Fred McMason Im Meer der toten Seelen
1. Wie ein stolzer Schwan pflügte die ›Isabella VIII.‹ durch das blaugrüne Wasse...
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Fred McMason Im Meer der toten Seelen
1. Wie ein stolzer Schwan pflügte die ›Isabella VIII.‹ durch das blaugrüne Wasser. Ihre Bugwelle, ein langer weißer Bart, schäumte und rauschte geheimnisvoll. Der Bug der stolzen, ranken Dreimastgaleone wurde in sanftem Rhythmus hochgehoben, gleich darauf sank er zurück in sein Element, und schon hob er sich wieder aus der glitzernden Fläche. Dieser ständige Rhythmus bei achterlichem Wind sah nach Frieden und Behaglichkeit aus, aber das schien nur so. Der Seewolf konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, wenn er den Profos sah. Ed Carberry war heute ganz anders als sonst, alle waren sie anders, fand Hasard. Bedrückt, sich immer wieder mißtrauisch umschauend, den Blick zeitweilig zum Himmel gekehrt. Jeder schien auf ein Wort des anderen zu warten und der andere schwieg zumeist. Der Profos aber schlich umher, als müsse er alle seine Freunde persönlich beerdigen. Seine mächtige Gestalt lehnte am Steuerbordschanzkleid, sein Rammkinn war vorgeschoben, die Augen mißtrauisch zusammengekniffen, sein Mund nur ein schmaler Strich. Hasard sah jede einzelne Narbe in seinem kantigen Gesicht. Immer wieder sog Ed Carberry prüfend die Luft ein und schüttelte dann den Kopf. Hasard winkte ihn zu sich heran, aufs Achterkastell. Carberry schob sich in der lauernden Haltung eines Verfolgten näher. »Was ist los, Ed?« fragte Hasard. »Steckt dir die Geschichte von den Azoren noch in den Knochen?« Bevor der Profos antwortete, warf er einen schnellen Blick zu 2
Pete Ballie, der diesmal nicht am Kolderstock, sondern am Ruder stand. Ja, die ›Isabella‹ hatte ein Ruder, diese Neuerung hatte Ferris Tucker auf der Werft des alten Hesekiel Ramsgate verlangt, dem sie das neugebaute Schiff abgekauft hatten. Es hatte viel Mühe und Überlegung gekostet, dieses Ruder mit dem dazugehörigen Ruderhaus zu bauen. Aber jetzt hatten sie es, und der Rudergänger war nicht mehr Wind und Wetter, überkommenden Seen und den anderen Unannehmlichkeiten ausgesetzt. Der Profos grinste, aber das Grinsen erlosch so schnell, wie es erschienen war. Sein Gesicht verdüsterte sich fast augenblicklich. »Nein, das ist vergessen«, beantwortete er Hasards Frage. »Wir haben vereinbart, daß wir darüber nicht mehr sprechen.« Hasard wollte auch nicht mehr gern daran erinnert werden, obwohl im selben Moment noch einmal die Bilder vor seinen Augen abliefen. Der Stunk mit den Engländern, die um jeden Preis die ›Isabella‹ versenken wollten, die Meuterei der Besiegten auf den Azoren, dann die Wilden und schließlich Scinders, der immer wieder versucht hatte, die Reparaturarbeiten an der ›Isabella‹ zu sabotieren, was ihm auch mit Hilfe von Pulver und Feuer mehrmals gelungen war. Und dann hing dieser Scinders, der Kommandant der zerschossenen Karavelle ›Hermes‹, eines Morgens in der ersten Dämmerung an einer Rah des Fockmastes. Wer ihn dort aufgehängt hatte, war nicht zu erfahren gewesen. Die vom Schuften todmüde Mannschaft hatte nichts bemerkt. Daraufhin hatte der Seewolf die Untersuchungen eingestellt. »Was ist es dann?« fragte Hasard weiter, der sich schon vorstellen konnte, was den Profos und die anderen so bewegte. »Das Wetter ist es«, sagte Carberry grollend. »Das verdammte Wetter, und dieses dreimal verfluchte SargassoMeer. Wir segeln in Richtung Echo-Bank, und von hier ab geht 3
es immer los. Sieh dir nur den Himmel an!« Carberrys riesiger Daumen stach unmißverständlich nach oben, dreimal hintereinander und nachdrücklich. Hasard hatte das natürlich längst bemerkt, genau wie die anderen. Sargasso-Meer! Das jagte jedem Seemann einen kühlen Schauer über den Rücken. Das Meer von den Bermudas bis hinunter nach Westindien war nicht geheuer. Sagen und Aberglaube gingen um. Jeder kannte eine haarsträubende Geschichte aus dieser Ecke der Welt, und jeder schmückte sie nach seinem eigenen gutdünken immer weiter aus. Es hatte auch jetzt etwas Unheimliches an sich. Selbst der so gelassene Seewolf konnte sich diesem unaussprechlichem Etwas nicht entziehen. Über ihnen schimmerte der Himmel längst nicht mehr in azurner Bläue. Dieses Blau war einem leichten Fahlgelb gewichen, das den Horizont verwischte, so daß man zwischen Himmel und Erde keinen genauen Unterschied mehr sah. Alles verschmolz ineinander, die Kimm mit dem Himmel, der Himmel mit dem Wasser. Die Dünung wurde immer länger. Rollend hob sie das Schiff hoch, eine Bö knallte in die Segel und erstarb sofort wieder, noch bevor der Rudergänger reagieren konnte. Auch der achterliche Wind begann sich unmerklich zu drehen. Mal blieb er ganz aus, dann wieder schob er die Galeone mit sanfter Gewalt vor sich her durch das Wasser, dessen Färbung sich allmählich dem Fahlgelb des Himmels anpaßte. Es lag etwas in der Luft. Jeder spürte das überdeutlich, und jeder machte sich sogleich seine Gedanken darüber. Hasard winkte ab. Es sollte geringschätzig aussehen, aber der gewiefte Profos erkannte deutlich die Geste der Sorge, die der Seewolf damit zum Ausdruck brachte. »Es wird einen kleinen Sturm geben«, sagte Hasard. »Na und? Den reiten wir spielend ab. Hat vielleicht jemand Angst?« 4
»Bei diesem Schiff bestimmt nicht«, versicherte Carberry. »Und wer hat schon vor einem Sturm Angst? Von uns keiner!« »Na also, dann ist ja alles in Ordung. Gib auf die Segel acht, Ed. Der Wind dreht ständig.« »Aye, aye, Sir!« Hasard runzelte die Stirn. Der »Sir« blieb ihm sekundenlang im Hals stecken, denn wenn der Profos damit anfing, dann stimmte etwas nicht. Im nächsten Augenblick zuckte Hasard zusammen, als Carberrys brüllendes Organ aufklang. »Himmel, Arsch und Sargassosee!« schrie der Profos. »Das hat uns noch gefehlt, genau das! Dieser verfluchte Bastard soll doch gleich tot vom Himmel fallen!« Verblüfft sah der Seewolf auf seinen Profos, der die mächtigen Fäuste zum Himmel hob und sie drohend schüttelte. »Hau ab, du verdammtes Teufelsvieh, der Satan soll dich holen!« »Na, da kann er uns ja gleich mitnehmen«, hörte er gleich darauf Ferris Tuckers Stimme. Auch der rothaarige Schiffszimmermann blickte mit entsetzt aufgerissenen Augen nach oben. Und da schwebte er schon heran, ein Albatros, ein riesiger Sturmvogel mit einer Spannweite von über vier Yards. Thermische Aufwinde, die ihn getragen hatten, veränderten sich. Der riesenhafte Vogel schien in ein Luftloch zu fallen. Mit weit ausgebreiteten Schwingen sauste er im Sturzflug nach unten, genau auf die ›Isabella‹ zu. An Deck zogen alle die Köpfe ein, als er dicht über die Masten dahinstrich, dann wild mit den schweren Flügeln schlug und wieder Auftrieb erhielt. Er segelte gegen den Wind und schraubte sich langsam höher, dann begann er, weite Kreise um das Schiff zu ziehen. Dem abergläubischen Profos fuhr der Schreck gewaltig in die Knochen. »Das bedeutet nichts Gutes«, versicherte Carberry in der Kuhl 5
jedem, der es hören wollte. Sie drängten sich förmlich danach und hingen begierig an des Profos Lippen, Ferris Tucker, Smoky, Blacky, Stenmark, Dan und die anderen. »Das ist einer der Vögel, die auf ihren Flügeln schwebend schlafen«, erläuterte Carberry. »Sie rufen Sturm hervor. Sie können sehr lange schweben, ohne die Schwingen zu regen, sie ändern die Richtung, indem sie einen Flügel so leicht bewegen, daß es niemand sieht. Wir kriegen Unglück, sage ich euch!« »Und wenn wir ihn mit einer Muskete abknallen?« fragte Smoky, der Deckälteste erregt. »Um Himmels willen.« Der Profos winkte ab. »Einen von ihnen zu schießen, ist bedenklich, sehr bedenklich sogar. Ich kenne keinen Fall bei dem die Reise hinterher gut verlaufen ist. Man kann ihn aber mit einem Stück Speck angeln und ihn dann an Deck sterben lassen. Das ist ganz etwas anderes.« Als Carberry geendet hatte, wurde die Stimmung noch gedrückter. Voller Unbehagen sahen sie dem Riesenvogel nach, der immer noch seine Kreise zog, mal hinter dem Schiff herflog, es dann wieder überholte. Smoky kannte auch ein paar Geschichten, in denen einzelne Vögel Unglück über ein Schiff gebracht hatten. »Fast alle sind hinterher gesunken« sagte er. »Und jetzt kann man den Sturm schon fast riechen«, setzte er hinzu. Dan O’Flynn pfiff erregt durch die Zähne. Das hätte er lieber nicht tun sollen, denn obwohl ihn an Bord jeder als vollwertigen Mann akzeptierte, war er für den Profos plötzlich wieder das Bürschchen. »Bist du wahnsinnig, du Rotznase?« schrie der Profos. Mit einem Satz war er bei Dan, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn durch. »Das Mistvieh da oben kündigt den Sturm an, und jetzt mußt du ihn auch noch herbeipfeifen! Weißt du nicht, daß Pfeifen erst recht Stürme herbeizieht?« Dan war so verdattert, daß er erst gar nicht versuchte, sich aus 6
dem Griff zu befreien. »Das habe ich nicht gewußt«, sagte er kleinlaut. »Dann merk dir das verdammt gut! Wen ich jetzt noch einmal pfeifen höre, dem ziehe ich persönlich die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch. Habt ihr das alle verstanden?« Sie hatten alle verstanden. Keiner lachte über Carberrys Lieblingsspruch, Dan schon gar nicht, dem der Schreck jetzt auch gehörig in die Knochen gefahren war. »Der Todesvogel«, murmelte Tucker und zeigte auf das große Tier, das sich gerade wieder anschickte, die ›Isabella‹ zu umkreisen. »Wenn er sich auf dem Mast niederläßt, sind wir verloren.« Ein paarmal sah es so aus, als wollte der große Albatros sich auf der Mastspitze niederlassen, aber das Gebrüll der Männer verscheuchte ihn noch rechtzeitig. Selbst Hasard sah jetzt besorgt zum Himmel. Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterkastell stand, seufzte. Mit halben Ohr lauschte er den Schauermärchen, die Carberry unermüdlich vom Stapel ließ. »Dieser Vogel bereitet mir auch Sorgen«, sagte er. »An der Geschichte ist wirklich etwas Wahres dran.« Die Dünung war jetzt länger als zuvor. Der Himmel war von einem Gelb, das wie reiner Schwefel aussah. Die Luft schien sich zu dicken Klumpen zu ballen. Schwül und zäh wie ein feuchter Schwamm, legte sie sich den Männern beklemmend auf die Lungen. Ein paar Meilen weiter schien das Meer unvermittelt in den Himmel überzugehen. Und dann erschienen übergangslos Kreuzseen. Von zwei Seiten rollte die Dünung auf die ›Isabella‹ zu, langgezogene Wellen, kleine Schaumkronen auf den Häuptern, stürmten sie heran, klatschten gegen die Bordwände und trafen dann zusammen. Das Schiff schüttelte sich. Eine Fallbö stieß von schräg oben nieder, ein Segel killte, hing ganz schlaff und knatterte dann 7
plötzlich los, daß die Männer sich unwillkürlich duckten. Erst dann blähte es sich wieder. Und plötzlich befand sich der ranke Rahsegler in einem Zentrum der absoluten Windstille. Kein Laut war mehr zu hören, unnatürliche Ruhe breitete sich aus. Bevor Hasard den Befehl geben konnte, die Marssegel zu reffen, füllten sie sich langsam mit Wind, bauschten auf und schoben das Schiff erneut vorwärts. In der Kuhl standen die Männer, ohne sich zu rühren. Der einzige, der sich bewegte, war Arwenack, der Schimpanse. Er stieg aus dem Großmars abwärts, beschämt und so verängstigt, als hätte man ihn gerade beim Klauen von Früchten in der Kombüse erwischt. Er gab keinen Laut von sich, bleckte nur die Zähne, sah immer wieder nach oben und schlich dann geknickt unter das Vordeck. Die Seewölfe sahen ihm bestürzt nach. »Der weiß, was uns bevorsteht«, sagte Carberry. »Tiere merken das viel früher als Menschen. Jetzt verkriecht er sich. Nicht mal Dan schaut er an, seinen Liebling.« »Kein Wunder«, erboste sich Blacky, »der Idiot hat ja mit seiner verdammten Pfeiferei das alles herbeigepfiffen.« Dan O’Flynn ging sofort auf Blacky los und hielt ihm drohend die Faust unter die Nase. »Sag bloß, ich bin an dem Wetter schuld, Mann! Oder an der dunkelgelben See! Ich bin auch froh, wenn ...« »Klar bist du daran mitschuldig«, unterbrach der Profos. »Du und der Vogel. Im Sargasso-Meer pfeift man nicht, denn jeder weiß, daß man bei leichtem Wind nicht pfeifen soll. Bei Windstille ist das etwas anders, aber genauso gut kann man dann dreimal am Fockmast kratzen. Der Teufel ist ein reizbarer Geselle, der das Pfeifen für eine Störung oder Herausforderung hält, die er sich nicht gefallen laßt. Hast du das jetzt endlich begriffen?« 8
Dan wurde immer kleinlauter, zumal die anderen ausnahmslos auf des Profos Seite standen. Sogar Batutis Stirn hatte sich umwölkt. »Nicht gut, wenn Dan pfeifen«, sagte er vorwurfsvoll. »Großes Vogel auch nicht gut. Auch nicht gut, wenn gehen Freitag in See. Dann alle sterben.« Dan O’Flynn kratzte sich verlegen den Kopf. »Ich löse Stenmark im Großmars ab«, sagte er, »vielleicht kann ich das dann wieder einrenken.« »Seid ihr alle verrückt geworden?« dröhnte in ihrem Rücken plötzlich Hasards Stimme auf, der in der Kuhl erschienen war. »Was steht ihr herum und quatscht vom Teufel, he? Habt ihr nichts besseres zu tun? Achtet auf die Segel, damit uns nicht eine Bö umwirft!« Seine Stimme war laut, doch die anderen sahen ihm an, daß auch er sich nicht wohl fühlte. Der beste Kapitän war schließlich nicht vom Aberglauben verschont, und so sorgte sich auch Hasard, allerdings nicht in dem Ausmaß wie die anderen. Er wollte sie ablenken, beschäftigen, denn wenn sie nur noch herumstanden und unkten, wurde alles nur noch schlimmer. Es wurde noch dunkler. Jetzt war der Himmel gelbbraun, und die Luft schien zu knistern. Immer wieder entstanden Kreuzseen, zwischendurch schlief der Wind ein. Kehrte er wieder, dann heulte er mit klagenden Tönen durch die Takelage, pfiff in den Pardunen, jaulte durch die Wanten, blähte blitzartig die Segel. Und auf der ›Isabella‹ fanden sich die Männer zusammen, berieten, flüsterten, erzählten und hatten Angst. Gegen die Elemente konnten sie sich nicht wehren, da waren sie hilflos allem ausgeliefert. Sie konnten nicht kämpfen, die Seewölfe, sie mußten das hinnehmen, was das Sargasso-Meer für sie bereit hielt, und das war es, was sie das Fürchten lehrte. Zu allem Überfluß tauchte auch noch der alte Donegal Daniel 9
O’Flynn mit seinem Holzbein in der Kuhl auf. Auf seinen beiden Holzkrücken humpelte er heran, ein verwitterter, rauhbeiniger Bursche. Schon vorhin hatte er ein paar Brocken vernommen, Wortfetzen, die ihm mehr als genug sagten. Er hob eine Krücke hoch und drohte damit in den Großmars, wo Dan Ausguck bezogen hatte. »Warte, du lausiger Hurenbock!« rief er zu seinem Sohn hinauf. »Dir werde ich deine verdammte Pfeiferei noch austreiben. Weiß der Teufel, was du alles heraufbeschworen hast!« »Vielleicht ist dein verdammtes Holzbein an dem Sauwetter schuld«, fluchte Dan. Der Alte war nicht zu bremsen. »Ich seh schwarz«, knurrte er, »pechschwarz. Man kann ja Himmel und Wasser nicht mehr voneinander unterscheiden. Sind wir jetzt oben oder unten? Ich glaube, das verdammte Schiff wird immer größer, und wir segeln direkt in den Wolken wie die ›Mary Dun of Dover‹, die wurde auch immer größer.« »Erzähl mal«, forderte ihn Carberry auf. »Was war mit dem Kahn?« Old O’Flynn senkte seine Stimme, verstohlen sah er sich nach allen Seiten um. »Ihr kennt die Geschichte nicht? Die ›Mary Dun of Dover‹ geriet in ein ganz merkwürdiges Wetter, so wie wir jetzt. Vielleicht ist sie zwischen zwei Welten geraten, wer weiß das schon! Jedenfalls wurde sie immer größer und länger, ein richtiges Wolkenschiff. Die aufenternden Schiffsjungen kamen alle als Greise wieder herunter und der Kapitän mußte seine Befehle vom Achter zum Vordeck durch berittene Seeleute überbringen lassen. Sie paßte nicht mal mehr durch die Straße von Dover durch, und erst als sie mit Seife geschmiert wurde, da ging es mit Mühe und Not. Noch heute sieht man die waagrechten Streifen an den Kreidefelsen von Dover ganz deutlich. Und weil das Meer nicht tief genug für sie war, 10
warfen sie einen Teil Ballast über Bord. So entstand die Insel Bornholm, und von der Asche die aus der Kombüse geworfen wurde, entstand die kleine Insel Christians. Jetzt kennt ihr die Geschichte«, schloß der Alte. Carberry peilte zum Achterkastell. Er hatte das Gefühl, als wäre die ›Isabella‹ tatsächlich ein ganzes Stück länger geworden. Dieses merkwürdige fahle Licht, das nicht Nacht und nicht Tag war, ließ alle Maße ganz anders erscheinen. Auch die anderen blickten zuerst mißtrauisch auf Old O’Flynn, dann zum Achterkastell. Sichtlich beeindruckt nickten sie schweigend. Und in die tiefe Stille, die nach O’Flynns Worten herrschte, dröhnte Dans Stimme aus dem Großmars. »Land backbord voraus!« Alle Köpfe drehten sich ruckhaft herum. Land? Hier, vor der Echo-Bank im Sargasso-Meer? Das gab es nicht. Hasard, der genau wußte, daß er sich auf Dans scharfe Augen unbedingt verlassen konnte, sah in die angegebene Richtung. Er mußte die Augen zusammenkneifen, um den winzigen schmalen Strich zu erkennen. Eine Täuschung hervorgerufen durch das Licht? Brighton reichte ihm das Spektiv. Hasard zog es auseinander und sah lange hindurch. »Könnte eine kleine Insel sein«, sagte er dann. »Welcher Kurs liegt an,Ben?« »Süd-Südwest liegt an. Soviel ich weiß, gibt es hier keine einzige Insel.« »Seltsam«, meinte Hasard. »Wir sind allem Anschein nach nicht abgedriftet und dennoch taucht hier Land auf. Ich kann mir das nicht erklären.« »Steuerbord querab, Land in Sicht!« rief Dan erneut aus dem Großmars. »Scheint sich um eine kleine Inselgruppe zu handeln.« 11
»Das wird ja immer merkwürdiger«, sagte Ben. Auch er blickte angespannt durch das Spektiv, bis ihm die Augen tränten. Das Licht war jetzt so diffus geworden, daß jeder an eine optische Täuschung glaubte. Ein Himmel, der so aussah, als fiele er jeden Moment herunter, ein Meer, das so erschreckend in seiner gelbbraunen Farbe wirkte, das es aussah, als stiege es dicht vor ihnen in den Himmel. Hasard hatte mitunter das Gefühl, als habe sich ein Tor zu einer unbekannten Welt geöffnet und gestatte ihnen einen kurzen Einblick in etwas gänzlich Fremdes. Und dann diese kleinen Inseln. Sie wußten nicht waren sie weit weg oder nahe daran, waren es Inseln, oder war es etwas anderes? Je länger der Seewolf durch das Spektiv blickte, desto mehr entfernten sich die kleinen Eilande. Er wollte dieses Phänomen ergründen, schon um seinen Männern zu beweisen, daß hier alles mit rechten Dingen zuging und sie endlich damit aufhörten, sich gegenseitig Schauermärchen zu erzählen. »Etwas abfallen, Pete!« rief er dem Rudergänger zu. »Halte Kurs auf die kleine Insel!« »Aye, aye, Kurs auf die Insel«, wiederholte Pete Ballie. In der Kuhl reckten sie die Köpfe, als die ›Isabella‹ auf den neuen Kurs ging. Sie schwenken nur schwerfällig herum, denn der Wind war schon wieder am Einschlafen. Nur die ungemütliche Dünung hob und senkte den Bug des Schiffes, und allen drängte sich der Vergleich mit einem schlafenden Riesen auf, dessen Brust sich unter den Atemzugen hebt und wieder senkt. Eine knappe Stunde lang segelte die ›Isabella‹ der kleinen Insel entgegen, ohne sie zu erreichen. Das Eiland rückte auch nicht näher. Hasard preßte die Lippen zusammen. »Hast du schon mal eine Insel gesehen, die sich entfernt, 12
wenn man auf sie zusegelt, Ben?« Brightons Gesicht war blaß. Immer wieder rieb er seine Hände an der Hose und schüttelte den Kopf. »Das ... das kann keine Insel sein«, erwiderte er heiser. »In was, verdammt und zugenäht, sind wir da hineingeraten?« Ferris Tucker enterte aufs Achterkastell. Unverwandt starrte er zu dem kleinen Eiland,, das sich nicht näherte. »Ob wir festsitzen?« fragte er. »Es sieht zwar so aus, als liefen wir gute Fahrt, aber in Wirklichkeit sitzen wir auf Grund, ohne daß wir es bemerkt haben, und nur die Strömung streicht an der Bordwand vorbei. Deshalb rückt das verfluchte Land auch nicht näher.« Hasard und Ben Brighton sahen sich betroffen an. So unrecht hatte der gute Ferris vielleicht gar nicht einmal. Aber wenn sie auf Grund saßen, weshalb hatte es dann niemand bemerkt? »Tiefe ausloten!« befahl der Seewolf. Smoky warf die Lotleine über Bord. Das Bleistück versank sofort. »Acht Faden, zehn, fünfzehn, zwanzig«, meldete er. »Kein Grund unter dem Schiff.« »Verdammt! Miß auch noch auf der anderen Seite, Smoky!« Das Ergebnis blieb das gleiche, und damit wurde das Rätsel um die geheimnisvolle Insel noch größer. Ja, mehr noch, es wurde ihnen immer unheimlicher und mulmiger zumute. Der kleinen Insel, der sie entgegensegelten, wie sie glaubten, folgte die andere Insel in genau der gleichen Geschwindigkeit. Der Abstand veränderte sich nicht. Dan hockte oben im Großmars und rührte sich nicht mehr. Schluckend fragte er sich, ob vielleicht doch seine verdammte Pfeiferei an allem schuld sei.. »Kurs Südsüdwest!« befahl Hasard. Er hatte genug von diesen geheimnisvollen Inseln und wollte ihnen nicht den ganzen Tag nachsegeln. Der Teufel sollte die 13
merkwürdigen Gebilde holen. Eine weitere halbe Stunde danach waren die Inseln verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Erst nach weiteren zwei Stunden tauchten sie wieder auf, verwaschene kleine Flecken, unheimlich und geheimnisvoll anzusehen im diffusen Halbdämmer einer Zone des SargassoMeeres. Hasard grübelte stundenlang darüber nach, doch zu einem Ergebnis gelangte er nicht. Die immer wieder weit entfernt auftauchenden Inseln nervten die Seewölfe. Sie konnten diese Gebilde nicht einordnen. Auf den Inseln schien nichts zu wachsen, keine Palmen, keine Büsche, nicht einmal eine spärliche Vegetation. Vögel ließen sich nicht auf den Eilanden nieder. In ihrem Kielwasser folgte der Albatros. Lautlos glitt er immer wieder hinter dem Schiff her, auf seinen Flügeln schwebend schlief er, wie Carberry immer wieder betonte.
