Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #02
Jan und die Juwelendiebe
Diesmal hat es der Kommissar mit großen Juwe...
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Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #02
Jan und die Juwelendiebe
Diesmal hat es der Kommissar mit großen Juwelendiebstählen zu tun, die das ganze Land in Atem halten. Durch logisches Denken und planmäßiges Vorgehen gelingt es Jan, den Dieben auf die Spur zu kommen. Dabei wird er von seinem Freunde, dem dicken, eßlustigen Erling unterstützt, der über viel Humor verfügt und seine Unsportlichkeit durch die in der Schule erworbenen Kenntnisse ausgleicht. Albert Müller Verlag, AG., Rüschlikon-Zürich Dritte Auflage, siebentes bis zehntes Tausend
E-Book not for sale!!!
Buch Hier wird der Jugend, die sich für Detektivgeschichten interessiert, wieder ein Werk aus der Feder der dänischen Autoren Knud Meister und Carlo Andersen beschert, das eine spannende Handlung mit gesunder Moral vereint. Mit solchen Büchern läßt sich der Kampf gegen die Schundliteratur am besten führen, denn wenn man sie verdrängen will, muß man der Jugend gute und trotzdem ebenso spannende Lektüre bieten, die die Verbrecher nicht glorifiziert, sondern sie als das zeigt, was sie sind: Schädlinge der Gesellschaft. Jan, der junge Held des Buches, den viele Leser schon aus den fünfzehn anderen Bänden der Reihe «Jan als Detektiv» kennen, ist der Sohn eines Kopenhagener Kriminalkommissars, der von seinem Vater her weiß, daß alle Verbrecher Schmarotzer sind, die von der Arbeit ehrlicher Menschen leben, und daß die Polizei die Aufgabe hat, im Kampf gegen das Verbrechen dem Recht zum Siege zu verhelfen. Jan will später selbst einmal Detektiv werden, und als Vorbereitung dazu bittet er seinen Vater, ihm schwierige Fälle, mit deren Untersuchung dieser gerade beschäftigt ist, zu erklären. Diesmal hat es der Kommissar mit großen Juwelendiebstählen zu tun, die das ganze Land in Atem halten. Durch logisches Denken und planmäßiges Vorgehen gelingt es Jan, den Dieben auf die Spur zu kommen. Dabei wird er von seinem Freunde, dem dicken, eßlustigen Erling unterstützt, der über viel Humor verfügt und seine Unsportlichkeit durch die in der Schule erworbenen Kenntnisse ausgleicht. Denn mit körperlicher Gewandtheit und scharfem Verstand allein ist es bei einem Detektiv nicht getan: Vielleicht wär es Jan nicht möglich gewesen, den nächtlichen Einbruch bei einem Hotelgast zu erklären, wenn sein gemütlicher Freund Erling nicht auf dem Gebiet der Zoologie beschlagen gewesen wäre und über die Gewohnheiten der Fliegen Bescheid gewußt hätte. So aber ergänzen sich die beiden ungleichen Kameraden aufs
prächtigste, und beweisen dadurch, daß treue Freundschaft eine große Macht bildet. Die «Schweizerische Lehrerzeitung» hat das erste Buch der beiden Verfasser «eine ausgezeichnet geschriebene, spannende Detektivgeschichte für jugendliche Leser» genannt.
ERSTES KAPITEL Herr Walther Smith
Jan und Erling liefen mit einem Dutzend Knaben, so schnell sie konnten, über den Schulhof zu ihren Fahrrädern. «Auf Wiedersehen!» rief Erling. «Schöne Herbstferien!» schrie Jan. Die Jungen riefen einander Abschiedsworte zu, und kurz darauf befanden sich Jan und Erling auf dem Heimweg. «Viel ist es ja nicht, aber zu verachten sind solche Kartoffelferien doch nicht», sagte Erling. «Eigentlich sollte man einführen, daß es das ganze Jahr hindurch jeden Monat eine Woche Ferien gibt. Das würde sich auf das Schuljahr sehr erquickend auswirken, me inst du nicht auch?» «Ich begreife nicht, warum du mit deinen phantastisch guten Einfällen nicht zum Direktor gehst», lachte Jan. «Ich glaube, die Idee würde bei der Lehrerkonferenz Jubel erwecken.» «O nein, ich will nicht, daß der Direktor meine Ideen zerpflückt und sie dann als seine eigenen ausgibt. Aber um von etwas Angenehmerem zu reden: was ist nun mit den Ferien?» «Ja, wir fahren also nach Storebäk», antwortete Jan. «Um das Ferienhaus zu beaugenscheinigen, das Herr Jan Helmer mit einer flotten Handbewegung seiner Familie geschenkt hat, nachdem er im Sommer den berüchtigten Bankräuber entlarvte und zur Belohnung fünftausend dänische Kronen erhielt. Jawohl, du bist ein großer Herr!»* *
Diese spannende Begebenheit erzählt das Buch «Jan wird Detektiv» von Knud Meister und Carlo Andersen, das gleichfalls im Albert Müller Verlag, Rüschlikon-Zürich, Stuttgart und Wien, erschienen ist. -4-
«Halt den Mund. Wir sind selig, daß wir das Sommerhaus bekommen konnten, und ich freue mich mächtig, dorthin zu reisen. Weißt du übrigens, daß einige Jungen vom JuniorenKlub in den Ferien nach Gilleleje segeln? Das wurde gestern abend abgemacht. Sie segeln dorthin und übernachten in den Booten.» Sowohl Jan als auch Erling trieben mit großer Begeisterung Segelsport und gehörten dem Junioren-Klub von Hellerup an. Vor allem Jan war ein tüchtiger Segler, aber auch Erling hatte an dem frischen Sport Gefallen gefunden, nachdem Jan ihn dazu gebracht hatte, beim Hafenmeister Unterricht zu nehmen. «Soso», sagte Erling, «die Jungen wollen also nach Gilleleje. Wenn ich nur mitkönnte! Dann wirst du sie ja sehen, wenn du in Storebäk bist.» «Warum gehst du denn nicht mit?» fragte Jan. «Ich glaube, ich muß mich diesmal meiner werten Familie widmen. Wir beide waren ja während der ganzen Sommerferien zusammen, und meine geliebten Eltern erhaschten nur selten einen Blick auf mich.» «Wie traurig für deine Eltern. Da ist ihnen viel entgangen.» «Nur nicht so übermütig! Das wollte ich übrigens selber sagen, aber dein Spott gilt nicht für meine Mutter. Sie ist nämlich der Auffassung – im Gegensatz zu dir, mein Lieber –, daß meine Anwesenheit im Hause Krag Sonne und Freude verbreitet. Sie sieht in mir ihren kleinen Sonnenstrahl, ihr Herzenssöhnchen, ihren Stolz und ihre Freude, weshalb sie sich in liebenswürdigen, aber sehr bestimmten Wendungen meine werte Anwesenheit während der Herbstferien ausgebeten hat. Kurz und gut, sie sagte gestern zu mir: ‘Diesmal lassen wir dich nicht herumstrolchen und Verbrecher fangen.’ Deutlicher hätte man es kaum ausdrücken können! » Die beiden Knaben waren bei Jans Haus angekommen und gingen die Treppe hinauf. Sowie Jan an der Wohnungstür -5-
läutete, erklang drinnen ein lautes Bellen, und als Jans Mutter, Frau Helmer, die Tür öffnete, flog ihnen der prachtvolle Polizeihund Boy entgegen und gab mit hohen Sprüngen und kurzen entzückten Lauten seine Begeisterung zu erkennen. «Na, Boy, alter Bursche, ist es so schön, daß wir wieder daheim sind? Soso, sei schön brav…» Jan streichelte den Hund, und Boy sprang an ihm in die Höhe und bereitete ihm einen stürmischen Willkomm. Wenige Minuten später waren die beiden Freunde in Jans Zimmer. Boy lag in einem Winkel in seinem Korb, Jan saß auf seinem Stuhle, und Erling rekelte sich auf der Ottomane. Sie hielten eine Beratung ab. «Wir müssen es auf irgendeine Weise deichseln, daß du zur Nordküste kommst», sagte Jan. «Könntest du nicht deine Eltern dazu bringen, ein paar Tage Ferien zu machen? Ihr habt doch in Storebäk ein Haus, in das ihr nur überzusiedeln brauchtet. Das Wetter ist so schön wie seit langem nicht mehr.» «Der Gedanke scheint recht gut, Herr Detektiv», antwortete Erling, «aber in Wirklichkeit taugt er nichts. Wie soll ich meinen Vater dorthin lotsen? Willst du mir das vielleicht verraten? Er hat dieses Jahr schon Ferien gemacht, und nun gibt er sich wieder mit seinen elenden Geschäften ab und wühlt in der Freizeit in seinen Bildern. Er ist vollkommen glücklich und wird sich nicht verschleppen lassen.» Jan dachte nach. Nach einer Weile sagte er: «So geht es also nicht. Mein Vater fährt auch nicht mit uns, aber vielleicht kommt er später nach. Augenblicklich hat er mit ein paar großen Juwelendiebstählen alle Hände voll zu tun.» «Ja, wir haben wahrhaftig kostbare Väter. Dein Vater ist in seiner Eigenschaft als Kriminalkommissar dauernd mit Verbrechen beschäftigt, während mein Vater in seiner -6-
Eigenschaft als Großkaufmann und Gemäldesammler dauernd mit Geschäften und Bildern beschäftigt ist, und wir beide…» Jan fuhr plötzlich auf: «Ich hab’s! Bilder!» Erling sah ihn verständnislos an. «Was meinst du damit?» «Bilder! Nun weiß ich, wie wir deinen Vater nach Storebäk lotsen können.» «Wie denn?» Jan setzte sich wieder und rieb sich zufrieden die Hände. Dann erklärte er: «Du weißt vielleicht nicht, daß der seit kurzem so berühmte Herr Walther Smith in Storebäk im Badehotel abgestiegen ist, wo wir auch wohnen werden, bis wir das Sommerhaus in Ordnung gebracht haben…» «Ja, aber…» «Nur ruhig… ich werde dir alles auseinandersetzen. Der Name Walthe r Smith ist dir aus den Zeitungen bekannt, nicht wahr? Mir erscheint er als ein recht geheimnisvoller Mann. Von Beruf soll er Kunsthändler sein. Vor einem Monat ist er mit seiner Sekretärin nach Dänemark gekommen und hat einen Haufen Gepäck mitgebracht, darunter ein Bild, das, wie sich herausstellte, von keinem Geringeren als Rembrandt persönlich stammt.» «Ach ja», fiel Erling ein, «jetzt erinnere ich mich. Die Zollbehörde hatte vor seiner Ankunft einen anonymen Brief erhalten, in dem stand, daß sich unter den Bildern, die Smith mitbringen würde, ein echter Rembrandt befände.» «Stimmt, und als man die Bilder untersuchte, stellte sich heraus, daß unter einer Übermalung tatsächlich ein echter Rembrandt steckte. In der einen Ecke war das Bild von Rembrandt signiert, und obwohl Smith fürchterlich fluchte…» «Was sehr häßlich ist!» «Ja. Also, obwohl er fürchterlich fluchte und schwor, das übermalte Bild sei eine schlechte Rembrandtkopie, und er habe -7-
das Bild der Übermalung wegen in guten Treuen als modernes Gemälde gekauft, mußte er den vollen Zoll für einen echten Rembrandt und obendrein eine Buße bezahlen, alles in allem zwanzigtausend Kronen.» «Daran erinnere ich mich ebenfalls. Aber hat er auch bezahlt?» «Gewiß. Er mußte ganz einfach. Was blieb ihm anderes übrig? Die Zeitungen machten viel von der Sache her, und sie schrieben auch, daß Smith inzwischen eine Menge Angebote für den Rembrandt erhalten hat. Ich glaube, erst vorgestern schrieben sie von einem Mann hier in der Stadt, einem Direktor Holst, der zweihunderttausend Kronen dafür geboten haben soll. Aber Smith will für das Bild eine Viertelmillion haben. Das ist ein ganz hübsches Sümmchen, was?» «Nicht wenig, ja. Direktor Holst ist übrigens ein Freund meines Vaters. Aber bist du sicher, daß Smith jetzt in Storebäk ist?» «Ganz sicher. Er wohnt dort zusammen mit seiner Sekretärin im Badehotel. Erst neulich waren beide in einer Zeitung abgebildet. Man schreibt ja immer noch über den Rembrandt, wohl weil es sonst wenig zu berichten gibt.» «Das Ganze ist im Grunde eine recht merkwürdige Geschichte», sagte Erling. «Wo kommt er denn her, dieser Herr Smith?» «Er ist Däne, soll aber viele Jahre im Ausland gelebt haben.» «Hm! Komisch, daß er in dem einen Augenblick sagt, das Bild sei nicht echt, und daß er im nächsten Augenblick dem Zoll zwanzigtausend Kronen in den Rachen wirft, und daß er im dritten Augenblick – so viele Augenblicke! – das Bild nicht unter zweihundertfünfzigtausend Kronen verkaufen will.» Jan seufzte tief. «Mein untertänigstes Kompliment! Du bist auf dem besten Wege, ein richtiger Detektiv zu werden.»
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Erling machte eine huldvolle Handbewegung. «Ja, bald bin ich der reinste Jan Helmer! Aber sei gütig, o großer Medizinmann, der alles weiß, und sage mir, wie dieser Herr Smith den dicken Großhändler Krag – den Herrn, dessen Sohn mich zu nennen ich die Ehre habe – bewegen sollte, nach Storebäk zu reisen?» «Das ist doch klar wie Tinte. Nur mußt du die Sache selber in die Hand nehmen. Meinst du nicht, daß du deinen Vater für Smiths Bilder interessieren könntest? Vielleicht würde er sich den Rembrandt gern einmal ansehen.» «Au ja, daran ist etwas! Das muß versucht werden! Auch mir würde es nicht schlecht gefallen, den Rembrandt ein bißchen zu beäugen.» «Ja, du hast ja das Interesse deines Vaters für Bilder geerbt, und ich begreife gar nicht, daß du nicht Schokoladebildchen sammelst. Doch gleichwohl, wenn du deinen Vater dazu bringst, für ein paar Tage nach Storebäk zu fahren, können wir herrliche Herbstferien miteinander verleben.» «Wunderbar, aber es gibt noch ein anderes Hindernis.» «Und das wäre?» «Meine Mutter hat ausdrücklich gesagt, daß wir keine Verbrecher mehr fangen dürfen. Wenn ich also wirklich in Storebäk auftauche, wird es mit dem lieben alten Detektivspielen wohl Essig sein. Bringst du es auch über dich, darauf zu verzichten?» Jan schüttelte den Kopf. «Dafür kann ich mich nicht verbürgen. Aber wer sagt denn, daß sich auch in diesen Ferien ein ‘Fall’ zeigen wird?» «Ich weiß nicht», antwortete Erling, «aber du hast eine so seltsame Gabe, immerzu auf dunk le Geschichten zu stoßen, daß ich mich nicht wundern würde, wenn es auch diesmal geschehen würde. Jedenfalls werde ich mich lieber weigern, Mutter etwas zu versprechen.» -9-
ZWEITES KAPITEL Die Juwelendiebe
Kriminalkommissar Mogens Helmer drehte das Radio ab, das soeben die Nachrichten gesendet hatte, und lehnte sich in seinem bequemen Sessel zurück. Er seufzte zufrieden und tat einen tiefen Zug an seiner Zigarre. «Ach ja», sagte er, «hoffentlich kann ich endlich wieder einmal einen gemütlichen Abend mit der Familie verbringen, ohne daß ich abgerufen werde. Wir Polizeileute sind ja in dieser Beziehung nicht gerade verwöhnt. Immerzu müssen wir auf dem Sprunge sein, weil mit einem Anruf zu rechnen ist.» Frau Helmer blickte lächelnd von ihrer Handarbeit auf. Ja, es war schön, mit dem Mann einen guten, ruhigen Abend zu verleben. Jan saß mit einem Buch am Tisch, und Lis, die mit einer Freundin im Kino war, wurde in zwei Stunden zurückerwartet. «Es tut mir arg leid, daß du nicht nach Storebäk mitkommen kannst», sagte Frau Helmer. «Mir auch», antwortete der Kriminalkommissar, «aber in den ersten Tagen ist es einfach nicht möglich. Hingegen hoffe ich, daß ich Mitte der Woche Zeit haben werde. Diese Juwelendiebstähle geben mir weiß Gott allerlei zu tun.» Jan sah von seine m Buche auf, als der Vater die Juwelendiebstähle erwähnte. Sein großes Interesse an der Arbeit der Polizei verleugnete sich nie. «Wie steht es denn damit?» fragte er. «Verrat mir ein bißchen, Vater.» Helmer lachte: «Du interessierst dich wohl brennend dafü r, was? Aber das sage ich dir, diesmal mußt du die Polizeiarbeit -10-
der Polizei überlassen. Sonst haben meine Leute ja überhaupt nichts mehr zu tun.» «Du darfst mich nicht aufziehen, Vater. Du weißt doch, daß deine Arbeit mich brennend interessiert. Deshalb würde ich gerne etwas mehr von diesen Diebstählen hören. Ich weiß nichts anderes, als was in den Zeitungen steht, und das sind bloß Äußerlichkeiten.» «Ja, wir haben noch nichts Rechtes herausbekommen. Eigentlich steht nur die Tatsache fest, daß in den letzten drei Wochen mehrere große Juwelendiebstähle stattgefunden haben. Vor allem wird in Juweliergeschäften eingebrochen, und die Beute der Diebe hat einen Wert von mehreren hunderttausend Kronen!» «Wie viele Einbrüche sind denn schon verübt worden?» «Bis jetzt sieben. Das Verfahren war überall gleich, und deshalb nehmen wir an, daß es sich bei allen Einbrüchen um dieselben Leute handelt, um Verbrecher, die aus dem Ausland zu uns gekommen sind.» «Wieso?» «Weil wir von der Kriminalpolizei mehrerer europäischer Hauptstädte Steckbriefe erhalten haben, die sich auf zwei berüchtigte internationale Einbrecher namens Karnoff und Schleisner beziehen. Es scheint, daß die beiden sich nach Dänemark verzogen haben; wenigstens weisen ihre Spuren hierher. Es ist zwar noch keineswegs sicher, daß sie wirklich hier im Lande sind, und daß sie die Juwelendiebstähle begangen haben, aber die Möglichkeit besteht durchaus, denn solche Einbruchsdiebstähle sind ihre Spezialität.» «Was sind das für Burschen?» «Erinnerst du dich noch an die Brüder Sass?» «Ja, von denen hast du mir einmal erzählt.»
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«Die beiden wurden in mehreren Ländern Europas jahrelang von der Kriminalpolizei gesucht, ohne daß man sie zu fassen bekam; schließlich schnappte man sie in Kopenhagen. Das war eine sehr große Le istung der dänischen Kriminalpolizei, das kann man wohl ohne Übertreibung sagen. Karnoff und Schleisner haben mit den Brüdern Sass eine gewisse Ähnlichkeit. Sie sind ungemein frech und arbeiten sehr flink. Im Nu haben sie einen Tresor oder einen Safe aufgeknackt. Dazu kommt, daß sie sehr sprachenkundig sind – ich glaube, sie sprechen auch Dänisch, wenngleich mit fremdländischem Tonfall – , und sie sind Meister in der Kunst des Verkleidens.» «Sie verkleiden sich? Das klingt ja wie ein Kriminalroman! » «Alles, was mit Karnoff und Schleisner zusammenhängt, klingt wie ein Kriminalroman. Rein äußerlich bilden sie ein merkwürdiges Paar. Karnoff ist ein großer, eleganter Bursche, soll stark sein wie ein Bär und sich vor nichts fürchten. Schleisner dagegen ist klein und zierlich. Er verfügt über keine große Körperkraft, ist aber geschmeidig wie ein Schlangenmensch. An Dreistigkeit lassen die beiden nichts zu wünschen übrig. Mut kann man das nicht nennen, sondern sie sind einfach frech und kennen offenbar keine Skrupel – zwei höchst unliebsame Subjekte, die von ehrlichen Menschen schmarotzen. Wenn die beiden sich wirklich bei uns herumtreiben, wäre es mir eine ganz besondere Freude, mich um der Gerechtigkeit willen mit ihnen zu befassen und sie hinter Schloß und Riegel zu bringen.» «Es ist also keineswegs sicher, daß sie die Juwelendiebstähle verübt haben?» «Nein, durchaus nicht. Das ist nur eine Vermutung, die sich auf die hinter den beiden erlassenen Steckbriefe stützt. Ebensogut können dänische Einbrecher im Spiele sein. Dieser Typus ist ja leider international.» Helmer seufzte tief. «Ich weiß recht gut, daß es Menschen gibt, die erfolgreiche Einbrecher für geschickte, fixe Kerle halten, denen man die Bewunderung nicht -12-
versagen kann. Ja, wahrhaftig, so sehen manche Le ute die Sache an. Aber wir Polizeibeamte kennen diese Außenseiter der Gesellschaft, wir wissen, welch großen Schaden sie anrichten, und wieviel Unglück sie oft verursachen. Deshalb betrachten wir diese Schmarotzer mit all der Verachtung, die sie verdienen. Erfolgreiche Einbrecher sind keineswegs Helden, auch wenn sie sich dafür halten, das kann ich dir versichern. Die meisten sind feig – und ganz klein und demütig, wenn sie gefaßt worden sind und ihre Handlungsweise verantworten müssen. Kein Gedanke daran, daß sie dann bereit sind, die Folgen auf sich zu nehmen. Sie sind wie Ratten, die sich stets zu verstecken suchen und am liebsten im Dunkeln wirken, wo niemand merken kann, was für Schaden sie anrichten.» Es entstand eine Pause. Helmer zog an seiner Zigarre, und Jan dachte über die Worte des Vaters nach. Er hatte, als er einmal mit einem Verbrecher zusammengestoßen war, genau dieselbe Erfahrung gemacht. Ja, feige und verantwortungslos, das waren die Burschen. Deshalb war es wichtig, die menschliche Gesellschaft von diesem Gelichter zu befreien. Dann kehrten seine Gedanken zu den Juwelendiebstählen zurück. «Weißt du, was mir eingefallen ist, Vater?» begann er. «Wenn diese Juwelendiebe so frech sind, wäre es doch auch möglich, daß sie die Finger nach dem kostbaren Gemälde ausstrecken, das dieser Herr Smith ins Land gebracht hat…» Helmer lachte. «Na ja, warum nicht? Aber vorerst haben wir es ja nur mit Juwelendiebstählen zu tun. Der Rembrandt wird wohl gut bewacht sein, und Zusammenhänge zu konstruieren, die noch gar nicht bestehen, kann sich die Polizei nicht leisten. Das müssen wir schon den Verfassern von Kriminalromanen überlassen.» «Aber Karnoff und Schleisner würden doch deiner eigenen Meinung nach gut in einen Kriminalroman passen», unterbrach Jan mit eine m Lächeln. -13-
Im Scherz drohte Helmer ihm mit dem Finger. «Gib acht, mein Junge. Ein wirklicher Detektiv läßt sich nicht von Träumereien und Phantasien leiten, er hält sich an die Tatsachen. Übrigens muß ich gestehen, daß ich zwar als gesetzestreuer Bürger und Polizeimann keineswegs damit einverstanden wäre, wenn die beiden Verbrecher – oder wie viele es sein mögen – Walther Smith den Rembrandt wegnähmen, daß ich ihm aber trotzdem einen kleinen oder besser noch einen großen Schrecken gönnen würde. Ich habe für die Schmuggler nämlich ebensowenig übrig wie für andere Gesetzesübertreter.» «Ich auch», stimmte Jan zu, «Schmuggler sind Betrüger, obwohl es viele Leute gibt, die einen kleinen Schmuggel eher als einen guten Spaß betrachten, und in den Berufsschmugglern arme Teufel sehen, die nur so ihr Leben fristen können.» «Ganz richtig», fuhr Helmer fort. «Jeder Schmuggel, ob groß oder klein, ist und bleibt dem Staat gegenüber ein Betrug, und damit auch ein Betrug jedem redlichen Steuerzahler gegenüber. Die Zölle bilden für den Staat eine große Einnahme, und wenn diese Einnahme durch Schmuggel sinkt, müssen die Steuern natürlich im gleichen Verhältnis steigen. Außerdem beweist die Erfahrung, daß die meisten Schmuggler, vor allem die großen Tiere dieser üblen Zunft, gar nicht aus Not handeln, sondern nur um rasch auf ungesetzliche Weise viel Geld zu verdienen. Wahrscheinlich gehört auch Herr Smith zu dieser Sorte. Darum ist es nur gerecht, daß man ihm eine Buße von zwanzigtausend Kronen aufgebrummt hat. Allerdings bedeutet dieser Betrag für ihn wahrscheinlich so gut wie gar nichts, denn zweifellos ist er ein reicher Mann, für den zehn- oder zwanzigtausend Kronen mehr oder weniger gar keine Rolle spielen.» «Aber was hat man denn eigentlich bei den Juwelendiebstählen unternommen?» erkundigte sich Jan eifrig, der in Gedanken wieder einen Sprung gemacht hatte. «Frag mich lieber, was man nicht unternommen hat», antwortete Helmer. «Wir haben mit Hilfe der Kriminalpolizei -14-
das ganze Land durchgekämmt, aber bis jetzt hat man noch keine Spur gefunden, die irgendwie auf die Einbrecher hinweist. Alle Kopenhagener Hotels und Pensionen sind genau durchsucht worden, aber weder Karnoff noch Schleisner konnte aufgespürt werden. An allen Grenzstationen werden die ausreisenden Personen genau kontrolliert und ihr Gepäck desgleichen, aber auch diese Nachforschungen haben bisher kein Ergebnis erzielt, und es scheint, daß ich einige anstrengende Tage vor mir habe, so daß ich, wie gesagt, nicht sicher bin, ob ich nach Storebäk kommen kann, obwohl ich hoffe, wenigstens für einen kleinen Besuch Zeit zu finden.» «Ach ja, das hoffe ich auch», rief Jan. «Ich freue mich so sehr, unser Sommerhaus zu sehen. Es wird auch lustig sein, im Badehotel zu wohnen. So etwas bin ich ja nicht gewöhnt.» «Nein, zum Glück bist du daran nicht gewöhnt. Ich freue mich mehr darauf, ins eigene Haus zu ziehen, als in einem Hotel herumzusitzen. Du nicht auch?» «Doch, natürlich, Vater. Ich hoffe nur, daß Lis nicht allzu sehr in Neckstimmung ist.» «Ach, du zarte Mimose! Na, wehr dich nur, wenn deine Schwester dir hin und wieder einen Nasenstüber versetzt. Das schadet dir gar nichts, im Gegenteil. Ich nehme auch an, daß es Boy auf dem Lande gefallen wird. Der arme Hund! Es ist lange her, seit ich eine rechte Aufgabe für ihn hatte, aber nun soll er bald im Stadion trainieren, das wird ihm gut tun. Es wäre schön, wenn du auf dem Lande schon etwas mit ihm üben könntest. Zum Kuckuck, da soll denn doch…!» Der letzte Satz klang ärgerlich, weil das Telephon plötzlich geläutet hatte. Helmer erhob sich, indem er bemerkte: «So, nun ist der friedliche Abend verdorben. So geht’s immer. Sicher wieder Arbeit…»
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Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Dann reichte er Jan den Hörer und sagte: «Glücklicherweise wirst du verlangt. Erling ist am Apparat und möchte mit dir sprechen.» Er setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl, während Jan mit seinem Freunde ein kurzes Gespräch führte. Als Jan dann den Hörer wieder auflegte, strahlten seine Augen vor Freude, und Frau Helmer, die ihren Jungen in- und auswendig kannte, sagte lächelnd: «Nun haben Erlings Eltern sich also doch entschlossen, die Herbstferien in ihrem Sommerhaus in Storebäk zu verbringen. Das dachte ich mir. Ihr Buben setzt doch immer auf irgendeine Weise euren Willen durch!»
