Im Höllbach ist die Hölle los oder Das Geheimnis der Burgruine von MANFRED BÖCKL
SCHNEIDER BUCH
Die vier von der Piz...
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Im Höllbach ist die Hölle los oder Das Geheimnis der Burgruine von MANFRED BÖCKL
SCHNEIDER BUCH
Die vier von der Pizza-Bande Tommi, 13 Jahre alt, dunkle Haare, dunkle Augen. Lustig, schnell und mutig, verantwortungsbewußt. Tommi ist aufbrausend, beruhigt sich aber schnell wieder. Er schmaust gern, besonders die Köstlichkeiten aus der Pizzeria seiner Eltern. Sie sind Italiener. Also ist Tommi auch Italiener-aber in Deutschland geboren. Inders. Klasse der Realschule ist er als Tommaso Carotti bekannt. Schräubchen, 12 Jahre alt, wird so gerufen, weil sie schon als kleines Kind in der Autowerkstatt ihres Vaters mit Schrauben spielte. Kurze, blonde Haare, blaue Augen. Liebt Radfahren, Schwimmen und Skifahren. Wer sie ärgern will, ruft sie „Schreckschraube". In der Schule rufen sie die Lehrer „Stephanie Wagner".
„TH", 13 Jahre alt (wenn er seinen Vornamen Walther nennt, sagt er immer, „mit TH, bitte"): sehr groß, sehr dünn, blondes, glattes Haar. Trägt eine Brille. Spielt furchtbar gern Gitarre, aber nicht sehr gut. Walthers Eltern sind geschieden. Er lebt beim Vater, der einen tollen Posten in einer großen Keksfabrik hat. In der Schule schreiben die Lehrer auf das Zeugnis von TH „Walther Roland" und darunter mittelmäßige Zensuren. Milli, 12 Jahre alt. Wird Milli genannt, weil sie furchtbar gern viel Milch trinkt. Klein und zierlich. Hat langes, blondes Haar. Milli ist zuverlässig und verantwortungsbewußt. Liebt Tiere über alles. Ihre Lieblinge sind der Hund Moritz und Kater Max, die dicke Freunde sind. Milli will einmal den Bauernhof ihrer Eltern übernehmen. Sie hat Angst vor Geistern und Gespenstern. Die Lehrer, die sie als Anna Obermaier kennen, geben ihr gute Zensuren.
INHALT
Der einäugige Drachentöter Auf der Burgruine Caravans im Rittersaal Ein Fall für Polizeiinspektor Hecht Im Steinbruch Eine aufschlußreiche Entdeckung Warten auf Luigi Wie vom Erdboden verschluckt Expedition ins Mittelalter Rette sich, wer kann! Die Helden des Tages
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Der einäugige Drachentöter „Und dann gerieten die Nibelungen mit ihren Schiffen in die fürchterlichen Stromschnellen", erklärte Walther, auch TH genannt, seinen gespannt lauschenden Freunden. „Genau hier war das!" Walthers Finger hinterließ einen winzigen Speiseeisklecks auf der Radwanderkarte, die er, Schräubchen, Milli und Tommi im Hinterzimmer der Pizzeria Mamma Gina auf dem Fußboden ausgebreitet hatten. „Weltenburg heißt die Stadt an der Donau, und noch heute knallt dort immer wieder mal ein Ausflugsdampfer gegen die Felsen ..." „Also, jetzt halt mal die Luft an!" unterbrach an dieser Stelle die zwölfjährige Milli den um ein Jahr älteren blonden Jungen. „Von Keksen magst du ja was verstehen. Schließlich hat dein Vater den tollen Job in der Süßwarenfabrik. Aber in Geschichte und Geographie bist du eine absolute Null! Denn erstens ist Weltenburg keine Stadt, sondern ein Kloster in der Nähe von Kelheim. Und zweitens dürfen dort schon lange keine Ausflugsdampfer mehr fahren, weil die ganze Gegend 11
zum Naturschutzgebiet erklärt wurde." Milli hatte zur Vorbereitung auf die geplante Reise bereits ein dickes Buch über die Donau und ihre Geschichte durchgeschmökert. Jetzt beugte sich das zierliche blonde Mädchen noch tiefer über die Karte und erklärte weiter: „Drittens ist das Ritterheer der Nibelungen gar nicht bis Weltenburg vorgedrungen, sondern hat die Donau schon viel weiter oben überquert." Milli legte den Zeigefinger auf die Landkarte. „Nämlich hier, bei Ingolstadt." Schräubchen und Tommi guckten höchst beeindruckt. Walther jedoch wischte Millis Einwände mit einem geradezu unschlagbaren Argument beiseite. „Wen interessieren denn Geschichte oder Geographie ?" schnaubte er. „Wo doch heute der letzte Schultag war und wir nun beinahe zwei Monate Sommerferien haben! Da kann es uns doch egal sein, ob Weltenburg eine Stadt ist oder ein Kloster - oder meinetwegen auch eine neue Filiale der Pizzeria von Tommis Eltern." Er grinste den 13jährigen italienischen Jungen an, dessen Mutter ihnen vorhin das Eis spendiert hatte. Dann setzte er hinzu: „Das wäre überhaupt das Allerhöchste: eine Pizzeria nach der anderen, während wir vier auf den Spuren der Nibelungen die Donau entlangradeln." „Na, ich weiß nicht, ob wir dann noch viel zum Radeln kämen", warf lachend die zwölfjährige Stephanie Wagner, genannt Schräubchen, ein. „Es ist schon schlimm mit dir, TH! Immer denkst du bloß ans Essen. Komm, erzähl uns lieber noch ein bißchen was über die 12
Nibelungen." Sie zwinkerte Milli zu. „Auch wenn sie gar nicht bis Weltenburg gekommen sind ..." Milli stieß einen gespielt qualvollen Seufzer aus und zog ihren Mischlingshund Moritz an sich. Die Schnauze des Fellknäuels mit den lustigen Augen war eisverschmiert. Fleisch rührte Moritz selten an. Aber auf Süßes war er ganz verrückt. „Am besten, du hörst gar nicht hin, wenn TH jetzt wieder loslegt", flüsterte Milli ihrem vierbeinigen Liebling ins Ohr. Walther warf ihr einen strafenden Blick zu. Dann verkündete er: „Wie Millis neueste Nachforschungen ergeben, haben die Nibelungen niemals die berühmte Pizzeria von Weltenburg erreicht. Statt dessen gerieten sie bereits in der Nähe von Ingolstadt in einen Hinterhalt der Hunnen und mußten schleunigst über die Donau fliehen. Es war nur gut, daß sie den tapferen Drachentöter Siegfried bei sich hatten, auch wenn der leider nur noch ein Auge besaß. Das andere hatte ihm nämlich sein bester Freund Hagen bei einem Turnier mit Pizzapampe zugekleistert..." Walther brach ab und fixierte Milli mit todernstem Gesicht. Tatsächlich fiel ihm das blonde Mädchen sofort wieder ins Wort: „Also wirklich, TH! In deinem Fall scheint ja das ganze letzte Schuljahr für die Katz gewesen zu sein. Sonst wüßtest du, daß die Hunnen niemals in Ingolstadt, sondern in Ungarn gelebt haben. Und daß der Drachentöter Siegfried zur Zeit des Nibelungenzuges schon längst in den ewigen Jagdgründen weilte. 13
Erschlagen von seinem Todfeind Hagen, den du als seinen besten Freund bezeichnet hast. Außerdem ist Hagen einäugig gewesen, nicht Siegfried!" „Ach so, dann stimmt wohl die Sache mit der Pizzapampe auch nicht, was?" fragte Walther scheinheilig. Bis zu diesem Augenblick hatten sich Schräubchen und Tommi gerade noch beherrschen können. Doch jetzt platzten sie mächtig heraus. Auch Walther konnte sich nicht mehr zurückhalten und fiel in das Gelächter ein. Da begriff endlich auch Milli, daß Walther sie mit seiner haarsträubenden Geschichte bloß hatte hereinlegen wollen. Und nun prustete auch sie los - und tat damit das einzig Richtige in ihrer Lage. Denn nun mußten wiederum die anderen glauben, daß sie Walthers hirnrissige Schauermärchen längst durchschaut hatte. „Also, wenn unsere Radtour so lustig wird wie die Vorbereitungen dazu, dann werden wir in zehn Jahren immer noch davon erzählen", meinte Tommi, nachdem er und seine drei Freunde sich wieder beruhigt hatten. „Die Pizza-Bande auf den Spuren der Nibelungen! Die ganze bayerische Donau entlang! Leute, ich kann es wirklich kaum noch erwarten, bis wir losfahren können!" „Tja, falls es wirklich dazu kommt", warf Schräubchen ein, und die Zwölfjährige mit den kurzen Haaren und den blauen Augen wurde plötzlich wieder ganz ernst. „Bis jetzt haben unsere Eltern die Tour schließlich noch gar nicht erlaubt." Sofort war auch der Übermut der anderen Kinder 14
dahin. Sie starrten auf die Radwanderkarte, für die sie beinahe ihr ganzes gemeinsames Taschengeld für diese Woche ausgegeben hatten. Schon vor Monaten hatten sie sich vorgenommen, in den Sommerferien die Radwanderung zu machen. Immer wieder hatten sie ihren Eltern mit diesem Plan in den Ohren gelegen. Doch die Erwachsenen hatten einen Einwand nach dem anderen vorgebracht: daß Tommi, Schräubchen, Milli und TH noch viel zu jung seien, daß man sie auf den Zeltplätzen überhaupt nicht aufnehmen würde, daß viel zuviel Verkehr auf den Straßen herrsche. Die vier von der Pizza-Bande hatten trotzdem nicht lockergelassen, hatten immer wieder Argumente gefunden, die für die Radtour sprachen: daß sie dabei ihre Heimat kennenlernen konnten, daß sie viele interessante Menschen treffen würden, daß Radwandern ein gesunder Sport sei, und daß sie dabei auch lernen könnten, für sich selbst zu sorgen. Doch nun, am ersten Ferientag, wußten die vier Freunde noch immer nicht, ob sie nun fahren würden oder nicht. Milli, Schräubchen, Tommi und TH konnten nur hoffen, daß ihre Eltern sich doch noch überzeugen ließen. Sonst würden sie die tolle Reise bloß mit dem Finger auf ihrer schönen Landkarte machen können. Immerhin hatte die Pizza-Bande aber noch einen mächtigen Trumpf im Ärmel... Tommis dunkle Augen blitzten, als er es aussprach: „In ein paar Tagen kommt Euigi, und wenn wir den zu unserer Radtour überreden können, dann haben wir ge15
wonnen. Schließlich ist er schon zwanzig Jahre alt und kann dann auf uns aufpassen, wie unsere Eltern das nennen. Luigi ist ein prima Typ, mit dem wir sicher gut auskommen." Tommi hatte sich richtig in Begeisterung geredet. „Letztes Jahr, als wir Urlaub in Italien machten, habe ich tolle Ausflüge mit ihm gemacht. Er studiert Archäologie und weiß eine Menge spannender Geschichten zu erzählen." Er grinste TH an. „Viel besser als die, mit denen du uns vorhin veräppeln wolltest!" Dann wurde er wieder ernst. „Pferde stehlen kann man mit Luigi, das versichere ich euch! Tolle Sachen werden wir mit ihm zusammen erleben. Wir werden auf jede einzelne Burgruine entlang der Donau klettern, und Luigi wird uns tausend interessante Dinge erzählen. Und wir werden alte Städte besuchen und Museen - und sogar den Limes sehen, die berühmte Teufelsmauer entlang der Donau..." „Den Li..., die Teu... - was?!" fragte Milli erschrokken. „Ich hoffe bloß, daß es dort keine Geister und Gespenster gibt!" „Dort kann es gar nicht spuken", beruhigte Tommi sie. „Das ist bloß eine riesige Grenzmauer, welche die Römer vor fast zweitausend Jahren quer durch Süddeutschland gebaut haben. Später bezeichneten die Bauern aus ihrer Unwissenheit heraus die uralte Grenzlinie als Teufelsmauer. Sie dachten vielleicht wirklich, der Teufel hätte sie erbaut, aber das ist natürlich Unsinn." 16
„Na, wenn's so ist, dann freu ich mich direkt schon auf diesen Limes", unterbrach Milli erleichtert ihren italienischen Freund. „Hoffentlich dürfen wir wirklich zusammen mit Luigi hinfahren!" „Er schlägt sich bestimmt auf unsere Seite und legt ein gutes Wort für uns ein", sagte Schräubchen. „Nach allem, was Tommi über ihn erzählt hat." „Ja, einen besseren Verbündeten können wir uns überhaupt nicht wünschen", pflichtete ihr TH bei. „Aber ein paar Tage müssen wir uns noch gedulden. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was wir bis dahin unternehmen sollen. Schließlich können wir nicht immer bloß im Hinterzimmer von Mamma Gina sitzen und unsere Wanderkarte anstarren. Obwohl das natürlich leichter auszuhalten wäre, wenn deine liebe Mama uns noch ein Eis spendieren würde, Tommi. - Was ist deine Meinung dazu, du alter Römer?" „Ich kann ja mal ein gutes Wort bei ihr einlegen", erklärte Tommi großzügig. Damit verschwand er nach vorne. Schon nach wenigen Minuten kam er zusammen mit Frau Carotti zurück, und die nette Italienerin brachte den Freunden tatsächlich noch einmal eine Portion Eiswaffeln. Sogar für Moritz hatte sie eine dabei, was der lustige Hund ihr dadurch dankte, daß er wie ein Wilder an ihr hochsprang. Lachend verschwand Tommis Mutter wieder. Die Karte auf dem Fußboden hatte sie freilich geflissentlich übersehen. Aber das machte den vier Freunden nichts aus, denn nunmehr hofften sie in dieser Angelegenheit ja schwer auf Luigi. So schleck17
ten sie ausgelassen ihr Eis, und zuletzt kam Milli auf die Frage zurück, was sie denn nun bis zur Ankunft des Studenten unternehmen sollten. „Wenn die Donau mit ihren Burgen noch auf uns warten muß", schlug sie vor, „dann könnten wir einstweilen ja schon mal ein bißchen durch unsere eigene Gegend radeln. Zwar gibt's hier keinen großen Strom, aber immerhin den See und den Höllbach, und auf der Burgruine über dem alten Steinbruch waren wir auch schon lange nicht mehr. Ich habe außerdem gehört, daß das Ruinengelände seit einiger Zeit wieder bewohnt ist. Irgendwelche Fremde haben sich dort oben angesiedelt." „Vielleicht haben wir Glück - und sie sind nett", warf Walther ein. „Es wäre doch toll, wenn wir mit ihnen Freundschaft schließen könnten. Natürlich nur, wenn es keine Schloßgespenster sind, was Milli?" Das Mädchen schluckte. Warum mußte TH sie bloß immer mit ihrer Gespensterfurcht auf ziehen?! Schräubchen kam der Freundin zu Hilfe. „Laß dich bloß nicht von TH ins Bockshorn jagen!" sagte sie. „Da er sich schon so gut mit Gespenstern auskennt, sollte er eigentlich auch wissen, daß die es in erster Linie auf freche Jungs abgesehen haben. Wir Mädchen sind denen schnurz, das wissen doch alle ..." „Na, kommst du dann morgen überhaupt mit zur Ruine, TH?" kicherte Milli erleichtert. „Oder willst du doch lieber zu Hause bleiben? Wir anderen könnten dann ja den Gespenstern erzählen, daß du ..." 18
„Ich glaube, es wird höchste Zeit, daß du nach Hause fährst", unterbrach Walther sie lachend. „Du mußt doch deine Tiere versorgen, oder? Und wenn du da nicht rechtzeitig anfängst, dann bist du morgen nicht mit von der Partie!" „Herrje, es ist ja wirklich schon Stallzeit! Bis morgen also. Ihr anderen holt mich auf dem Bauernhof ab, ja? Komm, Moritz, beeil dich! Ein drittes Eis kriegst du heute sowieso nicht mehr ..." Gleich darauf radelte Milli, den Hund im Fahrradkorb, durch Sommerberg und weiter zu dem Hof, auf dem sie mit ihren Eltern, dem Knecht Gustl, dem Tigerkater Max, dem Pony Wastl und natürlich mit ihrem geliebten Moritz lebte. Auch Schräubchen und Walther hielten sich nicht mehr lange in der Pizzeria auf. Walther fuhr in die Neubausiedlung, wo er zusammen mit seinem geschiedenen Vater wohnte; Schräubchen wurde bereits in der Autowerkstatt ihrer Eltern erwartet. Im Hinterzimmer der Pizzeria, dem Stammsitz der Pizza-Bande, faltete Tommi sorgfältig die Karte zusammen. Dann rief ihn auch schon seine Mutter zum Abendessen. 19
Auf der Burgruine Unwillkürlich drängten die vier Freunde sich enger zusammen. Direkt vor ihnen rauschte und gurgelte der Höllbach, über den an dieser Stelle ein schmaler Steg führte. Ein Stück weiter hinten lag der alte Steinbruch. Ungefähr hundert Meter über der Granitwand erhob sich die Burgruine. Wie ein abgebrochener Riesenzahn sah der mächtige Turm von hier unten aus. Die Ringmauer, die sich um die teilweise eingestürzten übrigen Gebäude zog, wirkte abweisend. Vom Zugangstor konnte man nur eine Ecke erkennen, die in tiefem, bedrohlichem Schatten lag. Sonderlich einladend wirkte die Burgruine nicht - doch gerade das zog die vier von der Pizza-Bande wie magisch an. Selbst Milli, die Ängstlichste von allen, hätte heute um keinen Preis der Welt zu Hause bleiben wollen. Irgendwie ahnte sie, daß sie oben auf der Ruine ein richtiges Abenteuer erwartete. Ansonsten hatte Milli heute nicht nur ihren treuen Hund Moritz bei sich, sondern auch noch ihren Tigerkater Max, den sie im Gepäckkorb ihres Fahrrades mitgenommen hatte. Jetzt hielt sie Max auf dem Arm und hatte die andere Hand im Nackenfell von Moritz vergraben, während sie mit gerunzelter Stirn nach oben spähte. „Die Räder lassen wir am besten hier", sagte Tommi. „Auf dem Mauleselpfad nützen sie uns sowieso nichts mehr." 20
„Wir hätten natürlich auch die breite Fahrstraße auf der anderen Seite des Berges benutzen können", gab Schräubchen zu bedenken. „Fahrstraße ...", schnaubte TH verächtlich. „Wir sind doch kein Verein von lahmen Gruftis! Los jetzt! Erobern wir die Burg!" „Ganz wie Siegfried, der Drachentöter. Aber hoffentlich nicht mit Pizzapampe auf den Augen", spöttelte Milli. Sie hatte das jetzt sagen müssen. Der Spaß half ein bißchen gegen ihre heimliche Angst. „Also, was ist nun? Wollt ihr euch noch länger zanken - oder können wir endlich mit dem Aufstieg beginnen?" rief Schräubchen. „Es ist schon neun, und wir müssen bis zum Mittagessen wieder zu Hause sein." Die vier Freunde stellten ihre Räder neben der Brükke ab. Sorgfältig zogen sie die Sicherheitsketten durch die Speichen und verschlossen sie. Moritz schoß schon mal versuchsweise ein Stück den steilen Hang hinauf. Max, der Tigerkater, war da vorsichtiger. Nachdem Milli ihn abgesetzt hatte, hielt er sich eng an sie und streifte mit seinem weichen Fell immer wieder ihre nackten Beine. Milli war froh darüber, denn irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß Katzenfell ein ausgezeichneter Schutz gegen alle möglichen Unholde sein sollte. „Also los!" rief Tommi und lief auch schon über den schmalen Bohlensteg, unter dem das Wasser des Höllbaches rauschte. Die anderen folgten ihm. Kaum hatten sie den eigentlichen Burgpfad betreten, hörten sie zwischen den Felstrümmern und Bäumen lautes Kläffen. 21
Moritz kam den Weg wieder heruntergefegt, bellte auffordernd und schoß dann erneut den Steilhang hinauf. „Wir sind ihm zu langsam", lachte Schräubchen. „Los, Tempo! Jetzt wollen wir doch mal sehen, wer zuerst oben ist - wir oder Moritz." Der Maultierpfad zog sich zuerst ein Stück schräg in den ungepflegten Wald hinein. Plötzlich bildete er eine Kehre und schien zurück in die alte Richtung zu laufen, stieg aber dabei nach wie vor an. Als die vier Freunde die Serpentine hinter sich gebracht hatten, gaben die Bäume auf einmal den Blick nach unten frei. Unwillkürlich wichen die vier Freunde zurück und drückten sich an den Berghang. Denn direkt unter ihnen lag jetzt der aufgelassene Steinbruch; eine gähnende, gefährliche Schlucht. „Wer da abstürzt, ist auf der Stelle tot", flüsterte Tommi. „Mindestens zwanzig Meter sind es bis zur Talsohle..." Vorsichtig und so schnell wie möglich brachten sie die gefährliche Wegstelle hinter sich. Als der dichte Wald sie wieder aufnahm, atmeten alle vier erleichtert auf. Der Pfad wurde steiniger und steiler. Das Rauschen des Höllbaches war jetzt nur noch gedämpft zu hören. Uralte Bäume verschatteten den Himmel, so daß man nur noch ab und zu ein blaues Fleckchen über den Wipfeln erkennen konnte. „Wahrscheinlich stehen sie schon viele hundert Jahre da", sagte Tommi auf einmal und deutete dabei auf eine besonders mächtige Eiche. 22
