Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #24
Jan und die Marokkaner
Die «Flying Star» strebt der Fabelstadt Casabl...
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Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #24
Jan und die Marokkaner
Die «Flying Star» strebt der Fabelstadt Casablanca entgegen, und Jan und seine Freunde wissen sich vor freudiger Erwartung kaum zu fassen. Fest nehmen sie sich vor, den klugen Ratschlägen Ingenieur Smiths zu folgen und bei ihren Streifzügen durch die unruhige arabische Altstadt zusammenzubleiben. Aber wer kann denn daran noch denken, wenn er in spannendes Feilschen um eine Kamelledertasche vertieft ist? Ein unvorsichtiges Wort, schon ist Carl in eine wilde Schlägerei verwickelt, und nun folgt Abenteuer auf Abenteuer. ISBN 3-275-00445-X Original: «Bravo Jan!», Aus dem Dänischen übersetzt von Marlène Schwörer Albert Müller Verlag, AG, Rüschlikon-Zürich, 1971
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Die Bände der Reihe «JAN ALS DETEKTIV» 1 Jan wird Detektiv 2 Jan und die Juwelendiebe 3 Jan und die Kindsräuber 4 Das Geheimnis der «Oceanic» 5 Jan und die Falschmünzer 6 Spuren im Schnee 7 Der verschwundene Film 8 Jan auf der Spur 9 Jan ganz groß! 10 Jan stellt 20 Fragen 11 Jan gewinnt die dritte Runde 12 Jan packt zu 13 Jan ruft SOS 14 Jan hat Glück 15 Jan und die Schmuggler 16 Jan, wir kommen! 17 Jan siegt zweimal 18 Jan in der Falle 19 Jan, paß auf! 20 Jan und der Meisterspion 21 Jan schöpft Verdacht 22 Jan zieht in die Welt 23 Jan auf großer Fahrt 24 Jan und die Marokkaner 25 Jan und die Leopardenmenschen 26 Jan zeigt Mut 27 Jan und das verhängnisvolle Telegramm 28 Jan wird bedroht 29 Jan in der Schußlinie 30 Jan und das Gold 31 Jan und die Dunkelmänner 32 Jan und die Rachegeister 33 Jan und die Posträuber
ALBERT MÜLLER VERLAG
Buch KNUD MEISTER UND CARLO ANDERSEN JAN UND DIE MAROKKANER Detektivgeschichte für Buben und Mädchen («Jan als Detektiv», Band 24) Die «Flying Star» strebt der Fabelstadt Casablanca entgegen, und Jan und seine Freunde wissen sich vor freudiger Erwartung kaum zu fassen. Fest nehmen sie sich vor, den klugen Ratschlägen Ingenieur Smiths zu folgen und bei ihren Streifzügen durch die unruhige arabische Altstadt zusammenzubleiben. Aber wer kann denn daran noch denken, wenn er in spannendes Feilschen um eine Kamelledertasche vertieft ist? Ein unvorsichtiges Wort, schon ist Carl in eine wilde Schlägerei verwickelt, und nun folgt Abenteuer auf Abenteuer: Carl verschwindet, der kleine anhängliche Yan Loo findet und befreit ihn, Jans Detektivader fängt bei Carls Erzählung über geheimnisvolle Tickgeräusche im Araberviertel heftig zu pochen an, er muß doch herausfinden, was das ist… es braucht Mut, tadellose Kameradschaft und Klugheit, bis das Geheimnis gelöst ist und eine dankbare Polizei den Jungen die Hände schüttelt. Sie haben wieder einmal ein spannendes Abenteuer bestanden, das Jan trotz allem ein wenig nachdenklich zurückläßt: warum wohl sind die Eingeborenen so aufgebracht? Liegt der Fehler wirklich nur bei ihnen?
ERSTES KAPITEL Seit die ‹Flying Star› den Hellerup-Hafen in Kopenhagen verlassen hatte, um ihre Weltreise anzutreten, hatten Jan und seine Freunde eine Menge Abenteuer bestanden. Schon in den vergangenen Jahren hatten die Jungen mehr erlebt als die meisten ihres Alters, aber diese Ereignisse waren doch immer auf ihr Heimatland Dänemark beschränkt geblieben. Jetzt war der Schauplatz ihrer spannenden Abenteuer die große, weite Welt. In London hatte sich die Mannschaft der ‹Flying Star› um den Chinesenjungen Yan Loo vergrößert. Yan Loo, der in der Hauptstadt Großbritanniens als Taschendieb hatte wirken müssen, war nun als «Junge für alles» an Bord der ‹Flying Star›, und dies bedeutete für den kleinen Chinesen eine geradezu märchenhafte Veränderung seines bisherigen Lebens. Dem starken Carl war es hauptsächlich zu verdanken, daß der Junge aus seiner schrecklichen Umgebung befreit worden war. Aber nicht genug damit. Das Schiff geriet mitten in der Biskaya in einen furchtbaren Orkan, und Carl rettete seinen kleinen chinesischen Freund, als dieser beinahe in den Wellen des Atlantik ertrunken wäre. Carl hatte für Yan Loo sein Leben aufs Spiel gesetzt, und es war daher nicht verwunderlich, daß Yan Loo seinen starken Freund wie einen Helden verehrte. So verständlich diese Anbetung war, so wirkte sie sich manchmal doch etwas ermüdend für Carl aus, denn Yan Loo folgte seinem ‹Herrn› wie ein Schatten; wo immer Carl anzutreffen war, Yan Loo stand bestimmt in seiner Nähe. Der Seemann Marstal, den Ingenieur Smith unter gefährlichsten Umständen während des Orkans operiert hatte, war in Santander in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Die Ärzte erklärten, er werde bald gesund sein, und daher hatte man sich geeinigt, daß er nach Casablanca fliegen sollte, um dort -4-
wieder an Bord der ‹Flying Star› zu gehen. Ingenieur Smith hatte keine Zeit in Santander zu verlieren, da seine Geschäfte ihn nicht dorthin geführt hätten. Nur Marstals bedrohlicher Zustand hatte ein Anlaufen dieses Hafens erfordert. Die Reise ging also weiter nach Lissabon. Schon einige Jahre vorher waren Jan und Erling in dieser herrlichen Stadt gewesen. Zusammen mit den übrigen Freunden erlebten sie dort auch jetzt wieder einige schöne Tage. Es war außerordentlich interessant, die bekannten Stätten wiederzusehen, wo man alte Erinnerungen auffrischen konnte, aber schon nach einer Woche fuhren sie weiter nach Casablanca. Dort hatte Ingenieur Smith im Auftrag seiner Firma wichtige Gespräche zu führen. Die Verhandlungen mit den französischen Hafenbehörden würden sicher einige Zeit in Anspruch nehmen. Auf diesen längeren Aufenthalt freuten die Jungen sich sehr, denn Casablanca erschien ihnen als eine besonders abenteuerliche Stadt, wo man sicher viel sehen und erleben konnte. Wenn sie im voraus gewußt hätten, was ihnen dort bevorstand, wären sie vielleicht etwas unsicher geworden. Ganz bestimmt hätte der kleine Jesper eine blasse Nase bekommen! Mit der Zeit hatten sich unsere Freunde an das Bordleben gewöhnt. Carl und Jan hatten nie Schwierigkeiten gehabt, sie waren ja geborene Seeleute vom echten Schlag, aber jetzt hatten sich auch Erling, Jack Morton und Yan Loo damit abgefunden, daß die Natur hier und da die Zähne zeigen konnte und daß bewegte Wellen manchmal Turmhöhe erreichten. Der kleine Jesper behauptete nun sogar, daß er jedem Orkan die Stirn bieten und nie mehr seekrank werden würde. Eine Behauptung, die von den übrigen Jungen nicht so ganz ernst genommen wurde. Während des Orkans in der Biskaya war Jesper nicht viele Heringe wert gewesen, und es blieb eine offene Frage, ob er inzwischen ganz seefest geworden war. Schließlich war es aber auch ein Unterschied, ob man im Öresund oder auf den Weltmeeren segelte! -5-
Zum großen Leidwesen der Jungen hatte Ingenieur Smith keine Veranlassung, Tanger anzulaufen. Diese internationale und als abenteuerlich geltende Stadt, die mit einer gewissen Berechtigung das «Paradies der Schwindler» genannt wurde, schien den Jungen einen Besuch wert. Smith erklärte ihnen jedoch lächelnd, daß sie möglicherweise auf der Rückreise Zeit für einen kurzen Besuch in Tanger haben würden. So blieb es denn bei der Vorfreude auf einen eventuellen Besuch dieser Stadt. Während sie nun über den Atlantik in Richtung Casablanca fuhren, freuten sich alle darüber, daß sich das Meer diesmal von seiner liebenswürdigsten Seite zeigte. Carl und Peter Nielsen wechselten am Steuer ab, und meist befand sich auch Jan auf der Brücke, wo er ab und zu seine beiden Freunde ablöste. Wenn alles so ruhig wie jetzt verlief, war es ja ein Leichtes, die ‹Flying Star› zu manövrieren. In der Kombüse regierte Erling, dem Jesper zur Hand ging, und niemand hatte Anlaß, sich über das Essen zu beschweren, das die beiden auf den Tisch brachten. Nur mußte Erling aufpassen wie ein Luchs, wenn sein kleiner Freund als Küchenjunge fungierte, denn Jesper brachte es durchaus fertig, aus Versehen Salz statt Zucker in den Nachtisch zu geben. Wenn es Erling kurz vor einem solchen Unglück gelang, das Schlimmste zu verhindern, pflegte er die Augen zu verdrehen und die Finger vor Verzweiflung weit auseinander zu spreizen, während er stöhnte: «Krümel, du wirst noch der Nagel zu meinem Sarg!» Aber Jesper lachte dann bloß und antwortete: «Ach Quatsch, du dickes Kamel! Jetzt bin ich doch schon seit vielen Jahren mit Erfolg Küchenjunge gewesen, und ihr seid mit meinem Essen alle zufrieden, auch dann wenn ich… na ja, manchmal… die Gewürze verwechsle. Peter jedenfalls findet, ich sei ein Genie im Nachtischzubereiten.» «Peter», unterbrach Erling seufzend. «Mit dem kannst du doch nicht rechnen, der ist ein Allesesser aus Fünen! Dem ist es egal, ob du Mehl, Gelatine oder Senf in den Nachtisch tust.» -6-
Und auf diese Weise konnten die beiden Freunde lange diskutieren. Erling betrachtete es als eine Ehre, wenn man in ihm einen Meisterkoch sah, während Jesper das Ganze etwas großzügiger ansah… Gegen Abend kam die afrikanische Küste in Sicht. Wie eine dünne, dunkle Linie zeichnete sie sich am südöstlichen Horizont ab, und nach den Berechnungen sollte es der ‹Flying Star› schon am nächsten Tag gege n Mittag möglich sein, in den Hafen von Casablanca einzulaufen. Die Jungen waren so gespannt, daß sie kaum noch wußten, wie sie die Zeit bis dahin verbringen sollten. Peter Nielsen versuchte ihre Vorfreude zu dämpfen. Verschmitzt sagte er: «Nein, Jungen, erwartet nicht allzuviel von Casablanca, sonst werdet ihr womöglich enttäuscht.» «Bist du schon dort gewesen?» fragte Erling. «Millionen Male», nickte Peter Nielsen, der nie mit kleinen Ziffern rechnete. «Eigentlich kann man mit Recht behaupten, daß Casabla nca meine zweite Heimat ist. Ich habe Tausende von Freunden in der Stadt. Wenn ich komme, wird ein roter Teppich ausgerollt, und zwar von ganz oben am Luxushotel bis hinunter zu dem Dampfer, mit dem ich komme. Ihr könnt euch drauf verlassen, daß wir Spaß in der Stadt haben. Und ein paarmal die Woche gehen wir auf Großwildjagd in der Umgebung…» «Großwildjagd, nein wirklich?» murmelte Jesper hingerissen. «Das hast du auch schon mitgemacht, Peter? Hattest du keine Angst?» Peter Nielsen brüstete sich: «Angst? Faß dich an deine Nase! Natürlich hatte ich keine Angst. Ich habe in ganz Marokko einen großen Namen als Jäger. Hm und ob, ich habe schon eine Unzahl von Elefanten erlegt… und Nashörner, Tiger und dergleichen.» «Ach, Tiger auch?» unterbrach ihn Erling munter. «Ja, Tausende», erklärte Peter Nielsen stolz. «Im Verlauf der Jahre habe ich so viele erlegt, daß die Behörden fast schon -7-
Schutzbestimmungen erlassen mußten, um das Wild zu schonen. Sie hatten Angst, ich würde so viele Tiger schießen, daß für die zoologischen Gärten keine übrigblieben…» «Sehr merkwürdig», lachte Erling. «Wir anderen haben da etwas in der Schule gelernt über Afrika… na ja, es soll hier nämlich gar keine Tiger geben.» Peter zögerte ein wenig. «Ja… hm… na ja, nein, kann schon sein, daß es jetzt keine mehr gibt. Hm… ich glaube… ich habe vor fünf Jahren den letzten erlegt!» Die Jungen amüsierten sich köstlich, denn in den vergangenen Wochen waren sie mit Peters Seemannsgarn ganz vertraut geworden. Der Gute legte immer so dick auf, daß niemals Zweifel über seine Geschichten bestehen konnten. Und langweilig war es nie, wenn er seine Geschichten von Stapel ließ. Wäre Peter Nielsen nicht ein so großartiger Seemann geworden, dann hätte er ohne Schwierigkeiten Schriftsteller sein können. Zumindest fe hlte es ihm nicht an der nötigen Phantasie! Casablanca – oder wie die Araber die Stadt nennen: Dar el Beida – wurde Anfang des 15. Jahrhunderts von den Portugiesen angelegt. Mehrere Jahrhunderte hindurch blieb die Stadt ohne besondere Bedeutung, aber inzwischen ist sie zur größten Stadt in Französisch-Marokko herangewachsen. Casablanca ist auch der wichtigste Hafen, während Rabat nach wie vor der Sitz der Regierung ist.* Zu Beginn dieses Jahrhunderts zählte Casablanca nur etwa 10 000 Einwohner, aber schon um 1950 war die Einwohnerzahl auf 560 000 angewachsen, was fast einem Weltrekord der schnellen Entwicklung einer Stadt gleichkommt. Die Stadt hat einen prächtigen Hafen, der aus mehreren Hafenbecken besteht, welche von einem zweieinhalb Kilometer langen Deich gegen die oft hohen Wellen des Atlantik geschützt *
Der Roman spielt vor 1962, als Marokko die völlige Unabhängigkeit erlangte. (Anm. d. Übers.) -8-
werden. Unten am Hafen befindet sich die Altstadt, die fast ausschließlich von den Eingeborenen bewohnt wird. Um diesen Stadtteil ist die neue Stadt in großen Halbkreisen entstanden, die sich landeinwärts ausbreiten. In großen Zügen läßt sich die neue Stadt in einen Stadtteil des Handels, einen der Industrie und einen der Vergnügungen aufteilen. Natürlich gehen diese Stadtteile ineinander über, aber besonders das Vergnügungsviertel ist abends deutlich erkennbar. Aus den großen Tanzlokalen ertönt Jazzmusik, die Kinos zeigen die neuesten amerikanischen Filme, und es werden auch moderne europäische Stücke gespielt. Bunte Neonreklamen und moderne amerikanische Autos beleben das ohnehin schon farbenprächtige Straßenbild. Wenn man auf dem breiten Boulevard de la Gare steht und sich die Palmenallee wegdenkt, die in der Mitte der Straße verläuft, kann man wirklich vergessen, daß man sich mitten in einer afrikanischen Stadt befindet. Im Stadtbild dominiert natürlich die eingeborene Bevölkerung, aber dem Straßenverkehr und den modernen Gebäuden nach zu urteilen, könnte man sich ebensogut in Europa oder Amerika befinden. Selbstverständlich hat Casablanca auch einen modernen Flughafen, verschiedene Eisenbahnlinien strahlen von Casablanca aus, und im Hafen ist immer etwas los. Während des Zweiten Weltkrieges – im November 1942 – wurde die Stadt von alliierten Marineeinheiten angegriffen und erobert, und einige Monate später wurde dort die berühmte ‹Casablanca-Konferenz› abgehalten, bei der Winston Churchill, der damalige britische Premierminister, und der amerikanische Präsident Roosevelt wichtige Abmachungen über die Weiterführung des Krieges trafen. Auch Stalin wurde zu diesem Zusammentreffen eingeladen, glänzte jedoch durch Abwesenheit. Es ging auch sehr gut ohne ihn. Wenn man aus einem modernen Stadtteil in die Altstadt kommt, befindet man sich sogleich in einer ganz anderen Welt. Im Eingeborenenviertel sind die Straßen eng und ziemlich -9-
schmutzig; die Häuser haben kaum je Fenster zur Straße und sehen wie halbverfallene Ruinen aus. Das Leben auf der Straße ist ganz anders als in den modernen Vierteln. Wie man weiß, sind die Araber nicht übermäßig fleißig, aber sie sind recht gute Handwerker, und in den vielen Läden werden Waren ausgestellt, die jeden Touristen anlocken. Besonders die schönen handgewebten Teppiche und die aus Kamelleder gefertigten Artikel sind als Mitbringsel bei den ausländischen Käufern sehr beliebt. Das Handeln mit den Arabern erfordert allerdings eine Engelsgeduld, denn der eingeborene Händler beginnt meist mit einem Preis, der fast doppelt so hoch ist wie der, zu dem er schließlich mehr als gern verkauft. Die ‹Flying Star› legte in einem der inneren Hafenbecken an, aber es war doch schon so spät geworden, daß Ingenieur Smith die Hafenbehörden erst am folgenden Morgen aufsuchen konnte. Dies teilte er während des Abendessens in der Kajüte mit und gab den Jungen gleichzeitig ein paar gute Ratschläge für den Aufenthalt in Casablanca. «Wie ihr ja schon alle wißt, sind die Verhältnisse in den marokkanischen Städten längst nicht mehr so friedlich wie früher. In den Zeitungen haben wir immer wieder gelesen, wie häufig sich hier Morde und andere blutige Auseinandersetzungen ereignen. Der Haß gegen die Europäer ist erneut gewachsen. Natürlich ist die Gefahr in einsamen Gegenden am größten, aber auch in den Städten sollte man auf der Hut sein. Habt ihr vor, das Eingeborenenviertel zu besuchen?» «Ja… doch… davon haben wir gesprochen», gab Jan zu. Der Ingenieur nickte. «In Ordnung. Ich habe nichts dagegen, aber ich verlange von euch, daß ihr immer zusammen geht und daß ihr Peter Nielsen mitnehmt.» «Ist es denn… ich meine, ist es so gefährlich?» murmelte der -10-
kleine Jesper und schielte ängstlich seine Freunde an. «Es könnte gefährlich werden, Jesper», sagte Ingenieur Smith. «Ich glaube zwar nicht, daß das Risiko sehr groß ist, aber ihr solltet immer zusammenbleiben.» «Besteht denn die Gefahr, daß man erschlagen wird?» wollte Jesper wissen. Dabei schaute er verängstigt auf die Tür, als erwarte er jeden Moment einen wilden Araber mit erhobenem Messer auftauchen zu sehen. «Wäre es nicht besser, wenn wir alle hier auf dem Schiff blieben und es uns gemütlich machten?» Erling klopfte seinem kleinen Freund freundschaftlich auf die Schulter. «Lieber Krümel, sei ohne Angst! Wenn du dich nur hinter dem breiten Rücken deines Onkels Erling hältst, wird dir schön nichts zustoßen. Die blutdürstigen Araber werden dich dann einfach nicht sehen.» «Ja, das mag ja sein. Aber dich können sie unmöglich übersehen», meinte Jesper. «Was habe ich schon davon, hinter deinem Rücken zu stehen, wenn du mit der Nase in die Luft gestreckt und einem Messer im Rücken daliegst?» «Dann würdest du flach wie ein Pfannkuchen gedrückt werden, mein Freund… und dann hast du auch keinen Grund zur Angst mehr.» Ingenieur Smith mußte lächeln, aber seine Stimme blieb dennoch ernst. «Na ja, Jungen, es wird schon alles in Ordnung gehen, wenn ihr euch bloß nach meinen Anweisungen richtet. Und solltet ihr vorhaben, im Eingeborenenviertel einzukaufen, dann möchte ich euch noch ein paar Tips geben. Ohne Zweifel könnt ihr eine Menge schöner Dinge dort finden, aber aufpassen müßt ihr! Vieles, was den gutgläubigen Touristen hier aufgeschwatzt wird, ist keineswegs von fleißigen Eingeborenen hergestellt worden, sondern wird schlicht und einfach aus Deutschland und Japan eingeführt.» «Das darf nicht wahr sein», ertönte es im Chor. -11-
Smith nickte lächelnd. «Worauf ihr euch verlassen könnt! Deutschland und Japan exportieren eine Menge Waren nach Marokko, die dann hier als ‹echte Heimarbeit afrikanischer Herkunft› verkauft werden. Wenn die Touristen dann zu ihren Familien zurückkehren und stolz ihre Einkäufe vorzeigen, werden sie natürlich nicht schlecht ausgelacht, wenn das wunderschöne Zeichen ‹Made in Germany› entdeckt wird. Und schließlich noch eins. Zahlt niemals den Preis, den ein arabischer Kaufmann zu Beginn verlangt. Wenn es einen bestimmten Artikel gibt, den ihr unbedingt haben möchtet, dann müßt ihr mit dem Kaufmann so lange handeln, bis er ihn für ein Drittel des ursprünglich verlangten Preises hergibt.» «Darauf läßt sich doch ein Araber nie ein», meinte Carl. Der Ingenieur lachte. «Aber gewiß, du mußt nur genügend Geduld haben. Vergiß nicht, daß ein Araber richtig enttäuscht ist, wenn du nicht mit ihm handelst. Nach Herzenslust Handeln ist ja sein ganzer Spaß, und er weiß genau, daß er nicht übervorteilt wird. Ja, so sind nun einmal die Handelsbräuche in Casablanca und anderen afrikanischen Städten, man muß es bloß wissen. Wenn ein Fremder das zahlt, was zu Anfang verlangt wird, dann verachten ihn die Araber höchstens ein wenig.» «Vielleicht kommt er sich obendrein etwas geprellt vor?» fragte Jan lächelnd. «Ja, so kann man es ausdrücken», nickte der Ingenieur. «Und damit habe ich euch ein paar Ratschläge gegeben, die ihr tunlichst befolgen solltet. Vor allem bestehe ich darauf, daß ihr nur gemeinsam ausgeht. Sind wir uns darin einig?» «Vollkommen», ertönte es im Chor. «Wir werden schon aufpassen!» «Gibt es im Araberviertel nicht französische Polizei?» fragte Jesper etwas bedrückt. Der Ingenieur lächelte. «Doch, natürlich, Jesper, aber ab und zu sieht man sie nicht. Und du darfst nicht vergessen, daß sich -12-
Europäer auf eigene Gefahr in die Araberviertel begeben. Das wird von den französischen Behörden immer wieder betont. Wenn man erst auf mysteriöse Weise in einem der Eingeborenenviertel verschwunden ist, besteht die Möglichkeit, daß man nie wieder auftaucht. Die Araber halten zusammen… das mußt du dir merken!» «Ja», murmelte Jesper. «Das werde ich mir bestimmt merken, darauf können Sie sich verlassen. Sind die Araber geschickt im Umgang mit Messern?» «Erstklassige Spezialisten», nickte Smith. Es schüttelte Jesper beim bloßen Gedanken, und er war noch immer bedrückt und schweigsam, als er eine halbe Stunde später mit seinen Freunden zusammen draußen auf Deck saß. Erling bemerkte das und sagte tröstend: «Nun laß den Kopf nicht hängen, mein Freund; ich habe gute Nachrichten für dich…» «Wie?» Erling nickte. «Ja, morgen, wenn wir unseren ersten Besuch in der Altstadt machen, muß einer hier als Wache zurückbleiben… und das wirst du sein!» Jesper zuckte zusammen, und einen Augenblick lang blieb er ganz stumm sitzen. Natürlich wollte er einerseits ganz gern dem Ausflug entgehen, aber andererseits war er zu kameradschaftlich, um sich auf diese Weise zu drücken. Obwohl er nie ein Held im üblichen Sinn des Wortes gewesen war, hatte er sich doch immer als guter Kamerad erwiesen, wenn echte Gefahr bestand. Mag sein, daß er manchmal mit zitternden Knien und klopfendem Herzen seinen Mann gestanden hatte, aber gerade damit hatte er seine gute Kameradschaft bewiesen. Es ist ja nicht sonderlich großartig, wenn man in einer gefährlichen Lage hilft und sich dabei ganz furchtlos darauf verläßt, daß schon alles gutgehen wird… nein, derjenige, der Angst hat, aber diese überwindet und seinen Kameradschaftsgeist siegen läßt, der ist der eigentliche Held. -13-
Daran dachte der kleine Jesper in diesem Moment nicht. Aber er richtete sich auf und warf Erling einen entschlossenen Blick zu, während er sagte: «Nein, soweit kommt es nun doch nicht, du dickes Kamel! Yan Loo kann als Wache hier an Bord bleiben. Wir haben durch die Jahre so viele Gefahren gemeinsam überstanden, und wenn jetzt etwas schiefgeht, dann will ich auch bei euch sein!» «Bravo, Krümel!» sagte Jan ganz ernst. Sicher war er derjenige, der seinen kleinen Freund am besten kannte.
