkle Wolken quollen am Himmel wie das Gebräu in einem Hexenkessel. Sie fraßen alles Licht der Gestirne, und so hüllte vollkommene Finsternis den Hügel ein. Wie abgeschirmt vom Rest der Welt lag er da, als sollte niemand Zeuge des unheiligen Treibens werden, das hier oben vonstatten gehen sollte. Und doch gab es einen, dessen Blick nichts von all dem entging, was sich zwischen den Karren tat, die auf der nahezu kahlen, nur von wenigen Bäumen bestandenen Kuppe zu einem Kreis aufgereiht standen. Die Augen des heimlichen Zuschauers vermochten selbst den vagen Rest von Licht, das irgendwoher kam, zu nutzen, und die Helligkeit des Feuers dort drüben war in seiner Sichtweise fast soviel wie die des Tages. Lediglich ein blutroter Schimmer, wie
nur seine Rasse ihn wahrnahm, unterschied sie davon. Der Vampir lag im Sichtschutz einiger Sträucher und starrte unentwegt hinüber zu den Karren des fahrenden Volkes. Sie gaben sich den Anschein von Bettler und Musikanten, taten, als wären sie Händler, aber er hatte ihre Maskerade durchschaut. Lange genug verfolgte er ihr Treiben schon, nachdem es ihn Jahre gekostet hatte, ihre Spur aufzunehmen. Doch heute wußte er, wes dunklen Geistes Kind sie wirklich waren und in der Ausdünstung welcher Macht sie sich suhlten. Und nur deswegen war der Vampir hier. Nur deshalb hatte er sich an sie gehängt – obwohl selbst ihn schauderte vor ihrer Gegenwart, in ihrem Dunstkreis. Denn es war etwas von jener fremden, so völlig andersartigen Macht in ihrer Nähe, vor der seine Sippe einst geflohen war. Viele Jahre war es nun schon her, daß er und alle anderen Kelchkinder ihre geheime Herrschaft über die Stadt Prag hatten aufgeben müssen, weil sie es nicht länger ausgehalten hatten in ihren Mauern. Ein anderer Herrscher hatte Einzug in ihre Stadt gehalten und die Vampire verbannt. Hätten sie sich der Macht widersetzt, wären sie zweifelsohne vergangen. Und fortan hatten sie keinen Fuß auch mehr nur in die Nähe der »Hunderttürmigen« setzen können.* Inzwischen mochte sich das geändert haben. Vielleicht war Prag für die Alte Rasse wieder betretbar geworden. Miroc wußte es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Er hatte sich bald schon losgesagt von den Seinen. Freilich unter ärgstem Protest ihres Oberhauptes und aller Blutgeschwister. Nie mehr würde er sich ihnen anschließen können. Sie hatten ihn geächtet ob seines Eigensinns. Es war ihm gleich gewesen. Denn die Art zu leben, die sie sich nach der Vertreibung gewählt hatten, hatte er als unwürdig empfunden: Heimatlosen gleich durchs Land zu ziehen, sich hie und da *siehe VAMPIRA T16: »Die Zeit des Bösen«
in einem Dorf niederzulassen, um sich für eine Weile an den Bewohnern schadlos zu halten … Nein, Miroc hatte ergründen wollen, welchen Ursprungs jene Macht war, vor der sie aus Prag gewichen waren – und wenn er dies in Erfahrung gebracht hatte, mochte er einen Weg finden, ihr beizukommen. So hatte er die Spur, obwohl sie stetes Unbehagen in ihm wachhielt, aufgenommen und war ihr gefolgt, fort von Prag, tiefer hinein ins Land. Doch immer wieder hatte er sie verloren. Weil sie sich – teilte, als trüge nicht nur einer jene Macht in sich, um sie zu verbreiten, sondern mehrere … Aber Miroc hatte nicht aufgegeben. Und irgendwann hatte er auf seiner langen Wanderung erkannt, daß es neben ihm auch andere gab, die der Spur folgten. Jedoch taten sie es aus anderen Beweggründen als er: Sie labten sich an dem, was das Fremde hinterließ; sie ernteten die Früchte, die von ihm gesät wurden; und sie mehrten das Verderbliche, das im Fahrwasser der fremden Macht zurückblieb. Der Vampir hatte es sich alsbald zur Aufgabe gemacht, diesen anderen – es waren Einzelgänger darunter wie auch ganze Banden – zu folgen, um ihrer habhaft zu werden. Denn wenn es ihm schon nicht gelang, den Urheber ausfindig zu machen und zu vernichten, weil er ihm seiner vampirischen Unnatur wegen nicht nahekommen konnte, wollte er doch wenigstens dafür Sorge tragen, daß sein Einfluß sich nicht über die Maßen ausweitete. Es waren rechte Scharlatane unter jenen »Jüngern« des Fremden. Sie verfügten nicht über eigene Macht und versuchten mit bloßen Worten allerhand Zwietracht zu säen und Übles anzurichten. Manchen von ihnen war sogar Erfolg beschieden. Aber andere mußten sich nicht auf das Wort beschränken; ihnen hing etwas an, das wie zu eigener Kraft reifte. Ob es sich bei der Bande, der Miroc hierher ins Fürstentum Bay-
reuth gefolgt war, um solche »Mächtlinge« handelte, wollte der Vampir heute Nacht ergründen. Hernach würde er über Wege und Mittel nachsinnen, sie in Mißkredit zu bringen und das Volk hierzulande gegen sie aufzuhetzen. Obwohl sich drüben bei den Karren nichts Auffälliges tat, hatte er das Gefühl, daß etwas in der Luft lag. Er nahm es wahr wie einen stinkenden Odem, von dem ihn nur die Ausläufer erreichten in seinem Versteck. Aber sie waren ihm Zeichen genug dafür, daß noch etwas geschehen würde. Und es geschah. Es begann harmlos, unscheinbar. Alle, die zu der Bande gehörten – Miroc schätzte ihre Zahl auf wenig mehr als ein Dutzend – kamen aus ihren Karren und Wagen. Die Leute waren unterschiedlichsten Alters, und nur drei oder vier waren von jenem fremdländischen Aussehen, das für das umherziehende Gevölk so typisch war. Deshalb ging der Vampir davon aus, daß diese Gruppe sich nach und nach gefunden hatte; immer wieder mochten sich ihnen auf dem Weg durchs Land Neue angeschlossen haben, die ebenso wie die schon Zugehörigen ein Gespür für jenes Fremde hatten, dem sie nachfolgten. Sie sammelten sich in der Mitte des Kreises ihrer Gefährte, wo das Feuerchen brannte und der Boden eine Besonderheit aufwies, die Miroc von seinem Platz aus nicht recht sehen konnte. Es schien, als wäre dort etwas in die Erde geritzt worden, ein Symbol womöglich oder auch eine Zeichnung. Der Auftritt zweier weiterer Leute lenkte ihn ab. Sie kletterten gemeinsam aus einem überplanten Wagen, und dann zogen sie behutsam eine dritte Gestalt nach sich. Sie schien dem Vampir gebrechlich, krank und schwach, und selbst über die Entfernung konnte er mit seinen besonderen Sinnen wittern, daß mehr Tod als Leben in dem Geschöpf war. Trotzdem war zu erkennen, daß das Mädchen sehr schön gewesen
sein mußte, bevor die elende Pest es in die Fänge bekommen hatte. Ihr dunkles Haar mußte ihr schmales Gesicht wie die Mähne eines anmutigen Raubtieres umweht haben. Nun jedoch hing es in schweißklebenden Strähnen herab, den Zweigen einer Trauerweide gleich. Die beiden anderen – eine Frau, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatte, und ein blonder Bursche von höchstens 20 Lenzen – trugen das siechende Mädchen hin zu ihren Kumpanen. Was mochten sie vorhaben? fragte sich Miroc gespannt. Würden sie das arme Ding – obwohl es noch nicht tot war – in die Flammen werfen, damit die Seuche nicht auf alle übergreifen konnte? Zugetraut hätte der Vampir den anderen eine solche Grausamkeit. Sie rührte ihn nicht, den er hatte schon Schlimmeres gesehen und selbst getan. Aber diese Tat schien ihm keine Erklärung für das, was er spürte – denn er »roch« etwas wahrhaft Großes über dem Lagerplatz, lauernd und schon bereit, herniederzustoßen … Die Frau und der junge Mann brachten die Kranke zu der Stelle des Lagers, wo etwas in den Staub gemalt war. Dort aber legten sie den nackten, von der Krankheit übel gezeichneten Körper nicht nieder, sondern richteten ihn so, daß er kniete. Aus eigener Kraft vermochte das junge Ding freilich nicht in dieser Haltung zu bleiben, und so stützte es der Bursche, damit es nicht umfiel. Die Frau winkte den anderen befehlend, und sie zogen den Kreis um den Schauplatz enger, bis ihre Leiber eine Wand bildeten, über die Miroc nicht hinwegsehen konnte. So vermochte er nur noch zu erahnen, was jenseits davon geschah. Vereinzelte Geräusche halfen seiner Phantasie auf die Sprünge. Und sie gebar grausige Bilder, die sogar ihm Schauer über den Rücken jagten – wenn auch durchaus wohliger Natur … Miroc vernahm dumpf gemurmelte Worte, die er nicht verstand, obschon die Nacht sie bis an sein Ohr trug. Die Sprache jedoch, der sie entstammten, war ihm fremd. Und er glaubte zu spüren, daß es