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DRITTES KAPITEL Im Badehotel
Am folgenden Tag reiste Frau Helmer mit ihren beiden Kindern ab. Jan und Lis hielten während der ganzen Fahrt durch Nordseeland tatsächlich Frieden, und Frau Helmer fand infolgedessen Ruhe, die schöne Landschaft zu genießen. Jan hatte ein spannendes Buch mitgenommen und Lis sich mit einem Haufen Zeitschriften versorgt, in die sie sich vertiefte, wenn sie nicht dem Beispiel der Mutter folgte und zum Fenster hinausschaute, um die prachtvolle Natur zu betrachten. Das Badehotel von Storebäk lag vornehm zurückgezogen abseits von der Landstraße, aber nicht weit vom Strande entfernt. Zwischen Hotel und Strand gab es die herrlichsten Dünen mit weißem Sand, Strandhafer und geschützten Kuhlen, und von den Hotelfenstern hatte man eine prachtvolle Aussicht zur schwedischen Küste. Jan zog sofort nach der Ankunft auf Entdeckungen aus, um die Umgebung näher kennenzulernen, die er von früheren Fahrradausflügen nur sehr flüchtig kannte. Noch nie zuvor hatte er in Storebäk gewohnt. Er stellte fest, daß das Gelände nördlich vom Hotel ziemlich steil anstieg, und daß der Hang mit Tannen bestanden war. Durch das Wäldchen führte ein gewundener Pfad, der sich oben fortsetzte. Einen halben Kilometer weiter stand das kleine Sommerhaus, das Vater Helmer vor wenigen Wochen erworben hatte. Jan wanderte lange umher und betrachtete das Häuschen mit verliebten Blicken. Es hatte eine so schöne Lage und war zwar einfach, aber sehr solid gebaut, nach Art eines Blockhauses ganz aus Holz. Es mußte nur noch angestrichen werden; das wollten die Kinder selber tun. Im nächsten Sommer sollte dann ein -17-
Gärtchen angelegt werden, so daß man Blumen und Gemüse ziehen konnte. Jan wußte genau, wie alles werden sollte, und im Geiste sah er das Bild vor sich. In der Nähe befand sich das Sommerhaus von Großhändler Krag, Erlings Vater. Es war erst in diesem Jahr erbaut worden, so daß Jan es noch nicht kannte. Er wanderte weiter, um es zu beaugenscheinigen, und sehr bald gelangte er zu der Entscheidung, daß es zwar neuer und größer, vielleicht auch moderner war, daß er jedoch das Haus vorzog, welches die Familie Helmer bald in Besitz nehmen sollte. Von beiden Häusern führte eine steile Treppe hinab zum Strand, der hier von Millionen Kieseln bedeckt war und erst dicht am Ufer sandig wurde. Krags besaßen eine kle ine Badebrücke, die über die Steine lief. Jan gelobte sich, im nächsten Sommer eine gleiche Badebrücke zu bauen; der Vater würde ihm sicher dabei helfen. Allzu schwer war das wohl nicht, und die Brücke würde gute Dienste tun, weil man dann nicht über all die Steine zu humpeln brauchte. Jan kehrte um und machte sich auf den Heimweg. Er hatte ja nur einen kleinen Erkundungsgang unternehmen wollen, wie er es stets zu tun pflegte, wenn er an einen neuen Ort kam. Es war immer angenehm, die Umgebung zu kennen. Das Hotel war sehr elegant, fast zu elegant. Das Gebäude hatte drei Stockwerke und viele Balkone, von denen man eine prächtige Aussicht über das Wasser genoß. Im Erdgeschoß entdeckte Jan den Speisesaal, den Ballsaal, das Rauchzimmer und die Bibliothek, doch fand er alle diese Räume ziemlich ungemütlich. Es waren fast keine Menschen zu sehen, denn die Saison war vorbei; nur wenige Dutzend Gäste hielten sich in dem Hotel auf. In der großen Halle, wo der Concierge hinter seinem Pult thronte, war es unterhaltsame r. Links von der Schranke befand sich eine hohe Mahagonitafel, an der die verschiedenen Zimmerschlüssel hingen. Neben jedem Schlüssel war ein Schildchen angebracht, aber die meisten trugen keinen -18-
Namen, weil das Hotel nicht einmal zur Hälfte besetzt war. Jan betrachtete interessiert die beiden Schildchen, die verrieten, daß Frau Helmer und Lis ein Doppelzimmer bewohnten, und daß Jan mit Boy ein Einzelzimmer teilte. Boy war vorläufig Lis überlassen worden, und Jan machte sich gerade Vorwürfe, daß er Boy auf dem kleinen Spaziergang nicht mitgenommen hatte, als Lis mit dem Hund plötzlich durch die Pendeltür hereinkam. Sie überreichte Jan die Leine und ging hinauf. Jan ließ sich in einem der tiefen Sessel nieder und streichelte Boy, während er ihn allen Ernstes wegen seiner Vergeßlichkeit um Entschuldigung bat. «Ihr seid wohl sehr gute Freunde?» hörte er unvermittelt eine Stimme hinter sich. Er blickte auf. Der Concierge hatte seinen Platz hinter der Schranke verlassen und musterte den Knaben und den Hund. «Ja, aber Boy läßt nicht mit sich spassen. Rühren Sie ihn darum lieber nicht an», gab Jan zurück. «Er liebt Fremde nicht. Das ist ganz richtig so, denn ein Polizeihund darf nur diejenigen lieben, die er sehr, sehr gut kennt.» «Natürlich. Aber ist er wenigstens ruhig? Ich meine, es dürfen nicht allzu viele Beschwerden kommen, weil er nachts bellt oder heult.» «Da können Sie ganz unbesorgt sein. Boy ist sehr wohlerzogen.» Der Hund setzte sich auf die Hinterbeine und betrachtete neugierig den Concierge. «Es sind ja nicht mehr viele Gäste im Hotel», fuhr Jan fort. «Ja, und bald ist es mit der Saison ganz aus, obwohl der Herbst dieses Jahr ungewöhnlich schön ist. Die Leute könnten hier noch prächtige Ruhetage verleben. Aber man ist nun einmal der Ansicht, daß man nur während der Badesaison an die Nordseeküste gehen kann.» -19-
«Sagen Sie, dieser Herr Smith… wohnt er noch hier?» «Der mit dem Rembrandt? O ja, er wohnt noch hier. Er ist schon bald einen Monat bei uns.» «Die Sache mit dem Gemälde ist sehr sonderbar. Hat er es inzwischen verkauft?» «Nein, aber er verhandelt deswegen. Oft fährt er mit seiner Sekretärin zu diesem Zwecke für ein paar Tage fort. Dann kehrt er zurück, ohne etwas ausgerichtet zu haben, denn er fordert ja ein Vermögen für das Bild.» «Wo hat er es untergebracht?» forschte Jan. «In seinem Zimmer. Nachts hat er eine Pistole auf dem Nachttisch liegen. Ein Stubenmädchen hat das gesehen, als es ihm eines Morgens das Frühstück brachte. Er ist ein komischer Kauz.» «Ist er jetzt hier?» «Ja, er ist gerade zurückgekommen. Gestern nachmittag war er in Slagelse, um einen Herrn zu treffen, der das Gemälde kaufen wollte. Aber der Herr wurde nach Kopenhagen gerufen, und deshalb konnten sie überhaupt nicht mit ihm sprechen. Heute früh kamen sie unverrichteter Dinge zurück. Hoffentlich haben sie nächstes Mal mehr Glück.» «Aber man braucht doch keine ganze Nacht, um von Slagelse hierher zu fahren? Sind sie wirklich erst heute früh wiedergekommen?» «Ja, sie hatten nämlich eine Reifenpanne. Wahrscheinlich hatte Smith keine große Übung im Reifenwechseln, und die Sekretärin ist sicher nicht von großem Nutzen, wenn es sich um eine Autoreparatur bei Nacht und Nebel mitten auf der Landstraße handelt. Deshalb dauerte die Fahrt wohl länger, als sie gerechnet hatten. Du kannst mir glauben, die Stimmung stand auf dem Nullpunkt, als sie zurückkamen. Ich wurde übrigens so wütend…» -20-
«So, warum denn?» Der Concierge beugte sich vertraulich zu Jan. «Er zankte mich aus, dieser Smith. Und dazu hatte er nicht die geringste Veranlassung. Er kam mit Fräulein Winther in die Halle…» «Ist das die Sekretärin?» «Ja, das ist die Sekretärin. Sie folgte ihm mit dem kostbaren Bild, das in Packpapier eingeschlagen war, gab aber wie gewöhnlich keinen Mucks von sich – ich habe noch nie einen Menschen kennengelernt, der so wenig spricht wie sie. Noch dazu eine Dame! Das ist zum Lachen, was?» «Ja, aber was war denn mit Walther Smith?» «Na ja, er kam mit seinem Koffer, und was konnte ich da anderes tun, als zu ihm gehen und mich anbieten, den Koffer in sein Zimmer hinaufzutragen? Doch stell dir vor, da wurde er böse und zankte mich aus. ,Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!’ schimpfte er. ,Ich werde es Sie schon wissen lassen, wenn ich Sie brauche.’ Ich wurde ganz wütend, aber was hätte ich antworten sollen? Ich hatte mich ja aus reiner Dienstbarkeit anerboten, seinen Koffer hinaufzutragen. Soll er nur seine Koffer selber schleppen, jawohl! Das ist doch keine Art und Weise, einen höflichen Menschen zu behandeln, wie?» «Nein, natürlich nicht. Ich verstehe nur nicht, warum er so böse wurde, als Sie ihm den Koffer abnehmen wollten», gab Jan zurück. «Wenn ich es verstünde, würde ich es dir sagen, aber ich ahne es ebensowenig wie du. Ich weiß nur, daß der Mann griesgrämig wie ein alter Kalender war, und daß er seine schlechte Laune an mir ausließ.» «Und die Sekretärin äußerte nichts? » «Ich sagte dir doch, sie ist stumm wie ein Birnbaum. Wenn ich sie nicht ein paarmal ja oder nein hätte murmeln hören, würde ich glauben, daß sie überhaupt nicht reden kann. Was so eine -21-
Sekretärin taugt, ist mir schleierhaft. Sie schreibt für ihn Briefe und ordnet seine Papiere, aber sie wäre sicher von größerem Nutzen, wenn sie ein bißchen aus sich herausginge, so daß sie den Hotelangestellten Bescheid geben könnte.» «Ja, da haben Sie recht. Sagen Sie, hat er ein flottes Auto?» «Einen wunderbaren Wagen. Vor drei Wochen hat er ihn gekauft. Einen großen, perlgrauen Sportwagen. Ich habe selten etwas so Elegantes gesehen. Er muß sehr viel Geld haben, wenn das Ganze kein Schwindel ist. So etwas erlebt man nämlich öfter. Die Leute tun, als ob sie steinreich wären, und dabei ist alles nur auf Abzahlung gekauft.» «Wo ist Smith jetzt?» «Er schläft. ,Wir haben wegen der Reifenpanne die ganze Nacht kein Auge zugetan, und ich wünsche bis zwei Uhr nicht gestört zu werden’, sagte er. Dann soll man ihnen das Essen aufs Zimmer bringen.» «Ich würde den Wagen schrecklich gerne sehen», erwiderte Jan. «Dem steht nichts im Wege. Er ist drüben in der Garage. Aber du darfst ihn nicht anrühren, denn wenn Smith merkt, daß du in der Garage warst, dann kriegen wir alle – du auch – es mit ihm zu tun. Vielleicht wartest du mit der Betrachtung des Wunderwerkes, bis er ausfährt. Es ist ein Auto, das sich gewaschen hat.» «Na ja, mal schauen», sagte Jan und erhob sich. Er nickte dem Concierge zu und ging mit Boy durch die Pendeltür. Sie schritten um das Hotel herum und nahmen es in Augenschein; dann steuerte Jan auf die Garage zu, deren Türe spaltbreit offen stand. Er konnte sich doch nicht enthalten, den eleganten Wage n zu betrachten, den der griesgrämige Herr Smith sich vor drei Wochen gekauft hatte.
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Ja, man mußte zugeben, daß es ein Prachtstück war. Ein großes, niedriges, perlgraues Auto mit roten Lederpolstern, dessen Metallteile blitzten. Der Wagen war ungewöhnlich schön und sehr eindrucksvoll; wahrscheinlich war er auch sehr schnell. Jan untersuchte das Auto mit der Begeisterung, die jeder Junge für ein technisches Meisterwerk fühlt. Hinten waren zwei Reserveräder angebracht, die Jan näher betrachtete. Der eine Reifen hatte keine Luft. Das war offenbar der Reifen, der Walther Smith aufgehalten hatte. Jan konnte es sich nicht versagen, auf das Trittbrett zu steigen und in den Wagen zu blicken. Unter dem Hintersitz stand ein kleiner Koffer, wohl der Werkzeugkasten. Jan zog ihn hervor. Richtig, in diesem Koffer wurde das Werkzeug aufbewahrt. Da lag es glänzend und fein säuberlich angeordnet in kleinen Vertiefungen, so daß die Werkzeuge nicht rasselten, wenn der Koffer geschlossen war. Es gab Schraubenschlüssel, Zangen, Schraubenzieher und Universalschlüssel, und was am bedeutungsvollsten war, kein Stück trug Spuren von Schmutz oder Öl. Alles sah tipptopp und unbenutzt aus. Jan schloß den Koffer und sprang vom Trittbrett hinunter. Ein Weilchen stand er da und kratzte sich am Kopf, dann drehte er sich um und verließ die Garage, deren Türe er sorgfältig hinter sich zumachte. Boy schaute ihn verwundert an, als wollte er sagen: ,Was soll das heißen, Jan? Meldet sich wieder der Detektiv in dir, alter Kamerad?’