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ZWEITES KAPITEL Am nächsten Morgen ging Ingenieur Smith früh weg, um seine Verhandlungen mit den französischen Hafenbehörden aufzunehmen. Bei dieser Gelegenheit wollte er auch in Erfahrung bringen, ob Marstal schon im vereinbarten Hotel angekommen war. Die Ärzte in Santander hatten nachdrücklich erklärt, Marstal werde sich so schnell erholen, daß er Casablanca rechtzeitig erreichen könne. Da es ja direkte Flugverbindungen gab, spielten Zeit und Entfernung keine sehr große Rolle. Peter Nielsen und die sechs Freunde hatten sich dahingehend geeinigt, daß sie zuerst das Araberviertel besuchen wollten. Zunächst aber saßen sie noch alle an Deck in den aufgestellten Deckstühlen, während Peter Nielsen ein Seemannsgarn nach dem anderen spann und seine Geschichten immer bunter und unglaubhafter wurden. Die Jungen amüsierten sich herrlich. «Ja, Peter», sagte Jan lachend, «nun haben wir also das meiste über deine Jagderlebnisse in der näheren Umgebung von Casablanca gehört. Aber wie steht es denn mit den Abenteuern in der Stadt selbst?» «Unglaubliche Dinge haben sich da ereignet», nickte der Rotschopf. «Los, erzähle!» «Hm… na ja… eigentlich habe ich so viel erlebt, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll… aber, ähum… laßt mich mal nachdenken… Erlebnisse in Casablanca… Erlebnisse in Casablanca… Ach ja, jetzt fällt mir ein recht komisches Erlebnis ein.» Und damit begann Peter Nielsen mit einem breiten Lächeln seine Geschichte. «Tja, das muß wohl so 1947 oder 1948 gewesen sein, als ich -15-
hier mit einem englischen Kohlendampfer lag. Es ist ja sowieso etwas verrückt, daß jemand bei der Hitze hier Kohlen braucht, aber so scheint es doch zu sein, und wir löschten die Ladung so, daß ganz Casablanca in Kohlenstaub gehüllt war… ja, der Staub war so dicht, daß die Sonne sich verfinsterte und die Einwohner der Stadt bei Tag ins Bett gingen, weil sie meinten, es sei Nacht. Die Arbeit war ja nicht sehr erfreulich, deswegen freute ich mich um so mehr, als der Sultan wie ein Blitz aus Rabat herübergefahren kam…» «Der Sultan?» fragte Jesper atemlos. «Wollte er wegen des Kohlenstaubes schimpfen?» «Ach woher, keine Spur. Aber er hatte ja erfahren, daß ich nach Casablanca gekommen war. Da setzte er sich eben in seinen Cadillac und kam, um seinen besten Freund zu begrüßen.» «Hast du ihn denn wirklich gekannt?» «Natürlich», nickte Peter sehr selbstbewußt. «Wir haben über die Jahre viel Spaß zusammen gehabt. Und diesmal wurde es auch sehr lustig, denn er brachte fünfzig seiner Lieblingsfrauen mit, die in anderen Wagen seinem Cadillac folgten…» «Warum denn das?» fragte Jan lächelnd. «Nun, ich mußte doch jemanden haben, mit dem ich tanzen konnte, wenn wir ausgingen. Und der Sultan war der Meinung, daß ich etwas Auswahl brauchte.» «Waren die Damen denn nicht verschleiert?» «Was, verschleiert? Ach so, ja natürlich waren sie verschleiert. Aber wenn der Sultan uns den Rücken zudrehte, hoben sie ihren Schleier und lächelten mich an. Auf diese Weise bekam ich bald heraus, mit wem ich am liebsten tanzen wollte. Ich glaube, der Sultan merkte schon, daß wir ein wenig Unsinn trieben, denn er klopfte mir auf die Schulter und sagte: ‹Treib’s -16-
nicht zu wild, Peter. Ich möchte nicht, daß du alle meine Frauen mit nach Dänemark nimmst. Du kannst dir eine oder zwei aussuchen… ich habe ja genügend… aber die übrigen achtundvierzig möchte ich doch als Lieblingsfrauen behalten.›» «Hast du dir denn die zwei ausgesucht?» wollte Jack Morton wissen, und dabei konnte er ein Lachen nicht unterdrücken. «Nein, ich habe mich schließlich doch nicht getraut, denn mit Schleiern und weißen Gewändern sahen sie alle gleich aus. Und ich wollte daheim in Svendborg nicht ausgelacht werden, wenn ich ein paar Frauenspersonen mitbrachte, die meine Schwiegermütter hätten sein können! Nee, ihr könnt euch darauf verlassen, daß ich nein danke sagte. Und während ich dem Sultan absagte, seufzten alle seine fünfzig Frauen vor Verzweiflung. Natürlich wollten sie alle lieber am SvendborgSund als in einem langweiligen Harem leben. Aber ich machte mein Herz kalt und hart wie Stahl und drehte lieber mit jeder von ihnen einen langsamen Walzer. Wie dem auch sei, wohin wir auch kamen, spielte das Orchester die marokkanische Nationalhymne, und die Gäste warfen sich vor dem Sultan, der hier in Marokko ein sehr angesehener Mann ist, auf die Erde. Übrigens freute er sich so über meine Gesellschaft, daß er mich in den frühen Morgenstunden zum Ritter des roten Halbmondes schlug und mir gleichzeitig einen Palast neben dem seinen verehrte…» «Bekamst du auch gleich einen Harem, du großer Lügenbold?» erklang es da plötzlich auf dänisch vom Kai her. Sowohl Peter Nielsen als auch die Jungen starrten erstaunt hinauf und stießen dann einen Jubelruf aus, denn es war niemand anders als Marstal, der da vor ihnen stand. «Ahoi, du Hundeschwanzfischer!» grinste Peter Nielsen zufrieden. «Das ist aber eine schöne Überraschung, dich wiederzusehen. Was macht der Hustenreiz?» «Dem geht es sehr gut», gab Marstal munter zur Antwort, -17-
während er an Bord kam. «Ich bin schon gestern hergeflogen und freue mich riesig, euch alle wiederzusehen. Dem norwegischen Kapitän geht es auch schon viel besser. Aber einige Tage sah es wirklich so aus, als ob er himmelwärts müßte.» Die Jungen hatten augenblicklich jegliches Interesse an Peter und den fünfzig Haremsdamen verloren, denn die Freude, Marstal wiederzusehen, war überaus groß. Peter Nielsen freute sich fast am meisten von allen. Zwar hatte er immer lange Diskussionen mit Marstal gehabt, und es war nie ganz geklärt worden, ob nun Marstal oder Svendborg die berühmteste Hafenstadt Dänemarks ist, aber die beiden waren doch dicke Freunde und vermißten einander sehr, wenn sie getrennt waren. Das wußten die anderen Jungen und freuten sich immer wieder, wenn die beiden Seeleute sich in die Haare gerieten. Als Marstal auch einen Platz bekommen hatte, mußte er natürlich erst ausführlich über seine Erlebnisse im Krankenhaus in Santander und über die Flugreise nach Casablanca erzählen, und es verging eine ganze Weile, bis jemand anders zu Wort kam. Erling betrachtete den Genesenen, der noch etwas blaß und hohlwangig wirkte, dann erklärte er sehr bestimmt: «Dich werden wir gleich etwas herausfüttern müssen. Von hier bis Kapstadt kommst du auf Onkel Erlings spezielle Mastkur. Du brauchst nur anzugeben, was du am liebsten essen willst.» «Mhm!» sagte Peter Nielsen und schmatzte mit der Zunge. «Du hast vielleicht Glück, du Miststück, Marstal! Wir anderen bekommen nie ein solches Angebot.» «Na ja, du siehst ja auch nicht gerade aus, als ob du es nötig hättest», brummte Marstal und betrachtete den Freund mit kritischen Augen. «Seit ich dich das letztemal in Santander gesehen habe, hast du schon wieder Fett angesetzt. Ich hoffe -18-
bloß, daß du nicht in der Kombüse klaust, wenn Erling den Rücken kehrt… das sähe so einem Fünen aus Svendborg nämlich gerade ähnlich… Wir ehrlichen Seeleute aus Marstal haben halt nicht viel Vertrauen zu euch!» «Beruht auf Gegenseitigkeit!» grinste Peter Nielsen. «Aber wenn Erling dir zu große Portionen ausgewählter Leckereien gibt, dann könntest du mir wirklich etwas davon abgeben… nur so, meine ich, aus alter Freundschaft. Nun habe ich doch tatsächlich jahrelang die sieben Weltmeere durchpflügt, aber so ausgehungert wie auf dieser Reise war ich noch nie.» Alle lachten laut über den letzten Satz, denn sie kannten Peters Appetit zur Genüge. Im Vergleich zu ihm aß Erling wie ein Vögelchen, und dabei stand der Dicke auch nicht gerade im Ruf, an Appetitlosigkeit zu leiden. An Bord der ‹Flying Star› hatte nie jemand hungern müssen – am allerwenigsten der brave Peter Nielsen! Die Meeresluft machte hungrig, und Ingenieur Smith war es sehr wichtig, seine Mannschaft immer gut verpflegt zu wissen. Das Gespräch ging lustig zwischen den Freunden weiter, und beim Anblick von Erlings Frühstückstisch stieg die Stimmung noch mehr. Denn zur Feier des Tages hatte Erling noch mehr als sonst aufgetischt. Als der Ausflug in das Araberviertel zur Sprache kam, erklärte Marstal sehr bestimmt, er wolle unbedingt mitgehen. Der kleine Yan Loo könne ja als Wache an Bord zurückbleiben. «Na ja, schön», sagte Peter Nielsen, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. Und dann erklärte er dem Chinesenjungen, welch große Verantwortung man hat, wenn man als Wache allein auf einem Schiff bleibt. Man darf es auf keinen Fall verlassen, und man darf auf seinem Posten nicht einschlafen. Yan Loo nickte bloß, und sein kleines gelbes Gesicht war so gut wie unbeweglich, aber alle bekamen den Eindruck, daß er -19-
viel lieber mit in das Araberviertel gegangen wäre – und sei es auch nur, weil er seinem vergötterten Freund Carl nahe sein wollte, um ihm beizustehen, falls sich dies als notwendig erweisen sollte. Er sah ganz bedrückt aus, als die anderen von Bord gingen und durch den Hafe n weiter zur Stadt zogen. Die Jungen unterhielten sich angeregt mit den beiden Seeleuten, während sie die Straßen entlangschlenderten. Aber kaum hatten sie die ersten baufälligen Gebäude im Eingeborenenviertel erreicht, da dämpften sie ihre Stimmen und gebrauchten dafür mehr ihre Augen. Und zu sehen gab es mehr als genug! In unzähligen Buden boten Händler ihre Waren mit großer Zungenfertigkeit an, auf der Straße spielten zerlumpte Araberkinder in Mengen, Hunde durchstreiften das Viertel und schnüffelten in den übelriechenden Rinnsteinen, und in der brennenden Sonne war die ganze Szene in einen Geruch gehüllt, der sich aus Schmutz, wirbelndem Staub und anderen unbestimmbaren Dünsten zusammensetzte. Natürlich waren die Araber in der Mehrzahl, aber hie und da sah man auch kleine Touristengruppen – hauptsächlich amerikanischer Herkunft –, die mit den Verkäufern handelten oder das Straßenleben fotografierten. Das Bild war so überwältigend lebhaft und bunt, daß man gar nicht alles auf einmal erfassen konnte. Die Verkäufer, die den Touristen etwas anboten, schienen liebenswürdig genug – oder taten zumindest so –, aber die übrigen Araber sahen eher finster drein und warfen feindliche Blicke auf die Europäer. «Ob die wohl Messer bei sich haben?» flüsterte Jesper und hielt sich dicht hinter Carl. «Sie sehen aus, als hätten sie die größte Lust, uns allen den Bauch aufzuschlitzen.» «Das haben sie auch!» «Was?» staunte Jesper und schnappte nach Luft. «Ist das wirklich wahr?» «Bombensicher!» grinste Carl. «Und wenn die Araber etwas -20-
Böses im Schilde führen, dann wählen sie sich immer das kleinste Opfer aus… und du bist doch der kleinste von uns allen!» «O nein!» stöhnte Jesper und machte einen großen Bogen um den nächsten Araber. «Sollten wir nicht lieber bald wieder an Bord der ‹Flying Star› gehen?» Jan, der nur den letzten Satz mitgehört hatte, fragte lächelnd: «Was ist denn los, Jesper? Bist du etwa schon müde?» «Müde?… Nein… aber… ehrlich gesagt, habe ich schon angenehmere Orte gesehen als dieses Araberviertel hier in Casablanca. Ob wir wohl lebend wieder hinauskommen?» «Ja, wenn du nicht gleich vor Angst tot umfällst», lachte Jan und nahm seinen kleinen Freund beim Arm. «Die Araber sehen doch ganz gutmütig aus.» «Hm!» sagte Jesper und schielte zu den eingeborenen Männern und Frauen hinüber, die lautlos in ihren farbigen Gewändern vorüberhuschten. «Ich habe noch nie gutmütige Leute so bösartig blicken sehen! Ob du nicht deinen Mitmenschen gegenüber zu gutgläubig bist, Jan?» Erling mischte sich neckend in das Gespräch. «Warum hast du denn solchen Kummer, du Knirps? Ich habe dir doch versprochen, daß nichts Schlimmes passiert, wenn du nur brav hinter Onkel Erlings Rücken bleibst. Hast du plötzlich jedes Vertrauen zu mir verloren?» «Ich hatte nie welches, du…» «… dickes Kamel», vollendete Erling gutmütig den Satz. «Jetzt, da wir Afrika erreicht haben, wird es mir eine besondere Freude sein, dir eine Sammlung Dromedare zu zeigen, nach denen du mich benannt hast. Der Anblick wird deine zoologischen Kenntnisse bestimmt erweitern, die während der Schulzeit… ähhh… ziemlich mangelhaft waren. Es wird übrigens hier in Marokko behauptet, daß Kamele und Dromedare besonders nützliche Tiere sind.» -21-
Während dieses Gespräches war Carl etwas hinter den anderen zurückgeblieben. Er blieb vor einem Laden stehen und betrachtete die ausgestellten Waren. Da lagen Strohmatten, Pantoffeln, verschiedene Sachen, die alle aus schönstem, weichstem Kamelleder hergestellt waren. Der arabische Kaufmann stürzte sich gleich auf ihn und begann mit großer Zungenfertigkeit seine Waren anzupreisen. Dies tat er in einem Gemisch von Arabisch, Französisch und Englisch, aber Carl verstand das meiste von dem, was der Mann sagte. Er selber sprach auch nicht gerade perfekt Englisch, es ging daher ganz gut. Mit besonderem Interesse betrachtete er eine schicke Tasche aus Kamelleder, so daß der Kaufmann seine Lobeshymne nun auf diese konzentrierte. Seiner Meinung nach konnte es keinen Zweifel darüber geben, daß diese Tasche die schönste der Welt war… und sie kostete nur die Kleinigkeit von vierzehn Dollar! Carl erinnerte sich an die Warnungen von Ingenieur Smith und nahm mit allen Zeichen der Verachtung den Preiskampf auf. «Vierzehn Dollar? Für den Preis geben Sie mir wohl das gesamte Warenlager! Da drüben habe ich die gleiche Tasche für acht Dollar gesehen… und ich hätte sie auch für fünf bekommen!» Der Araber verdrehte die Augen, bis man nur noch das Weiße sah, und schwor, daß es so gut wie ein Geschenk sei, wenn er die Tasche für vierzehn Dollar hergab. «Ich gebe Ihnen fünf», sagte Carl und legte die Tasche zurück. «Dreizehn», erwiderte der Kaufmann. «Fünf!» «Zwölf», jammerte der Araber und fuhr sich durch seinen Bart. «Fünf!» -22-
«O nein… o nein… wenn ich Ihnen die Tasche für weniger als zwölf verkaufe, wird meine Familie mich verdammen, und meine Verwandtschaft wird mich als den verworfensten Narren von ganz Casablanca betrachten… Vielleicht werden mich die anderen Kaufleute nicht mehr anschauen und mich mit Hohn aus der Stadt verjagen.» «Unsinn!» sagte Carl. «Ich hatte mir zwar, ehr lich gesagt, vorgenommen, nicht mehr als fünf Dollar auszugeben, aber da ich Sie nicht all diesen Unannehmlichkeiten aussetzen will, erhöhe ich mein Angebot auf sechs… aber keinen Cent mehr.» «Sagen wir elf Dollar, mein Herr», flehte der Kaufmann, während er sich wand und die Tasche Carl vor die Nase hielt. «Eine schönere Tasche ist seit Mohammeds Zeiten nicht hergestellt worden… selbst der reiche Khadidja und seine fromme Ehefrau besaßen niemals ein solches Kleinod… und Ihre liebwerte Frau wird Sie aus vollem Herzen segnen, wenn Sie ihr diese wunderbare Gabe mitbringen.» «Ja, ganz bestimmt», sagte Carl trocken. «Aber wenn ich einmal eine Frau habe, wird sie mich doppelt segnen, wenn ich nur sechs Dollar dafür gegeben habe… und mehr ist sie auch wirklich nicht wert, Ihre Tasche!» Das Resultat dieser langanhaltenden Diskussion war, daß Carl die Tasche für sieben Dollar kaufte, und er fand, daß er damit einen sehr guten Kauf getätigt hatte. Der Araber schwor, daß er noch nie ein so schlechtes Geschäft gemacht habe. Er rollte die Augen, zerzauste sein Haar und rang seine Hände mit solchem Nachdruck, daß die Gelenke knackten. Immer wieder jammerte er, daß Allah ihn für diese Missetat strafen werde, und seine Familie werde ihn für alle Zeiten als den übelsten Hund aller arabischen Länder betrachten! Besonders seine beiden Töchter würden ihn verdammen, da sie doch so viel Arbeitsfreude und Liebe bei der Herstellung dieser Tasche, dieses ganz außergewöhnlichen Stückes verschwendet hatten! -23-
Carl hörte mit Gleichgültigkeit dem Gejammer zu, während er dem Kaufmann das Geld hinzählte – und dann beging er einen Fehler, der ernsthafte Folgen haben sollte. Es fielen ihm nämlich Ingenieur Smiths vernünftige Reden ein. «Oh, Ihre Töchter haben doch gar nichts mit dieser Tasche zu tun gehabt», sagte er ein wenig scharf. «Keine Spur! Sie haben mich sicher betrogen, und die Tasche ist entweder in Deutschland oder Japan hergestellt worden.» Diese Worte waren unüberlegt. Gewiß werden viele deutsche und japanische Waren als «Eingeborene n-Heimarbeit» ausgegeben, aber bei Sachen aus echtem Kamelleder kann man sicher sein, daß kein Schwindel vorliegt, denn weder in Deutschland noch in Japan hält man Kamele als Haustiere. Der Araber schien auch sogleich zu erstarren, dann aber begann er laut zu schreien und mit den Armen wild um sich zu schlagen. Im Verlauf einer verblüffend kurzen Zeitspanne hatte er damit eine ansehnliche Zahl von Menschen um sich versammelt. Auf arabisch erklärte er den Umstehenden eine ganze Menge, und sogleich erklang vo n den Versammelten ein drohendes Gemurmel. «Ach, hören Sie schon auf, Sie alter Geißbock», sagte Carl gutmütig. «So ernst habe ich es ja nun wieder nicht gemeint.» Aber der Kaufmann regte sich nur noch mehr auf, und als Carl sich entfernen wollte, konnte er die ihn umgebende Mauer von Eingeborenen nicht durchdringen. Er versuchte den neben ihm stehenden Mann zur Seite zu drücken. Zuerst schob er ihn sanft beiseite, dann aber wurde er etwas energischer. Das drohende Knurren wuchs an, und Carl wurde sich bewußt, daß er sich jetzt ernsthaft in Gefahr befand. «Hallo, Peter und ihr anderen!» rief er laut. Aber seine Freunde waren schon weitergegangen und hörten ihn nicht mehr. Als sich die Araber immer dichter um ihn drängten, gab er -24-
dem Mann, der vor ihm stand, einen festen Stoß vor die Brust. Der Araber fiel mit einem lauten Schrei hintenüber. Im Fallen zog er noch einige mit sich, kam dann aber mit erstaunlicher Schnelligkeit wieder auf die Beine. Und dann blitzte ein langes Messer im Sonnenlicht! Im gleichen Augenblick erkannte Carl die Gefahr und handelte blitzschnell. Wie ein Tiger sprang er den Mann an und verabreichte ihm einen kräftigen Kinnhaken. Zum zweitenmal fiel der Mann um, und das Messer fiel ihm klirrend aus der Hand. Aber damit war das Zeichen gegeben, und bevor Carl wußte, wie ihm geschah, war er der Mittelpunkt einer riesigen Schlägerei.