„Stammen sie etwa noch aus der Ritterzeit?" wollte Schräubchen wissen. „Nein", erwiderte Tommi. „Ganz bestimmt nicht. Die Samen müssen später angeweht worden sein. Luigi hat mir nämlich einmal erklärt, daß diese Burghänge im Mittelalter nicht bewachsen waren. Man brauchte nämlich dort immer freies Schußfeld. Deswegen ließ man unterhalb der Festungen keinen einzigen Baum stehen. Sonst hätten sich ja die Feinde dahinter verstecken können. Erst als die Burgen dann vor drei- oder vierhundert Jahren von ihren Bewohnern verlassen wurden, konnte sich der Wald das Gelände zurückerobern." Erneut begann die Kletterei. Die vier von der PizzaBande begannen die Anstrengung in ihren Beinen zu spüren und atmeten schwer, während Max munter von einem Felsblock zum nächsten setzte. Moritz hatte sich ausgetobt und lief jetzt brav neben Milli her. Dann wand sich der uralte Weg plötzlich in eine Steinklamm hinein, deren schräge Wände sich oben beinahe berührten. Modrig-feuchtes Halbdunkel herrschte hier drinnen. An einer Stelle waren ein paar mächtige behauene Quader zu erkennen. Tommi zog einen Reiseführer aus der Tasche. Er hatte ihn von seinem Vater bekommen, der sich sehr für die Geschichte seiner oberbayerischen Wahlheimat interessierte. Jetzt blätterte der Junge ein Weilchen in der Broschüre, dann hatte er gefunden, was er suchte, deutete auf die Steinblöcke und erklärte: „Das war 23
früher mal das äußere Burgtor. Die Ritter haben es schlauerweise direkt in die natürliche Schlucht einbauen lassen. Von jetzt an befinden wir uns auf dem eigentlichen Ruinengelände." „Toll!" sagte Walther und berührte einen der moosüberwucherten Steinquader. „Hier, ganz genau hier, sind Gepanzerte geritten. Und ihre Schwerter, Rüstungen und Fahnen haben die Steine gestreift." Gedankenversunken standen sie da. Dann verließen die vier Freunde schweigend die Torschlucht und erblickten bald darauf die Ruine in ihrer ganzen düsteren Pracht. Wieder zog Tommi seinen Reiseführer zu Rate. „Die eingefallenen Mauern, die sich um die Bergkuppe herumziehen, waren einmal mehr als zehn Meter hoch", erklärte er. „Wo jetzt bloß noch überwucherte Schutthügel zu sehen sind, gab es früher einmal Ställe, Küchengebäude und Wohnhütten für die bewaffneten Burgknechte. Und seht mal dort hinten! Das ist der große Wehrturm, der sogenannte Bergfried. Und daneben steht das Wohngebäude der Ritter, das man im Mittelalter Palas nannte." Bergfried und Palas waren eigentlich noch ganz gut erhalten. Hoch oben auf dem Wehrturm, zwischen den teilweise abgebrochenen Zinnen, schwankte ein Birkenbäumchen im Wind. „Vier Stockwerke ist der Turm noch immer hoch", murmelte Schräubchen beeindruckt. „Ob wir wohl den Turm und den Rittersaal betreten 24
können?" fragte TH unternehmungslustig. „Wir waren zwar schon früher mal dort, aber das ist eine Weile her." „Ja, aber wir müssen sehr vorsichtig sein", erwiderte Tommi. „Und immer alle zusammenbleiben. Das hat mir Luigi für solche Unternehmungen geraten. Wenn einem von uns etwas zustößt, müssen die anderen sofort Hilfe holen können. Allein soll man eine Ruine, einen unterirdischen Gang oder eine Höhle nie betreten!" „Allein hätte ich auch keine Lust dazu", gab Milli zu und hielt gleichzeitig nach Moritz Ausschau. „Der Hund ist schon wieder abgehauen", murmelte sie und streichelte Max, der neben ihrem linken Fuß saß. „Ach was, Moritz streunt halt ein bißchen herum", beruhigte TH das zierliche Mädchen. „Vielleicht schließt er auch gerade Freundschaft mit den Leuten, die sich hier oben angesiedelt haben. Das kann vielleicht recht nützlich für uns sein, wenn wir sie nachher besuchen. Aber jetzt kommt erst mal weiter zum Palas und zum Turm. Ich kann es kaum erwarten, dort wieder mal gründlich rumzustöbern." Die vier Freunde überquerten den ehemaligen Burghof. Auf halbem Weg stießen sie auf den uralten Brunnen. Sie beugten sich über die gemauerte runde Öffnung und blickten hinunter. Unendlich tief schien der Brunnenschacht in den Berg hinabzureichen. Den Grund konnte man überhaupt nicht erkennen. „Wartet mal", sagte Tommi. „Ich werfe einen Stein hinunter ..." 25
Es dauerte ziemlich lange, bis von ganz tief unten ein dünnes Plätschern zu hören war. Tommi hatte leise die Sekunden mitgezählt. „Muß wirklich unheimlich tief sein", murmelte er jetzt. „Wenn da einer von uns runterfallen würde ..." „Kommt, gehen wir", drängte Milli. „Wenn ich mir vorstelle, daß vielleicht Max oder Moritz ...!" Sie lief mit dem Tigerkater den anderen voraus, zum Rittersaal hinüber. Zwischendurch rief sie immer wieder mal nach Moritz. Einmal hörte man ihn von ferne bellen, aber sehen ließ er sich nicht. Dann standen die vier vor einem Schutthaufen zwischen dem Bergfried und dem Palas. Die Ruine erstreckte sich noch ein ganzes Stück weiter zur anderen Bergflanke hin. Doch der Blick dort hinüber, wo die breite Fahrstraße in das große Haupttor der Burg mündete, war durch die beiden Gebäude versperrt. Schade, dachte Milli, denn genau von dort drüben war das Kläffen des Hundes gekommen. Nachher würde sie wirklich mal nach ihm sehen müssen. Doch zuvor wollte sie zusammen mit den anderen den Ritterbau und den Turm erkunden. „Zuerst zum Bergfried!" rief TH und lief auf das kleine Tor zu, das in der mächtigen Grundmauer des Turmes zu erkennen war. Die anderen folgten ihm und drängten sich dann durch die Pforte. Die Mauer des Bergfrieds war an dieser Stelle mindestens drei Meter dick, stellten sie staunend fest. „Und der Eingang lag früher hoch über dem Erdbo26
den", las Tommi wiederum aus seinem Reiseführer vor. „Er war im Mittelalter nur über Leitern zu erreichen, die man bei einem Angriff blitzschnell hochziehen konnte." „Waren unter dem Eingang früher nicht die Verliese?" fragte Schräubchen. „Ja", bestätigte Tommi. „Und weiter oben gab es Wohnräume und Wachstuben." „Schade, daß man nicht mehr dort hinauf kann", warf TH ein. „Die Treppen, die einmal in die oberen Geschosse führten, sind leider längst heruntergebrochen." „Nanu", staunte Schräubchen und deutete auf den Boden. „Da muß doch glatt einer mit dem Auto in den Rittersaal gefahren sein!" Sie deutete auf die Reifenspuren, die sich ganz deutlich auf einer lehmigen Stelle abzeichneten. „Verrückt!" erwiderte TH. „Total verrückt! Wer fährt denn schon mit seiner Karre in einer Burgruine spazieren? Das kann doch nur ein Irrer gewesen sein!" „Vielleicht lauert er drinnen im Rittersaal auf uns", flüsterte Milli ängstlich. „Kommt, laßt uns lieber schnell abhauen!" „Das werden wir auf keinen Fall tun", entschied Tommi. „Sind wir die Pizza-Bande - oder nicht?" Die anderen nickten zustimmend, sogar Milli. „Na also", fuhr Tommi fort, „dann werden wir der Sache jetzt auch auf den Grund gehen!" Die Pizza-Bande schlich näher an das Portal heran. Milli hatte ihren Kater vorsichtshalber wieder auf den 27
Arm genommen. Wenn doch bloß Moritz wieder da wäre, dachte sie, als sie sich - ein paar Schritte hinter den anderen - durch das gotische Tor drückte. Doch der Mischlingshund blieb verschwunden. In Gedanken versunken prallte Milli plötzlich gegen Tommi, der eben noch ein paar Meter vor ihr gewesen war. Erschrocken maunzte Max auf. Doch Milli hörte ihn gar nicht. Auch Tommi, Walther und Schräubchen achteten nicht auf ihn. Denn die vier Freunde starrten mit großen Augen auf das unglaubliche Bild, das sich ihnen mitten im Rittersaal darbot. Caravans im Rittersaal Trümmer, Schutt, Steinsäulen, vielleicht sogar eine vergessene Ritterrüstung oder ein paar Schwerter an der Wand - das alles konnte man in einem mittelalterlichen Rittersaal erwarten. Doch keinesfalls das, was die vier Freunde tatsächlich sahen: nämlich fünf riesige Wohnwagen, die in der uralten Halle untergebracht waren. In einem großen Halbkreis standen sie da, einfarbig die einen, bunt bemalt die anderen. Vor dem Eingang des letzten war sogar ein riesiges Hauszelt aufgebaut. „Ist ja irre!" flüsterte TH nach einer Weile. Vorsichtig näherte er sich dem Wohnwagen mit dem Hauszelt. Schräubchen und Tommi folgten ihm. Nur 28
Milli blieb mit dem Kater auf dem Arm wie angewurzelt stehen. Sie starrte auf die Wohnwagen, als sähe sie tatsächlich schon wieder mal irgendwelche Gespenster. Doch dann, als TH gerade im Hauszelt verschwinden wollte, rief sie sichtbar erleichtert: „Jetzt erinnere ich mich wieder. Meine Eltern haben neulich davon gesprochen. Es handelt sich um Geschäftsleute aus München, die das Burggelände und den alten Bauernhof ein Stück weiter drüben gepachtet haben. Sie handeln mit gebrauchten Caravans." „Aber warum haben sie sie denn ausgerechnet in der Burgruine untergestellt?" wunderte sich TH. „Ich meine, dafür gäbe es doch viel geeignetere Plätze ..." „Wahrscheinlich haben die Händler nicht genug Geld, um sich eine richtige Ausstellungshalle zu mieten", warf Schräubchen ein. „So etwas können sich doch heutzutage nur noch Firmen leisten. Jedenfalls behauptet mein Vater das immer. Na, und da haben sie eben das Burggelände gepachtet. Vermutlich haben sie es besonders günstig bekommen können." „Klar, das leuchtet mir ein", gab TH nun zu. „Irgendwie ist es sogar ganz schrill - die moderne Technik hier im alten Gemäuer. Aber wo stecken die Leute?" „Wahrscheinlich haben sie ihr Büro drüben im alten Bauernhof", vermutete Milli. „Und jetzt wette ich fast, daß Moritz bereits bei ihnen ist und sich mit Süßigkeiten verwöhnen läßt." „Dann schauen wir doch nachher dort vorbei", sagte Tommi. „Aber vorher könnten wir uns die Wohnwagen 29
mal ansehen. Komm! Wenn es sich schon um Ausstellungsstücke handelt, kann auch niemand was dagegen haben, wenn wir einen Blick hineinwerfen." Die nächste halbe Stunde besichtigten die vier von der Pizza-Bande einen Wohnwagen nach dem anderen. „Es wäre schon eine irre Sache, wenn einer von diesen Caravans uns gehören würde", meinte Schräubchen. „Dann brauchten wir nicht mit den Rädern losziehen." Begeistert stimmten die anderen ihr zu. Doch dann sagte Tommi: „Wir können schon froh sein, wenn wir auf unseren Drahteseln in die Ferien fahren dürfen. Aber jetzt kommt weiter! Wir wollen doch noch die Leute kennenlernen." Nach einem letzten Blick auf die Caravans liefen die vier Freunde los. Wenig später hatten sie das Haupttor der Burgruine erreicht, wo die Fahrstraße von Sommerberg herauf endete. Ein Stück seitlich lag ein alter Bauernhof, der schon vor vielen Jahren von seinen Bewohnern verlassen worden war. Doch jetzt war dort wieder Leben eingekehrt. Ganz wie die Mitglieder der Pizza-Bande vermutet hatten, standen auch vor dem Tor und auf dem Hofgelände überall Wohnwagen herum. „Moritz!" rief Milli. Gleichzeitig pfiff TH durchdringend. Eine Sekunde später tauchte der Mischlingshund schweifwedelnd in der offenen Beifahrertür eines Wohnmobils auf. Er kläffte freundlich zu den vier Freunden herüber und verschwand dann sofort wieder in der Fahrerkabine. 30
„Also, das ist doch wirklich die Höhe!" lachte Milli. „Ein Wunder, daß er überhaupt noch Notiz von uns genommen hat." „Vielleicht sitzen die Münchner auch in dem Wohnmobil", vermutete Tommi. „Und teilen sich gerade einen Eisbecher mit Moritz. Kommt, wir sehen mal nach." Doch als sie in das Fahrzeug schauten, stellten sie fest, daß es leer war. Nur Moritz lag behaglich auf dem Beifahrersitz. Offensichtlich hielt sich außer ihnen keine Menschenseele auf dem Burgberg auf. „Seltsam", sagte Milli. Sie hatte den Kater abgesetzt und kraulte nun den Mischlingshund hinter den Schlappohren. „Kaum zu glauben, daß die teuren Wohnwagen ganz ohne Aufsicht rumstehen." „Na ja, die Caravans kann keiner klauen", erwiderte Schräubchen. „Wir haben ja gesehen, daß bei allen die Zugstangen fehlen. Und das Wohnmobil hier ist zwar nicht abgeschlossen, aber der Zündschlüssel steckt auch nicht im Armaturenbrett. Ein bißchen leichtsinnig sind die Besitzer schon, aber viel kann wirklich nicht passieren." TH schob sich an ihr vorbei und klemmte sich hinter das Lenkrad. Er drehte es nach links und rechts - und drückte dann versuchsweise auf die Hupe. Ein schriller Dreiklang-Fanfarenton schallte über den Platz. Im selben Moment tauchte unten auf der Fahrstraße ein Jeep auf. Ganz gemächlich bog er um die Kurve, doch als die Hupe des Wohnmobils jetzt noch einmal 31
„Das wünsche ich ihnen auch!" schnaubte Schräubchen. „Ach, du liebe Güte!" rief Milli. Sie hatte auf ihre Armbanduhr geblickt und dabei bemerkt, daß es beinahe schon Mittag war. „Wenn wir uns jetzt nicht mächtig beeilen, werden wir zu Hause gleich noch einmal Ärger bekommen!" „Also dann nichts wie los! Wer als erster bei den Rädern ist!" rief Schräubchen. So schnell sie konnten, rannten die vier von der Pizza-Bande den steilen Pfad hinunter. Danach veranstalteten sie ein Radwettrennen zurück nach Sommerberg. Bei der Abzweigung zum Meierhof, wo Milli wohnte, stoppten sie kurz. „Wir haben für heute nachmittag noch gar nichts abgemacht", rief Tommi. „Vielleicht könnten wir uns alle bei Milli treffen?" schlug Schräubchen vor. „Nach all dem Ärger auf der Burgruine hätte ich direkt mal wieder Lust auf ein bißchen Stallarbeit. Tiere haben so was Beruhigendes an sich." „Heute nachmittag geht es nicht. Da kommt der Tierarzt wegen der Impfungen. Wir könnten uns doch morgen vormittag treffen." „Ich weiß sowieso was viel Besseres", mischte sich Walther ein. „Wir veranstalten eine Keksparty im Freibad. Mein Vater hat mich wieder mal dermaßen mit Bruchware aus seiner Fabrik versorgt, daß ich sie allein unmöglich schaffen kann ..." 34
„Fein, dann so um drei unter dem Sprungturm", rief Milli und flitzte mit Max im Gepäckkorb und Moritz an ihrer Seite zum Bauernhof davon. Schräubchen, Tommi und TH radelten weiter nach Sommerberg. Sie schafften es gerade noch, bis vom Rathausturm das Zwölfuhrläuten erklang. Wie vereinbart trafen sich die vier von der PizzaBande wieder im Freibad. TH hatte Wort gehalten. Er schleppte eine prall gefüllte Plastiktüte mit Ausschußware aus der Keksfabrik an. Zwar waren Walthers Eltern geschieden, aber was Süßigkeiten anging, war er mit Sicherheit der am besten versorgte Junge von ganz Sommerberg. Jetzt kippte TH den Inhalt seiner Tüte mitten auf die Decke, die Schräubchen mitgebracht hatte. Dann schwelgten die vier Freunde nach Herzenslust in Schokoladekeksen, Butterkringeln, Dominosteinen und anderen leckeren Dingen. Die Keksparty hatte aber nicht nur den Vorteil, daß die vier Freunde wieder mal so richtig schlemmen konnten, sondern sie vergaßen dabei auch, wie unfreundlich die Männer auf der Burgruine sie behandelt hatten. So nahm der erste Ferientag für die vier von der Pizza-Bande doch noch ein fröhliches Ende. Als sie dann gegen sieben Uhr wieder nach Hause fuhren, jammerte Tommi: „Was mache ich bloß, wenn meine Mama mir jetzt auch noch eine Pizza zum Abendessen auftischen will?" „Dann gibt's nur eins mein Lieber: Augen zu und 35
durch!" neckte ihn Schräubchen. „Oder ein Glas Cola dazu, damit sie besser rutscht", schlug Milli vor. „Auf jeden Fall mußt du aufpassen, daß du nicht platzt", lästerte TH. „Denn sonst könntest du morgen früh nicht auf den Meierhof kommen." Ein Fall für Polizeiinspektor Hecht Zusammen mit dem Knecht Gustl hockten die vier von der Pizza-Bande auf dem Zaun der Pferdekoppel des Meierhofes. Tommi war natürlich nicht geplatzt, sondern genoß jetzt, wie die anderen auch, das zweite Frühstück, das Millis Eltern ihnen spendiert hatten. Das hatten sich die vier Freunde aber auch redlich verdient. Zwei Stunden hatten sie fleißig bei der Stallarbeit geholfen. Sie hatten Dünger aus dem Kuhstall gekarrt und frisches Stroh aufgelegt, hatten den Schweinestall ausgemistet und zuletzt auch die Hühner gefüttert. Danach hatten sie ausgiebig geduscht, und jetzt war ihr Appetit schon wieder so ausgezeichnet, als hätte es die Schlemmerparty am Vortag gar nicht gegeben. „Mächtig hingelangt habt ihr, daß muß man schon sagen", lobte Gustl sie nun. „Ohne euch hätte ich den ganzen Tag in den Ställen zu tun gehabt. Aber jetzt kann ich mir auch mal einen schönen Nachmittag in der Stadt gönnen." 36
Schräubchen biß von ihrem Butterbrot ab, dann legte sie den Rest auf die flache Hand und hielt ihn Millis Shetlandpony Wastl hin. Zutraulich und vorsichtig nahm das Pony den Happen und bettelte um mehr. „Eigentlich könnten wir wieder mal Westerndressur auf Wastl reiten", schlug Tommi vor. „Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, daß wir ..." Er hielt inne, denn auf der Landstraße, die von Sommerberg zum See führte, tauchte plötzlich ein Polizeiwagen auf. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr der Wagen in Richtung Höllbach. „Was kann die denn hier wollen?" wunderte sich Schräubchen. „Da ist etwas passiert!" erwiderte Milli erschrocken. „Vielleicht ein Autounfall?" „Nein, dann würde auch die Rettung kommen", sagte TH. „Es muß sich um etwas anderes handeln. Los, auf die Räder! Wir dürfen den Streifenwagen nicht aus den Augen lassen. Vielleicht kriegen wir raus, wohin er fährt." Drei Sekunden später hockte der verblüffte Gustl ganz allein auf dem Koppelzaun. Nur das Shetlandpony leistete ihm noch Gesellschaft. Die vier Freunde flitzten bereits den Hofweg zur Landstraße hinunter. Das Land war hier flach. Deswegen konnten sie die Richtung, die das Polizeiauto nahm, leicht erkennen. Nach etwa zehn Minuten sahen die vier die Höllmühle vor sich. Vom Burgberg her kam der Höllbach geflossen und staute sich neben dem Mühlengebäude hinter einem mächtigen Wehr. Ein Stück weiter mündete der 37
Bachlauf in den Sommerberger See. Doch bis dorthin war der grün-weiße Streifenwagen nicht gefahren. Als die Kinder die Mühle erreichten, sahen sie ihn neben dem Wehr parken. Die vier Freunde warfen die Fahrräder auf die Böschung neben dem Wehr. Sie erkannten sogleich den Müller und seinen Knecht. Die beiden Uniformierten waren Inspektor Hecht und Wachtmeister Moll vom Polizeiposten in Sommerberg. Die Pizza-Bande ging auf die Erwachsenen zu. „Was ist denn hier passiert?" fragte Walther. Inspektor Hecht nickte ihm und den anderen kurz zu, dann deutete er auf das aufgestaute Wasser vor dem Wehr. „Da, seht selbst!" knurrte er. „Eine Schweinerei ist das! Eine unglaubliche Schweinerei!" Und nun sahen es auch die vier Freunde. Eine Menge toter Fische trieb in dem Stauteich. Die hellen Bäuche zeigten nach oben, die Kiemen der Tiere waren weit aufgerissen. Aus der Tiefe trieben immer noch neue Fischleichen auf. Entsetzt starrten die vier von der Pizza-Bande auf das Wasser. Sie hatten von dem einen oder anderen Fischsterben schon in der Zeitung gelesen, doch noch nie hatten sie mit eigenen Augen gesehen, was so etwas bedeutete. Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie endlich wieder Worte fanden. „Da bemühen sich so viele um den Umweltschutz, und dann machen andere so was!" flüsterte Schräubchen. Erst vor ein paar Tagen hatten die vier von der Pizza38
Bande Problemmüll in Sommerberg gesammelt und die Säcke dann auf ihren Rädern zur Deponie gebracht. Schließlich gehörten sie seit ihrem Abenteuer mit den Katzendieben* dem Tierschutzverein an, und das bedeutete eben auch, daß sie den Umweltschutz ernst nahmen. Schon lange achteten sie darauf, daß keine gefährlichen Abfälle wie Putzmittel, Säuren oder leere Batterien in die Mülltonnen und damit ins Grundwasser kamen. Denn wenn so etwas geschah, dann wurden Pflanzen und Tiere vergiftet. Und genau das war jetzt offenbar auch mit den Fischen im Höllbach geschehen. „Wer kann das bloß getan haben?" fragte Walther empört. „Könnten wir doch die Kerle bloß erwischen, die das verbrochen haben", flüsterte Schräubchen. „Davon werden die armen Fische aber auch nicht mehr lebendig", klagte Milli. Unwillkürlich mußte sie an Moritz, Max und ihr Shetlandpony Wastl denken. Was wäre wohl geschehen, wenn einer ihrer Lieblinge zufällig vom Wasser des Höllbaches getrunken hätte? „Haben Sie denn schon einen Verdacht?" wandte sich Tommi nun an den Polizeiinspektor. Bruno Hecht schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir sind ja selbst gerade erst von dem Unglück verständigt worden", knurrte er. „Herr Bergleitner, der Besitzer der Höllmühle, hat uns angerufen. Er selbst hat natürlich keine Giftstoffe in das Wasser eingeleitet. Das ist das „Die Pizza-Bande", Band 7 39