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VIERTES KAPITEL Erling kommt an
Gerade als Jan am folgenden Tage von dem Sommerhaus zurückgekehrt war, wo er der Mutter beim Einrichten geholfen hatte, erklang vor der Pendeltür des Hotels eine Autohupe. Jan kannte das Signal. Das war der Wagen des Großhändlers Krag. Erling stand hinten im Auto und verbeugte sich wie ein Zirkusdirektor, während er elegante Armbewegungen machte und sagte: «Herr Jan Helmer, wenn ich mich nicht irre? Ja, hier sehen Sie den Zirkus Krag, der soeben angekommen ist und in Ihrer unmittelbaren Nähe sein Zelt aufschlagen wird. Wir hoffen, daß Sie uns oft besuchen und unseren Galavorstellungen beiwohnen werden!» «Sei so freundlich und setz dich, bevor wir zum Gespött des ganzen Hotels werden», sagte Vater Krag und gab dem Sohn einen Schupf. Frau Krag, die neben ihrem Manne saß, mußte lachen. «Ich kann Erling nicht ganz unrecht geben», sagte sie und wies auf die vielen Koffer und Gepäckstücke, die hinten, an den Seiten und zwischen Motorhaube und Schutzblechen aufgeschnallt waren. «Wir gleichen einem Wanderzirkus, und ich weiß recht gut, wer der Clown ist!» «Vielen Dank für die Ernennung, Mamachen», antwortete Erling. Erst jetzt konnte Jan die Neuankömmlinge begrüßen. «Na ja, ihr habt uns also doch hierher gelockt», sagte Krag und zündete sich eine Zigarre an. «Wir bleiben ungefähr eine Woche hier, und ich will versuchen, diesen geheimnisvollen Herrn Smith und seinen Rembrandt, oder was es sein mag, zu sehen zu -24-
bekommen. Ich möchte gerne feststellen, ob das Bild echt ist oder nicht.» «Habt ihr viel mit dem Haus zu tun?» fragte Frau Krag. Jan begann zu erzählen. Den ganzen vorigen Nachmittag hatten sie das Haus außen angestrichen, und jetzt war ein Mann damit beschäftigt, das Dach zu teeren. Frau Helmer und Lis waren gerade beim Reinemachen, aber im Innern gab es auch noch allerlei anzustreichen, eine Arbeit, bei der Erling passenderweise helfen konnte. Es gab genug zu tun, und das Ganze war höchst unterhaltsam. «Es freut mich, daß du für meinen Sohn Arbeit hast», sagte Krag. «Hoffentlich verliert er dabei einige überflüssige Pfund Speck! Er ist sehr erpicht darauf, ein bißchen abzunehmen.» «Lieber Vater», antwortete Erling, «offen gestanden hoffe ich nicht, daß dein einziger Sohn bei diesem Ferienaufenthalt ganz eingehen wird. Wer sollte dann deiner Frau helfen, dem Heim trauliche Behaglichkeit zu verleihen?» «Ach, du bist ein Faselhans», lachte Frau Krag. «Dein Vater hat recht, du solltest unbedingt etwas schlanker werden.» «Nun wollen wir aber weiterfahren», sagte Krag und drückte auf den Anlasser. «Wir müssen schauen, daß wir uns eingerichtet haben, ehe es Essenszeit ist. Du kommst doch später zu uns, Jan? » Der Wagen setzte sich in Bewegung und verschwand um die Ecke des Hotels. Jan ging hinein, um sich vor dem Mittagessen die Hände zu waschen. Nachdem er am Nachmittag die Ostseite des Hauses fertig angestrichen hatte, trabte er zur Villa Krag hinüber, um Erling zu einem Spaziergang abzuholen. Die Knaben begaben sich zum Strand hinunter, gefolgt von Boy, der es sehr genoß, im Freien zu sein, wo er sich besser austoben konnte als auf den Kopenhagener Steinstraßen. -25-
«Wie lebt es sich im Hotel?» fragte Erling, nachdem sie sich eine Zeitlang damit vergnügt hatten, Steine über das Wasser schlittern zu lassen. Sie saßen auf einer an Land gespülten Kiste und blickten zur schwedischen Küste hinüber. «Es ist wunderbar, schon weil jetzt nicht viele Menschen da sind, größtenteils nur ältere Gespenster. Die meisten gehen ja nur während der Badesaison an die Nordküste, aber nicht im Herbst.» «Hast du den geheimnisvollen Smith schon zu Gesicht bekommen?» «Noch nicht», antwortete Jan, «aber sein Auto. Das ist ein fabelhafter Wagen, glaub mir, perlgrau und Stromlinie und dergleichen. Ich habe selten so etwas Schönes gesehen.» «Na, nun werden wir ja hören, was Vater von dem Bild hält», sagte Erling. «Ich glaube zwar nicht, daß er es kaufen will; er ist bloß neugierig geworden, als ich von der Sache anfing. Natürlich hatte er die Zeitungsberichte gelesen, aber als ich den Fall mit meinem ausgeprägten Sinn für Dramatik darstellte, begann der Kunstfreund und Sammler in ihm sich zu regen. Er zerbrach mindestens dreizehn Streichhölzer, ehe er seine Abendzigarre anzündete, und dann vergaß er, die Zigarre in Brand zu halten, weil er sich die ganze Zeit in Gedanken verlor und über die Geschichte nachsann, die ich ihm aufgetischt hatte. Schließlich sagte er: ,Ich glaube wahrhaftig, ich werde einen Sprung nach Storebäk machen und mir den Rembrandt anschauen.’ Daraufhin rief ich dich an und teilte dir mit, daß alles in Ordnung wäre. Das war vielleicht etwas voreilig von mir, aber ich kenne ja meinen Vater. Es dauerte denn auch keine fünf Minuten, so tiftelte er mit Mutter aus, wie er ein paar Tage Herbstferien herausschinden könnte. Ich brauchte mich gar nicht mehr abzumühen. Meine Arbeit war getan, und die Sache hat ja auch fein geklappt, nicht wahr? Wenn ich nicht als Gesandter in einem Negerstaat ende, dann gibt es keine Gerechtigkeit auf der Welt. Ich bin der geborene Diplomat.» -26-
«Ja, und du weißt es selbst, das ist die Hauptsache. Komm, wir wollen weitergehen.» Sie begannen den Hang zu erklettern, was Erling natürlich nicht besonders schätzte. Aber sie kamen hinauf, und hier oben war die Aussicht noch schöner. Der prachtvolle Tag zeichnete sich durch Sonnenschein und frischen Wind aus, und die Luft war klar wie Kristall, so daß sie weit, weit sehen konnten. «Von oben aus sollte man Helsingör und Schloß Kronborg sehen können», sagte Erling und beschattete die Augen mit der Hand. «Es ist sonderbar, daß man immer ein bißchen ergriffen ist, wenn man das Schloß sieht oder daran denkt.» «Da hast du recht, aber was hältst du denn von Schloß Frederiksborg?» «Ja, das ist schön! Aber Kronborg habe ich doch lieber. Es ist so etwas Männliches, Festes und Unerschütterliches. Und die vielen Geschichten, die sich mit ihm verknüpfen, die Geschichten von Holger Danske und Hamlet. Stell dir vor, das Schloß ist fast vierhundert Jahre alt und in der ganzen Welt bekannt!» «Nennt man Helsingör in England und Amerika nicht Elsinore?» «Stimmt, man kennt die Stadt aus Shakespeares Schauspiel ,Hamlet’. Aber ich weiß nicht, ob du dich noch an unsere interessanten Geschichtsstunden erinnerst…» «Aha», lachte Jan, «da war Herr Erling Krag Klassenerster in höchsteigener Person. Worüber willst du mich abhören?» «Ich will dich gar nicht abhören. Kann ich etwas dafür, daß ich mich für Geschichte besonders interessiere? Es fiel mir nur ein, daß es schön wäre, wenn die Leute Kronborg besser kennen würden; heute brauchten sie nicht mehr die Fäuste zu schütteln, wenn die Rede darauf käme. Früher, als Kronborg über jedes Schiff wachte, das in den Öresund einfuhr, und dafür sorgte, daß der Sundzoll bezahlt wurde, dachten die fremden Seeleute, -27-
Reeder und Kaufleute sicher nicht mit freundlichen Gefühlen an das schöne Schloß.» «Der Sundzoll bildete für Dänemark eine große Einnahme, nicht wahr? » «Er war eine Goldgrube. Trotzdem wurde er im Jahre 1857 aufgehoben.» «Bei Zoll kommt mir etwas in den Sinn… Wir wollen schnell ins Hotel gehen und schauen, ob sich Herr Smith vielleicht zeigt. Du kommst doch mit?» «Natürlich!» «Meinen besten Dank noch für den lehrreichen Vortrag», sagte Jan und verbeugte sich vor dem Freund. Auch Erling verbeugte sich. «Stets zu Diensten, wenn Sie etwas nicht wissen, mein Herr! Auf meinen Beistand können Sie zählen.» Die beiden Freunde glichen sich in vielem gar nicht. Erling war ebenso rundlich und bequem, wie Jan schlank und behend war. Erling zeichnete sich in der Schule ebenso aus wie Jan auf dem Sportplatz. Aber trotz ihrer Verschiedenheit hielten sie durch dick und dünn zusammen. Gegensätze ziehen sich an, heißt es ja, und dieser Ausspruch traf auf Jan und Erling weitgehend zu. Jan konnte es nicht lassen, den Freund mit seinem großen Interesse für Jahreszahlen aufzuziehen, und Erling versäumte keine Gelegenheit, Jan damit zu necken, daß Jahreszahlen keineswegs Jans Stärke waren. Aber im Grunde stimmten sie immer überein, und nie fiel zwischen ihnen ein böses Wort. Das war eigentlich recht merkwürdig. Mit den meisten Schulkameraden hat man ja irgendwann einmal eine Unstimmigkeit. Aber von dem Tage an, wo Jan und Erling einander kennenlernten – das war in der Primarschule gewesen, und seither hatten sie immer in derselben Bank gesessen – , hielten sie zusammen. Ihre Kameradschaft hatte eine -28-
unsichtbare Wehr um sie errichtet und sie schon oft aus einer unangenehmen Lage oder einer Klemme gerettet. Denn wenn der eine keinen Rat wußte, so kam der andere auf einen Ausweg. Solange sie richtig zusammenhielten und einander nicht im Stiche ließen, bildeten sie eine Macht, gegen die niemand etwas vermochte. Die üblichen Versuche der älteren Schüler, die kleineren ins Bockshorn zu jagen, prallten an Jan und Erling ab. Sie hatten ja einander und brauchten nicht um die Gunst der älteren zu werben. Es war ihnen ziemlich gleichgültig, ob die andern sich ihnen anschließen wollten oder nicht. Und darum war es bei den andern Knaben geradezu ein Sport geworden, sich mit Jan und Erling gut zu stellen. Ihre Freundschaft war sehr gesucht, weil sie sich so zurückhaltend benahmen und immer darauf warten konnten, ob die andern sich ihnen zuerst näherten. Sogar die Gymnasiasten betrachteten die beiden Freunde mit großer Achtung, und auch deshalb galten sie viel in der eigenen Klasse, wo sie viele gute Kameraden hatten. Jetzt wanderten sie vergnü gt, begleitet von dem treuen Boy, zum Hotel. Nachdem sie die Halle betreten und den Concierge begrüßt hatten, ließen sie sich in den tiefen Sesseln nieder und sahen Zeitschriften an. So saßen sie eine Weile, bis ihre Aufmerksamkeit durch einen neuen Gast gefesselt wurde, er sich in der Halle einfand. Der Fremde war ein vierschrötiger, kurzbeiniger Mann. Er schleppte einen schweren Koffer und blickte sich nach allen Seiten um, ehe er eintrat. «Er scheint soeben mit dem Vier-Uhr- Zug angekommen zu sein», flüsterte Erling. Jan nickte. «Er ist sehr anständig angezogen – wenn man von seiner Krawatte absieht.» Er hatte recht. Der Fremde trug einen sehr eleganten Anzug, der durch eine allzu knallig gelbe Krawatte verunstaltet wurde. Mit einer etwas nervösen Bewegung strich er sich über das Kinn -29-
und schritt zum Concierge, der respektvoll wartete, bis er angeredet wurde. «Ich hätte gerne ein Zimmer», sagte der Fremde. «Sie haben doch noch Platz?» «Gewiß», antwortete der Concierge. «Sie können ein schönes Zimmer bekommen.» Er schob dem Gast einen Meldezettel zu, den der Fremde ausfüllte. Dann trat er zu der großen Tafel, an der die Schlüssel hingen, und betrachtete sie sehr genau. Unvermittelt sagte er: «Am liebsten hätte ich ein Zimmer im zweiten Stock mit Aussicht aufs Wasser. Das läßt sich sicher machen, nicht wahr? Wie ich sehe, haben Sie augenblicklich nicht viele Gäste.» Der Concierge schaute auf die Tafel und nickte: «Das läßt sich machen. Ich führe Sie hinauf.» Er nahm einen Schlüssel herunter, ergriff den Koffer des Fremden, und dann gingen die beiden nach oben, während die Knaben ihnen nachblickten. «Ein komischer Kerl», sagte Erling. In diesem Augenblick kam Lis die Treppe herunter. «Da seid ihr ja», sagte sie und begrüßte Erling. «Welch geistreiche Bemerkung», spöttelte Jan. «Nur nicht so großartig, Herr Bruder», gab seine Schwester zurück. «Du solltest froh sein, daß ich mich dazu herablasse, mit dir zu reden, obwohl du noch zu den Minderjährigen gehörst.» Es bereitete Lis große Freude, daß sie ein Jahr älter als Jan war, und damit zog sie ihn bei jeder Gelegenheit auf. «Schön, alte Dame, wir wollen einmal sehen, ob du etwas zu erzählen hast», lachte Jan. Lis war nicht gerade begeistert, als alt bezeichnet zu werden, aber sie mußte die Kränkung einstecken, weil sie sie ja herausgefordert hatte. Sie setzte sich und nahm von dem Tischchen neben ihrem Sessel eine Zeitschrift. -30-
«Vater hat angeläutet», sagte sie. «Es ist keineswegs sicher, daß er herkommen wird.» «Was?» rief Jan. «Es ist gut möglich, daß er sich nicht frei machen kann», erklärte Lis. «Er ist durch seine Arbeit stark in Anspruch genommen.» «Ach, das tut mir aber leid.» Jan kratzte sich am Kopf. «Ich hatte mich so darauf gefreut, mit ihm ein paar schöne Tage zu verleben und das Haus einzurichten… Was gibt ihm denn so viel zu tun? » «Die Juwelendiebe. Vorige Nacht ist wieder ein Einbruch bei einem Juwelier begangen worden.» «Schon wieder? Wo denn?» «Das weiß ich nicht», antwortete Lis. «Ich hörte nur, wie Mutter das sagte. Ich habe mit Vater nicht gesproche n. Er hat nun sehr viel zu erledigen, aber er will sein möglichstes tun, daß er doch noch herkommen kann. Er scheint es zwar selber nicht zu glauben. Aber er…» Sie brach ab. Jan hatte ihr mit einem Male nicht mehr zugehört. Er starrte nach der Treppe, und als sie seinem Blick folgte, sah sie zwei eigenartige Menschen in die Halle herunterkommen. Das konnte niemand anders sein als der vielberedete Walther Smith und seine Sekretärin. Sie sahen aus, als wären sie jetzt in recht guter Stimmung, aber Smith wurde doch ärgerlich, als er zur Portiersloge trat und den Concierge nicht vorfand. Zum Glück kam der Concierge gerade in diesem Augenblick die Treppe herab. «Da sind Sie ja», sagte Smith, und Jan hörte, daß er mit fremdländischem Tonfall sprach. «Ich möchte Sie bitten, dafür zu sorgen, daß der eine Reifen meines Wagens instand gesetzt wird. Sie wissen doch, ich hatte heute nacht eine Panne. Lassen Sie die Sache gleich machen.» -31-
«Selbstverständlich, gern», antwortete der Concierge. «Und wenn man nach mir fragt – ich gehe ein bißchen spazieren. In einer halben Stunde bin ich zurück.» «Jawohl.» Jan hielt eine Zeitschrift vors Gesicht, um nicht merken zu lassen, daß er Smith und dessen Sekretärin aufs Korn nahm. Die Sekretärin stand vor einem der großen Hallenspiegel und ordnete mit anmutigen Bewegungen ihr Haar. Smith nickte dem Concierge kurz zu und ging dann mit seiner Sekretärin hinaus. «Das war aber ein komisches Paar», bemerkte Lis, als die beiden verschwunden waren. «Und ich muß sagen», fiel Erling ein, «daß die junge Dame an Schminke nicht gespart hat. Sie hat sich mächtig viel Lippenstift und Puder aufgeschmiert.» «Ja, mir scheint, Lis hat ihre Meisterin gefunden», lachte Jan.
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FÜNFTES KAPITEL Sonderbare Leute
Kurz darauf wanderten Jan und Erling über den Weg, der am Strand entlangführte. Jan hatte versprochen, in einer Stunde beim Sommerhaus zu erscheinen, um der Mutter zu helfen. Er hatte einen kleinen Urlaub erhalten, weil Erling angekommen war. Die beiden Knaben fanden in den Dünen bald ein hübsches Plätzchen, wo sie sich niederließen. Erling hatte natürlich eine Tafel Schokolade in der Tasche. Er war stets mit Proviant wohlversorgt! Sie futterten die Schokolade, während sie der Länge nach im Sand lagen und in den frischen, blauen Herbsthimmel hinaufblickten. «Herrlich ist es hier bei dem schönen Wetter», sagte Erling. «Wir können eine wunderbare Woche miteinander verleben.» «Du mußt aber morgens beizeiten aus den Federn, damit wir die Tage nutzen!» «Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten », gab Erling hoheitsvoll zurück. «Bin ich etwa kein großartiger Frühaufsteher?» «Nein, das bist du nicht.» «Wenn du das nicht zugeben willst, muß ich wohl bekennen, daß es nichts Schöneres auf der Welt gibt als Schlaf.» «Daran mag etwas Wahres sein, aber ich finde andererseits, daß man sich immer ärgert, wenn man spät aufgestanden ist und die Morgenstunden versäumt hat. Hast du noch nicht gemerkt, daß man am Vormittag viel mehr erledigen kann als am Nachmittag?» «Doch, das stimmt. Ich weiß noch, eine alte Ta nte von mir sagte immer: ,Es kann ja sein, daß die Vormittagsstunden -33-
ebenso lang sind wie die Nachmittagsstunden, aber die Vormittagsstunden sind breiter!’ Sie meinte dasselbe wie du. Also mußt du wohl recht haben.» «Natürlich habe ich recht. Es ist also abgemacht, daß wir früh aufstehen werden?» «Es ist abgemacht. Wir wollen aus den Kartoffelferien möglichst viel herausholen.» Jan setzte sich auf und schaute über das Wasser. Zwei Fischerboote töfften lustig dahin, und ein Segelboot kreuzte vor dem Winde über die gerippten Wellen. «Das ist ein fixes kleines Boot», sagte Jan. «Der Mann dort manövriert auf ulkige Weise. Sieh nur, er sollte mehr im Wind liegen. So verliert er Fahrt. Aber er kommt trotzdem ganz gut von der Stelle. Es muß hübsch sein, ein eigenes Boot zu haben.» «Übrigens, wann kommen eigentlich die Junioren?» fragte Erling. «Das weiß ich nicht, aber sie benachrichtigen mich, sobald sie da sind. Das ist verabredet. Sie wollen…» Jan brach ab und wies mit dem Kinn auf den Weg. «Schau an, da haben wir ja Herrn Smith und sein entzückendes ,Gemälde’.» Erling nickte: «Ihn sehe ich, aber das Gemälde…» «Ich meine ja auch nicht den Rembrandt, sondern Fräulein Winther, die Sekretärin. Sie ist mindestens so stark übermalt wie der Rembrandt.» «Du bist ja ungemein witzig», sagte Erling. Smith und die junge Dame hatten sich inzwischen genähert. Sie waren in ein Gespräch vertieft und bemerkten die Knaben nicht sofort. «Nicht jeden Tag kann man mit der Zollbehörde ein so gutes Geschäft machen», hörten sie Herrn Walther Smith sagen. «Nein», stimmte die Sekretärin zu, doch im selben Augenblick gewahrte sie die Buben. Sie lächelte ihnen freundlich zu, -34-
während Smith die beiden mißtrauisch beäugte. Jan sah ihnen lange nach. «Ein ganz flotter Bursche, dieser Smith», lautete Erlings Urteil. «Aber ich finde, er wirkt etwas bärbeißig. Ein Glück, daß er nicht dein Geschichtslehrer ist, Jan!» «Und wie findest du Fräulein Winther?» «Wenn ich ehrlich sein darf, verehrter Herr Detektiv, mein Typ ist sie nicht. Sie ist mir ein bißchen zu geziert.» «Ja, sie sieht etwas sonderbar aus, aber vielleicht ist sie recht nett. Sie hat uns ja sehr freundlich angelächelt. Das kann man von Herrn Smith gewiß nicht sagen.» Jan stand auf. «Komm, wir wollen zum Hotel zurückkehren. Ich will meinen Trainingsanzug anziehen, bevor wir zum Sommerhaus pilgern. Du kommst doch mit, nicht wahr? » «Natürlich.» Zehn Minuten später betraten sie die Halle. Zwei Herren sprachen mit dem Concierge, der ihnen Schlüssel reichte und sie dann hinaufbegleitete, indem er ihre Koffer trug. «Hier könnte man Arbeit als Portier finden», sagte Erling. «Ein so großes Hotel sollte sich nicht mit einem Concierge begnügen.» «Ja, es würde dir sicher gut stehen, schwere Koffer zu schleppen. Dann wärst du schnell dünn wie ein Strich. Übrigens sind hier sonst zwei Hotelburschen; nur außerhalb der Saison muß der Concierge die Arbeit allein bewältigen. Wir wollen einmal sehen, wie der kleine Mann heißt, der vorhin gekommen ist.» Sie gingen, zu der Tafel und untersuchten die Schilder. Der Mann bewohnte ein Zimmer im zweiten Stock, und auf dem Schildchen stand: «F. Jörgensen, Kaufmann.» «Und jetzt sind noch zwei neue Gäste eingetroffen», sagte Jan. «Allmählich gerät das Geschäft in Schwung.» -35-
In diesem Augenblick kamen die beiden Herren mit dem Concierge die Treppe herunter. «Nein», sagte der eine, «ich hätte lieber ein Zimmer in der Dependance. Das Zimmer, das Sie uns gezeigt haben, ist nicht nach meinem Geschmack.» «Natürlich können Sie wohnen, wo es Ihnen beliebt», versetzte der Concierge. Er begleitete die Herren hinaus, um ihnen die Zimmer in der Dependance zu zeigen. «Das ist aber komisch», platzte Jan heraus, indes die beiden Knaben die Treppe hinaufgingen. «Die Zimmer in der Dependance sind viel kleiner und weniger schön als hier im Hauptgebäude. Aber vielleicht haben die neuen Gäste nicht viel Geld.» «Oder sie wollen so ruhig wie möglich wohnen», erwiderte Erling. «Wahrhaftig, wir sind nun soweit, daß wir an allen Leuten etwas Geheimnisvolles finden. Du mußt achtgeben, daß du kein Überdetektiv wirst, alter Freund!» «Ich behaupte ja gar nicht, daß die beiden etwas Geheimnisvolles haben», entgegnete Jan. «Ich bin nur daran gewöhnt, nach dem ,Warum’ zu fragen, wenn mir etwas sonderbar vorkommt. Das kann eine sehr unterhaltsame Gewohnheit sein, und auf diese Weise erfährt man oft allerlei.» «Möglich, aber man kann alles übertreiben. Vielleicht hast du die beiden Neuankömmlinge schon als Juwelendiebe im Verdacht, was? » «Blödsinn!» «Ja, mir scheint auch, daß der Herr F. Jörgensen, Kaufmann, eher zu den Gesetzesbrechern gehören könnte. Bei einem Manne mit solch knalliger Krawatte muß doch etwas nicht stimmen!»
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Jan lachte. «Auf ihn paßt weder das Signalement von Karnoff noch das von Schleisner. Auf die beiden andern treffen die Angaben wenigstens einigermaßen zu.» «Was habe ich gesagt? Da siehst du’s! Du hegst schon in allen Richtungen Verdacht!» Jan schüttelte lachend den Kopf. «O nein, da irrst du dich. Komm, wir wollen uns beeilen.» Wenige Minuten später befanden sie sich auf dem Wege zum Sommerhaus.
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SECHSTES KAPITEL Eine Katze?
Die beiden Knaben verbrachten mit Frau Helmer und Lis ein paar vergnügliche Stunden. Es gab bei der Einrichtung des Hauses noch viel zu tun, und die Buben arbeiteten, daß es eine Lust war. Als schließlich die Dunkelheit anzubrechen begann, sagte Frau Helmer: «Höre, Erling, du mußt mit uns kommen und bei uns essen. Du hast dir eine Einladung redlich verdient.» «Vielen Dank, ich nehme sie gerne an», antwortete Erling. «Gut, abgemacht. Am besten gibst du deinen Eltern rasch Bescheid.» «Ja, wir laufen schnell hinüber.» Die Knaben gingen zum Kragschen Hause und kehrten eine halbe Stunde später zurück. «Ich muß Ihnen nochmals für die Einladung danken», sagte Erling zu Frau Helmer. «Wissen Sie, im Kragschen Sommerhaus standen Büchsenschinken, Büchsenerbsen und Büchsenkarotten auf dem Tisch, und das ist nicht gerade das, wonach ich mich nach einer schweren Schinderei sehne!» «Um so besser! Dann wollen wir nur hoffen, daß das Hotel etwas Erfreulicheres zu bieten hat. Du bist ja ein schwieriger Gast, der nicht leicht zufriedenzustellen ist. Ich finde zwar, daß Schinken, Erbsen und Karotten etwas Herrliches sind.» «Gewiß. Ich habe auch gar nichts dagegen, daß meine Eltern das essen. Aber ich ziehe Braten und frisches Gemüse vor.» «Du bist wirklich ein liebevoller Sohn», lachte Frau Helmer. «Nun müssen wir uns aber beeilen, sonst kommen wir zu spät zum Nachtessen.» -38-
Unterwegs trafen sie die zuletzt angekommenen Gäste, die offenbar einen Spaziergang unternommen hatten und ebenfalls zum Hotel zurückkehrten. Sie waren ziemlich einfach angezogen, und Jan sann unwillkürlich nach darüber, was sie wohl zu dieser Jahreszeit nach Storebäk geführt haben mochte. Auch über ihren Beruf stellte er Betrachtungen an. Nachdem er die Halle betreten hatte, sah er sofort auf der Gästetafel nach. Die beiden Männer waren als «Holger Hansen» und «Robert Nielsen» eingetragen, doch auf den Schildern war weder Beruf noch Wohnort angegeben. Durch diese Feststellung wurde Jan keineswegs klüger, aber es blieb ihm auc h keine Zeit zu weiteren Überlegungen, denn gerade rief der Gong zum Abendessen, und er mußte noch Boy aufs Zimmer bringen, die Hände waschen und sich die Haare bürsten, ehe er zu Tisch ging. Erling wurde von der Bewirtung keineswegs enttäuscht. Es gab Marksuppe, Beefsteak, Salat und Apfelkuchen mit Schlagrahm. Die Knaben widmeten sich ausgiebig den guten Gerichten, aber Jan ließ sich trotzdem Zeit, Smith und Fräulein Winther zu mustern, die am Nebentisch saßen. «Glaubst du nicht, daß wir Boy etwas Fleisch und einen Knochen sichern könnten?» fragte er seine Mutter. «Wir brauchen uns ja nur beim Kellner zu erkundigen», antwortete Frau Helmer. Jan nickte und betrachtete wieder die beiden Tischnachbarn. Fräulein Winthers eine Wange wurde von einem langen schmalen Heftpflaster geziert, das vorher nicht zu sehen gewesen war. Jan starrte wohl ziemlich unbeherrscht darauf, denn plötzlich lächelte Fräulein Winther ihm zu, und Smith sagte in weitaus höflicherem Tone, als er bis jetzt angeschlagen hatte: «Ja, meine Sekretärin ist von einer der Katzen gekratzt worden, die hier überall herumstreunen. Die Katze ist in ihr Zimmer gesprungen, und als sie das Tier auf den Arm nahm und -39-
es streicheln wollte, kratzte es sie an der Backe und sprang aus dem Fenster. Ärgerlich…» Er sprach nichts mehr, sondern richtete die Aufmerksamkeit wieder auf seinen Teller. Jan errötete ein wenig, weil er einsah, daß es nicht ganz wohlerzogen gewesen war, Fräulein Winther so unverhohlen anzustarren; doch im gleichen Augenblick begann Erling, wie es seine Art war, eine Auseinandersetzung über die Vorteile des Ochsenfleisches gegenüber dem Kalbfleisch, und so vergaß Jan den kleinen Vorfall für eine Weile. «Mir scheint, du solltest Koch werden», sagte Lis zu Erling. «Du könntest die Speisen glänzend abschmecken.» «Sehr gut möglich, daß ich Koch werde», gab Erling würdevoll zurück. «Du weißt ja, daß es keinen Zweck hat, sich an die Frauen zu wenden, wenn man wirklich gut essen will. Dann muß man einen männlichen Koch haben.» «Nun hast du’s Mutter aber gegeben!» lachte Lis. Erling war im Helmerschen Hause häufig zu Gast, und jetzt war er an der Reihe, rot zu werden. «Deine Mutter ist eine unbedingte Ausnahme», erklärte er, um die Lage zu retten. «Sie wissen doch, Frau Helmer, daß ich Sie sowohl als Mensch wie als Kochkünstlerin immer sehr hochgeschätzt habe.» «Kochkünstlerin! Das ist ein schönes Wort», erwiderte Frau Helmer. «Vielen Dank für das Kompliment, wenn es auch ein bißchen spät kommt!» Nachdem die Tafel aufgehoben war, führte Jan ein kleines vertrauliches Gespräch mit dem Kellner und ergatterte für Boy einen schönen Kalbsknochen samt einem Teller Fleischabfälle. Dann holten die beiden Knaben den Hund und führten ihn zur Fütterung vors Hotel auf den Rasen hinaus.