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DRITTES KAPITEL Carl war von Natur aus kein Schläger – ganz im Gegenteil. Er verachtete Menschen, die ohne jeden Grund unschuldige Mitmenschen überfallen und niederschlagen. Diese Sorte «Kraftmenschen» sind meist feige Geschöpfe, die sich nur an unvorbereitete und wehrlose Opfer wagen, manche mögen an einer Schlägerei als solcher Freude haben. Zu diesen gehörte Carl ganz bestimmt nicht. Er wußte sehr wohl, welche Bärenkräfte er hatte, aber er setzte diese immer nur in Notwehr oder für einen in Bedrängnis geratenen Freund ein. Dann allerdings, wenn Not am Mann war, verwandelte sich Carl in einen Berserker, mit dem nicht gut Kirschen essen war. Und so geschah es auc h jetzt. Die Araber drangen von allen Seiten auf ihn ein, aber seine Arme schwangen wie Windmühlenflügel im Kreis, und laute Schmerzensschreie verkündeten, daß seine Fäuste ihr Ziel nicht verfehlt hatten. Seine Verteidigung war so energisch, daß die Angreifer einen Augenblick lang zurückwichen. Sie hatten offensichtlich Angst bekommen. Aber dann begannen diejenigen, die ganz hinten in der Menschenmauer standen, die anderen nach vorn zu schieben, und kurz darauf wurde der Kampf unter wildem Schreien der Araber fortgesetzt. Carl keuchte vor Aufregung, und Schweiß begann sich auf seiner Stirn zu bilden. Ein Araber sprang ihm auf den Rücken und versuchte, seinen Kopf nach hinten zu zwingen, aber es gelang Carl, einen festen Griff um den Mann zu bekommen und ihn über seinen Kopf zu schwingen, und gleich darauf flog das Opfer wie ein zappelndes Bündel zwischen seine Landsleute. Mindestens ein halbes Dutzend Araber fielen bei diesem Wurf um, aber Carl bekam dennoch nicht viel Zeit zum Verschnaufen, und es war ihm klar, daß er in diesem ungleichen Kampf nicht -26-
lange die Oberhand behalten konnte. Inzwischen umringten ihn nämlich schon einige Hundert Gegner; dagegen konnten auch seine Bärenkräfte nicht ankommen. Aber er wollte bis zum letzten kämpfen, vorher gab er nicht auf! Merkwürdigerweise fiel Carl mitten in der Hitze des Gefechtes die Kamelledertasche ein. Wo die wohl geblieben war? Sie war verschwunden, und das war ärgerlich, wo er sie doch mit so viel Mühe auf sieben Dollar heruntergehandelt und bezahlt hatte. Ob der arabische Händler das Ganze nur deshalb arrangiert hatte, um auf diese Weise wieder zu seiner Tasche zu kommen? Das würde dem schlauen Fuchs ähnlich sehen. Und schon kam der nächste Angriff! Wie auf Kommando drangen die Araber nun von allen Seiten gleichzeitig auf ihn ein. Nur sekundenlang war er imstand, seine Arme zu gebrauchen, aber diese Zeit nützte er denn auch weidlich aus. Laute Schmerzensrufe erfüllten die vor Sonnenhitze flimmernde Luft, während die Füße der Kämpfenden den Staub aufwirbelten. Carl war gerade dabei, einen gewaltigen Kinnhaken zu verabreichen, als er einen Schlag in den Nacken bekam. Der Schlag wurde mit einem schweren Gegenstand geführt und war so heftig, daß ihm schwarz vor den Augen wurde. Halb bewußtlos schwankte er hin und her, und im gleichen Augenblick waren alle über ihm. Die Araber klammerten sich an seine Arme und Beine, Schläge hagelten auf ihn herab, ohne daß er sich dagegen wehren konnte – und da fiel er zum erstenmal in seinem Leben in Ohnmacht. Die Araber jubelten laut, als hätten sie einen großen und ehrenvollen Sieg errungen. Während sich dies alles abspielte, waren Carls vier Freunde und die beiden Seeleute weiter durch das Eingeborenenviertel -27-
gegangen. Es war keinem aufgefallen, daß ihr Begleiter fehlte. Das bunte Volksleben auf der Straße sprach ihre Phantasie so sehr an, daß sie nicht auf den Gedanken kamen, es könnte einer von ihnen fehlen. Hinzu kam, daß die übrigen Freunde genug damit zu tun hatten, den kleinen Jesper zu beruhigen, der immer nervöser wurde. Zum Schluß sagte er: «Ja, ja, ihr könnt mich ruhig auslachen, aber ich weiß, daß in diesem Araberviertel, etwas Unheimliches geschehen wird. Das Gefühl habe ich schon den ganzen Tag gehabt.» «Nun hör aber auf mit dem Gerede, Kleiner», unterbrach ihn Erling sorglos. «Weder dir noch uns wird irgend etwas geschehen, wenn wir bloß zusammenhalten. Außerdem haben Carl und Peter solide Fäuste, wenn es darauf ankommt. Die beiden könnten es allein schon mit einem ganzen Heer Araber aufnehmen… nicht wahr, Carl?» Als er auf die letzte Frage keine Antwort bekam, warf Erling einen erstaunten Blick um sich und sagte dann etwas beunruhigt: «Sagt mal, wo ist Carl denn geblieben?» «Ja, wo in aller Welt ist er?» fragte nun auch Jan. «Wir haben doch erst vor ein paar Minuten mit ihm gesprochen – dort drüben in der anderen Straße.» Jack Morton warf einen Blick auf die Straßenecke und meinte: «Sicher hat er nicht gesehen, daß wir da abgebogen sind, und nun ist er geradeaus weitergegangen. Laßt uns zurückgehen, um ihn wiederzufinden.» «Hoffentlich ist ihm nichts passiert», murmelte Jesper. «Quatsch!» sagte Erling kurzangebunden, aber seine Stimme klang nicht sehr überzeugend. Einige Minuten später waren sie alle wieder in der Straße, wo sie zuletzt mit Carl gesprochen hatten, aber er war nirgends zu sehen. Kurze Zeit beratschlagten sie, was zu tun sei. Jan schlug vor, sich in zwei Gruppen aufzuteilen, die jeweils die Straße und die angrenzenden Gassen in beiden Richtungen absuchen -28-
sollten. Nach einer halben Stunde wollte man sich an diesem Platz wieder treffen. Der Vorschlag wurde gutgeheißen. Mit Marstal an der Spitze gingen Jack Morton und Erling in die eine Richtung, während Peter Nielsen mit Jan und Jesper zu der Stelle zurückging, wo sie zuletzt mit Carl gesprochen hatten. Während sie gingen, sahen sie sich in allen Richtungen um, schauten zwischen die Verkaufsbuden und Ruinen, machten kleine Abstecher nach rechts und nach links, aber sie fanden keine Spur von ihrem Freund. Plötzlich ergriff Jesper den Seemann am Arm und sagte mit leiser Stimme: «Oh, Peter, das Ganze gefällt mir gar nicht. Mir kommt vor, daß die Araber an diesem Ende der Straße uns besonders gehässig anschauen…» «Ach was», brummte Peter. «So sehen die immer aus.» Aber Jan unterbrach das Gespräch. «Nein, ich glaube, Jesper hat nicht unrecht. Ich habe den bestimmten Eindruck, daß Carl hier in der Nähe etwas zugestoßen ist.» «Warum glaubst du das?» Jan zog die Schultern hoch. «Tja, Peter, schwer zu erklären… Aber fällt dir nicht auf, daß viel mehr Eingeborene hier herumstehen als das letztemal, als wir vorbeigingen? Das muß vor etwa einer halben Stunde gewesen sein.» «Ja… hm… das könnte schon sein…» «Und die flüstern und zischeln miteinander, wenn sie uns nachblicken. Ehrlich gesagt, sie sehen wirklich nicht aus, als hätten sie Angenehmes im Sinn.» «Was können wir bloß tun?» fragte Jesper. «Ob wir uns nicht bei den verschiedenen Geschäftsleuten durchfragen könnten?» Jan schüttelte etwas mißmutig den Kopf. «Das ist wohl ziemlich hoffnungslos, Krümel. Selbst wenn die Kaufleute Carl gesehen hätten und wüßten, was ihm passiert ist, würden sie nicht ein Wort darüber verlieren. Du kannst dich darauf verlassen, die Araber halten zusammen. Nein, wir gehen lieber zurück und treffen uns mit den anderen, und dann… na ja, wir -29-
können bloß hoffen, daß die anderen Carl gefunden haben. Vielleicht ist er ja auch allein zur ‹Flying Star› zurückgegangen.» «Und wenn er nun ganz verschwunden ist?» «Dann müssen wir es wohl der französischen Polizei melden.» «Hm.» «Ja, ich bin genauso skeptisch wie du, Krümel, aber einen anderen Ausweg sehe ich nicht. Laßt uns jetzt zurückgehen.» «In Ordnung.» Zehn Minuten später waren die sechs Freunde wieder versammelt, aber keiner hatte etwas von Carl gesehen. Nun bestand nur noch die Möglichkeit, daß Carl aus dem einen oder anderen Grund zum Hafen zurückgekehrt war und auf der ‹Flying Star› seine Freunde erwartete. «Laßt uns zum Schiff zurückgehen», sagte Jan schnell. «Ich habe das Gefühl, daß jede Minute kostbar ist.» Und so gingen sie denn eiligst zum Hafen zurück. Carl kam langsam wieder zu Bewußtsein. Er schüttelte den Kopf ein wenig und fühlte würgende Übelkeit sowie starke Schmerzen im Genick; schließlich versuchte er seine Gedanken zu sammeln. Er lag ausgestreckt auf etwas Hartem, aber es dauerte mehrere Minuten, bis ihm klarwurde, daß es sich um einen schmutzigen Steinboden handelte. Mit schwachem Stöhnen setzte er sich auf und ließ seine Hand über die schweißbedeckte Stirn gleiten. Dann versuchte er sich zurechtzufinden. Hoch droben in der Mauer befand sich eine viereckige Öffnung, vor der Eisenstangen angebracht waren. Das Licht, welches durch diese Öffnung fiel, machte es ihm möglich, seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. «Was zum Teufel ist denn passiert», murmelte er halblaut und -30-
versuchte erneut, seine Gedanken zu sammeln. Nichts wurde davon besser, so daß er ergeben den Kopf schüttelte, denn ihm schien, daß dadurch Millionen von Kullersteinen in seinem Hirn hin- und herrollten, die ihr Bestes taten, um seinen Schädel zu zertrümmern. Es tat sehr weh, und wieder meldete sich die Übelkeit in verstärktem Maße. Einige Male glaubte er, sich erbrechen zu müssen, aber soweit kam es nie. Das Zimmer, in dem er sich befand, war etwa dreißig Quadratmeter groß und sehr hoch. Längs der einen Wand waren eine Menge leere Kisten aufgestapelt, und an der entgegengesetzten Wand befand sich eine solide Holztür. Carl saß lange da und starrte diese Tür an, aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, sie näher zu untersuchen. Sie wird von außen verschlossen sein, dachte er stumpf. Zum Schluß erhob er sich doch und stand eine Weile schwankend und unsicher auf dem Steinboden. Es bestand kein Zweifel darüber, daß er zum Ende der Schlägerei einen harten Schlag auf den Hinterkopf bekommen hatte. Jetzt schien es ihm, als ob eine ganze Schreinerwerkstatt in seinem armen Kopf arbeitete. Mit unsicheren Schritten taumelte er zur Tür und begann daran zu rütteln. Aber es war natürlich hoffnungslos. Die Tür war fest und von außen sicher abgeriegelt. Er versuchte seine Schulter dagegen zu stemmen, aber die Tür gab keinen Millimeter nach. Nein, hier konnte sogar seine Kraft nichts ausrichten! Es war drückend warm in dem Zimmer, und Carl bekam einen ungeheuren Durst. Seine Kleider klebten an ihm. Ob von dem kleinen Fenster dort oben etwas zu sehen war? Carl schielte hinauf. Wenn er einige der leeren Kisten unter dem Fenster aufstapelte, konnte er es sicher erreichen… aber würde ihm das aus seiner gefährlichen Lage helfen? Es würde -31-
ihm kaum gelingen, die Eisenstäbe aus der Mauer zu reißen, um auf diesem Weg zu entkommen… Und mußte er nicht damit rechnen, daß seine arabischen Feinde plötzlich auftauchten, um die Tür zu öffnen? Was würde dann geschehen? Warum hatte man ihn hier eingesperrt? Was planten die Araber mit ihm? Ja, Fragen gab es genug, aber aus verständlichen Gründen gab es darauf keine Antworten. Man mußte eben warten und sehen, was geschehen würde. Obwohl sich Carl immer noch elend fühlte, begann er Kisten unter der Maueröffnung aufzustapeln. Es ging zwar langsam, aber endlich war er doch soweit gekommen, daß er mit größter Schwierigkeit hinaufklettern konnte. Einen Augenblick lang wackelte er bedenklich an der Spitze des gebrechlichen Aufbaus, dann aber ergriff er die Eisenstäbe vor dem Fenster, um ihre Stärke zu prüfen. Sie waren fest eingemauert; selbst wenn er all seine Kraft eingesetzt hätte, wären sie doch um keinen Millimeter gerückt. Carl seufzte resigniert und schaute durch die Öffnung auf etwas, das wohl eine Art Hinterhof war. Die scharfe Sonne beleuchtete einen unordentlichen Haufen Kisten und anderes Gerümpel, das in einer Ecke lag. Sonst war nichts zu sehen. Carl seufzte erneut und stützte sich mit beiden Ellbogen gegen die Maueröffnung. Nein, seine Feinde konnten wirklich sicher sein, daß er aus diesem Gefängnis nicht entkommen konnte, sonst hätten sie ihm wohl auch Arme und Beine gefesselt. Es nützte gewiß auch nichts, wenn er laut um Hilfe rief, denn selbst wenn jemand ihn hörte, waren es doch nur Araber… und das würde seine Lage höchstens verschlimmern. Wenn nur seine Freunde in der Nähe wären! Dann würde es kaum einige Minuten dauern, bevor er aus diesem ekelhaften Backofen befreit wäre. Von weit her konnte er die Rufe der eingeborenen Händler hören, auch die Laute der Menschenmenge draußen auf der Straße drangen durch das Fenster zu ihm. Hunde bellten, und -32-
einige Araberkinder spielten laut und vergnügt. Alle diese Geräusche ergaben zusammen ein unbestimmbares Gewirr von Lauten, bis Carl plötzlich die Ohren spitzte. Was war das? Er lehnte sich tiefer in die Fensternische hinein und lauschte angespannt. Nein, es bestand kein Zweifel! Er horchte nochmals und war dann seiner Sache ziemlich sicher. Irgendwo in der Nähe befand sich ein Funkgerät, das tickte. Was in aller Welt konnte das bedeuten? Wieder strich sich Carl über die Stirn und versuchte konzentriert zu denken. Wer zum Teufel saß hier mitten im Eingeborenenviertel und funkte? Das war doch wirklich unglaublich! Und was wurde gefunkt? Er hörte aufmerksam zu, wurde davon aber auch nicht klüger. Es bestand kein Zweifel darüber, daß das Morsesystem benutzt wurde, jedoch wurde nicht auf Englisch gemorst. Eher war es wohl Französisch oder Arabisch, und Carls Kenntnisse dieser Sprachen waren mehr als mangelhaft. Carls Stärke lag mehr in seinen Muskeln als in seinem Gehirn, aber so helle war er doch, daß er sich über das Geheimnisvolle dieser Entdeckung klar war. Wenn aus dem Eingeborenenviertel Funksprüche abgegeben wurden, dann ganz gewiß nicht mit Einverständnis der französischen Behörden! Ganz im Gegenteil: hier geschah etwas, von dem die Behörden unterrichtet werden sollten! Im Augenblick herrschten ja sehr unruhige Verhältnisse in Marokko… wenn man es genau betrachtete, war es sogar ein Kampf auf Leben und Tod zwischen den Franzosen und den Eingeborenen… und wahrscheinlich war diese telegrafische Nachrichtenübermittlung ein Teil eben dieses Kampfes… Es war zu ärgerlich, daß er nicht eine Silbe des Funkspruches -33-
verstehen konnte! Er horchte immer noch angespannt, aber es nützte gar nichts, er konnte aus dem Kauderwelsch nicht s Verständliches entnehmen. Manchmal schwieg der Sender, aber nur, um wenige Minuten später sein Ticken wieder anzufangen. Plötzlich erkannte Carl, daß dieser Sender so schnell wie möglich den französischen Behörden «zu Ohren» kommen müsse… vielleicht war gar jede Minute kostbar… und bei diesem Gedanken begann er wie ein Irrer an den Eisenstangen zu rütteln. Er nahm sich eine Stange nach der anderen vor, und auf einmal schien eine etwas nachzugeben! Er rüttelte weiter daran, und ein wenig Kalkstaub rieselte herab. O doch, er würde es schon schaffen! Er setzte seine ganze Kraft ein, während sein wackeliges Kistengestell unter ihm schwankte. Wieder lösten sich ein wenig Kalk und einige Steinchen aus der Mauer, und die Stange lockerte sich mehr und mehr. Und schließlich bekam er sie ganz frei; vor Freude hätte er beinahe laut gejubelt. Der Schweiß lief ihm über Stirn und Wangen, aber er wollte um keinen Preis aufgeben. Mit beiden Fäusten ergriff er die Eisenstange und bog sie von unten, wo er sie freigelegt hatte, nach oben gegen die Kante der Fensternische. Die dadurch entstandene Öffnung war jedoch nicht annähernd groß genug, um Carl hindurchzulassen – mindestens zwei Eisenstangen mußten noch gelöst werden –, aber er gab nicht auf. Unverdrossen begann er an der nächsten Stange zu rütteln. Diese gab längst nicht so leicht nach wie die erste. Ein klein wenig lockerte sie sich nach einer Weile, aber Carl konnte sich leicht ausrechnen, daß es Stunden dauern mußte, bevor er eine Öffnung geschaffen hatte, die für ihn groß genug war. Würden seine Feinde nicht weit früher in seinem Gefängnis auftauchen? Sicher kamen sie bald! Möglicherweise dauerte es nur noch Minuten, bevor sich die Tür öffnete… und was dann? -34-
Carl warf einen Blick auf die Tür und lauschte, aber er konnte nichts hören. Er rüttelte und schüttelte weiter an der Stange. Vielleicht war es hoffnungslos, aber man mußte sein Glück zumindest versuchen. Gewiß, es löste sich nur ein ganz klein wenig Verputz, aber das allein ermunterte ihn zu weiteren Kraftanstrengungen. Leider wurde er dadurch so eifrig, daß er alle Vorsichtsmaßnahmen außer acht ließ. Seine kräftigen Fäuste ergriffen die Stange und zogen mit voller Kraft daran. Sie löste sich mit einem Ruck, der so plötzlich kam, daß Carl das Gleichgewicht verlor. Die aufgestapelten Kisten krachten unter ihm zusammen, und mit einem lauten Aufschrei stürzte er hinunter auf den harten Steinboden.