kaum jemanden gab auf der Welt, der sie kannte. Aus dem einfachen Grund, weil sie nicht von dieser Welt war … Irgendwelche Dinge wurden ins Feuer geworfen und von den Flammen knisternd und knackend verschlungen. Was immer es war, es nährte das Feuer über alle Maßen, denn seine Zungen wuchsen in einem einzigen Augenblick zu solcher Größe, als wollten sie an den schwarzen Wolken lecken. Dann hörte der Vampir ein leises Wimmern, ohne Zweifel die Stimme eines Welpen, noch nicht alt genug, um sich anders als wimmernd oder quäkend mitzuteilen. Seine Angst jedoch mochte das Hündlein durchaus schon eindrucksvoll kundzutun – wie auch den Moment seines Todes. Blutgeruch wehte zu Miroc herüber. Wieder wurden Worte geraunt, aus vielen Kehlen drangen sie diesmal, und schließlich schwoll der Chor zu solcher Macht an, daß jeder der dort drüben Stehenden daran teilhaben mußte. Was an weiteren Handlungen geschah, vermochte der Vampir nicht zu erkennen. Aber es stand außer Frage, daß etwas geschah … … denn irgend etwas mußte schließlich der Grund sein für das, was nun vor sich ging! Miroc nahm es erst nur am Rande seines Blickfeldes wahr. Dann hob er das Gesicht und sah, daß die Wolken über dem Lagerplatz mit einemmal rascher zogen als zuvor – so schien es ihm zumindest auf den ersten Blick. Erst nach längerem Hinsehen bemerkte er, daß das Gewölk sich bewegte, ohne übers nächtliche Firmament weiterzuziehen. Es brodelte und kreiste, als rührte ein riesenhafter Löffel darin, immer heftiger und rasender. Dann veränderten sich die Lichtverhältnisse. Fahlgelber Schein hüllte den Kreis aus Menschen dort drüben ein. Das Licht selbst sickerte vom Himmel herab, wo es um die Wolkenschlieren herum schwefelfarben entstand. Währenddessen gewann der Chor drüben an Stimmgewalt. Bebend und noch immer in gleicher Monotonie schien er selbst aufzu-
steigen zu dem Wolkentosen hoch über den Köpfen. Hoch über den Köpfen? Miroc korrigierte sich. Die Wolken schienen herabgesunken zu sein, und als er sich umsah, stellte er fest, daß er sich nicht täuschte. Die Wipfel der höchsten Bäume verschwanden schon in der kochenden Schwärze, die von gelblichen Blitzen durchzogen wurden. Ein Donnerschlag ließ den Hügel erbeben! Gleißendes Licht machte die Nacht für die Dauer eines Augenblicks zum Tag. Eine der Baumkronen, die in den Wolken verschwunden waren, war schier explodiert. Nun stand sie in blendend hellen Flammen. Bei anderen wiederholte sich das Spektakel, und die Donner verschmolzen zu einem einzigen, unirdisch machtvollen Dröhnen. Der Vampir erwartete jeden Moment, daß der Boden unter seinen Füßen öffnen würde, weil die Hölle selbst sich auftat. Doch das Ungeheuerliche kam nicht von unten, sondern von oben herab. Der Himmel selbst brach auf und entließ feurigen Regen! Ehe das Feuer jedoch den Boden berührte, sammelte es sich über dem Kreis der Teuflischen drüben im Lager, geformt wie ein riesiger, umgestülpter Trichter. Heraus schoß ein Netz aus rotglühenden Blitzen, die inmitten des Kreises einschlugen mit dröhnender Macht. Miroc sah noch, daß die Menschen zu Boden geschleudert wurden und die Gesichter ins Erdreich preßten, weil sie um ihr Augenlicht fürchteten. Der Vampir hielt dem Gleißen noch einen Lidschlag länger stand. Das Blitzgewitter umtoste den Körper des Mädchens, das nun ohne fremden Halt kniete. Und es schien Miroc – anders. Für einen winzigen Moment nur … Es näher zu ergründen, schaffte er nicht. Denn auch der Vampir schloß die Lider, um nicht zu erblinden unter dem tobenden Licht. Und so sah niemand, was wirklich mit Kathalena geschah …
* Irgendwann schloß sich die Wunde im Wolkenleib. Die Blitze erloschen, das Donnern verebbte. Nur die brennenden Baumwipfel ringsum zeugten noch davon, daß etwas Gewaltiges geschehen war an diesem Ort – oder etwas Ungeheuerliches seine Gewalt demonstriert hatte. Einen Bruchteil davon wenigstens. Stille senkte sich hernieder; nur das Knistern des Geästs im Feuer lag noch über den Hügel. Niemand rührte sich, weil sie alle noch etwas wie den Nachhall der finsteren Macht auf sich lasten spürten, und das Gewicht erstickte jede Bewegung. Nur quälend langsam wich der Druck. Adelheid war die erste, die sich die Gewalt über den eigenen Körper zurückholte. Weil sie am drängendsten den Wunsch verspürte, die Folgen des Rituals mit eigenen Augen zu schauen. Weil sie wissen wollte, was mit ihrer Tochter geschehen war, ob alle Anstrengungen letztlich zu ihrem Wohl gereicht hatten. Mühsam und ächzend erhob Adelheid sich auf Hände und Knie. Als trüge sie zentnerschwere Steine auf dem Rücken, wandte sie sich in dieser Haltung um und kroch hin zu der Stelle, wo sie Kathalena niedergesetzt hatten. Das Feuer war erloschen, und so sah Adelheid nur einen dunklen Schatten dort liegen. Reglos – wie tot … Erst als sie unmittelbar neben ihrer nackten Tochter kauerte, sah sie deren Gesicht. Es war nach wie vor von der Krankheit gezeichnet – und andere Spuren hatten sich tiefer hineingegraben. Die des Todes … »Nein!« Adelheids Schrei fuhr wie ein Sturmheulen über den Hügel und verwehte in der Nacht. Doch er weckte auch die anderen aus ihrer Starre. Ebenso mühevoll kriechend wie sie kamen sie heran. »Was ist?« fragte einer.
»Hat unser Herr …?« begann ein anderer. »Sie ist tot«, sagte Moritz. Seine Stimme klang scheinbar teilnahmslos, nur darunter schwang etwas wie Trauer mit. Der junge Mann kniete neben dem Mädchen und erwiderte ihren starren Blick. Etwas darin zeugte davon, daß sie in den letzten Sekunden ihres Lebens Dinge geschaut hatte, die alle Pestqualen übertreffen mußten. Moritz wandte sich ab und gesellte sich zu den anderen, die sich um Adelheid geschart hatten. »Womöglich ist die Pest eine Geißel unseres Herrn, so daß er sie nicht von Befallenen nimmt«, übte sich einer im Versuch einer Erklärung. Moritz erkannte die Stimme im Dunkeln als die von Lorenz. »Vielleicht wäre Lena gar nicht als Lebende aus dem Ritual hervorgegangen. Vielleicht hätten wir sie zu einer wandelnden Toten gemacht«, meinte ein anderer. »Ihr Narren!« zischte Adelheid sie an. »Was wißt ihr von seiner Macht …« »Auch du scheinst nicht alles zu wissen«, fiel ihr ein Weib ins Wort. »Sonst wäre diese Sache hier wohl anders ausgegangen, nicht wahr?« »Sie gedeiht prächtig, die Macht unseres Herrn«, warf Moritz ein. »So gut schon, daß selbst unter uns schon Zwietracht herrscht.« »Wohl wahr«, sagte Lorenz, ein längst nicht mehr junger Mann, den der Gram über den Verlust von Weib und Kindern zu der Bande geführt hatte. »Die Wege des Herrn sind wunderbar …« Eine Weile entstand unheilvolles Schweigen zwischen ihnen, bis einer sagte: »Laßt uns den Leichnam verbrennen, bevor die Pest noch über uns alle kommt.« Wie in einer einzigen Bewegung wollte die Schar sich umwenden nach dem Mädchen – und wie von einem gemeinsamen Gedanken beherrscht verhielten sie inmitten der Bewegung.