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Hier saßen sie auf einer Bank und genossen die Aussicht aufs Wasser. Die Sonne war untergegangen, und über der Küste lag dunkelblaue Dämmerung. An der schwedischen Küste begannen die Lichter aufzublinken, und auf dem Meer ertönte das Töffen eines verspäteten Fischerbootes. «Worüber denkst du nach, alter Detektiv?» sagte Erling zu Jan, der schon die ganze Zeit wortlos über das Wasser gestarrt hatte. «Ach, ich überlegte nur…» «Wie üblich. Immer mit einem Problem beschäftigt. Möchtest du die Juwelendiebe erwischen?» «Du bist ein Quatschkopf.» «Das ist meiner Ansicht nach keine Antwort auf meine durchaus höfliche Frage.» «Die Juwelendiebe werden kaum nach Storebäk kommen», sagte Jan lächelnd. «Es ist mir nur etwas eingefallen.» «Das ist recht schön; aber ich kenne dich und weiß, wie es zugeht, wenn dir etwas einfällt. Dann endet es stets damit, daß ich schleunigst Hilfe holen muß, während du ein halbes Dutzend Verbrecher mit einer Zahnbürste in Schach hältst! Gib acht, daß dir nicht allzuviel einfällt. Das ist ungesund, ich gerate ganz außer Atem, wenn ich rennen muß.» Jan lachte: «Ich kenne sehr wenige Menschen, die in so kurzer Zeit so viel Unsinn zusammenreden können wie du.» «Besten Dank für das Kompliment.» «Das war gar kein Kompliment. Aber du kannst mir etwas anderes sagen, denn du bist ja sehr tüchtig in Zoologie.» «Wie kommst du denn darauf?» «Ach, ich möchte nur wissen, ob du eine Katzenart kennst, die an jeder Vorderpfote nur eine Kralle hat?» «Nein, ausgeschlossen. Wie bist du bloß auf diesen Blödsinn verfallen?» -41-
«Ich dachte an das Heftpflaster, das Fräulein Winther auf der Backe hatte. Es war nur vier bis fünf Millimeter breit. Wäre es nicht viel wahrscheinlicher, daß eine Katze, die sie gekratzt hat, mehrere Krallen gebraucht hätte?» «Vielleicht. Hat das Heftpflaster nun auch etwas Geheimnisvolles? » «Das habe ich nicht behauptet. Ich dachte nur…» «Hör auf zu denken!» rief Erling. «Wenn du nicht aufhörst, geschieht etwas Schlimmes. Ich kenne dich. Übrigens sehe ich nicht ein, wieso es unmöglich sein sollte, daß eine erboste Miezekatze die hübsche Dame bloß mit einer Kralle an der Backe gekratzt hat.» «Du hast ganz recht. Ich dachte nur so.»
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SIEBENTES KAPITEL Der Schuß in der Nacht
Als Jan in süßestem Schlummer lag und Boy zufrieden in seinem Korb schnarchte, durchbrach ein Schuß die Stille der Nacht! Wie der Blitz fuhr Boy auf, und auch Jan war sofort hellwach. Er sauste aus dem Bett und zog hastig etwas an. Auf dem Gang hörte er schnelle Schritte. In aller Eile schlüpfte er in die Schuhe, ohne seine Strümpfe anzuziehen, nahm Boy an die Leine und ging hinaus, um zu schauen, was da los war. Andere Gäste liefen an ihm vorbei, als er seine Türe öffnete. Er hörte, der Schuß wäre im zweiten Stockwerk gefallen. Er selbst wohnte im dritten Stock. Er sprang die Treppe hinunter und eilte durch den Gang. Am Ende des Ganges stand die Türe eines Zimmers offen, und in der Türe erblickte er Herrn Smith. Er trug einen Pyjama und war gerade dabei, sich einen Schlafrock überzuwerfen. In der einen Hand hielt er eine Pistole. Die andern Gäste waren ebenfalls herbeigeeilt, und Jan sah auch den Concierge. «Was ist geschehen?» rief der Concierge. Smith zuckte die Schultern. «Ich weiß es selbst nicht recht… Jemand machte sich an meiner Türe zu schaffen… Ich lag im Bett und schlief längst… da hörte ich ein Geräusch… als ob jemand einbrechen wollte … Ich ergriff meine Pistole, und ohne daß ich eigentlich die Absicht hatte, ging der Schuß los. Ich gebe zu, ich war etwas nervös…» «Sind Sie sicher, daß jemand an der Türe war?» «Natürlich bin ich sicher.» «Und haben Sie jemand gesehen?» -43-
«Ich sagte Ihnen doch, daß ich hörte, wie jemand sich an der Türe zu schaffen machte; gesehen habe ich niemand. Es war, als versuchte der Betreffende die Klinke hinunterzudrücken, um die Türe zu öffnen. Sehen konnte ich nichts, denn das Licht brannte ja nicht. Aber ich muß auf mein kostbares Bild aufpassen, und ich kann es auf nichts ankommen lassen. Darum ergriff ich meine Pistole.» Smith wandte sich an die Gäste, die sich um ihn versammelt hatten. «Meine Damen und Herren, ich muß Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen einen solchen Schrecken bereitet habe. Es war gewiß nicht meine Absicht, Sie mitten in der Nacht zu wecken, aber sie verstehen sicher, daß ich besorgt bin, solange das Bild sich in meinem Zimmer befindet.» «Ja, das begreife ich», versetzte Herr Jörgensen, der zwischen den andern stand. Er trug einen fürchterlichen Schlafrock, den er am Halse zuhielt. Jan musterte ihn neugierig und bemerkte zu seiner Verwunderung etwas Weißes und Knallgelbes, das heraussah, als der Krage n des Schlafrocks einen Augenblick zur Seite rutschte. Jetzt kamen zwei weitere Hotelgäste die Treppe herauf. Es waren die beiden Neuankömmlinge, Holger Hansen und Robert Nielsen. Sie erkundigten sich eifrig und schienen sehr erpicht darauf, zu erfahren, was sich zugetragen hatte. «Wir hörten einen Schuß, und da dachten wir, daß vielleicht Hilfe nötig wäre. Man kann ja nie wissen…» «Soll ich die Polizei benachrichtigen?» fragte der Concierge. «Nein, das ist überflüssig», antwortete Smith. «Ich kann nichts beweisen, und in Wirklichkeit ist ja auch gar nichts geschehen.» «Warum hat er denn dann geschossen?» fragte Holger Hansen einen andern Gast. «Er glaubte, jemand wollte bei ihm einbrechen», lautete die Erklärung. -44-
Jan sah seine Mutter und Lis die Treppe herunterkommen. Er ging ihnen entgegen und setzte ihnen auseinander, was sich ereignet hatte, und sie kehrten beruhigt in ihr Zimmer zurück. «Meine Damen und Herren», sagte Smith, «lassen Sie sich durch diesen peinlichen Zwischenfall nicht aufhalten. Hoffentlich verzeihen Sie mir, daß Sie durch mein Verschulden so unsanft geweckt worden sind.» «Er ist nervös», sagte einer der Gäste im Fortgehen. «Aber schließlich ist der Rembrandt ja auch eine Unmenge Geld wert.» Kurz darauf waren alle Gemüter beschwichtigt, und jeder begab sich in sein Zimmer. Auch Jan ging mit Boy wieder hinauf, um weiterzuschlafen. Doch bevor er in Schlummer sank, murmelte er vor sich hin: ,Wo war eigentlich die Sekretärin? Hat sie denn gar nichts gehört?’
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ACHTES KAPITEL Die Ereignisse überstürzen sich
Natürlich brannte Joe darauf, Erling das nächtliche Abenteuer zu erzählen, aber er mußte seine Ungeduld zügeln, denn Erling ließ sich den ganzen nächsten Tag nicht blicken, und im Sommerhaus gab es so viel zu tun, daß Jan seine Mutter nicht im Stich lassen konnte. Am übernächsten Morgen putzte sich Jan gerade die Zähne, als an seine Tür geklopft wurde. Mit der Zahnbürste im Munde rief er: «Herein!» Erling trat ein. Jan sagte: «Guten Morgen. Es freut mich, dich wieder einmal zu sehen.» «Ich gebe zu, daß ich dich gestern sehr vermißt habe, aber als guter Sohn mußte ich mich auch einmal meiner Familie widmen. Wir haben einen Ausflug in die Dünen gemacht. Darf man fragen, warum du dir jetzt erst die Zähne putzt?» «Es ist ja noch nicht einmal sieben Uhr.» «Spät genug. Die Sonne steht am Himmel, und alle die lieben Vöglein lassen ihre hübschen Lieder erklingen. Gibt es etwas Neues?» Erling setzte sich auf Jans Bett und streichelte Boy, der sich aus seinem Korb erhoben hatte und zu ihm gegangen war. Jan lieferte eine malerische Beschreibung der nächtlichen Begebenheiten, während er sich fertig anzog. «Dann wohnt dein Freund, der Bilderschmuggler, also in der zweiten Etage. Dorthin habe ich mich eben verirrt. Hat er etwa das Zimmer Nummer 24?» «Ja. Weshalb?» -46-
«Anscheinend schläft er bei offener Tür. Das würde ich nicht tun, wenn ich ein so kostbares Gemälde zu bewachen hätte.» «Was meinst du damit? Steht die Türe von Nummer 24 offen?» «Sie ist angelehnt.» «Das ist aber komisch! Vorgestern nacht hat er doch mehrfach gesagt, daß er Angst hätte, sein Bild könnte gestohlen werden. Deshalb hat er ja geschossen und damit das ganze Hotel alarmiert, nur weil sich jemand an seiner Türe zu schaffen machte. Und jetzt steht die Türe offen? Das klingt sonderbar! Komm, wir wollen uns die Sache einmal näher ansehen.» Sie gingen hinaus, schlossen die Türe hinter sich und eilten die Treppe hinunter. Ja, es stimmte. Die Türe zu Smiths Zimmer stand spaltbreit offen. Jan blickte hinein, und dann zuckte er zusammen. «Komm», flüsterte er aufgeregt. «Wir müssen uns das näher anschauen.» Er öffnete die Türe ganz und trat ein. Dann blieb er stehen und schnüffelte. Erling folgte seinem Beispiel, und sie blickten einander an. «Riecht es hier nicht säuerlich?» fragte Jan. «Ja, ganz schwach», antwortete Erling. Jan wies auf das Bett, wo Walther Smith anscheinend in tiefem Schlafe lag. «Das ist sehr sonderbar», sagte er und ging zu dem Bett. Er faßte Smith am Arm und schüttelte ihn ein wenig. «Herr Smith…», rief er, «Herr Smith…» Aber Smith rührte sich nicht. Jan blickte sich in dem Zimmer um, das die Strahlen der Morgensonne durchfluteten. Dann rüttelte er abermals den Mann, der sich jedoch überhaupt nicht bewegte. Jan beugte sich über ihn und legte ihm die Hand aufs Herz. -47-
«Wenn er bloß nicht tot ist», flüsterte Erling, der an der Türe stehengeblieben war. Jan schüttelte den Kopf. «Nein, sein Herz schlägt. Aber es schlägt nur ganz leise…» Plötzlich lief er zum Fenster. Er fühlte sich mit einem Male leicht schwindlig, und er hörte Erling sagen: «Puh, ich bekomme einen so schweren Kopf…» Eiligst riß Jan beide Fensterflügel auf, so daß die frische Luft hereinströmen konnte. Er bemerkte, daß auf dem Fensterbrett viele tote Fliegen lagen, und sagte zu Erling: «Du, wir müssen Alarm schlagen. Hier is t ein Unglück geschehen… wenn es sich nicht etwa um ein Verbrechen handelt.» Sie liefen durch den Gang. Erling, der Boy am Halsband hielt, gelangte zuerst zur Treppe, doch da hielt Jan, von einer jähen Erleuchtung gepackt, inne und rief ihm zu: «Lauf zum Concierge und erzähl ihm, was wir entdeckt haben. Sag ihm, er soll sofort einen Arzt anläuten.» Er selbst ging zum Zimmer Nummer 22, das, wie er wußte, von Fräulein Winther bewohnt wurde. Mit den Knöcheln pochte er an die Türe, und von drinnen erklang die Stimme der Sekretärin: «Wer ist da?» «Herrn Smith ist etwas Schlimmes zugestoßen», antwortete Jan. «Er liegt bewußtlos in seinem Zimmer…» «Was sagst du?» rief die Stimme, und einen Augenblick später wurde die Türe geöffnet. Fräulein Winther steckte den Kopf heraus, und Jan zuckte zusammen. Er starrte sie an, und sie wurde plötzlich verwirrt. Sie warf die Türe zu, indem sie sagte: «Einen Moment.» Aber Jan wollte nicht warten. Er rannte zum Concierge hinunter, der bereits angeläutet hatte und soeben mit dem Kreisarzt sprach.
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«Komm», sagte Jan zu Erling, «laß uns etwas frische Luft schöpfen. Ich fühle mich nicht ganz wohl.» «Ich auch nicht», erwiderte Erling. «Was mag das nur gewesen sein?» Sie gingen mit Boy durch die Pendeltür. «Wir wollen nur ein bißchen Luft schnappen», schlug Jan vor. «Wir müssen dann schnell zurück und feststellen, was eigentlich los war.» «Ja, hier bietet sich Arbeit für einen Detektiv», sagte Erling. «Hast du vielleicht schon etwas herausgefunden? » Auf derartige Fragen pflegte Jan sonst ausweichend oder verneinend zu antworten; um so erstaunter war Erling, als er den Freund erwidern hörte: «Ja, du kannst dicht darauf verlassen, daß ich etwas herausgefunden habe. Wenn ich es dir erzähle, erlebst du die größte Überraschung deines Daseins.» «Na, na!» «Doch, du kannst dich darauf verlassen.» «Dann erzähl!» «Noch nicht», sagte Jan. «Schau, da kommt Herr Jörgensen. Der ist aber früh aufgestanden.» Der kleine, vierschrötige Mann kam ihnen entgegen. Als er an ihnen vorbeiging, wollte Boy an seinen Beinen schnüffeln, worauf Jörgensen, augenscheinlich erschrocken, ein paarmal heftig nach ihm trat. Der Hund wurde zornig, knurrte und zeigte die Zähne, aber Jan hielt ihn an der Leine zurück und zog ihn von dem Hotelgast fort. «Sie dürfen nicht nach ihm treten», warnte er. «Wenn er angegriffen wird, beißt er. Wenn Sie ihm nichts tun, macht er nichts.» «Gib gefälligst auf deinen Hund acht; er braucht nicht an mir herumzuschnüffeln», entgegnete Jörgensen ärgerlich und schritt weiter. -49-
Sie sahen ihn einen Feldweg einschlagen. Boy riß an der Leine, um ihm nachzustürzen, doch Jan legte dem Hund beschwichtigend die Hand auf den Kopf und sprach ihm ruhig, aber bestimmt zu. Daraufhin besänftigte Boy sich. Er sah sich neugierig um, blickte liebevoll und ergeben zu Jan auf, senkte dann die Nase und schnüffelte an irgend etwas, das auf der Landstraße lag. «Was hast du denn da gefunden, alter Bursche?» fragte Jan und bückte sich. Er hob sechs bis sieben trockene Tannennadeln auf, die er neugierig betrachtete. «Woher kommen die?» fragte Erling. «Das weiß ich nicht.» Jan schaute sich suchend um, aber in der Nähe gab es keinen Tannenwald. «Ob die Nadeln wohl von Herrn Jörgensen stammen?» «Das glaube ich nicht»,entgegnete Erling zweifelnd. «Ich halte ihn zwar für einen empfindlichen Menschen, aber daß er zur Morgenstärkung Tannennadeln verzehrt…» «Du bist ein Dummkopf. Diese Nadeln können gut in dem Umschlag seiner Hosenbeine gesteckt haben. Sie sind herausgefallen, als er nach Boy trat.» «Na schön, nehmen wir das an. Du bist ja kein Dummkopf, und so kann es sein, daß an deiner sonderbaren Vermutung etwas Wahres ist. Aber selbst wenn das der Fall wäre, was dann? » «Dann scheint es mir, daß Herr Jörgensen heute früh einen kleinen Spaziergang ins Wäldchen unternommen hat.» «Aber er ist doch von der entgegengesetzten Seite gekommen.» «Gestern hatte er einen braunen Anzug an», fuhr Jan fort, «und heute einen dunkelgrauen.» -50-
Erling sah ihn bewundernd an. «Ich muß sagen, du merkst auch alles. Aber selbst wenn unser Freund Jörgensen he ute früh einen Spaziergang ins Wäldchen unternommen hat, kann er ja gut in der andern Richtung weitergegangen sein und nun auf diesem Umweg heimkehren. Ist das nicht einleuchtend? Ich sehe nicht ein, wieso auch daran wieder etwas Geheimnisvolles sein soll.» «Das ist es vielleicht auch gar nicht. Vielleicht erklärt sich das Ganze viel einfacher, als ich glaube. Wir wollen sehen, ob wir es nicht ermitteln können, wenn wir wieder im Hotel sind. Komm, laß uns umkehren. Mir scheint, das Schwindelgefühl hat sich verloren.» «Was mag nur mit Smith vorgefallen sein?» «Nehmen wir an», sagte Jan, der sehr nachdenklich aussah, während sie langsam zum Hotel zurückgingen, «nehmen wir an, Herr Smith ist heute nacht mit irgend etwas betäubt und dann bestohlen worden… und ne hmen wir an, Jörgensen ist der Dieb. Dann könnte es ja sein, daß der Verbrecher in aller Frühe seine Diebsbeute im Wäldchen versteckt hat, und daß er hernach einen andern Rückweg eingeschlagen hat, um keinen Verdacht zu erwecken. Wenn wir weiterhin annehme n, daß…» «Daß der alte Lehrer Kipp Gummiräder hätte, so könnte man ihn als Kippwagen benutzen! Ach, für solche Phantasien ist es noch zu früh am Tage! Erst sollten wir doch einmal wissen, ob Herr Smith überhaupt bestohlen worden ist!» «Du hast recht, aber ich wollte dir auch nur beweisen, daß zwischen diesen scheinbar zusammenhanglosen Dingen, den Tannennadeln, dem Weg, den Jörgensen genommen hat, und so weiter, möglicherweise eine Verbindung besteht.» Sie hatten das Hotel erreicht, und gerade als sie eintreten wollten, sahen sie, daß die Türe der Dependance geöffnet wurde. Holger Hansen kam heraus. Er schlug den Weg ein, der zum Wäldchen hinaufführte. -51-
«Sonderbar, daß alle heute einen Morgenspaziergang unternehmen», sagte Jan. «Ob wir nicht…» Er brach ab. Erling fragte: «Ob wir nicht… was?» Aber Jan schüttelte den Kopf. Er hatte vorschlagen wollen, Holger Hansen zu folgen, doch mochte er sich nicht noch mehr Neckereien seitens des Freundes aussetzen, und außerdem wünschte er zu erfahren, wie die Dinge im Hotel mittlerweile verlaufen waren. Vor dem Eingang stand der Wagen des Arztes, und als Jan auf seine Armbanduhr blickte, stellte er fest, daß sie über zwanzig Minuten draußen gewesen waren. Der kleine Zwischenfall mit Jörgensen hatte sie aufgehalten. Der Conc ierge befand sich an seinem Pult, als die beiden Knaben eintraten. Er schüttelte den Kopf und sagte: «Jetzt ist er ganz wild!» «Wer? Smith?» fragte Jan. «Ist er wieder zu sich gekommen?» «Ja, erst ist er zu sich gekommen, und dann ist er außer sich geraten. Der Mensch, der ihm zweimal an den Kragen wollte, hat sicher nichts zu lachen, wenn Smith ihn erwischt.» «Ich gehe hinauf und schaue nach, was geschehen ist», sagte Jan zu Erling. «Warte du hier mit Boy.» «Kann ich nicht mitkommen?» «Nein, das geht nicht gut. Du mußt auf Boy aufpassen.» Jan stürmte die Treppe hinauf. Die Türe zu Smiths Zimmer stand immer noch offen, und drinnen ertönten laute Stimmen. Als Jan sich näherte, sah er Smith hin und her laufen, in Koffern wühlen und den Inhalt über Bett, Tisch und Stühle ausbreiten. Mitten im Zimmer stand ein Herr, der einen Mantel trug und eine Tasche in der Hand hatte. Das mußte der Arzt sein. Smith war in Pyjama und Schlafrock. Das Haar hing ihm in die Stirne, und er sah keineswegs so elegant aus wie sonst. Er hielt in seiner Betätigung inne und starrte Jan zornig an, als der Knabe in der Türe auftauchte. Barsch fuhr er ihn an: «Was willst du? » -52-
Auf dem Sofa saß die Sekretärin. Sie hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte erregt. «Ich wollte mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen», antwortete Jan. «Ich habe Sie nämlich gefunden.» «Ach so», sagte Smith besänftigt. «Komm herein. Erzähl mir alles.» Jan berichtete, daß sein Freund die offene Türe entdeckt hatte, daß sie dann nachgeschaut und Herrn Smith bewußtlos im Bett gefunden hatten. Sooft er in seiner Darstellung zu einem neuen Punkt kam, schluchzte die Sekretärin noch lauter. Schließlich erhob sie sich und ging hinaus, wobei sie die Hände nicht vom Gesicht fortnahm. Augenscheinlich war sie nahe daran, einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. «Ist etwas gestohlen worden?» fragte Jan, nachdem er seinen Bericht beendet hatte. «Nein, es ist nichts gestohlen worden.» «Ich dachte, weil Ihre Sekretärin so… so verzweifelt ist.» «Auf diese Weise reagieren Frauen nun einmal auf derartige Erlebnisse», entgegnete Smith kurz. Der Arzt räusperte sich und sagte: «Ich finde, wir sollten die Polizei benachrichtigen.» «Aber was ist denn eigentlich geschehen?» forschte Jan. «Wenn es kein Einbruch war, was…» «Herr Smith ist mit einem nicht ganz harmlosen Gas betäubt worden», fiel der Arzt erklärend ein. «Auf Insekten und kleinere Tiere wirkt dieses Gas tödlich, aber Menschen werden davon nur bewußtlos. Trotzdem kann es höchst unangenehme Nachwirkungen hervorrufen. In diesem Falle ist nichts Schlimmes geschehen, weil du gescheiterweise das Fenster geöffnet hast, und weil außerdem die Türe nicht fest geschlossen war, so daß das Gas entweichen konnte. Herr Smith wird keinen Schaden davontragen, nur hat er starke Kopfschmerzen, gegen -53-
die ich ihm ein Mittel gegeben habe.» Er wies auf eine Tablette, die auf dem Nachttisch lag. «Nehmen Sie diese Tablette recht bald in einem Glas Wasser, dann werden Sie sich wieder ganz frisch fühlen», sagte er zu Smith. «Aber mir scheint doch, daß man die Polizei benachrichtigen sollte.» Smith, der fortwährend hin und her gelaufen war, ärgerte sich über diesen wiederholten Vorschlag anscheinend sehr. «Können Sie mich denn nicht in Ruhe lassen?» rief er wütend. «Ich will nicht, daß die Polizei sich in meine Angelegenheiten mischt. Ich werde mich selbst darum bekümmern. Was kann denn die Polizei machen? Mich verhören, die beiden Buben verhören, die andern Gäste verhören, sonst gar nichts. Was wird dabei herauskommen? Nur Ärger und Zeitverlust. Dabei ist alles in allem genommen schließlich gar nichts geschehen!» «Na, na…» «Spuren gibt es nicht… Das Gas ist verschwunden … In meinem Gepäck fehlt nichts… Dem Rembrandt ist nichts geschehen… Wozu also die Polizei hereinziehen… Glauben Sie, ich will mir meine Ferien durch diese Schnüffler verderben lassen? Und mir den Ärger der übrigen Hotelgäste auf den Hals laden, wenn man sie stundenlang verhört? Nein, danke, Herr Doktor, da bin ich denn doch gescheiter.» Der Arzt verneigte sich. «Sie müssen natürlich selbst wissen, was für Maßnahmen Sie treffen wollen», versetzte er kurz. «Ich gab Ihnen nur einen gutgemeinten Rat. Guten Morgen.» Er nickte Jan freundlich zu und verließ das Zimmer. Smith kehrte dem Jungen den Rücken und kramte in einem Koffer. Unbeachtet schlüpfte Jan hinaus und schloß leise die Türe hinter sich.