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VIERTES KAPITEL Sekundenlang blieb Carl auf dem Boden liegen und stöhnte vor Schmerzen. Es war ein gewaltiger Sturz gewesen, und ab und zu wurde ihm schwarz vor Augen. Er stand zum zweitenmal an diesem Tag kurz vor einer Ohnmacht, aber dann biß er die Zähne zusammen und ballte die Hände. Nein, er wollte nicht nachgeben! Ob jemand gehört hatte, wie die Kisten mit lautem Krach zusammengestürzt waren? Eigentlich war es undenkbar, daß niemand diesen Spektakel gehört haben sollte. Sicher dauerte es nur noch Sekunden, bevor eine Schar Araber zu ihm hereingestürzt kam… was dann? Carl spähte zu der aufgebogenen Eisenstange empor und war sich im klaren darüber, daß er nichts leugnen konnte. Die Eisenstangen würden ihn auf jeden Fall verraten, und was würden seine Feinde tun, wenn sie entdeckten, daß er einen Fluchtversuch unternommen hatte? Ja, wie waren überhaupt ihre Pläne? Natürlich konnten die Araber ihn nicht ewig hier gefangenhalten, es mußte doch der eine oder andere Plan dahinterstecken. Er lauschte angespannt und erstarrte plötzlich. Hörte er da nicht leise Schritte auf dem Gang? Vorsichtig erhob er sich und schlich zur Tür. Er beugte sich ganz nahe an die Tür und horchte wieder. Nein, es bestand kein Zweifel: jetzt näherten sich die Araber, um ihn totzuschlagen! Als sich jemand an der Tür zu schaffen machte, biß er die Zähne zusammen und ballte die kräftigen Hände. Er war zwar schwach und matt, aber kampflos würde er sich seinen Widersachern nicht ergeben… nein, mindestens ein halbes Dutzend dieser Kerle würde es schon noch zu spüren -36-
bekommen, bevor er sich ergab! Von draußen wurde recht vorsichtig an der Tür gezogen, und dann öffnete sie sich sehr langsam, Zentimeter um Zentimeter. Carl stand bereit, um dem ersten eintretenden Araber einen Kinnhaken zu verpassen, aber dann erlebte er eine der größten Überraschungen seines Lebens. Als die Türöffnung groß genug war, kam ein kleiner gelber Kopf zum Vorschein. Er gehörte… Yan Loo! «Was zum Henker!» brach es aus Carl hervor, während er die Fäuste senkte. «Wo in aller Welt kommst du denn her, Yan Loo?» Der Chinesenjunge legte schnell einen Finger auf seine Lippen und flüsterte: «Keine Fragen jetzt, Mister Carl. Wir schweben beide in größter Gefahr, wir müssen ganz schnell hier weg… komm!» «Ja, aber ich verstehe nicht…» «Komm jetzt bloß», unterbrach ihn Yan Loo aufgeregt. «Wir haben keine Zeit zu verlieren, denn die Araber können jeden Augenblick kommen.» Er gab Carl ein Zeichen und begann lautlos auf eine Treppe zuzugehen, die anscheinend zu dem von Carl gesichteten Hinterhof führte. Halbwegs im Gang blieb er stehen und flüsterte: «Bist du stark genug, um rennen zu können, Mister Carl?» «Ja… doch…» «Es wird vielleicht notwendig sein… aber… vielleicht schaffen wir es… wenn uns niemand hört oder sieht.» «Ich werde es den Kerlen schon zeigen…», begann Carl kampflustig. Aber der kleine Chinese beschwichtigte ihn sogleich. «Nein, nein, es ist besser, wenn wir ohne Kampf hier wegkommen. Folg mir jetzt… hier… zur Treppe!» -37-
Yan Loo hatte die oberste Stufe kaum erreicht, als er einen kurzen Schrei ausstieß. Carl, der gleich hinter ihm stand, meinte etwas Weißes aufleuchten zu sehen, aber das scharfe Sonnenlicht draußen blendete ihn sehr. Gleichzeitig erschallten laute Rufe auf arabisch. «Komm, Mister Carl», zischte Yan Loo aufgeregt. Er sprang in den Hof hinaus, Carl folgte ihm. Einige Araber stürzten sich auf sie, aber Carl trat ihnen mit geballten Händen entgegen. Der erste Araber wurde sofort mit einem kräftigen Faustschlag außer Gefecht gesetzt, und als der andere sein Messer ziehen wollte, bekam er die gleiche Abfuhr. Dann nahmen Yan Loo und Carl schnellstens Reißaus, während von allen Seiten laute Rufe und Schreie ertönten. Draußen auf der Straße klang es, als ob die halbe Araberstadt in wildem Aufruhr sei, aber offenbar wußte niemand so recht, was eigentlich geschehen war. Daraus zogen Carl und der Chinesenjunge Nutzen. Wie Pfeile schossen sie die sonnendurchglühte, staubige Straße hinunter. Auf einmal schien System in das Handeln der Araber zu kommen, denn mindestens zwanzig nahmen unter lauten Rufen und Schreien die Verfolgung der beiden Jungen auf. Ein Araber sprang mitten auf die Straße und versuchte Carl ein Bein zu stellen, aber das hätte er lieber nicht tun sollen, denn mit einem lauten Aufschrei landete er mitten unter seinen ausgestellten Lederwaren, die nach allen Seiten flogen. «Schnell, Mister Carl!» flehte Yan Loo. «Schnell … schnell!» «Ja, ja doch», stöhnte Carl als Antwort. «Ich kann eben nicht schneller laufen.» «Hoffentlich erwischen sie uns nicht!» Darauf gab Carl gar keine Antwort mehr. In den letzten Stunden war ihm übel mitgespielt worden, und er fühlte sich recht elend, aber sein Selbsterhaltungstrieb war dennoch so groß, daß er dem schnellfüßigen Chinesenjungen auf den Fersen -38-
blieb. Die Schreie der Verfolger wurden nach und nach schwächer, und als Carl einmal zurückblickte, entdeckte er zu seiner Erleichterung, daß er und Yan Loo einen ganz schönen Vorsprung bekommen hatten. «Hier herüber», rief Yan Loo und bog in eine enge Gasse ab. Carl folgte ihm, und als sie noch einige Gäßchen durchquert hatten, konnten sie sich ein etwas weniger schnelles Tempo leisten und aufatmen. Die vorübergehenden Araber schauten zwar nicht sehr freundlich drein, schienen aber zumindest keine bösen Absichten zu haben. Yan Loos kleines gelbes Gesicht war nur ein einziges breites Grinsen. Während er, angestrengt durch den Lauf, noch etwas nach Luft schnappte, sagte er: «Jetzt haben wir es sicher geschafft, Mister Carl, denn bald sind wir schon in der Stadt der Europäer.» «Bravo, Yan Loo, du bist ein Mordskerl… aber jetzt erzähle mir, wie alles gegangen ist.» Während sie schnell weitergingen, erzählte der Chinesenjunge: «Es hat mich ja nicht gefreut, daß ich als Wache auf dem Schiff zurückbleiben sollte, und da… Mister Carl, da bin ich dir und den anderen nachgelaufen…» «Du kleiner Bandit!» grinste Carl. «Weißt du denn nicht, daß es ein sehr schweres Vergehe n ist, wenn eine Wache ihren Posten verläßt?» «Doch, aber es wäre schlimmer gewesen, wenn ich dir nicht nachgelaufen wäre, Mister Carl. Ich war doch so sicher, daß etwas Unheimliches bei diesem Ausflug passieren würde, und da wollte ich lieber dabeisein.» Carl klopfte ihm auf die Schulter. «Ja, ja, Yan Loo, als Seemann hast du zwar deine Pflichten vernachlässigt, aber dafür kann gerade ich dich ja nicht gut ausschimpfen… hm… denn ich glaube, ehrlich gesagt, daß du mich in letzter Minute gerettet hast. Viele n Dank dafür.» -39-
Der kleine Chinese gab darauf keine Antwort, aber er lächelte, glücklich darüber, daß er seinem vergötterten ‹Herrn› diesen kleinen Dienst hatte erweisen dürfen. Niemals konnte er vergessen, was in London und während des Orkans im Atlantik geschehen war. Zwanzig Minuten später herrschte stürmische Wiedersehensfreude auf der ‹Flying Star›. Die Unruhe an Bord war groß gewesen, und man war sich schon einig geworden, die französische Polizei zu alarmieren, als Yan Loo und Carl auftauchten. Danach gab es natürlich endlose Fragen, und Carl wurde ganz schwindlig davon, alles erklären zu müssen. «Yan Loo schlich uns nach», sagte er schließlich als Antwort auf die letzten Fragen. «Auf Abstand sah er alles, was mit mir geschah, und wohin die Banditen mich brachten. Dafür bin ich ihm natürlich dankbar, wenn ich ihn auch ein wenig gescholten habe, weil er seinen Wachtposten auf dem Schiff verlassen hat. Aber, Yan Loo, das tust du nie wieder, nicht wahr?» «Nein, niemals», beteuerte der kleine Chinese feierlich, wobei er allerdings grinste. «Dann ist alles in Ordnung», nickte Carl gnädig. «Merk dir bloß, Yan Loo, daß ein Seemann nie seine Pflichten vernachlässigen darf…» «Merk dir auch, Yan Loo», fuhr Erling neckend fort, «daß du beim nächstenmal den Arabern ihren Willen läßt, wenn sie Carl wieder einmal den Bauch aufschlitzen wollen.» «Jawohl, Mister Erling!» «Halt! Ich habe ja etwas vergessen!» rief Carl plötzlich. «Ich habe euch ja noch nichts von dem illegalen Sender erzählt.» «Dem illegalen Sender?» wiederholte Jan. «Was meinst du denn damit?» Während die anderen mit gespannten Mienen zuhörten, berichtete Carl über seine Entdeckung. -40-
«Leider wurde auf französisch oder arabisch gefunkt», schloß er seinen Bericht. «Es kann auch irgendeine andere Kauderwelsch-Sprache gewesen sein, jedenfalls habe ich kein Wort verstanden. Aber ist es nicht merkwürdig, daß es mitten im Araberviertel einen Sender gibt?» «Außerordentlich merkwürdig», nickte Jan. «Es wäre bestimmt ganz interessant, diese Angelegenheit etwas näher zu untersuchen.» «Oh!» stöhnte Erling verzweifelt. Jan wandte sich lächelnd an seinen dicken Freund. «Warum jammerst du denn so, Dicker? Ich sagte doch bloß, daß es interessant sein könnte, die Sache etwas näher zu untersuchen…» «Ja, danke! Aber ich kenne dich gut, du Ungeheuer! Jetzt ist Carl gerade noch mit knapper Not dem Unheil entronnen, und da willst du dich geradewegs wieder hineinbegeben.» «Sei nicht gleich so pessimistisch», meinte Jan und zog die Schultern ein wenig hoch. «Noch ist ja gar nichts geschehen… und jetzt sollten du und der Krümel ein wenig ans Abendessen denken.» «Richtig!» jubelte Erling, der froh war, daß das gefährliche Gesprächsthema von erfreulicheren Dingen verdrängt wurde. «Wir stürzen uns gleich in die Kombüse. Komm, Krümel!» Zwanzig Minuten später saßen sie alle um den Abendbrottisch versammelt. Der tüchtige Erling hatte das Essen den Verhältnissen angepaßt, und wegen der großen Hitze standen nur leichte Gerichte auf dem Tisch. Alle waren hocherfreut mit Ausnahme von Peter Nielsen, der ein wenig brummte. «Ein ausgewachsener Mann wird doch nicht satt von Gemüse und dergleichen Krimskrams…» «Freßsack!» grinste Marstal. «Ich habe es doch immer gesagt, -41-
daß mit den Fünen nichts Gescheites los ist, aber Essen in sich hineinstopfen, das können sie alle! Wenn ihr doch wenigstens auch zu etwas nutz wäret bei all der Esserei!» Und damit war natürlich die Diskussion zwischen den beiden Seeleuten in vollem Gang. Die Jungen hörten mit wahrer Wonne zu. Erling ließ sein gutes Herz mit ihm durchgehen und servierte dem hungrigen Peter Nielsen eine ganze Konservendose Gulasch, über die er wie ein Wolf herfiel. Er hatte jedoch kaum damit angefangen, als ein Schwarm kleiner fliegender Insekten zu Besuch kam. Am Gemüse waren die Insekten offenbar nicht interessiert gewesen, aber über das Gulasch senkten sie sich wie eine Wolke herab. Peter Nielsen nahm es mit Ruhe hin, aber Erling stöhnte. «O nein, was ist das denn? Verflixtes Ungeziefer!» Peter grinste bloß. «Fliegende Ameisen oder so was Ähnliches, macht mir nichts aus! Wenn man nicht gerade Vegetarier ist, kann man so ein bißchen Krabbelzeug auch mitessen. Wenn man wie ich so viele Jahre in den Tropen war, kann einen nichts mehr überraschen. Ich kann mich erinnern, einmal als wir…» Er lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und begann. «Also damals, als wir nach China fuhren, da waren wir im Gelben Meer, und da kam ein Schwarm raubgieriger Insekten, die setzten sich einfach auf unserem Schiff fest. Ich schätze, es waren so an die achtzig Millionen… und als ich mich am Abend ins Bett legte, da war ich, ehrlich gesagt, etwas beunruhigt. Dieses fliegende Ungeziefer sah nämlich verflixt hungrig aus. Im Verlauf der Nacht konnte ich kaum Schlaf in die Augen kriegen, denn ich hörte, wie es vor meiner Tür kribbelte und krabbelte…» Peter Nielsen kratzte seinen roten Haarschopf und fuhr fort zu erzählen. «Am nächsten Morgen stand mir denn auch eine entsetzliche -42-
Überraschung bevor. Als ich nämlich aus meiner Kajüte trat, war der ganze Kahn weg!» «Was?» flüsterte Jesper und sperrte die Augen auf. «Genau das! Nicht ein Stückchen war übriggeblieben, rein gar nichts… Nicht einmal eine Spur von der Schiffermütze des Kapitäns!» «Und der Kapitän selber?» fragte Jan lachend. «Der war auch weg!» «War das Schiff nicht aus Eisen?» «Doch… ähm… das war es schon, aber wie ich euch schon sagte, es waren außerordentlich raubgierige Insekten. Und als ich mich umdrehte, um in meine Kajüte zurückzugehen, da gab es die auch nicht mehr!» «Du bist also in der Luft geschwebt?» «Ja, bis ich kopfüber ins Gelbe Meer stürzte. Ich war nur neunzig Seemeilen von Land entfernt, die kleine Schwimmtour machte mir also keine größeren Schwierigkeiten.» «Bekamst du unterwegs nicht Hunger?» «Doch, natürlich. Aber wenn mich der Hunger überkam, tauchte ich bloß mal schnell und aß die Stichlinge, die ich erwischen konnte. Nach und nach hatte ich dann auch an die tausend Stück verspeist, deswegen mag ich seit der Zeit Stichlinge nicht mehr so gern… weder gekocht noch gebraten.» Die Zuhörer amüsierten sich wie immer über das Seemannsgarn des Steuermanns, und Erling öffnete aus lauter Vergnügen zwei Dosen Ananas. Allerdings murmelte er dazu: «Wenn das so weitergeht, ist unser Proviant bald verbraucht. Und soviel ich weiß, rechnet Ingenieur Smith damit, daß er bis Kapstadt reichen soll.» «Seeleute haben immer Hunger», meinte Peter Nielsen. «Och», grinste Marstal neckend, «man muß nicht einmal ein richtiger Seemann sein, um als Fresser zu gelten. Da braucht -43-
man ja nur dich anzusehen!» Nach dem Abendessen dösten sie auf dem Vordeck. Die größte Hitze war schon am Abklingen, und Stille hatte sich über den Hafen gesenkt. Die großen Kräne zeichneten ihre unbeweglichen Silhouetten gegen den Abendhimmel, und nur in Abständen hörte man einen Lastwagen über den Kai fahren. Die arabischen Hafenarbeiter hatten schon lange den Heimweg in ihre armseligen Hütten angetreten, um Kräfte für den nächsten Tag zu sammeln. Die Freunde unterhielten sich gutgelaunt. Nur Jan war ein wenig geistesabwesend. Er saß still da und überlegte, was Carl über den Sender im Eingeborenenviertel berichtet hatte. Mit so einem Funkgerät konnte etwas nicht stimmen! Sollten die französischen Polizeibehörden nicht etwas darüber erfahren? Bei diesem Gedanken mußte Jan unwillkürlich vor sich hin lächeln. Die Polizei hatte gewiß auch so schon genug Probleme zu lösen. Und was würden die Franzosen wohl sagen, wenn ein Tourist plötzlich bei ihnen auftauchte, um ihnen eine derartige Räubergeschichte zu erzählen? Möglicherweise würden sie der Geschichte doch Glauben schenken und die Sache näher untersuchen. Aber dann würde man ihnen natürlich auch erzählen müssen, was Carl widerfahren war. Den Gerüchten zufolge waren die französischen Kolonialbehörden nicht sehr wendig; es konnte also passieren, daß die ‹Flying Star› dadurch erheblich aufgehalten würde, denn natürlich müßte die Mannschaft vor Gericht aussagen. Und konnte Carl sich nicht geirrt haben? Immer wieder kehrten Jans Gedanken zu diesem Zweifel zurück, und ebensooft schob er ihn wieder von sich. Nein, Carl war ein nüchterner Bursche, so viel Phantasie hatte er gar nicht. Was den Sender betraf, hatte er sich nicht geirrt. Nach und nach überkam Jan eine unerklärliche Unruhe. Er erhob sich, um die Beine etwas zu strecken, und ging achtern. -44-
Als er da an der Reling stand, kam Jack Morton zu ihm und sagte munter: «Du scheinst Probleme zu haben, Jan. Kann ich dir irgendwie helfen?» «Hm!» sagte Jan. «Wenn ich ganz ehrlich sein soll, ich muß immer wieder daran denken…» «… an den mysteriösen Sender im Araberviertel!» vollendete Jack Morton den Satz und lachte dabei. «Das dachte ich mir schon. Willst du etwas unternehmen?» Jan nickte und erklärte, wie er die Sachlage sah. Nachdenklich sprach er dann weiter. «Es könnte natürlich eine ganz einleuchtende Erklärung für den Sender geben, aber dafür besteht meines Erachtens nicht mehr als ein Prozent Wahrscheinlichkeit. Bevor wir irgend etwas unternehmen, möchte ich die Sache näher untersuchen.» «Hm! Ohne Ingenieur Smith etwas davon zu sagen?» Jan nickte. «Er wäre bestimmt dagege n, obwohl es kaum gefährlich sein wird… wenn man es vorsichtig angeht natürlich. Gehst du morgen mit auf einen kleinen Rundgang im Araberviertel?» «Natürlich gehe ich mit. Was wird aber mit den anderen?» «Wir beide müssen allein gehen und den Mund halten, bis wir wiederkommen… aber, Jack… wir dürfen natürlich nicht vergessen, daß es gefährlich werden könnte, wenn das Unglück es will.» Jack zog lächelnd die Schultern hoch. «Es wäre ja nicht das erstemal, daß wir in eine gefährliche Lage geraten, und bisher haben wir immer Glück gehabt. Hast du eine bestimmte Idee, wofür der Sender benützt werden könnte?» «Ich kann nur versuchen, es zu erraten, Jack. Meiner Meinung nach gibt es nur zwei Möglichkeiten…» «Laß hören!» «Entweder ist es ein illegaler Sender, der den aufrührerischen -45-
Arabern Nachrichten vermittelt… oder es handelt sich um Spione, die gegen die französische Regierung arbeiten.»
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FÜNFTES KAPITEL Während des Rests dieses Abends kamen sich Jan und Jack wie Verschwörer vor. Im allgemeinen nahmen sie sich nie etwas vor, ohne die Freunde in ihre Pläne einzuweihen, aber in diesem Fall hielten sie es für klüger, wenn niemand von ihrem Vorhaben erfuhr. Erling würde ganz bestimmt davon anfangen, wie gefährlich eine solche Expedition werden könne, die beiden Seele ute hätten sicher auch Einwände… und Ingenieur Smith könnte dieses Mal vielleicht ernsthaft die Faust auf den Tisch schlagen! Tief innen hatte auch Jan einige Bedenken. Er dachte weniger an das Risiko, das sie eingingen, indem sie das Araberviertel erneut betraten, sondern daran, daß sie damit Ingenieur Smith eigentlich hintergingen. Zwar hatte der Ingenieur niemandem ausdrücklich verboten, allein in das Eingeborenenviertel zu gehen, aber er hatte ihnen befohlen, immer nur gemeinsam hinzugehen… Und von ‹gemeinsam› konnte ja wohl kaum die Rede sein, wenn sie nur zu zweit gingen! Schließlich schob Jan doch alle Bedenken beiseite. Er redete sich ein, daß er natürlich einem direkten Verbot Ingenieur Smiths hundertprozentig Folge geleistet hätte! Im Verlauf des Abends fragte Jack: «Meinst du, wir sollten uns morgen verkleiden… oder mit offenem Visier spielen?» Ohne Bedenken antwortete Jan: «Unbedingt mit offenem Visier spielen.» Dann fügte er hinzu: «Ich habe auch darüber nachgedacht. Wir könnten sicher für wenig Geld ein paar zerlumpte Arabergewänder und etwas Schminke bekommen. Aber wir würden wahrscheinlich damit hereinfallen. Wir sprechen weder die Landessprache, noch sind wir mit den Gewohnheiten der hiesigen Bevölkerung vertraut genug, um lange unentdeckt -47-
bleiben zu können. Früher oder später würde doch jemand unser Geheimnis lüften. Und das halte ich für gefährlicher, als wenn wir mit offenem Visier kämpfen.» Jack lächelte. «Vielleicht wird es nötig, daß wir schnell verschwinden, und dann würden uns lange Arabergewänder sehr am Laufen hindern. – Gut, dann sind wir uns also darüber einig. Wann soll es morgen früh losgehen?» «Gegen zehn Uhr, würde ich vorschlagen. Ich glaube, am Vormittag sind die meisten Touristen im Araberviertel, da fallen wir nicht so sehr auf.» Es bereitete den beiden Freunden keine größeren Schwierigkeiten, am nächsten Morgen die ‹Flying Star› zu verlassen. Ingenieur Smith ging von Bord, um seine Verhandlungen mit den französischen Hafenbehörden fortzusetzen, und weder die beiden Seeleute noch die übrigen Jungen hatten irgendwelche bestimmten Pläne für den Vormittag. Man einigte sich nur darauf, daß alle sich um dreizehn Uhr zum Mittagessen an Bord treffen sollten. Als sich die beiden Jungen dem Eingeborenenviertel näherten, sagte Jan: «Auf eines müssen wir nun achten, Jack. Der Händler und seine Freunde sind jetzt sicher sehr in Sorge, da es Carl glückte, ihnen zu entkommen. Wahrscheinlich rechnen sie damit, daß bei der französischen Polizei Anzeige erstattet wurde. Auf jeden Fall aber werden sie vor Europäern auf der Hut sein. Wir beide müssen also sehr aufpassen.» «Ob uns der Händler erkennt?» «Das glaube ich nicht. Wir hatten ja gestern nichts mit ihm zu tun, sondern sind nur an ihm vorbeigegangen wie so viele andere Touristen. Mit Carl wäre es natürlich etwas anderes. Ihn wird der Händler sicher unter tausend anderen Europäern wiedererkennen.» Jack nickte. «Ja, zweifellos… Aber laß uns jetzt erst mal -48-
sehen, ob wir den Laden nach der Beschreibung überhaupt finden. Der Mann verkauft hauptsächlich Lederwaren, und links von seinem Laden liegt ein kleines arabisches Gasthaus.» Es dauerte nicht lange, da hatten die beiden Freunde gefunden, was sie suchten. Der Mann war gerade eifrig bemüht, seine Ware einer Gruppe amerikanischer Touristen anzupreisen. Die Touristen waren offenbar am Kauf von Kamellederwaren interessiert, und der Kaufmann schien für nichts anderes Augen zu haben. «Er sieht eigentlich nicht aus, als ob ihn sein Gewissen sehr plagen würde», meinte Jack. «Nein», entgegnete Jan lächelnd. «Aber ich glaube, die Araber sind wirklich ein Menschenschlag für sich. – Ob wir uns jetzt in den Hinterhof wagen können?» «Dazu sind wir wohl gezwungen, wenn wir auch nur das Geringste aufklären wollen. Aber vielleicht sollten wir erst einmal in das arabische Gasthaus hineinschauen. Möglich, daß wir von dort etwas entdecken können.» «In Ordnung», nickte Jan. «Laß es uns versuchen!» Das Gasthaus – wenn man dafür diesen Ausdruck überhaupt gebrauchen konnte – bestand aus einem ziemlich engen Raum, der düster und schmuddelig war. Rohe Holzplatten auf Böcken dienten als Tische. Etwa fünfzehn bis zwanzig wackelige Stühle standen herum. Die Auswahl an Speisen war dürftig. Das einzig Eßbare schien das arabische Leibgericht Kush zu sein. Das Essen wurde in der hintersten Ecke des Lokals zubereitet; die Eßschalen, in denen das Gericht serviert wurde, sahen alles andere als appetitlich aus. Nach einer kurzen, halblaut geführten Unterhaltung fanden beide Jungen, daß sie absolut keine Lust hatten, das arabische Leibgericht zu probieren. Jack wandte sich in seinem besten Französisch an den Wirt und fragte, ob er etwas zu trinken anbieten könne. Der Araber nickte kurz und kehrte mit zwei Gläsern zurück. Das Getränk schmeckte -49-
ekelhaft süß und war lauwarm. Den Fliegen schien das Zeug jedoch sehr gut zu munden; sie schwärmten dicht um die Gläser, als die beiden Freunde an einem Fenster Platz genommen hatten, das Sicht auf den Hinterhof des Händlers bot. Während die Jungen unaufhörlich Fliegen verjagten, sprachen sie in gedämpftem Ton miteinander und benutzten gleichzeitig ihre Augen. In einer Ecke saßen einige Araber, die einen verschlafenen Eindruck machten, im Hintergrund hantierte der Wirt mit dem Essen. Sonst war niemand im Lokal, und abgesehen von dem lauten Summen der Fliegen war kaum ein Geräusch zu vernehmen. «Pfui!» sagte Jack und wedelte mit der Hand mindestens ein Dutzend fetter Fliegen von seinem Glas weg. «Die Fliegen in diesem Haus sehen jedenfalls nicht aus, als ob sie Hunger leiden müßten. Sicher bekommen sie den ganzen Tag Kush zu essen. Ich glaube, hier könnte nicht einmal Peter Nielsen einen Bissen hinunterwürgen.» Er schwieg plötzlich und betrachtete Jan, der sich ein wenig zu dem offenen Fenster gebeugt hatte und offensichtlich mit Spannung hinaushorchte. «Kannst du etwas hören?» fragte er eifrig. «Nicht einen Ton… aber es wäre ja auch merkwürdig, wenn da einer den ganzen Tag lang funkte.» «Hm, ja, natürlich… aber was tun wir jetzt? Wir können ja nicht gut stundenlang hier sitzenbleiben. Ist jemand draußen im Hof?» «Keine Menschenseele. Ich glaube nicht, daß wir ein größeres Risiko eingehen, wenn wir uns da draußen ein wenig umsehen. Vielleicht treffen wir den einen oder anderen Araber, aber dann können wir ja immer dumm spielen… oder als neugierige Touristen auftreten… irgend etwas in der Richtung fällt uns schon ein.» «Hm!» sagte Jack gedämpft. «Der Wirt steht jedenfalls schon -50-
eine Weile da und schaut zu uns herüber. Und mithören tut er auch, so gut er kann.» «Verflixt!» entgegnete Jan bloß. Dann fügte er hinzu: «Es wäre aber seltsam, wenn ein arabischer Wirt Dänisch verstünde. Sicher lauert er immer, wenn europäische oder amerikanische Touristen in sein Gasthaus kommen. Ist aber auch zu dumm, daß im Moment nicht gefunkt wird!» «Meinst du denn, daß wir viel schlauer wären, wenn das Funkgerät nun zu klappern anfinge? Carl sagte ja, daß nicht englisch gesendet wurde. Eher ist es wohl arabisch…» «Ja, oder französisch. Könntest du eine französische Morsemeldung entziffern?» Jack zögerte ein wenig. «Nicht sehr gut. Aber ich könnte vielleicht den Inhalt ganz allgemein deuten.» «In Ordnung, laß uns zahlen und aus diesem Fliegenparadies hinauskommen.» Kurz darauf standen sie auf der Straße und beratschlagten weiter. Wenn sie sich überhaupt noch Hoffnung darauf machen wollten, etwas zu entdecken, dann mußten sie wohl oder übel in den Hof, denn dort hatte Carl ja den geheimnisvollen Sender gehört. «Laß uns hineingehen und neugierige Touristen spielen», sagte Jan. «Wir können ja ein wenig herumschlendern und die baufälligen Ruinen fotografieren.» «Du hast ja deine Kamera gar nicht dabei.» Jan lächelte und zog ein kleines, blankes Ding aus der Hosentasche. «Mein Spionapparat ist für diesen Zweck genau geeignet, auch wenn viele Leute glauben, daß es sich nur um ein Spielzeug handelt.» Jans Vater, Kriminalkommissar Helmer, hatte seinerzeit Jan den sogenannten «Spionapparat» geschenkt, der in Größe und Aussehen einem Feuerzeug glich. Während des Krieges wurden -51-