2. An Bord der ›Isabella‹ hatten sie jegliches Zeitgefühl verloren. Ein Besteck ließ sich nicht nehmen, die genaue Position konnte daher nicht festgestellt werden, weil es ganz einfach keinerlei Anhaltspunkte gab. Himmel und See hatten sich wiederum verändert. Es war nicht mehr das gleiche Wasser, das sie durchpflügten, es war auch nicht mehr der gleiche Himmel über ihnen. Es war etwas anderes, etwas, das ihnen langsam immer mehr Furcht und Grauen einflößte. Wie Tote auf einem Geisterschiff kamen sie sich vor, das vom Satan durch die Meere getrieben wurde. An die normale Bordarbeit war nicht mehr zu denken. Jeder lauerte auf das, was jeden Augenblick zweifellos passieren 14
würde. Es mußte etwas geschehen, egal was. »Der Vogel ist verschwunden!« Ed Carberrys Stimme, sonst donnernd und explosiv, hatte ihre Gewalt verloren. Seine Worte waren nicht mehr als ein heiseres Krächzen. »Und was hat das zu bedeuten?« fragte der Kutscher, der mit den anderen auf der Kuhl stand. Alle hatten auf das Essen verzichtet, niemand verspürte auch nur den geringsten Appetit, und so hatte der Kutscher in der Kombüse nichts zu tun. »Es bedeutet, daß gleich das Unglück losbricht«, prophezeite Carberry. »Der Vogel hat es nur angekündigt, und da es gleich losgehen wird, ist er verschwunden, um sich in Sicherheit zu bringen.« Der Kutscher sah sich bedrückt im Kreis seiner Kameraden um, die immer wieder scheue Blicke über die Reling warfen. Das Wasser war schwarz wie die Nacht. Die gläsern scheinenden Wellen trieben jetzt lautlos und langsam heran. Auch sie waren pechschwarz, Dämonen gleich, die das Schiff angriffen, zuerst an ihm herumspielten und es dann in die Tiefe zogen. Und der Himmel, seltsam fahl leuchtend, war so niedrig, daß man ihn mit den Händen greifen konnte. Die Stimmung wurde immer drückender. Niemand wußte, ob es Mittag, später Mittag oder Abend war. Immer wieder blickten sie zum Achterkastell mit dem Ruderhaus, zum Seewolf hin, zu Ben Brighton, die sich beide unterhielten. Ferris Tucker schüttelte den Kopf. Seine roten Haare leuchteten wie eine Fahne aus Kupfer, sein Gesicht war blaß. »Ich verstehe nicht, daß die beiden so ruhig sind«, sagte er, mit dem Daumen nach achtern deutend. »Das muß doch selbst dem Seewolf auf die Nerven gehen, zumindest aber Ben. Aber die tun fast so, als hätten wir das schönste Wetter.« »Denen geht es auch nicht anders als uns«, versicherte Carberry. »Nur merkt man es ihnen nicht an. Habt ihr übrigens schon mal festgestellt, aus welcher Richtung der Wind weht? Seht doch einmal in die Takelage!« 15
An Deck war kein Windhauch mehr zu spüren, und doch waren die Segel schwach mit Wind gefüllt, und drängten das Schiff immer weiter vorwärts durch das schwarze Wasser. Unheimlich war das, nervenaufreibend. Woher wehte der Wind, den man nicht spürte, den man nicht hörte? Kam er aus jenem schmalen Himmelstreifen, der wie ein kleiner gelber Riß aussah? Die See vor der ›Isabella‹ ließ sich kaum noch erkennen. Sie schien in ein riesiges Tor hineinzufahren, in die Wolken, wie der alte O’Flynn schon gesagt hatte. Schon jetzt reichten die Mastspitzen bis weit in den Himmel und verschmolzen mit ihm. Der Ausguck im Großmars war nicht mehr zu sehen. »Dan!« schrie der alte O’Flynn plötzlich voller Entsetzen. »Dan, melde dich!« Alles blieb ruhig. Es folgte keine Antwort. In den Gesichtern der Männer spiegelte sich das Grauen. Sie alle dachten an die Geschichte, die der Alte vorhin erzählt hatte. Von den Schiffsjungen, die als Greise wieder aus dem Großmars zurückgekehrt waren. »Dan!« brüllte er noch einmal. »Was ist denn los?« Die Stimme ertönte aus einer diffusen Nebelwand, die fahlgelblich schimmerte. Sie klang weit entfernt. Zu sehen war Dan immer noch nicht. »Junge!« keuchte Old Flynn. »Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Was siehst du, Dan?« »Überhaupt nichts. Ich glaube, ich befinde mich irgendwo im Himmel. Ich sehe nichts mehr!« »Enter sofort ab!« donnerte der Alte. »Ich darf den Ausguck nicht verlassen«, widersprach Dan. »Und ich sage dir, verdammt noch mal, du sollst sofort abentern, nur ganz kurz, dann kannst du wieder aufentern.« »Möchte wissen, was in den Alten gefahren ist«, nörgelte Dan vor sich hin. Aber er gehorchte, denn vor dem alten Donegal hatte er immer noch gehörigen Respekt. 16
Er enterte die Wanten ab, bis sie ihn alle sahen. »Und jetzt?« fragte Dan. »Jetzt kannst du wieder auf entern. Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet.« Kopfschüttelnd verschwand Dan wieder. Er hatte den Großmars noch nicht ganz erreicht, da war er wie durch Zauberei verschwunden. Der Alte sah richtig erleichtert aus, er stieß einen langen Seufzer aus. Hasard sah dem Treiben mit stoischer Ruhe und Gelassenheit zu. Was soll’s? dachte er. Ich kann es ja doch nicht ändern. Sollen sie sich meinetwegen die Köpfe heiß reden. Einmal werden sie sich schon wieder beruhigen. Und ich selbst fühle mich ja auch nicht ganz wohl in meiner Haut, wenn ich ehrlich zu mir bin. Zu allem Überfluß begann es am Bug des Schiffes leicht zu schaben und zu kratzen. Das Schaben verstärkte sich und wurde lauter. »Gott steh uns bei«, murmelte Carberry und schlug mit den Fingern ein Kreuz in die Luft. »Tiefe ausloten!« rief Hasard laut. »Beeil dich, Smoky!« Smoky schien ihn gar nicht gehört zu haben. Mit schreckgeweiteten Augen lauschte er dem unheimlichen Geräusch nach. Da war es schon wieder. Die ›Isabella‹ hob sich ein wenig höher aus dem Wasser. Das Schaben und Kratzen lief an der Steuerbordseite entlang, dann hörte es auf. Erst jetzt gehorchte Smoky. Blitzschnell lief er nach Backbord und feuerte das Lot über Bord. Es lief ab, bis er den Rest der Lotleine in der Hand hielt. »Mehr als fünfzig Faden«, verkündete er. Der Seewolf warf dem Deckältesten einen strengen Blick zu. »Das nächste Mal etwas schneller, Smoky, verstanden?« »Aye, aye, Sir, Verzeihung!« Wieder ein ganz feines Schaben am Schiffsrumpf. Ferris 17
Tucker begannen sich die Haare zu sträuben. Carberrys Gesicht überzog sich mit einer fahlen Blässe. Die anderen duckten sich unwillkürlich hinter das Schanzkleid, als würde gleich der Teufel persönlich seine Klauen nach ihnen ausstrecken. »Meermänner«, flüsterte der Profos. Es kostete ihn eine unwahrscheinliche Überwindung, über Bord zu sehen. Jeden Augenblick glaubte er, dort einen Kopf aus dem Wasser ragen zu sehen, den Kopf eines Meermannes, wie sie seit eh und je durch die Geschichten der Seefahrt geisterten. Aber er sah nichts. Dennoch wurde das Schaben und Kratzen wieder lauter. »Es müssen mehrere sein«, sagte er leise. »Sie sehen einem Menschen verblüffend ähnlich, nur der Unterkörper läuft ähnlich spitz zu wie bei einem Fisch. Manche sind den Seeleuten wohl gesonnen, andere wiederum bösartig.« Das hatten die anderen auch schon gehört. In den Kneipen erzählte man davon, daß es im geheimnisvollem SargassoMeer etliche von ihnen geben sollte. Sogar Nathaniel Plymson, der feiste Wirt von der »Bloody Mary«, kannte sie. Aber zum Glück hatte der Profos ein Rezept gegen sie. »Kutscher!« befahl er mit heiserer Stimme. »Lauf schnell in die Kombüse und bringe eine leere Flasche mit. Verschließe sie gut!« Der Kutscher, von Aberglauben genauso geplagt wie die anderen, hauptsächlich was dieses Meer betraf, rannte los, packte eine leere Flasche, verkorkte sie und kehrte wieder zurück. Hoffnungsvoll reichte er sie dem Profos. »Sehr gut, Kutscher. Ich werde die Flasche jetzt über Bord werfen, ganz dicht am Rumpf, und dann werdet ihr sehen, das verdammte Kratzen dieser Meermänner hört auf. Sie spielen am Schiff herum, aber wenn sie die Flasche sehen, finden sie sie interessanter, und dann beginnen diese Unholde mit ihr zu spielen. Jedenfalls lassen sie augenblicklich vom Schiff ab!« Carberry begab sich aufs Vorschiff, beugte sich über die 18
Reling, sah ins Wasser und ließ die Flasche dann langsam an der Bordwand entlanggleiten. Er verfolgte sie mit den Blicken, wie sie am Schiff verbeiglitt, in etwas Dunkles geriet, das er nicht identifizieren konnte, und dann verschwand. Da hörte das seltsame Kratzen auf. Triumphierend sah der Profos sich um. »Na, was habe ich gesagt, was, wie! Da staunt ihr. He! Eben reckte sich ein dunkler Arm aus dem Wasser und zog die Flasche zu sich herunter. Ich wette, die Meermänner sind jetzt mit der Flasche beschäftigt.« Sie lauschten angestrengt, aber das Schaben und Kratzen wiederholte sich nicht. Der Profos ging stolzgeschwellt zum Achterdeck, um Hasard sein Gegenmittel anzupreisen. Er kam von der Backbordseite an der Five-Rail vorbei, und wollte einen Schritt weiter nach achtern tun, als ihn fast der Schlag traf. Er glaubte, jeden Moment verrückt werden zu müssen. Seine Zähne klapperten, er zitterte leicht und wurde aschgrau im Gesicht. Er stand nur da, starrte und brachte keinen Ton heraus. Auf der Reling des Achterdecks hockte der Riesenvogel! Unbemerkt hatte er sich hinter dem Ruderhaus niedergelassen. »Du Höllenvieh!« brach es gequält über des Profos zuckende Lippen. »Du verdammter Satansbraten. Verschwinde, du Mißgeburt, du bringst uns allen den Tod!« »Was ist denn jetzt schon wieder los, Prof ...« Das Wort blieb Hasard im Hals stecken, als er den fluchenden und leichenblassen Profos sah und vor ihm den dunklen Riesenvogel, dessen linkes Auge Carberry höhnisch zu fixieren schien. Hasard war total verblüfft. Niemand hatte bemerkt, wie sich der schwere Albatros hier niedergelassen hatte. Die ganze Meute stürzte über die Kuhl. Stenmark und Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese, stürmten allen voran aufs Achterkastell. Der Kutscher hatte sich einen Belegnagel geschnappt und schwang ihn wie ein Wilder seine Keule. 19
»An Deck kann man ihn erschlagen, hast du gesagt«, schnaufte der Kutscher, »da kann nichts passie ...« In dem Moment breitete der Albatros seine Schwingen aus, furchterregend und drohend, sie überspannten fast das halbe Deck. Die Männer wichen zurück, als der große Schnabel sich öffnete, die Schwingen einmal die Luft peitschten und der Riesenvogel in den Beinen einknickte, um sich dann fallen zu lassen. Noch im Fall schlugen die Schwingen weiter und hoben den großen Körper schwerfällig in die Luft. Danach begann er elegant zu segeln, beschrieb eine Kurve, schraubte sich in den greifbar nahen Himmel und verschwand darin. Hasard sah seine Leute an, der Reihe nach. Er musterte die blassen, bleichen und grauen Gesichter, dann lachte er plötzlich los, daß man seine, weißen Zähne blitzen sah. »Der Vogel ruht sich doch nur aus«, erklärte er, »der ist doch völlig harmlos. Wahrscheinlich ist er nur vor einem Sturm geflüchtet, der uns noch einholen wird. Ob ihr in tötet oder nicht, hat auf das Wetter nicht den geringsten Einfluß. Außerdem hätte ich es nicht zugelassen.« »Und die Meermänner, die vorhin am Schiff gekratzt haben?« hielt Carberry dagegen. »Jetzt hat das Kratzen aufgehört, weil ich eine Flasche über Bord geworfen habe, mit der sie spielen können. Ich sage euch, der Vogel bringt noch mehr Unglück über uns, schon weil er sich auf dem Schiff niedergelassen hat.« Diesmal sollte der Profos allerdings recht behalten, auch wenn Hasard ihm das auszureden versuchte. Und damit fand der alte Aberglaube wieder neue und reichliche Nahrung.
3. Kurz vor Mitternacht ging es los.
Die Nacht war pechschwarz und die Luft knisterte. Den
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Seewölfen kribbelte es in den Händen, im Gesicht, am ganzen Körper. Der Himmel war nicht mehr zu sehen, die ›Isabella‹ segelte in dem rätselhaften Wind auf dem alten Kurs weiter, in einer Schwärze, wie sie noch keiner von ihnen erlebt hatte. Selbst Hasard wußte nicht mehr wo sie waren, ob er dem Kompaß trauen konnte, ob sie nicht direkt ins Verderben segelten. In den Pardunen und dem laufenden Gut fing sich klagend der Wind. Diese Nacht direkt im Schlund der Hölle zerrte an den Nerven der Männer und ließ sie ihre Ohnmacht und Hilflosigkeit ganz besonders deutlich spüren. Die Angst ging jetzt stärker um als vor einigen Stunden. Dan O’Flynn hockte wieder im Großmars ohne seinen Liebling Arwenack, der sich immer noch verkrochen hatte. Und Dan fühlte sich in seiner Haut gar nicht mehr wohl. Er hatte gerade vor einer halben Stunde Sam Roskill abgelöst, und ihm wäre es lieber gewesen, wenn Sam jetzt statt seiner hier hockte. Hinter der Segeltuchverspannung hatte er sich auf die Knie gehockt, drehte den Kopf immer wieder in alle Richtungen und versuchte, etwas zu sehen. Er sah nichts, absolut nichts. Dafür hörte er hier oben den Wind eine wehmütige Elegie singen, ein Todeslied, eine Melodie, die aus einer anderen Welt stammte. Vielleicht kam sie direkt aus dem Totenreich, dachte er schaudernd. Wenn er nach unten blickte, sah er nur die Positionslichter, und auch die blinkten so schwach, daß er sie nur mit Anstrengung wahrnahm. Das Schlimmste war, daß er hier oben ganz allein war. Nicht einmal der Affe war da. Am Tag hatte er wenigstens die Stimmen der Männer in der Kuhl gehört, jetzt waren die längst verstummt. Wer nicht unbedingt etwas an Deck zu tun hatte, hielt sich im Vorschiff auf in Sicherheit, dort, wo ihn keine Geister und keine Seelen Verstorbener erreichen konnten. »He, Luke!« brüllte er in einer plötzlichen Anwandlung von 21
Angst. »Liegen wir noch richtig auf Kurs?« Luke Morgan, der im Ruderhaus stand, zuckte zusammen, als er die Stimme aus dem Großmars vernahm. Neben ihm stand Bob Grey, die beiden Männer hatten sich gerade die schlimmsten Geschichten erzählt, die sie kannten, und das hatte ihrer Phantasie mächtig eingeheizt. Dennoch waren sie froh, eine dritte Stimme zu hören. »Ja, wir liegen noch auf Kurs!« brüllte Morgan zurück. »Und wie geht es dir da oben?« »Verdammt mulmig, kann ich dir sagen. Ist Bob bei dir?« »Klar, er ist bei mir.« »In Ordnung!« Dan schluckte. Zuerst wollte er Bob bitten, ihm etwas zu trinken zu bringen, aber so wie er den kannte, traute der sich nicht mehr aus dem Ruderhaus heraus. Und dann hätte es wahrscheinlich auch sehr dumm ausgesehen, dachte er. Sie hätten genau gewußt, daß er Angst hatte, und das konnte er doch schlecht zeigen. Dan preßte die Lippen zusammen und seufzte. Gegen zehn Kerle in der übelsten Kneipe hätte er es jetzt gern aufgenommen, sich geprügelt oder verprügeln lassen. Kein Problem. Aber ein Problem war es, in dieser lausigen Nacht, bei diesem lausigen Wetter in diesem noch lausigeren Großmars zu hocken und nichts zu sehen. Oder doch! Sah er da nicht etwas? Er kniff die Augen zusammen und spähte angestrengt voraus. Steuerbord voraus schien sich etwas in der tintenschwarzen See zu bewegen. Wie eine winzige Flamme sah es aus. Angestrengt starrte Dan weiter in die Richtung und glaubte, seinen eigenen Augen nicht mehr zu trauen. Da zuckte doch etwas übers Wasser! Eine winzige, tanzende Flamme von unwahrscheinlich hellblauer Farbe hüpfte auf und nieder. Mal wurde sie größer, dann wieder kleiner. Mal lief sie nach Steuerbord, gleich 22
darauf wieder nach Backbord, bis sie verlöschte und an einer anderen Stelle wieder auftauchte. Dans Mund war trocken, mit der Zunge befeuchtete er aufgeregt die Lippen. Einen Moment schloß er die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand die Flamme zum Schiff fast voraus. Jetzt war sie größer geworden, flackerte unruhig und lief über das schwarze Wasser. Gleich darauf schabte es einmal ganz kurz unter dem Schiffsrumpf. Die Seele eines Ertrunkenen! dachte Dan entsetzt. Sie geisterte über dem Wasser und hoffte darauf, daß ein Schiff erschien und sie an Bord nahm. Aber das durfte nicht geschehen. Nie, niemals durfte man sie an Bord lassen, weil sie nur Unheil über Schiff und Mannschaft brachte. Dan war hundeelend zumute. Hier, ganz in der Nähe, mußte irgendwann mal jemand ertrunken sein. Ein Seemann natürlich, der auf dem Grund des Meeres keine Ruhe gefunden hatte. O’Flynn hörte seine eigenen Zähne klappern. Nur Mut, sagte er sich, nur Mut. Man muß so tun, als sähe man die Seele des Ertrunkenen nicht, dann wird sie einen auch nicht weiter belästigen. Hastig blickte er in eine andere Richtung, zum Ruderhaus hinunter, wo Bob Grey und Luke Morgan standen. Hatten sie etwas bemerkt? Es sah nicht so aus. Hinter dem Ruderhaus stand eine weitere Flamme tanzend auf dem nachtschwarzen Wasser. Auch sie bewegte sich zögernd, als wüßte sie nicht, welche Richtung sie einschlagen sollte. Zwei Ertrunkene, dachte Dan entsetzt. Schiffbrüchige vielleicht, die hier untergegangen waren. Seine Knie zitterten, seine Hände wurden naß, und am ganzen Körper brach ihm kalter Schweiß aus, obwohl die Luft um ihn herum dumpf und brütend war. Er hockte sich hin, klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Körper, ihm wurde schlecht vor Angst. 23
Erst nach einer ganzen Weile schaute er sich wieder um. Zum Glück hatte die eine Flamme es sich anders überlegt und war verschwunden, weil er sie einfach ignoriert hatte. Nur die andere geisterte immer noch übers Wasser, unschlüssig, wohin sie laufen sollte. Carberry muß her, dachte Dan entsetzt. Der seebefahrene Profos hatte schon einmal die Meermänner vertrieben, warum sollte es ihm nicht gelingen, auch die Seelen Ertrunkener zu beruhigen? Carberry hatte gegen alles ein Wundermittel. Aber Carberry schlief! Vielleicht kriegte der Profos einen Tobsuchtsanfall, wenn er ihn jetzt, mitten in der Nacht, weckte. Dan war es egal, er hielt das nicht mehr länger aus, dieses kleine verdammte Feuer, das ständig vor dem Schiff herhuschte und auf eine Gelegenheit wartete, an Bord zu schlüpfen. Entschlossen richtete er sich auf, um abzuentern, und den Profos zu wecken. Sollte der toben, wie er wollte. Dan gelangte allerdings nicht weit. Ein weiteres blaues Flämmchen lähmte alle seine Glieder. Es war auf die Rahnock gesprungen, tanzte hin und her und flackerte hellblau und leuchtend. Mal sah es aus wie ein kleiner Stern, dann wieder wie eine huschende Flamme. Es war nicht größer als eine normale Hand. Das sternenähnliche Gebilde wurde immer heller und begann zu strahlen. Dan stieß einen leisen Schrei aus. Wie war das Ding nur so schnell an Bord gekommen? Er fand keine Erklärung dafür. Es mußte mit einem gewaltigen Sprung aus dem Wasser geschnellt sein, denn Luke oder Bob hatten es bestimmt nicht an Bord genommen. Oder und jetzt fiel Dan siedendheiß etwas Fürchterliches ein war es Scinders Geist, der Mann, der im Morgengrauen tot an der Rahnock baumelte, von einem Unbekannten heimlich aufgehängt? War er jetzt erschienen, um sich an denen zu rächen, die ihn ermordet hatten? 24
Dan war es so übel wie noch nie in seinem ganzen Leben. Hilflos hockte er hier oben, Geistern und Gespenstern ausgeliefert, die ihn stumm beobachteten. Er versteckte sich hinter der Segeltuchbespannung des Ausgucks und ließ sich auf den Boden nieder, um das schreckliche Totenlicht nicht länger sehen zu müssen. Verdammt und zugenäht, daß sich weder Luke noch Bob meldeten. Sie mußten den Geist des Gehenkten doch auch sehen, oder hatten sie sich ebenfalls vor lauter Angst verkrochen? Es dauerte lange, bis er zögernd den Kopf hob. Der Geist des Toten war am Verblassen. Wie ein glühender kleiner Ascherest hockte er nun auf der Rahnock und wurde immer kleiner. Damit er Dan nicht sah, enterte er ab, so schnell er konnte. An Deck angelangt, fegte Dan mit drei mächtigen Sprüngen zum Vordeck, riß das Schott zum Niedergang auf, knallte es hinter sich zu und raste, wie von Furien gehetzt, in die Mannschaftsräume. Im zweiten Logis schlief der Profos. Vor seiner Koje baumelte eine Ölfunzel, die schwach brannte. Hastig schraubte Dan sie höher. Ed Carberry starrte ihn an. Er hatte nicht geschlafen, sondern nur vor sich hin gedöst. Einschlafen konnte er nicht, dazu war ihm das Wetter nicht geheuer und erst recht nicht das Meer, das sie jetzt befuhren. »Mein Gott, Junge«, sagte er entsetzt, »wie siehst du denn aus? Was ist passiert? Du bist blaß wie die Haut eines Fisches.« Dan kriegte kaum die Zähne auseinander. Er starrte den Profos an, von dem er sich sein Seelenheil erhoffte. »Ed!« keuchte er. »Auf dem Mast hockt der Geist eines Gehenkten, und im Wasser tanzen zwei Flammen.« Mit einem Satz war der Profos auf den Beinen. »Was sagst du da? Wie sehen sie aus?« »Ddddder ... auf der Rahnock ist hellblau und sieht aus wie ein kleiner Stern, die beiden anderen sind länglich und und 25
nicht ganz so hellblau. Sie laufen vor dem Schiff her.« »Hast du den Seewolf geweckt?« »Nein, ich dachte, dddduu könntest vielleicht ...« Der Profos fuhr schweigend in seine Stiefel. Sein Gesicht war sorgenvoll umwölkt, sein mächtiges Kinn stach wie ein Amboß in die Luft. »Wenn er wie ein Vogel aussieht, bedeutet das Rettung aus drohender Sturmgefahr«, erklärte er. »Sieht er aber wie ein Stern aus, so können sich Teufel, Feuergeister oder Drachen dahinter verstecken. Sie täuschen Sonne, Mond und Sterne vor, das sind die gefährlichen. Dann gibt es noch welche, hinter denen sich die drei Schutzheiligen der See verbergen. Meist sind sie gutmütig. Sitzen sie aber auf den Masten oder liegen an Deck, dann kann es übel für uns werden.« Dan schlotterte jetzt am ganzen Körper. Wenigstens kannte sich der Profos mit Geistern aus, da hatte er also genau den richtigen Mann geweckt. »Hast du sie schon mal gesehen, Ed?« fragte Dan erschüttert. »Ein paarmal schon, meist nur flüchtig. Aber ich weiß, wie man sie zur Ruhe bringt. Vor allem darf man sich nicht aufregen und muß so tun, als wäre es ganz normal, daß sie da sind. Und die Begrüßung darf man nicht vergessen, denn die erwarten sie mit Sicherheit von einem ehrlichen Mann.« Dan starrte den Profos an, diesen alten Seemann, der sich überall auskannte, der über alles Bescheid wußte, und der noch einigermaßen ruhig blieb, wenn etwas Außergewöhnliches geschah, so wie jetzt die Sache mit den Geisterlichtern. »Man man muß sie begrüßen?« fragte er angstvoll. »Klar, nur darf man keine Angst dabei zeigen. Die auf den Masten sitzen, die nennt man Dioskuren, aber man darf sie nicht anfassen, sonst faulen einem die Hände ab. Komm, wir gehen, ich gehe vor!« Dan war heilfroh, den Profos vor sich zu haben. Ed war ein Kerl, der auch mit solchen Situationen fertig wurde. Angst 26
hatte er zwar, aber nicht so wie Dan. In Batutis Koje regte sich etwas. Dan O’Flynn schrak heftig zusammen. »Sein schon Morgen?« murmelte Batuti. »Nein, Mitternacht. Es sind Geister an Bord erschienen«, erwiderte der Profos mit belegter Stimme. »Ich werde sie begrüßen, dann verschwinden sie wieder.« »Geister?« Batuti, der riesenhafte Gambianeger rollte wild mit den Augen. Dann bekreuzigte er sich hastig, zog sich die Decke bis zu seinem Wollschädel und begann zu zittern. »Batuti schlafen«, bibberte er unter der Decke dumpf hervor. »Sagen Geist, Batuti immer gutes Mann, aber kann nicht selbst kommen, weil Batuti sehr, sehr müde. Morgen Geist begrüßen ...« Ein dumpfes Röcheln tönte unter der Decke hervor. Dan und der Profos stiegen an Deck, Carberry etwas zögernd, Dan voller Furcht. Er wollte schon nach des Profos Arm greifen, aber im letzten Augenblick hielt er sich noch zurück. Auf dem Vorderdeck blieb Carberry stehen, wie vom Donner gerührt. Auf der Rahnock tanzten zwei kleine Flammen, auf dem Wasser liefen ebenfalls kleine Flämmchen, die das Schiff begleiteten. Sie zuckten und flackerten, waberten, erloschen mitunter, entstanden aufs neue. Manche liefen paarweise davon, wie lange Schnüre, die unheimlich glühten, sahen sie aus. Vereinzelte waren so lang wie ein Arm. Der Profos blieb in merkwürdig verkrampfter Haltung auf dem Vordeck stehen. Es kostete ihn unheimliche Anstrengung, den Mund zu öffnen, der ihm nicht mehr gehorchen wollte. Klar, er hatte schon von diesen Dingern gehört, und auch selbst mal einige aus der Ferne gesehen. Stand man jetzt in dieser pechschwarzen Nacht aber persönlich vor ihnen, dann war das etwas ganz anderes. »Salve Corpo Santo!« sagte er heiser. Seine Stimme hörte sich an, als sei sie seit Jahren eingerostet. 27
»Salve Corpo Santo!« wiederholte er. Dan hatte sich hinter Carberrys breitem Kreuz versteckt, wo er sich einigermaßen in Sicherheit glaubte. Da vernahm er plötzlich hinter sich eine Stimme und dachte, er müsse vor Schreck auf der Stelle tot umfallen. »Was ... was ist das?« flüsterte Bob Grey, der sich auf allen vieren über die Kuhl bis aufs Vordeck geschlichen hatte. »Du gottverdammtes Stinktier!« wurde er von Dan angefaucht. »Du elende Mißge ...« Dan mußte den Schrecken einfach abreagieren, doch er hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als ihn die harte Faust Carberrys packte und dicht zu sich heranzog. »Bist du von Gott verlassen, du Rotznase?« knurrte der Profos unterdrückt. »Du kannst doch hier nicht fluchen. Willst du etwa, daß sie uns mit Haut und Haaren verschlingen? Los, sag deinen Spruch auf, oder ich ziehe dir die Haut in Streifen von ...« Carberry unterbrach sich erschreckt. Heftig biß er sich auf die Zunge, daß es schmerzte. »Salve Corpo Santo!« Wie ein dünner Hauch wehte Dans Stimme über das Deck. Bob Grey mußte ebenfalls die Begrüßungsformel murmeln, sonst hätte der Profos ihn mit Haut und Haaren verschlungen. Noch einmal hallte ein kläglich dünnes Stimmchen über das rabenschwarze Wasser. Die Seelen der Ertrunkenen reagierten. Einige von ihnen wurden merklich kleiner und blasser und liefen in rasender Eile übers Wasser. Andere flackerten unruhig, wurden größer und eilten ebenfalls davon. Aber etwas später fanden sie sich weit vor dem Schiff wieder zusammen. Einige verlöschten schlagartig, und ein kleines von lilablasser Farbe stieg senkrecht in den Himmel. »Misericordia!« schrie der Profos laut, als das Ding Anstalten machte, sich auf der Nock des Großmastes niederzulassen. Es 28