Weil eine Stimme sie stoppte. Eine Stimme, die ihnen eisige Schauer bescherte. »Wo … bin ich?« Und dann: »Was ist geschehen?« Kathalena richtete sich mühsam und ungelenk auf. Wie eine Tote, in die neues Leben gefahren war.
* Der Vampir hatte alle Mühe, nicht laut aufzustöhnen. Um ein Haar hätte er sich verraten, als ihn der Odem der fremden Macht traf, die sich über das Lager des Gesindels gebreitet hatte und nur zögernd wieder verging. Miroc hatte exakt diesen Hauch noch in übler Erinnerung: Er nämlich war es gewesen, der ihn und seine Geschwister vor Jahren aus Prag vertrieben und die Stadt für sie zur »verbotenen Zone« gemacht lassen. Nur ungleich stärker war die Macht damals gewesen; vielleicht, weil sie selbst präsent gewesen war. Hier indes hatte nur ihr Odem gewirkt. Dennoch genügte es, daß Miroc sich unbehaglich fühlte. Mehr noch: Er spürte, wie diese Macht an seinen eigenen Kräften zehrte. Wenn er noch länger blieb, würde sie ihm Schwäche in die Glieder pflanzen, die zu vertreiben ihm große Mühe bereiten würde. Er hatte gesehen, was er hatte sehen wollen. Er wußte, daß die Bande dort tatsächlich unter einem finsteren Segen stand. Das reichte Miroc, um eigene Pläne zu fassen. Er würde dafür sorgen, daß man gegen die Buhlschaft dort anging. Wer und wie viele dabei auf der Strecke bleiben würden, kümmerte ihn nicht. Der Vampir wandte sich ab und sah den Hügel hinab, wo das Städtchen Helmbrechts in scheinbarem Frieden lag. Daß in jedem Haus Armut und Elend zu Gast waren, spürte er sehr wohl, doch was ging’s ihn an? Ein Plan nahm Gestalt an in seinen Gedanken. Einer, der ihm gut gefiel. Denn er würde doppelten Nutzen daraus ziehen:
Zum einen würden die armen Leutchen dort unten ihm (und seiner ganzen Rasse) ein übles Problem vom Halse schaffen; und zum anderen würde ihm selbst der Tisch reich mit Blut gedeckt werden. Ein flatternder Schatten stieg auf in die Nacht und wurde eins mit ihr. Doch erst als er sich ein Stück von dem Lager und dem, was noch darüber lag wie ein übler Hauch, entfernt hatte, waren Mirocs Schwingenschläge wieder von der gewohnten Leichtigkeit.
* »Laßt mich!« Adelheid und Moritz wichen erschrocken zurück unter Lenas Aufschrei. Das Mädchen selbst rutschte wie angstvoll in die andere Richtung, die noch immer kraftlosen Arme vorgestreckt, als müßte es sich unsichtbarer Feinde erwehren. Der Boden unter ihr war glasig hart geworden, nachdem die Blitze ihn schier zerschmolzen und die Nachtluft ihn wieder abgekühlt hatten. »Lena, mein Mädchen«, flüsterte Adelheid. »Was ist mit dir? Du mußt dich nicht fürchten, mein Kind. Es ist alles gut, jetzt, da du wieder … bei uns bist.« Sie bewegte sich vorsichtig auf ihre Tochter zu, die sie wie eine Fremde anstarrte. Schließlich ließ Lena es zu, daß Adelheid ihre erhobenen Arme behutsam herabdrückte und ihr voller Wärme ins Gesicht sah. »Du mußt Fürchterliches durchgemacht haben«, sagte Adelheid. »Aber es ist vorüber, glaub mir.« Lenas Lippen bebten, als wollten greuliche Erinnerungen sich mitteilen. Doch sie schien keine Worte dafür zu finden. Nur diese: »Es … war die … Hölle …« Adelheid nickte, während die anderen im Halbkreis hinter ihr kauerten. Doch die Ehrfurcht, die sie vor dem dunklen Wunder empfanden, lag fast zum Greifen um sie.
»Ich weiß«, bestätigte Adelheid lächelnd. »Unser Herr hat dir geholfen. Alle Mühe hat sich gelohnt, ihn anzurufen.« »Unser Herr …?« echote Lena. Irgend etwas war an ihrer Stimme, fand Adelheid, etwas Seltsames … wie ein fremder Ton. Sie vertrieb den Gedanken, als die Tochter weitersprach: »Wer ist … unser Herr …?« »Sie scheint die Erinnerung verloren zu haben.« Lorenz war es, der die Vermutung, die in ihnen allen dämmerte, flüsternd aussprach. Zustimmendes Murmeln antwortete ihm. »Es scheint so«, meinte Adelheid. »Die Macht, die sie heilte, wird sie noch zudecken. Wir müssen ihr Zeit lassen, all das zu verarbeiten. Sie mag sich fühlen wie ein Neugeborenes.« »Wovon redet ihr?« flüsterte Lena mit vagem Entsetzen in der Stimme. »Ganz ruhig«, sagte Adelheid. Dann gab sie den anderen einen Wink. »Helft mir, sie in den Wagen zu bringen. Sie soll ruhen. Im Schlaf mag sie wieder zu sich finden.« Moritz und Lorenz traten vor und halfen Lena auf die Beine. Während die anderen zurückblieben, führten sie das nackte Mädchen fort. Lenas Schritte waren zaghaft und wacklig, als traute sie ihren Beinen nicht zu, ihr Gewicht zu tragen. Schließlich hoben die beiden Männer sie in den Karren. Moritz kletterte ihr nach und bettete sie auf das Lager aus Stroh und Fetzen. Fast apathisch ließ Lena alles mit sich geschehen. Ihr Blick schien in weite Ferne gerichtet. Wo sie Dinge sah, die nichts mit diesem Leben zu tun hatten. Nicht einmal mit dieser Welt …
* Die düstere, stickige Gaststube des Straßenwirtshauses war besetzt bis hin zum letzten Platz. Trotzdem hätte man eine Nadel zu Boden
fallen hören können, so still war es. Das Schweigen lag über den Männern wie ein drückendes Gewicht, das ihnen selbst den Atem schwermachte. »Ein Gewitter war’s, sonst nichts.« Obwohl der alte Christian Voith nicht sonderlich laut gesprochen hatte, hallten seine Worte dumpf dröhnend in der niedrigen Stube. »Dann war’s aber eines, das uns den Weltuntergang schauen ließ«, meinte Gottlieb Müller. Wieder kehrte Stille ein. Ein jeder der Männer hatte noch das furchtbare Donnerdröhnen im Ohr, und hie und da warf einer einen sorgenvollen Blick zum Fenster hin, ob der Widerschein der Blitze auch wirklich verloschen war. »Narren.« Wie auf ein Kommando hin wandten sich alle Blicke jenem zu, der das eine Wort in die Runde gesprochen hatte. »Narren«, wiederholte Konrad Hoyer. »Was redest du da?« fragte Voith, sich unter dem finster drohenden Blick Hoyers ein wenig duckend. »Das weißt du so gut wie jeder hier«, erwiderte Hoyer, ein Mann von der Statur eines Bären und mit Kräften gesegnet, die denen des Tieres kaum nachstanden. Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Das war kein Gewitter. Es kann keinen Zweifel geben, wer das Spektakel heraufbeschworen hat.« Sein Blick ging zum Fenster hin, doch jeder wußte, daß er tatsächlich weiter hinaus sah, bis hinauf zum Kirchberg, wo seit Tagen die Ziegäuner lagerten. »Red du nur keinen Unsinn«, wandte Voith ein. »Das ist kein übles Gelichter da droben. Sind nur anders als wir, haben eine andere Art zu leben. Vielleicht gar keine üble, wenn ich mir die unsere so betrachte und anschaue, was sie uns eingetragen hat.« »Du versündigst dich!« donnerte Hoyer. Er war ein gottesfürchtiger Mann, und den Krieg und die Not, die er übers Land gebracht
hatte, sah er als Strafe des Herrn an, so wie er weiland die Menschheit in der Sintflut ersäuft hatte, als sie es gar zu bunt getrieben hatte. »Vielleicht haben sie dich am Ende gar schon verhext?« meinte Heinrich Meister, der selbst im Kriege gekämpft hatte und mit nur mehr einem Bein heimgekehrt war, zum Voith. Sein Gesicht war schmal und fahl, weil der Schmerz des Stumpfes ihn nimmer losließ. »Hüte deine Zunge!« fuhr Voith auf. »Sonst schneid’ ich sie dir aus dem Maul und werf sie hin, auf daß sie neben deinem Bein verfaule!« »Hört auf!« Johann Kleyla erhob sich von der Bank. Er war weder groß noch sonst in einer Weise beeindruckend von Gestalt oder Alter. Ein Jungspund war er – aber einer, auf dessen Wort man hörte, weil er es zu führen verstand wie kein anderer. Weswegen man ihn auch zum Bürgermeister erkoren hatte. Er wartete geduldig, aber mit energischem Blick, bis das Murren in der Runde sich gelegt hatte. »Seht ihr nicht, was sie längst schon angerichtet haben, ohne auch nur etwas zu tun oder zu sagen?« fragte er dann mit genau bemessenem beschwörenden Tonfall in der Stimme. »Ihr seid drauf und dran, euch einander an den Hals zu gehen – allein der Sache wegen, daß sie da oben lagern.« »So sind sie doch des Teufels«, sah Konrad Hoyer sich bestätigt durch Kleylas Worte. Doch der hob beschwichtigend die Hand. »Das habe ich nicht gesagt, Hoyer! Mir scheint vielmehr, als suchtet ihr etwas, woran ihr euch entzünden könnt, allein aus Wut über unsere Not.« »Und was ist mit dem Ungewetter, das grad dort droben war?« warf nun wieder Gottlieb Müller ein, der mit seiner Sicht der Dinge eher auf Hoyers Seite stand. »Das vermag ich nicht zu beurteilen«, gestand der Bürgermeister.