in Dänemark einige dieser Wunderapparate von der Widerstandsbewegung benutzt, um so unauffällig wie möglich Polizeispitzel oder Ereignisse von besonderer Bedeutung zu fotografieren. Die Spionapparate waren eine russische Erfindung und wurden zum erstenmal während des finnischrussischen Krieges benutzt; besonders im letzten Jahr der Besatzung waren sie von unschätzbarem Wert… aber nie hätte Jan sich träumen lassen, daß sein Apparat im Araberviertel von Casablanca von großer Bedeutung werden sollte. «In Ordnung», sagte er. «Wir schauen hinein. Komm!» Der Innenhof war menschenleer. Nur leere Kisten bewiesen, daß er überhaupt jemals benutzt wurde. Jan schaute umher, und es dauerte nicht lang, da war er sich darüber im klaren, wo sich Carls Gefängnis befunden hatte. Als er dann näher hinsah, bemerkte er sogar, daß die Eisenstange n in einer der Mauernischen verbogen waren. Der Anblick ließ ihn unwillkürlich lächeln, denn damit hatte Carl wieder einmal bewiesen, welch enorme Kräfte er besaß. Drüben links lag das kleine Gasthaus, das ein Fenster zum Hof hatte, und im Hintergrund befa nd sich die baufällige Ruine eines Hauses, das einige Fensteröffnungen und eine einfache Tür hatte. Die Sonne brannte auf den Hof, und die Luft war stickig. Ohne bestimmten Zweck begann Jan einige Fotos von diesem malerischen Elendsviertel zu machen. Während er noch damit beschäftigt war, erklärte er Jack: «Ich könnte fast wetten, daß der Funkapparat dort drüben in einem der Hinterhäuser verborgen ist. Der Hof hier wird wahrscheinlich ungefähr die Wirkung eines Megafons haben, und von seinem Gefängnis konnte Carl deutlich hören, wie dort drüben hinter den offenen Fenstern gefunkt wurde. Ich bin sehr gespannt darauf, was wir hinter der Tür finden werden.» «Meinetwegen», nickte Jack sorglos. «Dann laß uns hineingehen.» -52-
Sie gingen quer über den Hof und standen einen Augenblick lang vor der Tür. In ihrem Innersten fühlten sie wohl beide, daß sie sich jetzt in ein Wagnis stürzten, das gefährliche Folgen haben konnte, aber sie zögerten nur sekundenlang. All die Jahre hindurch hatten sie schon so manches Gefährliche gewagt… Warum sollte es diesmal schiefgehen? Die Araber waren gewiß nicht schlimmer als der Meisterspion Katz, der in der letzten Runde auch geschlagen worden war.* Jan wollte die Tür gerade aufschieben, als er plötzlich das unbestimmte Gefühl bekam, ein fremder Mensch starre ihn an – ja, er konnte die Augen dieses Menschen geradezu in seinem Nacken spüren. Dies war für ihn kein neues Gefühl. In den vergangenen Jahren hatte es ihn einige Male überkommen, und bis jetzt war immer ein Grund dafür vorhanden gewesen. Er spürte einen fast unwiderstehlichen Zwang, sich schnell umzudrehen und nachzusehen, ob er die lauernden Augen nicht entdecken könne. Aber er tat es nicht; er sagte sich, diesmal sei es sicher eine Täuschung. Er redete sich ein, es müsse ja Einbildung sein, denn der Händler hatte im Augenblick mehr als genug damit zu tun, die Touristen auf der Straße zu bedienen… und wer sonst konnte auf die Idee kommen, ihn anzustarren? «Komm, Jack», sagte er kurz und öffnete die Tür. Die beiden Jungen traten ein und standen nun in einem engen, dunklen Vorzimmer auf einem schmutzigen Steinboden. Als sie die Tür hinter sich schlossen, wurde es so dunkel, daß es eine Weile dauerte, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnten und sie Einzelheiten unterscheiden konnten. Im Hintergrund befand sich eine Treppe, die in den ersten Stock führte. *
Vom Meisterspion Katz erzählen die Bände 9 und 20 der «Jan»-Reihe mit den Titeln «Jan ganz groß!» und «Jan und der Meisterspion», erschienen im Albert Müller Verlag, Rüschlikon-Zürich, Stuttgart, Wien, und in jeder Buchhandlung erhältlich. -53-
Einen Augenblick lang standen die beiden Freunde unbeweglich und lauschten mit angehaltenem Atem, aber kein Laut war zu hören. Die Stille war so ungewöhnlich, daß sie beinahe erschreckend wirkte, und Jack fragte mit heiserer, gedämpfter Stimme: «Wollen wir weitergehen… die Treppe hinauf?» Erneut überkam Jan das Gefühl, daß eine Gefahr auf sie lauere und daß sie von irgendeinem Ort aus bespitzelt wurden, dennoch antwortete er ebenso gedämpft: «Ja, wir schleichen uns vorsichtig hinauf und schauen uns den oberen Stock an… nur ein paar Minuten…» «Hm! Du bist dir wohl darüber im klaren, daß wir Hausfriedensbruch begehen?» «Ja, natürlich… aber auf solche Kleinigkeiten nahmen die Araber ja auch keine Rücksicht, als sie Carl zusammenschlugen und ihn einsperrten.» «Wie du meinst. Ich bin bereit.» Sie schlichen vorsichtig die Treppe hinauf und standen bald darauf vor einer morschen Holztür. Jan versuchte sie behutsam zu öffnen, aber sie war versperrt. Die Tür, welche sich daneben befand, ließ sich jedoch ohne Schwierigkeiten öffnen, und da geschah es, daß die Jungen aus purer Überraschung beinahe einen lauten Ruf ausstießen. Sie hatten den Anblick eines armseligen Zimmers erwartet, schmutzig und dunkel, mit ärmlichen Möbeln ausgestattet – statt dessen starrten sie auf eine Anzahl schöner moderner Möbel. Die Wände waren weder nackt noch getüncht, wie es sonst in diesem Land üblich war, sondern mit hübschen Tapeten bekleidet. Der Boden war mit echten persischen Teppichen belegt. «Oh, du großer Chinese!» murmelte Jan ganz überwältigt. «Was in aller Welt glaubst du, daß dies bedeutet?» «Nicht die geringste Ahnung… aber merkwürdig ist es auf jeden Fall.» -54-
«Der Funkapparat!» rief Jan erregt aus. «Scha u dort drinnen!» Eine Tür stand halb offen; an der Längswand des Nebenraumes konnten sie den Apparat stehen sehen. Durch eine Fensternische fiel Licht. Wahrscheinlich war das tickende Geräusch, das Carl während seiner Gefangenschaft gehört hatte, aus diesem Fenster gekommen. «Ich knipse ein Bild von diesem interessanten Anblick», flüsterte Jan. Und kurz darauf hatte er schon einige Aufnahmen gemacht. Fast im gleichen Augenblick ergriff Jack ihn am Ärmel und flüsterte: «Jan, da unten kommt jemand!» «Bist du sicher?» «Ja, ich habe die Tür gehört… ja… und jetzt ist jemand auf der Treppe!» Jan warf schnell einen Blick um sich, aber in dem gutmöblierten Zimmer schien es kein geeignetes Versteck zu geben. «Komm, Jack, wir müssen schnell in den Funkraum», sagte Jan eilig. «Ja, aber…» «Komm, zum Kuckuck… schnell!» Lautlos wie Katzen liefen sie durch das Zimmer, schlüpften durch die Türöffnung und schoben die Tür hinter sich noch ein wenig weiter zu. Sie befanden sich jetzt in einem ziemlich großen Raum, der wie ein Büro oder ein Archiv eingerichtet war. An zwei Wänden standen Schreibtische und Regale, die mit Büchern und wahrscheinlich Akten gefüllt waren. Vor dem Funkgerät stand ein moderner Bürostuhl. Sekundenschnell hatte Jan Überblick über den Raum gewonnen. Ein dunkelroter Vorhang schien eine Garderobe oder ähnliches zu verdecken – das einzig mögliche Versteck in dem Raum. «Komm», flüsterte Jan. «Hinter den Vorhang!» -55-
Gleich danach standen sie in einer engen Kammer, in der eine Menge europäischer Kleider hingen. Jan zog schnell den Vorhang zu, ließ jedoch einen schmalen Spalt offen, um möglichst etwas von dem sehen zu können, was draußen im Zimmer vor sich gehen mochte. Er strich mit der Hand über die Stirn und merkte, daß sie feucht von Schweiß war. Die Lage war auch alles andere als gemütlich! Äußerst leichtsinnig hatten sie sich in ein privates Gebäude gewagt, und da es nur den einen Ausgang gab, waren sie jetzt wie die Ratten in der Falle gefangen. Es gab natürlich immer noch die Hoffnung, daß niemand auf den Gedanken kam, hinter den Vorhang zu schauen, und sich später eine Gelegenheit bieten würde, ungesehen von dannen zu schleichen, aber Jan hatte das unangenehme Gefühl, daß diese Hoffnung allzu optimistisch sei. Da erklangen Stimmen aus dem anderen Zimmer. Die beiden Freunde standen mäuschenstill und wagten kaum Atem zu holen. Ob die Leute hereinkommen würden? Diese Frage sollte sofort beantwortet werden, denn die Tür wurde weit geöffnet, und durch den Spalt im Vorhang konnte Jan sehen, daß zwei Männer ins Zimmer traten. Sie sahen südländisch aus, waren jedoch bestimmt keine Araber, ihre Kleidung war die moderner Europäer. Als sie nun in der vollen Beleuchtung der Fensternische standen, erschien es Jan richtig, sie zu fotografieren. Vorsichtig fischte er den Apparat aus der Hosentasche, hielt ihn an den schmalen Spalt im Vorhang und knipste einige Male nacheinander. Jan tat dies so behutsam, daß sich keine Falte des Vorhangs bewegte, aber er zuckte dabei dennoch zusammen. Die Männer verstummten jäh und starrten – genau auf den Vorhang!
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SECHSTES KAPITEL Jan schien es, sein Herz klopfe so laut, daß das Geräusch unüberhörbar bis zu den Männern dringen müsse. Auch Jack war sich im klaren darüber, daß es jetzt gefährlicher wurde, dennoch verharrten die beiden Freunde ohne Bewegung wie zuvor. Fast gleichzeitig nahm Jan wahr, daß die beiden Männer sich dem Funkapparat zuwandten. Sie sprachen gedämpft miteinander, und es war völlig unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Man konnte nicht einmal ausmachen, in welcher Sprache sie sich unterhielten. Der eine wandte den Kopf, als im Nebenzimmer Geräusche vernehmbar wurden. Er rief einige unverständliche Worte, worauf die Tür aufging und mindestens ein halbes Dutzend Araber eintraten. Sie glitten fast lautlos in den Raum. Jetzt! dachte Jan. Nun geht es los! Die beiden Südländer sprachen wiederum mit gedämpften Stimmen, während die Araber mit unbeweglichen Gesichtern zuhörten – und dann geschah etwas Schreckliches! Wie auf Kommando drehten sich die Araber um und stürzten auf den Vorhang zu. Der Angriff erfolgte so plötzlich und unerwartet, daß die beiden Freunde einen lauten Ruf ausstießen, aber schon waren sie in einen wilden Kampf gegen die Übermacht verwickelt. Sie traten sich mit den Beinen frei und schlugen mit den Armen um sich, sie entglitten den Angreifern wie Aale und zeigten sich dabei außerordentlich geschmeidig. Während des hitzigen Kampfes wurde der rote Vorhang herabgerissen, und dadurch erhöhte sich die Verwirrung der Kämpfenden. Die Araber waren mittlerweile so aufgeregt, daß sie sich gegenseitig einige derbe Faustschläge gaben. Aber natürlich war der Ausgang des Kampfes von Anfang an -57-
entschieden. Die Übermacht war so groß, daß die beiden Freunde unterliegen mußten. Vor Aufregung fauchend, klammerten sich die Araber an die Arme und Beine der Jungen, während die Europäer lächelnd zuschauten. Jan sah plötzlich, wie der größere der beiden Männer etwas aus einer Flasche auf zwei Lappen goß – und da wurde ihm klar, was der Mann vorhatte! In seinem bereits sehr ermatteten Zustand sah Jan, wie der Mann quer durch das Zimmer auf ihn zukam und sich über ihn beugte. Er sah das bösartige Glitzern in den dunklen Augen und spürte den süßlichen, erstickenden Geruch, als der Lappen gegen seine Nase gedrückt wurde. Außer sich versuchte er dagegen anzukämpfen, aber da war nichts mehr zu machen – er verlor das Bewußtsein. Als die Uhr an Bord 13.00 anzeigte, stand ein appetitlich gedeckter Mittagstisch in der großen Kajüte der ‹Flying Star›. Abgesehen von Ingenieur Smith, Jan und Jack war die gesamte Mannschaft versammelt, und Erling warf einen befriedigten Blick über den Tisch. Nein, da konnte niemand klagen… und nun hätten Jan und Jack wirklich kommen dürfen! Wenn ein Meisterkoch wie Erling Krag mit solcher Hingabe die Speisen anrichtete, dann sollten sich auch die Gäste die Mühe geben, pünktlich zu erscheinen! Als es Viertel nach eins geworden war, kam Peter Nielsen angeschlichen und warf einen lüsternen Blick auf den gedeckten Tisch. «Mein Hunger nimmt jetzt gewaltige Ausmaße an, Erling», murmelte er. «Können wir nicht anfangen?» «Ach, laß uns doch noch ein paar Minuten warten», schlug Erling vor und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «Ich kann nicht verstehen, wo Jan und Jack geblieben sind. Die beiden sind sonst so pünk tlich wie ein Uhrwerk. Hoffentlich -58-
haben sie sich nicht in Gefahr begeben.» «Was für eine Gefahr?» «Das Araberviertel!» «Wie?» «Ja, genau das! Als Carl gestern von dem geheimnisvollen Sender sprach, waren Jans Ohren auffallend gespitzt. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich es durch die Jahre gelernt habe, seinen Gesichtsausdruck zu deuten… weiß der Kuckuck… und daher würde es mich jetzt auch gar nicht wundern, wenn die beiden Kerle einfach ins Eingeborenenviertel geschlichen sind.» Inzwischen hatte sich der Rest der Mannschaft dazu gesellt, und eine allgemeine Unruhe griff um sich. Nach einer weiteren halben Stunde Wartezeit hatten alle den Appetit verloren – sogar Peter Nielsen –, und man begann zu beraten, was zu tun sei. Verschiedene mehr oder weniger gute Ratschläge wurden vorgebracht, aber endlich rückte Erling mit dem vernünftigsten Plan heraus. «Hört mal alle her. Wir können nun wohl ziemlich sicher sein, daß Jan und Jack sich ins Eingeborenenviertel gewagt haben und daß sie dort das Haus näher untersuchen wollen, wo Carl gefangen saß und den mysteriösen Sender gehört hat. Ebenso müssen wir wohl annehmen, daß sie kein Glück hatten und jetzt selber dort gefangen sitzen. Unter diesen Umständen müssen wir bei der französischen Polizei Anzeige erstatten. Aber es wird nicht genügen, daß einer von uns einfach auf die Polizeiwache geht…» «Sondern was?» fragte Marstal. «Wir müssen versuchen, Ingenieur Smith so schnell wie möglich zu erreichen. Nur er hat die richtigen Verbindungen, ihm könnte es gelingen, die Polizei dazu zu überreden, sofort die Suche aufzunehmen. Ich schlage daher vor, daß Peter und Carl sofort zum Verwaltungsgebäude der Hafenbehörden gehen, wo Smith in einer Konferenz sitzt. Erklärt die ganze Sachlage, wie -59-
sie ist… auch alles, was gestern geschehen ist… und dann muß einer von euch wieder herkommen und uns berichten. Es wird wahrscheinlich am besten sein, wenn Carl mit der Polizei geht, um den Weg zum richtigen Haus im Araberviertel zu zeigen. Hat jemand etwas gegen diesen Vorschlag einzuwenden?» Niemand erhob einen Einwand, im Gegenteil, Erlings Vorschlag wurde mit Applaus begrüßt. «In Ordnung also. Peter und Carl, ihr geht jetzt so schnell wie möglich! Wir anderen warten hier auf den Bericht, aber beeilt euch sehr, Jungen, denn… ja, hm… ich habe den Verdacht, daß jede Minute kostbar ist!» Peter Nielsen und Carl verschwanden gleich darauf im Laufschritt, und für die anderen begann eine nervenaufreibende Wartezeit an Bord der ‹Flying Star›. Marstal nahm es noch einigermaßen mit Ruhe hin, Erling versuchte, so gut er konnte, seine Unruhe zu unterdrücken, aber der kleine Jesper war ganz und gar nicht imstande, seine Sorgen zu verheimlichen. «Oh, Erling, es ist furchtbar», klagte er herzzerbrechend. «Wenn die Araber Jan und Jack nun erschlagen?» «Nun halt aber die Klappe, Krümel», unterbrach ihn Erling, dessen Stimme ausnahmsweise einmal ernstlich irritiert klang. «Wir verbessern ihre Lage nicht, indem wir auf diese Art zu jammern beginnen. Unsere beiden Freunde waren früher auch schon in ähnlich ge fährlichen Lagen, sie haben es bisher immer geschafft, und… hm… ja, es wird schon alles klappen, wenn sich jetzt die Polizei der Sache annimmt.» «Hm!» erklang ein Grunzen von Marstal. «Ich habe ja kein großes Vertrauen, was die Schnelligkeit der Franzosen angeht. Wenn es um solche Dinge geht… aber was soll’s… wir müssen eben auf das Beste hoffen.» «Und das Schlimmste erwarten», murmelte Jesper und begann nervös seine Hände zu reiben. -60-
Der kleine Yan Loo hatte sich bisher nicht ins Gespräch eingemischt, da er sowieso nicht allzuviel verstand, wenn die übrigen unter sich dänisch sprachen. Es war ihm jedoch klargeworden, daß etwas nicht stimmte. Sein Gesichtsausdruck war bekümmert, und alle paar Minuten schaute er zum Anlegeplatz hinauf, um nachzusehen, ob sein geliebter ‹Herr› nicht bald auftauchen würde. Plötzlich raste ein Auto den Kai entlang. Der Fahrer bremste so abrupt vor der ‹Flying Star›, daß die Reifen auf dem sonnendurchglühten Asphalt aufheulten. Peter Nielsen sprang heraus. «Hallo, Erling und Jesper!» rief er laut. «Kommt sofort mit im Wagen. Wir fahren zum Araberviertel…» «Du bleibst als Wache zurück, Yan Loo», rief er dann auf englisch. «Aber wenn du diesmal wieder deinen Posten verläßt, dann dreh ich dir den Kopf um, daß du wie ein Korkenzieher aussiehst. Hast du mich verstanden?» «Ja, Herr Steuermann», murmelte der Chinesenjunge. «Gut, dann kommt gleich, ihr beiden.» Alle drei sprangen in den Wagen, der schnell wendete und stadteinwärts fuhr. Unterwegs berichtete Peter Nielsen. «Ihr könnt wetten, daß Ingenieur Smith unseren Plan in Null Komma nichts unterstützte. Er und der Hafenmeister erreichten sofort den obersten Chef der Polizei, und jetzt rücken die gesamte Polizei und Soldaten aus… alles zieht ins Araberviertel…» «Soldaten?» Jesper schnappte sichtlich nach Luft. «Gibt das nun einen Krieg gegen die Araber?» Peter zog die Schultern hoch. «Das kann alles zwischen Himmel und Erde geben. Wie ihr wißt, ist das Verhältnis zwischen den Franzosen und den Eingeborenen sehr gespannt, und der Polizeichef wollte kein Risiko eingehen. Wenn nämlich -61-
nur die Polizei zur Razzia ausgerückt wäre, dann hätte es schiefgehen können. Aber es wirkt sicher dämpfend auf die erregten arabischen Gemüter, wenn Soldaten an der Aktion teilnehmen. Sollte es aber zu einem Kamp f kommen, dann gibt es eine heiße Schlacht.» Peter Nielsen und die beiden Jungen ließen den Wagen in der Nähe des Araberviertels halten. Es war sicher am besten, das letzte Stück des Weges zu Fuß zu gehen. Kurz darauf drangen sie in die schmutzigen, sonnenheißen Gassen ein. Als sie in die Nähe des Lederladens kamen, deutete Peter Nielsen darauf und sagte: «Seht ihr den verrammelten Lastwagen, der dort wegfährt? Ob unser Händler im Begriff ist, seine Zelte abzubrechen?» «Vielleicht ist er schon mißtrauisch geworden», meinte Jesper. Aber Erling schüttelte den Kopf. «Das kann ja auch ein ganz normaler Lastwagen sein, der in diesem Viertel Waren abliefert oder abholt. Und vergeßt auch nicht: wir haben zwar den Verdacht, aber es ist nicht bewiesen, daß Jan und Jack in dem Haus da drüben gefangengehalten werden. Wenn sowohl die Polizei als auch das Militär so schnell eingreifen, dann geschieht das wegen der gestrigen Ereignisse.» Peter Nielsen warf einen Blick in die Runde und brummte: «Ob sich hier in der Gegend nun bald etwas tut? Ich sehe noch nicht einmal den Schatten eines Soldaten.» Aber kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als das Geräusch taktfester Schritte durch die Straße hallte und eine Abteilung Fremdenlegionäre mit aufgepflanzten Bajonetten aufmarschierte. Dann ertönten laute Kommandorufe; es war deutlich festzustellen, daß der Souvenirladen und die nähere Umgebung total eingekreist werden sollten. Die europäischen Touristen, die sich auf den Straßen befanden, betrachteten die Soldaten ohne größeres Interesse, nur einige von ihnen zogen -62-
sogleich eine Kamera, um auch diesen Anblick zu verewigen. Unter der arabischen Bevölkerung entstand jedoch erhebliche Unruhe. Sie versammelte sich in mehr oder weniger großen Gruppen, und ein drohendes Gemurmel erhob sich. Jesper warf einen erschrockenen Blick um sich und begann sicherheitshalber zu flüstern. «Das gibt bestimmt einen heißen Kampf. Seht ihr nicht, wie finster die Araber dreinschauen?» «So sehen die doch immer aus», meinte Peter Nielsen. «Hallo!» ertönte es da gleich hinter ihnen. Ingenieur Smith, Carl und einige in Zivil gekleidete Personen waren plötzlich aufgetaucht, und es wurden schnell Grußworte gewechselt. Der Polizeichef gab einige kurze Befehle, und dann nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Smith sagte zu Erling: «Ich ziehe es vor, wenn du und Jesper ein wenig im Hintergrund bleibt. Carl muß mit der Polizei gehen, denn er ist ja der Hauptzeuge in dieser Sache, Marstal und Peter Nielsen können ihn begleiten. Denn wenn es einen Kampf geben sollte, können wir kräftige Fäuste gut gebrauchen. Ich selber werde als Dolmetscher dabeibleiben, denn Carl spricht ja kein Französisch.» Er nickte kurz und verschwand dann mit Carl und der Polizei. Inzwischen waren das Haus und die nähere Nachbarschaft völlig umzingelt worden. Wo man hinschaute, sah man Soldaten, die Gewehr bei Fuß standen und auf weitere Befehle warteten. Die Menschenansammlung wuchs mit erstaunlicher Schnelligkeit, aber die Touristen zogen sich eiligst zurück, um die Dinge aus sicherem Abstand zu beobachten. Denn es war jedem klar, daß etwas Ernstes geschehen würde. Zum Schluß dominierten die farbenprächtigen Kleider der Araber das Straßenbild, und das drohende Murren schien ständig anzuwachsen. Hier und da ertönte ein Wutschrei aus der Menge, Schimpfworte wurden laut, aber die postierten Soldaten verzogen keine Miene. Der Händler blieb ganz ruhig, als Carl zusammen mit -63-
Ingenieur Smith und einigen der französischen Detektive auf seinen Laden zuschritt. In den nächsten Minuten ärgerte sich Carl darüber, daß er nie Französisch gelernt hatte, denn er hätte zu gern verstanden, was der Polizei-Inspektor mit dem Händler redete. Ingenieur Smith hörte interessiert zu. Fragen hagelten auf den arabischen Kaufmann herab, der mit den Augen rollte und die Arme weit ausbreitete, wobei er in einem fort redete. Schließlich wandte Smith sich an Carl und begann zu erklären: «Er gibt zu, daß es gestern einen Tanz gegeben hat, sagt aber, daß du daran die Schuld trägst. Während des Kampfes dachte er nur daran, seine Waren zu retten; er hat keine Ahnung, was dann weiter mit dir geschah.» «Welch ein verlogenes Geschwätz», sagte Carl aufgeregt. «Sie haben mich doch in seinem eigenen Haus eingesperrt.» Smith nickte. «Das leugnet er auch nicht, aber er behauptet, daß andere dich, ohne sein Wissen, in seinen Keller gesperrt haben. Erst nach deiner Flucht ist ihm alles klargeworden.» «So ein Lügner!» «Das meinen die Detektive auch», antwortete der Ingenieur lächelnd. «Du kannst auch sicher sein, daß der Kaufmann nicht so einfach davonkommt. Aber jetzt wollen wir erst einmal in den Hinterhof gehen, um uns alles näher anzuschauen.» Die Detektive schwärmten nun aus und verhörten verschiedene andere Leute, aber die Araber gaben nur einsilbige Antworten und schauten bitterbös drein. Im Hof deutete Carl auf die Fensternische, wo die Eisenstangen noch immer verbogen waren, und Smith übersetzte Carls Worte. Dann wurde der Keller kreuz und quer durchsucht, es ergab sich jedoch nichts von Interesse. Danach begann die Untersuchung der umliegenden, abbruchreifen Häuser. Bestimmt waren die Franzosen daran interessiert, die zwei europäischen Jungen zu finden, aber ihre Untersuchungen galten nicht zuletzt auch dem illegalen Sender! -64-
«Die Franzosen hegen schon lange den Verdacht, daß die Unruhen von einer Art Hauptquartier aus geleitet werden», sagte Ingenieur Smith erklärend zu Carl. «Sie nehmen auch an, daß eine fremde Macht hinter dem Ganzen steckt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sie den mysteriösen Sender finden wollen…» «Es wäre wichtiger, daß sie Jan und Jack finden», brummte Carl. «Wenn wir die beiden nur sofort ausfindig machen könnten, dann würden die Franzosen bestimmt eine Menge interessanter Einzelheiten von ihnen erfahren.» Und damit hatte Carl recht, denn die Untersuchungen der Gebäude in der Umgebung erbrachten rein gar nichts. Auch das Hintergebäude, in dem Jan und Jack gefangengenommen worden waren, bot keinen Anhaltspunkt. Im ersten Stock befanden sich nämlich nur zwei leere Zimmer. Eines davon war zwar hübsch tapeziert, was die Franzosen sehr erstaunte, aber es stand nicht ein Möbelstück darin, und auch sonst befand sich dort nichts von Interesse. Der Inspektor schüttelte den Kopf. «Hier stimmt etwas nicht. Ich glaube, daß die Zimmer in großer Eile geräumt wurden. Es besteht auch kein Zweifel daran, daß in dieser Fensternische irgend etwas installiert war…» «Der Funkapparat?» schlug einer der anderen Detektive vor. «Möglich. Aber noch können wir nicht das Geringste beweisen. Wenn die ganze Einrichtung innerhalb der letzten vier Stunden weggeschafft worden ist, haben unzählige Araber den Vorfall beobachtet, aber kein einziger wird uns ein Wort davon erzählen. Laßt uns also weitersuchen.» Und die Detektive setzten ihre systematische Arbeit fort. Es gab keine Ecke in diesem Haus, die nicht gründlich unter die Lupe genommen wurde, aber alles war umsonst. Von dem Funkgerät wurde keine Spur gefunden. Und was schlimmer war, auch keine Spur gab irgendeinen Hinweis zu dem Verschwinden -65-
der beiden Jungen. Der Händler wurde erneut verhört, aber er blieb bei seiner ersten Erklärung und protestierte wild, als er von einigen handfesten Polizisten zu weiteren Verhören abgeführt wurde. Der Wirt des kleinen Gasthauses weigerte sich, irgend etwas auszusagen, daher wurde auch er abgeführt. Als die beiden Araber weggebracht wurden, wurde die Haltung der Zuschauer noch drohender. «Es wird mit einem offenen Kampf enden», meinte Smith mit ernster Stimme. Er sah sehr besorgt aus. «Na ja…» «Doch, Carl, ich kenne die Araber recht gut. In einer Lage wie dieser kann sich ihre Wut zu einer lodernden Fackel entzünden. Sie sind fanatisch… Sie werden dabei ganz vergessen, daß sie von Soldaten mit scharfgeladenen Gewehren umgeben sind.» Carl knurrte böse. «Mir können sämtliche Araber völlig gleichgültig sein, im Augenb lick interessiert mich nur, wo Jan und Jack geblieben sind. Natürlich hat man sie hier in der Nähe gefangengenommen. Aber was haben diese Banditen dann mit ihnen gemacht?» «Hoffentlich wird das Ganze bald aufgeklärt, aber ich glaube…» Da schwoll das Knurren der Volksmenge zu einem Gebrüll an, und die vielen tausend bunten Gewänder kamen in Bewegung. Einige laute Befehle ertönten auf französisch – dann fielen die ersten Schüsse. Die Araber waren zum Angriff übergegangen.