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NEUNTES KAPITEL Erling versucht sich als Detektiv
Als die meisten Hotelgäste im Speisesaal beim Frühstück saßen, stand Smith unvermittelt auf, schlug mit dem Löffel an seine Kaffeetasse und begann eine Rede: «Ich muß Ihre Aufmerksamkeit schon wieder einen Augenblick beanspruchen», sagte er mit einem freundlichen Lächeln. «Heute nacht war ich zum zweitenmal der Gegenstand eines kleinen Schelmenstreichs. In der Nacht vorher hat irgend jemand versucht, in mein Zimmer einzudringen. Zu welchem Zweck, das ahne ich nicht. Heute nacht hat man mich mit irgendeinem harmlosen Gas betäubt. Aber zum Glück kann ich sagen, daß sonst nichts Ernstes geschehen ist. Weder habe ich selbst Schaden genommen, noch ist aus meinem Zimmer oder meinen Koffern irgend etwas verschwunden. Ich betrachte deshalb die ganze Sache als einen kleinen Scherz, der mir Angst machen soll, und ich habe mir vorgenommen, Sie selbst aufzuklären, statt die Polizei zu benachrichtigen, die uns alle mit langen Verhören plagen würde. Ob ich mich zum Detektiv eigne, weiß ich nicht, aber vielleicht darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, um Ihnen größere Unannehmlichkeiten zu ersparen.» Hierauf fragte er verschiedene Gäste, was sie in der Nacht gemacht hatten. Die meisten Befragten bekundeten, daß sie geschlafen hätten, und unter viel Spaßen und Lachen stellte Smith fest, daß keiner von ihnen im Schlafe zu wandeln pflegte. Das Ganze wurde als ein Scherz betrachtet, und niemand nahm die Fragen ernst. Einige Damen hatten gehört, Smith sei mit einer Keule niedergeschlagen worden! Gerüchte haben ja Flügel, und aus einer Mücke wird leicht ein Elefant gemacht. -55-
Aber die humoristische Art, wie Smith die Dinge nahm, brachte alle Gerüchte zum Schweigen. Es drängte Jan, der Mutter von den dramatischen Ereignissen des Morgens zu berichten, und Frau Helmer und Lis hörten ihm gefesselt zu. «Mir gefällt die Sache nicht recht», sagte Frau Helmer schließlich. «Obwohl Herr Smith das Ganze spaßhaft nimmt, finde ich es doch ziemlich ungemütlich, daß man hier im Hotel plötzlich mit Gas betäubt werden kann. Mir scheint das ein schlechter Spaß zu sein, wenn es überhaupt ein Spaß ist.» «Du mußt dich nicht beunruhigen, Mutter», beschwichtigte Jan. «Es wird sich wohl bald herausstellen, was dahintersteckt.» «Das will ich hoffen», fiel Lis ein. «Stell dir vor, wenn wir das gleiche erleben würden!» «Hu, sag das nicht», bat Frau Helmer. Erling, der erklärt hatte, daß er nur eine halbe Tasse Kaffee mittrinken wolle, weil bei ihm daheim schon um halb sieben Uhr gefrühstückt worden war (Vater Krag war in den Ferien Frühaufsteher), hatte sich nichtsdestoweniger drei Brötchen einverleibt und bestrich nun ein schönes Stück geröstetes Brot mit Marmelade. Lis sah ihm zu. «Dein Appetit macht dir alle Ehre», bemerkte sie. «Was hältst du eigentlich von einer Abmagerungskur?» «Ach, kann man denn nie in Ruhe essen?» seufzte Erling. «Liebe Lis, ich weiß dein Interesse für mein Aussehen durchaus zu schätzen. Wenn ich dir zum Entgelt ein Wort über dich sagen darf, so muß ich gestehen…» «Danke, streng dich nicht an! Ich kenne deine Bemerkungen über mein Aussehen», unterbrach ihn Lis. «Sammle dich lieber auf die kleine, bescheidene Mahlzeit, die du dir noch zu Gemüte führen willst.»
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Frau Helmer lachte: «Ihr müßt nicht allzu hart mit Erling verfahren. Außerdem dürft ihr nicht vergessen, daß er unser Gast ist. Wir wollen ihm also das Gute gönnen und froh sein, daß er mit Dank entgegennimmt, was wir ihm zu bieten haben.» Erling stand auf und verbeugte sich. «Für diese Worte sage ich Ihnen von Herzen Dank.» Hierauf setzte er sich wieder und widmete sich erneut dem Frühstück, während die andern fröhlich lachten. «Vielleicht darf ich auch erfahren, was Sie, Herr Jörgensen, heute nacht gemacht haben?» hörten sie in diesem Auge nblick Smith fragen. Jan spitzte die Ohren und blickte schnell zu dem Tisch hinüber, wo Jörgensen mit drei andern männlichen Gästen saß. Jörgensen lächelte. «Zufällig kann ich ein sehr schönes, hiebund stichfestes Alibi vorlegen», erwiderte er. «Lassen Sie hören!» «Ich habe mit den Herren, die Sie hier sehen, Bridge gespielt. Wir saßen in Herrn Marcussens Zimmer und wir brachen das Spiel erst ab, als am Morgen die Sonne aufging. Die Partie hat sich etwas lang ausgedehnt, aber sie war auch sehr interessant, nicht wahr, meine Herren?» Die übrigen bestätigten seine Erklärung, und Smith bedankte sich mit einer Verbeugung, worauf er sich an einen andern Gast wandte: «Und Sie, Herr Direktor?» «Ich habe geschlafen.» «Ja, das kann ich bezeugen», bekräftigte die Frau des Direktors. «Mein Mann gehört nicht zu den Menschen, die ganz lautlos schlafen. Er schnarcht leider. Ich selbst bin im Laufe der Nacht mehrmals erwacht…» Erling beugte sich zu Jan und flüsterte ihm zu: «Ich bin plötzlich Detektiv geworden.» «So? Inwiefern?» -57-
«Ich weiß etwas, das du nicht weißt.» «Und das wäre?» fragte Jan. Erling raunte ihm zu: «Jörgensens Alibi ist faul.» Jan dachte nach, aber er mußte es aufgeben. «Wieso?» sagte er. «Soll das heißen, daß er es doch getan haben kann?» «Ja.» Erling lehnte sich zurück und trank seinen letzten Schluck Kaffee. Dann setzte er die Tasse nieder, blickte Jan, der noch immer grübelte, frohlockend an und lachte: «Hahaha!» «Was meinst du? Warum lachst du?» «Wohl bekomm’s», sagte Frau Helmer und stand auf. Die Knaben eilten ins Freie. Als sie draußen waren, sagte Jan: «Darf ich dich jetzt um eine Erklärung bitten? Was ist los mit Jörgensens Alibi? Er hat die ganze Nacht Karten gespielt. Die drei andern Herren haben es bezeugt. Soweit es sich beurteilen läßt, sind die drei durchaus ehrliche und redliche Bürger, die sich bis jetzt nicht kannten, sondern erst hier im Hotel kennengelernt haben und zufällig Lust hatten, miteinander Bridge zu spielen. Ist daran etwas faul?» Erling lachte: «Ich kenne einen jungen Detektiv namens Jan Helmer, der mich gelehrt hat, meine Augen und Ohren gut zu gebrauchen und darauf zu achten, ob man nicht besondere Dinge herausfinden kann, wenn man das Gesehene und Gehörte schön überlegt. Derselbe Jan Helmer scheint jedoch zu meinen, daß das, was man in der Schule sieht, hört und lernt, für einen Detektiv wenig Wert hat. Aber ich muß ihm mitteilen, daß er sich in diesem Punkte irrt.» «Was soll dieser Quatsch?» «Du neckst mich immer, weil ich eine Schwäche für Zoologie habe. Nun wird der Zoologe und Detektiv Erling Krag dir etwas erzählen. Als wir heute früh in Smiths Zimmer waren, fiel mir auf, daß auf dem Fensterbrett zahlreiche tote Fliegen lagen.» «Das habe ich auch gesehen, aber…» -58-
«Nur ruhig. Ich werde dir jetzt beweisen, daß Smith erst nach Sonnenaufgang betäubt worden ist.» «Wieso…?» «Nur ruhig! Hör brav zu. In der Nacht setzen sich die Fliegen an allen möglichen und unmöglichen Stellen im Zimmer zur Ruhe, doch wenn die Sonne aufgeht, streben sie wie die meisten Insekten sogleich zum Licht und krabbeln mit Vorliebe auf der Fensterscheibe herum. Demnach bezeugen die vielen toten Fliegen auf dem Fensterbrett…» «Daß Smith nach Sonnenaufgang betäubt worden ist!» fiel Jan ein. «Du hast recht; daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Und Jörgensen sagte, sie hätten Karten gespielt, bis die Sonne aufging. Folglich… Ja, natürlich! Erling, du bist ein Genie!» Erling lachte wieder. «In Zukunft solltest du der Zoologie viel mehr Aufmerksamkeit schenken, alter Freund. Das ist gar kein langweiliges Fach. Laß dir das eine Lehre sein!» «Du hast gar nicht so unrecht», murmelte Jan. «Wahrhaftig, das ist nicht das erstemal, daß deine Kenntnisse von Nutzen sind.» «Vielleicht hast du noch die Freundlichkeit, gütigst zu beachten», sagte Erling lachend, «daß ich nic ht nur über das Leben und Treiben der Fliegen Bescheid weiß, sondern meine umfassenden Kenntnisse auch in den Dienst der Kriminalistik zu stellen verstehe. Ja, mir scheint, wir können voneinander etwas lernen!» Sie gingen wieder ins Hotel und stiegen die Treppe hinauf. Unterwegs trafen Sie Herrn Smith, der in seinem Zimmer gewesen war und nun mit Mantel und Stock die Treppe herunterkam. Die Sekretärin folgte ihm. Augenscheinlich wollten sie einen Spaziergang machen. Die Knaben warteten, bis die beiden unten waren, und bogen dann im zweiten Stock in den Gang ein, der zu Smiths Zimmer führte, wo sie vor der Türe stehenblieben. -59-
«Wie konnte man nur das betäubende Gas in das Zimmer bringen? »sagte Jan und betrachtete forschend die Türe. Plötzlich pfiff er vor sich hin und wies nach oben: «Schau! Da ist ein Astloch. Warte einen Augenblick.» Er holte einen Stuhl, der am Ende des Ganges stand, und stellte ihn vor der Türe auf. Als er hinaufgeklettert war, konnte er gerade durch das Astloch ins Zimmer hineinsehen. «Ein Erwachsener kann von draußen gut hineinspähen», sagte er. «Das Loch läuft nach innen konisch zu und ist auf der andern Türseite wohl so klein, daß man es kaum bemerken wird, wenn man nichts davon weiß. Jedenfalls ist es die leichteste Sache von der Welt, einen Gasschlauch hindurchzustecken und das Gas ins Zimmer zu blasen.» «Aber woher kommt denn das Glas?» «Aus einer Stahlflasche. Du kennst doch die Flaschen mit komprimiertem Gas?» «Ich dachte nur, das wären große, unhandliche Dinger; aber vielleicht gibt es auch kleine. Jedenfalls dürfte ein solcher Apparat nicht sehr groß sein, sonst wäre er zu schwer, und man könnte ihn nicht verbergen.» «Wir wissen ja auch nicht, was es gewesen ist. Ich sage bloß, daß es technisch möglich wäre, wenn man das Astloch benutzt. Wenn es sich bei dem Kerl, der einzubrechen versuchte, als Smith den Schuß abgab, und bei demjenigen, der das Gas angewendet hat, um die gleiche Person handelt, so hat er Smith betäubt, weil er Angst hatte, Smith könnte wieder von seiner Pistole Gebrauch machen. Er hat also das betäubende Gas durch das Astloch eingeführt und dann in aller Gemütsruhe die Türe geöffnet, ohne befürchten zu müssen, daß Smith Lärm schlagen oder sich wehren würde.» «Das ist wirklich toll», flüsterte Erling aufgeregt. «Aber was hat der Kerl wohl in dem Zimmer gesucht.» Jan setzte eine geheimnisvolle Miene auf. «Die Antwort auf diese Frage werde -60-
ich dir bald geben. Und dann wirst du Mund und Nase aufsperren.»
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ZEHNTES KAPITEL Boy findet einen Schatz
Als erstes mußte Jan nun mit seiner Mutter sprechen. Erling folgte ihm gemächlich, während Jan zu dem Zimmer eilte, das Frau Helmer und Lis bewohnten. Erling wußte, daß Jan jetzt seinem Detektivtrieb ganz und gar verfallen war, und erwartete allerlei von der nächsten Zeit. Gleichwo hl sollten ihn die Erlebnisse, die seiner harrten, einigermaßen in Erstaunen versetzen. Jan stürmte in das Zimmer, wo Frau Helmer und Lis sich gerade zum Ausgehen anzogen. «Mutter», rief er, «ich muß dich um etwas bitten. Kann ich heute frei bekommen und die Arbeit im Sommerhaus ruhen lassen? Ich möchte euch schrecklich gerne helfen, aber ich habe etwas sehr Wichtiges vor, das ich unbedingt vorher erledigen muß…» Frau Helmer sah ihn forschend an. «Es hat doch wohl nicht mit dem geheimnisvollen Überfall auf Herrn Smith zu tun? » Jan blickte zu Boden. «Ach, ich wollte nur ein paar Punkte untersuchen… ich…» Frau Helmer machte ein besorgtes Gesicht. «Ich habe es nicht gern, wenn du dich mit solchen Sachen abgibst, Jan; ich habe Angst, daß du dir dabei einmal arg die Finger verbrennst.» «Mutter, es ist sehr wichtig!» ereiferte sich Jan. «Es ist möglich, daß ich etwas ganz Sensationelles entdecke, und daß ich Vater dadurch von einer schweren Sorge befreien kann. Ich glaube bestimmt, ich habe ein großes Rätsel gelöst. Zumindest werde ich es bald lösen. Die Sache ist ganz ungefährlich. Es handelt sich bloß um ein paar Feststellungen.» -62-
Frau Helmer seufzte. «Du hast es von deinem Vater geerbt, daß du dich immerzu Gefahren aussetzen mußt. Wenn hinter dem merkwürdigen Geschehnis der vorigen Nacht wirklich ein Verbrechen steckt, kannst du leicht in eine böse Lage geraten. Ich wünschte, du würdest auf deine Feststellung verzichten.» «Ja, aber, Mutter…» «Was hast du denn vor?» «Nichts Gefährliches. Ich möchte nur einen Spaziergang ins Wäldchen machen und etwas suchen, zusammen mit Erling. Boy soll mitkommen und uns helfen, eine Spur zu verfolgen. Du kannst dich darauf verlassen, daß gar nichts Gefährliches dabei ist. Und wenn ich feststelle, daß hinter all diesen geheimnisvollen Ereignissen wirklich ein Verbrechen steckt, werde ich Vater sogleich verständigen oder mich an die Polizei wenden, das verspreche ich dir.» «Ja, das mußt du auf jeden Fall tun. Es nützt wohl nichts, dir etwas in den Weg zu legen; du hast den Detektiv nun einmal im Blut, genau wie dein Vater. Ihr müßt immer Verbrecher entlarven.» «Das ist ja auch, offen gestanden, ein sehr schöner Beruf», warf Erling ein. «Aber leider oft sehr gefährlich», versetzte Frau Helmer. «Na ja, zieht also los, aber versprich mir, Jan, daß du nicht tollkühn bist. Ich bin nur froh, daß ihr Boy bei euch habt.» Die Knaben verließen das Zimmer. «Mutter ist immer so ängstlich», sagte Jan. «Beim Segelsport ist es genau dasselbe. Im Grunde mag Mutter es nicht, daß ich segle. Sie glaubt immer, es könnte alles mögliche Schlimme geschehen.» «So sind nun einmal die Mütter», stimmte Erling zu. «Meine Mutter befürchtet zum Beispiel immer, daß ich platzen werde,
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wenn es bei uns Fleischklösse gibt. Die Mütter wollen nicht, daß man sich der kleinsten Gefahr aussetzt!» Die Buben liefen die Treppe hinunter, und Jan bat Erling, in der Halle zu warten, während er selbst in den Speisesaal ging. Er suchte ein Weilchen und fand dann auf einer Anrichte die Taschen, in denen die Servietten der Gäste steckten. Er kramte lange in dem Haufen und sah sich dabei vorsichtig um, ob er auch nicht entdeckt würde. Aber die beiden Kellner, die sonst im Speisesaal bedienten, plauderten durch den Anrichteraum hindurch mit dem Koch, so daß sie gar nicht darauf achteten, was im Speisesaal vor sich ging. Endlich fand Jan die Tasche mit Jörgensens Aufschrift. Er klappte sie auf und zog behutsam mit zwei Fingern die Serviette heraus. Er hielt sie versteckt, während er in die Halle hinausging, wo Erling mit dem Concierge über die aufregenden Begebenheiten der vergangenen Nacht sprach. «Ich verstehe nur nicht, warum er nichts von der Polizei wissen will», sagte der Concierge, «aber das ist ja seine Angelegenheit. Es gibt immer Menschen, die zu Ärzten und Polizisten kein Vertrauen haben. Ich selber schwöre auf beide. Ist man krank, soll man sich an den Arzt wenden, und ist etwas gestohlen worden, so soll man die Polizei rufen. Das ist doch klar wie dicke Suppe.» «Ja», stimmte Erling mit tiefem Ernst zu, «es wäre jedenfalls ganz verkehrt, sich an die Polizei zu wenden, wenn man den Blinddarm operieren lassen muß. Da haben Sie ganz recht.» Doch der Concierge beachtete Erlings Worte nicht, weil er von seinen eigenen Betrachtungen gänzlich in Anspruch genommen war. Jan winkte Erling zu, der sich vom Concierge verabschiedete, und gemeinsam begaben sich die Knaben ins Freie.
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«Was hast du denn im Speisesaal zu suchen gehabt?» fragte Erling. «Ich dachte, ich wäre derjenige von uns, der am meisten dort zu tun hat, wo es zu essen gibt.» «Man kann in einem Speisesaal noch anderes als eßbare Dinge finden», versetzte Jan. «Boy, alter Junge, riech einmal ein bißchen.» Jan hielt dem Hund die Serviette hin, an der Boy schnupperte. Der Hund sprang an Jan in die Höhe und zeigte großes Interesse für die Witterung. Als er genügend geschnüffelt hatte, steckte Jan die Serviette ein. «Nun wollen wir sehen, wohin du uns führst. Los, Boy, such verloren…! such verloren…!» Dieser Befehl, den alle Polizei- und Diensthunde kennen, bewog Boy sozusagen zur «Arbeit». Er begann zu kreisen und schlug schließlich die Richtung zum Wäldchen ein. «Wem gehört die Serviette, die du ihm gezeigt hast?» erkundigte sich Erling, indes sie querfeldein dem Hund nacheilten. «Herrn Jörgensen.» «Aha, meinem Fliegenfreund!» «Du bist deiner Sache scheint’s sehr sicher.» «Na ja, wenn man ausnahmsweise einmal einen genialen Einfall gehabt hat, darf man ihn keineswegs vergessen, sondern muß ihn immer wieder leuchten lassen. Aber Spaß beiseite, was suchen wir?» «Wir suchen nichts. Boy macht alles.» «Und er scheint ja nicht im Zweifel zu sein. Er hat anscheinend eine sehr schöne Spur gefunden.» Das stimmte offenbar. Als sie zu dem Wäldchen gelangten, stürmte Boy zwischen den Tannen weiter. Die Knaben liefen ihm nach, aber es fiel ihnen schwer, das stürmische Tempo des Hundes einzuhalten. -65-
Für Boy war es ja auch viel leichter, sich einen Weg zwischen den dichtesten Bäumen zu bahnen, deren Nadelzweige die Buben an Händen, Knien und im Gesicht kratzten. Endlich kamen sie zu einem schmalen Pfad, dem Boy einige hundert Meter folgte. Hier konnten sie wenigstens ein bißchen verpusten. Erling litt entschieden am meisten. Jan war so aufgeregt vor Spannung, was für ein Ergebnis diese Expedition haben würde, daß er die Beschwerlichkeiten kaum merkte. Er lief so leicht dahin wie ein Eingeborener im Urwald, und seine Augen strahlten vor Erwartung. Er war beinahe sicher, daß ihnen eine phantastische Überraschung bevorstand. Ihn selbst würde das zwar gar nicht wundernehmen, aber es wäre doch ein unvergeßliches Erlebnis, wenn alles so ging, wie er es sich dachte. Plötzlich bog Boy scharf nach links ab und verschwand wieder zwischen den Tannen. Die Buben mußten hintendrein. «Hättest du denn keine andere Serviette nehmen können?» keuchte Erling, der ins Hintertreffen zu geraten drohte. «Im Speisesaal saß eine zierliche, alte Pfarrerswitwe – ihre Serviette hättest du nehmen sollen. Ich glaube nicht, daß sie sich auf einen solchen Spaziergang durch verteufeltes Gestrüpp gewagt hätte. Sie hätte sich wie… puh… wie ein normaler und anständiger Mensch mit einem kleinen Ausflug zum Strand begnügt. Das wäre… puh… viel leichter gewesen… nein, nun kann ich bald nicht mehr.» Jan lächelte. «Begreifst du denn nicht», sagte er begeistert, «allein dieser verwickelte Weg beweist schon, daß bei dem Morgenspaziergang des Herrn Jörgensen etwas nicht stimmt!» «Ja, wahrhaftig, das leuchtet mir ein.» «Das ist doch ein merkwürdiger Weg, wenn man nur frische Luft schöpfen will.» «Weiß Gott!» -66-
Sie gelangten zu einer kleinen Lichtung. Von hier sah man zwischen den Bäumen den Himmel durchschimmern, und es zeigte sich denn auch, daß sie sich nun oben auf dem Hang befanden. Als sie die letzten Tannen hinter sich hatten, sahen sie Boy am Rande des Wäldchens stehen, wo eine einsame, dichte und breite Ta nnengruppe ein gutes Versteck bildete, hinter dem man vom Strande aus nicht erblickt werden konnte. Zwischen den Bäumen war Boy stehengeblieben. Er scharrte in der Erde und bellte ungeduldig. Jan ging zu ihm und legte ihm die Hand auf den Kopf. «Nun, nun… ruhig, Boy, ruhig. Jetzt wollen wir einmal schauen.» Er bückte sich und betrachtete die Stelle, wo Boy gescharrt hatte. Sorgsam fegte er die Tannennadeln beiseite und stapelte sie zu einem Haufen. Dann sagte er: «Nun komm und hilf mir graben, Erling.» Erling gesellte sich zu ihm. «Aber wir haben ja nichts zum Graben.» «Dann müssen wir eben die Hände gebrauchen.» «Na schön.» Die Knaben knieten nieder und begannen die Erde mit den Händen fortzuschaufeln. Boy stieß sie immer wieder mit der Schnauze an und drängte sich zwischen sie. Erling sagte: «Wir könnten uns auf den Rücken legen und herrlich ausruhen, wenn Boy imstande wäre, für uns zu graben.» «Beeil dich lieber…» Jan war vor Aufregung ganz nervös. «Was buddeln wir eigentlich heraus?» versuchte Erling eine zaghafte Frage. Aber Jan antwortete nicht.
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Eine Weile gruben sie tatkräftig, dann stießen sie auf etwas Hartes. Jan beugte sich hinunter und schaufelte wie verrückt rings um das Harte, das sie gefunden hatten. Er atmete schwer und hastig, so erregt war er. Schließlich hob er mit einem frohlockenden Lächeln einen Koffer aus dem Loch, der ungefähr vierzig Zentimeter lang und halb so breit war. Ein Schlüssel fehlte, doch als Jan sich am Schloß zu schaffen machte, sprang es auf. Jan öffnete den Deckel, und Erling schnappte vor Staunen nach Luft. In dem Koffer lag ein von einem Seidentuch lose umhülltes Bündel, und als Jan das Tuch auseinanderschlug, enthüllte sich ein Vermögen an Ringen, Broschen, Armbändern und Halsketten von feinster Arbeit, besetzt mit Brillanten, Rubinen, Smaragden und andern Edelsteinen.