»Aber die Launen des Wetters sind oft nicht nachzuvollziehen. Solche Schauspiele der Natur mag es allerorten schon gegeben haben.« »Du bringst mich nicht ab von meiner Meinung«, erklärte Konrad Hoyer kategorisch. »Das Pack dort buhlt mit dem Gott-sei-bei-uns, und wir können nichts Klügeres tun, als es fortzujagen.« »Braten solltet ihr es auf dem Scheiterhaufen! Oder ans Rad flechten!« Augenblicklich verstummten alle in der Stube. Dem Schweigen, das sie ergriff, wohnte tiefes Entsetzen inne. Ein kalter Wind fuhr herein, als die Tür aufgerissen wurde und ein Kerl von undefinierbarem Alter, aber in einstmals gewiß edler Kleidung eintrat. Sein Gesicht war schmal und von ungesunder Blässe. Doch das war es nicht, was die Gäste im Wirtshaus verstummen ließ und Schrecken in ihnen wachrief. Wie gebannt starrten sie alle auf das, was der Fremde auf den Armen trug. Einen leblosen Körper. So bleich, als wäre kein Tropfen Blut mehr in ihm … Konrad Hoyer war der erste, der sich rührte. Er sprang auf, lief hin zu dem Fremden und fiel vor ihm in die Knie. Seine Hände krallten sich in die Kleidung des toten Jungen, den der andere hereingebracht hatte. »Adam!« »Herr im Himmel, es ist sein Sohn«, flüsterte einer kaum hörbar.
* Johann Kleyla trat vor. Er hatte Mühe, seine Stimme zu beherrschen. »Was …«, begann er zögernd und aller Mühe zum Trotz zitternd, »… was hat das zu bedeuten? Wer seid Ihr? Und was ist mit dem jungen Hoyer geschehen?« Zunächst ohne zu antworten, trat der Fremde vollends ein und legte seine schaurige Last auf einen der grob gezimmerten Tische
nieder. Erst dann wandte er sich an den jungen Bürgermeister. »Ich bin nicht mehr als ein Wandersmann. Den Jungen habe ich dort oben an eurem Berg gefunden – seines Blutes beraubt und den Hals gebrochen. Müßt ihr raten, wer’s ihm angetan hat?« »Ich hab’s euch gesagt!« schrie Hoyer auf. »Aber ihr wolltet nicht hören! Mein Sohn mußte eure Zweifel mit dem Leben büßen! Jetzt hält mich keiner mehr auf, ich schwör’s bei Gott, unserem Herrn!« Der riesenhafte Mann wollte schon zur Tür hinaus, als Kleyla einen Wink in die Runde tat. Eilends erhoben sich ein paar der Männer und stürzten Hoyer nach. Doch sie vermochten ihn kaum zu bändigen. Sechs von ihnen waren nötig, um ihn wenigstens zu halten. Beruhigen konnten sie ihn nicht. Derweil bat Johann Kleyla den Fremden, sich zu setzen. Den dargebotenen Krug Bier lehnte der andere ab. »Habt ihr denn gesehen, daß das fahrende Volk den Jungen …?« fragte Kleyla dann, mit Blick auf den Toten, dessen Kopf in unmöglichem Winkel zum Hals stand. »Freilich«, nickte der Fremde. »Ich suchte ein Lager für die Nacht und sah das Feuer, das dort droben brannte. So wollte ich fragen, ob das Volk dort mir einen Platz in ihrer Mitte gewähren würde. Doch ehe ich ganz dort war, sah ich, was sie trieben. Schauerliche Tänze führten sie auf, und was sie dem armen Jungen zuleide taten, war ganz und gar abscheulich.« Miroc schaffte es, ein Schaudern auf seine Haut zu zwingen. Der Gedanke an das wenig wohlschmeckende Blut aus dem mageren Leib des jungen Burschen half ihm, es überzeugend zu tun. »Achtlos warfen sie ihn hernach aus ihrem Lager, so daß ich ihn nehmen und zu euch bringen konnte. Ihr solltet erfahren, welches Übel in Eurer Nähe haust!« Inzwischen hatten die Männer den Hoyer wieder hereingeschleift, und sein Toben war zusammengeschmolzen zu einem Häuflein Trauer, der er sich heulend ergab. Der Anblick des so starken Man-
nes, der in diesen Augenblicken doch der schwächste von ihnen allen war, schnitt einem jeden tief ins Herz. Nur in eines Mannes Auge saß noch Mißtrauen. Kleyla sah den Fremden scharf an, und er erhob kaum die Stimme, als er ihn ansprach: »Wer sagt mir, daß ich Euch trauen kann und die Geschichte sich genauso zugetragen hat, wie Ihr sie erzählt? Immerhin – Ihr seid ein Fremder, Eurem Reden nach nicht einmal aus diesem unseren Lande. Vielleicht glaubt Ihr, Grund zu haben, das Volk dort oben auf dem Kirchberg anzuschwärzen?« »Es ist, wie ich’s Euch sage. Weil ich es Euch sage.« Der Blick des Fremden bohrte sich tief in Johann Kleylas Augen – und noch dahinter. Bis der junge Bürgermeister schließlich nickte – wider seinen niederbrennenden eigenen Willen. »Nun, dann wird’s so sein«, hörte er sich sagen. »Männer!« rief er dann in die Runde. »Ruft alle zusammen aus der Stadt, die sich ihrer Haut noch erwehren können. Sie sollen sich hier am Wirtshaus sammeln. Wir stürmen den Kirchberg und rächen den Tod von Hoyers Sohn. Und wir werden dafür Sorge tragen, daß kein einziger von uns sein fürchterliches Schicksal teilen muß!« Wie ein Mann erhoben sich alle, ihre Zustimmung lautstark kundtuend. »So gefällt mir das«, murmelte der Vampir. Doch seine Worte gingen unter in dem Rufen der anderen. Die Männer liefen hinaus und verteilten sich über die ganze Stadt, um alle zu wecken und herbeizuholen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Schreckensnachricht im Städtchen. Keiner war unter den Leuten, der nicht willens gewesen wäre, dem drohenden Grauen ein Ende zu setzen. Und sei es um den Preis, das eigene Leben dafür in die Waagschale zu werfen.