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SIEBENTES KAPITEL Carl ballte die Hände und wollte mitten auf die Straße laufen, aber Smith ergriff ihn schnell am Arm. «Nein, Carl, du bleibst hier!» «Ja, aber, ich…» «Unsinn! Du kannst niemandem helfen, hier wird scharf geschossen und mit dem Messer gekämpft…» Da kamen auch schon die französischen Polizisten angestürmt. Sie hatten die Pistolen gezogen, und der Inspektor befahl: «Alle Mann hiergeblieben! Die Araber halten uns für die Hauptpersonen, sicher werden sie zum Angriff auf uns übergehen, aber es wird kein Schuß abgegeben, bevor ich den Befehl dazu gebe! Geht, so gut ihr könnt, in Deckung, und bereitet euch auf den Angriff vor!» Zusammen mit den Polizisten gingen nun auch Smith und Carl in Deckung hinter dem Ladentisch des Kaufmanns. Sie hatten dennoch einen guten Überblick auf die Straße; was dort geschah, konnte ihnen nicht entgehen. Die Volksmenge brach auf, und es sah aus, wie wenn ein Sturm die Meereswellen aufpeitscht. Die Menschen johlten und schrien und übertönten damit fast die Gewehrsalven. Nur ab und zu hörte man laute französische Kommandorufe. Der eigentliche Kampf fand ein wenig weiter weg statt, es konnte aber jeden Moment vor dem Laden losgehen. «Wenn die Araber stürmen», sagte der Inspektor, «dann bleiben Sie, Herr Ingenieur, und der junge Mann im Hintergrund, damit Sie von meinen Leuten gedeckt sind. Sie sind ohne Waffen wehrlos, wenn es ernstlich losgeht.» Obwohl der Inspektor französisch sprach, verstand Carl doch, worum es ging. Er ballte die Hände und fauchte: «Ich hätte -67-
solche Lust, diesen Banditen eins auszuwische n.» «Ruhig, Carl!» befahl Ingenieur Smith kaltblütig. «Wir unterstehen jetzt dem Befehl der Franzosen und müssen uns natürlich danach richten, was man uns sagt. Zwei Fäuste richten gegen tausend aufgebrachte Araber nicht viel aus.» In diesem Augenblick geschah etwas. Die wallende Volksmenge blieb plötzlich stehen und schwankte einen Moment lang unentschlossen hin und her – und dann begann die Woge sich in die entgegengesetzte Richtung zu ergießen! «Jetzt kommt der Angriff!» rief der Inspektor. «Klar zum Gefecht!» Aber der Inspektor hatte sich geirrt. Keiner der aufgeregten Araber schien einen Gedanken an einen Angriff auf den Laden zu verschwenden. Im Gegenteil, alle stürzten in wilder Eile an dem Laden vorbei und rannten weiter die Straße hinunter. Sie johlten und schrien immer noch, aber auch die Fremdenlegionäre hörten zu schießen auf. Der Angriff der Araber war zurückgeschlagen worden, und jetzt befand sich die ganze aufrührerische Schar in wilder Flucht. Wenige Minuten später war die Straße so gut wie menschenleer. Es war ein geradezu unglaublicher Anblick – wie hatten mehrere tausend Eingeborene so schnell verschwinden können? Man konnte fast annehmen, die Erde habe sie verschluckt, aber sie waren natürlich durch sämtliche Türen und Tore und in die Kellergewölbe verschwunden. Ein Stück weiter die Straße aufwärts lagen einige Verletzte, und bald darauf ertönte die Sirene eines Krankenwagens. Eine halbe Kompanie Fremdenlegionäre zog mit taktfesten Schritte durch die Straße, die Hände um die halbgesenkten Gewehre mit den aufgepflanzten Bajonetten geschlossen. Sie marschierten so ruhig und ordentlich, als seien sie auf einer Parade und nicht kurz nach einem Gefecht. Kurz darauf hielt der Inspektor eine kleine Konferenz mit dem Kompaniechef ab. Sie verabredeten, daß die Soldaten in der Umgebung bleiben sollten, bis man ganz -68-
sicher war, daß wieder Ruhe und Ordnung herrschten. Die Polizei ihrerseits glaubte, im Augenblick an diesem Ort nichts mehr zu tun zu haben. Sie hoffte lediglich, daß die beiden festgenommene n Araber, der Kaufmann und der Gastwirt, dazu gebracht werden konnten, alles zu erzählen, was sie über den Fall wußten – aber sehr optimistisch war man da nicht. Man kannte die Araber und ihre große Verschwiegenheit. Der Inspektor kehrte zu Ingenieur Smith zurück und erklärte ihm dies mit einem bedauernden Schulterzucken. «Natürlich führen wir die Nachforschungen fort», setzte er hinzu. «Aber Sie müssen verstehen, Herr Ingenieur, daß dieses Viertel einem Ameisenhaufen gleicht. Es würde Monate dauern, bis wir jede einzelne baufällige Hütte, jedes Haus gründlich durchsucht hätten. Ich bin auch gar nicht sicher, daß Ihre beiden jungen Leute sich wirklich noch in diesem Viertel befinden. Sie können an einen ganz anderen Ort entführt worden sein…» «Oder man hat sie erschlagen?» fragte Smith ernst. Der Inspektor zog erneut die Schultern hoch. «Lassen Sie uns das Beste hoffen. Ich glaube eher, daß die beiden Verschwundenen irgendwo zurückgehalten werden, um später als Geiseln benutzt zu werden… hm… auch das kann natürlich gefährlich für sie werden!» Während der Inspektor sprach, tauchten Erling und Jesper auf. Sie waren noch ein wenig erregt, aber Erling, der Französisch sprach, hatte die Erklärung des Inspektors verstanden. «Ich glaube», sagte er, «daß meine beiden Freunde in einem verschlossenen Lastwagen entführt worden sind.» «In einem verschlossenen Lastwagen?» wiederholte der Inspektor. «Warum glauben Sie das?» Und da erklärte Erling in kurzen Zügen, was sie gesehen hatten, als sie das Araberviertel erreichten. Peter Nielsen gesellte sich jetzt auch zu ihnen und bestätigte Erlings Aussage. Der Inspektor hatte mit größter Aufmerksamkeit zugehört. -69-
«Habt ihr das polizeiliche Kennzeichen des Wagens notiert?» Erling schüttelte etwas mißmutig den Kopf. «Nein, der Abstand zum Lastwagen war ziemlich groß, und in dem Augenblick dachte ich, ehrlich gesagt, nicht daran, daß wir die Nummer einmal brauchen würden… aber ich weiß bestimmt, daß der obere Teil des Lastautos grün war.» «Grün, aha. Haben Sie noch andere Kennzeichen bemerkt?» «Nein… nicht daß ich wüßte… es war ein ganz gewöhnlicher Lastwagen, geschlossen… und er fuhr in diese Richtung.» Der Inspektor wandte sich an seine Leute und gab einige rasche Anweisungen. Dann drehte er sich zu Ingenieur Smith um. «Ich glaube nicht daran, daß Ihre beiden Landsleute in einem Lastwagen entführt wurden. Aber im Rückgebäude dieses Hauses fanden wir zwei ganz leere Zimmer, die aussahen, als seien sie möbliert gewesen. Wir fanden auch einige Installationen, welche darauf schließen lassen, daß die Bewohner in großer Eile die Möbel aus den Zimmern geschafft haben und vielleicht auch den gesuchten Funkapparat mitnahmen. Sie müssen damit gerechnet haben, daß Polizei auftauchen würde, und wollten natürlich keine Spuren hinterlassen.» «Glauben Sie, daß Sie diesen Lastwagen finden können?» «Wir hoffen es, Monsieur, aber… leider gibt es in Casablanca viele grüne Lastautos. Wir werden unser Bestes tun. Sobald irgend etwas von Interesse auftaucht, setzen wir uns mit Ihnen in Verbindung.» Zehn Minuten später verabschiedeten sich die Franzosen von den Dänen am Rand des Eingeborenenviertels. Es lag jetzt eine merkwürdige Stille über dem gesamten Viertel. Die Touristen waren kopfüber geflohen, der gesamte Straßenverkauf war eingestellt worden. Alles war menschenleer, bis auf die Soldaten, die an allen wichtigen Punkten postiert standen. -70-
Ingenieur Smith ging in finsterem Schweigen einher. Zwischendurch schauten ihn die übrigen vier an, als ob sie von ihm ein erlösendes Wort erwarteten. Die Stimmung war düster, die kleine Schar sehr bedrückt. Erling mußte an die guten Ratschläge denken, die ihnen Ingenieur Smith zu Beginn ihres Aufenthaltes in Casablanca gegeben hatte. Wenn Jan und Jack sich danach gerichtet hätten, würde im Augenblick vieles anders aussehen. Smith seufzte und wandte sich an die Jungen. «Ich habe heute keine Lust mehr, weitere Verhandlungen mit den Hafenbehörden zu führen, ich gehe mit euch zum Schiff zurück. Vielleicht hören wir in den kommenden Stunden auch noch von der Polizei.» «Ja», murmelten die anderen bloß und dachten alle an die beiden verschwundenen Freunde. Das schlimmste war, daß man gar nichts dazu tun konnte, das Rätsel zu lösen. Als Jan aus der Betäubung erwachte, dauerte es eine Weile, bis er seine Gedanken sammeln konnte. In seinem verschlafenen Zustand entdeckte er doch bald, daß Jack neben ihm auf einem Metallboden lag. Auch die Wände bestanden aus graugestrichenem Metall, und an einer Wand befand sich ein rundes, sonnenbeleuchtetes Loch. «Das muß ein Bullauge sein», dacht e er verwirrt und drehte langsam den Kopf. In den kommenden Minuten verlor er wieder alles Interesse an dem Bullauge, aber dann begann er nach und nach klarer zu denken. Er drehte sich seinem Freund zu und begann ihn mit aller Kraft zu schütteln. «Hallo, Jack, wach auf!» Aber Jack schien nicht die geringste Lust zu haben, aus seiner -71-
Betäubung aufzuwachen. Er knurrte nur etwas im Halbschlaf und warf sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen. Jan schüttelte ihn mit unverminderter Kraft weiter. Schließlich kam ein wenig Leben in die schlafende Gestalt. Jack öffnete die Augen, dann schloß er sie wieder, er gähnte ausgiebig, dann blieb er eine Weile liegen. «Steh auf», befahl Jan. «Ja… doch… oh, ich bin so müde…» «Steh auf!» Dösig stützte Jack sich auf einen Ellenbogen und warf einen müden Blick um sich. «Was ist denn los? Warum liegen wir hier?» murmelte er. «Weil wir gefangen sind», seufzte Jan. «Gefangen? Ach ja, die Araber… der Funkapparat…» Jan nickte mit bedrückter Miene. «Genau das. Sie haben uns mit irgendeinem Zeug betäubt; ich kann es noch riechen… und jetzt sind wir an Bord irgendeines Schiffes…» «Was für ein Schiff?» «Jack, zum Kuckuck, woher soll ich das wissen? Ich bin auch eben erst wieder zu mir gekommen. Aber ich sehe das Bullauge dort drüben.» Jan schaute sich um und bemerkte einige ungestrichene Holzbänke, die an der einen Wand aufgereiht standen. Sonst befand sich nichts in der Kabine. Er erhob sich und ging zu der sehr solide aussehenden Eisentür. Die Tür war natürlich versperrt. An der Decke hing eine Glühbirne, aber der Schalter mußte sich außerhalb der Kabine befinden. Viel mehr war in dem Raum nicht zu entdecken. Obwohl Jan immer noch dösig und verschlafen war, schleppte er eine der Holzbänke unter das Bullauge, das ziemlich hoch oben angebracht war. Er stellte sich auf die Bank und untersuchte die Verschraubung des Fensters näher, dann aber -72-
mußte er mit einem Seufzer zugeben, daß es vollkommen unmöglich sein würde, die Verschraubung auch nur zu lockern. Er warf einen Blick durch das Bullauge, starrte einen Moment hinaus und stieß dann einen überraschten Ruf aus. «Du große Neun! Dort drüben liegt die ‹Flying Star›.» «Was… wo?» murmelte Jack müde. «Ich kann die ‹Flying Star› sehen! Sie liegt dort drüben auf der entgegengesetzten Seite des Hafenbeckens.» «So», nuschelte Jack ohne größeres Interesse. «Können wir dann nicht hinüberrufen?» «Ich kann kaum durch ein verschlossenes Bullauge rufen.» «Dann mach’s doch auf…» «Unmöglich! Nicht einmal Carls Kräfte würden dazu ausreichen.» «Hm! Was mache n wir dann?» seufzte Jack und kam mit Mühe auf die Beine. «Wir müssen näher darüber nachdenken.» Jack seufzte tief auf. «Mein Kopf ist so leer, daß mir Denken jeder Art schwerfällt. Warum haben uns die Araber hier eingesperrt?» «Keine Ahnung. Vielleicht wo llen sie uns weit hinaus aufs Meer fahren und den Haien vorwerfen…» «Nun hör schon auf, du Ungeheuer! Du hast eine ekelhafte Art Späße zu machen!» Jan stieg wieder von der Bank herunter und kratzte sich im Nacken. «Leider nicht meine Erfindung, Jack. Die Araber müssen sich doch etwas gedacht haben, als sie uns herschleppten… Ich glaube übrigens eher, daß die beiden dunkelhaarigen Männer diese finsteren Pläne geschmiedet haben. Man sah ja ganz deutlich, daß die Araber nur ihre Helfershelfer waren.» «Wer die beiden Kerle wohl sind?» -73-
«Wahrscheinlich internationale Spione… oder auch Kerle die für viel Geld das Feuer in Marokko schüren.» Jack warf einen Blick um sich und seufzte erneut. «Im Augenblick können wir wohl nichts anderes tun, als warten und hoffen, daß uns keine allzu entsetzliche Überraschung bevorsteht… hm… also so was mit hungrigen Haien… oder ähnliches. Kannst du jemanden auf der ‹Flying Star› erkennen?» «Nein, sie sieht menschenleer aus. Sie müssen uns ja schon seit einigen Stunden vermißt haben und sind jetzt sicher auf der Suche nach uns. Aber es ist wirklich eine Ironie des Schicksals, daß wir uns kaum einige hundert Meter von ihnen entfernt befinden und dennoch nichts unternehmen können.» «Können wir das Bullauge nicht eindrücken?» «Hm! Willst du deine Faust opfern?» Trotz seiner Müdigkeit konnte Jack ein Lächeln nicht unterdrücken, denn er wußte natürlich sehr wohl, daß man mit der bloßen Faust kein daumendickes Fensterglas eindrücken konnte. Nein, da war nichts anderes zu machen, als zu warten. Es würde nicht sehr angenehm werden, denn sie wußten aus Erfahrung, daß eine lange Wartezeit unter Umständen schlimmer ist als alles andere… Einige Stunden vergingen, während der die beiden Freunde auf den Bänken saßen und vor sich hindösten. Jan stieg ein paarmal auf eine Bank, um nachzusehen, ob sich nicht bald etwas auf der ‹Flying Star› rührte, endlich konnte er eine erfreuliche Meldung machen. «So, jetzt sind unsere Freunde wieder an Bord. Ich kann Ingenieur Smith und Erling sehen… und jetzt auch einige der anderen…» «Hm. Hilft uns nicht viel weiter. Wir können uns ja doch nicht mit ihnen in Verbindung setzen.» «Nein, das leider nicht», räumte Jan ein. «Aber wir wissen -74-
nun wenigstens, daß sie da sind», sagte er dann mit trauriger Stimme und setzte sich wieder auf die Bank. Die Zeit schien geradezu vorwärts zu kriechen. Die beiden Freunde sprachen kaum miteinander. Nur ab und zu wechselten sie ein paar Worte. Langsam kam die Dämmerung, dann die Dunkelheit. Schließlich saßen sie in einer stockdunklen Kabine. Durch das Bullauge konnten sie Tausende von Lichtern aufblitzen sehen. Auch auf der ‹Flying Star› wurden Lichter sichtbar. Das machte ihre Lage noch bedrückender. Sie fühlten sich ganz von der Außenwelt abgeschlossen. Erst jetzt kam ihnen diese Tatsache so recht zu Bewußtsein. Der Raum war immer noch sehr warm. Die abendliche Abkühlung drang nicht durch die verschlossene Tür und schon gar nicht durch das fest verschraubte Bullauge. Mit der Zeit bekamen die Jungen großen Durst. Sie redeten noch weniger, denn das machte den Durst nur unerträglicher. Jan versuchte die ihn immer wieder übermannende Müdigkeit zu bekämpfen. Er wollte wach und frisch sein, wenn der Zeitpunkt kam, klar zu denken und womöglich rasch zu handeln. Aber in der Wärme des dunklen Raumes war er kaum imstande, einen Gedanken folgerichtig zu Ende zu denken. Dann, ganz unerwartet, wurde das Licht der Glühbirne, die von der Decke des Raumes hing, angedreht. An der Eisentür wurden Geräusche vernehmbar. Das Schloß rasselte, und die beiden Freunde saßen steif vor Spannung auf ihren Bänken. Vielleicht schlug jetzt ihre Schicksalsstunde.