einzige, was wir sicher wissen. Die Ursache für das Fischsterben muß weiter oben im Wasserlauf liegen. Aber da gibt es leider sehr viele Möglichkeiten ..." „Hunderte", seufzte Herr Bergleitner. Sein Knecht hatte inzwischen damit begonnen, die toten Fische mühsam mit einem Käscher aus dem Wehrteich zu bergen. „Man glaubt gar nicht", fuhr der Müller fort, „wie viele Zuflüsse solch ein Bach hat. Da gibt es Quellen, Gräben, Entwässerungskanäle von den Wiesen und Feldern, Sickergruben und anderes mehr. Von überall her kann das Gift in den Höllbach gelangt sein ..." „Oder es hat einfach jemand Fässer ans Ufer gebracht und sie heimlich ausgekippt", mischte sich Wachtmeister Moll ein. „So etwas geschieht leider auch immer wieder. Die Polizei ermittelt dann natürlich, aber ob sie Erfolg hat, steht auf einem anderen Blatt." „Meistens haben wir allerdings keinen Erfolg", schimpfte Inspektor Hecht. „Denn wir Landgendarmen sind mit solchen Untersuchungen natürlich hoffnungslos überfordert. Um bloß den Höllbach mit allen seinen Zuflüssen gründlich abzusuchen, müßten wir mindestens hundert Mann sein. Leider sind wir aber in der Sommerberger Polizeiinspektion bloß fünf, und selbst wir fünf können uns nicht alle um die Aufklärung des Fischsterbens kümmern ..." „Das heißt also, daß Sie die Verursacher möglicherweise gar nicht ausfindig machen können?" fragte Schräubchen kleinlaut. Der Inspektor und der Wachtmeister zuckten die 40
Achseln. Der Knecht von der Höllmühle leerte den ekligen Inhalt seines Käschers in eine Plastikwanne. Der Müller selbst starrte verbissen auf den Teich, in dem noch immer Hunderte von Kadavern trieben. „Und wenn ...", setzte Tommi an, „wenn wir vier der Polizei helfen würden?" Er linste vorsichtig auf das grimmige Gesicht des Inspektors - und ahnte eigentlich schon, was nun kommen würde. Er hatte sich nicht getäuscht. „Nein, das überlaßt ihr besser der Polizei", entgegnete Inspektor Hecht. „Ihr werdet doch nicht schlauer als wir sein wollen, oder?" Als er die enttäuschten Gesichter der vier Freunde sah, besann er sich und setzte ein bißchen freundlicher hinzu: „Na ja, ich weiß natürlich, daß ihr schon mehrmals ganz gut mit uns zusammengearbeitet habt. Aber diesmal tut ihr wirklich besser daran, die Sache mir und Wachtmeister Moll zu überlassen." Er deutete auf die Plastikwanne mit den toten Fischen. „Das da ist immer noch Sache der Sommerberger Polizei, und ich möchte nicht, daß ihr uns da in die Quere kommt! Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt!" Tommi preßte stumm die Lippen zusammen. Auch Schräubchen und Milli gaben keine Antwort. Walther jedoch nickte plötzlich und sagte: „Klar, wir haben Sie schon verstanden, Herr Hecht." Dann wandte er sich seinen Freunden zu: „Los, wir fahren zurück! Wir haben sowieso noch einiges auf dem Meierhof zu tun!" Und schon lief TH hinüber zur Bö41
schung, wo die Räder lagen. Die toten Fische im Teich schien er überhaupt nicht mehr zu sehen. Ziemlich verdutzt folgten ihm Milli, Schräubchen und Tommi. Dann radelten sie, Walther immer ein Stück voraus, zurück in Richtung Meierhof. Kaum war jedoch die Höllmühle hinter einem Waldstück verschwunden, trat TH kräftig auf die Bremse. Das gab den anderen endlich Gelegenheit, ihn einzuholen. Ihre Räder waren noch gar nicht richtig zum Stehen gekommen, da fielen sie auch schon über ihn her. „Was hast du denn da bloß geredet?" rief Milli. „Du weißt doch ganz genau, daß wir mit der Stallarbeit auf dem Hof für heute längst fertig sind ..." „Und warum hast du dem Hecht versprochen, daß wir ihm nicht in die Quere kommen werden?" fuhr ihn Schräubchen an. „Ist es dir denn auf einmal egal, daß die vielen Fische so elend umgekommen sind?" „Überhaupt hättest du nicht für uns alle reden dürfen", schimpfte Tommi. Endlich kam auch TH zu Wort. „Noch weitere Vorwürfe gegen mich?" erkundigte er sich grinsend. „Na, was wir dir bereits vorgehalten haben, sollte doch eigentlich ausreichen", antwortete Schräubchen. Walther nickte. „Wenn das so ist, dann will ich auch darauf antworten: Um es kurz zu machen, ich gebe euch ja in allen Punkten recht..." Verdattert starrten die drei anderen ihn an. Der lange Blonde mit der großen Brille hatte sie wieder mal gründlich verblüfft. „Was heißt, du gibst uns recht?" er42
kundigte sich Tommi, nachdem er sich einigermaßen von seiner Überraschung erholt hatte. „Natürlich haben wir heute auf dem Meierhof nichts mehr zu tun", erwiderte TH und grinste jetzt noch breiter. „Das habe ich doch nur gesagt, damit der Hecht glaubt, wir würden dorthin zurückfahren. Ich habe ihm versprochen, daß wir ihm nicht in die Quere kommen werden, denn wo der Hecht und der Moll selbst nachforschen, werden wir natürlich nichts unternehmen. Dort wären wir ja sowieso überflüssig. Aber wenn wir anderswo nach dem Platz suchen, wo das Gift in den Bach eingeleitet wurde, dann ist das allein unsere Sache. Und auf diese Art kommen die Polizisten und wir uns gegenseitig auch ganz bestimmt nicht in die Quere. Und jetzt entscheidet selbst: Habe ich, wenn man es so sieht, für uns alle sprechen dürfen oder nicht?" „Klar, dann schon!" erwiderte Tommi und setzte hinzu: „Ich fürchte, ich muß mich bei dir entschuldigen!" „Muli und ich auch", sagte Schräubchen. „Schwamm drüber", meinte Walther und zwinkerte seinen drei Freunden zu. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst. „Zum Mittagessen müssen wir natürlich vorher noch heim", sagte er. „Aber gleich danach treffen wir uns wieder bei Milli. Und dann drehen wir jeden Stein am Ufer des Höllbaches um." „Bis wir herausgefunden haben, wo die Giftbrühe eingeleitet worden ist", stimmte ihm Schräubchen zu. „Und Max und Moritz nehme ich auf alle Fälle mit", verkündete Milli. „Vielleicht entdecken die beiden et43
was, was wir übersehen." „Abgemacht", erklärte Tommi. „In ein paar Stunden sind wir wieder hier. Und dann machen wir uns an die Arbeit." Die drei anderen Mitglieder der Pizza-Bande nickten und schwangen sich auf ihre Fahrräder. Im Steinbruch Zwei Tage waren seit dem Fischsterben vergangen. Zwei Tage, in denen die vier von der Pizza-Bande beinahe ihren ganzen Mut verloren hatten. Fieberhaft hatten sie die Ufer des Höllbaches abgesucht, während die Polizeibeamten sich darauf beschränkt hatten, in den angrenzenden Bauernhöfen und Häusern Verhöre anzustellen. Immer wieder hatten die vier Freunde irgendwo das grün-weiße Polizeiauto erblickt. Sie waren ihm aus dem Weg gegangen und hatten gehofft, bald eine heißere Spur zu finden als Inspektor Hecht und Wachtmeister Moll. Doch nun, am Spätnachmittag des zweiten Tages, waren auch sie am Ende ihres Lateins. Ebenso wie die Beamten hatten die vier Freunde nichts Verdächtiges entdeckt. „Es gibt wirklich viel zu viele Möglichkeiten, wo das Gift in den Bach eingeleitet worden sein könnte", jammerte Milli und rieb sich die schmerzenden Füße. Die vier Freunde saßen auf einem umgestürzten 44
Baumstamm ein paar hundert Meter unterhalb des Steinbruchs unter der Burgruine. Mindestens zehn Kilometer waren sie heute wieder umsonst herumgelaufen. „Nie werden wir die Giftquelle finden", fuhr Milli nach einer Weile fort. „Wahrscheinlich hatte der Inspektor schon recht", pflichtete ihr Tommi bei. „Daß die Umweltsünder eben meistens ungeschoren davonkommen." „Willst du damit sagen, daß wir aufgeben sollen?" fragte Schräubchen. Sie war verschwitzt und müde und doch leuchtete noch immer ein kleines Fünkchen Unternehmungsgeist aus ihren blauen Augen. „Ich weiß nicht, ob das richtig wäre." „Aber wir haben doch inzwischen herausgefunden, daß es so gut wie sinnlos ist", warf TH ein. „Milli hat das ganz richtig erkannt. Sozusagen Zentimeter um Zentimeter haben wir den Bachlauf abgesucht - und alles, was wir gefunden haben, waren alte Schuhe, leere Flaschen und abgefahrene Autoreifen ..." „Immerhin haben wir sie auf die Mülldeponie gebracht", erwiderte Schräubchen. „Ganz sinnlos ist unsere Aktion also doch nicht gewesen!" „Dann geben wir uns halt damit zufrieden", murmelte Tommi. „Wenn man's recht bedenkt, haben wir ja sowieso schon viel mehr geleistet als so manche Erwachsene." „Und deshalb sollen wir uns zufriedengeben, damit die Umweltsünder weitermachen können?" brauste 45
Schräubchen auf. „Irgendwann leiten sie wieder Gift in den Höllbach ein, und dann werden wieder unzählige Tiere sterben müssen." Trotz ihres schmerzenden Rükkens setzte sie sich ganz gerade auf. „Wir dürfen jetzt nicht einfach das Handtuch werfen! Sonst machen wir uns doch irgendwie mitschuldig am nächsten Fischsterben!" „Aber was sollen wir denn noch tun?" fragte Milli. „Den Bach noch einmal ganz von vorne untersuchen? Wo wir doch ohnehin schon jeden Stein umgedreht haben..." „Stein ...", murmelte Schräubchen. „Das ist es! Am aufgelassenen Steinbruch haben wir noch nicht nachgeforscht! Weil das Betreten des Geländes verboten ist. Aber der Höllbach fließt unterhalb des Steinbruchs vorbei. Vielleicht haben die Verbrecher ihre Giftfässer dorthin gebracht und sie dort heimlich abgelassen!" Da wurden plötzlich auch die drei anderen wieder munter. „Gar nicht so abwegig, Schräubchen", lobte TH das blonde Mädchen. „Und die Polizei war auch noch nicht im Steinbruch, das wissen wir. Vielleicht hast du uns wirklich auf eine heiße Spur gebracht. Er blickte zur Sonne, die schon ziemlich tief stand. „Fragt sich nur, ob wir das heute noch schaffen. In einer halben Stunde wird es finster, und dann müssen wir uns auf den Heimweg machen." „Wenn du noch lange quasselst, schaffen wir's ganz bestimmt nicht", rief Tommi. Er sprang auf. „Kommt! Für eine flüchtige Untersuchung des Steinbruchs reicht 46
es allemal noch!" Die vier Freunde liefen los. Moritz trottete an Mulis Seite mit. Walther hatte den Tigerkater auf den Arm genommen, damit sie schneller vorwärts kamen. Sie brauchten nur ein paar Minuten, um die dreihundert Meter bis zum Steinbruch zurückzulegen. Aber als sie das zerklüftete Gelände, das mit einer Schranke und einem Verbotsschild abgesperrt war, erreichten, schien die Sonne schon wieder ein Stückchen tiefer gesunken zu sein. „Hoffentlich sieht uns keiner!" murmelte Milli, als sie unter die Absperrschranke hindurchschlüpfte. „Ach was, das ist hier der verlassenste Ort im ganzen Landkreis", beruhigte Walther sie. Moritz kläffte und stürmte davon. „He, warte doch!" rief Milli ihrem Hund nach. Doch Moritz war bereits zwischen den mächtigen Steinblökken verschwunden. „Laß ihn ruhig ein wenig herumstöbern", riet Tommi. „Wenn er merkt, daß wir uns auf den Heimweg machen, wird er schon wieder auftauchen. Wir können inzwischen ungestört das Gelände untersuchen." „Am besten bilden wir eine Kette", schlug Schräubchen vor. „So geht es am schnellsten, wenn einer von uns etwas entdecken sollte, kann er die anderen zu sich rufen." So geschah es dann auch. Immer weiter drangen die vier von der Pizza-Bande in den Steinbruch vor. Tommi und Schräubchen hielten sich in der Nähe des Bach47
ufers, TH und MÜH suchten mehr zum Burgberg hin. Doch sie fanden nichts weiter als Felstrümmer, ab und zu einen Wassertümpel und verwuchertes Gestrüpp. Als sie dann das Ende des Geländes erreicht hatten, war die Sonne bereits zur Hälfte hinter den Bergen verschwunden. „Nichts", murmelte Tommi enttäuscht, als sie sich wiedertrafen. „Ja, das war wohl blinder Alarm", gab Schräubchen zu. „Wenigstens für heute", versuchte Milli sie zu trösten. „Denn besonders gründlich haben wir ja wirklich nicht gesucht. Ich denke, wir sollten morgen einfach noch einmal herkommen und dann jeden einzelnen Stein umdrehen." „Können wir machen", stimmte TH zu. „Aber jetzt sollten wir uns beeilen, wenn wir es vor Einbruch der Dunkelheit noch bis Sommerberg schaffen wollen!" „Moritz!" rief Milli zwischen die zerklüfteten Felsen hinein. „Komm her! Wo steckst du denn?" Gespannt hielten sie nach dem Mischlingshund Ausschau, doch der war weder zu hören noch zu sehen. „Hat uns gerade noch gefehlt!" schimpfte Milli. „Kommt, jetzt müssen wir auch noch ihn suchen. Wahrscheinlich hat er irgendwo einen verlassenen Kaninchenbau entdeckt." „Wohin ist er denn eigentlich gelaufen?" wollte TH wissen. „Na, dort hinüber." Milli deutete auf die zerklüftete 48
Felswand direkt unterhalb der Burgruine. „Irgendwo dort drüben muß er stecken. Aber natürlich sitzt der Kerl wieder mal auf seinen Ohren ..." Immer wieder riefen sie nach dem Hund, während sie auf den schroffen Felshang zugingen, aus dem früher die riesigen Blöcke herausgesprengt worden waren. Der Sockel der Wand lag bereits in tiefem Schatten. Deswegen entdeckten sie Moritz erst, als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt waren. „Also weißt du, jetzt hättest du eigentlich eine Tracht Prügel verdient", schimpfte Milli. „Kannst du denn überhaupt nicht hören, wenn man dich ruft?! Na warte, zur Strafe kommst du jetzt an die Leine!" Das zierliche Mädchen beugte sich nieder, um nach Moritz' Halsband zu greifen. Mitten in der Bewegung stutzte sie jedoch, denn ihr Blick war auf etwas gefallen, was Moritz bis jetzt mit seinem wuscheligen Körper verdeckt hatte. „Ach, du liebe Güte! Was ist das denn?" rief sie erstaunt. Gleich darauf waren auch ihre Freunde da und blickten Milli neugierig über die Schulter. Moritz fiepte leise, als TH nach dem schwarzen Bündel griff, das zwischen den Vorderbeinen des Mischlingshundes in einer flachen Steinwanne lag. „Ein toter Vogel - eine Elster", sagte Walther nach ein paar Sekunden betroffen. „Moritz - du hast doch nicht etwa ...?" platzte Milli erschrocken heraus. „Nein, die Elster ist schon länger tot", unterbrach TH 49
sie. „Ihr Körper ist kalt und auch schon ganz steif." Er untersuchte den Vogel noch genauer. „Seltsam", murmelte er nach einer Weile. „Dabei ist sie noch ganz jung. Und verletzt ist sie auch nicht. Ich möchte wirklich wissen, woran die eingegangen ist." Es war Moritz, der ihnen diese Frage beantwortete. Er schnüffelte nämlich kurz über die Steinwanne hin, in welcher die tote Elster gelegen hatte, dann fuhr er mit gesträubtem Fell ein paar Schritte zurück. Erst jetzt bemerkten die vier Freunde, daß sich in der Rinne eine Flüssigkeit befand, die seltsam schillerte. Und als sie nun auch den stechenden Geruch wahrnahmen, der von ihr ausging, ging ihnen ein Licht auf. „Das ... das Gift!" murmelte Schräubchen erschrokken. „Das verdammte Zeug, nach dem wir die ganze Zeit gesucht haben!" „Ja, kein Zweifel", bestätigte TH, nachdem er vorsichtig an der Brühe gerochen hatte. „Es stinkt wie Salzsäure und Schwefel und Werweißwasnoch gleichzeitig." „Und die arme Elster ist damit in Berührung gekommen - und das hat sie das Leben gekostet", flüsterte Milli. Dann zog sie Moritz an sich und nahm ihn ganz fest in die Arme. „Tut mir leid, Kleiner, daß ich mit dir geschimpft habe! Es war richtig, daß du nicht gekommen bist, als ich dich rief. Sonst hätten wir die Giftbrühe nie entdeckt. Danke, Moritz! - Aber hoffentlich hast du von dem Zeug nichts abgekriegt." 50
Der Hund winselte und leckte Millis Gesicht. „Nein, das glaube ich nicht", sagte TH. „Moritz hat einen guten Instinkt, und der hat ihn bestimmt gewarnt ..." „Im Gegensatz zu der Elster", unterbrach ihn Schräubchen. „Die war noch ganz jung und unerfahren ..." „Wir nehmen sie mit nach Hause und begraben sie im Obstgarten hinter unserem Hof", schlug Milli vor. „Gut, aber vorher müssen wir unbedingt herausfinden, wie die Giftbrühe in die Steinschüssel gelangt ist", mischte sich Tommi ein. „Und wir müssen uns beeilen, sonst ist es so dunkel, daß wir überhaupt nichts mehr sehen!" „Ja, wir haben höchstens noch zehn Minuten Zeit", meinte Schräubchen. „Also los!" Die vier Freunde untersuchten die natürliche Steinwanne nun ganz genau. Sie lag direkt unterhalb der riesigen Felswand des Steinbruchs. Dicht neben und ein bißchen über ihr zog sich eine Spalte in den Felsen hinein - und in dieser Kluft entdeckte Milli nun wiederum Spuren der stinkenden Flüssigkeit. „Hier ... hier oben muß das Gift herausgesickert sein!" rief sie. „Über die Steinmulde ist es dann weiter zum Höllbach geronnen, wobei in der Mulde ein Rest zurückgeblieben ist", sagte Tommi. „Dann ist die Giftbrühe also direkt aus dem Berg gekommen", vermutete Schräubchen. „Kommt, wir wollen nachprüfen, wohin diese Felsspalte führt!" 51
Das war leichter gesagt als getan. Denn zum einen war es jetzt fast ganz dunkel geworden, und zürn anderen war die Wand des Steinbruchs sehr steil. Außerdem führte die Felsspalte nur etwa zwei Meter schräg nach oben und verschwand dann im Wurzelwerk eines mächtigen Ginsterbusches, der sich auf einem kleinen Steinabsatz festgekrallt hatte. „Wir müssen hinter den Ginster gelangen", rief Tommi. „Wenigstens einer von uns. Milli, du bist die Kleinste. Meinst du, du schaffst es, wenn TH und ich dir die Leiter machen?" „Ich kann's ja versuchen", erwiderte Milli und bemühte sich, ihre Angst zu verbergen. „Platz, Moritz! Halt du inzwischen Max fest, Schräubchen! Sonst will er mir noch nachklettern." Eine Minute später stand Milli mit je einem Fuß auf den Schultern von TH und Tommi. Die beiden hielten ihre Beine fest. Milli zerrte an dem Ginsterbusch. Zuerst sah es ganz so aus, als könnte sie ihn unmöglich zur Seite drücken, aber dann knirschte es plötzlich im Wurzelwerk, und der Strauch gab nach. Millis Kopf und Oberkörper schienen direkt in der Felswand zu verschwinden. „He, was hast du entdeckt?" rief Schräubchen aufgeregt. TH und Tommi keuchten unter Millis Last. Moritz und Max wiederum äugten neugierig nach oben. Millis Körper streckte sich noch ein wenig mehr. Fast sah es so aus, als wollte sie mit Haut und Haaren hinter 52
dem Ginsterbusch verschwinden. Doch dann kamen ihr Oberkörper und ihr Kopf auf einmal wieder zum Vorschein. Sie hangelte sich nach unten und kam federnd zwischen TH und Tommi auf dem Boden auf. Ihr Gesicht war schmutzig und zerstriemt. In ihren weit aufgerissenen Augen stand ein Ausdruck, als wäre sie einem Gespenst begegnet. Stumm und wie geistesabwesend starrte sie ihre Freunde an. „Na sag doch schon was!" rief TH. „Was hast du entdeckt?" „Spann uns doch nicht länger auf die Folter!" bettelte Schräubchen. „Milli, was ist denn bloß los mit dir?" rief Tommi. Langsam öffnete Milli die Lippen. Und dann stotterte sie: „Da ist - eine Höhle in der Felswand. Oder ein Stollen. Als ob der ganze Berg hohl wäre ..." Verdutzt starrten die Freunde sie an. Dann rief TH: „Ein geheimer Gang?! Milli, wenn du uns angeschwindelt hast...!" „Ich schwöre es!" „Dann nichts wie hinein!" rief Tommi. „Wir müssen ihn auf der Stelle erforschen!" „Wir können auf keinen Fall noch heute in den Stollen klettern", bremste ihn Schräubchen. Sie deutete auf die Sonne, von der jetzt nur noch ein ganz schmaler Rand über den Bergen zu sehen war. „In ein paar Minuten ist es ganz dunkel, und bis dahin müssen wir wenigstens wieder auf dem Radweg am Höllbachufer sein!" „Ja, allerhöchste Eisenbahn", pflichtete TH ihr bei. 53