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ELFTES KAPITEL Eine telephonische Verabredung
Erling ließ sich auf den Boden fallen. Fassungslos starrte er mit offenem Munde auf den Koffer und dessen schimmernden, glänzenden Inhalt. «Heiliger Bimbam! Heiliger Bimbam!» stöhnte er. «Du übernatürlich großer, uralter, phantasievoller und in jeder Weise großartiger Bimbam!» Jan blieb auf den Knien. Er breitete das Tuch mit den Juwelen auf dem Boden aus, und betrachtete seinen Fund sehr genau, besonders die größeren Stücke. «Sagte ich nicht, daß du Mund und Nase aufsperren würdest? » lachte er. Ehrung seufzte tief. «Ich habe auch meine Ohren und Augenbrauen auf gesperrt. Jetzt begreife ich, wieso du in der Lage bist, ein Sommerhaus zu kaufen und in einem Luxushotel zu wohnen. Wenn du nur in den Wald zu laufen und Verstärkung zu holen brauchst, sooft dir Geld fehlt, kannst du dir ja leicht helfen!» Er richtete sich auf. «Was ist das Zeug wohl wert?» «Jedenfalls ein Vermögen.» «Ja, aber…» «Glaubst du mir nicht? Ich verstehe zwar nicht viel von Schmuck, aber ich weiß doch, daß dieser schwere Ring hier aus massivem Platin ist, und daß der Stein, der darin sitzt, ein sehr großer und schöner Brillant ist. Es ist mir auch klar, daß ein Juwelier für dieses Armband aus Smaragden sicher zehn- oder zwölftausend Kronen verlangen würde. Und diese Halskette mit den vielen Brillanten und Rubinen kostet sicher mehr, als eine große Familie in drei Jahren für den Lebensunterhalt braucht. -69-
All das Zeug würde reichen, daß wir beide für den Rest unseres Lebens jeden Tag essen und trinken könnten, was uns gerade gelüstete, ohne daß wir einen Finger zu rühren brauchten.» «Das ist ja ausgezeichnet!» antwortete Erling. «Aber Spaß beiseite – was willst du nun machen?» «Den Schmuck mitnehmen und den Koffer wieder vergraben.» Jan legte die Schmuckstücke wieder in das Tuch, das er fest zusammenknüpfte, so daß er nichts verlieren konnte. Dann setzte er das Bündel auf den Boden, schloß den Koffer und versenkte ihn in das Loch. «So, nun müssen wir das Loch schön zuschaufeln, und den Boden wieder herrichten, damit man von unserer Schatzgräberei nichts merkt», sagte er. Abermals mußten sie die Hände als Schaufel gebrauchen. Umständlich füllten sie das Loch aus, und dann verging noch einige Zeit mit dem Glätten der Erde und dem Verteilen der Tannennadeln, bis die Stelle so aussah, als hätte niemand den vergrabenen Schatz angerührt. Nachdem dies getan war, stand Jan auf, klopfte, so gut er konnte, die Erde mit den Händen ab, steckte das Bündel mit den Juwelen unter seinen Rock und sagte: «So, nun müssen wir schnell zu unserm Sommerhaus.» «Was machen? » fragte Erling. «Die Schmucksachen verstecken.» «Wäre es nicht besser, sie der Polizei zu übergeben?» Jan schüttelte den Kopf. «Ich versprach meiner Mutter, mich an die Polizei zu wenden, wenn die Sache gefährlich wird; aber es besteht keine Gefahr – noch nicht.» «Noch nicht? Das klingt ungemütlich.» «Vielleicht kommt es auch gar nicht dazu. Jetzt wollen wir aber rasch gehen.» -70-
Sie liefen bergab durch den Wald und standen bald vor dem Helmerschen Sommerhaus. Jan ging auf die kleine Treppe zu, die zur Eingangstür hinaufführte. Die Treppe war aus Stein, und darunter befand sich ein großes dreieckiges Loch, in dem einige alte Kisten standen – vermutlich von den beim Bau des Hauses beschäftigten Handwerkern zurückgelassen. In eine der Kisten legte Jan die Juwelen. Hier würde sie wohl niemand suchen. Der Sicherheit halber stellte er eine andere Kiste darauf, und dann schritt er zur Wasserpumpe und spülte die Hände. «Na, seid ihr schon zurück? Da bin ich aber froh», erklang Frau Helmers Stimme aus dem Hause. Sie säuberte gerade die drei kleinen Schlafzimmer, während Lis, die ihre blonden Locken mit einem Kopftuch bedeckt hatte, in der Küche schrubbte und fegte. «Ja, wir sind eigentlich fertig», sagte Jan. «Aber ich würde doch ganz gerne nochmals ins Hotel gehen…» «Weshalb? Hat deine geheimnisvolle Spurensucherei zu einem Ergebnis geführt?» fragte Frau Helmer lächelnd. «Das kann man wohl behaupten», sagte Erling. «Darf ich erzählen, was wir gefunden haben, Jan?» Jan schüttelte den Kopf: «Nein, wir wollen warten, bis wir alles erzählen können.» «Ich platze beinahe vor Neugier», sagte Lis, die aus der Küchentür trat. «Du bist nicht die einzige, die beinahe platzt», lachte Erling. «Ja, aber die Ursachen sind nicht gleicher Art», entgegnete Lis schlagfertig. «Ich würde schrecklich gerne schon jetzt erzählen», sagte Jan. «Doch kann ich nur verraten, daß ich zum Hotel muß, weil ich Vater anrufen will.» «Vater? Warum denn?» -71-
«Weil er heute hierher kommen soll.» «Nicht möglich!» rief Lis. «Er kann die Juwelendiebe hier erwischen, und deshalb muß er herkommen. Das ist alles, was ich euch vorläufig verraten darf, und Erling soll ja nicht wagen, mehr zu erzählen, sonst geht die Sache möglicherweise noch schief.» «Mein Mund ist mit sieben Siegeln verschlossen – jedenfalls bis zum Mittagessen», beteuerte Erling. «Und dann ist er nur für Einbahnverkehr geöffnet, das heißt, nur für das, was hereingeht. Kein Wort dringt über meine Lippen. Übrigens werde ich mich jetzt nach Hause begeben. Wir können uns ja nach dem Essen im Hotel treffen.» «Ausgezeichnet», stimmte Jan zu. Erling verabschiedete sich und lief heim. Jan machte sich auf den Weg zum Hotel. In der Halle steuerte er stracks auf die Telephonkabine zu, aber der Concierge hielt ihn zurück. «Das Telephon ist besetzt. Du mußt einen Augenblick warten», sagte der Concierge. «Ich möchte mit Kopenhagen sprechen.» «Dann kannst du das Gespräch schon bei mir bestellen, damit ich es anmelden kann. Mit wem soll ich dich verbinden?» «Mit meinem Vater, Zentral 1558, Kriminalkommissar Mogens Helmer», antwortete Jan. «Gut, ich werde die Verbindung verlangen, sobald die Leitung frei ist.» «Danke vielmals.» In der Nähe der Telephonkabine ließ Jan sich in einem Sessel nieder. Durch die kleine Fensterscheibe in der Türe konnte er sehen, daß Walther Smith gerade telephonierte.
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Er hörte ihn sagen: «Jawohl, um fünf Uhr in Gilleleje… Aber es muß Bargeld sein…» Im gleichen Augenblick kam jemand durch die Pendeltür herein. Jan schaute auf und stellte fest, daß es Herr Krag war, Erlings Vater. Er stand auf und ging ihm entgegen. «Da bist du ja, Jan», begrüßte ihn der Großhändler. «Wo steckt denn mein hoffnungsvoller Sprößling? Ich dachte, ihr wäret beisammen.» «Nein, Erling ist eben zum Essen heimgegangen.» «So? Na ja, ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht. Dann ist er wohl nach Hause gekommen, während ich draußen war. Ich wollte mir den Rembrandt ein bißchen anschauen.» Krag wandte sich an den Concierge und fragte: «Ist Herr Smith da? Ich hätte gerne mit ihm gesprochen.» «Herr Smith telephoniert gerade», antwortete der Concierge. «Vielleicht warten Sie einen Augenblick?» «Ja», brummte Krag, «das muß ich wohl. Komm, Jan, wir setzen uns hierher.» Sie nahmen in den Sesseln Platz, aber kaum saßen sie, so öffnete sich die Tür der Telephonkabine, und Smith kam heraus. Jan wies mit dem Kinn auf ihn und sagte: «Das ist Herr Smith.» Krag erhob sich. Er trat auf Smith zu, der es jedoch sehr eilig zu haben schien. «Mein Name ist Krag… ich interessiere mich sehr für Bilder… habe zufällig eine kleine Ferienreise hierher gemacht… schönes Wetter, nicht wahr? Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit hätten, mir Ihren Rembrandt einmal zu zeigen…» Smith zuckte die Schultern und machte eine bedauernde Handbewegung. «Leider habe ich augenblicklich gar keine
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Zeit», erwiderte er. «Sonst hätte ich Ihnen das Bild mit tausend Freuden gezeigt, Herr Krog…» «Krag.» «Verzeihen Sie, Herr Krag… Aber Sie müssen mich entschuldigen… ich muß fort.» Krag räusperte sich. «Unter Umständen würde ich das Bild kaufen.» Abermals zuckte Smith die Schultern. «Bedaure unendlich… es ist bereits verkauft… Ich muß es heute abliefern… tut mir sehr leid.» Er grüßte ziemlich obenhin und entfernte sich. Sie sahen ihn die Treppe hinauflaufen. Krag drehte sich um und ging wieder zu Jan. «Das ist ja ein auffallend barscher Mensch», sagte er. «Was hätte er denn versäumt, wenn er mir das Bild gezeigt hätte? Das wäre ja in ein paar Minuten geschehen. Hm… na, schließlich ist das seine Sache. Da hat mich Erling also ganz umsonst hierher gelotst.» «Das dürfen Sie nicht sagen, Herr Krag», wiedersprach Jan. «Es hat sich wirklich sehr gelohnt…» «Soso? Meinst du? Ich möchte nur wissen, inwiefern es sich gelohnt hat.» «Das werden Sie sehr bald erfahren, aber Sie müssen mir versprechen, nicht sofort heimzureisen.» «Das hatte ich eigentlich im Sinn. Hm… komisch, daß Smith mir das Bild nicht zeigen will. An seine große Eile glaube ich nicht. Der Mann hat offenbar faule Eier im Sack. Es nimmt mich nur wunder, wer der Dummkopf ist, der das Bild gekauft hat… vermutlich irgendein Hornochse, der von Malerei nichts versteht. Hm…» «Versprechen Sie es mir?» bat Jan. «Was soll ich versprechen?» -74-
«Daß Sie nicht gleich heimreisen. Gerade jetzt brauche ich Erling so dringend. Können Sie nicht noch ein paar Tage bleiben? Das Wetter ist so schön, und…» «Das liegt dir wohl sehr am Herzen wie? Na ja… Wozu brauchst du Erling übrigens? Du willst doch wohl nicht wieder Detektiv spiele n?» «Doch, gerade das!» «Na, weißt du…» In diesem Augenblick wurden sie von dem Concierge unterbrochen, der meldete, daß die Verbindung mit Kopenhagen hergestellt war. Jan stürmte in die Telephonkabine und ergriff den Hörer. «Hier Helmer», erklang die Stimme des Vaters. «Hier spricht Jan. Guten Tag, Vater.» «Bist du’s, mein Junge? Guten Tag! Wie geht es euch?» «Glänzend! Hör, Vater, du mußt sofort herkommen.» «Warum? Es ist doch nichts vorgefallen?» «Nein, nein, aber es handelt sich um etwas sehr Wichtiges. Um die Juwelendiebe. Ich kann dir nicht viel sagen, weil man hören kann, was in der Kabine gesprochen wird. Aber die beiden Verbrecher sind hier. Und…» Jan dämpfte seine Stimme so stark wie möglich, «… ich bin im Besitz der Schmuckstücke, die sie erbeutet haben.» «Was sagst du da? » «Es ist wahr?» «Kommst du uns schon wieder ins Gehege?» «Nicht unbedingt», lachte Jan. «Ich bin beinahe hineingestoßen worden. Wann bist du hier?» «Im Laufe des Nachmittags. Das ist wohl früh genug?» «Ausgezeichnet!»
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Als Jan die Telephonkabine verließ, war Herr Krag nicht mehr in der Halle. Jan bedauerte, daß er sich nicht richtig verabschiedet hatte. Er war so plötzlich fortgelaufen, weil er zum Telephon wollte, und Erlings Vater tat ihm leid, hatte Walther Smith ihn doch so kurz und unverschämt abgefertigt. Herr Krag hatte die weite Reise unternommen in der Hoffnung, den vielberedeten Rembrandt sehen zu können, und nun hatte Smith nicht einmal ein paar Minuten Zeit für ihn. Das jähe Dröhnen des Gongs, der zum Mittagessen rief, unterbrach Jan in seinen Betrachtungen. Er sah seine Mutter und Lis durch die Pendeltür hereinkommen, und gemeinsam gingen sie in den Speisesaal. Plötzlich fiel Jan etwas ein: Er hatte ganz vergessen, Jörgensens Serviette wieder in die Tasche zu stecken. Es wurde ihm heiß um die Ohren. Die Serviette hatte er immer noch im Hosensack. Was würde geschehen, wenn Jörgensen entdeckte, daß die Serviette weg war? Doch diesmal sorgte er sich grundlos. Als er zu Jörgensens Tisch hinüberspähte, sah er, daß Jörgensen gerade eine strahlend saubere Serviette aus der Umschlagtasche zog. Offenbar hatte der Kellner beim Tischdecken gemerkt, daß die Serviette fehlte, und sogleich eine neue geholt. Jörgensen selbst war sicher ahnungslos. Jan beschloß, sich der geraubten Serviette so bald wie möglich zu entledigen. Beim Essen verhielt er sich ziemlich schweigsam. Die Mutter und Lis sprachen von dem Sommerhaus und von den vielen Dingen, die noch getan werden mußten, bis alles in Ordnung war. Man wollte das Haus erst im Frühling möblieren. In den Wintermonaten hatte man genügend Zeit, die Möbel in aller Ruhe zu kaufen, und im Frühjahr konnte man öfters übers Wochenende herfahren und alles für die Sommerferien instand stellen.
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Jan hörte diesem Gespräch nur mit halbem Ohr zu. Er war vollauf damit beschäftigt, die beiden Männer aus der Dependance, Holger Hansen und Robert Nielsen, zu beobachten, zu Jörgensen hinüberzuspähen und ab und zu einen Blick auf Walther Smith nebst Sekretärin zu werfen, die kaum ein Wort wechselten, während sie aßen. Vor allem betrachtete Jan verstohlen die Sekretärin, die wie gewöhnlich übermäßig geschminkt war; sie hatte stark gewölbte Augenbrauen, knallrote Lippen und eine Unmenge Puder auf den Wangen. Plötzlich stand Jan auf und sagte: «Entschuldige, Mutter, darf ich einen Augenblick hinausgehen?» «Ja, natürlich», antwortete Frau Helmer. «Es ist dir hoffentlich nicht schlecht?» «Nein, nein, ich möchte bloß…» Jan beendete den Satz nicht, sondern verschwand still und unbemerkt aus dem Speisesaal. Als er nach ze hn Minuten zurückkehrte, sagte Lis: «Du hast wohl nach deinem geliebten Boy gesehen?» «Ja, das war’s», erwiderte Jan friedfertig. «Ihr beide solltet von ein und demselben Teller essen», bemerkte Lis. «Jetzt kannst du nicht einmal bei Tisch bleiben, bis wir fertig sind, weil du unbedingt nach ihm schauen mußt. Boy sitzt wirklich in der Wolle, findest du nicht auch?» «Es kommt darauf an, ob die Wolle nicht kratzt», lachte Jan. Er aß weiter, ohne mehr zu sagen. Lis machte ein paarmal den Versuch, die gutmütige n Neckereien wieder in Gang zu bringen, aber alle ihre Bemühungen prallten an dem Schild seiner Gleichgültigkeit ab, denn er war in Gedanken versunken und antwortete nicht. «Jetzt gehen wir wieder zum Sommerhaus», sagte Frau Helmer, als die Mahlzeit beendet war. «Kommst du mit, Jan?»
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«Nein, ich möchte gern hierbleiben, Mutter, wenn du einverstanden bist. Ich habe noch ein paar Sachen zu erledigen…» «Ich kenne dich und weiß, was mit dir los ist, wenn du so geistesabwesend bist», lächelte Frau Helmer. «Nun, ich lasse dich in Frieden. Aber was ist eigentlich mit Vater? Kommt er her?» «Ja, im Laufe des Nachmittags.» «Oh, das freut mich. Also, leb wohl, mein Junge, und gib acht auf dich.» Jan begleitete die beiden zur Türe und begab sich dann in die Bibliothek, wo er die Bücher einer genauen Betrachtung unterzog, ehe er den spannenden Band «Im Urwald verschollen» wählte. Er steckte das Buch unter den Arm und ging in die Halle. Hier setzte er sich in einen Winkel und begann zu lesen. Aber die fesselnden Fliegerabenteuer, die der Verfasser schilderte, vermochten sein Interesse nicht lange wachzuhalten. Er war zu sehr davon in Anspruch genommen, die Gäste, die da kamen und gingen, zu beobachten. Er wartete auf bestimmte Menschen, und er war darauf vorbereitet, daß etwas geschehen würde. Von der Stelle aus, wo er saß, konnte er die ganze Halle übersehen. Vor sich hatte er die Portiersloge, und von der Seite blickte er durch die Pendeltür ins Freie. Er sah auch, wer die Treppe herunterkam, bevor er von dort zu entdecken war. Mit andern Worten, er hatte sich einen glänzenden Beobachtungsposten ausgesucht. Um nicht aufzufallen, gab er sich den Anschein, als läse er sehr angespannt in seinem Buche, und doch behielt er die ganze Halle, Türe und Treppe in den Augen. Zuerst sah er den großgewachsenen Holger Hansen hereinkommen, der zu dem Concierge ging. Er wechselte einige Worte mit ihm, aber Jan konnte nicht hören, was er sagte. Dann -78-
nahm Hansen eine Zeitung und ließ sich etwas entfernt von Jan in einem Sessel nieder. Jan scha ute in sein Buch; gleichwohl merkte er, daß Hansen ihn betrachtete. Nach einer Weile blickte Jan verstohlen auf. Holger Hansen war eifrig damit beschäftigt, seine Pfeife zu stopfen, während er sich ab und zu umsah. Dann vertiefte er sich in die Zeitung; aber Jan hatte doch den Eindruck, daß Hansen fortwährend beobachtete, was sich ringsum ereignete. ,Das ist wirklich gut’, dachte Jan und lächelte unwillkürlich. ,Da sitzen wir hier und lassen einander nicht aus den Augen. Das wird wohl zu etwas führen!’ Er nahm wieder sein Buch vor, doch in diesem Moment kam Jörgensen durch die Pendeltür herein. Auch Jörgensen ging zu dem Concierge, und Jan hörte ihn sagen: «Ich muß mit dem Drei-Uhr-Zug fahren. Geben Sie mir bitte meine Rechnung.» «Sofort», antwortete der Concierge. «Das Gepäck soll man mir an die Bahn bringen», fuhr Jörgensen fort, «aber bitte beizeiten.» Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf die Schranke, indes der Concierge die Rechnung ausstellte. Dann bezahlte er und schritt auf die Treppe zu. Er drehte sich noch einmal um und mahnte: «Aber daß mein Gepäck ja beizeiten an der Bahn ist.» «Gewiß, Sie können sich darauf verlassen», gab der Concierge zurück. Holger Hansen schaute Jörgensen nach und widmete sich dann wieder seiner Zeitung, nachdem er Jan einen prüfenden Blick zugeworfen hatte. Jan seufzte und zog seine Uhr zu Rate. Es ging auf halb drei zu. Der Vater hatte gesagt, er würde «im Laufe des Nachmittags» kommen, und das konnte geradesogut vier Uhr -79-
bedeuten. Zu dumm, daß Jan ihn nicht gebeten hatte, sofort aufzubrechen. Aber er hatte ja selbst gemeint, es wäre noch Zeit genug. ,Wenn die Vögel nur nicht ausgeflogen sind, bis Vater kommt’, dachte er besorgt. ,Ach, wäre Vater doch mit uns gefahren!’ So blieb Jan nichts anderes übrig, als sich mit all der Geduld zu wappnen, die er aufbringen konnte, und abzuwarten, was weiterhin geschehen würde.
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ZWÖLFTES KAPITEL Alle reisen ab
Kaum hatte Jan sich wieder in sein Buch versenkt, da hörte er die Pendeltür abermals gehen. Er blickte auf und sah Erling eintreten. Sowie der Freund ihn entdeckt hatte, kam er auf ihn zu und ließ sich in den nächsten Sessel fallen. «Etwas Neues?» fragte Erling. «Noch nicht.» «Wo ist Boy?» «Mutter und Lis haben ihn mitgenommen.» «Ich glaubte, du würdest ihn brauchen.» «Das glaub e ich nicht», entgegnete Jan kurz. Jan schielte zu Holger Hansen hinüber, der sich erhoben hatte und nun langsam und gemächlich zu dem Concierge schlenderte. Jan sah, daß der Concierge ihm zwei Rechnungen reichte und dann von dem Gast Geld entgegennahm. Jan wurde es heiß zumute. Es schien ja wahrhaftig, als ob alle von Storebäk abreisen wollten. Holger Hansen nahm seine Zeitung, warf nochmals einen Blick auf die Knaben und ging hinaus. Jan eilte zu dem Concierge und erkundigte sich, ob die beiden Herren aus der Dependance ebenfalls abzureisen gedächten. «Ja, sie haben soeben ihre Rechnung bezahlt», gab der Concierge bereitwillig Auskunft. «Sie wollen den Drei- Uhr-Zug nehmen. Ich muß mich beeilen damit alles Gepäck zur rechten Zeit fortkommt.» Er vertiefte sich wieder in seine Papiere. Jan kehrte zu seinem Sessel zurück und setzte sich, indem er zu Erling sagte: «Jörgensen reist ab, Hansen reist ab, Nielson -81-
reist ab. Jetzt fehlt nur noch, daß Herr Smith und Fräulein Winther ebenfalls verduften. Dann sitzen wir hier mit langen Gesichtern und ohne die Hauptpersonen in dem großen Drama.» «Tröste dich», erwiderte Erling, «wir haben immer noch die Pfarrerswitwe!» «Du, die Sache ist todernst», tadelte Jan. «Sieh, da kommen sie schon.» Herr Smith und seine Sekretärin kamen die Treppe herunter und gingen zu dem Concierge. Smith trug ein großes flaches, viereckiges Paket unter dem Arm. Das war sicher der berühmte Rembrandt. «Ich muß nach Kopenhagen fahren», sagte Smith zu dem Concierge. «Dort will jemand den Rembrandt sehen. Wenn ich angerufen werde, richten Sie nur das aus. Am späten Abend komme ich zurück. Wahrscheinlich wird es sehr spät werden…» Das Paar ging hinaus. Der Concierge sah ihnen nach und schüttelte unwillkürlich den Kopf, indem er vor sich hin murmelte: «Zwei sonderbare Vögel…» «Hör einmal, ich…» hob Erling an, aber Jan winkte ihm abwehrend ab. Jan blickte wieder auf seine Armbanduhr und verzog den Mund. «Es sieht aus, als ob das Ganze in die Binsen gehen soll», bemerkte er mißmutig. Da schrillte das Telephon. Der Concierge nahm den Hörer ab und meldete sich. Kurz darauf rief er Jan. «Der Anruf ist für dich», erklärte er. «Für mich?» wiederholte Jan verdutzt. «Ja, nimm ihn in der Kabine ab.»
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Jan stürmte zu der Telephonkabine. Er befürchtete, daß sein Vater anrief, weil er sich verspätet hatte, so daß er erst eintreffen konnte, wenn alle längst über die Berge waren. Aber Jan beruhigte sich, als er den Hörer abgenommen hatte, denn eine frische, fröhliche Stimme klang an sein Ohr: «Hallo… bist du’s, Jan? Na, du alter Gauner, da wären wir.» Jan wußte sofort, daß dieses «wir» den Juniorenklub bedeutete. «Hallo!» rief er. «Wo steckt ihr?» «Wir sind soeben in Gilleleje angekommen. Wir versprachen dir doch, dich anzurufen.» «Das ist fein. Ich komme sofort!» rief Jan. «Wartet auf alle Fälle! Wir kommen…» Er hängte schnell ein und stürzte in die Halle. «Alle reisen ab – warum sollen wir da nicht auch ein bißchen verreisen?» sagte er zu dem höchst erstaunten Erling. Aber Jan stand schon beim Concierge und erkundigte sich, wann der nächste Autobus nach Gilleleje abfuhr. «Um 14 Uhr 55», lautete der Bescheid. «Vom Hotel ab.» Jan sah auf seine Armbanduhr. «Himmel! In drei Minuten, und ich muß vorher noch einen Brief schreiben!» Geschwind nahm er von einem Schreibtisch einen Briefbogen und kritzelte hastig ein paar Zeilen. Nachdem er den Brief in einen Umschlag gesteckt hatte, gab er ihn dem Concierge und trug ihm auf, den Brief sofort Herrn Kriminalkommissar Helmer zu übermitteln, sobald er käme. «Wird gemacht», sagte der Concierge. Sie hörten den Autobus draußen hupen und sausten durch die Pendeltür.