*
Adelheid schlief tief und fest. Was sie heraufbeschworen hatte im Ritual, hatte an ihren Kräften gezehrt, sie fast zur Gänze aufgefressen. Und so war sie, kaum daß sie in ihren Karren gestiegen war, auch schon eingeschlafen. Moritz indes wachte daneben am Lager Kathalenas. Auch er stand noch im Bann des Geschehenen, von dem weder er noch sonst jemand alles auch tatsächlich gesehen hatte. Aber dieses Geheimnis zu ergründen interessierte ihn brennend. Und er hoffte, das Mädchen, das seine Braut werden sollte, würde ihm mehr darüber erzählen können, wenn es die Ereignisse erst einmal überwunden hatte. Wer wußte schon, so sein Gedanke, wozu das Wissen um Lenas Genesung ihm nutzen konnte? Und so wollte er der erste sein, der es aus ihrem Mund erfuhr. Das Mädchen schlief nicht, aber es war auch nicht wirklich wach. Der Blick der dunkel umrandeten Augen war leer und wie von Trübnis überzogen. Darunter jedoch, so mutmaßte der junge Bursche, der nur das Gesicht mit einem Engel gemein hatte, mußten die Antworten auf alle seine Fragen liegen. Vielleicht, überlegte er, gab es ja einen Weg, daran zu rühren und sie heraufzuzwingen. Wenn er Lena etwas tat, was ihr in guter Erinnerung war aus jener Zeit, da sie noch gesund und voll von überschäumender Leidenschaft gewesen war … Moritzens Finger strichen sanft über ihre Wangen. Sie schienen ihm noch immer kalt wie die einer Toten. Womöglich, dachte er, ist sie gar nicht gänzlich zurückgekehrt aus dem Reich des Schnitters … Aber immerhin machte er eine Regung in ihrem blassen Gesicht aus als Reaktion auf seine Berührung. Doch es war nichts von der Lust darin zu erkennen, die seine Hände früher in ihr entfacht hatten. Eher schon das Gegenteil … Dennoch hielt er nicht inne. Jede Regung ihrerseits war ihm willkommen, bedeutete sie doch, daß Leben in ihr war. Er streifte das Leinen von ihr, ließ erst seine Blicke, dann seine Fin-
ger über ihre Blöße wandern. Mager war das Mädchen geworden durch die Krankheit, fast dürr. Doch in Moritzens Erinnerung erhielt ihr Leib die sündige Schönheit von früher zurück. Trotzdem Lena jung an Jahren war, waren ihre Formen schon üppig gewesen wie die eines reifen Weibes. Während er ihre schlaff gewordenen Brüste walkte, dachte er an die schwellenden Hügel, die sie vormals gewesen waren. Die Haut ihres Bauches bedeckte er mit Küssen, während seine Hand tiefer glitt, wo er die einstmalige Wärme ihres Schoßes vermißte. Kühle Feuchte war dort nurmehr zu ertasten, und einen Moment lang ekelte den Jungen beinahe davor. Dann aber zwang er sich, an die früheren Gegebenheiten zu denken, mit aller Macht, und daran, was er zu erfahren hoffte, wenn er erst einmal das Feuer in Lena neu geschürt hatte. Er spürte, wie sein Glied sich regte. Eilends streifte er die Hose bis zu den Knien hinab. Dann drängte er sich zwischen Lenas Schenkel. Sein Pfahl schwoll nicht zu gewohnter Größe an, aber sie würde genügen. Er lächelte, während er sich mit der Hand behalf, in Lena einzudringen. Dann verfiel er in hastige Stöße, als müßte er die Gunst der Minute nutzen. Dabei ließ er das fahle Gesicht des Mädchens nicht außer acht, darauf bedacht, jede Regung darin wahrzunehmen und zu deuten. Und in der Tat trat eine Veränderung in ihre Züge. Sie verzerrten sich wie unter Schmerzen und – vor Ekel. Ihre Lippen zitterten in tonlosem Flüstern. Erst nach einer Weile wurden ihre Worte verständlich. »Nein …«, wisperte sie. »Nein … nicht … bitte nicht …« Und dann vernahm Moritz zwei Worte von ihr, die ihm völlig fremd waren Sie klangen wie … Hidn Mun …? Der junge Bursche kam nicht dazu, weiter darüber nachzusinnen. Denn kaum hatte er die seltsamen Worte gehört, als sich die Ereig-
nisse auch schon überschlugen! Die Plane des Wagens wurde aufgerissen! Flackernder Lichtschein fiel ins Innere des Karrenaufbaus, und mit ihm drangen durcheinander rufende Stimmen zu Moritz vor. Schatten verdunkelten die einfallende Helligkeit. Dann fühlte der junge Mann sich auch schon von Fäusten gepackt und von Lena herabgezerrt. »Seht euch diese Teufelei an!« Die Männerstimme quoll schier über vor Ekel und Entsetzen. »Diese Brut treibt es gar mit Leichen!« schrie ein anderer der Eindringlinge auf. »Moment! Das junge Ding rührt sich noch, es ist nicht tot!« »Dann nehmt das Mädchen mit! Keiner von denen soll seiner Strafe entgehen. Ausmerzen wollen wir die verdammte Bande mit Stumpf und Stiel!« donnerte Konrad Hoyer haßerfüllt. So wurde auch Lena ergriffen und mit Moritz und ihrer Mutter aus dem Karren gezerrt. Doch während die beiden sich zeternd und mit Gewalt zur Wehr setzten, ließ das Mädchen alles über sich ergehen. Mit angstvollem Blick zwar, aber ohne etwas gegen die grobe Behandlung zu tun. Als wüßte sie nicht einmal, wie es zu tun wäre. »Verflucht!« brüllte es an ihrem Ohr. »Das Ding hat die Pest im Leib!« »Nicht mehr lange! Das Feuer wird sie ihr schon austreiben!« Der Lagerplatz auf dem Hügel über der Stadt wimmelte von umherrennenden Menschen, und das Feuer von Fackeln schuf zusätzlich die Illusion von Bewegung. Schreie, wütende und schmerzvolle, mengten sich zu einem infernalischen Chor, in den die brüllenden Zugtiere der Ziegäuner noch einfielen. Fast schien es, als hätte sich die Hölle selbst einen Spalt weit aufgetan, um einen Abglanz dessen herauszulassen, was in ihrer Tiefe vor sich ging. Das Mädchen sah allerlei seltsame Gerätschaften durch die Luft sausen und auf die Männer und Frauen ihres Völkchens einprügeln.
Schreiend und fluchend brachen sie unter den Hieben von Dreschflegeln und Forken nieder. Gegen die Übermacht der aufgebrachten Meute, die wie eine Kriegshorde in das Lager eingefallen war, hatten sie nicht den Hauch einer Chance. Dennoch verging eine lange Weile, ehe etwas wie Ruhe einkehrte auf dem Hügel. Die aufgebrachten Männer und Frauen scharten sich zu einem Kreis, in dessen Mitte sie das fahrende Volk geschleift hatten. Ein paar von ihnen lagen blutend da, schon wie tot, anderen waren Arme oder Beine auf brutale Art verdreht worden, so daß sie nicht mehr fliehen konnten. Doch in keinem Blick war wirkliche Angst; selbst den Schmerz schienen sie zu verdrängen. Der aufgebrachten Menge schlug nur eisiger Haß entgegen, einer spürbaren Woge gleich, und darin verbarg sich ein Gefühl, das noch hundertfach übler war. Ihre Wut konnte dieser Haß indes nicht kühlen. Im Gegenteil schien er sie noch anzufachen. Denn sie erwiderten die Blicke ihrer Gefangenen mit verzerrten Gesichtern, die kaum noch Menschliches an sich hatten. Im Grunde standen sie denen, die sie niedergeknüppelt hatten, kaum nach in diesen Momenten. Lena wurde von Konrad Hoyer und Gottlieb Müller als letzte auf den Haufen von Leibern gestoßen. Zwischen ihrer Mutter und Moritz kam sie zu liegen. Mit stierem Blick beobachtete sie, was weiter geschah – als ginge sie all dies nichts an … Ein junger, unscheinbarer Mann trat aus der Menge und stellte sich zwischen seine Leute und die Gefangenen. »Ihr wißt, weshalb wir gekommen sind!« rief Johann Kleyla dem Gesindel zu. Natürlich erwartete er keine Antwort. Seine Worte waren nur eine Feststellung. »Ihr habt einen der unseren ermordet, und sein Leben soll mit eurem Tod gesühnt werden. Ihr habt euch selbst zuzuschreiben, was mit euch geschieht. Wäret ihr weitergezogen, ohne euren Fluch über uns zu bringen, so wäre euch das schlimmste aller Schicksale erspart