„Aber morgen erkunden wir den Geheimgang ganz bestimmt", sagte Tommi. „Ja, gleich morgen früh kommen wir wieder her", erwiderte TH. „Aber jetzt nichts wie weg!" Die vier Freunde rannten zurück zur Schranke, nachdem sie noch einen letzten Blick auf den Ginsterbusch und das gähnende Loch in der Felswand geworfen hatten. Sie alle ahnten, daß ihnen morgen ein Abenteuer bevorstehen würde. Wahrend sie, so schnell sie konnten, zurück nach Sommerberg radelten, redeten sie von nichts anderem. Dann bog Milli zum Meierhof ab, in der Hand die tote Elster aus dem Steinbruch. Ebenfalls morgen sollte das Tierchen im Obstgarten begraben werden. Schräubchen, TH und Tommi erreichten wenig später die Stadt, dann trennten sie sich ebenfalls. Eine aufschlußreiche Entdeckung Es war erst sieben Uhr, und auf den Blättern und Zweigen der Obstbäume glänzte noch der Tau. So früh wie möglich hatten die vier von der Pizza-Bande sich an diesem Morgen auf dem Meierhof getroffen. Ehe sie zum Steinbruch radelten, wollten sie noch die tote Elster begraben. Milli trug den Schuhkarton, in dem sie den Vogel die Nacht über verwahrt hatte. TH und Tommi schleppten eine Schaufel und einen Spaten. 54
Schräubchen fragte: „Wo sollen wir das Grab denn nun machen?" „Am besten unter dem Kirschbaum dort drüben", schlug Milli vor. „Dort liegt auch die Katze, die wir hatten, als ich noch klein war." Ihre Freunde waren einverstanden. TH und Tommi setzten die Werkzeuge an. Nach ein paar Minuten war die Grube tief genug. Die vier Freunde betteten den Pappkarton mit dem toten Vogel hinein, dann beeilten sich die beiden Jungen, das Grab wieder zuzuschütten. „So, jetzt ist mir wohler", gestand Tommi. „Irgendwie bin ich ganz schön froh, daß wir das hinter uns haben." „Ja, tote Tiere können einen ganz schön traurig machen", bestätigte Schräubchen. „Besonders wenn sie noch so jung waren wie die Elster. Ich sage euch, meine Wut auf die Umweltverschmutzer wird immer größer!" „Die werden nicht mehr lange frei herumlaufen", versicherte Walther. „In einer Stunde sind wir wieder im Steinbruch, und dann werden wir sicher herausfinden, wie die Gewässervergiftung und der unterirdische Gang zusammenhängen. - Los, Leute! Laßt uns die Werkzeuge zurück in den Schuppen bringen, und dann fahren wir." Die vier Freunde gingen vom Obstgarten zum Hofplatz hinüber. Auf halbem Weg kam ihnen Moritz entgegen. Bis jetzt hatte er spielerisch die Hühner gejagt, die den wuschligen Hund schon längst nicht mehr 55
fürchteten. Nun begrüßte er ausgelassen jedes einzelne Mitglied der Pizza-Bande. Dann begleitete er die vier Freunde schweifwedelnd zum Schuppen. Als sie wieder herauskamen, sahen sie, wie Herr Obermaier und Gustl auf dem großen Traktor in Richtung Sommerberg davonratterten. An die Zugmaschine hatten sie den schweren Gummiwagen angekoppelt. „Nanu, was haben die denn heute in der Stadt vor?" erkundigte sich Schräubchen. „Sie müssen das Saatgut für den Winterweizen abholen", erklärte Milli. „Vorhin hat einer vom Landwirtschaftsverband angerufen. Die Lieferung ist ganz plötzlich auf dem Bahnhof angekommen." „Ach so, ich dachte schon, da sei etwas passiert, weil sie es so eilig haben", lachte Walther. „Aber jetzt kommt weiter. Wir wollen uns im Haus noch schnell die Hände waschen, und dann hauen wir auch ab." Während die vier von der Pizza-Bande sich im Badezimmer des Meierhofes drängelten, hörten sie unten das Telefon klingeln. Sie achteten nicht weiter darauf, trockneten sich ab und liefen wieder nach unten. Doch ehe sie noch das Haus verlassen konnten, kam Frau Obermaier in den Flur. „Gut, daß ihr noch nicht weg seid!" rief sie. „Heute ist wieder mal der Teufel los - und ich brauche euch auf dem Hof..." Die vier Freunde hatten alle denselben Gedanken: Sie würden nicht zum Steinbruch können! „Was ist denn passiert, Mama?" fragte Milli erschrok56
ken. Sie spürte förmlich die betretenen Blicke der anderen in ihrem Rücken. „Gerade hat Frau Lanzenöder angerufen", erklärte Millis Mutter. „Eine ihrer Kühe will kalben, und der Tierarzt ist natürlich wieder mal nicht zu erreichen. Also muß ich zum Nachbarhof hinüber und bei der Geburt helfen. Es ist schon allerhöchste Zeit. Du mußt mit deinen Freunden so lange auf unserem Hof bleiben, Milli, nachdem ja auch Vati und Gustl weg sind. - Also, macht's gut, Kinder, und wenn ihr Hunger habt, wißt ihr ja, wo die Sachen in der Küche stehen." Damit verließ Frau Obermaier das Haus. Eine Minute später hörten die vier sie auf Gustls Moped wegfahren. Betreten starrten sich die Freunde an. Sie hatten es kaum noch erwarten können, endlich den unterirdischen Gang zu erforschen - und nun das! Die Enttäuschung war kaum auszuhalten. Doch sie konnten Millis Mutter jetzt nicht einfach im Stich lassen; sie mußten sich in das Unvermeidliche fügen. „Wie lange kann es dauern, bis so ein Kalb geboren ist?" erkundigte TH sich mißmutig. Millis Antwort ließ sein Gesicht noch länger werden, als es ohnehin schon war: „Letztes Mal war Mama vom Vormittag bis in die Nacht bei den Lanzenöders drüben." Doch dann setzte Milli tröstend hinzu: „Aber manchmal geht es auch ganz schnell." „Ausgerechnet heute!" jammerte Tommi. „Na ja, davonlaufen kann uns der unterirdische Gang 57
wenigstens nicht", sagte Schräubchen tapfer. „Das meine ich auch", pflichtete Milli ihr bei. „Aber jetzt gehen wir erst mal in die Küche. Wenn wir schon das Haus hüten müssen, dann wollen wir wenigstens das Beste daraus machen." Da hellten sich auch Walthers Gesichtszüge wieder ein bißchen auf. „Du meinst, wir sollten mal wieder so richtig den Kühlschrank plündern?" fragte er hoffnungsvoll. „Klar", erwiderte Milli, und nun lachte sie schon wieder. „Ein zweites Frühstück wäre doch wirklich nicht zu verachten, oder? Kommt mit, und dann laßt uns zum Trost wieder mal so richtig schlemmen!" Wenig später bog sich die Tischplatte förmlich unter den guten Sachen aus der Bauernküche. Zwar war es noch nicht einmal acht Uhr, und alle vier Freunde hatten ihr erstes Frühstück bereits genossen, aber das konnte sie noch lange nicht zu Kostverächtern machen. Denn auf dem Meierhof schmeckte es immer ganz besonders gut. Nur die Leckerbissen aus der Pizzeria Mamma Gina ließen sich mit der köstlichen Hausmannskost vergleichen. Die vier Freunde richteten sich Brote mit selbstgemachter Butter und hausgeräuchertem Schinken her, dazu trank jeder ein großes Glas mit noch kuhwarmer Milch. Als Milli freilich vorschlug, zusammen mit Schräubchen auch noch ein Omelett aus frischen Landeiern und Gartenkräutern zuzubereiten, winkten TH und Tommi mit gespieltem Entsetzen ab. 58
„Alles was recht ist", stöhnte Tommi. „Du bist ja noch schlimmer als meine Mama, Milli. Die will mich wenigstens nur mit Pizzas zum Platzen bringen, aber nicht mit Omeletts ..." „Aber ein andermal können wir durchaus darüber reden", meinte Walther. „Bloß dann vielleicht zum Mittagessen und nicht unbedingt um acht Uhr morgens." „Na gut", gab sich Milli geschlagen. „Aber ein Glas mit eingemachten Himbeeren schaffen wir schon noch zum Nachtisch, was ?" Dagegen hatte nun wirklich keiner etwas einzuwenden. Denn süße Himbeeren mit frischer Milch waren einfach umwerfend, darin waren sich alle vier einig. Selbst Moritz schien dieser Meinung zu sein, denn er vertilgte auch ein Schälchen voll, während Max sich damit zufriedengab, sich mit dem Mischlingshund die Milch zu teilen. Als dann das große Einmachglas leer war, schlug die alte Standuhr drüben im Wohnzimmer neun. Kaum war der letzte Ton verklungen, zog TH, obwohl er am meisten von allen verputzt hatte, schon wieder ein langes Gesicht. „Was hast du denn?" wollte Schräubchen wissen. „Bauchweh etwa?" „Ich doch nicht!" versicherte Walther. „Aber wenn Frau Obermaier jetzt nicht bald zurückkommt, dann ist's wirklich Sense mit unserem Ausflug zum Steinbruch. Denn dann wartet ja schon bald wieder das 59
Mittagessen auf uns ..." Die drei anderen platzten heraus. TH war doch wirklich unverbesserlich. Schon wieder dachte er ans Essen. Doch andererseits hatte er natürlich recht. Der geheimnisvolle Gang im Steinbruch lockte sie alle, und es war schlimm, daß sie noch immer auf dem Meierhof festsaßen, auch wenn Milli ihnen solch leckere Sachen aufgetischt hatte. Doch plötzlich hörten sie ein Moped knattern. „Sie ist zurück!" jubelte Tommi und war mit einem Satz bei der Tür. Die anderen folgten ihm, ebenso Max und Moritz. Sie umringten die Bäuerin und erkannten bereits an ihrem Gesichtsausdruck, daß mit dem Kälbchen alles gut verlaufen war. „Was ist es?" wollte Milli noch wissen. „Ein Mädchen oder ein Junge?" „Ein schwarz-weiß geflecktes Stierkalb", verkündete Frau Obermaier. „Wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt zum Lanzenöderhof hinüberradeln und es euch ansehen." „Ja, vielleicht machen wir das - später", murmelte Milli, und dann saß sie auch schon auf ihrem Rad. Mit einem verwegenen Satz sprang Max in den Gepäckkorb. Drei Sekunden später flitzten die vier von der Pizza-Bande mit Moritz im Schlepptau vom Meierhof, und Millis Mutter schaute ihnen kopfschüttelnd nach. „Vorsicht! Sonst werden deine Zehen zu Pizzapampe zerquetscht!" Schräubchen knallte den großen Stein, den sie mühsam herangeschleppt hatte, unterhalb des 60
Ginsterbusches auf die Erde. Nur durch einen verwegenen Sprung konnte sich Walther retten. Aber er war Schräubchen nicht böse. Die vier Freunde bemühten sich, einen bequemen Aufstieg hinauf zum Eingang des geheimnisvollen Stollens zu errichten. Schräubchens Riesenstein hatte sie ihrem Ziel wieder ein Stückchen näher gebracht. „Vielleicht eine halbe Stunde noch, dann haben wir es geschafft", rief Tommi. Er kam soeben vom Höllbach herauf, wo er im Auwald dürres Holz gesammelt hatte. „Prima Fackeln gibt das", erklärte er nun und schwenkte das Bündel. „Und das zugehörige Feuerzeug habe ich in der Pizzeria auch abgestaubt." „Das hättest du dir sparen können", erwiderte Schräubchen und deutete auf die Fahrräder, die sie heute direkt bis zur Felswand geschoben hatten. „In meiner Gepäcktasche stecken vier Taschenlampen. Die sind bequemer und ungefährlicher." „Redet nicht, sondern macht mit der Rampe weiter!" unterbrach Walther die beiden. „Wir müssen die Zeit wieder einbringen, die wir auf dem Meierhof verloren haben! Also packt wieder zu! Von alleine baut sich unsere Rampe ganz bestimmt nicht!" Die vier Freunde nahmen die anstrengende Arbeit wieder auf. Einen Steinbrocken um den anderen schleppten sie zur Felswand. Allmählich türmte sich eine Art Pyramide höher und höher empor. Bei jedem neuen Stein, der eingefügt wurde, kläffte Moritz laut. Max sprang leichtfüßig auf dem ungewöhnlichen Bau61
werk herum. Einmal, als die Pyramide schon fast fertig war, stellte er sich ganz oben auf und versuchte, mit den Vorderpfoten den Ginsterbusch zu erreichen. Doch Milli rief ihn sofort zurück: „Geh da weg, Max! Das ist viel zu gefährlich für dich! In den Stollen kommst du mir nicht. Du und auch Moritz - ihr bleibt nachher schön draußen ..." „Wie willst du sie denn zurückhalten, wenn wir anderen alle hineinklettern?" fragte Schräubchen. „Ich werde sie einfach anbinden", erklärte Milli. „Und jetzt laßt uns weitermachen, damit wir auch das letzte Stück noch schaffen." Wenig später war die an die Felswand gelehnte Pyramide fertig. „Sieht aus wie ein Zi ... Zickenrad bei den alten Babyloniern", sagte TH lachend. „Eine Plattform über der anderen, und je weiter man nach oben kommt, um so schmaler werden sie. Toll haben wir das hingekriegt ..." „Ja, bloß daß es bei den Babyloniern Zikkurat hieß und nicht Zickenrad", korrigierte ihn Schräubchen. „Wirklich, Walther, im nächsten Schuljahr solltest du mal ein bißchen besser aufpassen ..." „Bis dahin ist noch sehr, sehr viel Zeit", erwiderte der lange Blonde mit der großen Brille. „Und ob's nun Zikkurat heißt oder Zickenrad - wir werden jetzt auf jeden Fall wie die Ziegen dort hinaufklettern." Schon stand er auf der ersten Stufe des schrägen Treppenturmes. Tommi folgte ihm auf dem Fuß. Die beiden Mädchen blieben noch unten. Milli band Moritz 62
und Max mit den Leinen, die sie für beide Tiere immer bei sich hatte, an ihrem Fahrrad fest. Schräubchen holte währenddessen die Taschenlampen aus ihrer Gepäcktasche. Dann liefen auch die beiden Mädchen zum Steinturm zurück und folgten den Jungen nach oben. Natürlich war es TH, der als erster in den geheimnisvollen Gang eindrang. Als Milli und Schräubchen die Pyramidenspitze erreichten, waren nur noch seine Turnschuhe zu sehen. Tommi dagegen zeigte sich rücksichtsvoller. „Geht ihr jetzt", sagte er zu den Mädchen. „Ich kann euch dann beim Reinklettern helfen." Dankbar nahmen Milli und Schräubchen das Angebot an und krochen hinter Walther her in den dunklen Gang. Gleich darauf folgte Tommi. Erst dann verteilte Milli die Taschenlampen, und dann erblickten die vier Freunde die geheimnisvolle Welt zum ersten Mal im Licht. Sie kauerten in der Mündung eines Stollens, der - zumindest am Anfang - schnurgerade in den Berg hineinführte. Die Menschen, die ihn durch das Gestein getrieben hatten, waren bestimmt längst tot. Aber im Schein der Taschenlampen waren da und dort noch immer die Spuren ihrer Werkzeuge an den Felswänden zu sehen. Der unterirdische Gang hatte die Form eines umgedrehten V. Er war unten etwa einen Meter breit, während die Wände nach oben hin in einem spitzen Winkel zusammenstießen. Freilich waren diese Wände schon längst nicht mehr glatt und eben. An vielen Stel63
len waren Trümmer herausgebrochen, an anderen hatten Hitze und Frost schrundige Spalten aufgerissen. Ungefähr drei Meter hinter dem Einstieg, wo der Stollen offensichtlich einen Knick nach oben beschrieb, herrschte sogar ein richtiggehendes Chaos. Der geheime Gang schien dort teilweise eingestürzt zu sein, und durch die verbliebenen Lücken hätte man sich nur schwer zwängen können. Die vier Freunde sahen sich neugierig um und schwiegen lange. Manchmal fröstelten sie in einem kalten Luftzug, der von unendlich weit drinnen aus dem Berg zu dringen schien. Als Schräubchen endlich etwas sagte, klang ihre Stimme gepreßt: „Ich glaube, der Stollen ist viele hundert Jahre alt. Wer könnte ihn bloß angelegt haben? Und wozu könnte er benutzt worden sein?" „Darüber sollten wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen", versetzte Walther. „Wer auch immer den Gang gebaut hat und was immer er auch damit bezwecken wollte - sicher ist auf jeden Fall, daß die Giftbrühe von hier aus in die Steinrinne gelangt ist. Der Stolleneingang liegt schließlich direkt über der Felsspalte draußen und der flachen Steinschüssel unten." „Wenn das Gift wirklich hier durchgesickert ist, dann müßten wir noch Spuren davon entdecken können", sagte Milli. „Los, laßt uns alles genau untersuchen!" forderte Tommi sie auf und machte sich auch schon an die Arbeit. 64
Während der nächsten Viertelstunde leuchteten sie in jede Bodenvertiefung und in jede kleine Felsritze. Einmal stieß Milli einen erschrockenen Schrei aus, weil unter der Berührung ihrer Taschenlampe etwas gespenstisch gescheppert hatte. Doch es war nur ein Stein, der von einem Felsvorsprung gerutscht war. Gleich darauf jedoch machte Walther eine wichtige Entdeckung. „Hier! Das ist der Beweis!" rief er. „Wieder diese eklige Brühe, genau wie draußen in der Rinne!" Der Strahl seiner Lampe fiel auf einen Riß im Boden des Ganges, auf dessen Grund es tatsächlich ölig schillerte. Die vier Freunde erkannten auch den stechenden Geruch wieder, als sie sich jetzt darüber beugten. „Die Giftflüssigkeit, die durch den Stollen gekommen ist, ist in der Zwischenzeit natürlich restlos abgelaufen", sagte Walther. „Doch hier in der Vertiefung hat sich ein bißchen was davon festgesetzt." „Damit wissen wir nun, daß die Ursache für das Fischsterben tatsächlich in diesem uralten Gang liegen muß", fügte Tommi hinzu. „Aber hätten wir dann nicht auch Giftfässer oder so etwas Ähnliches hier entdecken müssen?" „Vielleicht stehen die weiter oben", vermutete Milli. „Wir befinden uns ja immer noch im Einstiegsbereich des Stollens, während der Gang vielleicht viele hundert Meter weit in den Berg hineinreicht." „Dann müssen wir ihn eben erforschen bis zum Ende!" forderte TH aufgeregt. „Egal, wo das liegt..." 65
Schon lief er auf die Stelle zu, wo der unterirdische Gang eingebrochen war. Er klemmte seine Lampe in einen Felsspalt und begann an einem der Steintrümmer zu hebeln und zu zerren. „Kommt doch! Helft mir!" rief er gleichzeitig über die Schulter zurück. Tommi wollte ihm nach. Doch Schräubchen packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. Mit einem einzigen schnellen Blick hatten sie und Milli sich verständigt. Und jetzt lief Milli los, erreichte TH, packte ihn ebenfalls am Arm und zog ihn von der Einsturzstelle weg. „He, bist du verrückt geworden?!" setzte sich Walther zur Wehr. „Wir müssen hier durch, sonst finden wir die Ursache für die Umweltverschmutzung nie!" „Ja, und uns vier findet man dann vielleicht als Leichen, wenn du nicht sofort zu buddeln aufhörst!" versetzte das blonde Mädchen. „Bitte, komm mit zurück zu den anderen! Begreifst du denn nicht, daß der ganze Stollen zusammenkrachen kann, wenn du hier bloß einen einzigen Stein aus seinem Gefüge reißt? Der größte Teil der Decke hier ist doch sowieso schon runtergekommen, ohne daß jemand dran rumgemacht hat. So morsch und kaputt ist das hier alles ..." Walther begriff und wurde schlagartig ganz blaß. Selbst im unzulänglichen Licht der Taschenlampe war es zu sehen. Noch früher als Milli kauerte TH wieder bei Tommi und Schräubchen. „Da hätte ich ja wirklich ein Riesenunglück verursachen können", murmelte er. „In solch alten Gängen muß man extrem vorsichtig sein", bestätigte Schräubchen. „Milli und ich haben 66
vorhin auch nicht gleich daran gedacht, aber dann ist es uns glücklicherweise wieder eingefallen." „Nur gut, daß nichts weiter passiert ist", murmelte Tommi. Walther nickte. Milli und Schräubchen fühlten sich auf einmal ziemlich verlegen und guckten zu Boden. „Na ja, ist ja noch einmal gut abgegangen", sagte Tommi. „Reden wir nicht mehr davon." Walther schaute ihn dankbar an. Dann erklärte er: „Aber die Frage, woher die Giftbrühe kam, ist trotzdem noch immer unbeantwortet. Und wir werden es auch niemals herausfinden, wenn wir nicht tiefer in den unterirdischen Gang eindringen können." „Das ist leider nur zu wahr", pflichtete ihm Milli bei. „Ehrlich, wie verhext ist das! Wir sind den Umweltgangstern auf der Spur - und können sie trotzdem nicht weiter verfolgen. Und irgendwann schlagen sie dann wahrscheinlich wieder zu ..." „Wenn wir nur jemanden kennen würden, der etwas von Stollen versteht", murmelte TH. „Mit dem könnten wir dann den unterirdischen Gang vielleicht doch noch bis ans Ende erforschen." „Vielleicht sollten wir Inspektor Hecht einweihen", schlug Milli vor, aber besonders begeistert klang es nicht. „Nein, der ist nicht der Richtige", widersprach TH. „Es muß schon jemand sein, mit dem man Pferde stehlen kann ..." „Luigi!" rief Schräubchen. „Mit dem kann man wirk67