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«Hoffentlich hast du Geld bei dir», sagte Jan, als sie im Autobus saßen. «Ich besitze nämlich kein Öre, aber wir müssen unbedingt fahren.» Erling kramte in seinen Taschen. Ja, er hatte ein paar Kronen. Sie reichten sicher für Rückfahrkarten. «Aber was wir in Gilleleje machen sollen, begreife ich nicht», seufzte Erling. «Wir wollen die Junioren begrüßen, und dann wollen wir noch etwas anderes machen, das viel spannender ist als alles, was wir bis jetzt unternommen haben.» «Na, dann wird es ja nicht langweilig. Aber hast du deiner Mutter nicht versprochen, dich an die Polizei zu wenden, wenn die Sache brenzlig wird?» «Das habe ich längst getan», antwortete Jan. «So? Und darf man fragen…?» «Nein! Wart nur ab!»
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DREIZEHNTES KAPITEL Was nun?
Sobald sie in Gilleleje angekommen waren, begaben sie sich zum Hafen. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien auf die weißen Segel der Junioren, deren Boote an einer Molle vertäut waren. In der Nähe lag ein großes schlankes Motorboot, an dessen Heck die dänische Flagge flatterte. Als die Buben vorbeikamen, sahen sie, daß es ein Zollboot war. Ein einziger Zollbeamter saß an Deck und rauchte sein Pfeifchen. Die Knaben bewunderten die schönen Linien des Motorboots, während sie schnell zu den Junioren liefen, von denen sie herzlich begrüßt wurden. «Habt ihr eine schöne Fahrt gehabt? » «Ja, nun sollt ihr hören…» Man schilderte ihnen des langen und breiten, wie vergnüglich und unterhaltend die Fahrt durch den Sund gewesen war. Jedes Boot wurde von einem erwachsenen Segler geführt, aber diese «Kindermädchen», wie sie scherzhaft genannt wurden, waren in den Ort gegangen, um Bekannte zu besuchen, und die Jungen waren allein zurückgeblieben, um die Boote in Ordnung zu bringen. Nachdem die Beschreibung der Segelfahrt beendet war, wurden Erling und Jan gefragt, wie es ihnen ergangen war. Jan sagte: «Wir stecken in solchen Erlebnissen, daß ihr euch auf einen betriebsamen Nachmittag gefaßt machen könnt.» «Was soll das heißen?» «Das soll heißen, daß wir auf der Verbrecherjagd sind.» Daraufhin erhob sich ein Stimmengesumme. Das klang wirklich spannend! -85-
«Bist du wieder einmal auf einer Fährte, du alter Detektiv?» rief ein Junge lachend. «So ungefähr», antwortete Jan. «Vorläufig kann ich euch nichts Näheres verraten, aber ihr könntet mir helfen, und zwar müßt ihr auf einen grauen Sportwagen achtgeben, in dem ein Herr und eine Dame sitzen. Wenn wir ihn sehen, müssen wir abwarten, was weiterhin geschieht…» «Das klingt sehr geheimnisvoll.» «Es ist auch geheimnisvoll. Oh, schaut nur, was für ein schönes Motorboot!» rief Jan plötzlich. «Dort läuft es ein!» In den Hafen lief ein niedriges Schnellboot ein. Es legte an einer Mole an, und zwei Männer gingen an Land. Sie setzten sich auf eine Bank, und es schien, als warteten sie auf jemand. Jan und Erling verbrachten eine Stunde mit den Kameraden, und während dieser Stunde wurde von nichts anderem als vom Segelsport gesprochen. Die Junioren hatten die Absicht, sich auch am folgenden Tage in Gilleleje aufzuhalten; danach wollten sie heimfahren. Von Helsingör bis Kopenhagen sollte ein Wettsegeln veranstaltet werden; man unterhielt sich über die Chancen und gab einander Ratschläge. Die Zeit verging auf diese Weise wie im Fluge. Plötzlich sagte einer der Knaben: «Das ist doch wohl nicht der Wagen, von dem du gesprochen hast, Jan?» Nein, es war keineswegs der perlgraue Sportwagen, der da kam, sondern im Gegenteil ein großes, schwarzes Luxusauto, das von einem Chauffeur gesteuert wurde. Darin saß ein einziger Herr. Der Wagen bog in den Hafenplatz ein und hielt an. Der Herr stieg aus und wanderte ein wenig umher, wobei er gleichgültig die Segelboote betrachtete, doch um so gespannter landeinwärts spähte. Jan sagte: «Bleibt alle hier. Ich will mir den Herrn einmal ansehen, denn ich habe das Gefühl, daß er auf dieselben -86-
Menschen wartet wie ich. Bereitet euch auf ein plötzliches Ausrücken vor.» Er schlich zu dem großen Auto, das vor einem Stapel Fischkisten stand. Hinter diesen Kisten versteckte sich Jan. Zwischen zwei Kisten hindurch konnte er sowohl den Wagen als auch den Mann sehen, der um das Auto herumging. Kurz darauf schwenkte Smiths Wagen in den Hafenplatz ein. Smith und die Sekretärin stiegen aus und begrüßten den Besitzer des schwarzen Autos, worauf die beiden Männer auf die Kisten zuschritten, hinter denen Jan versteckt lag. Sie waren ihm so nahe, daß er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Er hielt den Atem an, weil er nicht sicher war, ob man ihn nicht hören würde, wenn er tief atmete. Aber die beiden Männer waren offenbar so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie ohnehin nichts vernommen hätten. Die Sekretärin hatte sich wieder ins Auto gesetzt. Jan spitzte die Ohren und hörte Smith sagen: «Ja, Herr Holst, ich habe nun doch beschlossen, den Rembrandt zu verkaufen, weil ich eine größere Summe brauche…» «So?» gab der andere zurück. «Wollen Sie abreisen?» «Nein, nein, im Gegenteil. Ich will ein größeres Motorboot kaufen, aber der Kauf muß heute abgeschlossen werden, wenn ich das Geschäft machen will, und deshalb rief ich Sie an.» «Schön, das ist in Ordnung», sagte Holst, «aber ich verstehe nicht recht, warum wir uns hier am Hafen treffen mußten. Das ist doch gewiß nicht der geeignete Ort für einen Bilderhandel.» «Ach was», lachte Smith, «hier haben wir frische Luft und eine schöne Aussicht. Außerdem will ich hier hernach die Leute treffen, die mir das Motorboot verkaufen wollen. Auf diese Weise spare ich Zeit und brauche das Geld nicht herumzuschleppen.»
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«Na ja», sagte der andere, aber es klang nicht sehr überzeugt. Dann fügte er hinzu: «Lassen Sie mich bitte das Bild sehen.» «Hier ist es.» Smith packte das Bild aus und lehnte es an eine der Kisten. Holst trat einen Schritt zurück und betrachtete es durch ein Monokel. Hierauf öffnete er seine Aktenmappe und zog einen großen Umschlag hervor. «Sie wollten ja Bargeld haben. Es hat mir Mühe gemacht, den Betrag so rasch zu beschaffen.» «Ich muß das Motorboot bar bezahlen», erklärte Smith. «Ist der Handel in Ordnung? Zweihunderttausend Kronen?» «Ja, ich bin einverstanden», antwortete Holst und händigte Smith den Umschlag aus. «Zählen Sie bitte nach. Es sind zweihundert Tausendkronennoten. Und unterschreiben Sie mir dann diese Quittung.» Smith entnahm dem Umschlag ein Bündel Tausendkronenscheine und zählte die Noten. Währenddessen betrachtete Holst mit verzückter Miene das neuerworbene Bild. Als Smith fertig war, unterschrieb er die Quittung und überreichte sie Holst. «So, dann können wir ja Abschied nehmen», sagte er. Die beiden Männer gingen ein paar Schritte, und Jan sah, wie sie einander die Hand drückten. Holst verbeugte sich vor Fräulein Winther und stieg in sein Auto. Kurz darauf setzte sich der schwarze Wagen in Bewegung und fuhr von dannen. Smith blieb stehen und blickte ihm nach. Als die Limousine verschwunden war, regte er sich. Vom Hintersitz des Sportwagens nahm er einen Koffer. Fräulein Winther stieg aus. Zusammen schritten sie über die Mole auf das Motorboot zu, das zuletzt angekommen war. Die beiden Männer, die auf der Mole gesessen und geruhsam eine Zigarette geraucht hatten,
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erhoben sich schnell, grüßten und halfen Smith und Fräulein Winther in das Boot. Nun war guter Rat teuer. Augenscheinlich wollten die beide auf diesem Wege verschwinden. Jan stürzte, so schnell er konnte, zu den Junioren. Die Knaben hatten das Paar in das Motorboot steigen sehen, und sie waren sich darüber klar, daß Jan hinter den beiden her war. Aber was sollte er machen? Seinen Kameraden standen nur kleine, nicht besonders flinke Segelboote zur Verfügung. Damit konnte man ein schnelles, modernes Motorboot nicht einholen. So war guter Rat teuer. Plötzlich hatte Jan einen Einfall. Auf dem Wege zu den Kameraden kam er an dem Zollboot vorbei. Er warf einen raschen Blick auf Smiths Boot, dessen Motor eben ansprang, und rief den Zollbeamten an. «Hallo, ist Ihr Boot startbereit? Können Sie gleich jetzt hinausfahren? » Der Zollbeamte drehte sich bedächtig um: «Weshalb fragst du? Das ist ein Zollboot, kein Privatboot, das man mieten kann.» «Ich weiß», rief Jan und dann erläuterte er eifrig: «In dem Motorboot dort sitzen zwei steckbrieflich verfolgte Verbrecher, die gerade flüchten wollen. Wir müssen das Boot stellen. Ich bin Kriminalkommissar Helmers Sohn… ich erwarte meinen Vater, der die beiden verhaften soll, aber er scheint sich verspätet zu haben. Sie müssen mir helfen! Es handelt sich um die Juwelendiebe, von denen alle Zeitungen voll sind…» Der Zollbeamte merkte an dem ernsten Ton des Knaben, daß es kein Spaß war. Er entgegnete: «Aber meine Kollegen sind in der Stadt. Ich kann nicht ohne Besatzung fahren. Allein kann ich die vier Leute nicht überwältigen, wenn sie Widerstand leisten.» «Besatzung? Die beschaffe ich», rief Jan. Smiths Motorboot legte ab. Es galt keine Zeit zu verlieren. -89-
Jan stieß ein Gehe ul aus, das die Junioren herbeirief, und wenige Sekunden später war der Zollbeamte von Jungen in dunkelblauen Sweatern und weißen Segelmützen umringt. «Können Sie die hier brauchen?» fragte Jan. «Sie sind allesamt segelkundig, auch der Dicke hier.» Der Dicke – damit war natürlich Erling gemeint – widersprach nicht einmal. Er war bereits damit beschäftigt, die Vertäuung des Zollbootes zu lösen. «Also gut», lachte der Zollbeamte. «Steigt ein. Und los! Ich bin gern bereit, ein paar Diebe zu fangen.» Er sprang in das Boot, lief zum Motor und betätigte den Anlasser. Sogleich begann der schwere Motor sein dröhnendes Lied zu singen. Der Zollbeamte ergriff das Steuerrad. Im nächsten Augenblick schoß das Boot ins Meer hinaus, während die Junioren hurra brüllten, daß es widerhallte. Smiths Boot war inzwischen ein gutes Stück vorwärtsgekommen, doch der Zollbeamte meinte, daß sie es einholen könnten. «Allerdings braucht das seine Zeit», sagte er. «Es ist immer schwer, Versäumtes einzuholen, nicht wahr? Aber ich glaube, es gibt hier herum nicht viele Motorboote, die so flink sind wie unsere ,Möwe’. Wir werden ja sehen.» Jan blickte zurück. Die Sonne war im Begriff, unterzugehen, und die Wellen begannen die goldenen Farben anzunehmen, die von der Abendsonne oft hervorgezaubert werden. Jan sah ein Auto in den Hafenplatz einbiegen. Dort kam der Vater! Jan vertraute darauf, daß die Junioren, die als Wache bei den Segelbooten zurückgeblieben waren, dem Vater Bescheid sagen würden, so daß er nicht gleich zurückfuhr, sondern auf Jans Rückkehr wartete. Das Motorboot sauste mit voller Kraft dahin, und man konnte schon feststellen, daß der Abstand zwischen ihm und dem Flüchtenden sich beständig verringerte. Die Buben waren ungeduldig, und der ungeduldigste von allen war Jan. Er stand -90-
neben dem Zollbeamten und erzählte ihm einige Einzelheiten des Falles, während das Boot durchs Wasser raste. Es war ein prachtvolles Boot. Die Knaben, die sich keine spannendere Fahrt vorzustellen vermochten, waren wild begeistert. Jan rief alle nach achtern und gab ihnen Verhaltungsanweisungen, die sie befolgen sollten, wenn man das andere Boot längsseits hatte. Es galt ja, die vier Insassen schnell zu übermannen; da der Zollbeamte bewaffnet war, konnte man sie sicher in Schach halten. «Das schlimmere ist nur», sagte Erling, «daß unser lieber Freund, Herr Smith, ebenfalls bewaffnet ist.» «Aber er wird nicht schießen», entgegnete Jan. «Woher weißt du das? » «Du wirst’s schon sehen… Schau, gleich haben wir die Kerle eingeholt! Jetzt merken sie, daß wir sie verfolgen, und geben mehr Gas… Seid ihr alle bereit? Bald geht’s los! Ihr müßt blitzschnell sein, dann haben wir am meisten Aussichten…» Sie hatten das Boot fast eingeholt. Der Zollbeamte übergab einem der Knaben das Steuerrad, während er selbst ein Megapho n ergriff und zur Reling ging. Er rief das andere Boot an und befahl ihm, zu stoppen; aber der Mann, der es steuerte, schien den Befehl nicht zu hören. Er fuhr weiter, doch das Zollboot war schneller, so daß die beiden Boote bald Seite an Seite fuhren. Der Zollbeamte hatte wieder das Steuer ergriffen, und er drängte sein Boot dicht an den Flüchtling heran. «Los!» schrie Jan, und ein Dutzend Knaben sprangen über die Reling in das andere Boot, schneller, als es sich erzählen läßt. Der Zollbeamte hob die Pistole und zielte auf den Steuermann. «Hände hoch, oder ich schieße!» schrie er durch den Lärm der Motoren. Aber auch Smith ergriff seine Waffe. Er zielte auf den Zollbeamten, und die Pistole klickte… sie klickte nochmals… und nochmals, ohne daß ein Schuß krachte… -91-
Da waren die Knaben über ihm. Im Handumdrehen war er zu Boden gerissen. Gleich darauf lagen die beiden Männer auf dem Deck, jeder mit einigen Jungen über sich. Jan stürzte zu Fräulein Winther. Er fuhr wie ein Wilder auf sie los. Sie wehrte sich, aber er war flinker als sie. Mit jähem Griff packte er sie am Haar. Und im nächsten Augenblick hielt er eine prächtige Perücke in der Hand! Darunter kamen eine hohe Stirne und glattes schwarzes Haar zum Vorschein. Ja, auf dem Scheitel war sogar eine Glatze zu sehen. «Fräulein Winther» war ein Mann! «Fräulein Winther» hob die Faust und schlug nach Jan, doch er packte sie an den Armen und hielt sie fest. Als ihm dann zwei Kameraden zu Hilfe kamen, dauerte es nicht lange, bis man auch mit diesem vierten Mitglied der Bande fertig geworden war. Der Zollbeamte fesselte die vier Männer sorgsam mit Stricken, worauf sie in die Kajüte verfrachtet wurden. Ihr Boot wurde ins Schlepptau genommen. Mit strahlendem Gesicht wandte sich Jan an den Zollbeamten und sagte: «So, das wäre geschehen! Wissen Sie, wen wir gefangen haben? Niemand anders als Karnoff und Schleisner, die beiden Einbrecher, die man in ganz Dänemark sucht.» «Alle Achtung», rief der Zollbeamte und kratzte sich am Kopf. «Das nenne ich einen Fang!» Die Knaben überschütteten Jan mit Fragen und begeisterten Ausrufen, während das Boot wendete und auf den Hafen von Gilleleje zusteuerte, wo die Gerechtigkeit die beiden Verbrecher und ihre Helfershelfer erwartete!
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VIERZEHNTES KAPITEL Krag bekommt den Rembrandt zu sehen
Das Zollboot fuhr in den Hafen ein, und Jan spähte nach seinem Vater aus. Ja, da stand er glücklicherweise! Jan winkte und fuchtelte mit den Armen, und der Kriminalkommissar hob die Hand zum Zeichen, daß er ihn gesehen hatte. Als das Boot anlegte, war Jan der erste, der an Land sprang. «Was soll das heißen?» fragte Helmer. «Bist du wieder einmal auf dem Kriegspfad?» «Ich habe dir Karnoff und Schleisner mitgebracht», lachte Jan. «Sie liegen in der Kajüte des Zollboots.» «Donnerwetter!» entfuhr es dem Kriminalkommissar. Nun schleppten die Knaben die vier Verbrecher herbei. Helmer nahm sie in Augenschein und erklärte sie für verhaftet. Hierauf wandte er sich an den Zollbeamten, der sich hinzugesellt hatte, zeigte ihm seinen Ausweis und sagte: «Ich möchte Sie bitten, sogleich die hiesige Polizei zu verständigen. Man soll einen Wagen schicken und die Verhafteten unter scharfer Bewachung nach Kopenhagen bringen. Ich muß noch einige Dinge klarstellen, ehe ich selbst fahren kann.» «Ich werde die Polizei sogleich anrufen», erwiderte der Zollbeamte, und eine Viertelstunde später wurden die Verbrecher und ihre Helfershelfer abgeführt. Jan hatte seinem Vater einen kurzen Überblick über die Geschehnisse gegeben, und Helmer hatte die Gefangenen rasch verhört, die jedoch nicht recht mit der Sprache heraus wollten. Aber das Signalement des Steckbriefs traf so gut zu, daß sowohl Karnoff als auch Schleisner einsahen, daß sie ausgespielt hatten und ihre Identität zugaben. Damit verschwanden «Walther -93-
Smith» und «Fräulein Winther» auf immer und machten den beiden größten Juwelendieben Platz, die in den letzten Jahren die Großstädte Europas unsicher gemacht hatten. «Das ist ein Fang, auf den du sehr stolz sein kannst, Jan», sagte Helmer. «Aber nun wollen wir endlich nach Storebäk.» «Ach ja, ich sollte schon längst zu Hause sein», fiel Erling ein. «Wenn die lieben Menschen, die die Ehre haben, sich meine Eltern zu nennen, bloß keinen Schrecken bekommen haben, weil ich nicht zum Abendessen erschienen bin.» «Du solltest dich schämen, du Lausbub», sagte Helmer schmunzelnd, «hinter Verbrechern herzujagen, anstatt die Mahlzeiten einzuhalten! Das sieht dir gar nicht ähnlich.» Sie setzten sich in den Wagen des Kriminalkommissars und winkten den Junioren und dem Zollbeamten zu, nachdem Jan jedem einzelnen für seinen Beistand gedankt hatte. «Immer zu Diensten», sagte der kleinste Junge. «Wende dich nur an uns, wenn wieder einmal Verbrecher zu fangen sind.» Der Zollbeamte lachte und sagte, daß er diese Worte unterschreiben könne. Dann fuhren sie nach Storebäk. «Ich bringe dich zuerst heim, Erling», sagte der Kriminalkommissar. «Deine Eltern sollen nicht allzu sehr um dein Leben und deine Gesundheit zittern.» «Darf ich nun das Ganze erklären?» fragte Jan, während sie dahinfuhren. «Nein, noch nicht. Wir wollen damit warten, bis wir gemütlich zusammensitzen, damit alle es hören können. Hernach muß ich leider gleich wieder in die Stadt. Ich muß die Kerle der Staatsanwaltschaft übergeben, aber wenn das geschehen ist, komme ich zurück und mache ein paar Ta ge Ferien.» «Bravo!» rief Jan.
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Als sie schließlich vor dem Kragschen Sommerhaus vorfuhren, stand eine große, schwarze Limousine vor der Gartentür. «Das ist der Mann, der den Rembrandt gekauft hat», sagte Jan. «Er heißt Direktor Holst. Er wird sich wohl freuen, wenn er sieht, was ich für ihn habe.» «Was hast du denn für ihn? » «Ich habe mich als Taschendieb betätigt und die zweihunderttausend Kronen gestohlen, die er für den Rembrandt bezahlt hat.» Der Kriminalkommissar hatte keine Zeit zu antworten, denn Jan ließ die Hupe ertönen, und Frau Krag kam heraus. Hinter ihr tauchte Lis auf, und als die Neuankömmlinge eintraten, zeigte es sich, daß auch Frau Helmer da war. Sie hatten nicht begriffen, was aus den Buben geworden war, und waren zu Krags hinübergegangen, um hier nach ihnen zu fragen. «Aber wir haben uns noch nicht geängstigt», lachte Frau Helmer. «Jan hatte uns ja darauf vorbereitet, daß ihr eine Expedition unternehmen müßtet.» «Bravo, Mutter, du besserst dich wahrhaftig», lachte Jan. «Du bist ja schon ganz tapfer.» Im Wohnzimmer erklang eine zornige Stimme: «Das heißt also, daß ich hereingelegt worden bin, was?» «Ganz entschieden», antwortete Krags Baß. Sie gingen hinein. Vor dem Kamin stand Großhändler Krag im Gespräch mit Direktor Holst. Schnell wurden die Neuankömmlinge mit Direktor Holst bekannt gemacht, worauf er sogleich erklärte: «Ja, ich bin wahrhaftig von einem Schwindler nach Strich und Faden betrogen und um zweihunderttausend Kronen geprellt worden.»
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«Betrogen? Um zweihunderttausend Kronen? Wie denn?» fragte Helmer, der sich den Anschein gab, als wüßte er nichts. «Es ist schauderhaft», erwiderte Holst. «Ich bin hereingefallen. Schließlich handelt es sich um ein kleines Vermögen. Wirklich schauderhaft. Ich habe dieses Bild hier gekauft, den Rembrandt, über den die Zeitungen so viel geschrieben haben. Dieser Herr Smith, der Besitzer, wollte es plötzlich verkaufen. Ich dachte … nun ja, er hatte ja von verschiedenen Seiten Angebote erhalten. Es wäre gewiß kein schlechtes Geschäft gewesen, für zweihunderttausend Kronen einen Rembrandt zu erwerben, nicht wahr? Ich schlug also ein. Der Mann bekam den Betrag in bar. Dann bin ich rasch zu meinem alten Freunde Krag gefahren, um ihm das Bild zu zeigen. Er ist ja gewissermaßen Kunstexperte. Und stellen Sie sich vor…» «Das Bild ist eine Kopie», fiel Krag ein. «Es ist höchstens ein paar tausend Kronen wert. Eine glänzende Kopie, aber einige hundert Jahre nach Rembrandts Tod gemalt. Sie hätten mich vorher fragen sollen, Holst.» «Ja, das hätte ich tun sollen. Aber ich fürchtete, Sie würden mir das Bild wegschnappen. Wie bekomme ich nun mein Geld wieder? Der Schwindler ist natürlich längst über alle Berge. Es ist schauderhaft…» Holst griff sich an den Kopf, aber er fuhr herum und sah sehr verblüfft aus, als Jan plötzlich sagte: «Entschuldigen Sie, Herr Direktor… Ich glaube, ich habe Ihr Geld…» «Was sagst du?» Holst blieb der Mund offen stehen. Jan strahlte über das ganze Gesicht, während er aus der Tasche seines Trainingsanzugs einen dicken gelben Umschlag hervorholte, den er Herrn Holst reichte. Holst nahm den Umschlag entgegen, zog das Geld hervor und betrachtete es fassungslos. «Ja, aber… ich begreife nicht…»
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«Ich auch nicht und die andern ebensowenig», sagte Helmer. «Soll Jan uns nicht erzählen, was er in den letzten Tagen erlebt hat?» «Ja», stimmte Frau Krag eifrig zu. «Aber wir wollen dabei essen. Das Abendbrot ist fertig, und wir haben schon einige Gedecke mehr aufgelegt. Wir können sofort anfangen.» «Das vernünftigste Wort des Tages, Mamachen», sagte Erling.