geblieben.« Kleyla setzte eine wohlbemessene Pause. Dann fuhr er fort: »So aber habt ihr uns zu euren Richtern erkoren. Und das Urteil kann nur euer aller Tod sein. Wir sind keine Henker in unserer Stadt, aber wir tun, was getan werden muß. Möge der Allmächtige uns vergeben. Aber wir tun es auch, um andere, die ihr nach uns heimgesucht hättet, zu schützen. Euer teuflisches Treiben wird ein Ende finden – hier und heute!« »So sei es«, kam es dumpf aus der Menge, und: »Im Namen des Herrn …« »Redet nicht länger!« schallte Konrad Hoyers Ruf über den Hügel. »Laßt uns diese Brut endlich ausmerzen! Wer weiß, welcher Hexerei sie noch fähig sind! Ins Feuer mit ihnen, ehe Satan selbst ihnen noch zur Hilfe eilt!« Zustimmende Rufe antworteten ihm. »Gut«, sagte Johann Kleyla, »bereitet die Scheiterhaufen!« Ein Teil der Männer blieb zurück, um die Gefangenen zu bewachen, während die anderen in die Nacht hinauseilten und im Licht der Fackeln Holz zusammentrugen und zum Lagerplatz brachten. Bald schon wuchs das Material zu einem beeindruckenden Haufen. Derweil klangen Axthiebe durch die Nacht, als andere Männer Bäume fällten und sie zu Pfählen zurechtschlugen. In der Mitte des Wagenkreises wurden sie dann ins Erdreich eingegraben. Die Gefangenen blieben indes nicht still. Adelheid war die erste, die ihre Stimme erhob. Nach und nach fielen andere mit ein in ihre abartigen Gebete, in denen sie den Beistand des Tiergeborenen erflehten. Die Hiebe ihrer Wächter vermochten sie stets nur für Minuten zum Schweigen bringen. Als der Ort der Hinrichtung schließlich bereitet war, kroch im Osten schon der neue Tag heran. »Laßt sie brennen, solange es noch dunkel ist!« brüllte Konrad Hoyer, der den ärgsten Haß auf die Bande hegte. »Ihr Tod soll ein
Fanal sein, weithin sichtbar und eine Warnung all jenen, die auf teuflischen Pfaden wandeln!« Wieder fanden seine Worte Zustimmung. Keiner ließ es sich nehmen, mit anzupacken, als die Gefangenen zu den Pfählen geschleppt und angebunden wurden. Dann wurde das Holz um jeden einzelnen Pfahl aufgeschichtet, daß es den Delinquenten bis zu den Hüften reichte. Wieder war Kathalena die letzte, die von den Männern gepackt und fortgeschleift wurde. »Fast sollte man dieses Mädchen lieber an der Pest verrecken lassen«, meinte einer. »Wäre sicher qualvoller«, antwortete ein anderer. »Aber sei’s drum. Bind sie fest!« Willenlos ließ das Mädchen alles mit sich geschehen. Und wenig später gab Johann Kleyla den Befehl: »Legt Feuer!«
* Ein gutes Stück entfernt lehnte eine schattenlose Gestalt an einem Baum. Ein abseitiges Lächeln umspielte ihre blassen Lippen. Miroc genoß das Schauspiel, das allein für ihn inszeniert wurde. Es beinhaltete all das, was sein dunkles Herz stärker schlagen und ihm das kalte Blut schneller durchs Aderwerk kriechen ließ: Gewalt, Angst und Schrecken – und im letzten Akt schließlich Tod. Sein Plan war wunderbar aufgegangen. Es hatte weniger Mühe bedurft, als er zu investieren bereit gewesen wäre. Denn wenn die Städter nicht gleich auf seine Vorwürfe angesprungen wären, hätte es ihm nichts ausgemacht, ihnen noch ein paar Leichen »abzuliefern«, an deren Blut er sich vorher selbst gütlich getan hätte. Aber auch so war ihm der Verlauf der Dinge recht. Je schneller diese »Jünger« jener fremden Macht, der die Alte Rasse nichts entge-
genzusetzen hatte, den Tod fanden, desto besser war es für sein Volk. Der Ruf des Bürgermeisters war Musik in Mirocs Ohren. »Legt Feuer!« Das Knistern des Fackelfeuers, mit dem es sich gierig in die aufgeschichteten Reisighaufen fraß, klang bis zu ihm herüber. Flammen loderten auf, und bald schon waren die Leiber an den Pfählen nurmehr dunkle Schatten in ihrem Schein. Als das Feuer ihre Haut verbrannte, riefen sie noch nach ihrem finsteren Herrn. Doch das Vertrauen in ihn schwand, als die Flammen in ihr Fleisch bissen. Da war es nur noch Schmerz, der sie brüllen ließ! »Was für ein Schauspiel …«, murmelte Miroc. »Es …« Alles weitere erstickte ihm im Hals, als er sah, was dort drüben bei den Scheiterhaufen geschah! Es war ungeheuerlich! Und es war – eine Verhöhnung der Alten Rasse selbst!
* Ein Aufschrei ging durch die Menge. Entsetzen und Schlimmeres wuchs in jedem einzelnen der Männer und Frauen mit nie gekannter Rasanz empor. Nicht die ärgsten Kriegsgreuel hatten solches Empfinden in ihnen schüren können. »Das Pestmädchen …!« »Das kann nicht sein!« »Was geschieht mit ihr?« »Der Teufel selbst holt sie sich!« Das Wehbrüllen der anderen, die in den Scheiterhaufen verbrannten, ließ nicht nach. Keiner von ihnen bekam mit, was mit Kathalena geschah – oder wozu sie mit einemmal fähig war! Auch sie schrie, aber sie tat es auf andere Weise. Als wären es
nicht die Flammen, die ihr im Schmerz zusetzten, sondern das, was ihren Körper – veränderte! Eine Kraft schien wie aus dem Nichts danach zu greifen und ihn umzuformen. Binnen weniger Augenblicke verlor er den allergrößten Teil seiner menschlichen Kontur, verwandelte sich hin zu etwas Animalischem! Und doch erreichte er auch diese Gestalt nicht vollends, als wäre die Grenze des Machbaren erreicht, bevor Fleisch und Knochen solchermaßen umgewandelt werden konnten, daß sie sich zur Gänze in eine neue Hülle zwängen ließen. Dennoch genügte das Maß, in dem es geschah. Das Mädchen schrumpfte in der Verwandlung. Und rutschte förmlich aus seinen Fesseln. Für einen Moment schien es, als versinke es in den Flammen. Doch dann wurde alles bisher schon Geschehene noch übertroffen! Ein Ding stieg aus dem Feuer auf – weder Mensch noch Tier, aber mit Flügeln, die stark genug waren, die Kreatur zu tragen! »Das ist der Leibhaftige selbst!« So und ähnlich gellte es panisch aus der Menge, über die sich das Wesen aufschwang. Immer höher stieg es himmelwärts, immer hastiger wurden seine ungelenken Flügelschläge, nicht nur getrieben von Kraft, sondern von einer Angst, die in der Kreatur selbst erwuchs – vor sich selbst!
* Lena floh. Sie floh vor der Meute, die nach ihrem Leben gegiert hatte; und sie floh vor dem, was in ihr war und sie auf so grauenvoll schmerzende Weise verändert – und doch auch gerettet hatte. Das Fremde hatte die Kontrolle über ihr Tun und Denken an sich gerissen, als der Tod schon unausweichlich schien. Und nun wollte es sie nicht loslassen, bis sie der Gefahr entronnen war.
Ledrige Schwingen trieben ihren unförmigen und in dieser Gestalt schmerzenden Leib durch die schwindende Nacht. Immer weiter in die der aufgehenden Sonne entgegengesetzte Richtung, als könnte die dorthin zurückgekrochene Dunkelheit ihr zusätzlichen Schutz zu der bloßen Entfernung bieten. Doch der Flug fand ein plötzliches Ende. Als etwas in der Luft sich mit ohrenbetäubendem Kreischen auf sie stürzte und sie mit sich im Sturzflug zu Boden riß!