lieh Pferde stehlen - das hat Tommi gesagt! Warum sind wir nicht gleich darauf gekommen?" „Natürlich, Luigi kennt sich mit unterirdischen Gängen aus wie kein anderer!" rief Tommi. „Wenn er uns hilft, dann haben wir einen richtigen Fachmann auf unserer Seite. Luigi weiß ganz bestimmt, wie wir gefahrlos durch die Einbruchstelle kommen können." Jetzt waren alle vier wieder voller Zuversicht. „Wann genau wollte Luigi denn eigentlich kommen?" erkundigte sich Milli. „Schon morgen", verkündete Tommi lachend. „Mit dem Zug aus München um 16.46 Uhr. Und wie ich uns kenne, werden wir bestimmt schon eine halbe Stunde vorher am Bahnhof sein." „Darauf verwette ich 1646 Eiswaffeln", rief Schräubchen. „Also warten wir bis morgen", sagte Walther. „Der geheimnisvolle Gang und die Giftgangster laufen uns inzwischen ja nicht davon." „Dann nichts wie raus hier!" rief Milli. „Ehrlich gesagt, mir wird's langsam sowieso ein bißchen unheimlich hier drinnen. Außerdem finde ich, daß wir uns jetzt wieder um Moritz und Max kümmern sollten." „Eine gute Idee - auch wenn sie natürlich wieder mal mehr oder weniger aus deiner Gespensterfurcht heraus geboren wurde", erwiderte Tommi. „Aber hier im Stollen können wir heute wirklich nichts mehr ausrichten. Also verbringen wir den Rest des Tages lieber zusam68
men mit den Tieren." „Am besten auf unserem Bauernhof", schlug Milli vor. „Dann hat auch Wastl was von uns. Es ist direkt schon eine kleine Ewigkeit her, daß wir zuletzt auf ihm geritten sind. Dabei wollten wir neulich ein Rodeo veranstalten, aber dann kam uns das Fischsterben dazwischen." „Dafür geht's heute rund", kündigte TH an. „Das neugeborene Stierkalb müssen wir aber auch noch angucken", erinnerte Schräubchen sie. „Genau", erwiderte Milli. „Wißt ihr was? Ihr anderen fahrt zum Mittagessen gar nicht erst nach Hause. Wir rufen vom Meierhof aus eure Eltern an und sagen, daß wir wieder mal Pizza-Banden-Ferien auf dem Bauernhof machen. Auf diese Weise können wir gleich bis morgen zusammenbleiben. Na, was haltet ihr von meinem Vorschlag?" „Einstimmig angenommen", erklärte TH - und dann rutschte er als erster durch den Stolleneingang und kletterte über die Zicken-Pyramide nach unten. Die drei anderen folgten ihm auf dem Fuß. Tommi, der als letzter kam, rückte den Ginsterbusch, so gut es eben gehen wollte, wieder vor den Einstieg. Unten begrüßten der Mischlingshund und der Tigerkater die vier Freunde überschwenglich. Diese banden die beiden Tiere los und alberten ein Weilchen mit ihnen herum. Danach kam Max wieder in Millis Fahrradkorb, Moritz lief neben ihr her, und so radelten alle zurück zum Meierhof. 69
Warten auf Luigi Sie schafften es gerade noch bis zum Mittagessen. Als die vier Freunde auf den Meierhof kurvten, ratterte auch der Traktor mit Millis Vater und dem Knecht Gustl von der anderen Seite heran. Auf dem Anhänger türmten sich die Kornsäcke, welche die beiden aus Sommerberg geholt hatten. Milli und ihre drei Freunde stürmten in die Küche. „Habt ihr denn tatsächlich schon wieder Hunger?" rief Frau Obermaier ihnen lachend entgegen. „Klar!" erwiderte Milli. „Aber vor dem Essen müßten wir schnell noch telefonieren. Es dürfen doch alle über Nacht bei uns auf dem Hof bleiben, oder?" „Selbstverständlich", antwortete die Bäuerin und lächelte die vier von der Pizza-Bande an. „Ihr habt mir heute morgen schließlich auch einen Gefallen getan und das Haus gehütet. Ihr wißt ja, wo das Telefon steht. Beeilt euch aber, denn das Essen ist gleich fertig." Vom Apparat in der Diele aus riefen Schräubchen, Tommi und Walther der Reihe nach ihre Eltern an. Es gab keine Schwierigkeiten. Die drei hatten schon oft auf dem Obermaierhof übernachtet, und ihre Eltern wußten, daß sie dort bestens aufgehoben waren. Glücklich liefen die vier von der Pizza-Bande zurück in die Küche. „Na, ihr Rangen!" begrüßte Herr Obermaier sie. Gustl, der Knecht, kaute bereits mit vollen Backen an einem Stück Apfelstrudel, den Millis Mutter 70
zum Mittagessen zubereitet hatte. Irgendwie schien die Bäuerin bereits geahnt zu haben, daß sie heute noch zusätzliche Tischgäste zu bewirten hatte, denn der goldgelbe Strudel in der eisernen Auflaufform war einfach riesig ... Eine halbe Stunde später jedoch war das Prachtstück bis auf den letzten Krümel aufgegessen. Tommi schnallte den Gürtel seiner Jeans um zwei Löcher weiter und verkündete: „Das hat wirklich super geschmeckt! Bei nächster Gelegenheit testen wir die Kochkünste meiner Mama. Hiermit lade ich die Familie Obermaier ganz herzlich in unsere Pizzeria ein." „Wenn der Hof uns mal Zeit läßt, kommen wir gerne auf dein Angebot zurück, Tommi", sagte der Bauer lachend. „Aber vorerst sind wir ja satt. Was habt ihr Kinder denn am Nachmittag vor?" „Zuerst mal zwei oder drei Stündchen schlafen, was?" spöttelte Gustl. „Bei den Riesenmengen Strudel, die ihr verputzt habt..." „Schlafen können wir in der Nacht im Heustadel", antwortete Schräubchen. „Jetzt wollen wir erst einmal das Kälbchen bei den Lanzenöders besuchen, nicht wahr?" Sie lachte ihre drei Freunde auffordernd an. „Nichts wie los!" rief Walther, und damit liefen die vier Freunde auch schon aus der Küche, schwangen sich draußen auf ihre Räder und flitzten zum Nachbarhof hinüber. Das schwarz-weiß gefleckte Stierkalb war ebenfalls gerade beim Mittagessen, wie Tommi lachend feststell71
te, als sie den Stall betraten. Noch etwas wacklig stand das Neugeborene auf seinen staksigen Beinen und saugte gierig am Euter seiner Mutter. Die Kuh muhte leise auf, als die vier Freunde herankamen, verwehrte ihnen aber nicht den Zugang zu ihrem Stand. Andere Muttertiere wären vielleicht eifersüchtiger gewesen, doch die Lanzenöder-Kuh kannte Millis Geruch. Das Mädchen war schon oft im Stall des Nachbarhofes gewesen. Jetzt kniete Milli neben dem Kälbchen nieder und streichelte vorsichtig das lockige Fell. Das Neugeborene ließ es sich ruhig gefallen und saugte unbeirrt weiter. Die Mutterkuh beschnoberte Millis blonde Haare. „Bewegt euch ganz langsam und kommt auch her", forderte Milli ihre Freunde auf. Wenig später knieten sie alle vier neben dem kleinen Stierkalb. Sie streichelten und betrachteten es, bis es endlich mit dem Trinken aufhörte. Erst jetzt wandte das Kälbchen den Kindern den Kopf zu und schaute sie ernsthaft mit seinen großen Augen an. Die vier Freunde waren hingerissen. Sicher, sie hatten schon öfter neugeborene Tiere gesehen, aber es war trotzdem immer wieder so etwas wie ein kleines Wunder. Ganz still warteten sie ab, bis sich die Augen des Kälbchens allmählich schlössen. Dann ließ sich das Heine Tier auf die Strohschütte sinken und war im nächsten Moment auch schon eingeschlafen. Die Mutterkuh legte sich aufschnaufend daneben. „Jetzt müssen wir die beiden in Ruhe lassen", sagte Milli leise. „Kommt, wir sagen den Lanzenöders noch 72
guten Tag, dann radeln wir zurück zu unserem eigenen Hof." Wenig später lehnten die vier von der Pizza-Bande ihre Räder an den Zaun der Koppel, auf der Wastl graste. Als er die Freunde erblickte, wieherte er freudig und trabte heran. Die Kinder begrüßten und streichelten das Pony. Dann holte Milli Striegel und Bürste aus dem Stall. Wastl genoß es sichtlich, als die vier Freunde sein Fell auf Hochglanz brachten. Sie wechselten sich ab und beachteten dabei die alte Pferdepflegerregel: kurze Pause, langer Strich. Das bedeutete, daß sie beim Striegeln und Bürsten nicht trödelten, sondern zwischendurch nur ganz kurze Erholungspausen einlegten. Schließlich sattelte Milli das Scheckenpony auf, und danach versuchten die vier Freunde sich der Reihe nach als kühne Westernreiter. Allerdings kam es ihnen dabei weniger auf halsbrecherisches Herumjagen an — zu dem Wastl sich ohnehin nicht hergegeben hätte —, sondern vielmehr auf die Feinheiten der Dressur. Sie alle wußten, daß es beim Westernreiten wichtig ist, besonders freundliche und sanfte Hilfen zu geben. Und das übten sie nun den ganzen Nachmittag auf der Koppel. Milli hatte Wastl eine Menge beigebracht, und so konnten die Freunde nun mit ihm über eine kleine Wippe traben oder das Pony sorgsam in vorher ausgelegte alte Autoreifen treten lassen. Später errichteten sie Tore und versuchten sich als Slalomreiter, und so vergingen 73
die Stunden für sie unglaublich schnell. Zuletzt brachten sie Wastl zurück in den Stall. Sie tränkten und fütterten das gescheckte Shetlandpony und waren sich dabei einig, schon lange keinen so schönen Nachmittag mehr verbracht zu haben. „So haben wir uns das Warten auf Luigi wenigstens auf angenehme Weise verkürzt", sagte Tommi und hielt auf der flachen Hand Wastl eine Karotte zum Nachtisch hin. „Und jetzt müssen wir immer noch nicht nach Hause, sondern dürfen auch noch die Nacht auf dem Meierhof verbringen", fiel Schräubchen ein. „Mal ganz ehrlich: Hat's die Pizza-Bande nicht gut?" „Und ob!" rief Walther. „Schade ist eigentlich nur, daß ich nicht früher gewußt habe, daß wir heute wieder mal im Heu schlafen werden. Dann hätte ich zur Feier des Tages nämlich jede Menge Süßigkeiten mitgebracht. Aber so müssen wir wahrscheinlich mit knurrendem Magen in die Scheune ..." „Was du nicht sagst!" erwiderte Milli mit gespielter Empörung. „Als ob meine Mutter uns verhungern ließe! Dabei haben sie drüben auf der Terrasse längst den Grill angeworfen. Riecht ihr denn die Holzkohle nicht?" „Mensch! Würstchen und Folienkartoffeln und dazu jede Menge Ketchup! Das ist ja noch besser als Waffelbruch!" rief Schräubchen. „Los, kommt! Ehe die anderen ohne uns anfangen!" Über den Bergen und der Burgruine leuchtete die warme Abendsonne. Auf der Terrasse des Meierhofes 74
glühten die Holzkohlen im Grillbecken. Auf dem Rost brutzelten die Würstchen und die Kartoffeln. Herr Obermaier und Gustl tranken Bier aus der Flasche. Millis Mutter hatte ein Glas Wein vor sich stehen. Für die Kinder gab es selbstausgepreßten Apfelsaft. Wenig später mampften sie alle zusammen die leckeren Grillspezialitäten. TH stellte einen Rekord auf, der von allen aufrichtig bewundert wurde. Er brachte es auf neun Grillwürste, die Folienkartoffeln nicht gezählt. Nachdem er allerdings das neunte Würstchen verputzt hatte, wurde er auf einmal entsetzlich müde. „Ich glaube, jetzt sollten wir allmählich ins Heu verschwinden", konnte er gerade noch murmeln. Seine drei Freunde stimmten zu. Auch für sie war es ein anstrengender Tag gewesen. Sie nahmen sich noch eine große Flasche Apfelsaft mit, dann trugen sie Dekken und Kopfkissen aus dem Wohnhaus in den Heustadel hinüber. Sie schleppten alles die Leiter hoch, die zum Boden hinaufführte, wo das Heu in riesigen duftenden Bergen lag. Und dann errichteten sie, wobei sie auf TH allerdings kaum noch zählen konnten, eine herrliche Schlafkuhle hoch oben auf dem größten Heuberg. Kaum lag Walther unter seinen Decken, da war er auch schon eingeschlafen. Die drei anderen Mitglieder der Pizza-Bande redeten noch ein Weilchen miteinander und schmiedeten Pläne für den nächsten Tag. Draußen war es jetzt schon ganz dunkel. Von der Terrasse kam leise Radiomusik herüber. „Jetzt sind es keine 75
zwanzig Stunden mehr, bis Luigi in Sommerberg eintrifft", murmelte Tommi zuletzt, dann fielen auch ihm die Augen zu. Eine Minute später schliefen alle vier Freunde tief und fest. Durch ihre Träume geisterten Luigi, das Shetlandpony, Grillwürstchen, die Burgruine, eine Menge Caravans und immer wieder der unterirdische Gang. Am nächsten Tag jedoch erlebten die vier von der PizzaBande eine riesige Enttäuschung. Den Vormittag hatten sie getrennt verbracht, doch eine halbe Stunde vor der Ankunft des bewußten Zuges aus München hatten sie sich wieder auf dem Sommerberger Bahnhof getroffen. Während der folgenden dreißig Minuten stieg ihre Spannung immer mehr an. Dann lief der Zug endlich ein. Doch Luigi stieg nicht aus. Es kamen nur die üblichen Pendler von München zurück. Ansonsten kletterte noch ein älteres Ehepaar aus dem Zug, das offenbar in Sommerberg Urlaub machen wollte. Die vier Freunde warteten ab, bis der Zug wieder anrollte. Dann, als auch die letzte Hoffnung geschwunden war, fielen Milli, Schräubchen und Walther gnadenlos über Tommi her. „Ein schöner Archäologe ist dein Luigi, wenn er nicht mal einen Fahrplan lesen kann!" schimpfte TH. „Du hast doch felsenfest behauptet, daß er mit diesem Zug kommen würde!" hakte Schräubchen nach. „Und was ist jetzt? Jetzt stehen wir da und gucken blöde aus der Wäsche!" 76
„Ich bin auch furchtbar enttäuscht!" jammerte Milli. „Wenn man mit einem Pferde stehlen will, dann muß man sich auch auf ihn verlassen können! Und jetzt hat uns Luigi gleich zu Anfang einfach hängenlassen!" „Ich weiß ja auch nicht, was da passiert ist", erwiderte Tommi kleinlaut. „Bis jetzt jedenfalls hat Luigi sein Wort immer gehalten. Vor einer Woche hat er meinen Eltern und mir genau mitgeteilt, wann er in Sommerberg eintreffen würde. Ich habe den Brief sogar noch zu Hause..." „Ja, Papier ist geduldig", meckerte TH. „Aber irgendein Brief nützt uns leider gar nichts." „Vielleicht kommt Luigi ja mit dem nächsten Zug", sagte Tommi. „Es ist ja schließlich möglich, daß er es in München mit dem Umsteigen nicht geschafft hat. Wißt ihr was? Wir fahren jetzt einfach in die Pizzeria und warten dort auf ihn." Auffordernd blickte Tommi seine drei Freunde an. Als er ihre betretenen Gesichter sah, fügte er hinzu: „Und eine Portion Eis für uns alle spendiert meine Mama bestimmt auch." „Na ja, dann wollen wir Luigi halt noch eine Chance geben", rief TH und rannte den anderen voraus zum Ausgang des Bahnhofes. Eine Minute später fegte die Pizza-Bande auf ihren Rädern quer durch Sommerberg und fiel zuletzt in die Pizzeria Mamma Gina ein. Natürlich waren auch Tommis Eltern ganz erstaunt, weil Luigi nicht mitgekommen war. Doch dann trösteten die Carottis die Freunde und sich selbst damit, daß er bestimmt mit dem nächsten Zug auftauchen würde. 77
Tommis Mutter brachte den Kindern Eis ins Hinterzimmer, und dann wurden wiederum die Eltern von Milli, Schräubchen und Walther telefonisch davon in Kenntnis gesetzt, daß die Kinder heute alle in der Pizzeria übernachten würden. Denn der nächste Zug aus München würde erst um 20.31 Uhr in Sommerberg eintreffen. Die vier Freunde verdrückten ihr Eis, später machten sie sich über eine riesige Pizza her. Endlich wurde es 20.30 Uhr, dann 20.45 Uhr. Tommi und seine Freunde ließen die Straße draußen nicht mehr aus den Augen. Doch Luigi kam nicht. Um 21.00 Uhr war ihnen allen klar, daß der Student auch mit dem Spätzug nicht angekommen war. „Dann vielleicht morgen", sagte Tommi zu seinen Freunden, auf deren Gesichtern sich nun wieder die totale Enttäuschung malte. „Und bis dahin bleiben wir zusammen. Das ist ja schließlich auch was wert ..." Er bekam keine Antwort, denn plötzlich gellte draußen auf der Hauptstraße eine Polizeisirene auf. Gleich darauf fuhr der grün-weiße Audi mit flackerndem Blaulicht vorbei - und verschwand genau in die Richtung, die er auch ein paar Tage zuvor genommen hatte, als bei der Höllmühle das Fischsterben entdeckt worden war. „Da ist doch wieder was passiert!" rief Milli erschrocken. „Sie fahren in Richtung Höllbach ...!" stöhnte Tommi ahnungsvoll. „Du meinst, daß die Umweltgangster wieder ...?" 78
fragte Schräubchen entsetzt. „Durchaus möglich", erwiderte TH. „Aber herausfinden können wir das heute nicht mehr. Dazu ist es schon viel zu spät. Tommis Eltern lassen uns bestimmt nicht mehr weg. So ein Mist..." „Aber wir können meinen Vater bitten, daß er telefoniert", rief Tommi. „Er kennt den Reporter von der Lokalzeitung recht gut. Wenn er dort anruft, erfährt er bestimmt, was passiert ist. Der Lampelsdorfer vom Seeboten hört doch Tag und Nacht den Polizeifunk ab, das weiß jeder." „Wenn wir dich nicht hätten, Tommi!" lobte Milli den Freund. Die Polizeisirene war jetzt nur noch von ganz ferne zu hören. Das blonde Mädchen zappelte vor Spannung und setzte hinzu: „Mach schnell, bitte!" Tommi flitzte durch die Tür, die zum Restaurant führte. Stumm saßen die drei anderen da. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, dann kam ihr Freund zurück. „Der Lampelsdorfer war leider schon weg ...", platzte Tommi heraus. „So ein Pech!" schimpfte Schräubchen. „Aber mein Papa hat mit seiner Frau gesprochen", fuhr Tommi fort. „Und die hat natürlich auch Bescheid gewußt. Der Höllmüller hat tatsächlich ein zweites Fischsterben gemeldet!" Mit steinernen Mienen nahmen TH und die Mädchen die schlimme Nachricht auf. Mehrere Minuten war es ganz still im Hauptquartier der Pizza-Bande. Endlich sagte Milli: „Wenn wir den unterirdischen 79
Gang schon erforscht hätten, dann hätten wir das Verbrechen vielleicht verhindern können. Bestimmt ist die Giftbrühe wieder durch den Stollen in den Höllbach gelangt. Wir hätten nur noch herausfinden müssen, wie das Zeug in den Stollen gekommen ist. Dann hätten wir ganz bestimmt eine superheiße Spur gehabt, die uns wahrscheinlich direkt zu den Gaunern geführt hätte." „Aber wir konnten doch nicht tiefer in den Berg - ohne Luigi!" jammerte Schräubchen. „Ehrlich, ich habe eine richtige Wut auf ihn, weil er heute nicht gekommen ist." „Selbst wenn er am Bahnhof gewesen wäre, hätten wir heute nicht mehr mit ihm zum Steinbruch fahren können", verteidigte Tommi den Studenten. „Das stimmt", gab ihm Milli recht. „Aber wir könnten gleich morgen früh mit unseren Nachforschungen weitermachen, wenn Luigi da wäre." „Wird er aber nicht", sagte Walther düster. „Heute nacht kommt kein Zug mehr, das steht fest. Und deshalb sollten wir uns jetzt ernsthaft überlegen, ob wir nicht doch lieber die Polizei über den unterirdischen Gang informieren sollten ..." Ehe TH jedoch eine Antwort bekam, erklang von der Tür her eine freundliche Frauenstimme: „Na, noch immer nicht müde? Eigentlich solltet ihr doch schon längst in den Federn liegen!" Es war Frau Carotti. Und die vier von der PizzaBande kannten sie gut genug, um ihr jetzt nicht lange zu widersprechen. Schließlich war es schon halb zehn, und 80
Tommis Eltern hatten sich, was das Zubettgehen anging, ohnehin schon ziemlich großzügig gezeigt. „Wir sind schon fort", murmelte Schräubchen, raffte ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg nach oben. Ihre drei Freunde folgten ihr. Frau Carotti begleitete sie bis in den ersten Stock der Pizzeria. „Ihr wißt ja sowieso Bescheid", sagte sie oben. „Walther schläft in Tommis Zimmer auf der Liege, ihr beiden Mädchen nehmt das Gästezimmer daneben. Eigentlich hatte ich es ja für Luigi vorbereitet, aber der braucht es heute nacht bestimmt nicht mehr." „Und wenn er doch noch kommen sollte?" fragte Müh, obwohl sie wirklich nicht daran glauben konnte. „Dann kriegt er eine Luftmatratze und kann auch noch bei Tommi und Walther unterkriechen", erwiderte Frau Carotti. „Ich bin aber sicher, das wird nicht nötig sein. Luigi taucht diese Nacht bestimmt nicht mehr auf. - So, und jetzt schlaft gut!" Die vier Freunde liefen ins Bad, trödelten dort noch ein bißchen herum und suchten dann ihre Zimmer auf. Milli und Schräubchen schliefen sofort ein. Schließlich hatten sie einen langen und anstrengenden Tag hinter sich. Walther und Tommi unterhielten sich noch eine Weile über den unterirdischen Gang und das zweite Fischsterben. Dann begann auch Tommi mächtig zu gähnen, drehte sich um und gab keinen Laut mehr von sich. TH dagegen, der von den Ereignissen des Tages noch immer ziemlich aufgekratzt war, lag noch längere Zeit wach und starrte auf das schattenhafte Rechteck 81