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FÜNFZEHNTES KAPITEL Jan erzählt
«Also, laß uns nun den Anfang der Geschichte hören», sagte Krag, nachdem alle ihren Hunger gestillt hatten. Die Hauptereignisse hatten Jan und Erling während des Essens berichtet. «Ja, ich bin wirklich sehr gespannt, wie du den beiden auf die Spur gekommen bist», bemerkte Holst. Jan scheute sich ein wenig, vor einer so großen Versammlung eine Rede zu halten, aber sein Vater half ihm über den Berg, indem er fragte: «Das Ganze fing wohl damit an, daß du den Rembrandt für eine Fälschung hieltest, nicht wahr?» «Ja», nickte Jan, «genau so war es. Karnoff und Schleisner hatten eine gute Rembrandt-Kopie gefunden und beschlossen, sie teuer zu verkaufen. Ähnliche Schwindeleien sind ja schon öfters vorgekommen, aber der geschickte Kniff der beiden bestand darin, daß sie die Zollbehörde dazu brachten, dem Bild, das sie hatten übermalen lassen… wie soll ich mich ausdrücken?… dem Bild einen amtlichen Echtheitsstempel zu geben. Sie schrieben selbst einen anonymen Brief ans Zollamt, der ankünd igte, daß ein Herr Walther Smith, Kunsthändler von Beruf, mit einem übermalten Rembrandt ankommen würde, und daß dieser Herr Smith behaupten würde, das Bild hätte keinen Wert. Als die Zollbehörde den Brief erhielt, spitzte man natürlich die Ohren. Das Bild wurde angehalten und die Übermalung entfernt. Die Signatur kam zum Vorschein, das Bild selbst war in allen Rembrandt-Werken reproduziert. Was konnte man da anderes denken, als daß es wirklich ein echter Rembrandt wäre, den Smith über die Grenze hatte schmuggeln wollen, obwohl er selbst nichts zugab, sondern der Zollbehörde -98-
gegenüber hartnäckig dabei blieb, das Bild wäre nicht echt. Da sprach er ausnahmsweise einmal die Wahrheit. Aber er wußte ja im voraus, daß niemand ihm glauben würde, wenn er sich schließlich bereit erklärte, den Zoll und die Buße von zwanzigtausend Kronen zu bezahlen, um das Bild frei zu bekommen. Daraufhin waren natürlich alle überzeugt, daß es sich um einen echten Rembrandt handelte, und somit hatte er die besten Aussichten, das Bild zu einem hohen Preise zu verkaufen…» «Was auch geschah», seufzte Direktor Holst. «Ich muß sagen, das war eine schlaue Überlegung. Aber daß gerade ich bei diesem Spiel der Dumme sein würde, das hätte ich mir nicht träumen lassen!» «Mir wollte der Kerl das Bild nicht zeigen», warf Krag ein. «Er muß gespürt haben, daß ich den Schwindel aufgedeckt hätte.» «Wir wollen weiterhören», mahnte Helmer. «Warum aber diese ganze Komödie mit Verkleidung und so weiter?» «Die beiden Verbrecher wollten doch keinesfalls erkannt werden. Sie waren sich darüber klar, daß sie auch in Dänemark nicht sicher waren, weil die Polizei ihr Signalement in Händen hatte. Darum verkleidete sich Schleisner als Frau, und die Verkleidung gelang ihm ausgezeichnet. Sie besaßen beide einen falschen Paß und quartierten sich daraufhin, frech wie sie nun einmal sind, als Kurgäste im Storebäker Badehotel ein. Da würde die Polizei sie kaum suchen.» «Karnoff, den ich jetzt lieber wieder Smith nennen will, kaufte einen schnellen Wagen, und dann unternahmen die beiden lange Autofahrten, angeblich um den Rembrandt Kunstfreunden zu zeigen, die ihn kaufen wollten, Fahrten, die immer bis in die späte Nacht, ja oft bis zum Morgen dauerten. Währenddessen verübten sie ihre Einbrüche. Als wir gerade im Hotel angekommen waren, hörte ich, daß sich in der Nacht vorher -99-
wieder ein Diebstahl ereignet hatte, und nach Tisch sah ich die beiden Verbrecher. Smith hatte dem Concierge gesagt, sie wären in Slagelse gewesen und hätten eine Reifenpanne gehabt, so daß sie über Nacht fortbleiben mußten, und später bat er den Concierge, dafür zu sorgen, daß der Autoreifen repariert würde. Alles war sehr gut überlegt. Aber mir kam es seltsam vor, daß die Reifenpanne sie die ganze Nacht aufgehalten hatte, und auch, daß der Concierge Smiths Koffer nicht tragen durfte, als sie am frühen Morgen im Hotel erschienen. «Dann trafen drei andere geheimnisvolle Gäste ein. Zuerst kam ein Kaufmann namens Jörgensen, später erschienen Holger Hansen und Robert Nielsen. Jörgensen versuchte in der Nacht bei Smith einzudringen, aber Smith gab einen Schuß auf ihn ab und verscheuchte ihn damit. In der nächsten Nacht wiederholte Jörgensen den Versuch, doch diesmal war er so vorsichtig, Smith vorher zu betäuben, worauf er ungehindert eindringen und die gestohlenen Schmuckstücke entwenden konnte. Er vergrub sie im Tannenwäldchen hinter dem Hotel. Boy verfolgte seine Spur und zeigte uns das Versteck. Erling und ich gruben den Schatz aus.» «Aber wo ist denn der Schmuck jetzt?» fragte Krag. «Unter der Treppe unseres Sommerhauses», lachte Jan. «Nein, so etwas!» rief Frau Helmer. «Da bin ich herumgegangen, ohne zu ahnen, daß ich ein Vermögen unter den Füßen habe!» «Du brauchst dir deshalb keine Sorgen zu machen, Mutter. Die Juwelen sind gut versteckt. Kein Mensch würde sie dort suchen.» «Erzähl nun weiter, Jan», bat der Kriminalkommissar, der mit einem glücklichen Lächelnd der Erklärung seines Sohnes lauschte. «Ich bin fertig, weiter gibt es nichts zu erzählen. Wie wir die beiden fingen, wißt ihr ja schon.» -100-
«Gut, dann will ich für einen Augenblick das Wort ergreifen», sagte Helmer. «Es betrübt dich wohl, daß die drei andern geheimnisvollen Männer, Jörgensen, Hansen und Nielsen, entwischt sind, nicht wahr?» «Ja, das tut mir sehr leid. Aber wir konnten sie nicht auch noch fangen. Gegen Hansen und Nielsen lag übrigens gar nichts vor, nur ihr Benehmen war merkwürdig,» «Nein, alle konntet ihr wirklich nicht erwischen, aber ich habe auch eine Überraschung für dich. Jörgensen sitzt bereits hinter Schloß und Riegel. Und wenn du wissen willst, wie das zugegangen ist, muß ich dir erzählen, daß Hansen und Nielsen ihn festgenommen haben. Die beiden sind nämlich Kriminalbeamte, und sie waren schon lange hinter Jörgensen her, der ebensowenig Kaufmann ist wie meine Gabel hier. Er ist vielfach vorbestraft, und vor vier Monaten wurde er wegen schweren Diebstahls zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, aber er ist aus dem Gefängnis entwichen, und seit drei Monaten sucht man ihn. Jörgensen war bei einem der Einbrüche, die Karnoff und Schleisner begangen haben, zufällig Zeuge gewesen, und so folgte er ihnen, um zu sehen, ob er nicht seinerseits die Beute stehlen oder zumindest die Einbrecher erpressen könnte, daß sie mit ihm teilten. Deshalb quartierte er sich ebenfalls im Badehotel ein, und was er dann trieb, haben wir soeben gehört.» «Aber wie hast du denn die Juwelen gefunden?» fragte Frau Helmer ihren Sohn. «Boy hat sie gefunden, das sagte ich ja schon», entgegnete Jan. Boy, der mit Frau Helmer und Lis gekommen war, lag in einem Winkel und schlief. Als er seinen Namen vernahm, erhob er sich und ging zu Jan, der ihn liebevoll streichelte, während er seinen Bericht fortsetzte. «Ich hatte Jörgensen im Verdacht, daß er bei Herrn Smith eingedrungen war und die gestohlenen Juwelen entwendet hatte, -101-
obwo hl Smith immer wieder erklärte, es sei nichts weggekommen. Aber er wollte auf keinen Fall die Polizei verständigen, und das schien mir zu beweisen, daß er Dreck am Stecken hatte. Jörgensen hatten wir am frühen Morgen bei der Rückkehr von einem Spaziergang getroffen, und er war sehr aufgeregt. Darum setzte ich später am Tage Boy auf seine Spur. Boy führte uns sogleich zu der Stelle im Wäldchen, wo die Schmucksachen vergraben waren.» «Und weshalb hatten die Verbrecher es plötzlich so eilig, das Bild zu verkaufen?» wollte Holst wissen. «Sie entdeckten doch, daß ihr ganzes Diebsgut verschwunden war, und deswegen mußten sie schleunigst zu Geld kommen, um fliehen zu können. Smith rief Sie an und sagte, daß er bereit wäre, das Bild für zweihunderttausend Kronen zu verkaufen. Wer die Helfershelfer im Motorboot waren, ahne ich nicht, aber das wird sich ja herausstellen.» «Das ist auch weniger interessant», unterbrach der Kriminalkommissar. «Aber ich möchte noch wissen, wann du den ersten Verdacht gegen Karnoff und Schleisner… besser gesagt, gegen Smith und Fräulein Winther gefaßt hast, und aus welchem Grunde?» «Das war gleich am Tage nach unserer Ankunft. Erling und ich lagen am Meer in den Dünen. Smith und Fräulein Winther kamen vorbei, und ich hörte Smith sagen, daß man mit der Zollbehörde nicht jeden Tag ein so gutes Geschäft machen könnte. Das fand ich sehr merkwürdig, denn es konnte doch unmöglich ein gutes Geschäft sein, als Schmuggler entlarvt zu werden und zwanzigtausend Kronen Zoll und Buße bezahlen zu müssen, nicht wahr? Später wurde dann mein Verdacht bekräftigt…» «Inwiefern?» «Ach, auf vielerlei Weise. Nachdem ich erst einmal mißtrauisch geworden war, beobachtete ich, was die beiden -102-
machten, wie sie aussahen, und wie sie sich verhielten. Zum Beispiel fiel es mir eines Tages auf, daß Fräulein Winther ein langes, schmales Heftpflaster auf der Wange hatte. Smith erklärte, eine Katze hätte sie gekratzt, aber diese Erklärung befriedigte mich nicht restlos. Statt dessen kam mir in den Sinn, daß ich auch in deinem Gesicht, Vater, manchmal ein solches Heftpflaster gesehen habe – wenn du dich beim Rasieren geschnitten hattest! Und da dämmerte es mir, daß Fräulein Winther ein verkleideter Mann sein könnte! Es war so sonderbar, daß sie nie etwas sagte. Vermutlich ist es nicht einfach, aus einer tiefen Männerstimme eine überzeugende Frauenstimme zu machen…» «Was stelltest du außerdem fest?» «Was dem Faß den Boden ausschlug, das war der Anblick, den Fräulein Winther am Morgen bot, wo wir Smith betäubt fanden. Ich klopfte an ihre Tür und teilte ihr mit, was geschehen war. Die Dame steckte den Kopf zur Türe heraus, und dann verschwand sie ebenso plötzlich, weil sie merkte, daß ihr Anblick mir die Sprache verschlug. Aber ich hatte doch sehen können, daß sie das Kinn voller schwarzer Bartstoppeln hatte!» «Das ist aber die Höhe!» rief Frau Krag. «Nun fiel mir auch ein, daß Vater mir erzählt hatte, wie sehr Karnoff und Schleisner sich auf die Kunst des Verkleidens verstehen, und ich überlegte, ob dieses merkwürdige Paar nicht mit den beiden Verbrechern identisch sein könnte.» «Dafür sprach gar nicht so wenig. Die beiden waren vor einem Monat nach Dänemark gekommen, zur selben Zeit also, wo die Juwelendiebstähle hier angefangen hatten. In der Figur stimmten sie mit dem Signalement des Steckbriefs überein. Sie hatten in der gleichen Nacht, als der letzte Einbruch verübt worden war, eine Autofahrt unternommen und waren erst am frühen Morgen heimgekehrt. Ich untersuchte ihr Auto und entdeckte, daß ein Reserverad keine Luft hatte. Aber es war kein einziges -103-
Werkzeug beschmutzt worden. Selbst die Radwinde war so sauber, wie man es sich nur wünschen kann. Ich nahm also an, daß sie gar kein Rad gewechselt, sondern einfach den Reservereifen beschädigt hatten. Vielleicht hatten sie einen Nagel hineingetrieben und dazu noch das Ventil geöffnet. Jedenfalls erschien es mir ganz unglaublich, daß sie – wie Smith behauptete – infolge der Panne zwölf Stunden von Slagelse nach Storebäk gebraucht hatten. Eine Reifenpanne hätte eine solche Verzögerung niemals bewirken können, denn schließlich wechselt selbst ein ungeschickter Fahrer ein Rad bequem in einer Stunde.» «Ich muß sagen, du hast deine Augen und Ohren gut gebraucht», fiel Holst bewundernd ein. Kriminalkommissar Helmer kümmerte sich nicht darum, daß Jan errötete, sondern stimmte in das Lob ein: «Ja, das hat er wirklich… Aber weiter! Auf dieser losen Grundlage konntest du doch keinen wirklichen Verdacht aufbauen, nicht wahr?» «Nein, Vater, das tat ich auch nicht. Es kam noch mehr zusammen. Ich denke an den nächtlichen Einbruch bei Smith. Ich sagte schon, daß er behauptete, man hätte ihm nichts gestohlen, aber das klang nicht sehr wahrscheinlich. Der Rembrandt war allerdings noch vorhanden. Deshalb fragte ich mich, was sonst hätte gestohlen werden können? Natürlich fand ich zunächst keine Antwort. Aber es machte mich stutzig, daß Smith sich fast schroff die Einmischung der Polizei verbat, als der Arzt, den der Concierge gerufen hatte, ihre Benachrichtigung vorschlug. Augenscheinlich wollte er auf keinen Fall etwas mit der Polizei zu tun haben. Nach meinem Gefühl mußte doch etwas gestohlen worden sein, und als Dieb schien Jörgensen in Betracht zu kommen. Dieser Verdacht bestätigte sich, als Boy, auf Jörgensens Spur gesetzt, uns zu den vergrabenen Juwelen fü hrte.»
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«Ausgezeichnet», nickte Helmer. «Du bist durchaus logisch und planmäßig vorgegangen. Und wie kamst du darauf, Jörgensen zu verdächtigen?» «Auf ihn fiel mein Verdacht in der Nacht, wo wir alle durch Smiths Schuß geweckt wurden. Ziemlich viele Gäste fanden sich vor seinem Zimmer ein, und unter ihnen bemerkte ich auch Jörgensen. Er hatte Pyjamahosen und einen Schlafrock an, und den Schlafrock hielt er am Halse zusammen, aber einen kurzen Augenblick sah ich, daß er darunter ein Hemd und eine Krawatte trug. Seine Krawatte war so knallgelb, daß sie wie eine Flamme leuchtete! Ich fand es recht sonderbar, daß er sein Hemd und seine Krawatte nicht ausgezogen hatte. Es war ja mitten in der Nacht, und der Schuß hätte ihn wie uns andere im tiefsten Schlafe überrascht haben müssen. Die Pyjamahosen sprachen zwar dafür, aber hätte er, wenn er im Bett gewesen wäre, nicht ganz sicher auch Hemd und Krawatte abgelegt?» «Ich vermutete deshalb, daß Jörgensen derjenige war, der bei Smith hatte eindringen wollen. Nach dem Mißlingen seines Vorhabens war er auf sein Zimmer gerannt. Scheinbar durch den Schuß geweckt, war er dann wieder erschienen, doch da er nicht später kommen wollte, als die übrigen Gäste, hatte er keine Zeit gehabt, sich ganz umzuziehen.» «Übrigens hatte ich auch bemerkt – aber das fand ich erst später bedeutungsvoll –, daß er die Gästetafel sehr genau studierte, als er sich ein Zimmer aussuchte, Er verlangte dann ein Zimmer im gleichen Stock wie Smith.» «Heute morgen trafen Erling und ich ihn draußen. Er hatte Tannennadeln im Umschlag der Beinkleider, und ich vermutete deshalb, daß er im Wäldchen gewesen war, obwohl er von der entgegengesetzten Seite kam. Es war an sich schon seltsam, daß er so früh spazierenging, denn von den andern Gästen war noch niemand auf. Nun ja, vielleicht war er ein Frühaufsteher. Aber ich wußte ja, daß Smith in der vergangenen Nacht betäubt worden war, und ich nahm an, daß man ihn bestohlen hatte. -105-
Wenn das stimmte, so würde der Dieb wohl versuchen, seine Beute außerhalb des Hotels zu verstecken. Hatte Jörgensen das vielleicht gerade getan? Beim Frühstück verhörte Smith im Scherz die Gäste. Jörgensen betonte sein einwandfreies Alibi, er hatte nämlich mit einigen andern Gästen die ganze Nacht Bridge gespielt, bis die Sonne aufging. Und nun kamen mir Erlings Kenntnisse in Zoologie zugute, denn Erling bewies mir, daß Smith erst nach Sonnenaufgang betäubt worden war.» «Nanu, ist Erling jetzt auch unter die Detektive gegangen?» rief Vater Krag. «Von dieser Begabung hat er nie etwas merken lassen.» Erling, der gerade noch einen rechtzeitig in Sicherheit gebrachten Fleischkloß in Angriff nahm, seufzte mit gespielter Betrübnis: «Der Prophet gilt nun einmal nichts in seinem Vaterland.» Alle lachten. Dann fuhr Jan fort: «Ja, Erling führte mich auf die richtige Spur. Er machte mich nämlich darauf aufmerksam, daß in Smiths Zimmer auf dem Fensterbrett tote Fliegen lagen, und daß sie offenbar durch das Giftgas eingegangen waren, mit dem man Smith betäubt hatte. Da aber Fliegen nachts an den Zimmerwänden oder der Decke schlafen und erst morgens zum Licht streben, wobei sie mit Vorliebe am Fenster herumkrabbeln, mußte das Verbrechen nach Sonnenaufgang begangen worden sein. Mit andern Worten, Jörgensens so stark betontes Alibi war wertlos.» Kriminalkommissar Helmer fiel ein: «Ich muß Erling mein Kompliment machen. Ich schließe daraus, daß ein Junge, der sich in der Schule auszeichnet, aus seinem Wissen überall praktischen Nutzen ziehen kann, selbst auf Gebieten, wo er es nie erwartet hätte. Und ich bitte dic h, Jan, über diese Erfahrung ein wenig nachzudenken!» «Du kannst dich darauf verlassen, daß ich das tun werde», gab Jan zurück. -106-
«Übrigens kenne ich auch das Betäubungsmittel, das Jörgensen wahrscheinlich benutzt hat», fuhr der Kommissar fort. «Es handelt sich um eine ursprünglich für Kriegszwecke entwickelte Flüssigkeit, die die Eigenschaft hat, sehr schnell zu verdunsten, wenn sie mit Luft in Berührung kommt, und die in gasförmigem Zustand Betäubung herbeiführt. Auf ähnliche Weise kann man aus einer Flüssigkeit auch Tränengas erzeugen.» «In der Türe von Smiths Zimmer ist in Kopfnähe ein kleines Astloch», sagte Jan. «Ob Jörgensen das wohl benutzt hat?» «Ja, vermutlich. Er brauchte die Flüssigkeit nur durch das Loch ins Zimmer zu spritzen. Das läßt sich mit einer einfachen Vorrichtung, die man auf die Flasche mit dem Flüssigkeitsvorrat steckt, leicht machen. Aber wir sind von den Fliegen abgekommen. Was weiter?» «Die Fliegen legten mir den Gedanken nahe, daß Jörgensen bei Smith eingebrochen war. Deshalb bescha ffte ich mir seine Serviette, ließ Boy daran Witterung nehmen und setzte ihn auf Jörgensens Spur. Ich rechnete damit, daß Jörgensen die vergrabenen Schmucksachen erst später am Tage abholen würde, doch zur Sicherheit nahm ich sie mit und versteckte sie bei uns unter der Treppe. Dort liegen sie noch.» «Hoffentlich!» lachte Erling. «Ich fand von dir eine Nachricht vor, Jan, als ich nach Storebäk kam», sagte Helmer. «Du schriebst, ich sollte sogleich nach Gilleleje fahren; aber woher wußtest du, daß Smith dorthin wollte?» «Ich hörte Smith am Telephon sagen…» «Da sprach er mit mir», unterbrach Holst. «Ja, er bat Sie, um fünf Uhr am Hafen von Gilleleje zu sein und das Geld mitzubringen. Als ich später von meinen Kameraden angerufen wurde, die nach Gilleleje gesegelt waren, erkannte ich, daß wir den Kampf mit den Verbrechern gut -107-
aufnehmen konnten, und so fuhren Erling und ich sofort los. Zum Glück stimmte die Abfahrtszeit des Autobusses von Storebäk mit meinen Plänen genau überein! Das war wirklich mehr als ein Zufall.» «Du gingst bloß das Wagnis ein, mein lieber Herr Detektiv», sagte Erling, «daß die Verbrecher auf uns schießen würden.» «Nein, ich hatte mich gesichert», entgegnete Jan. «Beim Mittagessen entfernte ich mich für einen kleinen Augenblick. Mutter und Lis nahmen an, daß ich nach Boy sehen wollte, aber in Wirklichkeit stattete ich Smiths Zimmer einen Besuch ab. Dort fand ich seine Pistole, und ich nahm mir die Freiheit, sie zu entladen und die Patronen einzustecken! Sie liegen im Hotel in meinem Koffer.» «Nein, so etwas!» rief Direktor Holst, den Jans Erklärungen immer mehr verblüfft hatten. «Die Neuzeit kann wahrhaftig mit tollen Jungen aufwarten! In meiner Jugend waren wir anders.» «O nein», erwiderte Krag. «Ich war als Junge ebenso dick wie mein Sohn. Da besteht kein Unterschied.» «Na, nun muß ich aber nach den Juwelen schauen und sie an mich nehmen», sagte Helmer. «Ich beglückwünsche euch alle drei – Erling, Jan und Boy. Ihr habt etwas geleistet und das gespendete Lob vollauf verdient. Nur dürft ihr nicht übermütig werden und euch auf euren Erfolg nicht allzuviel einbilden. Ohne das tatkräftige Eingreifen des Zollbeamten wäre die Geschichte wohl schiefgegangen. Wir hätten dann zwar den Schmuck, aber nicht die Diebe gehabt.» Die Sitzung wurde aufgehoben, und der Kriminalkommissar sagte, daß er nun unverzüglich abfahren müßte. Er wollte in der Nacht noch nach Kopenhagen, um die Verbrecher zu verhören. Vorher wollte er noch die Schmucksachen und die Patronen holen. «Ihr könnt mich zum Hotel begleiten», fügte er hinzu, indem er seine Frau, Lis und Jan reihum ansah. -108-
«Ich komme mit», sagte Holst, «und ich lade alle Anwesenden zu einem vergnügten Abend im Hotelrestaurant ein. Dank Jans Geistesgegenwart bin ich ja vor einem großen Verlust bewahrt geblieben. Ich werde mich euch Buben noch erkenntlich zeigen, darauf könnt ihr euch verlassen.» «Von der Gesellschaft, bei der die Juwelen gegen Einbruch versichert waren, ist auch eine Belohnung ausgesetzt worden», lächelte Helmer. «Aber da Jan in diesem Jahr schon einmal auf ähnliche Weise Geld verdient hat, weiß ich wirklich nicht, was er damit machen soll. Ich finde, man sollte auf die Belohnung verzichten…» «Was meint ihr Buben dazu?» fragte Krag. «Ich finde», antwortete Erling, «es gibt so viele Leute, die dringend Geld brauchen und einer solchen Hilfe auch wert sind, daß wir die Belohnung sicher recht nützlich verwenden können.» «Bravo!» rief Jan. «Genau das wollte ich auch sagen.» «Dann wird sich also auch dieses Problem lösen lassen», lachte der Kriminalkommissar. «Wollen wir nun aufbrechen? » Fröhlich gingen sie alle zu den wartenden Wagen hinaus. Jan und Erling kamen zuletzt. Jan versetzte seinem dicken Freund einen sanften Rippenstoß und sagte lächelnd: «So, nun haben wir wieder ein Geheimnis entschleiert, was?» «Das Detektivinstitut Jan und Kompanie erledigt alles!» erwiderte Erling mit einer vornehmen Handbewegung. Imprimé en Suisse
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