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ACHTES KAPITEL Die Tür öffnete sich langsam, und ein Araber stand auf der Schwelle. Er hielt eine große Platte in den Händen. Hinter ihm konnten die Jungen zwei weitere Araber sehen, die unbeweglich in dem erleuchteten Gang standen. Unter diesen Umständen schien ein Fluchtversuch völlig sinnlos. Der Araber stellte das Tablett auf den Boden, ohne ein Wort zu sagen; er warf den beiden Gefangenen kaum einen Blick zu. Dann zog er sich lautlos zurück, und kurz darauf rasselte der Schlüssel wieder im Schloß. Die Jungen schielten mißtrauisch auf das Holztablett, auf dem eine Wasserkanne, zwei Gläser und einige Schalen standen. Die Schalen enthielten ein unbestimmbares Gericht, das Kush sein konnte, aber sie waren nicht sicher. Durch ihren Besuch in dem kleinen Gasthaus im Eingeborenenviertel hatten sie jedoch eine Abscheu gegen dieses Gericht bekommen. «Hm!» grunzte Jack. «Ob das Essen und das Wasser vergiftet sind?» Jan schien die Frage gar nicht gehört zu haben, aber ganz plötzlich sprang er auf und jubelte laut. «Ja, zum Teufel! Bist du denn verrückt, mein Freund?» Jack starrte ihn mit offenem Mund an. «Nicht daß ich wüßte», gab er trocken zur Antwort. «Man könnte eher glauben, daß es dich erwischt hat. Was ist denn los?» Jan deutete eifrig auf die Glühbirne. «Das Licht! Wenn sie es nicht gleich ausmachen, können wir morsen!» «Bravo!» rief Jack, der sofort verstanden hatte, was Jan damit meinte. «Du bist wirklich ein Genie, Jan!» «Laß uns lieber Samuel Morse als Genie feiern, denn ohne ihn -76-
wären wir jetzt nicht viele faule Heringe wert. Ob wir es wagen können, die Birne in der Fassung hin und her zu drehen?» «Das müssen wir wohl, wenn wir Morsesignale geben wollen», gab Jack zur Antwort. «Aber das Risiko eines Kurzschlußes ist natürlich groß… und dann fällt der Plan ins Wasser. Können wir es nicht anders machen?» Jan überlegte eine Weile, bevor er antwortete: «Das einfachste wäre natürlich, wenn wir die Birne hin und her drehen. Aber wie du ganz richtig sagst, wäre es eine Katastrophe, wenn wir damit einen Kurzschluß heraufbeschwörten. Ich habe eine andere Idee. Laß uns eine der Bänke unter die Birne schieben. Jetzt müssen wir jede Minute ausnützen, denn die Araber kommen vielleicht bald zurück und machen das Licht aus.» Die Bank wurde mitten auf den Boden gestellt, und Jan zog schnell seine Jacke aus. Dann stellte er sich auf die Bank, faltete die Jacke ein paarmal und hielt sie über die Lampe. Über die Decke des Raumes fiel jetzt nur noch ein schwacher Lichtschimmer, aber nachdem Jan sich einige Male geübt hatte, wurde er so geschickt, daß er ziemlich schnell von vollem Licht zu vollkommener Dunkelheit wechseln konnte. Unter der Decke war es so drückend heiß, daß ihm der Schweiß in Strömen über die Stirn lief, aber er merkte es vor Eifer gar nicht. «Jetzt klappt es», sagte er freudestrahlend. «Ich fange an SOS-Zeichen zu geben. Du kannst jetzt natürlich nicht dauernd vor dem Bullauge stehen, weil du es dann verdeckst, Jack. Aber in Abständen von drei Minuten schaust du hinaus, um festzustellen, ob von der ‹Flying Star› oder einem anderen Ort eine Antwort kommt. Bist du bereit?» «Okay!» Und dann begann Jan SOS zu signalisieren. Er gab Zeichen auf Zeichen ohne Unterbrechung. In regelmäßigen Abständen kam von Jack die bedrückende Meldung: «Noch keine Antwort.» -77-
Aber Jan wollte einfach nicht aufgeben. Es war ihm bewußt, daß dies vielleicht ihre einzige Chance zu einer Rettung war. Seine Kleider klebten ihm vor Schweiß am Körper, und einmal wurde ihm sogar schwarz vor den Augen, aber er biß die Zähne zusammen und gab weiterhin das Notsignal. «Immer noch keine Antwort», murmelte Jack. «Wir machen weiter», stöhnte Jan. «Wenn die Araber bloß nicht zu schnell wiederkommen. Früher oder später muß einer das Signal doch sehen. Das Licht fällt so scharf durch das Bullauge, daß man es nicht übersehen kann.» «Hm!» sagte Jack bloß. Jan machte noch einige Minuten weiter, und dann endlich ertönte Jacks jubelnde Stimme: «Du, Jan! Die ‹Flying Star› antwortet uns! Ja, laß sehen… doch … zwei kurz… zwei lang… zwei kurz… zwei lang… und jetzt wieder: zwei kurz… zwei lang… zwei kurz! Sie senden ein Fragezeichen, Jan. Beeile dich, antworte!» «In Ordnung!» murmelte Jan und wischte sich erst einmal den Schweiß von der Stirn. Dann funkte er: jack und jan hier – stop – von den arabern gefangen – stop – helft schnell – stop – helft schnell – – antwortet – «Paß jetzt auf, Jack», sagte Jan heiser. «Sag an, was sie antworten!» Es vergingen einige Sekunden, dann begann Jack: verstanden liebe freunde – stop – hilfe kommt – Jan hätte beinahe laut Hurra geschrien, aber gerade in dem Moment hörten sie wieder die Schlüssel rasseln, und er sprang erstaunlich rasch von der Bank herunter und zog wieder seine Jacke an. Zwei Sekunden später stand die Bank wieder an der Wand. Sie hatten es im allerletzten Augenblick geschafft, denn schon öffnete sich die Tür, und der Araber, der zuvor bei ihnen gewesen war, trat ein. Er warf einen gleichgültigen Blick auf das Tablett, auf dem die Speisen immer noch unberührt standen. Dann nahm er das -78-
Tablett ohne ein Wort zu sagen, verließ den Raum und sperrte die Tür hinter sich zu. Die Glühbirne an der Decke erlosch. Jack seufzte vor Zufriedenheit auf. «Haben wir ein Glück gehabt! Du kannst dich darauf verlassen, daß die Jungen drüben auf der ‹Flying Star› alle Hände voll zu tun haben!» «Ja, ohne Zweifel», gab Jan etwas geistesabwesend zur Antwort. Er lauschte. «Es ist sicher auch höchste Zeit. Hörst du etwas?» Der Freund horchte nun auch, dann antwortete er erschrocken: «Ja, zum Teufel, die starten ja ihren Motor!» «Stimmt leider. Laß uns nur hoffen, daß die Hilfe nicht zu spät kommt.» Der Metallboden unter ihnen begann leicht zu vibrieren, das Geräusch der Maschine wurde lauter. Jack versuchte aufmunternde Worte zu sagen, aber es klang nicht sehr überzeugend. «Es könnte ja immerhin sein, daß der Motor erst eine längere Zeit warmlaufen muß, bevor er zur Zufriedenheit des Maschinisten arbeitet… dann hätten unsere Freunde ja noch etwas Zeit. Ich nehme doch an, daß sie die französische Polizei alarmiert haben. Der Kahn hier kommt nicht weit, darauf kannst du dich verlassen!» Eine Zeitlang saßen die beiden Freunde im Dunkeln und lauschten. Der Metallboden bebte jetzt kräftiger, und das Geräusch des Motors wurde rhythmischer. Jack Morton war nicht umsonst der Sohn eines Reeders, er konnte sehr wohl ausmachen, daß der Motor jetzt so regelmäßig arbeitete, wie man es nur wünschen konnte. Das Schiff konnte jeden Augenblick ablegen. Plötzlich hörten sie über ihren Köpfen einen dumpfen Ton. Mit angehaltenem Atem lauschten sie und meinten, in der Ferne Laute zu hören. Dann klang es, als ob viele Füße über Metall liefen – und dann wurden Schüsse abgegeben! -79-
«Jetzt geht es da oben los!» jubelte Jan. «Hast du die Schüsse gehört?» «Ja…» «Das ist bestimmt die Polizei… hm… ja, wenn sie nicht auf unsere Freunde schießen… das ist ein unerträglicher Gedanke…» «Ja, das ist es», murmelte Jack. «Es ist furchtbar hier zu sitzen und nichts tun zu können…» Plötzlich wurde das Licht der Glühbirne wieder angedreht, der Schlüssel rasselte, und die Tür wurde hastig aufgerissen. Die Jungen glaubten, es handle sich um die Hilfe, die sie nun erreicht hatte, aber ihre Jubelrufe blieben ihnen im Hals stecken… In der Tür stand einer der südländisch aussehenden Männer mit erhobener Pistole! «Hände hoch!» befahl er auf englisch. «Der erste, der einen Fluchtversuch wagt, bekommt eine Kugel in den Kopf!» Die beiden Freunde erhoben widerwillig die Arme, und der Mann trat schnell weiter in die Kabine hinein. Seine Stimme klang scharf und schnarrend. «Jetzt geht ihr beiden vor mir auf Deck, aber untersteht euch nicht, die Hände auch nur einen Moment zu senken, sonst habt ihr eine Kugel im Nacken. Verstanden?» «Jawohl», murmelten die Jungen. «Also marsch… hinaus auf den Gang und dann nach links!» Jan und Jack knirschten vor Wut mit den Zähnen, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig als zu gehorchen. Der Mann sah nicht aus, als ob er leere Drohungen ausgestoßen hätte. Und angenehm konnte es nicht sein, eine Kugel in den Nacken zu bekommen! «Jetzt weiter die Eisentreppe hoch!» kommandierte der Mann. «Bleibt auf der obersten Stufe stehen!» Die Jungen gehorchten und hätten beinahe einen lauten Ruf -80-
der Überraschung ausgestoßen. Ein merkwürdiger Anblick bot sich ihnen: Mitten auf dem Deck, beleuchtet von einem Scheinwerfer, stand eine Menge Araber und einer der südländisch aussehenden Männer mit erhobenen Händen. Vor ihnen standen etwa zehn französische Polizisten mit erhobenen Pistolen, und etwas weiter links stand Ingenieur Smith mit der Mannschaft der ‹Flying Star›; alle außer Jesper und Yan Loo waren versammelt. Als die seltsame Prozession auf der Eisentreppe in Sicht kam, ertönten von Deck erstaunte Ausrufe, aber gleichzeitig schnarrte eine laute Stimme hinter Jan und Jack. «So, ihr französischen Halunken, jetzt habe ich die Oberhand! Wenn ihr zu schießen wagt, trefft ihr einen der Jungen… und ich garantiere euch, der nächste, der schießt, bin dann ich!» Er schob seine beiden Gefangenen einige Schritte weiter nach vorn und setzte seine Rede fort. «Mein Freund und ich wollen dieses Schiff unbehelligt verlassen. Die Araber können meinetwegen gern hierbleiben. Runter mit den Pistolen!» Unter den Polizisten gab es eine gewisse Unruhe, aber ihr Anführer befahl laut und scharf: «Keiner senkt die Pistolen, bevor ich den Befehl dazu gebe!» Dann wandte er sich an den Kerkermeister der Jungen und fuhr fort: «Wer immer den ersten Schuß abgibt, es besteht doch kein Zweifel darüber, wer dabei den kürzeren zieht. Nehmen Sie doch Vernunft an, Mann, ergeben Sie sich.» Der Mann lachte laut. «Nein, so einfach ist es nicht, bester Herr Schnüffler. Wenn es nicht nach meinem Willen geht, haben Sie zwei Menschenleben auf dem Gewissen… wagen Sie die Verantwortung zu übernehmen?» Dem Inspektor fiel die Entscheidung offensichtlich nicht leicht, denn es dauerte eine Weile, bevor er antwortete: «Ich kenne meine Verantwortung sehr wohl, und ich erkläre hiermit, -81-
daß weder Sie noch Ihr Mitschuldiger an Land entkommen dürfen. Wenn es notwendig werden sollte, schießen wir.» Jan und Jack ging bei diesen Worten ein Schauer über den Rücken, denn der Mann hinter ihnen war ohne Zweifel zu allem fähig: ihr Leben hing also an einem dünnen Faden. «Du widerlicher Affe!» erklang plötzlich Carls wütende Stimme. «Ich schlage dich zu Brei!» Der starke Bursche wäre bestimmt trotz aller Gefahr nach vorn gestürzt, wenn er nicht von dem besonnenen Ingenieur Smith zurückgehalten worden wäre. «Verhalte dich ruhig, Carl», erklärte Smith sehr bestimmt. «Du erreichst gar nichts damit, daß du dich auf eine geladene Pistole stürzst. Du wirst doch sofort zusammengeschossen.» «Das ist mir verdammt gleichgültig…» «Jan und Jack werden dann auch erschossen!» Bei diesen Worten erstarrte Carl. An seine eigene Sicherheit dachte er wenig oder gar nicht, aber das Leben seiner beiden guten Freunde wollte er nicht aufs Spiel setzen. Außer sich vor Wut blieb er am Fleck stehen und hielt die kräftigen Hände geballt. Er zitterte am ganzen Körper, aber er hatte eingesehen, daß er nichts unternehmen durfte. Der dunkle Mann hinter Jan und Jack sagte kurz: «Wir haben genug Zeit mit Geschwätz verloren. Ich benutze die Jungen hier als Schild, und ich werde sie auf der Stelle erschießen, falls sich mir jemand in den Weg stellt. Mein Freund und ich werden von Bord gehen… voran, marsch!» Jan und Jack wollten schon gehorchen, als etwas Unerwartetes geschah. Von der Brücke sauste ein grauer Schatten herab und landete geradewegs auf dem Kopf des Fremden. Der Mann stieß einen lauten Schrei aus, ließ die Pistole fallen und stürzte aufs Deck. Blitzschnell drehten Jan und Jack sich um. Sie erfaßten die Situation und warfen sich auf -82-
den Mann, während Carl und die anderen laute Jubelrufe ausstießen und zu Hilfe geeilt kamen. Der Fremde kämpfte wie ein Verrückter, aber dergleichen waren die Freunde schon gewöhnt, und es dauerte nicht lange, bis der Mann überwältigt war. Er fauchte wie ein Tiger, als er von den vielen starken Armen festgehalten wurde. «Was zum Kuckuck ist eigentlich geschehen?» fragte Jan etwas atemlos. Da erklang ganz zahm Jespers Stimme: «Och, das war ich. Ich bin nur gerade dem widerwärtigen Banditen auf den Kopf gefallen!» «Was hast du gemacht?» lachten die übrigen. «Na ja, also… ich saß doch da oben und schaute zur Tür hinaus, und als es aussah, als ob es etwas zu bunt würde… da… na ja, da sprang ich dem Kerl eben ins Genick!» «Bravo, Jesper!» sagte Erling, «du bist wirklich ein Held!» «Na… nein…» «Und ob du einer bist! Und mach jetzt nicht in falscher Bescheidenheit, das steht dir nic ht! Warum zum Teufel bist du eigentlich auf der Brücke gesessen und hast zugeschaut?» «Soll ich ganz ehrlich sein, Dicker?» «Lieber wäre es mir schon!» «Gut. Als die ersten Schüsse fielen und ihr euch alle auf Teufel komm raus geschlagen habt, da bin ich so erschrocken, daß ich mich auf der Brücke versteckt habe!» Die Freunde lachten laut, denn der kleine Jesper war wirklich ein ehrlicher Schelm. Er wäre vor Schreck beinahe umgefallen, als der Kampf ausbrach, aber als seine beiden Freunde wirklich in Lebens gefahr schwebten, da hatte er all seine Vorsicht vergessen und war dem Banditen auf den Kopf gesprungen! Während die Jungen den besiegten Mann wieder auf die Beine stellten, nickte Jan seinem kleinen Freund ernst und -83-
anerkennend zu. «Vielen Dank, mein Freund. Du bist wirklich ein erstklassiger Kamerad, und du hast eine echte Heldentat vollbracht.» Jesper stotterte ganz verdattert: «Findest du… hm… findest du wirklich, daß es… hm, ich meine, daß es mutig war?» «Zweimal darfst du raten, Krümel.»
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NEUNTES KAPITEL Die Episode, die sich unterhalb der Brücke des Schiffes abgespielt hatte, war so unerwartet und schnell verlaufen, daß die Jungen keine Gelegenheit gehabt hatten, darauf zu achten, was weiter drüben an Deck geschah. Unwillkürlich hatten dort die französischen Polizisten den Kopf gewandt, um festzustellen, was unterhalb der Brücke passierte. In diesem Moment entstand auch schon Unruhe unter den Arabern und dem Europäer, die mit erhobenen Händen vor den Polizisten standen. Einer der Araber sprintete über Deck und versuchte an Land zu gelangen, aber da erklang ein Schuß, und der Flüchtling taumelte, ins Bein getroffen. Auch seine Landsleute machten Anstalten zur Flucht, aber da erklang die scharfe Kommandostimme des Anführers der Polizei. «Stehenbleiben! Alle stehenbleiben oder wir schießen!» Im gleichen Augenblick sprang der Europäer auf die Reling, machte einen Satz und verschwand mit einem Aufklatschen im dunklen Wasser. Ein Polizist rannte blitzschnell zur Reling und hob die Pistole, um hinter dem Flüchtenden herzuschießen, als Carl schrie: «Hallo, lassen Sie lieber mich den Kerl übernehmen!» Er riß sich die Jacke und die Shorts herunter, und mit einem breiten Grinsen fügte er hinzu: «Der Kerl hat anständige Prügel verdient. Und als Zeuge in dieser Angelegenheit ist er lebend mehr wert als tot. Klarmachen zum Wassern! Wir brauchen ein Boot.» Und dann sprang Carl kopfvoran ins Wasser. Ingenieur Smith hatte Carl an seinem Vorhaben hindern wollen, aber Jan fiel ihm in den Arm und bat: «Lassen Sie Carl den Spaß, Herr Smith. Er hat ja recht, als Leiche ist der -85-
Flüchtling nichts wert. Können Sie das dem Polizisten bitte auf französisch erklären?» Smith sagte schnell etwas auf französisch, und der Polizist lächelte. Dieser Zwischenfall schien ihm ein munterer Abschluß des Dramas. Da die gefangenen Araber sich wieder beruhigt hatten und mit erhobenen Händen vor den drohenden Pistolen standen, konnte die Mannschaft der ‹Flying Star› das Geschehen im Wasser mit ungeteiltem Interesse verfolgen. Carl war ein großartiger Schwimmer, und gleichzeitig hatte er – wie alle wußten – Bärenkräfte, es bestand also kein Zweifel daran, daß er ebenso erfolgreich sein würde wie seinerzeit im Hafen von Tarbaek, als er den Meisterspion Katz übermannte. Der Deutsche hatte damals einige kräftige Schläge erhalten, die ihn mehrmals Wasser schlucken ließen. Katz würde seinen Zusammenstoß mit Carl niemals vergessen, denn wenn der Junge erst einmal in Fahrt kam, leistete er ganze Arbeit. Der Flüchtling hatte einen recht großen Vorsprung, aber im Gegensatz zu Carl hatte er sich der hindernden Kleidungsstücke nicht entledigen können. Dadurch kam er langsamer vorwärts, und Carl holte rasch auf. Der Nachthimmel war ziemlich hell, so daß man recht gut sehen konnte. Das Wasser lag ruhig und glatt wie Öl, und die Zuschauer an Deck sahen, daß Carl keine Schwierigkeiten hatte, sein Opfer zu verfolgen. Die Kameraden riefen Carl ermunternde Rufe zu. «Vergiß nicht, Carl», rief Jan laut, «daß wir den Kerl lebend haben wollen. Du darfst ihn nicht ertränken!» «Aber tauch ihn kräftig», schrie Jesper in überschwenglicher Begeisterung. «Gib ihm – gib ihm!» «Und von mir auch!» rief Jack. «Und nochmals kräftig von mir!» ertönte Erlings Stimme. Carl erfüllte sämtliche Wünsche. Geschmeidig wie ein -86-
Seehund holte er den Mann ein, und dann wurden die Zuschauer Zeugen einer gelungenen Vorführung. In seiner Naivität meinte der Mann, er könne ohne weiteres den Kampf mit Carl aufnehmen, aber er wurde schnell eines Besseren belehrt. Immer wieder tauchte Carl ihn unter, während er laut rief: «Hier, das bekommst du von Jan! Und dies ist von Jack! Hier hast du von Jesper! Und das war von Erling! Und dies hier, du Affe, ist ein besonders Feiner von mir selber!» Das letzte Untertauchen setzte dem Werk die Krone auf, denn als der arme Mann erneut den Kopf über Wasser bekam, war er halberstickt und stöhnte laut um Gnade. Carl mußte sich überwinden, um ihn nicht nochmals unterzutauchen, aber dann siegte sein Anstand. Es war gemein, einen Feind weiterzuschlagen, wenn er sich schon ergeben und um Gnade gebeten hatte. Vom Schiff wurde ein kleines Boot ausgesetzt, an dessen Ruder Ingenieur Smith und einer der französischen Polizisten saßen. Kurz darauf erreichte es den «Kampfplatz», und die beiden Kämpfer wurden an Bord gezogen. Carl betrachtete sein ermattetes Opfer und grinste wieder breit. «Mit dem bekommen wir heute abend keinen Ärger mehr.» «Nein, bestimmt nicht», gab Smith zu. «Wie geht es dir selbst?» «Ganz prima! Es ist immer angenehm, wenn man seine Muskeln etwas brauchen kann. Sonst kommt man aus der Übung.» Der Ingenieur übersetzte Carls Worte, und der Polizist lachte herzlich. Ihm erschienen diese Dänen immer mutiger. Entweder sprangen sie bewaffneten Schurken auf den Kopf, oder sie kämpften voller Wonne mit einem anderen Banditen im Hafenbecken von Casablanca. Er konnte jetzt verstehen, warum man sie die Nachkommen der alten Wikinger nannte. Zehn Minuten später waren alle Teilnehmer am abendlichen -87-
Drama auf dem Schiffsdeck versammelt, und damit begann der letzte Akt. Erst wurden sämtlichen Gefangenen Handschellen angelegt, dann wurden sie in Polizeiwagen weggebracht. Die beiden Europäer wüteten wie wilde Tiere, aber das nützte ihnen natürlich nichts. Die Polizei konnte ihnen vieles noch nicht nachweisen, aber es genügte als Beweis gegen sie schon die Tatsache, daß sie zwei europäische Jungen überfallen und eingesperrt und die Polizei mit einer Waffe bedroht hatten. Der Anführer der Polizisten war mit seinem guten Fang über alle Maßen zufrieden; er versprach am nächsten Vormittag zur ‹Flying Star› zu kommen, um sich näher mit ihrer Mannschaft zu unterhalten. Es würden natürlich auch Zeugenaussagen in dieser Angelegenheit nötig werden, aber der Polizist versprach, daß die planmäßige Abreise der ‹Flying Star› dadurch nicht gefährdet werden sollte… An Bord der ‹Flying Star› wurde es ein festlicher Abend. Im Verlauf dieses Tages hatte niemand Appetit gehabt, das wurde jetzt nachgeholt. In verblüffender Eile stellten Erling und Jesper ein Abendessen zusammen, dem von allen Seiten kräftig zugesprochen wurde. Besonders Peter Nielsen versah seinen Teller reichlich und erklärte grinsend: «Mir scheint, mein ganzer gesunder Appetit ist zurückgekommen!» «War ja auch höchste Zeit», bemerkte Erling trocken. «Ich hatte schon ernsthafte Bedenken, du würdest während der kommenden Monate als Hungerkünstler auftreten. Du hast einen schweren Stein von meinem Herzen gerollt, lieber Peter.» Nachdem eine halbe Stunde lang munter hin und her gescherzt worden war, wurde Ingenieur Smith plötzlich ernst. «Nachdem nun alles gut verlaufen ist», begann er, «möchte ich etwas dazu sagen. Carl kann kein Vorwurf gemacht werden, er hat mehr oder weniger ohne eigenes Zutun Pech im Araberviertel gehabt… Zufälle spielten dabei die größte Rolle… aber Jan und Jack muß ich den Vorwurf machen, daß sie leichtsinnig waren. Ich hatte euch von vornherein ernsthaft vor -88-