verging noch in der Luft, wurde trüb, verblaßte, verschwand und löste sich in Nichts auf. Der Profos stieß erleichtert die Luft aus. »Das »Misericordia!« hilft meistens, wenn sie zu aufdringlich werden oder die Seeleute nur necken wollen. Gegen den Teufel selbst hilft es allerdings nicht, denn der hat sie ja erfunden.« »Was der Profos alles weiß«, flüsterte Bob Grey. »Das kennen viele Leute.« Carberry winkte ab und beobachtete mißtrauisch die immer noch flackernden Lichter. »Der Teufel hatte sich vor langen Jahrhunderten einmal einen Dreimaster gebaut, von seinem eigenen Grund und Boden allerdings, und dieses Schiff roch greulich nach Schwefel und verbreitete Gestank auf dem gesamten Meer. Als Besatzung hatte er die Seelen von Verdammten, Galeerensklaven und ähnlichen Leuten hineingesetzt, und die quälte er nun pausenlos, wie er gerade Lust hatte. Eines Tages, als er gerade wieder einmal eine arme Seele in den Kessel tauchte und dabei höllisch lachte, wurde es Sankt Elmo, der ihn beobachtete, zuviel, und er versetzte dem Höllenschiff einen so gewaltigen Stoß, daß es sofort sank. Der Teufel konnte sich gerade noch durch Schwimmen retten. Wenn nun die Nacht sehr dunkel und sehr warm ist, dann brennt das Schiff wieder in Flammen aus reinem Schwefel unten am Grund, und ein paar Flammen lösen sich und steigen nach oben. Aber in ihnen sitzt ein Teil des Teufels, und der ahmt die Sterne nach. Da, da ist wieder eins«, unterbrach sich Ed. Ein eigentümliches Gebilde begann plötzlich aus dem Wasser zu wachsen, es hatte tatsächlich den Anschein, als steige es direkt vom Grund des Meeres auf. Es glich einer kleinen, handtellergroßen Feuersäule aus bläulichweißem Licht. Das Oberteil neigte sich ständig, während sich die Säule selbst auf unsichtbaren Beinen bewegte. »Misericordia!« Der Profos hatte seinen alten Tonfall wiedergefunden und brüllte das Beschwörungswort auf die See 29
hinaus. Die irrlichternde Erscheinung störte sich jedoch nicht daran, ganz gemächlich wanderte sie auf die Bordwand zu. »Verdammt!« knurrte der Profos, der jetzt mit seiner Weisheit am Ende war, weil es den Anschein hatte, als schicke sich die Leuchterscheinung an, die Bordwand zu erklimmen. »Wir scheinen direkt über der Stelle zu sein, wo Sankt Elmo damals das Schiff des Teufels versenkt hat. Hört ihr das nicht?« Leises Klagen durchdrang die gespenstische Stille. Es war, als flüsterten die Lichter leise miteinander. Wie Töne aus einer anderen Welt drang es herüber. Erschreckt und verstört drehte sich der Profos herum. Hinter ihm stand niemand mehr. Vom Grauen geschüttelt waren Dan und Bob heimlich verschwunden und hatten sich unter Deck verschanzt. Ein leichter Ruck ging durch das Schiff. Erneut begann das Kratzen und Schaben, als liefe die ›Isabella‹ ganz leicht auf eine Sandbank. Die Lichter und Leuchterscheinungen nahmen ständig zu. Gespenstisch erhellten sie an manchen Stellen die Nacht, lohten bläulich zum Himmel und hoben die Konturen der Segel diffus leuchtend hervor. Der Profos war nicht nur mit seiner Weisheit, sondern auch mit seinen Nerven am Ende. Er spürte, wie es ihn schüttelte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und seine Hände schweißnaß wurden. Hier half nichts mehr, stellte er fest. Aber er nahm sich vor, dem Ding, das die Bordwand erklomm, mächtig eins mit dem Belegnagel zu verpassen, und wenn er dabei starb. Diese Totenseelen durften auf keinen Fall an Bord steigen. Fasziniert und ängstlich zugleich sah er, wie das bläuliche Flackern größer wurde, wie es die Bordwand hochglitt, wie es schob und drängte und der gasförmige Körper auseinanderfloß, bis er die Reling erreichte und sich darauf niederließ. 30
Dem Profos gingen die Nerven durch. Er tastete sich rückwärts gehend zur Nagelbank. Da geriet ihm Tuckers mächtige Axt zwischen die Finger, die unter der Nagelbank lag. Mit einem Griff packte er sie, schloß die Augen, stürmte vor, öffnete die Augen wieder und schlug mit aller Kraft zu. Dabei schrie er wütend sein: »Misericordia!« Die schwere, mörderische Axt des Schiffszimmermannes knallte mitten in das glosende und wabernde Licht, spaltete es in der Mitte und hieb es auseinander. Und da sah Carberry zum erstenmal in seinem Leben etwas, das ihm buchstäblich den Verstand raubte. Das kaltglimmende Blaulicht sprang auf die Schneide der Axt, wanderte in zwei Hälften daran hoch und verschmolz an der Seite zu einer Einheit. Ed Carberry, der Profos, der vor nichts und niemanden Angst hatte, und wenn es zwanzig Mann auf einmal waren, stieß einen brüllenden Schrei aus, warf die Axt von sich, als hätte er sich die Finger an ihr verbrannt, und raste wie ein Irrer über die Kuhl. Sein Gebrüll und Getrampel auf dem Holzdeck brachte im Nu alles an Bord auf die Beine, bis auf Batuti, der mit einem Schrei aus seiner Koje fuhr, ein Brett aus dem Unterbau losriß und sich in der entstandenen Lücke versteckte. Hasard, den der brüllende Schrei geweckt hatte, er war durch das Kratzen und Schaben schon einmal wach geworden, erschien auf dem Achterdeck, wo totenblasse Männer herumstanden. Er sah ein einmaliges Schauspiel von solcher Eindringlichkeit und so unheimlich, wie er es noch nie erlebt hatte. Die Segel waren gebläht, obwohl er nicht den geringsten Windhauch spürte. Das Schiff lief allem Anschein nach gute Fahrt, obwohl es unter dem Rumpf ständig knisterte und schabte. 31
Das war es aber nicht, was sich dem Seewolf in die Seele brannte. Die ›Isabella‹ segelte in einem bläulichschillernden Licht, das die Nacht geisterhaft erhellte, die Konturen seltsam tot erscheinen ließ und den erstarrten Männern eine totenähnliche fahle Blässe verlieh. Auf dem Wasser tanzten Flammen, immer mehr wurden es. Sie hüpften aufgeregt hin und her, schienen zu knistern, huschten von einem Ort zum anderen, schwangen sich plötzlich in die Luft und vergingen dort wie durch Zauberhand. Wieder andere krochen dem Schiff entgegen, huschten auf die Reling oder ließen sich ganz oben auf den Rahen nieder, wo sie schwerfällig entlangkrochen, sich in die Länge zogen, vergingen oder wieder aufrichteten und das teuflische Spiel wiederholten. Lange sprach Hasard kein Wort. Er sah die starren Gesichter der Seewölfe, die mit dieser einmaligen Situation nicht fertig wurden, er sah die nackte Angst in ihren Gesichtern, das kalte Grauen, das über ihre Körper kroch und sie frösteln ließ. Tuckers rote Haare hatten sich aufgerichtet, als zöge jemand Unsichtbarer daran. Fast senkrecht standen sie von seinem Schädel ab. Ein Raunen ging durch die Reihen der Männer, ein unterdrücktes Stöhnen, das ihre hilflose Angst verriet. Hasard spürte diese fremde Aura ebenfalls und suchte verzweifelt nach einer glaubwürdigen Erklärung dieses Schauspiels. Er fand keine, die einigermaßen plausibel war, natürlich, es mußte sich um ein Naturphänomen handeln, aber von welcher Art war es? Und die Flammen vermehrten sich zusehends. Aus dem Grund des Meeres schienen sie zu steigen. Die ›Isabella‹ segelte mitten hinein, durch sie durch, teilte sie, ließ sie zur Seite ausweichen. Das Kratzen und Schaben am Rumpf wurde stärker und lauter. Immer unheimlicher begann es zu werden. Trotz der vielen 32
tausend kleinen Flämmchen, glaubte Hasard, noch nie eine derart dunkle Nacht erlebt zu haben. »Die Seelen ertrunkener Seeleute«, hauchte jemand. Es war Smoky, der mit weitaufgerissenen Augen dastand und merkwürdig verkrampft wirkte. »Sie wollen an Bord«, murmelte er. »Sie sind längst an Bord, und wir werden sie nicht mehr los«, sagte der Profos erschüttert. Schnell trat er einen Schritt zurück, als eins der blauen Flämmchen auf ihn zukroch und dann gemächlich die Reling bis nach achtern entlangwanderte. »Es werden immer mehr, hier müssen ganze Schiffe untergegangen sein«, bemerkte Carberry in das entsetzte Schweigen hinein. »Eine ganze Armada, vielleicht waren es Spanier.« »Deine Beschwörungen haben nichts genutzt«, hielt ihm Tucker vor. »Weißt du nicht noch ein anderes Mittel?« »Nein, es gibt keins mehr.« Der Profos war ratlos. »Fluchen hilft jedenfalls nicht, das weiß ich, und von Bord kann man sie, nicht mehr vertreiben. Wir müssen sie mitnehmen, ob wir nun wollen oder nicht. Es kann nur sein, daß sie bei Tage wieder verschwinden. Verdammt, wenn doch nur Land in der Nähe wäre, wo man diese Dinger nicht sieht. Ich würde mich sofort verstecken.« Wenn der Profos so sprach, dann war es ein schlechtes Zeichen, das die anderen nicht gerade ermunterte. Noch stärker wurden sie sich ihrer Hilflosigkeit bewußt. Die Männer sahen Hasard an, sein Gesicht, das schwach vom Widerschein der tanzenden Flammen erhellt wurde und fahl und geisterhaft bei dieser Beleuchtung erschien. Der schwarzhaarige Mann hob ratlos die Schultern, als er die Blicke seiner Crew bemerkte. »Tut mir leid, ich weiß auch keinen Rat«, sagte er schwer. »Ich denke jedoch, wir sollten keine Angst zeigen, es sieht so aus, als wären diese Erscheinungen harmlos.« 33
»Harmlos?« Smoky kicherte nervös. »Ed hat gesagt, wenn man sie anfaßt, faulen einem die Hände ab! Von wegen harmlos! Ich möchte nicht mit ihnen in Berührung geraten! Das hier ist die fürchterlichste Nacht meines ganzen Lebens.« Die anderen nickten zustimmend. Sie murmelten nur leise, den meisten hatte es die Sprache verschlagen. Der Seewolf wollte nicht, daß sich seine Männer an dieser Sache die Nerven aufrieben. Es war schlimm genug, was um sie herum passierte, und er selbst schloß sich von dieser mehr als bedrückenden Stimmung nicht aus. Es kostete ihn eine ungeheure Überwindung zu sagen: »Die Hände sollen einem abfaulen? Pah, das glaube ich nicht. Ich werde es euch zeigen!« Carberrys schriller Zuruf hielt ihn noch einmal zurück. »Tu’s nicht, Hasard! Faß die Totenlichter nicht an, oder du wirst auch sterben!« »Unsinn«, sagte der Seewolf grob. Er streckte die Hand aus, um eines der pulsierenden, lebend scheinenden Lichter zu berühren. Immer mehr näherten sich seine Finger dem flackernden Ding auf der Reling. Alle starrten gebannt den Seewolf an, dessen Hand nur noch fingerbreit von dem Gebilde entfernt war. Hasard kam nicht mehr dazu, das Etwas zu berühren. Ein harter Ruck ging durch die ›Isabella‹, der Bug hob sich, die Männer wurden nach vorn geschleudert. Und dann saß das Schiff unvermittelt fest. Aber auf was saß es fest?
4. Entsetztes Schweigen herrschte an Bord. Diese Nacht des Grauens schien kein Ende zu nehmen. Hasard riß sich als erster aus seiner Erstarrung. Sein Blick 34
wanderte in die Takelage, in der es bläulich schimmerte und blinkte. Noch waren die Segel gebläht, doch sie bewegten das Schiff nicht mehr. »Runter mit dem Zeug!« befahl er laut. Ängstliche Gesichter sahen ihn an. »Jetzt in die Wanten?« fragte Smoky ungläubig. »Wann denn sonst?« erwiderte Hasard scharf. »Wir sitzen fest, der leichte Wind drückt das Schiff weiter. Wenn wir die Segel stehen lassen, schrammen wir noch weiter auf. Ich bin es nicht gewohnt, daß ich zweimal befehlen muß. Profos! An die Arbeit!« »Aye, aye, Sir!« Die Männer enterten auf. Dan war schon in der Takelage und half kräftig mit, obwohl ihn die Angst nur so schüttelte. »Das wird sie wenigstens etwas ablenken«, sagte Hasard zu Ben Brighton, der mit grauem Gesicht in der Kuhl stand. Und dann trat noch Batuti hinzu, der wild mit den Augen rollte. Der Gambianeger hatte wohl noch mehr Furcht als alle anderen. Seine Hände fuchtelten aufgeregt vor Hasards Gesicht herum. »Batuti glauben, Schiff ist auf Magnetfelsen gelaufen. Jetzt großer Magnet ziehen alle Nägel aus Schiffsboden. Ziehen solange, bis ganzes Schiff auseinanderfällt.« »Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?« fragte Hasard. »Profos haben früher mal gesagt, Profos wissen immer ...« »Ja, der Profos weiß alles über Geister. Und wenn du jetzt nicht gleich in die Takelage enterst, zieht der große Magnetfels dir sämtliche Nägel aus dem Hintern!« Batuti flitzte ab, mit aschgrauem Gesicht, wild rollenden Augen und Beschwörungsformeln, die er laut vor sich sprach. Aus der Takelage ertönten Rufe der Angst, als die Elmsfeuer weiter wanderten, an den Männern vorbeigeisterten und Smoky mitten in eines hineingriff. Sein Schrei brachte den anderen das Zittern bei. Er hatte das blaue kalte Feuer gespürt, es war mitten durch seine Hand 35
gewandert, und nun war der Deckälteste nicht mehr zu halten. Wie von Sinnen enterte er ab, brüllte und schrie nach dem Kutscher. »Meine Hand fault ab, Kutscher! Hilf mir doch, verdammt!« Hasard stand diesem Ausbruch hilflos gegenüber. Er wußte nicht, was er tun sollte. Smoky wieder nach oben jagen? Der hätte sich lieber erschießen oder kielholen lassen, als noch einmal in die Takelage zu entern. Mit dem Mann war im Augenblick nicht zu reden. Mit keinem war mehr zu reden, überlegte der Seewolf. Selbst mit Ben nicht, obwohl der sich alle Mühe gab, seine Angst zu verbergen. Aber die ließ sich einfach nicht unterdrücken, es war die angeborene Angst, der Urinstinkt vor dem Ungewöhnlichen, dem Fremden, vor etwas, das ihnen noch nie begegnet war. Der Kutscher schnitt ein ratloses Gesicht. Der Feldscher, der bei Sir Freemont gedient hatte und viel von der Medizin verstand, war mit seiner Weisheit am Ende. »Was soll ich denn dagegen tun?« fragte er hilflos und sah den Seewolf an. »Hack ihm doch die Hand ab«, sagte Hasard brutal, »dann kann sie ihm nicht mehr abfaulen. Dahinten liegt Ferris große Axt.« Das wirkte. Smoky betrachtete noch einmal seine Hand, fand, daß sie noch ganz gut aussah, und verzog sich unauffällig. Inzwischen waren die Segel aufgegeit. Jeder, der mit dieser Arbeit zutun gehabt hatte, enterte so schnell wie möglich wieder zum Deck hinunter. Hasard hatte inzwischen Lampen entzünden lassen, ebenso ein paar Talglichter, die das Deck erhellten. Eine der Öllampen schwang er über die Reling und leuchtete außenbords. Zu sehen war nichts. Unter ihnen lag eine schwarze Schicht, die genau so gut Land wie auch Wasser sein konnte. Kein Mensch konnte sich in dem gefährlich wirkenden Flackern der 36
unzahligen Irrlichter noch orientieren. Und es wurde immer schlimmer. Überall auf den Mastspitzen standen sie, an der gesamten umlaufenden Reling, auf der Schmuckbalustrade hüpften sie entlang, krochen den Fockmast hoch. Auf dem Wasser tanzten sie einen gespenstischen Reigen. Wie ganze Heerscharen von Fackelträgern sahen sie aus, die in eine bestimmte Richtung zogen, an deren Ziel sie erloschen, aber dann von einer gänzlich anderen Richtung plötzlich wieder auftauchten. Dan O’Flynn, der neben Hasard stand und die zweite Lampe hielt, war völlig verstört. Schon zum drittenmal wiederholte er, er könne nichts dafür, daß das Schiff so plötzlich aufgelaufen sei und sich festgesetzt hätte. Hasard winkte ärgerlich ab. »Niemand macht dir einen Vorwurf. Man sieht ja die Hand vor Augen nicht. Und aus dem Großmars sieht man schon gar nichts. Leuchte mal etwas tiefer hinab.« Dan beugte sich noch weiter über die Reling. Krampfhaft versuchte er, die kleine blaue Flamme zu ignorieren, die angriffslustig auf der Reling heranmarschierte. Sie rückte näher, bis Dan entsetzt die Augen schloß. »Was ist das nur für ein merkwürdiges Geräusch?« fragte Hasard. Er hatte keine Antwort erwartet, und er erhielt auch keine. Dafür hörten es alle jetzt immer deutlicher. Ein leises Zischen drang aus dem Wasser, dazwischen ertönten leises Blubbern und Brodeln, als koche ein großer Kessel voll Wasser. Das ließ alles noch unheimlicher werden, zumal weder der Seewolf noch Ben Brighton etwas sah. Der kalte Schein, den die Lichter abstrahlten, trug nicht das geringste dazu bei, den Untergrund erkennen zu können. Die Lichter verstrahlten ihr Licht schwach nach oben und nach den Seiten. Selbst Hasard zuckte zusammen, als hinter ihm ein Schrei losbrach, so grell und durchdringend, daß er jedem durch Mark 37
und Bein ging. Schnell drehte er sich um. Im Schein der schwach flackernden Lampen, die an Deck standen, tobte der Affe Arwenack durch die Kuhl. Niemand entsann sich, den Affen je in einem derartigen Zustand gesehen zu haben. Der Schimpanse heulte und schrie, riß sich an den Haaren, sprang auf und nieder, und als einer der Männer ihn anfassen und beruhigen wollte, fletschte er böse die Zähne, schnappte nach dessen Hand und wollte beißen. Er durchraste die Kuhl, schaurig klagend, flitzte über das ganze Achterdeck und schrie immer weiter. Sein rasender Lauf fand kein Ende, auch dann nicht, als er auf die Back flitzte. Sofort hetzte er weiter durch die Kuhl und wieder aufs Achterdeck. »Gott steh uns allen bei!« murmelte Ferris Tucker, der den tobenden Affen mit den Blicken verfolgte. Selbst Dan, Arwenacks Liebling, gelang es nicht, den Schimpansen zu beruhigen. Das Tier hatte eine mörderische Angst, sie sahen es an seinen gebleckten Zähnen, den rollenden Augäpfeln und hörten es an dem nervtötenden Kreischen. Hasard atmete erleichtert auf, als der Affe plötzlich in den Niedergang sauste und der Kutscher rasch das Schott hinter ihm zuschlug. Unten tobte er weiter. Hasard wollte sich jetzt Gewißheit verschaffen, er selbst wollte nicht länger dieser Marter ausgesetzt sein, die kein Ende nahm und alle verrückt werden ließ. Mit keinem war mehr vernünftig zu reden. »Ed!« rief er. »Bring das lange Tau mit, das vorn auf der Back liegt. Beeil dich!« Als der Profos mit dem langen dünnen Tau erschien, nickte der Seewolf zufrieden. Sein Gesichtsausdruck sagte den Männern nichts. Er schien ruhig und beherrscht zu sein. Er schlang sich das Tau unter den Armen durch, dann drehte er sich zu Carberry herum, der mit hängender Kinnlade zusah. 38
»Wozu soll das gut sein?« fragte der Profos mit belegter Stimme. Hasard lächelte unmerklich. »Gib gut auf das Tau acht, Ed. Ich werde mich überzeugen, wo wir hier eigentlich sind.« »Überzeugen?« fragte der Profos gedehnt. »Heißt das etwa, du du willst dort hinaus ins Ungewisse?« »Das heißt es.« »In in die Flammen?« stotterte Carberry. »Es sind kalte Flammen. Wir hängen irgendwo fest, und wir müssen herausfinden, wie unsere Umgebung aussieht.« »Da da kann kein Mensch hinausgehen«, widersprach der Profos. »Er wäre sofort des Todes.« Hasard ließ sich nicht länger aufhalten. Er schwang sich über das Schanzkleid, drehte sich aber noch einmal um. »Halt das Tau straff, Ed!« Der Profos hatte das Tau mit seinen mächtigen Händen gepackt, aber er schüttelte den Kopf und war todernst. »Nur unter Protest, Hasard«, sagte er. »Protestiere, solange du willst!« »Wahnsinn!« stöhnte Tucker. »Was er vorhat, wird er nicht überleben, niemand würde das überleben.« Zustimmung erklang. Carberry war schon drauf und dran, die Leine an der der Seewolf hing, kurzerhand wieder einzuholen. »Profos!« Das eine Wort ertönte so drohend und zornig aus der totalen Finsternis, daß der Profos sich beeilte, die Leine abzufieren. Wenn Hasard in diesem Ton sprach, dann schwieg man am besten und gehorchte augenblicklich, sonst brach die Hölle auf. Erschauernd sahen sie mit an, wie der Seewolf in dem Meer aus Flammen verschwand, wie er darin untertauchte. Sein Körper begann in seltsam hellblauen Licht zu glühen, dann wechselten die Farben ins Weißliche, gleich darauf wieder umgekehrt. Er wirkte wie ein großer Geist aus einer anderen 39
Welt, der mit traumwandlerischer Sicherheit ein Ziel anvisierte. Plötzlich wurde er kleiner und kleiner, als entferne er sich rasend schnell. Gleich danach erschien er ihnen allen nur wie eins der vielen tanzenden Totenlichter. Ein leiser Aufschrei ging durch die Reihen der entsetzten Männer. Carberry zog leicht an der Leine, aber sie war straff und wurde unermüdlich weitergezogen. »Wir haben das Tor zur Hölle gefunden«, erklärte der Profos mit Grabesstimme. »Und ich sage euch, der Satan selbst wird an Bord steigen, um einen nach dem anderen von uns zu holen. Ich wollte, ich wäre nie geboren.« Das wünschten sich in diesem Augenblick fast alle anderen auch. »Das Tor zur Hölle«, hauchte Smoky, und alle bekreuzigten sich. »Jetzt ist es soweit, wir sind erledigt, und niemand kann uns helfen. O Gott von Hasard ist nichts mehr zu sehen!« »Der Satan wird ihn schon geholt haben«, sagte Stenmark dumpf. »Den Kapitän holt er immer als ersten.« Aber Hasard hatte noch lange nicht der Teufel geholt. Als er sich mit gemischten Gefühlen an der Bordwand niederließ, fühlte er Untergrund unter seinen Stiefeln. Er war weich und wabbelig, eine Masse aus übelriechender Substanz, die ständig im Begriff war, auf und niederzugehen. Er ließ sich mit dem ganzen Gewicht darauf nieder. Der schwabbelnde Untergrund hielt. Hasard ging vorsichtig ein paar Schritte weiter. Zum erstenmal in seinem Leben verspürte er eine niegekannte Angst und ein Gefühl totaler Hilflosigkeit. Vor, neben und unter ihm schmatzte, kochte und brodelte es wie es in einem Hexenkessel. Er glaubte Worte zu hören, leises Wispern, Stimmen, die sich kichernd unterhielten. Er biß die Zähne zusammen und ging ein Stück weiter. Sowie er ein paar Sekunden stehenblieb, spürte er, wie es mit tausend Armen nach ihm griff, ihn hinunterzuziehen versuchte, in eine 40
unbekannte Tiefe, die nicht auslotbar war. Und dann diese Tausende und aber Tausende kalten blauen Lichter, die sich ihm in den Weg stellten, als wollten sie ihn nicht durchlassen. Hasard wußte keinen Rat. Er befand sich in einer einmaligen Situation, der er sich kaum gewachsen fühlte. Was war das für ein Zeug, auf dem man gehen konnte, in dem man aber langsam versank, wenn man zu lange stehenblieb und das so übel roch! Nach Verwesung, faulenden Kadavern, die in der Sonne vergingen, süßlich, stinkend, wie der Pesthauch des Todes, der aus Gräbern weht. Er schritt durch einen giftigen Hauch, der seine Sinne benebelte, eine Ausdünstung des Todes, die ihn lahmte. Er mußte sich zusammenreißen. Die Leine in seinem Rücken war straff gespannt, als wollte Carberry ihn daran hindern, noch weiter vor zudringen, in diese eigenartige Nacht des Todes und des Unheils. Er sah die ›Isabella‹ nicht mehr, obwohl er sich noch nicht weit von ihr entfernt hatte. Sie war verschwunden, verschmolzen mit der absoluten Schwärze. Vorsichtig ließ sich der Seewolf auf Knie und Hände nieder. Unter ihm gurgelte es leise, Blasen stiegen nach oben und zerplatzten, wenn sie die Oberfläche berührten. Und immer wieder brachten sie den Geruch des Todes mit sich, den Hauch der Verwesung, der ihm fast die Luft nahm. Unter seinen forschenden Fingern spürte er eine Masse, die weich und glitschig war. An vereinzelten Stellen war sie hart, aber wenn er sie ertastete, zerbröselte das Zeug in seinen Händen. Er fühlte, wie die Masse unter ihm nachgab. Schnell stand er auf und bewegte sich ein paar Schritte weiter. Er kehrte zurück, sein Ausflug hatte ihm keine neuen Erkenntnisse vermittelt, er wußte nur, daß sie in einem Zeug festsaßen, das sich nicht definieren ließ. Eine Art Moor, vielleicht, dachte er, aber auch das stimmte nicht richtig. 41
Er zog dreimal an der Leine, für Carberry das Zeichen, daß er nun umkehrte. Sofort straffte sich die Leine, der Profos zog. Hasard fühlte, wie der Untergrund ihn hob und senkte, wie die Blasen neben ihm zerplatzten, wie die unzähligen Irrlichter vor ihm davonhuschten oder auf ihn zuglitten. Er war ausgelaugt und erschöpft, als das Schiff vor ihm auftauchte und er die Stimmen seiner Männer vernahm, die immer noch diskutierten. »Ich gehe noch einmal um das Schiff herum, Ed«, sagte Hasard. »Halte die Leine weiterhin fest. Der Untergrund ist trügerisch.« »Aye, aye«, hörte er Carberry erleichtert murmeln. Hasard stellte gleich darauf fest, daß die ›Isabella‹ in diesem zähen Zeug gefangen war von allen Seiten. Weder achtern noch vorn, weder an Backbord noch an Steuerbord gab es Wasser. Die Galeone war rundherum eingeschlossen. Als er an Bord zurückkehrte, wurde er angestaunt wie ein Mann, der dem Teufel ein Schnippchen geschlagen hat. Hasard erzählte in knappen Worten, was er entdeckt hatte. Niemand unterbrach ihn, alle hörten gebannt und schaudernd zu. »Dann sind wir wirklich am Tor zur Hölle«, sagte Smoky, »und der Teufel wird uns alle holen, einen nach dem an ...« »Hör mit dem Blödsinn auf!« brüllte Hasard den Decksältesten erbost an. »Wir sind ganz bestimmt nicht am Tor zur Hölle gestrandet. Morgen, bei Tageslicht, werden wir sehen, was passiert ist.« »Wenn uns bis dahin nicht der Satan geholt hat«, meinte Smoky, der von seiner einmal gefaßten Meinung nicht mehr abzubringen war. Hasard hatte genug. Dieses ständige Gefasel vom Tor zur Hölle regte ihn auf, alles regte ihn auf, vor allem, weil jeder immer etwas noch Schlimmeres zu berichten wußte als der andere. Und helfen konnte niemand, keiner wußte einen Rat. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Tag abzuwarten. 42
»Ihr werdet euch jetzt in die Kojen hauen«, sagte er mit Nachdruck in der Stimme. »Jeweils drei Mann halten Wache, die erste übernehmen Ben, Smoky und ich. Die nächste Wache gehen Ed, Tucker und Dan. Bis dahin graut ohnehin der Morgen. Und nun verschwindet, der Kutscher wird euch einen Becher Rum geben, damit ihr besser schlafen könnt.« In dieser Nacht hatte das Grauen auf der ›Isabella‹ Einzug gehalten, und es war nicht mehr zu vertreiben.