des Fensters, das auf die Hauptstraße von Sommerberg hinunterging. Walther hörte die Kirchturmglocken zehn, dann elf Uhr schlagen. Jedes Mal vorher wollte der Schlaf kommen, aber dann schreckte er wieder hoch. Er erinnerte sich daran, daß sein Vater einmal gesagt hatte, eigentlich seien diese Turmglocken eine üble Ruhestörung. Jetzt begriff TH, was sein Vater damals gemeint hatte. Kaum hatte es elfmal gebimmelt, lag er wieder hellwach da. Und dann hörte er unten plötzlich einen schweren Wagen vorfahren. Es mußte ein Mercedes sein, dem rauhen Dieselhämmern des Motors nach zu schließen. Ein Taxi, schoß es Walther durch den Kopf - und dann brach das Dieselhämmern direkt vor der Pizzeria schlagartig ab. TH wußte selbst nicht genau, warum er sich auf seiner Liege aufrichtete. Aber er tat es, und als er dann hörte, wie die Wagentür geöffnet wurde, stand er auf und lief ans Fenster. Unten stand tatsächlich ein Mercedes-Taxi, und soeben kam ein junger dunkelhaariger Mann, der eine schwere Reisetasche trug, zum Eingang der Pizzeria. Er hatte die Tür noch nicht ganz erreicht, da ging sie auf und Frau Carotti kam ins Freie gelaufen. Zwei Schritte hinter ihr tauchte Herr Carotti auf. Dann schlug ein aufgeregter italienischer Wortschwall zum Fenster hoch. Frau Carotti umarmte den schlanken jungen Mann - und zwischendurch hörte Walther mehrmals den Namen Luigi... 82
TH lief zu Tommis Bett und rüttelte den Freund wach. Ungläubig hörte sich Tommi an, was TH ihm hastig zuflüsterte. Eine Minute später platzten die beiden Jungen in das Zimmer der Mädchen - und gleich darauf stürmten sie alle vier nach unten, mitten in die Gaststube der Pizzeria, in der noch immer eine Menge Leute saßen. Schlagartig verstummten die Gespräche. Frau Carotti schrie erschrocken auf. Ihr Mann stand mit offenem Mund da. Die Gäste begannen zu lachen. Doch die vier von der Pizza-Bande kümmerten sich nicht darum. Sie hatten Luigi bereits umringt. Tommi boxte den Cousin übermütig in den Bauch und rief: „Mensch, wo hast du denn bloß so lange gesteckt?" „Langsam! Wir sind doch hier nicht allein!" brachte Luigi endlich heraus. Dabei wanderten seine freundlichen braunen Augen von einem Mitglied der PizzaBande zum anderen. „Raus mit euch!" mischte sich Frau Carotti ein. „Mit euren Schlafanzügen im Gastraum!" Und dann zeigte sie sich so resolut, wie die vier Freunde sie noch nie zuvor erlebt hatten. Sie breitete nämlich die Arme weit aus und schob die Kinder und Luigi einfach ins Nebenzimmer. Dann knallte sie die Tür hinter sich zu, und das Gelächter der Gäste draußen klang ein wenig gedämpfter. Ehe sie aber eine neue Schimpfkanonade vom Stapel lassen konnte, kam Tommi ihr zuvor. „Entschuldige, Mama, daß wir so einfach ins Restaurant geplatzt sind!" 83
rief er. „Aber TH hatte mitgekriegt, daß Luigi doch noch gekommen war. Da mußten wir einfach die Mädchen wecken und runterlaufen." Er wandte sich wieder an den Studenten: „Was ist denn nun eigentlich passiert? Warum bist du nicht mit dem Zug gekommen?" „Weil in Italien wieder mal die Eisenbahner gestreikt haben", erklärte Luigi. „Da blieb mir nichts anderes übrig, als per Anhalter zu fahren. Na ja, als ich dann endlich in München war, da war der letzte Zug nach Sommerberg schon längst weg. Also hab ich noch einmal den Daumen rausgestreckt und bin weitergetrampt, bis mich dann ein paar Kilometer vor Sommerberg der Taxifahrer mitnahm. Und nun bin ich hier, wenn auch ein bißchen verspätet ..." „Sie sind von Italien bis Bayern per Anhalter gefahren - also, das finde ich echt toll!" unterbrach ihn Milli. Luigi lachte die Pizza-Bande freundlich an. „Ihr könnt mich ruhig duzen", sagte er. „Ihr seid doch Tommis Freunde, und so alt bin ich auch wieder nicht." „Prima!" jubelte Tommi. Kaum hatte er die einzelnen Mitglieder der Pizza-Bande vorgestellt, platzte TH heraus: „Wir sind ja so froh, daß du doch noch gekommen bist! Weil wir nämlich dringend deine Hilfe brauchen, Luigi! Stell dir vor, wir haben im al..." TH brach urplötzlich ab. Schräubchen hatte ihm mit aller Kraft auf den Fuß getreten. Schließlich stand noch immer Frau Carotti bei ihnen, und die durfte ja nun 84
wirklich nichts von dem geheimnisvollen Stollen im Steinbruch erfahren. Ohnehin schien sie bereits etwas gewittert zu haben. „Wozu braucht ihr Luigi so dringend?" erkundigte sie sich mißtrauisch. „Ach, einfach so", erwiderte Tommi schnell. „Als Kumpel in den Ferien halt." Dabei zwinkerte er Luigi heimlich zu. Für einen Moment hing alles in der Schwebe. Luigis kluge Augen streiften erneut ein Mitglied der Pizza-Bande nach dem anderen. Schließlich lächelte er und sagte: „Morgen werden wir mal gründlich Pläne für unsere gemeinsamen Ferien schmieden." Offenbar hatte der Student begriffen, daß etwas im Busch war - und wollte gerne mitspielen. „Aber jetzt rasch ins Bett!" setzte er hinzu. „Klar!" rief Tommi, und gleich darauf liefen die vier Freunde wieder nach oben. Ehe sich die Jungen und die Mädchen trennten, sagte Walther noch: „Nachher kommt Luigi sowieso zu uns ins Zimmer. Dann weihen wir ihn ein." „Wenn ihr dann nicht schon längst schlaft", lachte Muli. „Na, dann eben morgen in aller Frühe", meinte Tommi und gähnte laut. 85
Wie vom Erdboden verschluckt „Und dann haben wir eingesehen, daß es für uns allein viel zu gefährlich gewesen wäre, tiefer in den geheimnisvollen Gang einzudringen", erklärte Schräubchen. „Deswegen haben wir doch so auf dich gewartet", fügte Walther hinzu. „Du mußt uns helfen, herauszufinden, was in dem Stollen verborgen ist", sagte Milli. „Ohne dich können wir auch nicht herausbekommen, wer das Fischsterben verursacht hat", schloß Tommi. Zusammen mit Luigi standen die vier von der PizzaBande an diesem Morgen wieder im Steinbruch. Den Carottis hatten sie erklärt, daß sie einen Tagesausflug unternehmen wollten. Dann waren sie alle zum Meierhof geradelt, um dort Moritz und Max abzuholen, ohne die Milli es keinen Tag länger ausgehalten hätte. Da Tommi und TH natürlich schon geschlafen hatten, als Luigi spät in der Nacht in ihr Zimmer kam, und beim Frühstück dann ständig die Carottis in der Nähe gewesen waren, hatten sie den Archäologiestudenten erst auf der Herfahrt in ihr Geheimnis einweihen können. Inzwischen wußte Luigi alles - und jetzt warteten alle gespannt, ob er sie bei ihrem Vorhaben unterstützen würde. Luigi stand mit zusammengekniffenen Augen da, musterte eines nach dem anderen die Gesichter der vier 86
Freunde. Dann blickte er auf die künstlich errichtete Pyramide, die Klippen des Steinbruchs und zuletzt auf die Burgruine, die hoch über ihnen im blauen Sommerhimmel zu hängen schien. „Hm", brummte er schließlich, „da scheint ihr ja wirklich einer interessanten Sache auf der Spur zu sein! Einem Verbrechen, das offensichtlich mit diesem unterirdischen Gang zusammenhängt. Zeigt mir doch einmal genau, wo ihr damals die tote Elster gefunden habt." „Dann können wir also auf dich zählen?" fragte TH atemlos. „Ich denke, ich stecke schon fast so tief in der Sache drin wie ihr selbst", erwiderte Luigi grinsend. „Also, wo hat nun der Vogel gelegen?" „Genau hier." Schräubchen deutete auf den ausgehöhlten Stein. Luigi hockte sich auf die Fersen und sah sich die Gesteinsmulde mit der schillernden Flüssigkeit näher an. Moritz schnüffelte an dem Stein herum. Max versuchte, auf Luigis Oberschenkel zu klettern. Die beiden Tiere waren so zutraulich, als gehörte Luigi bereits zur PizzaBande. Endlich richtete sich der Italiener wieder auf und wischte sich die Hände an seinen Jeans ab. „Ja, ihr habt recht", erklärte er. „In der Mulde sind immer noch Spuren einer giftigen Flüssigkeit zu erkennen." „Und die kam von dort oben", sagte TH und deutete auf den Felsspalt hinter dem Ginsterbusch. „Dahinter beginnt der Gang, und auch dort drinnen haben wir wieder Giftrückstände entdeckt. Aber weiter sind wir 87
leider nicht gekommen." „Na gut, dann wollen wir jetzt mal in den Stollen klettern", erwiderte Luigi. „Taschenlampen haben wir ja dabei. Sobald ich den Gang genauer untersucht habe, kann ich euch wahrscheinlich ein bißchen mehr über ihn erzählen." „Ganz bestimmt", sagte Milli und strahlte ihren neuen Freund an. „Ich kann es kaum mehr erwarten, bis wir oben sind!" „Wir auch nicht", fiel Tommi ein. Schon zog er sich an der Stufenpyramide hoch. Luigi folgte ihm, dann kamen die beiden Mädchen. Zuletzt, als Tommi und Luigi bereits hinter dem Ginsterbusch verschwunden waren, kam Walther. Am Felssockel, neben dem Vogelbad, saßen Moritz und Max und spähten erstaunt nach oben. Diesmal hatte Milli vergessen, den Hund und den Kater anzubinden. Doch vorerst blieben die beiden ganz brav sitzen. Im Stollen herrschte vollkommene Finsternis. Die Lichtkegel der Taschenlampen zauberten gespenstische Schatten auf die sich nach oben verjüngenden Wände. Die vier Freunde machten Luigi Platz, so gut sie konnten. Zentimeter um Zentimeter leuchtete der Student die Gesteinswände ab. Langsam näherte er sich dabei der Stelle, wo der Gang eingestürzt war. Und dann blieb der Strahl seiner Taschenlampe plötzlich an einem seltsamen Zeichen im Stein hängen. Luigi stieß einen überraschten Pfiff aus. „Kommt schnell her! Ich habe was entdeckt!"
„Das sieht aus, als hätte jemand etwas in den Felsen geritzt", sagte Schräubchen verdutzt. „Das ist uns neulich gar nicht aufgefallen." „Na ja, dazu bedarf es schon eines geschulten Auges", tröstete Luigi sie. „Solche Steinmetzzeichen sind nämlich meistens eher unauffällig ..." „Steinmetzzeichen?" unterbrach ihn Tommi. „Was ist das?" „Der Steinmetz, der diesen Gang schuf, hat mit diesen Zeichen sein Werk sozusagen signiert. Schaut euch die Zeichen mal ganz genau an! Vielleicht könnt ihr sie ja lesen..." Die vier von der Pizza-Bande beleuchteten die verschnörkelten Zeichen von allen Seiten. „Es sind Buchstaben", murmelte Milli zuletzt. „Ein A und daneben ein V..." „Richtig", bestätigte Luigi. „Es sind die Initialen des Steinmetzmeisters. Das A könnte für Alfred oder Albert stehen, also für seinen Vornamen. Familiennamen nämlich kannte man in der damaligen Zeit nicht. Statt dessen benannten sich die Menschen oft nach ihrem Herkunftsort. Das V könnte also bedeuten, daß der Erbauer des Ganges aus Verona oder Venedig stammte, denn viele Baumeister des Mittelalters kamen aus Italien. Alfred von Venedig oder Albert von Verona könnte sich unser Freund genannt haben - natürlich kann es auch umgekehrt gewesen sein ..." „Genau kannst du es uns also auch nicht sagen?" fragte Tommi. 89
„Nein. Selbstverständlich kann der Mann auch ganz anders geheißen haben", gab Luigi zu. „Ich wollte euch einfach nur zeigen, daß sich hinter diesen kleinen Zeichen in der Felswand eine ganze Geschichte verbirgt. Das hier ist nicht nur irgendein Gekritzel im Stein. Das hat ein Mensch aus Fleisch und Blut geschaffen - und mit dem unterirdischen Gang hat er eine ungeheuerliche Leistung vollbracht." „Ja, man muß sich mal vorstellen, wie schwierig es gewesen sein muß, den Stollen direkt aus dem Felsen herauszuhauen und die Wände dann auch noch spitz nach oben zulaufen zu lassen", sagte Milli beeindruckt. „Aber welchen Zweck hatte der Gang denn nun eigentlich, Luigi?" „Nachdem er offensichtlich im Mittelalter entstanden ist, handelt es sich bei dem Stollen mit Sicherheit um einen Geheimgang", erklärte Luigi. „Um einen verborgenen Fluchtweg von der Burg herunter." „Du meinst, ein richtiger Geheimgang durch den ganzen Berg?" flüsterte Milli. „Mit einem zweiten Zugang irgendwo auf dem Burggelände?" fragte Tommi. „Ein Ritterversteck, in dem wir vielleicht noch Rüstungen oder Schwerter finden könnten?" murmelte Schräubchen. „Mensch, Luigi, das müssen wir doch auf der Stelle gründlich erforschen!" rief TH. „Schau, dort hinten bei der Einbruchstelle, führt der Gang nach oben. Wir haben das neulich ja schon ausgekundschaftet, haben uns 90
aber alleine nicht weiter vorgewagt. Aber da du jetzt da bist, können wir es wagen." „Ja, gehen wir weiter!" riefen die anderen und konnten es gar nicht mehr erwarten, den geheimnisvollen Gang auf der Stelle bis in den letzten Winkel zu erforschen. Sie brannten regelrecht darauf, zu erfahren, was sich jenseits des zur Hälfte eingestürzten Abschnitts befand. Tatsächlich ging Luigi nun ganz nach hinten. Er bat die vier von der Pizza-Bande, ihm mit allen vorhandenen Taschenlampen zu leuchten. Einmal hörten sie draußen Moritz bellen. Aber sie achteten nicht weiter darauf. Sie hatten nur noch Augen für das, was Luigi tat. Der Student untersuchte die Einsturzstelle Stein für Stein. Mit den Fingerkuppen fuhr er die vermörtelten Fugen nach. Dann wieder zerrte er vorsichtig an irgendeinem Quader. Einmal schob er den ganzen Oberkörper tief in einen Durchschlupf und wand sich dann wie ein Aal, bis er auf dem Rücken lag. Dann zog sich Luigi vorsichtig wieder zurück und setzte seine Untersuchungen diesseits des Hindernisses fort. Die ganze Zeit über redete er kaum ein Wort. Endlich, als die vier Freunde es kaum noch aushaken konnten, setzte er sich auf einen lose daliegenden Stein, wischte sich den Schmutz aus dem Gesicht und erklärte: „Der Gang führt hinter der Einsturzstelle tatsächlich weiter nach oben. Es sieht so aus, als könnte man ihn noch heute benutzen, wenn man das Hindernis am Anfang überwunden hat..." 91
„Fein, dann können wir ja sofort los!" fiel Tommi ins Wort. „Genau! Worauf warten wir noch?" rief Walther. Er versuchte sich an Luigi vorbeizudrängen, um das Abenteuer so schnell wie möglich in Angriff zu nehmen. Doch der Student packte ihn am Ärmel und hielt ihn zurück. „Dageblieben! Ich habe keineswegs gesagt, daß wir fünf den Geheimgang erforschen werden! Ich fürchte, da habt ihr mich gründlich mißverstanden! Ich habe nur gesagt, daß man den Gang möglicherweise noch immer benutzen könnte ..." „Aber warum tun wir's denn dann nicht?" fiel ihm Tommi ins Wort. „Weil es trotz allem gefährlich wäre — und wir auch nicht die nötige Ausrüstung besitzen", erwiderte Luigi. „Kommt her, setzt euch, dann will ich euch das erklären." Nur zögernd und widerwillig gehorchten die vier von der Pizza-Bande. Schließlich kauerten sie aber doch alle um Luigi herum. Und nun sagte der Student: „Der Gang setzt sich dort hinten fort, das ist mal klar. Ich konnte allerdings auch nur eine oberflächliche Untersuchung vornehmen und weiß daher nicht, wie der Zustand des Stollens ist, wenn man weiter in ihn eindringt. Und genau deswegen können wir es auch nicht riskieren. Ein solch alter Gang kann überall einsturzgefährdet sein - nicht nur hier, an der einen Stelle. Man darf also 92
nicht einfach leichtsinnig hineinlaufen. Außerdem wissen wir, daß die Giftbrühe durch den Stollen geleitet wurde. Da haben sich vielleicht irgendwo Dämpfe festgesetzt, die uns ebenfalls sehr gefährlich werden könnten. Außerdem kann es weiter drinnen im Berg steile Wegstellen und möglicherweise sogar tiefe Spalten geben, wo man abstürzen könnte. Deswegen braucht man, wenn man einen solchen Gang untersuchen will, die entsprechende Ausrüstung. Dazu gehören Seile, damit man sich gegenseitig sichern kann. Ebenso Atemschutzmasken und vielleicht sogar tragbare Grubenstempel aus Aluminium, mit denen man den Gang an gefährlichen Stellen abstützen kann. Das alles steht uns aber nicht zur Verfügung, und deswegen können wir auch nicht weiter in den Berg eindringen." Die Enttäuschung stand den vier Freunden im Gesicht geschrieben. Mindestens eine Minute kauerten sie nur stumm da und starrten vor sich hin. Luigi musterte sie mitleidig und konnte ihnen dennoch nicht helfen. Von draußen drangen ein Miauen und dann ein aufgeregtes Kläffen herein. Doch keiner achtete darauf. Plötzlich aber sprang Schräubchen auf und rief: „Was wäre aber, wenn wir die Ausrüstung besorgen könnten, Luigi? Würdest du dann den Geheimgang mit uns erforschen?" „Na ja, das wäre natürlich etwas anderes", erwiderte der Italiener nach kurzem Überlegen. „Wir müßten dann zwar noch immer sehr vorsichtig sein, aber man könnte es dann vielleicht riskieren ..." 93
„So ein Blödsinn! Wie sollten wir denn an die Ausrüstung kommen?" fiel TH ein. „Wir haben zu Hause doch nicht umsonst die Autowerkstätte", verteidigte sich das Mädchen. „Und dort gibt's alles, was wir brauchen. Wir haben jede Menge Abschleppseile und dazu noch Nylonstricke von Lastwagenplanen. Damit könnten wir uns wie Bergsteiger anleinen. Wagenheber und Bretter gibt's in unserer Firma auch genug. Mit denen kann man durchaus auch lockere Felsbrocken abstützen und sichern ..." „Freilich - und die Atemschutzgeräte, von denen Luigi geredet hat, die liegen auch so einfach bei euch rum", unterbrach TH ihren Redeschwall. „Weil vielleicht gerade das Feuerwehrauto von Sommerberg bei euch zur Reparatur ist und wir die Dinger bloß rausholen müssen, was? Also, wirklich, Schräubchen, deinen guten Willen in Ehren, aber jetzt spinnst du!" „Gasmasken haben wir natürlich nicht in der Werkstatt, aber du solltest wissen, daß man sich auch mit nassen Tüchern vor dem Gesicht vor Gasen schützen kann." „Das ist keine schlechte Idee", gab TH zu. Er wandte sich wieder Luigi zu und packte ihn am Arm. „Na, was sagst du jetzt? Können wir nun in den Geheimgang oder nicht?" „Ich weiß nicht", sperrte sich der Student noch immer. „Was Schräubchen anzubieten hat, könnte man höchstens als sehr provisorische Ausrüstung bezeichnen. Außerdem müßten wir all die Sachen heimlich aus 94
der Werkstatt schaffen, denn wenn Schräubchens Eltern oder ihr Bruder von der Sache Wind bekämen, dann würden sie das Unternehmen ganz bestimmt verbieten. - Ganz ehrlich, Kinder, ich halte es für besser, wir gehen nicht auf eigene Faust vor. Vielleicht sollten wir doch lieber die Polizei verständigen ..." Erneut machten die vier Freunde enttäuschte Gesichter. Gerade noch hatten sie gedacht, alle Probleme wären gelöst, und jetzt schien das Geheimnis des unterirdischen Ganges plötzlich wieder in unendlich weite Ferne gerückt. Ja, es schien sogar so, als sei Luigi gar nicht der tolle Kumpel, für den sie ihn gehalten hatten. Daß man mit ihm Pferde stehlen könne, hatte Tommi behauptet - und nun wollte der Student plötzlich den Hecht und den Moll einschalten. Ehe jedoch noch einer von der Pizza-Bande etwas sagen konnte, kam von draußen herein erneut lautes Miauen und Bellen. Und dann tauchte plötzlich der Tigerkater im Stollen auf, setzte mit gesträubtem Fell auf Millis Schoß und dann gleich wieder herunter, flitzte weiter und verschwand wie der Blitz durch die zusammengebrochene Engstelle des Stollens. „Max! Komm sofort zurück!" rief Milli, doch es war vergebens. Statt dessen kläffte es laut vom Ginsterbusch her - und nun schoß auch noch Moritz herein und war ebenfalls gleich darauf im Stollen verschwunden. Luigi und die vier von der Pizza-Bande starrten in die Dunkelheit, die plötzlich etwas Bedrohliches an sich 95