dem Eingeborenenviertel gewarnt. Und ich hatte euch gebeten, nur gemeinsam dorthin zu gehen. Über diese Warnung habt ihr euch beide einfach hinweggesetzt. Aber nicht genug damit, euer Leichtsinn wurde schon zu fast verbrecherischer Dummheit, als ihr euch in das fremde Haus geschlichen habt. Sind wir uns darüber einig?» «Ja», murmelten Jan und Jack im Chor. «Gut, dann wollen wir keine weiteren bösen Worte in dieser Angelegenheit mehr verlieren. Aber laßt uns auch darin einig sein, daß wir ein andermal besser aufpassen!» «Ja», erklang es erneut von den beiden Sündern. Etwas später sagte Erling: «Jetzt haben die beiden Sünder den Tanz bekommen, den sie verdient haben… aber nun dürfen wir auch nicht vergessen, daß alles viel, viel schlimmer hatte verlaufen können, wenn mein guter Freund Krümel nicht im richtigen Moment eingegriffen hätte.» Er drehte sich zu Jesper um und setzte mit komischem Ernst fort: «Lieber Krümel, als es am gefährlichsten wurde, da kamst du geradewegs vom Himmel heruntergesegelt… fast wie der Danebrog 1219… und in beiden Fällen wurde eine bevorstehende Niederlage in einen Sieg verwandelt…» «Ja, aber… ich…», begann Jesper. «Nun halte freundlichst deinen Mund, kleiner Freund, wenn Onkel Erling dich lobt», unterbrach Erling in mildem Ton. «Wir kennen alle deine Bescheidenheit. Immer wieder hast du uns aus kniffligen Situationen gerettet… du hast die Zähne zusammengebissen, die Hände geballt, und mit wahrem Löwenmut hast du…» «Oh, hör auf!» «Sei still, du kleine Schlange! Sind wir uns nicht alle einig, daß der Krümel unseren wärmsten Dank verdient?» «Und wie!» erklang es von allen Seiten. -89-
«Gut, Krümel, damit mußt du dich in dein Schicksal ergeben.» Und während sich der kleine Jesper auf seinem Stuhl vor Verlegenheit wand, setzte Erling seine Dankeshymne fort; sie endete mit einem dreifachen Hurra für den Helden… Eine halbe Stunde später, als die beiden Freunde allein in der Kombüse waren, sagte Jesper ein wenig verbittert: «Warum mußt du mich immer zum allgemeinen Gespött machen, du dickes Kamel?» «Zum Gespött?» wiederholte Erling und hob die Augenbrauen. «Ich dachte immer, ich sei schnell im Begreifen, aber jetzt kann ich deinem gewundenen Gedankengang nicht folgen. Was meinst du damit, lieber Freund?» «Och, das weißt du genau», murmelte Jesper. «Ich hatte so eine furchtbare Angst, als ihr euch an Deck geschlagen habt, daß ich mich verkrochen habe… und als der Bandit dann genau unter mir stand und Jan und Jack mit der Pistole drohte, ja, da… da überkam es mich mit einemmal, und ich mußte dem Kerl einfach auf den Kopf springen. Das Ganze war ein reiner Zufall, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden. Sowohl du als auch die anderen… ich meine, ihr wißt ganz genau, daß ich noch nie ein Held war.» Einen Augenblick lang betrachtete Erling stumm seinen kleinen Freund. Dann klopfte er ihm auf die Schulter, und aufrichtiger Ernst sprach aus seiner Stimme. «Lieber Krümel, man kann auf ganz verschiedene Arten ein Held sein. Wie zum Beispiel Carl. Er hat einen wahren Löwenmut und wirft sich unbedenklich gegen einen bewaffneten Verbrecher… einfach, weil er an die Gefahr nicht denkt. Also gut, die meisten Menschen werden ihn für einen Helden halten, was ja auch ganz in Ordnung ist… aber bei vielen Gelegenheiten hast du ebenso mutig gehandelt, obwohl du an die Gefahr gedacht und gewußt hast, daß ein Risiko -90-
besteht. Und gerade deshalb bist du meiner Meinung nach ein ebenso großer Held wie Carl, ja, eigentlich ein noch größerer.» «Hältst du mich zum besten?» «Nein!» «Ähm… meinst du… ist dir ernst?» «Ehrenwort, Krümel.» «Vielen Dank, Erling!» Und darauf gaben sich die beiden Freunde einen festen Händedruck. Am nächsten Tag sagte Ingenieur Smith die Besprechung mit der Hafenbehörde ab. Er konnte an den Verhandlungen nicht teilnehmen, da er jeden Augenblick die französische Polizei erwartete, die mit ihm sprechen wollte. Wenn diese ganze komplizierte Angelegenheit schnell aufgeklärt wurde, konnte die ‹Flying Star› Casablanca rechtzeitig verlassen… aber würde sie sich schnell aufklären lassen? Sowohl die beiden Europäer als auch die Araber würden zusammenhalten und alles leugnen. Und allem Anschein nach fehlten immer noch die wichtigsten Beweise. Gegen Nachmittag kam Inspektor Dahomey an Bord, um mit Smith und der Mannschaft zu sprechen. Bedauernd mußte er mitteilen, daß die Polizei in ihren Voruntersuchungen nicht viel weitergekommen war. Der Händler, der Gastwirt, die beiden Europäer und die Araber vom Schiff waren gemeinsam verhört worden, aber sie hatten glattweg geleugnet, sich zu kennen, und gaben nichts zu. «Wir können zwar behaupten, daß wir einige Mosaikstückchen in Händen halten», sagte der Inspektor abschließend, «aber die wichtigsten Stücke fehlen uns.» «Hat die Polizei eine Theorie?» fragte Ingenieur Smith. «Ja, und die ist sicher richtig. Wir glauben, daß die beiden -91-
Europäer Vertreter einer fremden Macht sind, deren Interesse darin liegt, die Unruhen hier in Marokko zu schüren. Es besteht kein Zweifel darüber, daß die Unruhen von jeher aus einer Art Hauptquartier dirigiert wurden… wahrscheinlich mit Sitz in Casablanca… aber wir können nichts beweisen.» «Was hatten die beiden Kerle für eine Antwort auf die Frage nach dem Funkgerät?» Inspektor Dahomey zuckte mit den Schultern, es war eine sehr vielsagende Bewegung. «Sie sagten genau das, was wir erwartet hatten. Als wir davon anfingen, taten beide so, als hätten sie noch nie etwas so Merkwürdiges gehört. Sie waren überrascht und behaupteten, nicht die geringste Ahnung zu haben, um was für einen Sender es sich handeln könne… Ja, sie taten so, als hätten sie in ihrem Leben noch nie einen solchen Apparat gesehen.» «Und der grüne Lastwagen?» «Wir sind dabei, alle Besitzer von grünen Lastwagen in Casablanca zu verhören, aber das hat wenig Aussicht auf Erfolg. Sicherlich ist der Fahrer ein Mitglied der Bande. Es würde uns natürlich ein großes Stück weiterbringen, wenn wir wüßten, wohin der illegale Sender gebracht wurde… denn ich gehe jede Wette ein, daß der Sender im ersten Stock des Hinterhauses installiert war! Wahrscheinlich verwahrte die Bande dort auch wichtige Papiere und Dokumente, aber bisher haben wir nicht ein Stück davon erwischt… Und das schlimmste ist, wir haben nicht die geringste Ahnung, wo wir suchen sollen…» Mit einem kleinen Seufzer unterbrach er sich. «Wir hatten gehofft, den Sender und die Dokumente auf dem Schiff der Bande zu finden. Aber seit gestern abend haben wir das Schiff vom Kiel bis zu den Masten untersucht. Alles vergebens. Die Untersuchungen werden natürlich fortgesetzt, aber es wäre fast ein Wunder, wenn wir dadurch der Lösung näher kämen. Wenn die Gefangenen weiterhin leugnen, können -92-
wir nicht viel tun. Wir können ihre Behauptungen ja nicht widerlegen. Und die beiden Europäer werden ohne Beweise nie zugeben, daß sie im Hinterhaus einen illegalen Sender installiert hatten.» «Entschuldigen Sie», sagte Jan höflich. «Wenn es nun Beweise dafür gäbe, daß die beiden Herren den Sender installiert hatten… hm… wäre die Sache dann aufgeklärt?» «Ja, gewiß… besser gesagt: wir wären der Aufklärung ein gutes Stück näher gerückt. Natürlich wäre der verschwundene Sender das wirkliche Beweisstück in der Angelegenheit… im besonderen, wenn nachgewiesen werden könnte, daß die beiden Männer mit dem Funkgerät etwas zu tun hatten.» Jan lächelte ein wenig. «Dann, Herr Inspektor, glaube ich, daß ich Ihnen eine Freude bereiten kann. Denn die Sache wird sehr schnell zu klären sein!» Von den anderen ertönte ein überraschtes Gemurmel, und Monsieur Dahomey sah sehr erstaunt aus. «Sagen Sie, junger Mann», entgegnete er ein wenig streng, «erlauben Sie sich einen Scherz?» «Absolut nicht», antwortete Jan. «Die Sache kann geklärt werden, wenn Sie die entscheidenden Beweise in Händen haben… und diese Beweise kann ich Ihnen geben!»
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ZEHNTES KAPITEL Jans Worte erweckten natürlich größte Überraschung unter den Anwesenden. «Ich bekomme den Eindruck, daß Sie es ernst meinen, junger Mann», sagte Inspektor Dahomey. «Wollen Sie bitte näher erklären, was für Beweise Sie meinen.» Lächelnd zog Jan einen kleinen Apparat aus seiner Hosentasche und reichte ihn dem Inspektor. «Was?» rief dieser überrascht, «das ist ja eine Spionkamera!» «Ja», nickte Jan. «Und ein Film ist auch darin. Wenn Sie den entwickeln lassen, Herr Inspektor, werden Sie sogleich die Beweise haben, die Ihnen fehlen.» «Wieso das?» «Als mein Freund und ich uns so leichtsinnig in den Hinterhof des Händlers wagten», begann Jan zu erklären, «knipste ich einige Bilder von der Umgebung. Eigentlich tat ich das nur, um den Eindruck zu erwecken, wir seien ganz gewöhnliche Touristen. Aber oben im ersten Stock des Hinterhauses machte ich noch einige Bilder, die jetzt anscheinend große Bedeutung erlangt haben. Zuerst habe ich den Sender und das so erstaunlich gut eingerichtete Zimmer fotografiert, danach machte ich noch Aufnahmen von den beiden Herren, wie sie vor dem Funkapparat stehen…» «Großartig, großartig!» rief der Franzose begeistert aus. «Aber warum in aller Welt haben Sie mir das nicht eher erzählt? Sowohl Sie als auch Ihr Freund könnten dann ja zu den Hauptzeugen in der Angelegenheit werden.» «Ja, und gerade das hatten wir befürchtet», gab Jan zu. «Wenn wir vor Gericht aussagen müssen, kann das eine sehr langwierige Angelegenheit werden, und Ingenieur Smith möchte -94-
unsere Abreise von Casablanca nicht verzö gert wissen. Wie die Dinge jetzt liegen, wird wohl eine schriftliche Erklärung genügen, und die Fotografien werden zu ausschlaggebenden Beweisen. Die beiden Hauptangeklagten können ihre Verbindung zu dem Funkapparat nicht mehr leugnen, und sie können auch nicht bestreiten, daß der illegale Sender im ersten Stock des Hinterhauses installiert war.» «Bravo, Jan!» sagte Smith. «Bravo, Jan!» wiederholten die Kameraden. «Du bist wirklich ein Genie!» meinte Erling. Aber Jan lachte bloß. «Nun übertreibt nicht, liebe Freunde. Es war ja reiner Zufall, daß ich die Bilder überhaupt gemacht habe. Ich habe kein Lob verdient, nur weil sie jetzt wichtig geworden sind. Es war auch ein großes Glück, daß man uns nicht durchsucht hat, als wir betäubt waren, denn dann hätten sie die Kamera ja mit Sicherheit gefunden.» Inspektor Dahomey steckte die kleine Kamera ein und erhob sich schnell. Er gab Jan einen kräftigen Händedruck und sagte: «Danke für die Hilfe, junger Mann. In ein paar Stunden werde ich den Film entwickelt haben, und dann schicke ich Ihnen die Kamera wieder zu. Wir sprechen uns noch…» Und mit diesen Worten verschwand er wie eine Rakete aus der Kajüte. An Bord wurde jetzt noch munter hin und her geredet, und Smith konnte nicht anders als lächeln. «Es gibt anscheinend wirklich nichts Schlechtes, das nicht auch sein Gutes mit sich bringt. Ich war, ehrlich gesagt, etwas wütend darüber, daß ihr beiden euch allein ins Eingeborenenviertel gewagt und damit meine Warnung einfach vergessen habt. Aber damit habt ihr den französischen Behörden offensichtlich einen großen Dienst erwiesen. Wenn die Polizei dadurch die Hintermänner für die blutigen Unruhen hier in Marokko entlarven kann, werden die Verhältnisse wohl -95-
wesentlich ruhiger. Deswegen möchte ich noch einmal sagen: Bravo, Jan!» «Vielen Dank», murmelte Jan, und seine Wangen röteten sich dabei ein wenig. «Aber ich muß wiederholen, daß das Schicksal, oder nennen wir es Zufall, mir dabei mächtig geholfen hat.» «Na, na!» sagte Erling. «Es war bestimmt nicht das Schicksal oder der Zufall, der uns gestern abend vom feindlichen Schiff aus gemorst hat. Diese Idee war ungewöhnlich gut.» Jan lachte. «Auch das war Zufall, Dicker. Wenn die Araber die Glühbirne nicht hätten brennen lassen, hätten wir ja kein SOS senden können… und da wären Jack und ich vielleicht jetzt schon weit draußen auf dem Atlantischen Ozean… oder schon von den Haien gefressen!» «Pfui Teufel!» sagte Peter Nielsen mit Nachdruck. «Ja, die Haie sind was Scheußliches – hm… das erinnert mich daran, daß doch bald Zeit zum Mittagessen sein müßte. Mein Magen fängt langsam zu knurren an.» «Fresser», sagte Marstal. «Lang lebe Peters gesunder Appetit», sagte Erling und erhob sich. «Komm, Krümel, laß uns anfangen, sonst kippt uns der arme Mann aus den Pantinen.» Er wandte sich an Jack und Jan. «Sagt, ihr beiden, habt ihr besondere Wünsche, kann ich euch etwas besonders Gutes zum Mittagessen machen?» «Nein», lächelte Jan. «Es gibt nur eine Kleinigkeit, die wir nicht haben wollen.» «Und das wäre?» «Arabischer Kush!» Peter Nielsen schmalzte mit der Zunge. «Mhm! Das ist eine der größten Delikatessen auf dieser Erde. Ich erinnere mich genau, als wir einmal hier vor Casablanca lagen…» Und darauf folgte ein langes, unglaubliches Seemannsgarn. -96-
Peter Nielsen und seine damaligen Kameraden hatten natürlich so viel Kush verzehrt, daß im Landesinneren dadurch ein Mangel an Kush entstand, was beinahe einen Aufruhr unter der Bevölkerung hervorrief! Die Situation hatte nur dadurch gerettet werden können, daß Peters Freund, der immer wieder erwähnte Sultan, Notrationen durch seine vielen Köche in seinen vielen Palästen hatte kochen und verteilen lassen! Am Nachmittag machten die Jungen eine gemeinsame Tour durch die Stadt, aber diesmal hielten sie sich in gebührlichem Abstand vom Eingeborenenviertel. Erling kaufte eine französische Tageszeitung, um nachzulesen, wie die Unruhen im Araberviertel ausgegangen waren. Sechs Araber und zwei Fremdenlegionäre waren während des Kampfes verwundet, aber keiner tödlich verletzt worden, und in wenigen Stunden hatten die Soldaten die Ruhe in diesem Viertel wiederhergestellt. Aus Sicherheitsgründen wurden europäische Touristen jedoch darauf hingewiesen, daß es für sie selber besser sei, sich vorläufig nicht in die alten Viertel der Stadt zu wagen. Die französischen Behörden lehnten jedenfalls alle Verantwortung ab, wenn diese Warnung nicht befolgt werden sollte. «Und von dem Kampf auf dem Schiff steht nichts in der Zeitung?» fragte Carl. «Kein Wort. Die Polizei wird wohl nicht zuviel Auskunft darüber geben wollen, bevor die Angelegenheit nicht aufgeklärt worden ist. Vielleicht steht morgen mehr darüber, wenn… hm… Jans Fotografien klar genug sind, um etwas zu beweisen.» «Keine Angst», sagte Jan. «Mit der Spionkamera habe ich bis jetzt noch nie ein schlechtes oder unscharfes Bild geknipst.» Vom Bahnhof gingen die Jungen weiter durch den breiten Boulevard de la Gare, und es fiel ihnen schwer, den großen Unterschied zwischen diesem Stadtteil und dem Eingeborenenviertel zu verstehen. Hier waren sie von modernen Gebäuden umgeben, große Geschäfte mit neonbeleuchteten -97-
Reklameschildern gaben den Eindruck einer europäischen oder amerikanischen Großstadt. Auf den Straßen rollten teure amerikanische Straßenkreuzer, und die weißen Fußgänger waren fast alle gut gekleidet. Welch ein Gegensatz zu den üblen Hütten und baufälligen Häusern, dem Schmutz und Gestank des Eingeborenenviertels! Besonders Jan beschäftigten diese Gedanken, während sie durch die Stadt schlenderten. – Ja, der soziale Unterschied war himmelschreiend… und diese Tatsache trug wohl auch zu den Unruhen in Marokko bei. Freilich, die Araber waren nicht sehr arbeitsfreudig, und in gewisser Weise mochten sie selber Schuld daran tragen, daß sie in so miserablen Umständen dahinlebten. Aber bestimmt brauchte man eingehende Kenntnis se der Verhältnisse, bevor man ein gerechtes Urteil fällen konnte. Nach den blutigen Unruhen hörte man ja immer nur die Ansicht der Europäer, wohingegen die Meinung der Araber verschwiegen wurde. Es war doch irgendwie unglaubhaft, daß die Franzosen und andere europäische Nationen ständig recht hatten und sie an dem Geschehen nie ein Verschulden traf! Tatsache war auch, daß die Kolonialmächte der ganzen Welt seit Jahrhunderten Übergriffe begangen und sich nicht immer so benommen hatten, wie man es von aufgeklärten und zivilisierten Völkern hätte erwarten können. Die Millionen schwarzer, brauner und gelber Menschen hatten auch nie darum gebeten, von weißen Menschen «beschützt» zu werden. Dieses Recht hatten sich die Weißen genommen, weil sie die Macht dazu besaßen! Auf dem Heimweg war Jan still und in sich gekehrt, während sich seine Freunde nach Herzenslust unterhielten. Am Abend kam Inspektor Dahomey wieder an Bord. Er gab die Kamera zurück und strahlte wie eine kleine Sonne. Die Bilder waren hervorragend ge lungen, und die beiden Hauptschuldigen waren überrumpelt gewesen, als man sie ihnen vorlegte. Da es nun sinnlos geworden war, weiter zu leugnen, -98-
hatte einer der beiden sich zu einer Aussage herabgelassen. Die Hoffnung, dadurch eine mildere Strafe zu bekommen, hatte sicher auch eine gewisse Rolle gespielt. «Der bekam ja sowieso schon Strafe genug, als Carl ihn gestern tunkte», lachte Jan. «Glauben Sie, Herr Inspektor, daß nun alles aufgeklärt werden kann?» «Ganz bestimmt. Das Funkgerät und eine Menge wichtiger Papiere wurden unten im Süden versteckt… der Kerl hat es ganz offen und ehrlich zugegeben, als er merkte, daß ohnehin alles verloren war. Die Araber reden immer noch nicht, aber das werden sie sicher noch tun, wenn sie erfahren, daß einer der Europäer ausgepackt hat. – Nein, ich hege keinen Zweifel über den Ausgang der Verhöre. Es ist damit wie mit einem Schneeball, der rollt und rollt, und schließlich wird eine Lawine daraus…» Monsieur Dahomey wandte sich an Jan. «Mein oberster Chef läßt Sie grüßen», sagte er. «Er dankt Ihnen vielmals für Ihren großartigen Einsatz in dieser Sache. Er läßt Ihnen ausrichten, daß die französischen Behörden Ihnen bestimmt noch auf andere Weise ihre Anerkennung beweisen werden, und dazu wünsche ich Ihnen viel Glück!» «Vielen Dank», murmelte Jan, der nun schon jeden Protest gegen all dieses Lob aufgegeben hatte. Danach nahm Dahomey die Erklärungen der Jungen zu Protokoll, die den Fotografien beigelegt werden sollten. Nachdem jeder von ihnen unterschrieben hatte, meinte der Inspektor: «Es hat mich sehr gefreut, die Bekanntschaft der Herren gemacht zu haben, und ich möchte mich noch einmal bedanken für all das, was Sie für die französischen Regierungsbehörden getan haben. Au revoir, Messieurs.» Als Jan etwas später an der Reling stand und die Umgebung betrachtete, kam Erling zu ihm. «Man darf wohl behaupten, daß du der Mann des Tages bist, -99-
Jan. Es gehört sicher nicht zur Alltagsroutine der Franzosen, daß sie einen Einsatz so begeistert loben. Du kannst noch eine besondere Anerkennung von Seiten der französischen Regierung erwarten… hm… wer weiß, vielleicht wirst du noch zum Ritter der Ehrenlegion ernannt!» «Mit weniger gebe ich mich auf keinen Fall zufrieden», sagte Jan lachend. Aber dann wurde er wieder ernst. «Wie ich schon so oft betont habe, hat uns ein Zufall in diese Angelegenheit hineingezogen. Es war genauso ein Zufall, daß ich den Behörden einen Dienst erweisen konnte, aber… hör mal… da ist etwas anderes, worüber ich schon seit Stunden nachdenken muß…» «Und was ist das?» «Den gestrigen unerwarteten Angriff der Araber kann man zwar nicht gerade gutheißen… es war ein hinterlistiger Überfall… denn die Soldaten und die Polizei haben ja bloß ihre Pflicht getan, und sie sind ja auch ganz ruhig und besonnen vorgegangen, aber… na ja, ich meine, wir kennen den tieferen Grund für all diese Unruhen nicht. Was in den letzten Monaten hier in diesem Land geschehen ist, bedarf einer Erklärung. Glaubst du wirklich, daß nur die Eingeborenen Fehler begangen haben? Wenn man ein ganz gerechtes Urteil fällen wollte, müßte man beide Parteien hören und alle Einzelheiten kennen. Und warum sollten die Franzosen immer ganz ohne Tadel sein?» «Hm!» sagte Erling. «Wenn du es so siehst, wirst du nie Ritter der Ehrenlegion!»
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