5. Es war nicht Tag, nicht Nacht, weder Dämmerung noch Morgengrauen, als Dan, Carberry und Tucker ihre Wache fast beendet hatten. Das Schiff lag in einer nebelartigen Dunstzone, in der man weder Himmel noch Wasser unterscheiden konnte. Dan starrte sich die Augen aus. Von Müdigkeit war bei ihm keine Spur zu entdecken. Seit die unheimlichen Totenlichter nach und nach verblaßt waren, begann er sich wohler zu fühlen. Carberry und Tucker war die Erleichterung ebenfalls deutlich anzumerken. Der Profos spähte angestrengt auf die Stelle, die er mit Tuckers Axt bearbeitet hatte. Er deutete mit dem Finger darauf. »Das werden wir heute ausbessern«, sagte er zu Ferris. »Ich habe wohl etwas zu fest drauf geschlagen.« »Kein Problem Ed, die Hauptsache, diese Biester sind verschwunden. Wenn es doch nur richtig hell werden würde.« Dans scharfe Augen spähten immer noch ruhelos umher. »Beugt euch mal über die Bordwand«, sagte er belegt. »Dann könnt ihr die Masse erkennen, in der wir stecken. Und etwas weiter nach Steuerbord scheint etwas zu wachsen, ein Baum vielleicht, ich kann es nicht genau erkennen.« Ed und Ferris mußten sich mächtig anstrengen, um etwas zu sehen. Der Dunst verwischte alles, zeichnete keine Konturen 43
und ließ die Umrisse selbst wie Nebel ineinanderfließen. Und doch sahen sie etwas. Steuerbord voraus war etwas zu erkennen, ein kleiner Hügel, ein paar Bäume oder eine Buschgruppe, vielleicht waren es auch Palmen. Um das Schiff herum war die Masse, die sie gefangenhielt, jetzt deutlicher zu erkennen. Sie war von schmutzigbrauner Farbe, eine geschlossene Decke von verfaulenden Pflanzen, aus der immer wieder Blasen nach oben stiegen und an der Oberfläche mit einem leisen Schmatzen zerknallten. Dieses Zeug schloß sie ein, wohin sie auch blickten. »Tang«, murmelte der Profos. »Das ist Seetang, eine braune Algenart, die der Wind zusammengeweht hat, und in der wir jetzt bis ans Ende aller Zeiten stecken. Zum Unglück sind wir mitten in einer Kalme. Wir könnten es mit einer Münze versuchen, die wir über Bord werfen, das hat eine Kalme schon oft vertrieben. Habt ihr Münzen?« Tucker und Dan hatten welche, der Profos auch. Sie hielten die Münze in der hohlen Hand, wie Carberry es tat, stellten sich dann an das Schanzkleid, und jeder warf die Münze in hohem Bogen über die Schulter, bis sie irgendwo auf dem Tang liegenblieb. »Hoffentlich hilft es«, sagte Tucker. »Du darfst nicht so skeptisch sein, Ferris! Man muß daran glauben, dann hilft es schon. Wenn Wind aufkommt, zerreißt er möglicherweise die Tangdecke genauso, wie er sie zusammengeschoben hat, und wir können uns wieder freisegeln.« »Und wie lange dauert das?« wollte Dan wissen. »Mal länger, mal kürzer«, wich der Profos aus, weil er es selbst nicht genau wußte. Er hob die Schultern, starrte Dan an und fand, daß der ganz entsetzt an ihm vorbeischaute. »Ist was?« fragte Ed beklommen. »Ein ein Schiff, glaube ich. Dort drüben!« Die Worte drangen unartikuliert aus Dans Kehle und wurden von einem leichten 44
Stöhnen begleitet. Ferris und Ed drehten sich langsam um. Eine höllische Überraschung stand ihnen bevor. Die Hügel an Steuerbord war kein Hügel oder eine Buschgruppe. Es war etwas heller geworden, und der Dunst bewegte sich in wirbelnden Schleiern über den Tang. Nicht weit entfernt von ihnen lag tatsächlich ein Schiff. Ein Dreimaster war es. Seine Segel hingen in Fetzen von den morschen Rahen wie alte Fetzen von Spinnennetzen. Der Besanmast hatte sich nach achtern geneigt, das ganze Schiff lag leicht nach achtern, der Bug hob sich etwas aus dem Tang heraus. Die drei Männer wurden starr vor Schrecken, vor der Furcht, was das Sargasso-Meer noch alles an Grausamkeiten für sie bereit hielt. Auf dem Dreimaster rührte sich nichts, die zerfetzten Segel hingen tot und ausgebleicht herunter, das laufende Gut war zum Teil vermodert. Auf den ersten Blick sah es so aus, als liege dieser Segler schon seit vielen Jahren hier, eingeschlossen vom Tang, der ihn nie mehr freigegeben hatte. »Ob ob jemand an Bord ist?« fragte Dan völlig fassungslos. Ferris und der Profos sahen sich bedeutungsvoll an. Ihre Gesichter waren grau, alle beide hoben die Schultern. »Ich ich glaube nicht, Dan. Das Schiff muß schon entsetzlich lange im Tang gefangen sein.« »Tot?« hauchte Dan. »Wir wissen es nicht. Es kann sein, daß sie über den Tang gelaufen sind, sich ein Boot zimmerten und entkommen sind. Anderer ...« Ferris Tucker unterbrach sich. Sein Gesicht wurde noch grauer. »Da drüben liegt noch eins!« schrie er. Wie auf Kommando flogen die Köpfe herum. Aus dem Dunst begannen sich erneut schwache Umrisse herauszuschälen. 45
Tatsächlich! Ein weiteres Schiff lag in ihrer unmittelbaren Nähe. Es sah noch schrecklicher aus als der Dreimaster. Älter, viel älter mußte es sein. Sein gesamtes Achterdeck war verrutscht, überall stachen verbogene Planken wie drohende Riesenfinger in den Himmel. Ein Mast war in sich zusammengefallen, von dem anderen hing ausgebleichtes Segeltuch herab, der dritte hatte keine Rahen mehr. Das Schiff war aufgedunsen wie eine Wasserleiche, und es würde nicht mehr lange dauern, bis es völlig auseinanderfiel. Dan wurde es immer unheimlicher zumute. Er wußte genau, was ihnen bevorstand, wenn der Tang sie nicht mehr freigab. Die ›Isabella‹ würde genau so vermodern, verfaulen und verrotten, wie diese beiden Schiffe, die hier schon seit Ewigkeiten stecken mochten. Der Anblick dieses alten Schiffes hatte ihnen die Sprache verschlagen. Stumm sahen sie es an, sahen wie es sich aus dem Dunst immer mehr herausschälte. Die Sonne brach nicht durch, der Himmel war wieder von jenem fahlen Gelb, wie sie es tags zuvor schon kennengelernt hatten. Es war diese düstere Farbe, die jeden Gegenstand nur noch unheimlicher erscheinen ließ, als er ohnehin war. Endlich fand Carberry die Sprache wieder. »Himmel«, stöhnte er, »hier müssen sich ja fürchterliche Tragödien abgespielt haben!« Und dann packte ihn das Grauen noch stärker. Er entdeckte nämlich ein drittes Schiff, das weit hinter ihnen im Tang festsaß. Dan hatte es im selben Augenblick gesehen. Und querab, etwas weiter an Steuerbord, glaubte er die Umrisse eines weiteren zu erkennen. Wie von Furien gehetzt raste er aufs Achterkastell und stürzte in Hasards Kammer. Sein Gesicht hatte den gleichen grauenhaften Ausdruck wie in der letzten Nacht. Hasard war mit einem Satz aus der Koje. »Schiffe in unserer Nähe«, keuchte Dan, »aber es sind alte 46
Schiffe, längst verfault und vermodert. Drei oder vier«, setzte er hinzu. Hasard schluckte nur, im ersten Moment konnte er keine Antwort geben, so verdutzt war er. Dan stürzte schon wieder an Deck. Dort waren inzwischen auch der alte O’Flynn und Big Old Shane, der ehemalige Schmied von Arwenack, erschienen. Verängstigt sahen sie sich um und kamen mit der neuen Situation noch nicht zurecht. Da war der zähe, brodelnde Tang, da waren die unheimlichen Geisterschiffe, der fahlgelbe Himmel. Das riß und zerrte erneut an ihren Nerven, die durch die vorhergegangene Nacht schon bis an die Grenze der Belastbarkeit strapaziert worden waren. Old Shane sagte nichts. Er war mit bloßem Oberkörper an Deck erschienen und nun stand er da und starrte - ein Mann, der nicht glauben wollte, was er sah. Seine mächtige grau behaarte Brust hob und senkte sich regelmäßig, die Muskeln an seinen Oberarmen sahen wie dicke Taue aus, er war wie zu Stein erstarrt. Hasard, der gleich darauf den Niedergang hochenterte, blieb auf dem Achterdeck bestürzt stehen, als er das grauenhafte Bild in sich aufnahm. Ihm fuhr ein tödlicher Schreck durch die Knochen. Ganz langsam ging er bis zum Ruderhaus, drehte den Kopf und schloß sekundenlang die Augen vor diesem gräßlichen Bild. Soweit das Auge blickte, nahm er nur Tang wahr, eine geschlossene dunkelbraune Decke, die sich an manchen Stellen zögernd bewegte. Braunalgen! schoß es ihm durch den Kopf. Die Sorte, die sich hier im Sargasso-Meer zu kleinen Inseln bildete, die der Wind zusammentrug, und die der Wind später einmal auch wieder verwehen würde. Und dann diese unheimlichen, gespenstischen Schiffe, ein ganzer Friedhof war es, die rings um die ›Isabella‹ herum lagen. 47
Ein ganzes Meer voller Schiffswracks! Hasard hatte so etwas noch nie gesehen. Und hier waren sie gefangen! Er ging zur Kuhl und sah, daß fast die gesamte Crew schon auf den Beinen war, daß sie herumstanden, sich die Augen rieben, als wollten sie das schreckliche Bild wegwischen. Der Profos stand neben Old Shane, neben ihm Tucker, dann Ben Brighton. »Jetzt weiß ich, was die kleinen Flammen heute nacht bedeutet haben«, sagte der Profos in die lastende Stille hinein. »Es war nicht das Schiff des Teufels, das Sankt Elmo auf den Grund gestoßen hatte.« Er schwieg einen Moment und sah die Männer an. »Es sind die Seelen und Geister jener Seeleute, die hier umkamen, deshalb waren es auch so viele. Sie warteten nur darauf, ein Schiff zu finden, um an Bord genommen zu werden. Wir hätten uns vor ihnen noch mehr in acht nehmen müssen, denn wenn sie einmal an Bord waren, dann ist die ›Isabella‹ bis in alle Ewigkeit dazu verdammt, die Weltmeere zu befahren, von Geistern geführt, die das Kommando haben, und die nur dem Teufel selbst und sonst niemandem gehorchen.« Die Stimme des Profos war immer lauter geworden bei seinen letzten Worten, und jetzt hielt er erschreckt inne, aus Angst, die Seelen durch seine laute Stimme erneut herauszufordern. Hasard versuchte, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen, aber die Männer waren wie vernagelt. Sie alle hatten hier deutlich vor Augen, was geschehen war, sie hatten es selbst erlebt und gesehen, und sie sahen es immer noch. »Es wäre ja schön, wenn wir dazu verdammt wären, die Weltmeere zu befahren«, sagte er, »aber zuerst einmal müssen wir aus diesem Tang heraus, und das ist vorerst nicht möglich. Wir sitzen hoffnungslos in diesem Brei aus Algen fest.« Weiter hinten, soweit man gerade noch sehen konnte, tauchte die Takelage einer Karavelle aus dem Dunst. Das Schiff bot einen jämmerlichen Anblick. Es lag da wie ein verendetes 48
großes Tier, mit schlaff herabhängenden Ohren und ausgebreiteten Armen. Ihre Masten waren nur noch Stümpfe, abgefault, an denen noch Teile der verrotteten Rahen hingen. Sie lag stark gekrängt auf der Seite, mit auseinandergebrochenem Deck. Auch bei ihr hatten sich die Planken verbogen und waren aufgesplittert. Was mochte sie auf diesen erbärmlichen Wracks erwarten? fragte sich der Seewolf entsetzt. Er hörte seine Männer murmeln, sah Batuti an, der wild mit den Augen rollte, und suchte vergeblich nach dem Schimpansen Arwenack, der sich immer noch im Vorschiff versteckt hielt. Hasard spürte seine Zunge seltsam ausgedörrt im Hals, wie ein trockener Lappen erschien sie ihm. Die Luft war es, die sich jetzt erwärmte, den Dunst vertrieb und allen aufs Gemüt drückte. Es wurde merklich wärmer. Mit der sich ausbreitenden Wärme stiegen auch wieder die Gerüche aus dem Seetang hoch. Es roch nach fauligem Seewasser, nach vergammeltem Tang, nach moderndem Holz und altem Teer. Immer neue Wracks tauchten in der Ferne auf. Manche von ihnen waren in den Tang halb eingesunken, bei einem sahen die verstörten Seewölfe nur noch die Mastspitzen und ein anderes war in sämtliche Bestandteile zerfallen. »Was uns jetzt bevorsteht«, sagte Hasard in das neuerliche lastende Schweigen, »dürfte jedem von uns klar sein. Noch haben wir keinen Grund, zu verzweifeln, wir haben Wasser, Lebensmittel und ein paar Vorräte, die wir schon ab heute rationieren werden. Keiner weiß, wie lange unser Aufenthalt in dieser Tanginsel dauern wird. Schon morgen kann ein Sturm aufziehen und den Tang vertreiben. Es kann aber auch wesentlich länger dauern, und es kann uns ergehen, wie diesen Schiffen hier.« »Einige werden schon jahrelang hier liegen«, sagte Ben Brighton, »sonst wären es nicht derartige Wracks.« 49
»Das besagt immer noch nicht, daß die Mannschaften umgekommen sein müssen«, widersprach der Seewolf. »Sie haben ihre Schiffe aufgegeben und das Ende der Insel gesucht. Wenn sie es nicht erreicht haben, dann haben sie auch nicht überlebt, denn sobald die Nahrungsmittel oder das Wasser aufgebraucht sind, gibt es keine Chance mehr, für keinen. Und deshalb fangen wir mit dem Rationieren gleich an.« Er rief den Kutscher zu sich, der mit totenblassem Gesicht auf der Backbordseite stand und die Wracks zählte. »Stell eine Liste auf, Kutscher«, sagte Hasard. »Ich will genau wissen, wieviel Trinkwasser wir noch an Bord haben, und wie lange unsere Verpflegung unter normalen Umständen reicht. Erledige das mit dem Trinkwasser zuerst, denn das ist wichtiger.« »Aye, aye, ich beginne sofort«, versprach der Kutscher, »denn wer weiß, wie lange wir hier gefangen sind.« Froh, etwas zu tun zu haben und nicht mehr diesen schrecklichen Anblick ertragen zu müssen, verschwand er in seiner Kombüse, wo er damit begann, eine genaue Liste aufzustellen. »Mit Trinkwasser darf sich ab sofort nicht mehr gewaschen werden«, erklärte Hasard seinen Männern. »Es kann sein, daß von jedem Tropfen in naher Zukunft unser Schicksal abhängt. Zum Waschen verwenden wir Salzwasser, sofern wir an Meerwasser herankommen«, schränkte er ein. Alle murmelten ihre Zustimmung. Mit Trinkwasser wuschen sie sich unterwegs höchstens mal die Haare, sonst taten sie es nur, wenn sie irgendwo an Land lagen, wo kein Wassermangel herrschte. Mittlerweile war es noch wärmer und auch schwüler geworden. Die drückende Stimmung ließ sich nicht vertreiben. Hasards Blick erfaßte eine scheinbar weit auf dem Tang liegende schwefelgelbe Wolke, die sich nach allen Himmelsrichtungen ausdehnte. Voller Sorge verfolgte er ihren 50
Lauf. Brachte sie Wind oder Sturm? Oder brachte sie Regen, Gewitter oder noch mehr drückende Schwüle? »Wir werden nachher feststellen, wie lange diese Schiffe schon im Tang treiben«, fuhr er fort. Er sah in entsetzte Gesichter. Big Old Shane bekreuzigte sich hastig, der alte O’Flynn wehrte entsetzt mit beiden Händen ab, ein paar andere aus der Crew wandten demonstrativ die Köpfe zur Seite. »Hat jemand dagegen Einwände?« fragte Hasard ruhig. Er erhielt keine Antwort. Er wußte, daß ihnen der Schreck immer noch so sehr in den Knochen steckte, daß sie fast sprachlos waren. Aber hinter jeder Stirn arbeitete es. Hasard wollte die Wracks untersuchen, diese unheilvollen Geisterschiffe? Nein, da machten sie nicht mit! Weder Carberry noch Tucker, weder Brighton noch Dan. Sie hatten einen unerklärlichen Bammel vor diesen toten Schiffen, und vor allem davor was sie darauf finden würden, sobald sie an Bord waren. Und dann mußte man noch über diesen verdammten Tang laufen, der so ekelhaft schmatzte und sich bewegte, auf dem die Geister jener Ertrunkenen oder Verhungerten ihr Unwesen trieben. Das war selbst für die harten Seewölfe zuviel. Zwei Stunden später, es war mittlerweile unerträglich warm geworden, hatte Hasard sich entschlossen, zu einem der Wracks vorzustoßen. Das Wasser wurde rationiert, die Lebensmittel ebenso. Reines Trinkwasser pro Mann und Tag eineinhalb Liter. Niemand murrte, es ging einfach nicht anders. »Ed und Ferris«, sagte Hasard zu den beiden Männern, die in tiefe Gedanken versunken waren. »Ihr bereitet die Aktion vor. Wir gehen zu viert. Ferris kann ein paar Latschen herstellen, die uns befähigen, über den Tang zu gehen, so daß wir nicht einsinken. Wie lange Zeit benötigst du dafür, Ferris?« Der rothaarige Schiffszimmermann hob mißmutig den Kopf. 51
»Holzlatschen?« fragte er. »Etwa drei bis vier Stunden, denke ich.« »Wie bitte?« fragte Hasard ungläubig. »Drei bis vier Stunden für ein paar einfache kurze Bretter mit Riemen daran?« »Nun ich ...« Tucker zierte sich. Immer wieder sah er sich unbehaglich nach allen Seiten um. »In einer Stunde sind die Latschen fertig, Mister Tucker!« donnerte Hasards Stimme ungewöhnlich laut auf. »Haben Sie mich verstanden?« »Aye, aye, Sir, in einer Stunde!« Tucker zog unwillkürlich den Schädel ein, als er in Hasaids eisige Augen sah. Vor dem Seewolf hatte er noch größeren Respekt als vor den Geistern, die nachts über den Tang huschten. Hasard kannte seine Männer. Es gab keinen einzigen Feigling unter ihnen, sie hatten Angst vor dem, was sie nicht sahen, nicht begriffen und nicht erfaßten, das war es und nichts anderes. Und aus diesem Grund benahmen sie sich auch so merkwürdig, verzögerten absichtlich die Arbeit um das Unabänderliche hinauszuschieben, um nicht zu den Wracks gehen zu müssen, denn sie wollten nicht wissen, was dort passiert war. »Wer ... wer geht alles mit?« fragte der Profos. Er mußte sich ein paarmal die Kehle freikrächzen, ehe er sprechen konnte. Hasard lehnte am Schanzkleid. Der Blick seiner eisblauen Augen war in unbestimmte Fernen gerichtet. Er schien mitten durch die zahlreichen Wracks hindurchzublicken und sich irgendwo am schwach sichtbaren Horizont zu verlieren. »Ben, du, Ferris und ich«, zählte der Seewolf auf. Tucker und der Profos zuckten beide zusammen und warfen sich einen scheuen Blick zu, der mehr als alle Worte sagte. »Wollen wir nicht lieber Freiwillige nehmen?« wagte Tucker einen scheuen Einwand. Das harte Lachen des Seewolfes überraschte ihn. Hasard lachte laut und ungeniert. 52
»Wo sollen wir die denn herholen?« fragte er ironisch. »Oder denkt ihr etwa, von der Crew würde sich auch nur ein einziger freiwillig dazu melden? Es gehen die mit, die ich bestimmt habe, und wenn einer von euch noch einmal so eine lange Schnauze zieht, dann werdet ihr mich von meiner anderen Seite kennenlernen. Ist das auch klar, meine Herren?« »Aye, aye, Sir!« ertönte die Antwort wie aus der Pistole geschossen von allen beiden, und schlagartig wurden die verkniffenen Gesichter etwas fröhlicher. »Dann fang endlich mit den verdammten Latschen an!« sagte Hasard bissig. »Ich möchte nicht gern in diesem stinkenden Tang ersaufen!« Hasard wandte sich ab. Er versammelte ein paar Männer um sich und erklärte ihnen noch einmal den Ernst der Lage. »Teilt euch das Trinkwasser ein«, sagte er. »Trinkt morgens, mittags und abends einen halben Liter. Wenn sich jeder daran hält, dann reichen wir etwa zehn Tage damit. In der Zeit werden wir auch eine Lösung gefunden haben.« Brighton war überhaupt nicht davon erbaut, das Schiff zu verlassen, um nach den Wracks zu marschieren. Erst als der Seewolf ihn lautstark anpfiff, war die Sache geregelt. Eine Stunde später waren tatsächlich die breiten, unförmigen Latschen fertig, die Tucker gezimmert hatte. Es waren Bretter mit zwei Riemen, in die man mit den Stiefeln hineinfahren konnte. Es würde nicht leicht fallen, damit zu gehen, aber es bestand auch nicht die Gefahr des Einsinkens in den zähen Tang. Ganz schwach drang jetzt ab und zu die Sonne durch, die sich die meiste Zeit immer noch hinter schwefligen Wolkenbänken verbarg. Man konnte bis zum Horizont blicken, und dieser Blick war alles andere als ermunternd. Soweit das Auge reichte, gab es nur zähen, brodelnden Tang. Die ›Isabella‹ war lange Zeit mit kleineren Inseln zusammen gesegelt, die sich später hinter ihr nahtlos geschlossen hatten. Es gab keine Fahrrinne mehr zu sehen, keinen Fleck Wasser. 53
Das Schiff war von allen Seiten eingeschlossen. Die gesamte Crew war versammelt, als Hasard, Ben, Ed und Ferris über Bord stiegen. Sie kletterten in die Latschen und standen wenig später auf dem Tang. Bestialischer Hitzegestank aus verfaulendem Tang stieg ihnen in die Nasen. Auf dem Schiff hatte man den Geruch nicht so deutlich gespürt, aber auf der Tangdecke wurde er immer intensiver. Ben Brighton verdrehte demonstrativ die Augen. »Mann«, stöhnte er, »das ist ja die reinste Pest. Das stinkt ja schon zum Himmel.« »Die anderen haben auch Nasen«, sagte der Seewolf unwillig. »Uns stinkt das allen. Kommt ihr auf den Dingern voran?« »Man muß sich erst daran gewöhnen, dann geht es schon. In welche Richtung ziehen wir? Auswahl haben wir ja genug.« »Drüben, zu der Galeone hin. Sie scheint noch einigermaßen gut erhalten. Also, los, Männer!« Für alle vier war es zermürbend, dieser Marsch über knisternden, schmatzenden Tang in der drückenden Hitze auf den breiten Latschen. Tief unter ihnen war Wasser, das wußte jeder, und daher hatte jeder auch ständig das Gefühl, diese Decke könne an irgendeiner Stelle aufreißen und sie verschlingen. Ferris Tucker wurde das Gefühl nicht los, als würde er jeden Augenblick in viele tausend Fuß tiefe Tangwälder hinabstürzen, mit glatten, schleimigen Blättern und Stengeln, zwischen denen sich allerlei unheimliche Lebewesen herumtrieben. Die an Bord Zurückgebliebenen sandten ein Stoßgebet zum Himmel, daß nicht sie es waren, die diese erste unheimliche Expedition unternehmen mußten. Erleichtert waren sie, und jeder gestand sich ein, daß er doch eine ganz hundserbärmliche Angst hatte. Aufmerksam verfolgten sie jeden Schritt der vier Männer, die langsam auf die Galeone zuwateten und sich nicht einmal umdrehten. 54
»Es bewegt sich tief unter uns wie langgezogene Wellen«, sagte der Profos. »Man spürt das Wasser förmlich.« Ferris Tucker verfärbte sich, seine Schritte wurden zögernder, und er stellte zu seinem Erstaunen fest, daß auch die anderen sich automatisch seinem Gang anpaßten, als zögerten sie, weiterzugehen. Ben Brighton sagte gar nichts. Er hielt den Blick starr vor sich auf den Tang gerichtet und sprang mit einem Satz zur Seite, als es neben ihm einen leichten Knall gab und eine Sumpfgasblase aus dem Tang schoß und zerplatzte. Wie auf schwankendem Torfboden lief es sich jetzt. Unter ihnen rollte und blubberte es, eine sanfte Woge tief unter ihnen hob den Tang ein wenig an, in einer wellenförmigen, gleichmäßigen Bewegung, die sie leicht schwanken ließ. Hasard wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich dort in kleinen Tropfen gebildet hatte. Die drei anderen taten es ihm nach. Die Stille, die sie umfing, wurde immer drohender, immer unheimlicher, nur unterbrochen von dem Schmatzen und dem fernen Knistern, das aus dem Rumpf der Galeone zu dringen schien. Nur noch hundert Yards trennten sie von dem Wrack. Aus der Nähe sah es noch schrecklicher aus wie ein großes verendetes Tier, das sich hier zum Sterben hingelegt hatte. Ausgebleicht und mürbe hingen die Segelfetzen von den Rahen. Einige waren an Deck gefallen und ragten dort drohend empor. Das laufende Gut war in leichter Bewegung, die Pardunen, einstmals straff gespannt, waren gerissen und schwangen leicht, in ewiger Bewegung, hin und her. Vom Rumpf war die Farbe abgeblättert, der Name längst nicht mehr zu entziffern, Planken waren verzogen, zersplittert, geborsten. An manchen Stellen faulte die Galeone Zoll um Zoll ab, war morsch und mürbe, ohne Seele, tot. Aber den Männern erschien es doch, als hätte sie eine Seele. Eine unheilverkündende, drohende Seele, die den Atem anhielt 55
und nur darauf wartete, daß jemand an Bord kam, um dann lautlos über ihn herzufallen, wie der Tod, der in allen Verbänden des Schiffes steckte und lauerte, wie die Geister, die sich an Bord verborgen hielten. »Ein Totenschiff«, flüsterte der Profos, von Aberglauben und Zweifeln geplagt und gemartert. »Und eine Gangway hat sie auch, so ausladend, damit man ahnungslos an Bord geht.« Hasard drehte sich um, er grinste kopfschüttelnd. »Klar, daß sie eine Gangway ausgebracht haben, sollten sie vielleicht jedesmal über Bord springen und wieder hochklettern? Ich sehe darin nichts Geisterhaftes oder Gefährliches.« Die letzten paar Schritte bis zum Wrack waren die schwersten und längsten. Geheimnisvolles Knirschen ertönte aus dem alten Schiff, es stöhnte und wisperte, mitunter knarrte es laut. »Das Holz arbeitet unter der ständigen Hitze und Belastung«, erklärte Hasard vorsorglich, damit der Profos nicht wieder auf andere Gedanken verfiel, die doch nichts einbrachten. »Nun, dann gehen wir an Bord und sehen nach, was passiert ist.« Der Profos schluckte schwer. Ben Brighton sah betreten auf den Tang hinunter und Ferris Tucker wünschte sich meilenweit fort, ins Gefecht mit Piraten oder Spanier verwickelt, wo er seine riesige Axt schwingen konnte und wo es keine unsichtbaren Geister gab. Hasard stieg aus den Latschen und erklomm die brüchige Gangway, nicht mehr als ein großes, verrottetes Brett, in das man ein paar Eisen hineingeschoben hatte und ihnen durch Taue Halt gab. Die Taue waren noch frisch, guter geteerter Hanf, der lange Jahre hielt. Als er das Deck geentert hatte und in die Kuhl blickte, wurde sein Blick starr. Sein Magen krampfte sich zusammen.