hatte, und dann murmelte Milli fassungslos: „Warum war ich heute bloß so leichtsinnig und habe Max und Moritz nicht angebunden?" Sie sprang auf und rief immer wieder verzweifelt nach ihren beiden Lieblingen. Doch das Miauen und Kläffen entfernte sich immer mehr, bis es schließlich nicht mehr zu hören war. „Wir müssen ihnen nach!" jammerte Milli. „Sie sind in Gefahr! Wir dürfen sie nicht im Stich lassen!" „Nein, das können wir wirklich nicht", stimmte ihr Luigi bei. „Laßt uns noch einmal alle zusammen rufen aber wenn sie dann noch immer nicht reagieren, müssen wir sie suchen!" Zuerst begriffen die vier Freunde gar nicht, was Luigi da gesagt hatte. Dann, als es ihnen bewußt wurde, konnten sie sich trotzdem nicht darüber freuen, daß Luigi seine Bedenken wegen des Stollens nun doch beiseitegeschoben hatte. Denn jetzt ging es nicht mehr um ihre Abenteuerlust, sondern um den Mischlingshund und den Tigerkater, die sich möglicherweise in großer Gefahr befanden. Deswegen riefen nun alle aus Leibeskräften nach Moritz und Max. Doch im hinteren Abschnitt des Geheimganges blieb es beängstigend still. Die beiden Tiere schienen wie vom Erdboden verschluckt. „Es hat keinen Sinn", sagte der Student zuletzt. Dann wandte er sich an Schräubchen: „Glaubst du, wir könnten die Sachen aus eurer Werkstatt holen, ohne daß man uns allzu viele Fragen stellt?" Das Mädchen blickte auf die Armbanduhr. „Wenn 96
wir gleich losradeln, kommen wir gerade während der Mittagspause nach Sommerberg. Dann ist bestimmt niemand in der Werkstatt. Ja, es könnte gehen." „Ich fahre aber nicht mit", warf Milli ein. „Ich lasse Moritz und Max nicht allein, wo immer sie im Moment auch stecken mögen." „Dann leiste ich dir Gesellschaft", erklärte Walther. Gleichzeitig hatte er eine Idee: „Falls man euch doch mit den Seilen, den Brettern und den anderen Sachen erwischt, dann sagt einfach, daß wir irgendwelche Pfadfinderspiele machen wollen. Ein Baumhaus bauen oder so..." „Genau, so werden wir es im Notfall halten", stimmte Schräubchen zu. „Aber jetzt nichts wie los! Damit wir Moritz und Max so schnell wie möglich aus dem Berg holen können!" Als erste kletterte sie die Pyramide hinunter. Luigi und Tommi folgten ihr. Milli und TH blickten ihnen nach. Als die anderen verschwunden waren, kehrten das blonde Mädchen und der schlaksige Junge in den Geheimgang zurück. Erneut begannen sie nach den Tieren zu rufen. Doch hinten, in der tiefen, beklemmenden Dunkelheit, blieb es nach wie vor beängstigend still. 97
Expedition ins Mittelalter „Sie haben es nicht geschafft in Sommerberg! Irgend etwas ist ihnen dazwischengekommen!" klagte Milli. Ihre Stimme klang heiser. Immer wieder hatten sie und Walther nach den Tieren gerufen - stundenlang. Doch der Kater und der Hund hatten kein Lebenszeichen von sich gegeben, und nun schienen auch noch Luigi, Tommi und Schräubchen verschwunden. „Sie hätten doch spätestens um zwei Uhr wieder hier sein müssen", jammerte sie. „Ich wette, in Sommerberg ist auch noch ein Unglück passiert!" „Na ja, ein Unglück vielleicht nicht gerade", erwiderte Walther. „Aber möglicherweise hat sich einer Schräubchens Eltern gegenüber verplappert, so daß unser Geheimnis aufgeflogen ist. Oder Luigi hat nur so getan, als ob er uns helfen wollte, und ist dann doch zur Polizei gegangen. Und jetzt nimmt der Hecht wahrscheinlich gerade ein ewig langes Protokoll auf, ehe er dann herkommt und uns verhaftet." „Das kann er nicht", protestierte Milli. „Wir haben uns ja nicht strafbar gemacht. Aber er könnte uns zurück zu unseren Eltern bringen, und das wäre auch schlimm genug. Vor allem, weil wir dann die Tiere im Stich lassen müßten." In ihrer Verzweiflung lief Milli bis zur Einsturzstelle des Ganges zurück und begann erneut zu rufen. Walther fiel ein - und plötzlich hörten die beiden tatsächlich 98
ein Geräusch. Doch es kam von draußen, von der Steinbruchseite her. Sie liefen zurück zum Stolleneingang und spähten am Ginsterbusch vorbei ins Freie. Das Motorengeräusch eines schweren Wagens wurde hörbar. Und dann sahen Milli und TH auf der Fahrstraße, die am anderen Ufer des Höllbaches entlangführte, den grün-weißen Polizei-Audi heranrasen. Walthers schlimme Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. „Jetzt haben sie uns! Am besten, wir geben gleich auf und klettern runter", murmelte Milli. „Der Hecht und der Moll wissen ja ohnehin, wo wir stecken." Der Audi befand sich jetzt fast auf der Höhe des Steinbruchs. „Komm, TH, es ist aus und vorbei..." Milli schob sich aus dem Stollenschlund und rutschte die Pyramide hinunter. Walther wollte ihr schon folgen, aber dann rief er plötzlich aufgeregt: „Milli, komm zurück! Blinder Alarm! Die Polizisten wollen gar nichts von uns!" Tatsächlich war der Audi vorbeigerast und verschwand jetzt bereits hinter der nächsten Kurve. „Menschenskind! Und ich dachte, die hätten uns gemeint", stöhnte Milli erleichtert. „Dabei sind sie vermutlich bloß auf Streife unterwegs", erwiderte TH. „Da kommen unsere Freunde ja!" unterbrach ihn Milli. „Endlich! Und sie schleppen eine Menge Sachen auf den Rädern mit." TH fuhr hastig herum, und im nächsten Augenblick 99
rutschte er ebenfalls die Pyramide hinunter. Am Rand des Steinbruchs trafen die fünf Freunde sich endlich wieder. „Was ist denn bloß passiert? Warum habt ihr uns stundenlang warten lassen?" platzte Milli sofort heraus. „Wir dachten schon, ihr würdet überhaupt nicht mehr kommen!" „Hat es denn Schwierigkeiten gegeben?" fragte Walther - und schämte sich insgeheim, weil er Luigi offenbar ganz zu Unrecht verdächtigt hatte. „Ach wo, in der Werkstatt ist alles wie geplant abgelaufen", erwiderte Schräubchen. „Wir haben die Sachen genommen, haben sie auf unsere Räder gepackt und sind sofort wieder losgefahren. Aber dann, auf halbem Weg zwischen Sommerberg und dem Steinbruch, hatte Tommi die Panne. Ausgerechnet sein Mountainbike hat den Geist aufgegeben. Einen solchen Platten habt ihr überhaupt noch nie gesehen. Natürlich hinten - und das bei der Zehngangschaltung. Wir haben beinahe zwei Stunden gebraucht, bis wir das Rad abmontiert, den Reifen geflickt und das Ding wieder anmontiert hatten." „Normalerweise hätten wir den verflixten Drahtesel ja liegenlassen", mischte sich Tommi ein. „Wir wußten ja, wie sehr ihr auf uns gewartet habt. Aber wir brauchten das Bike doch, um all die schweren Sachen zu transportieren. Schleppen hätten wir die Wagenheber, Seile und Bretter nämlich nicht können." In diesem Moment hatten Milli und TH ihre ausge100
standenen Ängste völlig vergessen. „Dann habt ihr wirklich alles, was wir brauchen, um Moritz und Max zu retten?" fragte das blonde Mädchen. Sie musterte mit großen Augen die vielen Ausrüstungsgegenstände. „Klar", erwiderte Tommi. „Aber viel Zeit können wir jetzt nicht mehr vergeuden. Laßt uns alle zusammen anpacken, damit die Sachen so schnell wie möglich in den Stollen kommen. Es ist schon vier Uhr vorbei." Milli hörte seine letzten Worte nicht mehr. Sie hatte sich bereits einen Wagenheber geschnappt und schleppte ihn nun zur Pyramide hinüber. Die anderen folgten ihr mit den Rädern und all den anderen Sachen, so schnell sie konnten. Eine Viertelstunde später war alles im Stolleneingang verstaut. Jetzt drängten sich die vier Freunde um Luigi. „Wie machen wir nun weiter?" fragte Milli aufgeregt. „Zuerst nimmt sich jeder eine dieser Plastikflaschen", ordnete der Student an. „Sie sind mit Wasser gefüllt. Klemmt sie am besten unter die Gürtel eurer Jeans. Wenn wir im Geheimgang auf giftige Gase stoßen sollten, macht ihr eure Taschentücher damit naß und preßt sie euch vors Gesicht. Verstanden?" „Klar!" riefen alle gleichzeitig. Milli dachte: Wenn doch bloß auch Moritz und Max so etwas bei sich hätten ... „Von der sonstigen Ausrüstung trägt jeder einen Teil", fuhr Luigi fort. „Zu fünft schaffen wir das schon. Vorher seilen wir uns aber noch an. Ich gehe voran, dann kommt Milli, dann Tommi, dann Schräubchen 101
und zuletzt Walther. Sollte einer von uns abstürzen, müssen ihn die anderen mit dem Seil auffangen. Wir wollen aber hoffen, daß so etwas nicht passiert. - Also, jetzt knüpft die Abschleppseile zusammen und schlingt sie euch fest um die Hüften. Wenn dann jeder noch seine Taschenlampe hat, können wir in Abständen von ungefähr einem Meter losgehen." Sie bildeten eine Kette wie Bergsteiger. Luigi überprüfte noch einmal alles, dann ging er als erster auf die Einbruchstelle des Geheimganges zu. Einer nach dem anderen zwängten sie sich durch das enge Loch, das bisher ein schier unüberwindliches Hindernis für sie dargestellt hatte. Die Lichtkegel der Taschenlampen geisterten über unbekanntes Terrain. Die Schritte der fünf Höhlenforscher schienen plötzlich lauter zu hallen. Hinter der Einsturzstelle stieg der Gang steil an. Manchmal tropfte und rieselte Wasser von den Wänden. Auf dem Boden lagen immer wieder Schutt und herabgestürzte Steintrümmer. An solchen Stellen blieb Luigi regelmäßig stehen und untersuchte sie sorgfältig, ehe er dann das Zeichen zum Weitergehen gab. In regelmäßigen Abständen riefen sie im Chor nach den Tieren. Doch immer kam bloß das Echo ihrer eigenen Stimmen zurück. Von Moritz und Max war nichts zu hören und zu sehen. Jetzt befanden sie sich ungefähr schon fünfzig Meter tief im Berg. Wieder stoppte Luigi seine Seilschaft. Der Geheimgang beschrieb hier einen Bogen und mündete 102
hinter einer vorspringenden Steinnase in einem Felsspalt. Und hier ging es auf einmal sehr steil weiter. „Schaut her! Hier hat man Stufen angebracht", erklärte der Italiener. „Auf diese Weise konnte man die natürliche Kluft im Gestein nutzen und brauchte nicht so viel zu meißeln." „Die Staffeln kommen mir aber ziemlich niedrig vor", warf Walther ein. „Fast so, als hätte der Baumeister gewußt, daß sie einmal von Kindern wie uns benutzt werden würden ..." „Gut beobachtet", lobte ihn Luigi. „Aber natürlich ist der Fluchtgang nicht für Kinder gebaut worden. Sondern die Menschen der damaligen Zeit waren kleiner als wir. - Weiter jetzt! Ich hoffe, die Stufen halten unser Gewicht noch aus." Die Staffeln hielten; die Pizza-Bande und Luigi kletterten ungefähr zehn Meter hinauf. Einmal rutschte Milli ab, doch der Student fing sie sofort mit Hilfe des Seils auf. Oben dann, nachdem die Felsspalte überwunden war, führte der Gang beinahe wieder eben weiter. Er war jetzt auch besser erhalten als weiter unten, so daß die Gruppe nun sehr gut vorankam. Und dann mündete der Gang plötzlich in eine Art Kammer. Luigi blieb stehen und wartete, bis die vier Freunde ihn eingeholt hatten. Sie ließen die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wandern. Der Raum maß etwa vier auf vier Meter, seine Decke war gewölbt. An der gegenüberliegenden Seite führte der Stollen weiter. Das Erstaunlichste aber waren die Steinbänke, die an der ei103
nen Wandseite zu sehen waren. „Wo sind wir denn jetzt bloß gelandet?" murmelte Schräubchen. „Das ist ja ein richtiges kleines Zimmer mitten im Berg!" „Eine Fluchthöhle", erklärte Luigi. „Der Geheimgang diente offenbar nicht nur dazu, die Burg in Notzeiten ungesehen verlassen zu können, sondern die Bewohner konnten sich hier unten auch verstecken, wenn die Festung selbst bereits erobert war. Möglicherweise ließ sich dann von hier aus ein überraschender Gegenangriff unternehmen, denn die Feinde kannten natürlich den Zugang zu diesem unterirdischen Raum nicht." „Und wenn die Eroberer die Fluchthöhle doch entdeckten, konnten die Burgbewohner noch immer durch den unteren Abschnitt des Ganges entkommen", setzte Tonimi hinzu. „So war es doch gedacht, nicht?" „Genau", bestätigte Luigi. „Die Höhle hatte aber wahrscheinlich noch eine weitere Funktion. Möglicherweise diente sie in Kriegszeiten auch als Schatzversteck." „Phantastisch!" entfuhr es Milli. „Wenn wir nicht die Tiere suchen und den Umweltgangstern auf die Spur kommen müßten, könnten wir hier direkt auf Schatzsuche gehen ..." „Ach was, dann würden doch noch Truhen oder so etwas hier stehen", widersprach TH. „Aber die Fluchthöhle ist ratzekahl leer." „Schade", erwiderte Schräubchen. „Aber so wichtig 104
ist das ja nun auch wieder nicht. Immerhin können wir uns vorstellen, daß es hier einmal Schätze gegeben hat." „Man hat die Wertgegenstände in solchen Kammern immer nur vorübergehend gelagert", erklärte Luigi. „Später, wenn wieder Friede herrschte, barg man sie wieder. Aber jetzt wollen wir weiter. Schließlich sind wir in erster Linie wegen Moritz und Max hier. Und natürlich auch wegen der Giftgangster!" Die vier von der Pizza-Bande waren da ganz seiner Meinung. Sie drangen in den Stollen am entgegengesetzten Ende der Fluchthöhle ein. Von hier aus ging es erneut ziemlich steil nach oben weiter. Und dann kamen sie an eine Stelle, an der sie tatsächlich ihre Hilfsmittel einsetzen mußten. Der Gang war hier wieder teilweise eingebrochen; ein wackliges zackiges Felsstück hing gefährlich aus der Wand. Mit Hilfe von Brettern und einem Wagenheber sicherten sie die Stelle, indem sie den Wagenheber quer durch den Stollen und gegen das lockere Steinstück spreizten. Die Bretter wurden links und rechts dazwischengeklemmt. Danach zwängten sie sich alle durch den gefährlichen Durchschlupf und kletterten den nunmehr wieder intakten Gang weiter aufwärts. „Eigentlich geht es besser, als ich angenommen hatte", sagte Luigi, als der Gang nach einer Weile wieder eben wurde. „Nur eine Gefahrenstelle bis jetzt - und giftige Gase haben wir überhaupt nicht bemerkt." „Bloß von Moritz und Max haben wir immer noch keine Spur entdeckt", erwiderte Milli traurig. „Laßt uns 105
wieder mal rufen! Vielleicht können sie uns jetzt endlich hören." Ihre Stimmen hallten durch den Stollen. Verloren sich in der tintenschwarzen Ferne und kamen dann als flatterndes Echo zurück. Immer wieder versuchten sie es, während sie weiter und weiter vordrangen. Manchmal verlief der Stollen eben, dann wieder stieg er ein Stück steil an. Die Minuten vergingen - und dann mischte sich plötzlich ein anderes Geräusch in ihre Rufe. Es war ein klägliches Winseln, das von sehr weit her zu kommen schien. „Moritz! Das ist Moritz!" Millis Stimme überschlug sich fast vor Freude, gleichzeitig rannte sie völlig kopflos in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Doch schon nach wenigen Schritten bremste sie das Seil, an dem sie nach wie vor hing. Milli taumelte gegen Luigi. „Langsam!" tadelte der Student. „Ich verstehe dich ja gut, aber wir dürfen jetzt auf keinen Fall leichtsinnig werden! Wir gehen vorsichtig in der bisherigen Richtung weiter, bis wir auf den Hund und damit vermutlich auch auf den Kater stoßen." Die folgenden Minuten waren für Milli die längsten ihres Lebens. Am liebsten hätte sie Flügel gehabt, um so schnell wie möglich zu ihren Lieblingen zu kommen. Statt dessen mußte sie wie eine Schnecke in die Richtung schleichen, aus der jetzt immer deutlicher ein Bellen - und dann auch ein Miauen zu hören war. Zu allem Überfluß wurde auch der Geheimgang plötzlich so 106
eng, daß die vier Freunde und Luigi sich an manchen Stellen nur noch mit knapper Not durchzwängen konnten. Und dann war der Stollen ganz zu Ende; die Taschenlampen beleuchteten eine bogenförmige Öffnung - und dahinter schien ein dunkler Abgrund zu gähnen. „Bleibt stehen!" ordnete Luigi an. „Ich will mir zuerst einmal einen Überblick verschaffen." Während die vier von der Pizza-Bande ihm mit angehaltenem Atem zuguckten, beugte Luigi sich mit dem ganzen Oberkörper durch das dunkle Loch. Von unten herauf drang ein Kläffen, dann ein klägliches Miauen. „Max! Moritz!" rief Milli. „Bitte, Luigi, sag mir, was mit den beiden los ist!" Das Bellen und Miauen verstärkte sich, aber es dauerte noch eine ganze Weile, ehe der Kopf des Studenten wieder sichtbar wurde. Und dann erklärte Luigi: „Wir haben das Ende des Fluchtganges erreicht. Der Stollen mündet hier in den ehemaligen Burgbrunnen. Man kann von hier aus das Licht sehen, das viel weiter oben, im Burghof, in den Brunnenschacht fällt ..." „Aber was ist mit Max und Moritz?" unterbrach ihn Milli ungeduldig. „Der Hund und der Kater sitzen etwa zweieinhalb Meter unter uns im ehemaligen Brunnenkorb fest", erwiderte Luigi. „Sie müssen bei ihrer wilden Verfolgungsjagd hineingestürzt sein." „Ist ihnen ... etwas passiert?" flüsterte Milli und drängte sich neben den Studenten. 107
„Eigentlich wirken sie noch ganz munter", antwortete Luigi. „Aber mehr weiß ich auch nicht. Auf jeden Fall werde ich jetzt hinunterklettern und sie heraufholen." „Nein, das wirst du nicht!" widersetzte sich Milli. „Das ist meine Sache!" Sie rief in den engen finsteren Schacht hinein: „Moritz! Mäxchen! Wartet bloß noch eine Sekunde, dann bin ich bei euch!" „Das ist doch viel zu gefährlich für dich, Mädchen!" sagte Luigi unwirsch. „So ein Unsinn! Du traust es mir bloß nicht zu, weil ich ein Mädchen bin. Dabei ist es viel vernünftiger, wenn ich in den Brunnen klettere, weil ich nämlich am kleinsten von uns allen bin. Um so leichter könnt ihr anderen mich dann wieder hochziehen. - So, und jetzt gehe ich los, und keiner wird mich daran hindern können!" Da gab Luigi sich geschlagen. Er bestand lediglich darauf, daß Milli noch mit einem zweiten Seil gesichert wurde, dann kroch sie auch schon durch die dunkle Öffnung. Eine Sekunde später war sie verschwunden. Während Luigi ihr leuchtete und dabei auch noch das eine Seil straff hielt, warteten die drei anderen mit angehaltenem Atem ab. Sie alle bewunderten Milli wegen des unglaublichen Mutes, den sie so plötzlich gezeigt hatte. In Wahrheit hatte das Mädchen große Angst, als es nun den entsetzlich engen, von Spinnweben verkleisterten Brunnenkorb erreichte. Weit über ihr war ein 108
kleiner Lichtkreis zu sehen: die Öffnung im Burghof. Doch Milli hatte nur Augen für ihren Hund und den Tigerkater. Moritz hockte hart über einer giftig schillernden Pfütze, die sich zwischen herabgefallenen Steintrümmern gebildet hatte. Ein stechender Geruch drang Milli von dort her in die Nase. Das Gift! dachte sie. Jemand muß es auf der Burg in den Brunnen gegossen haben. Hoffentlich ist Moritz nicht mit dem Zeug in Berührung gekommen. Doch dann sah sie, daß das Fell des Hundes trocken war. Moritz war zwar abgestürzt, hatte sich dann aber offenbar auf den Steintrümmern halten können. Und auch Max schien nichts weiter abgekriegt zu haben. Er saß auf einem Vorsprung über dem Kopf des Hundes und hätte wahrscheinlich sogar aus eigener Kraft wieder aus dem Brunnen klettern können. Doch er hatte seinen wuscheligen Freund vermutlich nicht im Stich lassen wollen. Denn der Hund hätte, im Gegensatz zum Kater, unmöglich wieder zum Stolleneingang emporklimmen können. Jetzt streichelte Milli überglücklich die beiden Tiere, redete ihnen gut zu und hob dann zunächst Max hoch. Luigi beugte sich tief herunter, packte den Tigerkater am Fell und brachte ihn in Sicherheit. „Und jetzt du", sagte Milli zu Moritz. Als sie den Hund auf dem Arm hielt, schniefte er, dann begann er plötzlich ganz erbärmlich zu husten. Die Giftdämpfe haben ihm doch geschadet! durchfuhr 109