* Miroc hatte eine Weile gebraucht, um sein Entsetzen zu überwinden. Dann aber, als die Kreatur dort drüben schon aus dem Feuer aufgestiegen war, hatte er sich selbst verwandelt und sich in Fledermausgestalt auf die Jagd nach dem fremdartigen Wesen gemacht, das so fremdartig nicht war, sondern mehr … beunruhigend vertraut … Schließlich hatte er das Ding erwischt. Im Flug hatte er es angegriffen, aus der Bahn geworfen, und die Unsicherheit im Umgang mit der eigenen Gestalt hatte die andere Kreatur schließlich abstürzen lassen. Noch im Fall hatte sie sich zurückverwandelt und wieder menschliche Form erlangt. Schwer war das nackte Mädchen unten aufgeschlagen, und nun lag es ohne Bewußtsein zu Mirocs Füßen. Der Vampir übte sich in Geduld, obwohl ihm die Fragen nur so auf der Zunge brannten. Jetzt, da sie besinnungslos war, fruchteten seine Versuche, in ihren Geist zu tauchen, wenig. Es war, als berührte er etwas Totes, aus dem sich keine Erkenntnis schöpfen ließ. Dennoch spürte er eine vage Verwandtschaft. Was ihn nicht im mindestens beruhigte … »Wo … bin …?« Die Worte waren kaum zu verstehen. Dennoch stöhnte Miroc erleichtert: »Na endlich!«
* Lena fuhr schreiend auf, als die Erinnerung in ihr hochspülte. Sie spürte darin nahen Tod, grausame Schmerzen – und Dinge, für die sie keine Namen fand. Obschon sie da waren, diese Namen – wie in einem zweiten Bewußtsein, auf das ihr der Zugriff verwehrt war. »Was …«, flüsterte sie erschrocken über diesen Gedanken, »was … ist nur mit mir?« »Das wüßte ich auch gern.« Erst jetzt wurde sie des Fremden gewahr, der ihr gegenüber hockte. Blaß und hager war sein Gesicht, als wäre er durch einen ganz eigenen Krieg gegangen. »Wer bist du?« fragte Lena. »Und wie komme ich hierher? Ich …« »Gemach, gemach«, erwiderte Miroc. »Erst erzählst du mir, wer du bist. Danach … nun, wir werden sehen.« Seine Zunge kroch ihm wie ein sterbender Wurm über die schmalen Lippen. »Ich … weiß es nicht«, hörte Lena sich sagen. »Dann werde ich deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen«, erbot sich der andere. Seine kalte Hand legte sich um ihr Kinn und zog ihr Gesicht in seine Blickrichtung. In seinen Augen erstarrte der Glanz, wurde zu etwas Eisigem, das den Kerker dieser Augen unsichtbar verließ und zu Lena kam, geheimnisvolle Pfade nutzend. Sie fühlte sich von jener Kälte berührt und spürte, daß sie sich wie Reif über ihre eigenen Augen legte … Hastig blinzelte sie, um das widerwärtige Gefühl auszulöschen. Als sie wieder zu dem Fremden hinsah, entdeckte sie ein Staunen in seinem Blick, das an Erschrecken grenzte. »Du bist gefeit gegen meinen Einfluß«, entfuhr es Miroc, als seine geistige Knute nicht verfing bei dem Mädchen. In der nächsten Sekunde schlug sein Unglauben in Entsetzen um! Als das Pestmädchen sich von neuem veränderte!
Nicht in eine fliegende Kreatur diesmal – – sondern in eine blutdürstende Bestie!
* Lena fühlte sich erneut aller Gewalt über ihren Leib beraubt! Eine andere Kraft riß mühelos die Kontrolle an sich und tat mit ihm, was sie wollte. Sie verformte ihn, konstruierte ihn neu und schuf eine Kreatur daraus, der nur ein Zweck bestimmt sein konnte. Zu töten! Auch der Fremde ihr gegenüber, so erkannte Lena durch Augen, die nurmehr Fenster aus einem Kerker waren, veränderte sich – offenbar ähnlich wie sie selbst. Aber er war zu langsam. Vielleicht fehlte ihm die Zeitspanne, die ihn die Schrecksekunde gekostet hatte. Vielleicht war er ihr auch nur schlicht nicht gewachsen … Als Bestie kam Lena über ihn. Ihre zu Klauen verformten Hände schlugen in seinen Leib. Knochen brachen unter ihrer Gewalt, schwarzes Blut benetzte kalt ihre glühende Fratze. Seine Gegenwehr war kaum der Rede wert, geschweige denn konnte er sich wirksam gegen die Attacken schützen. Bevor ihm alles Blut aus den Wunden fließen konnte, packte das Monstrum sein Haar und bog ihm den Kopf zurück. Lenas eigener stieß nieder, mit weit geöffnetem Maul. Ihre Lippen preßten sich auf seine Haut, die Kiefer fuhren zu – – und nichts geschah! Ihre Zähne drangen nicht durch die Haut des anderen. Weil sie stumpf geblieben waren, als einziges nicht der Metamorphose des Leibes anheimgefallen waren. Lena schrie vor Enttäuschung auf, ohne zu wissen, weshalb. Sie spürte nur einen Durst nach dem, was ihr verwehrt wurde, obgleich
ihr vor dem Gedanken, es zu trinken, ekelte. Etwas anderes schien ihre Hand zu lenken, als sie sich ein wenig erhob und eine Klaue auf jene Stelle setzte, in die sie eben ihre Zähne hatte schlagen wollen. Das dunkle Horn der Kralle bohrte sich in die Schlagader des anderen. Und dann stürzte sich Lena mit fremder Gier auf den schwarzen Strom, der zäh und dunkel daraus hervorquoll! Würgend und stöhnend vor Ekel schlürfte sie das Blut aus der Ader – und spürte doch sogleich die wohlige Wärme in ihren Eingeweiden, als es ihre Kehle durchflossen hatte. Ihr Körper schien jeden Tropfen davon zu begrüßen. Lena konnte spüren, wie er sich straffte und die Spuren des vergangenen Darbens tilgte. Nicht zur Gänze zwar, aber doch in einem Maße, das an ein Wunder gemahnte. Als sie die Ader trockengelegt hatte, richtete sie sich auf. Wie ohne ihr Zutun legten sich ihre Hände um den Schädel des leergetrunkenen Fremden und drehten ihm das Gesicht mit einem Ruck in den Nacken. Die Gestalt des Toten veränderte sich unter ihren erschrockenen Blicken. Haut und Heisch wurden zu Staub und Asche, ohne die Form des Leibes gleich aufzugeben. Nach einer Weile wirkte das Gesicht wie aus Sand modelliert. Eine aus dem Nichts kommende Brise löste die Züge schließlich auf und wehte die Überreste fort. »Was habe ich getan?« entfuhr es ihr flüsternd. Das Richtige, wisperte es plötzlich in ihr. Lena fuhr erschrocken zusammen. Es war eine fremde Stimme, die ihr geantwortet hatte. »Ich habe einen … Vampir getötet«, sagte sie nach einer Weile, in der die Stimme schwieg. Glücklicherweise, antwortete es ihr zufrieden. Also hatte sie sich nicht getäuscht. »Wer … bist du?« Wir werden uns noch kennenlernen. Laß uns gehen. »Wohin?«
Unserer Bestimmung folgen. »Bestimmung? Welcher Bestimmung?« Tod allen Vampiren!
* In den Chroniken der Stadt Helmbrechts steht zu keiner Zeit eine Hinrichtung verzeichnet. Denn die Ereignisse jener Nacht wurden irgendwann gelöscht aus ihrer Geschichte. Die Seiten, auf denen die Ereignisse jener Zeit schriftlich niedergelegt wurden, verschwanden aus den Büchern. Herausgerissen von unbekannter Hand, wie heute noch zu sehen ist. Dennoch wurden die Dinge jener Nacht weitergetragen von Generation zu Generation, mündlich, bis in die Gegenwart. In der Überlieferung jedoch wurden sie verklärt, und schon bald nach jener Nacht galten sie nur mehr als Sage. Geblieben ist die Legende über das »Pestmädchen zu Helmbrechts«. Obgleich niemand es nach jener Nacht mehr gesehen hatte. Zumindest nicht in dieser Gegend …
* Epilog Und wenn jemand nicht gefunden wurde geschrieben in dem Buch des Lebens, der wurde geworfen in den feurigen Pfuhl. Offenbarung, Kap 20, Vers 15 Ewiges Feuer war der Boden dieses Reiches und endloses Wehkla-