6. 56
»Was ist los?« hörte er hinter sich Carberry fragen. »Komm und sieh es dir selbst an«, erwiderte Hasard. Der eisenharte Profos zitterte, Ferris Tucker unterdrückte den Fluch, der ihm über die Lippen wollte, und Ben Brighton schluckte krampfhaft. In der Kuhl lagen zwei Leichen. Skelette genauer gesagt, auf deren Knochen Fetzen von alter Bekleidung vermoderten. Einer der beiden Toten hatte um den eingefallenen Schädel noch die Reste eines vormals roten Tuches gebunden. Bei dem anderen waren die Augenhöhlen groß und dunkel auf die Männer gerichtet. Sein Arm stand rechtwinklig ab, und die Knochenhand sah so aus, als griffe sie nach etwas, was sie nicht mehr hatte erreichen können. »Arme Hunde«, sagte Hasard leise. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, was die Männer an Strapazen hinter sich gebracht hatten, ehe sie gestorben waren. Sie waren vermutlich jämmerlich verhungert oder verdurstet. Nur zögernd bewegten sich die vier Männer weiter. Unter ihren Stiefeln knirschte das morsche, verwitterte Holz verdächtig. Jeden Moment konnten sie in den mürben Planken einbrechen. Der dritte Tote lag auf dem Vorkastell. Sein Kopf hatte sich vom Rumpf gelöst und war den Niedergang heruntergerollt. Seine Finger waren in die Decksbeplankung gekrallt. Sie hatten in dem Holz zwei deutlich erkennbare Rillen hinterlassen. Nicht weit von dem Toten entfernt lagen die Skelette zweier Ratten. Hasard schüttelte sich, seine Hand deutete auf die Gerippe. »Die Ratten haben die Leichen angefressen«, sagte er, »und dann, als es nichts mehr gab, sind sie krepiert, vor Hunger oder Durst. Sie haben am längsten überlebt. Gehen wir nach unten!« Er ging weiter, ohne auf die anderen zu achten, die sich an Deck flüsternd miteinander unterhielten. Niemand folgte ihm, 57
und Hasard verzichtete darauf, sie jetzt anzubrüllen. Seine eigenen Nerven waren genauso angespannt, bei all dem Unglück, was er hier sah. Im Niedergang zu den Mannschaftsräumen stank es nach Tod und Verwesung. Der Seewolf schritt jetzt selbst nur noch sehr langsam weiter. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er ein tiefes Seufzen vernahm. Instinktiv wollte er zur Waffe greifen, um sie herauszureißen, doch dann unterließ er den Griff. Wenn es hier noch einen Überlebenden gab, dann drohte von dem nicht die geringste Gefahr. Das Seufzen wiederholte sich noch einmal, und Hasard wußte jetzt auch, was es war. Es erklang aus den Planken, aus den Wänden, das Holz stöhnte und ächzte und arbeitete unermüdlich. In der Kombüse waren die Schränke offen und hingen schief in den Angeln. Sie gähnten vor Leere. Es gab nichts Eßbares mehr, keinerlei Vorräte, kein Brot. Auch in den Fässern war längst kein Tropfen Trinkwasser mehr, schon seit Ewigkeiten nicht. Er blickte in die anderen Räume, aus denen ihm fauliger Dunst unangenehm in die Nase stieg. In einer der oberen Kojen lag ebenfalls ein Gerippe. Der Tote lag auf dem Rücken, die leeren Augenhöhlen starrten an die Holzdecke. Hasard fühlte, wie ihm ein kalter Schauer nach dem anderen über den Rücken lief. Nein, das hier war wirklich kein Ort, an dem man sich lange aufhalten konnte. Dieses Totenschiff mit seinen Leichen an Bord flößte ihm ein unerklärliches Grauen ein, obwohl es nicht die ersten Skelette waren, die Hasard sah. Er prallte zurück, als aus dem Halbdunkel neben ihm ein Geräusch ertönte. Etwas polterte dumpf. Er sprang zur Seite. Auf der Bank hockte ein Knochenmann, in sich zusammengesunken, den Kopf halb auf der Brust. Hasards leichter Schritt hatte eine Erschütterung bewirkt, durch die er von der Bank gekippt war, auf der er seit Ewigkeiten 58
gehockt hatte. Jetzt fiel er buchstäblich auseinander. Hasard fluchte verhalten. Verbissen suchte er weiter nach Anhaltspunkten, die es genügend gab. Damit stand es für ihn unwiderlegbar fest, daß die Männer alle verhungert oder verdurstet waren. Seit Monaten, Jahren, Ewigkeiten. Niemand wußte, seit wann die Galeone im Tang steckte. Die Männer hatten resigniert, oder sie waren wahnsinnig geworden, vielleicht hatten sie sich auch in ihrer Angst gegenseitig zerfleischt. Aber warum starben sie auf dem Schiff? Warum nicht irgendwo da draußen auf dem Tang, auf der Suche nach Wasser? Er wußte es nicht. Vermutlich hatten sie sich hier in ihrer letzten Stunde noch am sichersten gefühlt, oder sie hatten kein Wasser gefunden, und waren deprimiert wieder an Bord zurückgekehrt, um hier den unabänderlichen Tod zu erwarten. Denn das Schiff war ihre Heimat gewesen. Hasard nahm sich vor, das Trinkwasser noch weiter zu kürzen, sobald er an Bord war. Er wollte diesen jämmerlichen Augenblick des Krepierens so lange wie nur möglich hinausschieben. Aber hatten die anderen das nicht auch versucht? Er ging wieder an Deck, wo seine Männer standen. Zusammen marschierten sie schweigend zum Achterkastell, an verrotteten Culverinen vorbei, zersplitterten Rahen und alten Segeltuchfetzen, die überall an Deck in wirrer Unordnung herumlagen. Auch im Achterkastell fand sich nichts, außer vermoderten Seekarten, offenen Spinden und ein paar toten Ratten, die längst skelettiert waren. »Die Besatzung bestand aus mindestens achtzehn bis zwanzig Leuten«, sagte Hasard. »Wir haben nicht einmal die Hälfte gefunden. Also müssen einige versucht haben, sich zu retten.« »Sie werden es nicht geschafft haben«, murmelte der Profos düster. »Irgendwo dort draußen sind sie jämmerlich verendet.« 59
In der Pulverkammer befanden sich noch zwei Pulverfässer, deren Dauben längst zerfallen waren. Das Pulver war neben Kugeln, Stangenkugeln und grobem Blei auf dem Boden verstreut. Weitere Tote fanden sich nicht. Sie entdeckten nur noch leere, zerfallene Fässer, es gab keinen Schluck Rum in den leeren Flaschen, nicht das geringste, was ein Mensch zum Leben benötigte. »Verflucht«, sagte Ben Brighton heiser. »Hoffentlich passiert uns das nicht auch.« Daraufhin schwiegen sie, denn jeder dachte das gleiche. »Solange kein Sturm aufkommt, stecken wir hier bis in alle Ewigkeiten fest«, sagte Ferris Tucker. »Und diese Gegend im Sargasso-Meer ist berüchtigt für ihre langen Flauten. Das hat bereits Jean Ribault erzählt, der schon hier in dieser Ecke war, als wir sie noch gar nicht kannten.« Mutlos und niedergeschlagen begaben sie sich von Bord, zogen auf dem Tang ihre Latschenbretter an und sahen sich um. Da lag sie, die neue ›IsabellaVIII.‹, da lag sie genauso in dem zähen Tang wie alle anderen auch in diesem gigantischen Schiffsfriedhof mit seinen unzähligen Toten. Hasard sagte genau das, was die anderen ebenfalls dachten: »Wir werden auf diesen Schiffen kein Lebewesen mehr antreffen, damit müssen wir uns abfinden. Hier hat mit Sicherheit niemand überlebt, dem wir noch helfen können, nicht einmal lebende Ratten wird es noch geben. Wir alle wissen, was uns bevorsteht, und deshalb möchte ich, daß wir nicht in Panik geraten, das verschlimmert unsere Lage nur noch weiter. Wir werden überlegen, was wir unternehmen können, um zu überleben, um unsere Lebensmittel zu strecken. Wir werden den Tang aufreißen und Fische fangen, irgendwie schaffen wir es schon, wir haben es immer geschafft.« »Und Trinkwasser?« fragte Ben Brighton. 60
Hasard zuckte mit den Schultern. »Mehr als streng rationieren können wir es nicht. Vielleicht regnet es in der Zeit einmal.« »Dann hätten die hier auch überlebt«, erwiderte Ben und deutete auf das knisternde Wrack. »Trotzdem unternehmen wir, was wir können. Und jetzt sehen wir uns noch ein paar andere Schiffe an.« Eines, das Hasard schon vorher aufgefallen war, das aber ziemlich weit entfernt im Tang steckte, erregte wieder seine Aufmerksamkeit, weil es von der herkömmlichen Bauart total abwich. Es war keine Galeone, keine Karacke, es ließ sich einfach nicht einordnen. Die anderen hatten in ihrer Aufregung auf das merkwürdige Schiff, noch nicht geachtet, aber nun, als Hasard darauf deutete, flogen ihre Blicke doch hinüber. »Dort gehen wir hin, ich habe ein solches Schiff noch nie gesehen.« »Ja, es sieht merkwürdig aus«, gab Ferris Tucker zu, der glaubte, so gut wie jeden Schiffstyp zu kennen. Nur diesen kannte er nicht. Sie gingen im schrägen Winkel an der ›Isabella‹ vorbei. An Deck stand die gesamte Crew, schweigend, voller Entsetzen und wie gelähmt. Sie starrten Hasard an, der die Hände an den Mund legte. »Wir haben nur Tote gefunden!« rief er hinüber. »Sie sind schon seit langem tot. An Bord gibt es nicht einmal mehr Ratten!« Lähmendes Schweigen herrschte nach seinen Worten. Er wußte, wie ihnen jetzt zumute war, aber er mußte es sagen. Früher oder später würden sie es ja doch erfahren, sie mußten schließlich mit der harten Wirklichkeit konfrontiert werden so oder so. Niemand gab eine Antwort, lediglich Dan nickte, daß sie alle verstanden hatten. Hasard und die drei anderen Männer gingen schwerfällig 61
weiter, mühsam die breiten Latschen hochhebend, durch eine Tangmasse, die immer zäher wurde, die immer übler roch. Die Hitze setzte ihnen allen zu, und der Durst meldete sich. Dabei erschrak jeder gleich vor sich selbst. Durst! Das war ein übles Wort, wenn man nicht mehr viel Wasser hatte, und gerade weil man nicht mehr viel hatte, schien dieser Durst immer schlimmer und peinigender zu werden. Wie würde es erst in einigen Tagen werden, wenn das Wasser knapp wurde und der Durst immer größer? Hasard ging dem Trupp voran dem fremden Schiff entgegen, dessen, bloßer Anblick ihn mit tiefer Unruhe erfüllte. Der Rumpf war schwarz lackiert, nicht geteert, wie es üblich war. Alles war anders und fremd an diesem Schiff, von den Masten bis zu den merkwürdigen Segeln, vom Vorkastell bis zum Achterdeck. »Was ist denn?« fragte er unwillig, als die Männer stehenblieben. Ben Brighton sah ihn ratlos an, Ferris Tucker blickte auf den Tang, und Ed Carberry wischte sich immer wieder den Schweiß von der Stirn. »Mich kriegst du dort nicht hinauf«, sagte Ben. »Denk von mir, was du willst, Hasard, aber dieser Kahn ist das Grauen persönlich, ich spüre es. Ich traue mich nicht an Bord.« »Und ihr auch nicht?« »Nein«, sagte Ferris Tucker ächzend. »Sieh nur den Bug an. Eine Seeschlange als Galionsfigur, das kann nur Unheil bedeuten.« »Ihr mit euren verdammten Geistern! Bisher hat uns noch kein einziger Geist etwas getan, oder?« »Das kommt noch«, versicherte der Profos düster. »Eines nach denn anderen, genau wie hier. Es kann jahrelang dauern.« »Ich werde dir einmal etwas sagen, Ed. Es gibt eine ganz normale Erklärung für diese Schiffe und seine verstorbenen Besatzungen. Sie haben sich vor Jahren festgefahren und hatten 62
das Pech, einer monatelangen Kalme ausgesetzt zu sein. Einige wurden krank, andere liefen blindlings davon, der Rest starb vor Hunger und Durst. Und nach einer Weile hat der Tang die Schiffe wieder freigegeben und sie trieben in der Sargassosee herum, bis sich das Spiel schließlich wiederholte. Nach einiger Zeit steckten sie erneut im Tang fest, in einer weiteren Flaute, weil sie sich ohne Besatzung nicht mehr freisegeln konnten. Und dann kamen immer mehr hinzu, bis sich dieser riesige Friedhof gebildet hat. Der nächste Sturm weht alle Schiffe wieder auseinander. Ist das einleuchtend?« »Das klingt gut«, gab der Profos widerwillig zu. »Aber trotzdem gehe ich nicht an Bord dieses Schiffes.« Hasard schüttelte den Kopf und ging weiter. Er wollte sie nicht zwingen, denn sie ließen sich ja doch nicht davon abbringen, daß ausgerechnet dieses Schiff das Grauen persönlich beherberge. Was sein eigenes Gefühl betraf, so sah es auch nicht viel besser aus. Dieses Wrack würde jedem Grauen einflößen. Wie gebannt ging er darauf zu. Es hatte einen flachen hölzernen Rumpf, der in pechschwarzem Lack gehalten war. An einigen Stellen hatte die Sonne ihn gebleicht und abblättern lassen. Zwei Masten mit Segeln wie Hasard sie noch nie gesehen hatte, ragten vor ihm auf. Es waren Lateiner-Großsegel, aber zu seiner grenzenlosen Verwunderung waren sie kunstvoll geflochten, und die einzelnen Bahnen waren mit Bambus versteift. Und dann diese gräßliche Schlange am Bug, ein großes, furchterregendes Tier mit langen spitzen Zähnen und einer Mähne, wie sie nur ein Pferd hatte. Die beiden großen Augen glühten Hasard an, als lebten sie. »Helft mir mal an Bord«, sagte Hasard. Er sah, wie sich der Profos scheu näherte, wie er immer wieder das Schiff anstarrte und sich schüttelte. »Geh da nicht hinauf, Hasard«, flüsterte Carberry. »Das 63
Schiff hat vielleicht die Pest an Bord!« Der Seewolf gab keine Antwort. Er stieg aus den Brettern, kletterte dann in Carberrys zusammengefaltete Hände und zog sich mit einen Ruck nach oben. »Gott steh ihm bei!« sprach Carberry und bekreuzigte sich wieder. Tucker und Brighton sahen noch seinen breiten Rücken, und dann verschwand Hasard mit einem Satz an Deck. Aus dem Holz schlugen ihm Hitze und ein Geruch entgegen, den er nicht deuten konnte, der aber vermutlich ebenfalls aus dem Holz drang. Die Pest an Bord! hämmerte es in seinen Ohren. Dieses Schiff hat vielleicht die Pest an Bord! Hinter dem ersten Mast sah er einen Schädel und zuckte unwillkürlich zurück. War hier doch jemand an Bord? Vorsichtig ging er darauf zu. Und dann sah er auch den Körper, ein verwestes Etwas, mit einem vermoderten gelben Hemd bekleidet. Der Seewolf überwand das Grauen, das ihn gepackt hatte. Vorsichtig ging er ein paar Schritte weiter. Der skelettierte Mann sah unheimlich aus, unheimlicher als alle anderen Toten, von denen er sich stark unterschied. Auf seinem Totenschädel klebten pechschwarze Haare von der gleichen gelackten Farbe wie sie auch der Rumpf des Schiffes aufwies. An seinem Hinterkopf baumelte ein schwarzer geflochtener Zopf. Er ging weiter bis zum Bug und schrak wieder zusammen, als er den nächsten Toten sah. Er hockte dicht neben einem Poller, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, die knöchernen Arme darum geklammert. Auch er trug diesen schwarzen Zopf, und auch bei ihm war das Fleisch zum größten Teil schon von den Knochen gefallen. Sehr lange konnten sie hier noch nicht festsitzen, überlegte Hasard, nicht so lange jedenfalls wie die Galeone. Aber woher 64
stammten diese Leute, oder wer waren sie? Darauf fand er keine Antwort. Männer mit schwarzen Zöpfen hatte er noch nie gesehen, jedenfalls keine, die zur See fuhren. Am Schott zum vorderen Niedergang schlug ihm eine Pestwolke entgegen, als er es öffnete. Schnell schlug er es wieder zu. Ihm wurde so übel, daß sein Magen sich krampfartig zusammenzog. Der Seewolf inspizierte die Laderäume. Es gab nur zwei und die waren verhältnismäßig klein. Außer leeren Fässern fand er keinerlei Fracht, nur ein paar hölzerne Balken und Bretter. Dafür entdeckte er etwas anderes: Dieses Schiff hatte wasserdichte Abteilungen, ein Umstand, über den er lange Zeit grübelte. Die Schotten, die das Schiff unterteilten, waren ausnahmslos wasserdicht. Erhielt es einen Treffer, so sank es nicht, es konnte jeweils nur eine Abteilung vollaufen! Ein Fortschritt, den es auf den neuen Galeonen noch nicht gab. Die dritte Leiche entdeckte er achtern an der Backbordreling. Der Mann lag auf dem Bauch. Hasard sah nur seinen Hinterkopf mit den schwarzen gelackten Haaren und dem baumelnden Zopf daran. Blitzschnell drehte er sich um und blickte über das Deck. Die wasserdichten Schotten fielen ihm ein. Wenn das Schiff sie hatte und in einen Kampf verwickelt wurde, warum hatte es dann keine einzige Kanone? Er hatte keine entdeckt, keine Culverine, keine Drehbasse. Merkwürdig, dachte er. Ein Schiff, das sich nicht wehren konnte, wenn es überfallen wurde? Es mußte eine leichte Beute für jeden Angreifer sein, auch wenn es keine Fracht geladen hatte. Vor dem Schott des Achterkastells zögerte er lange, ehe seine Hand danach griff. Knarrend öffnete es sich spaltbreit. Hasard sah in totale Schwärze. Aus dieser Finsternis wehte der Pesthauch des Todes zu ihm herauf, süßlich, faulig, ein Dunst der Verwesung, in dessen Atem er sich nicht hinein 65
getraute. Er öffnete das Schott ganz. Schwach fiel jetzt das Sonnenlicht herein und erhellte eine kunstvoll verzierte Treppe mit einem golden schimmernden Geländer. Eine Tür war einladend geöffnet, aber aus dieser dunkel gebeizten Tür quoll auch dieser Geruch, der sich durch das ganze Schiff ausgebreitet hatte. Durch ein Fenster schimmerte Licht in den Raum, dem Hasard sich nur widerstrebend näherte. Wenn man ein paar Minuten hier unten war, dann gewöhnte man sich allmählich an den Geruch, obwohl er immer noch die Nerven strapazierte. Das hier war die Kammer des Kapitäns, wie der Seewolf gleich darauf feststellte. Aber was war das für ein unheimlicher Raum! Alles wirkte fremdartig, angefangen von den Teppichen, die den Boden bespannten, und den Tapeten, die aus reiner Seide bestanden, bis zu den vielfältigen geschnitzten großen Holzfiguren, die überall herumstanden. Von der Decke hingen Öllampen herab. Ihre Böden zeigten genau das gleiche Symbol der Schlange, wie sie auch am Bug zu finden war. Überall fanden sich weitere kunstvolle Schnitzereien, aus Holz, aus weichem Stein und Metall. Hasard trat noch weiter in die Kammer, bis er den Toten sah. Er prallte zurück. Einen derartigen Anblick hatte er nicht erwartet. Aus einer Koje an der Wand starrte ihn ein alptraumhaftes Gesicht an, das höhnisch zu grinsen schien. Hasards erster Impuls zwang ihn ein paar Schritte zurück zur gegenüberliegenden Seite. Aber dann wurde sein Blick magisch von dem Toten angezogen. Es war ein kleiner Mann mit ebenfalls pechschwarzen Haaren und von ungesunder gelblicher Gesichtsfarbe. Seine Augen waren schräg und geschlitzt und von seiner Oberlippe hing ein langer dünner Bart herunter, der ihm ein grausames Aussehen verlieh. Seitlich erkannte Hasard den schwarzen Zopf. Die 66
Leiche war noch gut erhalten, folglich konnte der Mann mit dem hängenden Bart auch noch nicht lange tot sein. Sein Körper befand sich erst am Anfang der Verwesung. Vielleicht hatte die trockene Luft in der Kammer ihn geschützt. Hasard zog sich ein paar Schritte zurück sah sich wieder im Raum um und entdeckte ein paar Wandschränke. Dem Toten warf er nur einen letzten scheuen Blick zu, dann öffnete er einen der eingebauten Schränke und schaute hinein. Das erste, was er fand, war zweifellos eine Seekarte. Sie war zusammengerollt und steckte in einem Fach. Gleich daneben fand er eine weitere. Vorsichtig, um das hauchdünne Papier nicht zu beschädigen, entrollte er sie. Er schluckte schwer, denn auch eine derartige Karte hatte er noch nie gesehen. Und das Land, das sie darstellte, erst recht nicht. Die Karte war von einem Meister hergestellt worden, einem Künstler auf dem Gebiet der Nautik. Schwarze haarfeine Linien aus schwarzer Tusche waren auf das Papier gemalt, auf dem rechten Rand erkannte er kunstvolle kleine Säulengebilde, die von oben nach unten über das Papier liefen. Geheimnisvoll sahen diese Schriftzeichen aus und so fremd wie alles hier an Bord. Er steckte die Seekarte ein und suchte weiter. Vielleicht gab es zu einem späteren Zeitpunkt eine Erklärung dafür. Er fand auch die kleine Flasche und den Pinsel, mit dessen Hilfe die Karte hergestellt worden war. Sein Blick wurde von dem Kasten unter der Koje angezogen, dessen geschnitzte Knöpfe ihn auffordernd anstarrten. Hasard konnte sich nicht überwinden, sie zu öffnen. Es waren zwei Schubfächer, dicht über dem Boden. Was mochten sie enthalten? Wieder brauchte er eine ganze Weile, um seine innere Scheu zu überwinden. Den toten Kapitän nicht aus den Augen lassend, zog er an dem Holzknopf. Schließlich zerrte er daran, 67
aber der Kasten ließ sich nicht öffnen. Hasard drückte dagegen, da sprang der Kasten mit einem Ruck auf. Verständnislos blickte er auf längliche bunte Stangen, mit denen der Kasten angefüllt war. Sie waren so lang wie ein Arm und von unterschiedlicher Farbe. An ihrer Seite war ein dünner Holzstab befestigt, aus dem unteren verschlossenen Ende ragte ein luntenähnlicher Docht hervor. Der Seewolf überwand sich nahm eine der bunten Stangen heraus und drehte sie unschlüssig in der Hand. Er starrte dem toten Kapitän genau in die halbgeschlossenen Augen und wandte sich schnell ab. Diese bunten Stangen waren noch rätselhafter als alles andere, was er hier an Bord gefunden hatte. Er griff nach der nächsten, untersuchte sie und gelangte doch zu keinem Ergebnis. Auch die dritte und vierte brachte ihn nicht weiter. Fünf davon steckte er unter den Arm, dann verließ er hastig die Kammer und marschierte an Deck. Als er über die Reling blickte, sah er Ben, Ferris und Ed vor dem Bug des Schiffes stehen. Sie unterhielten sich gedämpft über die unheimlich aussehende Galionsfigur, deren gewundener Leib sich ständig zu drehen schien. »Kommt rauf!« rief er. »Ihr habt nichts zu befürchten. Aber dafür habe ich etwas Unglaubliches entdeckt. Na los, Ed, Ben, Ferris, auf was wartet ihr noch?« »Sind sind Tote an Bord?« wollte Ben Brighton wissen. »Ja, natürlich, aber Tote tun keinem etwas.« Mit grimmig verzogenen Gesichtern, hinter denen sich nackte Angst verbarg, enterten die drei Seewolfe auf. Hart an der Reling blieben sie stehen und warfen scheue Blicke über das Deck. Natürlich entdeckten sie den einen Toten und zuckten zusammen. »Eine fremde Rasse«, flüsterte Ben Brighton, seine Augen waren entsetzt aufgerissen. »Männer mit Zöpfen«, stammelte 68
er, »das habe ich noch nie gesehen.« »Der Kapitän liegt in seiner Kammer«, erklärte Hasard. »Er muß erst vor kurzer Zeit gestorben sein. Wenn ihr wollt, könnt ihr ihn euch einmal ansehen.« »Lieber nicht«, wehrten die drei fast gleichzeitig ab. Der Schock saß ihnen tief in den Knochen. Hasard ließ ihnen noch eine kleine Zeitspanne zur Erholung, dann zeigte er Ben die Seekarte, auf der die geheimnisvollen Zeichen gepinselt waren. »Welches Land kann das sein, oder wo liegt es?« Ben Brightons Aufmerksamkeit konzentrierte sich jetzt auf die Karte. Nachdenklich betrachtete er die fremden Schriftzeichen und die feine Zeichnung. »Keine Ahnung. Es scheint kein Land zu sein, das wir kennen. Eine riesige Bucht offensichtlich, davor langgestreckte Inselgruppen. Damit kann ich nichts anfangen.« »Ihr solltet euch wirklich den Toten ansehen, er ist von gelber Hautfarbe, ziemlich klein und trägt außer dem schwarzen Zopf noch einen Bart auf der Oberlippe, der so fein und dünn ist wie diese Zeichnung hier. Und dann habe ich noch etwas!« Er hielt die farbigen Stäbe hoch, die Carberry sofort interessiert musterte. »Was kann das sein?« Wieder wurde gerätselt. Carberry befingerte den Stab, sah ihn von allen Seiten an, schüttelte den Kopf, nahm sich den nächsten Stab von hellblauer Farbe vor und wußte immer noch nicht, was das sein konnte. Dann hatte er eine Idee. »Möglich, daß es sich um Schießpulverkapseln handelt«, sagte er. »Die Lunte am unteren Ende könnte darauf hindeuten. Aber natürlich kann ich mich auch irren.« »Eine Art Sprengsatz also«, sagte der Seewolf. »Aber wie sollte man ihn abfeuern? Hier an Bord gibt es keine einzige Kanone, keine Waffe. Wenn der Kahn Caligus Piraten in die Hände fällt, könnte sich niemand zur Wehr setzen, das heißt, jetzt ja sowieso nicht mehr.« 69
Wie die Dinger abzufeuern waren, darüber zerbrachen sie sich noch eine ganze Weile den Kopf. Aber sie kamen nicht darauf. Wenn es eine Art Treibsatz für Kanonenkugeln wäre, ja dann ... Aber hier gab es ja keine Kanonen. »Warst du schon im Vorschiff?« fragte Ben Brighton den Seewolf. »Ich habe nur das Schott geöffnet, aber gleich wieder dichtgestoßen, denn von dort dringt ein bestialischer Gestank herauf, daher habe ich darauf verzichtet. Das Schott ist da vorn!« »Und was bedeuten die Zeichen im Holz?« fragte Ben. »Welche Zeichen?« »Neben dem Schott, da steht etwas geschrieben!« Hasard hatte die Zeichen vorhin übersehen. Jetzt allerdings sah er sie ganz deutlich. Zögernd folgten ihm die Männer, als er sich in Bewegung setzte und zum Schott ging. Diese Zeichen liefen ebenfalls von oben nach unten in langen Säulen nebeneinander, geheimnisvolle Schriften, die sie nicht zu entziffern vermochten. Sie waren in das Holz eingebrannt worden. Hasard entrollte die Seekarte, auf der ähnliche Säulen über das Papier marschierten. Sie waren jedoch nicht miteinander identisch. »Bleibt hier stehen oder kommt mit, ich hole etwas«, sagte er und ging zum Achterkastell. Niemand folgte ihm. Sie wollten den Leichnam des toten Kapitäns nicht sehen, und so blieben sie beklommen in der Nähe des Schotts stehen und sahen sich furchtsam um. Immer wieder fielen ihre Blicke auf den toten Seemann mit den schwarzen Haaren auf dem Totenschädel und dem unheimlichen Zopf. Als Hasard zurückkehrte, hatte er den zierlichen Pinsel und die Flasche mit der schwarzen Tusche dabei. Er setzte sich hin, öffnete sie und tauchte den Pinsel in die ölig riechende Tusche. 70
»Was soll das?« fragte Tucker. »Ich male die Zeichen ab. Irgend jemand wird sie schon entziffern können und wenn es in einigen Jahren der Fall ist.« »Wenn wir wenigstens Jean Ribault an Bord hätten«, sagte Ferris Tucker. »Der wußte doch über die ganze Karibik Bescheid und kannte alles und jeden. Der könnte vielleicht damit etwas anfangen.« »Der hat wohl jetzt sein eigenes Schiff«, entgegnete Carberry. »Wir müssen schon warten, bis wir ihn wieder treffen.« Es kostete Hasard unsägliche Mühe, die komplizierten Zeichen nachzumalen. Manche sahen wie kleine Häuser aus, mit leicht geschwungenen Balken, schrägen Strichen und Schnörkeln. Er malte sie auf die Seekarte, bis er sie alle säuberlich auf dem Papier hatte. Dann stand er auf. »Teufel, war das eine komplizierte Arbeit. Vergleicht mal, könnte das ungefähr stimmen?« »Sehr gut sogar, ich hatte das nicht gekonnt«, erwiderte Ben. »Eines Tages werden wir wissen, was diese Zeichen bedeuten. Möglicherweise sind sie ein Schutzspruch gegen Geister.« Hasard verzichtete diesmal darauf, das Vorkastell zu untersuchen. Was dort unten lag, konnte er sich vorstellen, es gehörte nicht allzuviel Phantasie dazu. Der Rest der Mannschaft lag dort unten und verfaulte. Diesen Anblick wollte er sich selbst ersparen. »Gehen wir wieder«, sagte er. »Fürs erste mag es genug sein, aber später werden wir auch noch die anderen Wracks untersuchen.« Alle vier waren froh, wieder auf den Tang zu kommen, auch wenn der noch so schmatzte und kochte und brodelte und den ekelhaften Gestank verströmte. Das war immer noch besser, als sich standig zwischen toten Seeleuten zu bewegen und immer daran erinnert zu werden, wie es ihnen selbst auch bald ergehen würde. An Bord der ›Isabella‹ wurde sie von der restlichen Crew 71
begrüßt, aber es war keine richtige Freude dabei. Die dumpfte Beklemmung, die auf allen lastete, ließ sie schweigend zuhören, was Hasard, Ben Brighton, Ed Carberry und Ferris Tucker zu berichten hatten. Und das jagte ihnen eine Gänsehaut nach der anderen über die Rücken. Die Stimmung sank noch mehr auf den Nullpunkt.