es Milli. Er muß so schnell wie möglich raus! Sie brauchte ihre ganze Kraft, um den schweren Hund hochzuhieven. Doch dann konnte Luigi auch ihn durch den Stolleneingang heben. Zuletzt kletterte Milli selbst wieder am Seil empor. Als sie in den Geheimgang kroch, klatschten ihre Freunde begeistert Beifall. Das war ja auch wirklich eine Heldentat gewesen. „Jetzt aber nichts wie heim!" versuchte Luigi das Jubelgeschrei zu übertönen. „Ob ihr es glaubt oder nicht, wir sind schon mehr als zwei Stunden hier drinnen. Bis wir wieder draußen sind, ist es wahrscheinlich schon dunkel." „Ja, gehen wir", stimmte ihm Milli zu. „Die Tiere sind gerettet, und wie das Gift in den Höllbach gekommen ist, wissen wir jetzt auch. Irgend jemand muß es im Burghof in den alten Brunnen geschüttet haben. Dort unten steht ja noch jede Menge davon. Und durch den Brunnen ist es dann weiter in den unterirdischen Gang und von dort in den Steinbruch gelangt." „Das müssen aber dann wirklich riesige Mengen gewesen sein", sagte Tommi erschaudernd. „Wenn die Brühe vom Brunnenkorb bis zur Gangmündung hochsteigen konnte." „Ja, Tausende von Litern wahrscheinlich", erklärte Luigi. „Und ein Teil davon ist in den Stollen gedrungen, während ein anderer Teil in den Brunnengrund eingesickert ist." „Gar nicht auszudenken, wenn sich jemand im Geheimgang befunden hätte, als der riesige Schwall hier 110
durchrauschte", rief Schräubchen entsetzt. „Laßt uns jetzt bloß schnell abhauen! Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl..." Wenig später traten sie mit den beiden Tieren den Rückweg an. Doch ehe sie die Fluchthöhle erreichten, setzte in ihrem Rücken plötzlich ein bedrohliches Rauschen, Brodeln und Gurgeln ein ... Rette sich, wer kann! Im ersten Moment standen alle wie erstarrt da. Dann begriffen sie gleichzeitig, was das unheimliche Geräusch zu bedeuten hatte. „Jemand hat erneut Giftbrühe in den Brunnen eingeleitet!" rief TH entsetzt. „Raus!" befahl Luigi. „Rennt, was ihr könnt!" Schon hastete der Student davon und zerrte die vier Freunde am Seil mit sich. Im Laufen warfen sie die restlichen Bretter und Wagenheber weg, die sie noch bei sich getragen hatten. Nur ihre Lampen behielten sie, und Milli trug zusätzlich Max auf dem Arm, während Moritz hechelnd und hustend zwischen ihr und Luigi dahinrannte. Sie erreichten den teilweise eingebrochenen Gangabschnitt, hinter dem es steil nach unten zur Fluchthöhle ging. Jetzt kamen sie nur noch quälend langsam voran. Gleichzeitig kam ein stinkender Luftzug aus der Fin111
sternis hinter ihnen, hüllte sie ein und umwaberte sie unangenehm. Das Tosen und Gurgeln verstärkte sich. Der Wasserschwall kam näher, schien weiter hinten schon den ganzen Gang auszufüllen ... Milli prallte hart gegen Luigi. Zu allem Überfluß war der Student jetzt auch noch stehengeblieben. Von hinten rutschten und stolperten die anderen gegen das blonde Mädchen. „Das Gift!" schrie Milli. „Es bringt uns um!" Dann sah sie, wie Luigi sich bückte, Moritz packte und ihn hochhob. Gleich darauf hastete der Student wieder weiter. Wo eben noch der Mischlingshund gestanden hatte, rieselte jetzt bereits die Giftbrühe über den felsigen Stollenboden. Dann tauchte der Durchschlupf zur Fluchthöhle vor ihnen auf. Luigi raste hinein, die vier Freunde purzelten förmlich hinter ihm her. „Auf die Steinbänke! Schnell!" schrie der Student. Sie schafften es gerade noch, sich auf die uralten Sockel zu retten, ehe die Giftbrühe die Kammer erreichte und sie im Handumdrehen einen Viertel Meter hoch auffüllte. Höllisch gurgelte und brodelte es zu Füßen der Pizza-Bande und ihres Begleiters. Doch dann strömte die Brühe durch den Ausgang auf der anderen Seite ab, der stinkende Luftzug wurde schwächer, und in der Fluchtkammer versickerte die Flüssigkeit wieder. Die vier Freunde drängten sich um den Studenten. Sie waren mit knapper Not noch einmal davongekommen. Doch der Schock saß ihnen noch mächtig in den 112
Gliedern. Es dauerte eine ganze Weile, ehe die vier Freunde wieder Worte fanden und aufgeregt durcheinander zu reden begannen. Endlich konnte sich Luigi Gehör verschaffen und sagte: „Eine halbe Stunde oder so werden wir noch abwarten müssen, bis der Weg nach draußen wieder einigermaßen begehbar ist. Aber dann nichts wie nach Hause..." „... und zur Polizei", setzte Walther hinzu. „Damit diesen Umweltverbrechern endlich das Handwerk gelegt wird. Denn jetzt wissen wir ja, daß sie oben auf der Burgruine zu finden sind." Eine halbe Stunde später konnten sie dann den Rückweg ungefährdet antreten. Doch trotz allem wurde es noch eine ziemlich üble Rutschpartie, ehe sie zuletzt den Stollenausgang wieder erreichten. Von der Fluchthöhle bis zum Ginsterbusch hatten sie sich auf Anordnung Luigis außerdem ständig ihre angefeuchteten Taschentücher vor die Gesichter gepreßt, denn im Gang hielten sich ja noch immer gefährliche Dämpfe. Den Hund und den Kater freilich hatten sie auf diese Weise leider nicht schützen können. Doch immerhin hatten sie die Köpfe der beiden unter ihre Jacken halten können, so daß auch Moritz und Max den Rückweg einigermaßen gut überstanden hatten. „Also, ich weiß nicht, ob ich je wieder einen unterirdischen Gang betreten werde", keuchte Milli, als sie zuletzt die Pyramide hinunterrutschte. „Na ja, ein spannendes Abenteuer war es letztlich 113
doch", sagte TH. „Darüber können wir uns später unterhalten, wenn wir gemütlich im Trockenen sitzen", schnaufte Schräubchen. „Genau, jetzt müssen wir so schnell wie möglich zurück nach Sommerberg", stimmte ihr Tomini zu. „Es ist ja tatsächlich schon dunkel, und wir haben noch eine Menge zu erledigen. Zuerst muß der Tierarzt Moritz und Max versorgen - und dann müssen wir uns die Giftgangster schnappen!" „Dann palaver nicht so lange, sondern schwing dich endlich auf dein Rad", rief TH. Und schon hatte er sich das seine gegriffen und schoß in Richtung Stadt davon. Die anderen folgten ihm, so schnell sie konnten. Hinter ihnen blieb der Steinbruch zurück - und auch die schillernde Giftspur, die sich von der Stollenmündung bis hinunter zum Höllbach zog. Luigi und die vier von der Pizza-Bande hatten zwar auch das dritte Fischsterben nicht mehr verhindern können, doch immerhin waren sie sich sicher, daß es nun zu keinem weiteren mehr kommen würde ... Eine Stunde später drängten sich die Menschen im Hinterzimmer der Pizzeria Mamma Gina, Die vier Freunde und Luigi hatten zunächst den Carottis alles erzählt. Die hatten dann den Tierarzt und auch die Eltern von Schräubchen, Milli und Walther herbeitelefoniert. Und natürlich auch Inspektor Hecht und Wachtmeister Moll von der Sommerberger Polizei. Inzwischen waren Moritz und Max versorgt und schienen 114
sich bereits wieder zu erholen. Auch hatten die Erwachsenen allmählich begriffen, daß ihre anfänglichen Vorwürfe gegenüber den vier Freunden und Luigi zumindest im Augenblick unangebracht waren. Deswegen konnten die vier von der Pizza-Bande nun auch den beiden Polizisten in Ruhe alles erklären, was die wissen mußten. „Wenn Sie sofort eine Razzia auf der Burgruine durchführen, dann haben Sie die Verbrecher", schloß Walther. „Es müssen die unfreundlichen CaravanHändler sein, da sind wir uns ganz sicher." „Klar, wir hätten schon gleich zu Anfang wissen müssen, daß die nicht lupenrein sind", bestätigte Schräubchen. „Nur weil sie was zu verbergen hatten, haben sie uns damals so rücksichtslos von ihrem Gelände verjagt." „Wir hoffen natürlich, daß wir dabeisein dürfen, wenn Sie die Gangster verhaften", sagte Tommi. Milli schwieg, guckte aber Inspektor Hecht mit solch flehenden Blicken an, daß der nur noch nicken konnte. „Und Sie kommen natürlich auch mit", sagte er dann zu Luigi. Wenig später fuhren zwei grün-weiße Polizeiautos den Burgberg hinauf. Im ersten saßen Inspektor Hecht, Luigi, Milli und zwei Polizisten. Im zweiten Audi, der von Wachtmeister Moll gesteuert wurde, fuhren Schräubchen, TH und Tommi mit, außerdem der fünfte Beamte der Sommerberger Polizeiinspektion. Hecht hatte seine ganze Mannschaft aufgeboten, um sich die 115
Umweltverbrecher ja nicht mehr durch die Lappen gehen zu lassen. Die Razzia wurde dann auch ein voller Erfolg. Zunächst verhafteten die Beamten den Kerl mit dem ungepflegten Bart sowie dessen blonden Kumpan mit den stechenden Augen. Auch nahmen sie zwei andere Männer fest, die sich bei den Besitzern des angeblichen Caravan-Platzes aufgehalten hatten. Die beiden schienen in einem riesigen Wohnmobil mit Münchner Kennzeichen gekommen zu sein, das die Pizza-Bande bei ihrem ersten Besuch auf dem Ruinengelände nicht gesehen hatte. In diesem Wohnmobil machten die Polizisten dann eine sehr wichtige Entdeckung. Es war nämlich angefüllt mit leeren Fässern, die genauso rochen wie die Giftbrühe, die durch den unterirdischen Gang geflossen war. Weitere Fässer stöberten die Beamten im Nebengebäude des alten Bauernhofes und sogar neben dem Brunnen selbst auf. Zuletzt machte Inspektor Hecht in der Ruine noch einen Fund, der erklärte, warum der Hauptschwall des Giftes so mächtig gewesen war, daß er den ganzen Stollen überschwemmt hatte. Ein riesiger Öltank stand da und daneben ein kleiner fahrbarer Kran, mit dessen Hilfe mehrere tausend Liter Giftflüssigkeit auf einmal in den Brunnen gekippt worden waren. Die anderen, kleineren Behälter hatten die Verbrecher dann offenbar erst später ausgegossen, nachdem Luigi und die Pizza-Bande bereits in Sicherheit gewesen waren. 116
Angesichts der zahlreichen Beweise konnten die Umweltgangster jetzt auch nicht mehr leugnen. Mit verkniffenen Gesichtern gaben sie zu, daß die CaravanAusstellung auf dem Ruinengelände lediglich der Tarnung gedient hatte. In den scheinbar so harmlosen Fahrzeugen hatten sie selbst oder ihre Helfershelfer immer wieder Giftfässer aus München und anderen Großstädten herangebracht. Wenn sich dann außer ihnen niemand auf dem Areal der Ruine befunden hatte, hatten sie die Säuren und Laugen in den alten Brunnen gekippt. Und von ihren Auftraggebern waren sie sehr gut dafür bezahlt worden. Doch jetzt waren die Verbrecher dank des Einsatzes der Pizza-Bande gefaßt worden, und auch ihre Hintermänner würden mit Sicherheit bald vor Gericht stehen. Milli, Tommi, Schräubchen, Walther und natürlich auch Luigi sahen zu, wie den Gangstern Handschellen angelegt wurden. Dann brachte man sie in den großen Caravan, der als Hauptbeweisstück gleich mitgenommen werden sollte. Zwei Polizisten bewachten die Verbrecher. Die vier Freunde und Luigi fuhren in den Polizeiautos zur Stadt zurück. Erst jetzt merkten sie, wie müde und erschöpft sie waren, nach all den Strapazen, die sie durchgemacht hatten. 117
Die Helden des Tages Der Landrat schien sich im kleinen Hinterzimmer der Pizzeria Mamma Gina ein bißchen fehl am Platz zu fühlen. Immerhin bemühte er sich, es nicht zu zeigen. „Ich darf euch also im Namen der Regierung von Oberbayern die Belohnung für eure gute Tat überreichen", sagte er jetzt. „Dreitausend Mark gehören euch, weil es ohne euren mutigen Einsatz bestimmt nicht so schnell gelungen wäre, die Umweltverbrecher ausfindig zu machen." Er zog den Umschlag aus seinem Jackett. Inspektor Hecht und Wachtmeister Moll, die von der Pizza-Bande als Ehrengäste eingeladen worden waren, begannen zu klatschen. Die Eltern von Milli, Schräubchen, Tommi und Walther fielen ein. Luigi hatte je einen Arm um die Schultern der beiden Mädchen gelegt und strahlte über das ganze Gesicht. Moritz bellte, Max stellte seinen prächtigen Schweif auf, dann strich er schnurrend am Hosenbein des Landrats vorbei. Gleichzeitig flammte das Blitzlicht des Zeitungsreporters Lampelsdorfer auf. Der Landrat und der Tigerkater würden sich prächtig zusammen auf dem Foto machen. Der Umschlag mit den dreitausend Mark dagegen hing allmählich ein wenig kläglich in der Luft. Der Landrat hatte nicht bedacht, daß die Pizza-Bande ja vier gleichberechtigte Mitglieder zählte - und nun wollte sich natürlich keiner der Freunde vordrängen. Doch 118
dann bemerkte Milli die Unschlüssigkeit des Beamten, zwinkerte den anderen zu und deutete mit den Augen auf Luigi. „Luigi war bei diesem Abenteuer das fünfte Mitglied der Pizza-Bande, und deswegen soll er jetzt auch stellvertretend für uns alle das Geld entgegennehmen", rief Walther. Er tat es nicht ganz ohne Hintergedanken. Die Freunde hatten nämlich schon tagelang mit heißen Köpfen beratschlagt, wie sie das viele Geld am besten anlegen konnten. Der Landrat brachte seinen Umschlag nun endlich an. Er drückte Luigi die Hand, dann Milli, Schräubchen, Tommi und TH. Noch einige Male flammte das Lampelsdorfersche Blitzlicht auf. Luigi verwahrte das Geld sorgfältig in der Gesäßtasche seiner Jeans. Einen Anzug hatte er leider nicht aus Italien mitgebracht. Die anderen klatschten trotzdem weiter. „Und nun gibt's zur Feier des Tages für alle Pizza", verkündete Frau Carotti, als sich der Lärm etwas gelegt hatte. „Sie bleiben doch auch noch, Herr Landrat, nicht wahr?" „Eigentlich gerne - aber leider, meine vielen Verpflichtungen ...", murmelte der. Wenig später verabschiedete er sich. Das bedeutete, daß die Feier in der Pizzeria jetzt um so zwangloser und zünftiger steigen konnte. Die Kinder jubelten, als Frau Carotti einen ganzen Berg Pizzas hereintrug. Herr Carotti schenkte an die Erwachsenen großzügig Wein und Grappa aus. Selbst 119
Inspektor Hecht und Wachtmeister Moll bedienten sich, obwohl sie ja eigentlich im Dienst waren. Die Kinder bekamen Cola und Limo, soviel sie nur wollten. Eine Menge Pizzabrocken fielen für Moritz und Max ab, die unter den Tischen vom einen zum anderen sprangen. Zwischendurch zeigte Herr Carotti immer wieder die regionalen und überregionalen Zeitungen vor, in denen über die neueste Heldentat der Pizza-Bande berichtet worden war. Sogar das Fernsehen hatte vorgestern die Verhaftung der Umweltgangster erwähnt. Inzwischen saßen tatsächlich auch die Hintermänner in Untersuchungshaft und warteten auf ihren Prozeß. Die vier von der Pizza-Bande waren unbestritten die Helden des Tages. Trotzdem gab es noch immer ein Problem für sie. Und nachdem Tommi seine dritte Pizzaschnitte verdrückt hatte, klopfte er mit dem Messerrücken gegen sein Colaglas und sprach es aus: „Jetzt haben "wir beinahe schon zwei Wochen Ferien, aber wir wissen immer noch nicht, ob wir unsere Radtour an der Donau machen dürfen." Er schaute die schmausenden Eltern der Reihe nach bittend an. „Vielleicht könnte diese Frage ja heute, sozusagen zur Feier des Tages, entschieden werden. Wir meinen nämlich, die fünf Mitglieder der Pizza-Bande hätten sich auch von euch eine kleine Belohnung verdient..." „Fünf Mitglieder? Ich dachte immer, ihr wärt bloß vier", erwiderte mit einem Augenzwinkern Schräubchens Vater, Herr Wagner. 120
„Na ja, Walther hat doch schon vorhin klargestellt, daß in diesem besonderen Fall auch Luigi mitgezählt werden muß", erwiderte Milli. „Und der ist sogar ein ganz besonderes Mitglied ..." „Weil er nämlich die Ferienfahrt zusammen mit uns unternehmen soll", rief Schräubchen. „Deswegen hat er ja auch die Belohnung stellvertretend für uns alle entgegengenommen. Falls wir nämlich ein Wohnmobil mieten dürften, in dem wir schlafen und auch unsere Räder transportieren könnten, dann brauchen wir natürlich einen tüchtigen Fahrer. Mit Luigi an unserer Seite, der außerdem unser Finanzverwalter und Aufpasser wäre, könnte uns eigentlich nichts passieren." Die Eltern brauchten eine Weile, bis sie begriffen, aber dann sagte Frau Obermaier lachend: „Wie es scheint, habt ihr ja alles schon gründlich geplant! Und daß Luigi wirklich auf euch aufpassen kann, hat er auch längst bewiesen. Also, ich denke, dann sollten wir Erwachsenen mal nicht so sein ..." „Stolpert aber bloß nicht wieder gleich in ein neues Abenteuer!" rief Frau Carotti. „Und klaut mir nicht wieder alle Wagenheber aus der Werkstatt für euer Wohnmobil!" lachte Herr Wagner. Was den anderen Erwachsenen noch auf der Zunge lag, ging in dem lauten Jubelgeschrei der vier Freunde unter. Abwechselnd fielen sie ihren Eltern und Luigi um den Hals und führten dabei einen Freudentanz auf, der selbst den von Moritz und Max überbot. Endlich war 121
ihre Ferientour genehmigt - und sie konnten sich vor Freude darüber kaum fassen. Eine Woche später stoppte das prächtige Wohnmobil mit knirschenden Reifen auf dem Parkplatz beim Kloster Weltenburg an der Donau. Noch ehe Luigi die Handbremse festgeratscht hatte, sprangen Milli, Schräubchen, Tommi und TH schon aus dem Fahrzeug. Ihnen voran stürmten der Tigerkater und der Mischlingshund. Luigi folgte seinen Freunden zum Kieselstrand hinunter und begann mit ihnen im flachen Wasser zu toben. Sie spritzten sich alle von Kopf bis Fuß naß, während hinter ihnen die gewaltige und etwas bedrohliche Kulisse des mittelalterlichen Gebäudes aufragte. Auf der anderen Seite stiegen steil und unglaublich malerisch die Kalksteinfelsen des Donaudurchbruchs in den blauen Himmel. Ein Floß trieb vorbei; singende Ausflügler hockten um ein riesiges Bierfaß herum. Und natürlich brachte das schaukelnde Wasserfahrzeug Walther auf eine lustige Idee. Er stellte sich hin wie ein Schauspieler und begann zu deklamieren: „Und dann gerieten die Nibelungen mit ihren Schiffen in die fürchterlichen Stromschnellen. Genau hier war das. Weltenburg heißt die Stadt an der Donau, und noch heute knallt dort immer wieder mal ein Ausflugsdampfer gegen die Felsen ..." „Allerdings haben die Nibelungen niemals die be122
rühmte Pizzeria von Weltenburg erreicht", unterbrach Milli ihn prustend. „Statt dessen rannten sie bereits in der Nähe von Ingolstadt in einen Hinterhalt der Umweltverschmutzer und mußten schleunigst zurück nach Ungarn fliehen", gackerte Tommi. „Doch leider kamen sie niemals dort an, weil der grimme Hagen ihnen die Augen mit Pizzapampe zugekleistert hatte", johlte Schräubchen. „Und ihren Schatz verloren sie auch - bis auf dreitausend Mark, aber den riß sich zuletzt die Pizza-Bande unter den Nagel." „Und die lebe hoch!" rief Luigi, wobei er sich vor Lachen bog. Die vier von der Pizza-Bande fielen ein und freuten sich auf die langen, unbeschwerten Ferienwochen, die nun vor ihnen lagen.
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Böckl, Manfred: Im Höllbach ist die Hölle los oder das Geheimnis der Burgruine / von Manfred Böckl. - München : F. Schneider, 1992 (Pizza-Bande; 23) ISBN 3-505-04652-3 NE:GT
Dieses Buch wurde auf chlorfreies, umweltfreundlich hergestelltes Papier gedruckt. © 1992 by Franz Schneider Verlag GmbH Schleißheimer Straße 267, 80809 München Alle Rechte vorbehalten Titelbild: Gisela Könemund Umschlaggestaltung: Claudia Böhmer Lektorat: Helga Jokl Redaktion: Renate Nave Herstellung: Brigitte Matschl Satz: GSK, München, 11' Garamond Druck: Presse-Druck Augsburg Bindung: Conzella Urban Meister, München-Dornach ISBN: 3-505-04652-3