gen das Leben in ihm. Und doch waren nicht alle, die hier existierten, Verdammte in Tod und Leid. Für jene anderen kannten die Menschen zu jeder Zeit eine Vielzahl von Namen. Und sie gaben ihnen tausend Gesichter und Gestalten. Aber nicht eines dieser Gesichter und keine der Gestalten kam der Wahrheit auch nur nahe. Denn keines Menschen Auge hatte sie je wirklich geschaut. Und wäre es geschehen, so hätte dieser Mensch hernach niemandem mehr davon berichten können. Weil sein Geist in Trümmer gegangen wäre. Immerwährendes Sterben und Wahnsinn in einem mußte ihr Anblick all jenen bringen, die an diesen Ort gelangten, ohne zur Verdammnis verurteilt zu sein. Allen anderen, die ihre Schuld hierhergebracht hatte, blieben sie unsichtbar, weil Schmerz und Leiden sie blind und taub machten für alles, was nicht ihrer ureigensten Qual entsprang. Trotzdem erfüllten jene Wesen einen Zweck, denn nichts war ohne furchtbaren Sinn in diesem Reich. Sie krochen und wanden sich aus feurigen Pfuhlen und Klüften, strebten einem Ort zu, den ein Kreis markierte. Aus Steinen, die längst nicht mehr hell und leuchtend waren, sondern zu schwarzer Schlacke verbrannt waren. Die Flammen griffen nicht über die dunkle Linie, und so war unversehrt geblieben, was sich inmitten des Kreises befand. Zwei Körper. Zwei Wesen, die – obwohl sie voller Schuld waren – nicht das Urteil der Verdammnis ereilt hatte, noch nicht … Entgegen dem Gesetz waren sie in das Reich gelangt. Und hatten es wieder verlassen müssen. Ihre Leiber waren zurückgeblieben, Toten gleich. Sie lagen innerhalb jenes Kreises. Die Kreaturen aus den Pfuhlen und Klüften kamen zu ihnen und über sie, als wollten sie sich von dem leblosen Fleisch nähren. Doch
so geschah es nicht. Sie nahmen die Leiber auf – einer schön und von edler Blässe, mit einer schwarzen Schicht überzogen wie von lebendem Stoff, der andere sehnig und das Gesicht von einer kreuzförmigen Narbe entstellt – und schleiften sie fort. Kaum hatten sie den Kreis verlassen, als das Feuer auch schon über seine Grenze trat und ihn verzehrte wie alles andere ringsum. Die beiden Körper wurden weit fortgebracht, durch flammende Schlünde und Seen aus purer Glut, bis hin zu einem Ort, den das Feuer nicht erobert hatte. Hier erhob sich ein Block aus schwärzestem Fels, einem monolithischen Altar gleich, der aus einer toten Welt geschlagen war. Darauf betteten die Kreaturen die beiden Leiber. Wie ein liebendes Paar, das erst der Tod hatte vereinen können, ruhten sie Seite an Seite. Lilith und Landru … In einem Reich, in dem Liebe nur Haß war. ENDE
Jäger und Opfer Leserstory von Andreas Gröger »Du wirst sterben, Bestie!« Die Lippen des Jägers verzogen sich zu einem Grinsen, das, so hoffte er, spöttisch und überlegen wirkte, und er bot seine gesamte Willenskraft auf, die Furcht tief in seinem Innersten zu verbergen, wo sie in seinen Eingeweiden wütete wie ein wildes Tier. Und je stärker dieses Tier danach drängte, die Freiheit zu erlangen, desto mehr zitterten seine Hände, die den Pflock hielten. Der Pflock und das Licht, wiederholte die Stimme in seinem Kopf immer wieder, als ob sie ein Mantra beten würde. Der Pflock und das Licht sind deine Verbündeten gegen diese obszöne Ausgeburt der Dunkelheit! Und diese Stimme war es, die das Tier in ihm beruhigte, es zähmte und in einen unruhigen Schlaf fallen ließ. Entschlossen trat er einen Schritt nach vorn und musterte die Gestalt erneut, die sich vor ihm in eine Ecke des Schuppens drückte, zitternd und sich hektisch nach allen Seiten nach einer Fluchtmöglichkeit umblickend. Das Licht fiel durch die vielen Spalten und Risse in den Holzwänden des baufälligen Gebäudes in tausend Strahlen gefächert in den Raum und ermöglichte es dem Jäger, sein Opfer zu betrachten. Eigentlich, so fand er, sah der Vampir ganz normal aus, und wären sie sich zufällig auf der Straße begegnet, so hätte er wohl gar keine Notiz von dem Wesen genommen, das er nun zu töten beabsichtigte. Aber gerade das war ja das Teuflische an diesen Kreaturen: Unbemerkt existierten sie neben den Menschen, nährten sich von ihnen, töteten sie ohne Gnade. Nein, kein Zweifel! Sie mußten ausgelöscht werden! ALLE! Und so
hob er den Pflock und tat einen weiteren Schritt. Todesangst überfiel den Vampir, verzerrte seine Züge, ließ seinen Körper erzittern, als er seine Hände flehentlich vorstreckte, seinem Henker entgegen. »Warte!« Seine Stimme, die so viele Menschen lachend in den Tod begleitet hatte, war weinerlich, als er versuchte, um sein erbärmliches, unnatürliches Leben zu betteln. »Was willst du noch? Du kannst deinem Schicksal ohnehin nicht entkommen!« Der Jäger war es leid, noch länger zu warten. »Ich weiß.« Der Vampir kauerte sich noch tiefer in die Schatten in dem vergeblichen Versuch, dem Licht zu entrinnen. »Ich möchte nur wissen, warum du meine Art tötest!« »Warum?« Nun war der Jäger in seinem Element. »Du wagst es wirklich, das zu fragen?« Er schüttelte den Kopf, bevor er weitersprach. »Ich will es dir sagen: Ihr seid es, die uns töten! Ihr lebt unter uns! Ihr tut so, als wäret ihr unsereins, und doch sind wir nichts weiter als Nahrung für euch!« Der Vampir schien zu überlegen, dann nickte er. »Ja, das stimmt.« Die Augen des Jägers weiteten sich ungläubig. »Du gibst es zu?« »Natürlich! Du hast recht mit dem, was du sagst, und warum sollte ich es abstreiten?« Der Vampir nahm die Hände herunter, als er fortfuhr: »Es ist unsere Natur, das zu tun, unsere Bestimmung, wenn du so willst. Wir wurden so geboren.« »Ihr werdet … geboren?« Diese Behauptung verwirrte den Jäger sichtlich, und der Vampir gestattete sich ein kleines Lächeln. »Siehst du; das ist euer Problem! Ihr wißt so wenig, und ihr tut den Teufel, mehr über uns herauszufinden als eine Methode, wie ihr uns töten könnt. Aber so seid ihr Menschen. ›Macht euch die Erde Untertan!‹« Der Jäger wollte widersprechen, doch er wurde unterbrochen. »Ihr habt es schon immer prächtig verstanden, euch alles so zurechtzulegen, wie es euch am besten paßt. Ihr seid nicht so stark, wie
ihr denkt. Ihr habt nur mehr Angst als alle anderen, weil ihr tief in euch um eure Schwäche wißt. Und deswegen vernichtet ihr alles, was auch nur den leisesten Eindruck erweckt, es könnte euch euren Thron streitig machen.« Er machte eine kurze Pause, in der er sich vom Boden erhob. »Ja, ich weiß! Keiner gibt gern den Platz an der Spitze der Nahrungskette auf! Aber es ist nicht die Stärke, die euch treibt, sondern eure Paranoia! Ihr erdreistet euch, Richter sein zu wollen über alles, was neben euch existiert, was nur leben will!« Der Vampir trat auf den Jäger zu, der stumm und bis ins Innerste erschüttert seinen Worten lauschte. »Die Natur gab euch eine Chance, und die habt ihr vertan! Und jetzt stellt ihr euch der Evolution in den Weg, verwehrt ihr die Möglichkeit hin zu etwas Neuem!« Die letzten Worte spie der Vampir dem völlig konsternierten Jäger förmlich ins Gesicht. »Ihr seid so blind …« Mit einer blitzschnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung packte der Vampir den Kopf des Jägers und brach das Genick mit einem einzigen, knirschenden Ruck! Eine Weile hielt er den zuckenden Körper in seinen Armen, bevor er ihn fast sanft auf den staubigen Boden bettete. Sachte strich er eine Haarsträhne aus dem Gesicht des Sterbenden und blickte nachdenklich in die Augen, aus denen flackernd das Leben erlosch. »… und so einfältig!« Dann schloß er die Augen des Toten, klopfte sich sorgfältig den Staub von der Kleidung, und ein leises Lachen stahl sich über seine Lippen, als wolle es den Tod verhöhnen. »Kaum zu glauben. Das funktioniert doch immer wieder …« Als er die Tür öffnete, sich seine Sonnenbrille aufsetzte und ins helle Licht des Tages trat, blieb der Raum hinter ihm still zurück, nur erfüllt vom Tod und der Ahnung eines Lachens. © Andreas Gröger, Rosenweg 5, 35582 Wetzlar
Diebin der Zeit von Adrian Doyle Sie kam nach Prag, im Jahre des Herrn 1618, als ganz Europa an der Schwelle zu einem verheerenden Krieg stand. Sie tauchte auf aus dem Nichts, bar jeder Erinnerung an ihr früheres Leben. Sie säte den Haß. Und sie brachte den Tod. Die Menschen, die ihr begegneten, alterten in Minuten um Jahre, verloren all ihre Lebenskraft, bis die Unbekannte gesättigt war. Sie begegnete dem Bösen, das reiche Ernte hielt in jener Epoche. Sie stand ihm selbst gegenüber – und überlebte. Denn das Wesen, das die Menschen »Satanas« nannten, verschont jene, die das Verderben in die Welt tragen. So ging sie ihren Weg, der Tod und Leid und Verdammnis hieß. Bis sie auf einen Mann traf, der eine entscheidende Rolle gespielt hatte in ihrem früheren, vergessenen Leben. Ein Geschöpf der Nacht. Ein mächtiger Vampir mit Namen Landru …