7. Um die Mittagszeit wurde die Hitze zum Trauma für die Seewölfe. Die Sonne stach mit einer Kraft vom Himmel, die mörderisch war. Der Tang strahlte die Hitze zurück, verstärkte sie und ließ die Spanten und Planken des Schiffes ächzen und protestieren. Der Tang selbst war heiß und schien zu kochen in diesem unheilvollen Meer, das ihnen allen fast den Verstand raubte. Durch die heiße Luft bildeten sich Wirbel, Überlagerungen und Schichten, in denen es flirrte und gloste. Die Wracks in ihrer Nähe verzerrten sich zu Schatten, die sich hoben und senkten, die auf und niederwogten und sich mitunter in die Luft erhoben. Tang, Tang, Tang, wohin das Auge sah. Ein Meer, das aus nichts anderem als blasenwerfendem Seetang bestand, der an den Spitzen eintrocknete und hart wie Glas wurde, von unten aber immer wieder genährt durch neu aufsteigende Blasen. Ein monotoner Rhythmus ohne absehbares Ende. Hasard hatte den Wasserverbrauch weiter eingeschränkt. Es gab seit Mittag pro Mann und Tag nur noch einen Liter. Nur das konnte ihr Leben verlängern. Die mörderische Hitze nahm weiter zu. Kein Lüftchen rührte sich, es gab keine Kühlung, die Seewölfe hatten sich an Deck in den Schatten eines gehißten Segels gesetzt und dösten vor sich hin. An Arbeit war in dieser mörderischen Glut nicht zu 72
denken. »Man, ist das eine Affenhitze«, stöhnte Blacky. »Das hält ja kein Mensch mehr aus. Und vor lauter Durst hängt einem schon die Zunge zum Hals heraus.« »Hör bloß mit deinem verdammten Durst auf«, grollte der Profos, der es sich an Deck unter dem Segel bequem gemacht hatte. »Glaubst du, den anderen geht es nicht auch so?« »Wenn man sich wenigstens im Meer etwas abkühlen könnte«, begann Blacky wieder. »Kannst du«, erwiderte Garberry. »Nimm aus dem Großmars Anlauf und spring über Bord. Mit deinem Quadratschädel kannst du vielleicht die Tangdecke zertrümmern.« Kleine Plänkeleien begannen, so fing es meist an und endete es dann in einer handfesten Schlägerei, weil ein Wort das andere gab und jeder bis aufs äußerste gereizt war. Ein paar waren unter Deck geblieben, aber die trieb es auch bald wieder nach oben, denn im Schiff selbst fühlte man sich wie in einem Brutkasten. Hasard sah dem noch verhältnismäßig harmlosen Geplänkel mit besorgtem Gesicht zu. Er kannte das, daher warf er Blacky nur einen warnenden Blick zu, und der kapierte augenblicklich und schwieg. Nicht die Andeutung eines Windhauchs war spürbar, die Stille um die ›Isabella‹ herum war beängstigend. Diese Stille wurde nur durch das leichte Knarren der Schiffe unterbrochen, die unter der erbarmungslosen Glut knisterten und krachten, wenn sich verbogene Spanten endgültig lösten, oder wenn ein Mast sich immer weiter neigte und schließlich auf Deck krachte. Dann fuhren sie alle erschrocken herum und starrten zu dem Schiff hin, als hätten die Toten schuld daran, die heimlich umgingen, um die Lebenden zu erschrecken. Arwenack hockte unter ihnen, aber der Affe war nicht ansprechbar. Als hätte er eine Krankheit, so hockte er im Schatten in der Kuhl und ließ den Kopf hängen. 73
Da halfen weder Dans noch Batutis aufmunternde Worte. Dan wurde es schließlich zuvlel, das Herumgehocke, das Dösen und Überlegen, wann der Tod sie holen würde. Er enterte in den Großmars auf. Vielleicht konnte er mit seinen scharfen Augen etwas entdecken. Ganz oben sah er sich um. Ein paar Männer blickten müde und dösig zu ihm hinauf, die Augen gleichgültig und teilnahmslos. Dan O’Flynn starrte sich die Augen aus. Soweit er sehen konnte und diesmal konnte er sehr weit sehen , erblickte er Tang, dazwischen tote Schiffe, halb im Schlick versunken, umklammert, vermodernd im Laufe der Zeit, die alles fraß und schluckte. »Genau voraus scheint Land zu sein!« brüllte er an Deck. Er kniff die Augen zusammen. Der flirrende Sonnenglast, der über dem Tang hing, verzerrte die Konturen, aber aus dem Tang hob sich fern am Horizont doch etwas heraus, das Land sein konnte. Unten ruckten Köpfe hoch. »Dein Land kannst du dir an den Hut stecken!« schrie Smoky. »Sieh lieber zu, ob du Wasser siehst, das ist wichtiger.« Dan schüttelte den Kopf. Nein, anscheinend war es doch kein Land, was er gesehen hatte, nur aufgetürmter Tang, der ihn narrte, hervorgerufen durch die spiegelnden Luftflächen, die sich ständig überlagerten und alles verschoben. Nach einer Weile enterte er wieder ab. Es war hoffnungslos, etwas zu entdecken, das es nicht gab, das erst in unglaublich weiter Ferne existierte. An diesem Tag ließ die Hitze nicht nach, und sie war nur ein Vorgeschmack von dem, was noch folgen sollte. * Gegen Abend stellte Hasard dann die zweite Expedition 74
zusammen. Die Untätigkeit an Bord reizte alle bis aufs Blut, und da es nicht mehr ganz so heiß war, wie jeder glaubte, meldeten sich sogar Freiwillige. Ferris Tucker fertigte noch ein paar Tanglatschen an, wie er die Dinger genannt hatte. Diesmal waren Hasard, Carberry, Tucker, Smoky und Batuti mit von der Partie. Smoky hatte sich anfangs gesträubt, aber Hasard hatte ihm kurz und bündig erklärt, daß er dabei zu sein hätte. »Deine Knochen sind ja immer noch nicht abgefault«, hatte er zu ihm gesagt, »was willst du also?« Da ging Smoky mit, denn der Seewolf hatte ja recht, er hatte noch beide Arme und Hände, die blauen Lichter hatten ihm nichts getan. Der Tang war fester und härter geworden, jedenfalls auf der Oberfläche. Darunter wogte immer noch eine spürbare Dünung. Endlos lange Wellen mußten unter dem Tang entlanglaufen. Ihr Ziel war diesmal wieder eine Galeone, die in einer Entfernung von annähernd sechshundert Yards im Tang steckte. Hasard enterte als erster auf und stolperte prompt über ein Skelett. Ausgebleicht von der Sonne lag es an Deck, fast schneeweiß sah es aus und einzelne Knochen waren vom Rumpf gefallen. Jetzt waren es Batuti und Smoky, die sich entsetzt ansahen. Der riesenhafte Gambianeger verfärbte sich grau, rollte mit den Augen und sprach eine alte Beschwörungsformel. »Mann schon lange tot«, murmelte er. »Schon viele Jahre. Sein Geist werden heute nacht zu Batuti kommen.« »Dieses Schiff scheint eins der ältesten zu sein«, überlegte Hasard. »In ein paar Wochen wird es restlos auseinander fallen.« Sie spürten es bei jedem noch so leichten Schritt, wie das Holz nachgab, wie Planken knisterten und brachen, wie sich die Decks durchgebogen hatten. 75
Im Vorschiff fand sich nichts, kein Toter, keine Nahrungsmittel und erst recht kein Wasser. Wenn es wirklich noch etwas gegeben hätte, dann war es im Lauf der Jahre längst verdunstet. Im Achterschiff sah es genauso aus. Gähnende Leere herrschte in den offenen Spinden, es gab keine weiteren Leichen. Als sie wieder an Deck standen, sagte Hasard: »Es hat den Anschein, als wäre es dieser Mannschaft gelungen, zu entkommen. Das Rettungsboot fehlt. Vermutlich haben sie es über den Tang geschleppt oder gezogen, solange, bis sie wieder auf freies Wasser stießen. Nur diesen einen Mann hat es erwischt.« In den Gesichtern flammte nach Hasards Worten neue Hoffnung auf. Das war eine durchaus glaubhafte Erklärung, die jeder akzeptierte. »Na klar«, sagte Smoky, »nur so kann es gewesen sein. Und wenn wir es ebenfalls so machen wie diese Crew hier, dann sind wir auch gerettet.« »Aber ›Isabella‹ dann weg«, sagte Batuti traurig. »Wir dann immer wieder neue ›Isabella‹, viel Schiffe, sein nicht gut.« »Hasard lachte trocken. »Smoky hat gar nicht einmal so unrecht. Wir werden uns das nur noch ein paar Tage überlegen. Sehen wir jetzt noch einmal in den Laderäumen nach.« Der Einstieg war leicht. Die fest verschalkten Räume ließen sich ohne große Mühe öffnen. Man konnte die verwitterten Planken mühelos mit den Händen losreißen. »Gewürze«, stellte der Profos naserümpfend fest, als ein fauliger Geruch nach oben drang. Zugleich stob ein ganzer Schwarm grünschillernder Fliegen in einer Wolke davon. »Das Zeug ist längst verfault. Da drin wimmelt es von Käfern und Fliegen.« Es ließ sich nicht mehr feststellen, woraus die Ladung bestanden hatte. Unten befand sich nur ein fauliges Gemisch 76
aus durcheinanderkriechenden Maden. Schnell schlugen sie das Luk wieder zu. Das einzig Brauchbare, was sich an Bord befand, waren ein paar halbzerfallene Fässer mit Schießpulver. »Sollen wir es mitnehmen?« fragte FerrisTucker. Der Seewolf winkte ab. »Wir haben genug Schießpulver an Bord, wir brauchen es nicht bei dieser Hitze herumzuschleppen.« er überlegte einen Moment, dann war er zu einem Entschluß gelangt. »Bringt die Fässer in die Vorpiek. Wir werden diesen vergammelten Kasten in die Luft sprengen. Ich möchte sehen, ob das Wrack Wasser zieht und sinkt. Damit ist auch gleichzeitig das verdammte Ungeziefer vernichtet.« »Ein guter Vorschlag«, sagte Ben Brighton. »Dann werden wir sehen, wie stark die Tangdecke ist.« Die leichten Fässer wurden nach vorn gemannt und in der Vorpiek aufgeschichtet. Eine Lunte fand sich auch, Zündkraut, Flintsteine und ein paar Kugeln entdeckten sie neben einer Demi-Culverine. Carberry nickte den anderen zu, dann setzte er die Lunte in Brand, nachdem er Funken geschlagen hatte. »Wir haben etwa sieben Minuten Zeit«, sagte er. »Genug also, um uns in aller Ruhe entfernen zu können.« Ohne sonderliche Eile verließen sie das alte Wrack, an dem überall morsche Bretter, Planken und Bespannungen herunterhingen. Die Zeit verging langsam, während sie in sicherer Entfernung vor dem Wrack standen und warteten. »Müßte doch längst soweit sein«, sagte Ferris Tucker. Seine Worte wurden von einem nachhallenden Dröhnen überlagert. Aus dem Rumpf der alten Galeone schoß eine schwarze Wolke heraus, der eine riesige Flamme folgte, begleitet von einem dröhnenden Knall. Ein Teil des Vorschiffes flog auseinander, ein gezacktes, 77
riesengroßes Loch erschien. Tang flog in dicken Brocken durch die Luft, ein sicheres Zeichen, daß es auch den unteren Teil des Schiffes erwischt hatte. Hasard sah gespannt hinüber. Noch rührte sich auf dem Wrack nichts. Unverändert lag es da. In normalem Wasser wäre es bei diesem Riesenleck blitzschnell über den Bug gesunken. »Pech für uns«, sagte Hasard lakonisch, nachdem fast weitere fünf Minuten vergangen waren. »Der Tang scheint noch dicker zu sein, als ich dachte.« Er ging weiter heran, gefolgt von den anderen. Dicht vor dem Schiff hörten sie es dann. »Es plätschert!« schrie der Profos. »Hört ihr es nicht?« Sie alle hörten es jetzt deutlich. Ein Wassereinbruch unten im Kielschwein erfolgte. Es plätscherte und gurgelte, als das tief liegende Schiff Wasser zog und langsam vollief. Aber es dauerte lange, bis der zähe Tang das Schiff immer weiter absacken ließ. Die Tangdecke an der Bordwand erhielt einen Riß, der sich langsam vergrößerte. Er lief um das ganze Schiff herum, das sich nach weiteren endlos scheinenden Minuten langsam auf den Bug stellte. Der Wassereinbruch wurde stärker, als die Galeone sich nach Backbord neigte und dabei immer kopflastiger wurde. Wie ein Riesentier sah sie aus, das die Hinterbeine in den Himmel streckte, den Kopf nach unten beugte und dabei halb zur Seite rutschte. Dann ging alles blitzschnell. »Weg hier!« schrie Hasard die Seewölfe an, die gebannt dem Schauspiel zusahen. »Schnell weg, der Tang reißt auf!« Ein gezackter Riß erschien, der sich jetzt unheimlich rasch verbreiterte. Ein Ziehen lief durch die zähe Tangdecke, eine unsichtbare Woge hob den Tang und ließ ihn zittern. Die Männer warfen sich herum, und sie hatten die allergrößte Mühe, sich auf ihren Tanglatschen schnell zu bewegen. Schon 78
rückte der Riß, immer breiter werdend, auf sie zu. In dem Augenblick soff die Galeone ab. Sie stellte sich auf den Bug, bis ihr Achtersteven steil aus dem Wasser ragte. Dann bohrte sie sich mit aller Macht in ihr eigentliches Element und riß den Tang nach allen Seiten auseinander, bis ein riesenhaftes Loch erschien. Gurgelnd und schäumend ging der Kasten unter, die zersplitterten Masten tauchten ein und rissen Unmengen von zähem Tang mit sich auf Tiefe. Schaum stieg von allen Seiten auf, eine Riesenblase blubberte nach oben und zerplatzte mit einem fauchenden Geräusch. Über ihrem Heck quirlte schaumiger, blasenwerfender Tang, der sich hochstellte und dann in die Tiefe mitgerissen wurde, wo er in einem wirbelnden Sog verschwand. Wasser! Sie sahen Wasser, und sie konnten es kaum glauben. Es war wunderbares, dunkelblaues Wasser, in das sie am liebsten auf der Stelle hineingesprungen wären, um sich abzukühlen. »Wasser«, sagte Ferris Tucker andächtig. »Es kommt mir vor, als seien Ewigkeiten vergangen, seit ich welches gesehen habe.« Es störte sie nicht, daß der Tang jetzt in wellenförmige Bewegungen geriet, daß er sie aufhob, auf einer Welle noch höherhob und sie dann wieder absacken ließ. Wie ein Gleiten war es, ein Wogen, als befände sich die ›Isabella‹ auf einer langen rollenden Dünung, die sie leicht davontrug. »Fast vier Yards«, schätzte Hasard die Dicke der Tangdecke. »An einigen Stellen dürfte sie etwas dünner sein, aber mit drei Yards müssen wir immer noch rechnen.« Die Enttäuschung folgte der Freude gleich danach. Noch stiegen aus dem tintenblauen Riesenloch Wasserblasen nach oben, ein paar Planken folgten, die hoch aus dem Wasser flogen, Tang mischte sich darunter, und weiterer Tang kam hinzu, der das Loch in der Decke immer mehr verkleinerte. Ein Faß sprang aus dem Wasser yardhoch in die Luft, eine 79
Planke folgte wie ein geschleuderter Speer. Dann drängte der Tang danach, die Lücke zu füllen, und er tat es rasch. Er dehnte sich aus, bis er das tintenblaue Loch bedeckte, in dem sich eben noch die Sonne gespiegelt hatte. Fast übergangslos schloß sich die Decke dann, und etwas später bedeckte der Tang alles und nahm von dem blauen Wasser Besitz. »Scheiße«, sagte Carberry in die Stille hinein. »Mehr fällt mir dazu leider nicht ein.« »Du drückst wenigstens das aus, was wir alle denken, Ed. Ja, was ist Ferris?« fragte der Seewolf, als Ferris Tucker plötzlich zu grinsen begann und eine rasche Handbewegungtat. »Mir fiel da gerade etwas ein, und zwar in dem Augenblick, als sich die Tangdecke nahtlos schloß.« »Raus damit!« »Wenn wir die Decke aufreißen oder aufsprengen, werde ich einen Holzkasten zimmern, den wir in die Lücke werfen. Dann kann der Tang sie nicht mehr ausfüllen, und wir können wenigstens in aller Ruhe baden.« Der Profos schlug dem Schiffszimmermann krachend auf den Rücken. »Manchmal, Ferris«, sagte er andächtig, »manchmal geht in deinem rothaarigen Schädel direkt etwas vor. Du kannst also denken!« Tucker blieb ihm die Antwort nicht schuldig. Er schlug dem Profos ebenfalls auf die Schulter, daß es nur so krachte. »Dein Schädel ist der größte von allen«, knurrte er. »Demnach müßtest du noch besser denken können. Leider haben wir noch nie etwas davon bemerkt, was, wie?« »Dir werde ich deinen Affen ...« »Schluß jetzt«, unterbrach der Seewolf die kleine Einlage. »Wir nehmen uns noch den Dreimaster vor, dann gehen wir zurück an Bord.« Der Dreimaster war ein hoffnungsloses Wrack, wie sie gleich darauf feststellen konnten. Tucker entdeckte, daß an dem 80
Schiff verdammt viele Planken fehlten. Der Rumpf auf der Backbordseite sah aus wie ein Gerippe. Die Planken waren herausgerissen worden, sauber abgetrennt allerdings, und wozu sie verwendet worden waren, ließ sich ebenfalls leicht erraten. Die Mannschaft hatte sie fortgeschleppt, um daraus ein Floß zu bauen am Ende der Tanginsel. Allerdings konnten es nicht viele Leute gewesen sein, denn hier hatte sich mit Sicherheit eine Tragödie abgespielt, wie die Spuren eindeutig verrieten. An Deck lagen die Kadaver von zahllosen Ratten herum. Sauber abgenagt, und dann auf einen Haufen geworfen, der jetzt in der Sonne bleichte. »Sie haben die Ratten gefressen«, sagte Carberry. »Sie haben Jagd auf die Biester veranstaltet und sie gefressen, als sie nichts anderes mehr hatten. Was ist, Hasard?« unterbrach er sich, als er das verstörte Gesicht des Seewolfs sah, der auf der anderen Seite in der Kuhl stand. Hasard sagte nichts. Nur sein ausgestreckter Arm deutete auf die Planken. Zögernd traten die Männer näher und fuhren entsetzt zurück, als sie sahen, auf was Hasard deutete. Menschenknochen! Ausgebleichte, verbrannte, angesengte Knochen lagen in der Kuhl zu einem wüsten Haufen verstreut. Feuer hatte sich bis auf die Bohlen durchgefressen und war dann mit Sand gelöscht worden. »Sie haben nicht nur die Ratten gefressen, sondern sich gegenseitig«, sagte Hasard. »Wir können es nicht verstehen, aber wir sind auch noch in keiner derart ausweglosen Lage gewesen.« Schaudernd wandten sie sich ab. Sie verließen das schauerliche Wrack, auf dem sich das Unvorstellbare abgespielt hatte. Ein weiteres Schiff wollten sie nicht mehr untersuchen, jedenfalls nicht heute, denn es würde im Grunde ja doch überall das gleiche sein, worauf sie stießen. Verhungerte. 81
Verdurstete, in der gnadenlosen Hitze Verstorbene, Männer, die der Wahnsinn erfaßt hatte, als es keinen Ausweg mehr gab. In einem weiten Bogen kehrten sie zum Schiff zurück. Dabei entdeckten sie noch einmal etwas Fürchterliches. In einer Mulde im Tang fanden sie die Bretter und Planken, die fraglos von dem Kannibalenschiff stammen rnußten. In wüster Unordnung lagen sie wirr durcheinander. Dazwischen schauten Köpfe aus dem Tang, gebleichte Schädel, die zu grinsen schienen. Zwei Knochenmänner lagen auf dem Tang in der Mulde, weitere steckten bis zum Hals darin, und von einigen anderen schaute nur noch die kahle Schädeldecke hervor. Es war ein Anblick, der die Seewölfe das Fürchten lehrte. * Der nächste Morgen auf der Tanginsel brachte neue Schrecken. Der Kutscher erschien aus der Vorpiek, sein Gesicht war bleich, und er wirkte verstört wie seit langem nicht. Er sah Hasard mutlos und resigniert an. »Zwölf Fässer mit Trinkwasser sind verfault«, sagte er tonlos. Hasard war zumute, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. »Was sagst du da?« keuchte er. »Wann hast du das bemerkt?« »Gerade eben, bei der Bestandsaufnahme für die Rationierung. In der Vorpiek stehen sie.« An Deck schluckten die Männer, als sie die Nachricht hörten. Sie sahen, wie Hasard und der Kutscher in die Vorpiek gingen. Der Kutscher reichte Hasard einen Becher und ließ etwas Wasser aus einem Faß laufen. Die Brühe roch ekelhaft, und als Hasard vorsichtig einen windigen Schluck probierte, drehte sich ihm der Magen um. Das Wasser war tatsächlich verfault und völlig ungenießbar. Insgesamt zwölf Fässer, wie der 82
Kutscher ganz richtig gesagt hatte, waren restlos verfault, wahrscheinlich durch die drückende Hitze, die schwüle gewittrige Luft oder die lange Lagerung. Etwas Schlimmeres hätte ihnen nicht passieren können! Diese niederschmetternde Nachricht machte augenblicklich die Runde durch das ganze Schiff und ließ die Seewölfe ratlos erstarren. Hasard rechnete schnell. Wenn sie jetzt noch strenger rationierten, einen halben Liter pro Tag, würde der Wasservorrat noch etwa sechs Tage reichen, aber dann gab es an Bord keinen einzigen Tropfen mehr. Kurz und bündig teilte er ihnen das Ergebnis mit. Er sah in erloschene Augen, teilnahmslose Gesichter, fast gleichgültig nahmen sie es auf. »Wir verrecken so oder so«, sagte Matt Davies mutlos. »Was machen da schon ein paar Tage früher oder später aus!« »Ihr werdet euch noch wundern, was ein paar Tage ausmachen«, sagte Hasard wild. Die Hitze nahm wieder zu, sie steigerte sich sogar noch gegenüber dem Vortag. Flirrender Sonnenglast lag auf dem Tang, in der Luft, in den Wolken, er verzerrte alles zu Spukgestalten. Dann geschah etwas, das sie alle sofort munter werden ließ. Dans Geschrei, der in den Großmars geentert war, um etwas zu entdecken, riß an ihren Nerven. »Backbord Segler!« schrie er mit überkippender Stimme. »Er segelt genau auf uns zu!« Alles war sofort auf den Beinen und starrte in die Richtung. Was sie sahen, setzte allem die Krone auf. Carberry griff sich an den Schädel, Tucker sperrte fassungslos den Mund auf, Hasard wischte sich mit der Hand über die Augen. Am Horizont tauchte ein Dreimaster auf, die Segel prall gefüllt in dieser absoluten Flaute, lief er vor dem Wind her, ein stolzes, rankes Schiff, das jetzt leicht den Kurs änderte und 83
über Steuerbordbug segelte. »Wasser !« schrie Pete Ballie. »Dort vorn ist Wasser, wir sind gerettet. Er kommt näher! Ich werde wahnsinnig.« Der Dreimaster näherte sich jetzt immer schneller, er schien sich ein paar Meilen vor der ›Isabella‹ aus dem Wasser zu heben und über den Tang zu segeln. Die Männer fielen sich jubelnd in die Arme. An Deck brandete Geschrei auf, als das stolze Schiff mit hoher Fahrt heransegelte. Schon ließen sich einige Männer in bunter Kleidung auf dem Deck erkennen. »Verdammt! Der rammt uns noch, wenn er nicht den Kurs ändert!« brüllte Carberry. »Sind wir denn alle verrückt? Der kann doch nicht über den Tang segeln, das gibt es doch nicht. Verdammt, man müßte doch seinen Kiel sehen, aber er segelt im Wasser.« Wie gelähmt standen sie da und starrten zu dem Schiff, das immer größer und schneller wurde und haargenau auf sie zuhielt. Ferris Tucker raste wie von Furien gehetzt über Deck. Ben Brighton folgte ihm rasend schnell und Arwenack flitzte in auffallender Eile nach vorn. »Schnell, die Culverine klarmachen, der sägt uns in der Mitte durch!« Viel Zeit blieb nicht mehr, denn die Gestalten an Deck des unheimlichen Seglers hoben sich immer klarer hervor. Auch der Name am Bug war jetzt deutlich zu lesen. Es war die ›Empress of India‹, ein großes Schiff mit stark gelohten Segeln. Die Seewölfe spielten verrückt, als der scharfe Bug des Schiffes sich noch höher hob. Matt Davies raste nach achtern, gefolgt von Morgan, Batuti, Smoky, Blacky, Gary Andrews, Al Conroy und Sam Roskill. Wie die Wilden sprangen sie in mächtigen Sätzen über Bord auf den Tang und liefen ein paar Yards davon, bis sie sich in Sicherheit glaubten. 84
Nur der Seewolf und Big Old Shane behielten die Nerven, obwohl in ihnen alles vibrierte. Ferris Tucker und Ben Brighton hatten die Culverine klar. Sie erwarteten keinen Befehl von Hasard, denn hier erübrigte sich jeder Befehl, jedes Kommando, die Gefahr war zu groß und mußte beseitigt werden. Tucker hielt die Lunte an das Zündkraut. Jeden Augenblick würde jetzt der Zusammenstoß erfolgen. Hasard auf dem Achterdeck bemerkte als erster, was die anderen in ihrer Angst noch nicht sahen. Bevor der Segler die ›Isabella‹ erreicht hatte, löste er sich langsam auf und verblaßte in der Luft. Erleichtert stieß der Seewolf die Luft aus, als die Konturen der ›Empress of India‹ immer schwächer wurden und sich dann in Nichts auflösten. Ein gewaltiges Krachen und Heulen ließ ihn herumfahren. Tucker hatte die Kanone abgefeuert, aber er schoß in die Luft, wie er fassungslos feststellte. Weiter hinten klatschte die Kugel in den Tang und ging unter. Von dem Schiff war weit und breit nichts mehr zu sehen. Das reichte allen, um die ohnehin angespannten Nerven noch mehr zu ruinieren. Ein Schiff, das über den Tang segelte, dessen Mannschaft man sah, dessen Namen man deutlich lesen konnte, und das dann einfach verschwand, als wäre es eine Geistererscheinung. Total entnervt kehrten die auf den Tang Gesprungenen an Bord zurück. »Wo ist der verdammte Segler geblieben?« schrie Morgan, außer sich vor fassungslosem Staunen. »Er er hätte uns doch beinahe ...« Hasard versuchte zu lächeln, doch das erstickte schon im Ansatz und wurde nur ein kläglicher Versuch. »Es gab keinen Segler«, versuchte er den Männern zu erklären. »Das heißt, es gab ihn schon, aber er segelte weit weg irgendwo hinter der Kimm. Die Hitze verkürzt die 85
Entfernungen, die Luft spiegelt sie dichter heran, und dann sieht es so aus, als führe er direkt auf uns los. In Wirklichkeit war er etliche Meilen von uns entfernt. Es ist nur eine Luftspiegelung, eine Täuschung der wir alle zum Opfer gefallen sind, auch ich!« »Und ich sage, ich habe diesen verdammten Kahn in allen Einzelheiten gesehen«, widersprach Ferris Tucker. »Ich konnte auch den Namen lesen und habe die Männer an Bord gesehen.« »Und ich sage«, schrie Carberry, »es ist ein verdammtes Geisterschiff, das uns Furcht einjagen will! Ich bin doch nicht verrückt!« »Natürlich gab und gibt es dieses Schiff«, versuchte Hasard weiter zu erklären. »Aber es segelte ganz woanders, und nur die heiße Luft gaukelte es uns vor, dichter als es in Wirklichkeit der Fall war. Es gibt für alles eine Erklärung.« »Für dieses Schiff jedenfalls nicht«, sagte Ferris Tucker eigensinnig, »sonst hätte ich es nicht gesehen.« Die Männer murrten, keiner wollte sich damit abfinden, da konnte Hasard mit Engelszungen reden. Es war eine der übernatürlichen Erscheinungen, von denen es auf dieser verdammten Toteninsel nur so wimmelte. Eine andere Erklärung akzeptierten sie einfach nicht. Da gab der Seewolf es auf. Es hatte keinen Zweck, ihnen klarzumachen, was hier passiert war, sie würden es doch nicht kapieren. Dan O’Flynn hatte seinen anfänglichen Schrecken überwunden. Er lachte plötzlich aus vollem Hals. »Klar war es eine Luftspiegelung!« schrie er zu Tucker hinüber. »Aber du rothaariger Affe mußt ja gleich losballern und Löcher in die Luft schießen!« Tucker fuhr gereizt herum. »Du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn ich in den Mast steige!« drohte er. »Dazu bist du ja viel zu faul!« schrie Dan ungerührt zurück. Damit hatte es sich, die entnervten Männer schwiegen, und auch Tucker ging nicht weiter auf das Thema ein. 86
Das Wasser war knapp, jeder war froh, seine bescheidene Ration zu erhalten und sich nicht unnötig durch Streit zu verausgaben. Es würde noch schlimm genug werden. * Am dritten Tag ging es endgültig los. Hitze und Durst quälten die Seewölfe bis zum Umfallen. Sie hatten die letzte Nacht im Freien geschlafen, trotz der Geister, die umgingen, und auch jetzt hockten sie wieder lustlos an Deck herum. Mittlerweile war auch das zweite Segel gesetzt worden, damit sie Schutz vor der erbarmungslosen Hitze hatten. Die ›Isabella‹ begann an diesem dritten Tag in allen Verbänden pausenlos zu ächzen und zu stöhnen. Ferris Tucker sah mit Entsetzen, wie sich ein paar Planken unter der Hitzeeinwirkung verbogen. Das Schiff knarrte unheimlich, als hätte es Angst vor diesem heißen Backofen. Und in gewisser Weise war das ja auch der Fall. Hasard gab am Nachmittag den Befehl, alle Verbände, Planken und Spanten zu kontrollieren. Ferris Tucker und der Profos heizten den apathisch vor sich hindösenden Seewölfen ein. »Auf, auf, ihr Rübenschweine!« grollte der Profos. »Alles wird genau kontrolliert. Laßt euch Zeit bei der Arbeit, damit der Durst nicht noch größer wird. Ferris wird euch sagen, was zu tun ist!« Etwas später stiegen einige auf den Tang, andere inspizierten die Laderäume, die Bilgen, die Vorpiek bis zum Kiel. Immer wieder fanden sich Planken, die nicht mehr richtig saßen. Die Belastung für das Schiff war zu groß, obwohl es einer der besten Schiffsbauer Englands hergestellt hatte. Doch diese wütende, brüllende Hitze hielt auch das allerbeste Material nicht lange aus. Es mußte sich verbiegen und aus den Fugen geraten. 87
»Wir müssen Seewasser putzen«, sagte Ferris Tucker zum Seewolf. »Soviel, wie es nur geht, und das müssen wir in die Bilge kippen, sonst trocknet unser Schiff völlig aus. Das Seewasser wird die Fugen wieder restlos dichten.« »Gut, Ferris. Dann werden wir ein Loch in den Tang sprengen. Es wird ohnehin höchste Zeit, denn wenn wir hier jemals wieder herauskommen, haben wir nur noch ein Wrack unter dem Hintern. Nimm dir ein paar Männer und dann fangt an, stellt auch gleich Pützen bereit.« »Wie wär’s, wenn wir eine der Kapseln in den Tang stecken und sie zünden? Dann wissen wir gleich, was mit den Dingern los ist.« »Können wir versuchen. Ich bring dir eine!« Etwas später hatte Ferris Tucker das Ding in den Seetang gerammt, in sicherer Entfernung von dem Schiff. Wenn es wirklich eine Explosion gab, konnte der ›Isabella‹ nichts geschehen. Die anderen sahen neugierig zu, wie er die Lunte zündete. Sie brannte verdammt rasch ab, wie Tucker entsetzt bemerkte, und er beeilte sich, den gefährlichen Bereich zu verlassen, denn noch kannte niemand die Wirkung. »Habt ihr den Kasten?« rief er. »Das Ding ist bereit, Ferris. Wir werfen es hinüber, sobald der Tang aufreißt.« Jetzt herrschte wieder einigermaßen gute Laune unter den Männern. Die Aussicht, bald in kühlem Meerwasser zu baden, beflügelte sie. * Die Überraschung die dann folgte, war genauso schlimm wie die Erscheinung des Schiffes, das sich in Nichts aufgelöst hatte. Innerhalb kürzester Zeit brannte die Lunte funkenstiebend und fauchend ab. 88
Und dann geschah es. Statt es üblichen Knalls und des Pulverrauches, den jeder erwartete, zischte das Ding feuerspeiend und wild kreischend aus dem Tang, raste in einem langen Bogen funkenstiebend in den Himmel, flog eine Weile waagrecht durch die Luft und stieß dann hinunter. Es raste, zischte und heulte genau in einen der halbverrotteten Segler hinein. An Deck entfaltete sich eine riesige Prachtblüte von unvorstellbarer blutroter Farbe. Kleine Feuer, die ebenfalls noch in der Luft zerplatzten und in die Takelage fuhren, setzten den alten Segler schlagartig in Flammen. Überrascht und erstarrt standen sie alle da. Niemand begriff so richtig, was sich da soeben vor ihren Augen abgespielt hatte. Aber den durchschlagenden Erfolg sahen sie. Eine riesige Feuerfackel strebte zum Himmel, der Gluthauch drang bis zu ›Isabella‹ herüber, und der alte Segler war nur noch ein einziges Flammenmeer. Hasard war von dieser Demonstration wesentlich mehr beeindruckt als von dem Geisterschiff oder den tanzenden Flammen. Das hier war etwas Umwerfendes, es dauerte endlos lange, bis er die Sprache wiederfand. »Ein Brandsatz«, sagte er tief beeindruckt, »der weiter schießt als unsere Culverinen und der sich ziemlich genau lenken läßt, wenn man sich erst mit ihm auskennt. Donnerwetter, jetzt weiß ich auch, warum dieses merkwürdige Schiff keine Kanonen an Bord hatte. Mit dieser Waffe kann man sich fast noch besser verteidigen. Ich gehe sofort und hole auch die anderen Dinger. Hackt inzwischen ein Loch in den Tang, aber seid vorsichtig, denn wenn einer hineinfällt und unter die Decke gerat, kommt er nicht mehr heraus.« »Aye, aye«, stammelte Ferris Tucker, der entsetzt zu dem glutenden Wrack hinüberstarrte, das jetzt langsam in sich zusammensank. Ben Brighton und seine Kameraden waren genauso sprachlos. Niemand achtete auf den Seewolf, der eine einmalige 89
Gelegenheit sah, sich mit diesen Dingern wehren oder aber dem Gegner zumindest einen heillosen Schrecken verpassen zu können. »Wie hast du das verdammte Ding denn gelenkt?« wollte Ben Brighton wissen. »Du hast genau das Schiff getroffen.« »Ja, ich weiß, aber ich habe es nur in den Tang gesteckt und mir nichts dabei gedacht. Stimmt«, murmelte er nachdenklich, »jetzt fällt es mir ein: Die Spitze von diesem Ding zeigte in jene Richtung. Das ist ja eine verdammt unheimliche Waffe. Wenn man die richtig einsetzt, dann ...« Er sprach nicht weiter, aber jeder erriet seine Gedanken. Eine wahrhaft teuflische Waffe, die alles sofort in Brand schoß. Die würden sie sicher irgendwann einmal ausprobieren. »So, wir haben jetzt genug Überraschungen hinter uns«, sagte Carberry. »Jetzt wird nach Wasser gegraben, aber dalli, wir wollen endlich mal ein anständiges Bad nehmen.« »Auf dem Wasser nach Wasser graben«, begeisterte sich Matt Davies, »das ist wirklich der beste Witz, den ich gehört habe. Wenn wir das erzählen, lacht uns jeder aus.« »Sollen sie lachen, Hauptsache wir finden welches!« Tucker hatte wieder eine Idee. Er ließ den unförmigen, aus Planken zusammengenagelten Kasten heranschleppen, der nichts weiter war als ein großes schwimmendes Viereck. »Zwei Mann werden von uns angeleint und steigen in das Ding«, befahl er. »Und dann wird fleißig gebuddelt, alle zehn Minuten wechseln wir uns ab, ist das klar? So kann nichts passieren und keiner unversehends in die Tiefe rutschen.« Bis Hasard zurückkehrte, war das Loch zwei Yards tief. Der Seewolf trug eine schwere Kiste, die mit den merkwürdigen Waffen bis obenhin gefüllt war. Er hatte sie unter der Koje des toten Kapitäns entdeckt. Er trug sie in seine Kammer und erschien wieder. Auch er half mit und grub mit Schaufel und Händen. Je tiefer sie vordrangen, um so gefährlicher wurde es, denn ab und zu 90
gluckerte Wasser durch, und der Tang wurde glitschig und schmierig. Neben und um den Kasten häuften sich Tangmassen. Die Männer konnten nur noch angeleint arbeiten, denn immer wieder sackten sie unvermittelt tief ein. Jedesmal strafften sich sofort die Leinen. »Wir sind gleich durch«, teilte Bob Grey mit, der jetzt an der Reihe war und den stinkenden Tang nach allen Seiten feuerte. Es dauerte auch nicht mehr lange, dann war es geschafft. Bob sank mit einem entzückten Schrei in die Tiefe und wurde grantig, als der Profos ihn kurzerhand an der Leine hochzog. Jetzt wurden noch die restlichen Algen herausgeholt und dann gähnte es tief unter ihnen dunkelblau und geheimnisvoll. Kaltes, erfrischendes Meerwasser! Die Begeisterung kannte keine Grenzen. Sie schöpften Wasser wie die Verrückten, gossen es sich über die erhitzten Körper und bespritzten sich gegenseitig damit, bis Hasard dem ein Ende setzte. »Drei Mann können baden, drei andere halten die Badenden, fest, weitere drei pützen Wasser in die Bilge und drei Mann nehmen es an der Reling ab. Die restlichen Leute ruhen sich jeweils aus. So kommt jeder zu seinem Teil!« Eine wilde ausgelassene Freude herrschte. Daran, daß unter ihnen Haie ihre Bahn zogen, dachte in diesem Moment niemand. Sie sahen nur das kühle Naß, daß so ungemein erfrischte. Was war da schon ein Hai, der würde vor der ausgelassenen Horde höchstens erschrecken und sich davonschleichen. Alle Viertelstunde lang lösten sie sich ab. Klatschnaß standen sie dann auf dem Tang und hielten ihre Kameraden fest, damit die nicht abrutschten, und im Tang erstickten. Carberry verfiel auf die Idee, zu angeln, nachdem der erste Spaß sich langsam legte. Mit fettem Speck brachte er Haken an langen Leinen aus, die Ferris Tucker an dem Viereck 91
festnagelte. Dann wurde weitergepützt. Die ›Isabella‹, in der Bilge ausgetrocknet wie die Wüste, kriegte Wasser in den Bauch, damit sich ihre Verbände, die immer noch knackten und knisterten, wieder festigten. Am Abend, vor der kurzen Dämmerung, waren sie fertig. In den trockenen Bilgen schwamm wieder Wasser. Carberry ging zu seinen Angeln und zog sie heraus. Zwei kräftige Fünfzehnpfünder hingen daran, die sich in dem Speck verbissen hatten. »So, Kutscher, Arbeit für dich«, sagte er. »Hau uns diese Dinger mal in die Pfanne, damit es Abwechslung gibt. Ich denke, bei einiger Überlegung kann man auf dem Tang schon eine Weile am Leben bleiben, sofern man genügend Trinkwasser hat«, schränkte er ein. Der Kutscher nahm die beiden Fische, begutachtete sie und nickte. »Sie enthalten Wasser«, sagte er, »viel Wasser. Wenn wir noch mehr von der Sorte fangen, können wir unsere Wasservorräte ein wenig strecken. Ich kenne da eine Methode.« Am späten Abend saßen sie an Deck und verzehrten die beiden großen Fische. Hasard ließ eine Extraration Trinkwasser ausgeben, worüber sie sich heute mehr freuten als über ein Faß Rum. Darauf hatte bei dieser Hitze ohnehin niemand Appetit, und außerdem ließ es den Durst nur noch schlimmer werden. Nach dem Essen erlosch die heitere Gelassenheit schnell wieder, und jeder dachte an die Probleme, die sie hatten. Das Trinkwasser ging immer mehr zur Neige, es würde jetzt nur noch ein paar Tage reichen. Die Seewölfe schliefen wieder an Deck in dieser Nacht, die nur wenig heißer war als der vorangegangene Tag. Drei Mann teilten sich in die Wache, diese endlosen Stunden, die kein Ende nahmen und in denen jeder das Gefühl hatte, gleich würden die Seelen der Verstorbenen wieder 92
herumgeistern. Aber es geschah nichts, die Nacht blieb ruhig.
9. Am Morgen des vierten Tages hatte Hasard seinen Entschluß gefaßt. Es war ihm nicht leichtgefallen, aber es gab einfach keine andere Möglichkeit. Während die Morgenhitze aufs Deck knallte und die ersten Männer erwachten, zum Loch im Tang hinübergingen und hineinsprangen, wartete der Seewolf ungeduldig. Er wartete, bis auch der letzte wieder an Bord war. »Hört her, Männer!« rief er. »Ich habe euch etwas vorzuschlagen. Da unser Schicksal davon abhängt, werden wir anschließend abstimmen.« Gesichter, in denen bange Erwartung stand, sahen ihn an, wie er auf dem Achterdeck stand, mit sonnenverbranntem Gesicht und schwarzen Haaren, weißen blitzenden Zähnen. Alle warteten darauf, daß der Seewolf weitersprach. »Unser Trinkwasser geht zur Neige«, fuhr Hasard fort. »Was das heißt, brauchte ich nicht extra zu betonen, wir haben es ja gesehen. Deshalb schlage ich vor, daß wir die ›Isabella‹ verlassen, alles mitnehmen, was wir tragen können und das Ende dieser verdammten Tanginsel suchen, bis wir auf Wasser stoßen. Wir werden genügend Planken mitnehmen, um später daraus ein Floß zu zimmern. Das ist - in groben Zügen - mein Vorschlag.« Hasard tat es in der Seele leid, das wunderbare, ranke und stolze Schiff aufzugeben, doch was sollten sie sonst tun? Hierbleiben und warten, bis der Tod sie holte? Er war gespannt wie die Männer reagieren würden. Sein Vorschlag stieß sofort auf Begeisterung. Carberry hob die Faust. 93
»Richtig so!« donnerte seine Stimme los. »Das ist ein vernünftiger Vorschlag, Hasard. Lieber verrecken wir unterwegs, als hier elend an Bord zu krepieren. So haben wir wenigstens das Bewußtsein, etwas getan zu haben, statt kampflos aufzugeben.« »Richtig!« rief Ferris Tucker. »Es tut uns allen um das schöne Schiff leid, es ist wirklich ein Jammer, wenn es hier vermodert, aber ich bin dabei. Keiner von den Männern kann diese Toten, Skelette und Knochen mehr sehen. Und in ein paar Tagen sind wir verdurstet.« »Deine Meinung, Big Old Shane?« fragte Hasard seinen väterlichen Freund, den granitharten Waffenschmied von Arwenack. Old Shane galt als bedächtiger und nüchtern abwägender Mann. Er sah Hasard in die Augen, die mächtigen Arme mit den Muskelwülsten hatte er vor der nackten Brust verschränkt. »Ich stimme dir ebenfalls zu, Hasard. Wir können hier nicht ewig auf ein Wunder warten, das es nicht gibt. Die einzige Frage ist nur die: In welche Richtung marschieren wir, um die größte Chance zu haben, freies Wasser zu entdecken?« Darüber hatte Hasard auch schon nachgedacht. »Wir laufen auf dem entgegengesetzten Kurs zurück, den wir gekommen sind, Old Shane. Davon verspreche ich mir das meiste, denn in dieser Richtung liegen auch die wenigsten Wracks.« »Das klingt logisch«, sagte Ben Brighton, der neben dem Seewolf auf dem Achterdeck stand. »Wir sind lange Zeit durch den Tang gesegelt, bis er immer fester wurde. Weiter vor uns kann er sich meilenweit erstrecken, hinter uns aber kann es sich vielleicht nur um ein paar Meilen handeln.« »Wer ist dagegen?« fragte der Seewolf. Keiner meldete sich. Alle waren dafür. Sie wollten etwas unternehmen, sie waren nicht die Kerle, die tatenlos herumhockten und auf den unausbleiblichen Tod 94
warteten, der mit jeder Stunde näherrückte. »Ich habe es auch nicht anders erwartet«, sagte Hasard. »Dann werden wir heute im Lauf des Nachmittags damit beginnen, alles zu klarieren. Was wir an Nahrungsmitteln und Trinkwasser noch haben, das schleppen wir mit. Profos!« Carberrys Gestalt straffte sich. Er war froh, daß etwas unternommen wurde, das Herumsitzen trieb ihn fast zum Wahnsinn. »Du sorgst dafür, daß jeder Mann seine ihm zugedachte Aufgabe erfüllt. Ben und du werdet alles einleiten. Wir konservieren die ›Isabella‹ vorübergehend und brechen morgen in aller Frühe auf. Laß noch mehr Seewasser in die Bilgen putzen, vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, das Schiff später zu retten.« »Wird gemacht«, erwiderte der Profos. * Es kam jedoch anders, als die Seewölfe es sich vorgestellt hatten. Am Abend, als der Profos bereits jeden Mann eingeteilt hatte, zog am Horizont eine dunkelgelbe Wolkenbank auf. Drohend schob sie sich immer weiter über die Kimm, ballte sich unheilvoll zusammen und rückte langsam näher heran. Es kühlte etwas ab. Und wieder war dieses eigenartige Kribbeln in der Luft, das sie so nervös werden ließ. Die Wolke wurde schwefelgelb mit pechschwarzen Flecken darin, die sich immer mehr zusammenballten. Carberry schlich witternd an Deck herum. Seine Nase schnüffelte in alle Richtungen. Er traf Hasard auf dem Achterkastell und blieb stehen. »Sieht verdammt nach einem Unwetter aus«, sagte er. »Man kann den Wind förmlich riechen.« »Oder das Gewitter. Nichts würde mich mehr freuen als ein handfester Sturm. Ich kann es mir kaum vorstellen.« 95
Die Unruhe unter den Männern wuchs mit jeder Stunde, in der die drohende Wolkenbank näherrückte. Die Luft wurde immer drückender, immer schwüler und kurz darauf brach die Dunkelheit herein. Es versprach, eine Nacht zu werden, wie sie die Seewölfe bereits einmal erlebt hatten. Nur war diesmal die Angst nicht so groß. Um neun Uhr abends bezog Dan seine erste Wache im Großmars. Er sah die Planken, die an Deck lagen, den aufgeschichteten Proviant, alles, was sie für den morgigen Tagen bereit gelegt hatten, um die ›Isabella‹ zu verlassen und ihre Wanderung über den Tang anzutreten. Arwenack war zusammen mit Dan auf geentert. Der Schimpanse hockte lustlos herum und sah aus, als wäre er krank. Ihm schlug das Wetter ganz besonders aufs Gemüt. Eine halbe Stunde später ging der Totentanz los, wie Dan ihn insgeheim bezeichnete. Die Luft begann zu glühen. Überall zuckten winzige Flämmchen hoch. Dan O’Flynn überfiel wieder die Angst, jenes Grauen, das ihm die Nackenhaare aufrichtete und den Schweiß ausbrechen ließ. Verdammt, ausgerechnet er hatte wieder einmal Wache, und diesmal ganz allein. Die anderen stärkten sich für den morgigen Tag und sammelten Kräfte, deshalb schliefen sie. Die Nacht war pechschwarz, so wie die erste Nacht, und schon wieder tanzte die erste Flamme auf dem Tang. Sie irrlichterte rund um das Schiff, zuckte, verschwand wieder, tanzte dann weiter draußen bei den anderen Wracks und fand die zweite, die aus dem Tang auftauchte. Dan wurde es fast übel, als winzige Blitze durch die Nacht zuckten. Immer mehr wurden es. Sie tauchten aus dem Nichts auf, hielten sich eine Weile und verschwanden im Nichts, als wären sie erloschen. Aber sie erloschen nicht wirklich, sie erschienen immer wieder. Im Großmars begann es höchst ungemütlich zu werden. Und dann, Dan traute seinen Ohren nicht, begann es zu pfeifen und 96
zu singen. In den Wanten sang es, in den Pardunen, in dem laufenden Gut. Wind! Der erste Windhauch seit Tagen! Dan starrte ängstlich auf das kleine Licht, das auf die Rahnock hüpfte und gemächlich auf ihr entlangwanderte, bis es in seine Nähe geriet. Es hatte die Form eines kleinen Sterns, der aufgeregt hin und her zuckte, als wolle er Dan etwas mitteilen. Noch während er es anstarrte, huschte es davon und wurde unsichtbar. Eine kurze Bö fegte heran. Dan hielt die Luft an, denn jetzt begann es in der Takelage leise zu heulen. Er mochte den Wind, der ihn so.plötzlich aus dem Nichts heraus anwehte, er konnte nichts Schlechtes bedeuten, doch es änderte nichts an seiner Angst vor dieser unheimlichen pechschwarzen Nacht, in der man die Hand nicht vor Augen sah. Ein knatternder Blitz ließ ihn zusammenfahren. Er spaltete den ganzen Himmel und röhrte unheimlich, bis er sich in der Ferne verlor. Ein großer Regentropfen klatschte ihm ins Gesicht, gleich darauf ein zweiter. Wieder fegte eine harte Bö heran. Ihr folgte ein Blitz der das ganze Firmament aufriß und die Geisterschiffe gespenstisch tanzen ließ. Jetzt wirkten sie noch unheimlicher als sonst. Arwenack begann leise zu klagen, er duckte sich hinter die Segeltuchverspannung. Der Himmel begann, seine Schleusen zu öffnen. Immer mehr Regentropfen wurden es, die Dan ins Gesicht klatschten. Anfangs kriegte er das nicht so richtig mit, aber dann wurde ihm schlagartig klar, was das bedeutete. Regen! Trinkwasser! Das Wasser, das sie so nötig brauchten! Wie der Blitz enterte er ab und brüllte schon an Deck: »Regen! Es regnet! Raus aus den Kojen mit euch!« »Brüll nicht so!« wurde er von Carberry angeknurrt. »Ich bin schon wach. Sieh zu, daß du Lampen anzündest, damit wir etwas sehen!« 97
Innerhalb kürzester Zeit war die Mannschaft auf den Beinen. Mit nackten Oberkörpern standen sie an Deck. Hasard war mitten unter ihnen. »Schnell, Segelleinen spannen!« rief er. »Wir brauchen jeden Tropfen, der vom Himmel fällt. Kutscher, die Fässer an Deck und ein paar Pützen!« Eine hektische Betriebsamkeit herrschte, als der Regen immer stärker wurde. »Mann, Regen«, stammelte Smoky, außer sich vor Freude. »Wenn wir genug abkriegen, sind wir gerettet und brauchen nicht über den verdammten Tang zu latschen.« Überall wurden Segelleinen gespannt, die das kostbare Naß auffingen. Der Kutscher raste hin und her, schöpfte Wasser aus den Leinen und goß es in die Fässer. Dazwischen blitzte es jetzt pausenlos. Lange, endlos lange Blitze rasten herab, fuhren donnernd und krachend in den Tang und erhellten die schwarze Nacht zum Tag. Ein Faß ums andere wurde gefüllt, sofort verstaut, die nächsten geholt, wieder gefüllt. Regen, kostbarer Regen, der das Leben verlängerte. Mehr durften sie vom Schicksal nicht erhoffen, das es jetzt ausgesprochen gut mit ihnen meinte. Das Unwetter stand fest über ihnen und tobte sich aus. Mit Blitz und Donner, Wind und Regen. Die blauen Lichter waren verschwunden, aber immer wenn ein Blitz den Himmel fahl und schrecklich erleuchtete, sahen sie die auf und nieder wogenden Wracks, die in allen Verbänden knarrten und klagten. Windstöße brachten die Takelage zum Singen. Der Sturm nahm mit jeder Sekunde an Heftigkeit zu. Als auch die letzten Fässer gefüllt waren, dachte niemand mehr an Schlaf. Jeder hegte die Hoffnung, daß der Tang aufreißen und die ›Isabella‹ sich freisegeln könnte. Um das Schiff herum schwappte, brodelte und zischte es. Die 98
Tangdecke geriet in Bewegung. In langen Intervallen hob und senkte sie sich, übertrug diese wellenförmige Bewegung auf das Schiff und ließ es tanzen. Dann, ganz überraschend, schwieg der Wind, der Regen hörte auf, es wurde unheimlich still. »Ein Orkan kündigt sich an«, sagte Hasard mit unbewegtem Gesicht. »Wir geraten von einem Extrem ins andere. Aber so ist es mir lieber. Verstaut das herumliegende Zeug unter Deck.« Schlagartig überrannte sie eine gewaltige Bö. An der Backbordseite stieg der Tang hoch, bis er fast die Reling erreichte. Leicht legte sich die ›Isabella‹ über, unter ihr rollte es dumpf. In das Heulen des Windes mischte sich das berstende Krachen und Reißen eines der Wracks, das der Sturm auseinanderriß. Ein gewaltiger Blitz beleuchtete das chaotische Schauspiel. Das Geisterschiff brach auseinander, bevor seine Reste im aufgewühlten Tang verschwanden und auseinander trieben. Überall tanzten die Geisterschiffe jetzt ihren Totentanz in dem aufgewühlten Tang, der kochte und brodelte, aus dem es zischte und dampfte, der sich träge erhob zu glitschigen Wellen, die wie schwarze Pferde in der Nacht davoneilten. Die ›Isabella‹ rollte in einer langgezogenen Dünung, und es gab keinen an Bord, der nicht glücklich darüber gewesen wäre. Hier waren sie wieder in ihrem Element, wenn auch die Angst dabei war, die Angst vor der Hilflosigkeit, der sie erneut ausgesetzt waren. Ein knatternder Blitz ließ den Seewolf herumfahren. »Da hat sich etwas verändert, Ben«, sagte er. »Warte auf den nächsten Blitz, dann wirst du es sehen!« Der nächste Blitz folgte sofort, Beide Männer blickten zu den Wracks hinüber. Die, die sie kannten, hatten sich mittlerweile weit entfernt, oder die ›Isabella‹ war weitergetrieben, das ließ 99
sich schlecht sagen. »Wir treiben«, sagte Ben erregt, »und zwar ziemlich schnell. Der Wind drückt uns vor sich her.« »Ganz richtig! Wir treiben mit dem Tang, der sich an einzelnen Stellen gelöst hat. Aber wohin treiben wir? Es sieht ganz danach aus, als wären wir in eine Strömung geraten.« Immer noch nahm der Sturm an Heftigkeit zu. Knallharte Böen ließen das Schiff von den Toppen bis zum Kiel erzittern. Tang zerrte und schabte am Rumpf, die Decke bewegte sich bis zum Schanzkleid. Mitunter schwappte die schwarze Brühe an Deck. Und die ›Isabella‹ lief rasende Fahrt, ohne Segel, ohne Steuer wurde sie vorwärtsgetrieben, durch pechschwarze Nacht, durch zähen Tang, der sich nur widerwillig von ihrem Rumpf löste. »Laß die Notbeseglung anschlagen, Ben! Jetzt sofort!« Brighton gab seine Kommandos weiter. An Bord wurde geschuftet wie selten zuvor. Die Sturm und Notsegel wurden angeschlagen. Die Männer keuchten und schwitzten. Die Nacht wurde noch schwärzer, der Wind nahm zu, ließ die Galeone krängen, die mit aller Macht durch den zerfetzten Tang drängte und wie rasend vor dem heulenden Wind herlief. Haarscharf jagte sie an einem Wrack vorbei, dann tauchte beleuchtet von einem langen Blitz ein zweites Geisterschiff auf. Hasard überlegte nicht lange. Steuern ließ sich die ›Isabella‹ noch nicht, der Tang hatte sie immer noch nicht freigegeben, er war nur an vereinzelten Stellen aufgerissen und trieb in riesigen Inseln davon. »Vordere Drehbassen klar zum Feuern!« schallte seine Stimme durch das Tosen und Heulen des Sturmes. »Beim nächsten Blitz könnt ihr das Ziel erkennen. Voll draufhalten! Schießt den Kahn in Grund und Boden!« In fieberhafter Eile wurden die Drehbassen geladen. Der Kutscher lief mit einer glimmenden Lunte aus der Kombüse, 100
die er Ferris Tucker reichte. Aus dem Großmars schrie Dan seine Warnung an Deck. »Wrack backbord voraus auf Kollisionskurs. Entfernung etwa hundertfünfzig Yards!« Zwei Blitze zuckten knatternd vom Himmel und erhellten die gespenstische Szenerie bis in die kleinste Einzelheit. Da lag das Wrack. Es krängte schwer über, seine Masten waren gebrochen, es nahm Wasser auf. »Feuer frei!« schrie Hasard. Die Drehbassen waren herumgeschwenkt. Al Conroy bediente die eine, Ferris Tucker die andere. Wummernd entluden sich die schweren Geschütze und spuckten Blei und Eisen in die finstere Nacht ihrem Ziel entgegen. Pausenlose Blitze zeigten an, daß die Ladungen beider Drehbassen voll im Ziel lagen. In dem ohnehin brüchigen Wrack schlug es mit unvorstellbarer Wucht ein. Das morsche Holz flog auseinander, zerfetzte, zerriß splitternd und krachend. Ganze Planken segelten durch die Luft und wurden vom Sturm davongetragen. Das Wrack begann zu sinken, aber zu langsam. Noch bildete es eine höllische Gefahr für die ›Isabella‹, die genau darauf losfuhr. Hasard sprang ans Ruder, wirbelte das Rad herum, bis der Anschlag an den Quadranten erfolgte. Zwecklos, die Galeone gehorchte dem Druck auf das Ruder nicht. Sie lief eigenwillig auf ihrem alten Kurs weiter. Auf dem Vorschiff stand fluchend und schimpfend der Profos. »Dieser verfluchte Mistkahn muß doch endlich absaufen«, brüllte er und schüttelte drohend die Faust. Dann hob sich das Schiff zu seiner Verblüffung mit dem Bug hoch in die Luft, der Rest der zersplitterten Masten ging über Bord, ein paar verrottete Geschütze rissen sich los und durchbrachen das Schanzkleid. 101
Das Wrack soff ab, mit unwahrscheinlichem Tempo ging es auf Tiefe, gerade in dem Augenblick, als die ›Isabella‹ darüber wegglitt. Hasard erwartete das Schaben und Knirschen, weil er glaubte, sie würden das Wrack noch berühren. Aber das Glück blieb ihnen treu. Dafür packte sie ein gewaltiger Strudel, der sie hart nach Backbord herumriß, sie schwer krängen ließ und dann wie aus einem Geschütz abgefeuert, nach vorn schleuderte. Es kostete Anstrengung, die Nerven zu behalten. Das war gerade noch einmal gutgegangen, dachte der Seewolf. Immer weiter riß es die Galeone fort, einem unbekannten Ziel entgegen, das Sturmrichtung und Strömung bestimmten. Aber dafür riß auch der Tang immer weiter auf. Immer mehr große Flecken entstanden, einzelne riesige Inseln, die wie in einem unheilvollen Mahlstrom dahintrieben. In dieser Nacht packte sie alle noch einmal das Grauen, trotz der Gewißheit, das Schlimmste hinter sich zu haben und nicht mehr Gefangene der Tanginsel zu sein. Sie hatten wieder Wasser, und sie würden sich freisegeln, wenn es eine Möglichkeit gab. Es wurde eine schlimme Nacht. An Schlaf dachte niemand mehr, denn die ›Isabella‹ wurde immer schneller, und keiner hatte den geringsten Einfluß auf ihren Kurs.
10. Dan O’Flynn hockte restlos entnervt und übernächtigt im Großmars, als die erste Morgendämmerung einsetzte. Schon seit Stunden starrte er sich die Augen aus. Sie waren rotgerändert und brannten. Auch die Crew war übernächtigt. Ein Teil der Sturmsegel war hinüber, zerfetzt von dem orkanartigen Wirbel, der die Galeone 102
fast zum Kentern gebracht hatte. Dieser Sturm hatte viel von seiner Stärke verloren, blies aber immer noch so kräftig, daß die ›Isabella‹ vor ihm herlaufen mußte. Und dann gab es zweifellos eine Strömung, die den Einfluß noch verstärkte. Beharrlich lief das Schiff einem geheimnisvollen Ziel entgegen. Der Tang und die Geisterschiffe waren verschwunden. Nur ab und zu sichtete Dan ein paar kleinere Inseln, weitab, die keine Gefahr mehr darstellten. »Land voraus!« erscholl plötzlich seine Stimme. Hasard nahm das Spektiv, zog es auseinander und blickte hindurch. Er reichte es an Ben weiter. »Scheint ein Gebirge zu sein, das mitten aus dem Meer aufragt«, sagte er erstaunt. »Und wir segeln genau darauf zu«, erwiderte Ben trocken. »Felsen, Riffe, mehr kann ich nicht erkennen.« »Das genügt auch«, sagte der Seewolf. »Wenn ich nur wüßte, wo wir hier sind. Die Abdrift war so stark, daß sich kein Kurs mehr berechnen ließ.« Noch einmal blickte er durch das Spektiv. Die hohen Felsen schoben sich näher. Es war, als segele der Teufel selbst die ›Isabella‹ genau darauf zu. Mit jeder Minute wurde die Gefahr größer, auf unterseeische Riffe oder Felsen aufzulaufen. »Ruder hart Steuerbord!« befahl Hasard. »Wir gehen höher an den Wind. Anluven!« Pete Ballie legte Ruder, nachdem er den Befehl wiederholt hatte. Die Galeone protestierte. Hasard sah mit Erstaunen, daß es mit dem Anluven nicht klappte, das Schiff lief weiter, es drehte nur ein klein wenig an den Wind, fiel dann aber gleich wieder ab. »Verdammt!« sagte der Seewolf inbrünstig. »Dann haben wir es doch mit einer starken Strömung zu tun.« 103
Eine Halse zu fahren, war bei dieser hohen Fahrt Wahnsinn. Außerdem ließ die unterseeische Strömung das nicht zu. Hasard kam es vor, als lenke ein Unsichtbarer das Schiff, das jetzt noch schneller wurde. In der Takelage schufteten die Männer zum Umfallen. Die Notbesegelung wurde weiter eingeholt. Die Felsen rückten näher. Dunkel und drohend ragten sie aus dem Meer, himmelhoch, fast schwarzes Gestein mit scharfen Kanten. Wie riesige Dome standen die Felsen nebeneinander. Dan legte die Hände vor den Mund und schrie aus Leibeskräften: »Dort voraus gibt es eine Passage! Ein riesiges Tor, aber doch verdammt schmal für uns!« Hasard hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Einen Augenblick überlegte er noch, dann hatte er sich entschieden. Es gab keine andere Lösung. Wenn die ›Isabella‹ nicht an den scharfkantigen Felsen zerschellen sollte, mußten sie versuchen, in diese Passage hineinzusegeln. Wahrscheinlich würden sie es nicht schaffen, denn das dunkel gähnende Tor hatte Auswüchse und Riffe unter dem Wasser. »Alles Zeug hoch!« schrie Hasard. »Setzt jeden Fetzen, den wir noch haben! Und haltet euch fest! Wir segeln dort hindurch!« »Wahnsinn!« stöhnte der Profos. »Wir werden auseinanderfliegen, daß es nur so kracht. Seht euch nur diese himmelhohen Türme an!« Im Nu waren die restlichen Segel gesetzt. Mit einer Höllenfahrt, die wahnwitzig anmutete, jagte die ›Isabella‹ dem gähnenden, dunklen Schlund entgegen, einer sehr schmalen Passage zwischen den gigantischen Felsen. Was sich dahinter verbarg, wußte niemand. »Zwei Mann klar bei Anker!« brüllte Hasard. »Die anderen an die Brassen und Schoten, es kommt gleich auf jede Sekunde an.« 104
Batuti bekreuzigte sich wieder. Die Männer waren blaß und verstört. Nahm diese Höllenfahrt denn überhaupt kein Ende? Konnte es nicht auch mal einen Tag ohne Schrecken geben? Es sah nicht danach aus. Das Gebirge war jetzt so weit vorgerückt, daß man jede
Einzelheit erkennen konnte. Himmelhoch wuchsen die kahlen
Felsen, scharfkantig stachen sie teilweise in die Passage hinein.
Pete Ballie kriegte das große Zittern. Hasard sah ihn ruhig an.
»Keine Angst, ich übernehme, Pete. Halte dich irgendwo fest, falls wir auflaufen.« Hasard stellte sich ans Ruder. Mit Schaudern sah er, wie das Seewasser gurgelnd und schäumend in einem gewaltigen Sog in die Passage gerissen wurde, in der es brodelte und kochte ein Mahlstrom von tödlicher, elementarer Gewalt. An Deck wurden pessimistische Stimmen laut. »Das ist die Einfahrt in die Hölle.« »Da kommen wir nie durch, nur als Trümmerhaufen!« »Das schafft selbst der Seewolf nicht! Haltet euch lieber fest!« Hasard setzte jetzt alles auf eine Karte. Das Schiff würden sie so oder so verlieren, das stand fest. Rasten sie nicht durch diese schmale Passage, dann donnerten sie auf die Klippen. Dann war es schon besser, zu versuchen, dem Teufel ein Ohr abzusegeln. Gebannt starrten die Seewölfe auf den schwarzhaarigen Mann am Ruder, der wild lachte, dessen schwarze Haare im Sturm flatterten, der das Ruder fest mit beiden Händen hielt, die eisblauen Augen stur nach vorn gerichtet. Ja, das war schon ein Kerl, dieser verwegene Seewolf. Aber durch diese Passage konnte nur einer segeln, der mit dem Teufel persönlich einen Pakt geschlossen hatte. Alle anderen mußten zur Hölle fahren. Bei dieser hohen Fahrt, die die Galeone lief, würde sie bei der leisesten Berührung in alle Einzelteile zerlegt werden. 105
Die Segel waren mit dem achterlichen Wind bis zum Bersten gefüllt. Der Bug mit der schäumenden Welle hob sich immer höher aus dem Wasser. »Wir müssen hier durch!« brüllte Hasard durch das Heulen des Sturmes, das Gurgeln und Schäumen des kochenden Mahlstromes. »Und wenn es uns in Stücke reißt!« Dann war es soweit. Die ›Isabella‹ fegte auf die Passage zu, als habe sie hundert Stürme im Nacken. Hasard hielt sie mit eiserner Hand, als sie ein paarmal auszubrechen drohte. Wie ein wildes ungezügeltes Pferd jagte sie in den Mahlstrom hinein, gesteuert von einem schwarzhaarigen Teufel, der sie mit harter Hand auf Kurs zwang. Rechts und links Felswände, die näherrasten und das Schiff zermalmen wollten. Die Felsen streiften fast die Bordwände, jeder konnte sie mühelos berühren, nur dachte in diesem entsetzlichen Augenblick keiner daran. Und dann sahen sie den Seewolf an, der wie in Baum hinter dem Ruder aufragte und die Galeone durch die Passage knüppelte, vorbei an schroffen Felsen und gezacktem Gestein. Mit schäumender Bugwelle brauste die Galeone weiter auf einen himmelhohen Felsen zu, der ihr urplötzlich den Weg versperrte. »Amen!« sagte der Profos und ließ sich auf Deck fallen. Er erwartete den fürchterlichen Anprall. Aber Hasard hatte das Schiff in der Hand. Es gehorchte jetzt, nachdem sie das Gröbste passiert hatten, dem leisesten Druck. Haarscharf schwang der Bug vor dem Hindernis herum, das Heck drohte jetzt zu zerschellen. Hasard wirbelte das Ruder blitzschnell nach Steuerbord. Die ›Isabella‹ tanzte wie eine Wahnsinnige und dann schoß sie mit vehementer Fahrt in ruhiges Wasser hinein. Der Mahlstrom verlief sich hier, bildete weiter vorn zwischen anderen Felsen mehrere Strudel, die sich aber immer mehr abschwächten. »Fallen Anker!« 106
Hasards Stimme peitschte über das Deck. Der Profos, der sich schon im Himmel oder der Hölle glaubte, hatte einen derartig erstaunten Blick, daß alles lachte. Klatschend fiel der Anker ins Wasser, die Ankertrosse lief aus, zwanzig Faden, dreißig, vierzig, dann faßte der Anker Grund. Die anderen hatte Ben Brighton bereits in die Takelage getrieben, um die restlichen Segel zu bergen. »Anker hält!« brüllte der Profos nach achtern. Die Fahrt verringerte sich augenblicklich. Die Ankertrosse straffte sich so stark, als würde sie gleich brechen. In einem langen, eleganten Bogen schwoite die ›Isabella‹ an der Ankertrosse herum. Bis zum nächsten Felsen fehlten nur ein paar Yards. Als Hasard vom Achterkastell nach vorn kam, herrschte sekundenlang Totenstille. Alle starrten ihn an. Sie begriffen es nicht. Als es um Leben und Tod ging, hatte der Seewolf gelacht! Lautlos zwar, aber das Lachen hatte ihn nur so geschüttelt. Übergangslos brach sich der Jubel Bahn. Carberry riß die Arme hoch. »Ein Hoch für den Seewolf!« brüllte er. »Dieser Satansbraten hat das geschafft, was keinem gelungen wäre. Er hat dem Teufel ein Ohr abgesegelt!« Schreie brandeten auf, die Begeisterung kannte keine Grenzen. Sie waren durch das Tor der Hölle gesegelt, ohne Schaden zu nehmen. Kein Wunder, wenn der Fürst der Hölle persönlich am Ruder stand. So jedenfalls hatte er ausgesehen, als er lachte, ein schwarzhaariger Teufel, den nichts schreckte, dem nicht einmal die Geister im Meer der toten Seelen imponierten. »Jetzt haben wir Zeit, uns umzusehen«, sagte der Seewolf. »Nach all dem Pech haben wir auch wieder einmal Glück gehabt. Hat jemand schon mal von dieser merkwürdigen Felseninsel gehört?« 107
»Theoretisch kann es sie nicht geben«, erwiderte Ben. »Auf unseren Seekarten ist sie nicht verzeichnet.« »Wir kennen auch noch nicht das gesamte Sargasso-Meer«, widersprach Hasard »Jedenfalls existiert sie, geboren aus einem Vulkan. Seht euch mal das Gestein an!« Blicke flogen nach allen Seiten. Jetzt, da die Gefahr gebannt war, wurde jeder neugierig. Sie befanden sich inmitten einer ringförmigen Bucht, von allen Seiten eingeschlossen durch himmelhohe Felsen. Sogar in der Bucht ragten viele Felsen auf wie dunkle drohende Finger. Es war eine bizarre Welt, ein Felseneiland von beängstigender und herrlicher Schönheit zugleich, eine Welt aus Felsen, Lavagestein, Strand und Palmen. Und das Wasser wurde zusehends ruhiger, obwohl draußen noch der Sturm tobte und heulte. Hier blieb alles ruhig, hier waren sie geschützt. Und weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. »Es könnte das Paradies sein«, sagte Smoky andächtig. »Vorhin hast du noch erklärt, wir seien am Tor zur Hölle«, sagte Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese. »Irren ist menschlich«, erwiderte Smoky. »Wenn man das Tor zur Hölle gut durchfahren hat, gelangt man von ganz allein ins Paradies.« »Du hast vielleicht Ansichten, aber mit dem Paradies hast du recht. Ich habe selten eine schönere Insel gesehen. Der weiße, unberührte Strand, die Palmen, die stille Bucht ...« »Unser Paradies hat nur einen Nachteil«, sagte Hasard. Die Seewölfe sahen ihn erstaunt an. »Welchen denn?« fragte Tucker. »Wir sind zwar hineingesegelt, aber wie kommen wir hier jemals wieder heraus? Seht euch doch einmal die Passage an!« Daran hatte im ersten Augenblick der Freude niemand mehr gedacht. Es stimmte, was der Seewolf sagte. Sie waren heil durch die Passage gesegelt, obwohl damit niemand gerechnet 108
hatte. Aber sie waren auch gleichzeitig in diesem vermeintlichen Paradies gefangen. Ein Zurück gab es nicht mehr, das Eiland hatte sich als Felsenfalle entpuppt. Bedrücktes Schweigen herrschte plötzlich. Über ihnen war der Himmel immer noch wolkenverhangen und von schwefeligem Gelb. Und durch die Passage gurgelte es unaufhörlich hinein, ein wilder Sog ohne Ende, den sie umgekehrt nicht mehr passieren konnten, selbst wenn er einmal versiegte. Selbst der sonst so optimistische Seewolf glaubte nicht mehr an eine Rückkehr. Sie war zu unwahrscheinlich, denn jedes Paradies hatte seine Schlange. Hasard setzte sich auf das Schanzkleid und starrte zu dem weißen Strand hinüber, der so verlockend aussah. Er fragte sich, was sie hier erwartete. Doch er wußte keine Antwort darauf.
ENDE
Die rote Korsarin von Fred McMason
Die Insel im südlichen Sargasso-Meer hatte sich als Falle entpuppt. Ihre schmale Passage in die liebliche Bucht hatte die ›Isabella VIII.‹ zwar durchsegeln können, aber da hatte der Sturm die Galeone über die Barriere getragen. Jetzt gab es kein zurück mehr. Die Insel schien unbewohnt, aber dann entdeckten die 109
Seewölfe Feuerstellen am Strand. Lebten hier Kannibalen? Plötzlich war der eiserne Carberry spurlos verschwunden, und damit begann eine Serie mysteriöser Geschehnisse ...
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