Mac Kinsey Band 5
Bryan Danger
Im Banne des schwarzen Mönchs
Seine Zeit war gekommen. Heute. Jetzt. Der Stein der M...
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Mac Kinsey Band 5
Bryan Danger
Im Banne des schwarzen Mönchs
Seine Zeit war gekommen. Heute. Jetzt. Der Stein der Macht war in seine Reichweite gelangt. Er brauchte nur noch zuzugreifen. Lange hatte er auf diesen Augenblick gelauert – voller Ungeduld und Gier und Haß. Nun sollten die Menschen büßen. In einem Meer von Blut wollte er sie ertränken. Dazu schuf er den Zirkel der Suchenden. *** Von St. Marks hallten dumpfe Schläge herüber. Renata de Angelis zählte bis zwölf. Unwillkürlich lief ein Frösteln über ihre bloßen Schultern. Wie kalt es in diesem schrecklichen London war. Um Mitternacht ganz besonders. Sie wünschte, sie wäre schon wieder in Florenz. Die Fürstin starrte aus dem Fenster in die Nacht. Sie wußte kaum, wo sie sich befand. Irgendwo im westlichen Teil der Stadt. Unten im strahlend erleuchteten Saal warteten ein paar hundert Menschen auf sie. Das Mitternachtsdiner wurde ihr zu Ehren gegeben. Sie durfte die Gäste nicht länger warten lassen. Sie wandte sich ab und ließ die schweren Vorhänge zurückschwingen. Ihr war, als hätte der Flügel des Todesvogels sie berührt. Wieder schauderte sie. Warum wurde sie die quälenden Gedanken nicht los? Sekundenlang schloß sie die Augen. Atmete nicht jemand neben ihr? Streifte nicht eisiger Hauch ihren Hals? Hastig riß sie die Augen wieder auf und bewegte sich ein
paar Schritte nach vorn. Vor dem Kristallspiegel mit dem kunstvoll verzierten Holzrahmen verharrte sie. Augenblicklich fühlte sie sich besser. Die Furcht vor etwas Unbekanntem verblaßte. Sie sah ihr eigenes Gesicht, und über diesen Anblick konnte sie sich nur freuen. Renata de Angelis wußte, daß sie noch immer eine verführerische Erscheinung war. Trotz der Jahre, die sie sogar sich selbst nur ungern eingestand. Die männlichen Gäste hatten unwillkürlich bei ihrem Erscheinen den Atem angehalten, und die Frauen mußten sich beeilen, um das neidvolle Grün ihrer Gesichtsfarbe mit Make-up zu überdecken. Sie wurde bewundert und beneidet. Trotzdem bereute sie es, diese Reise unternommen zu haben. Sie fühlte sich bedroht, wenn sie auch diese Furcht nicht näher erklären konnte. Auf ihrer Brust ruhte ein funkelnder, schwarzer Stein, der die Form eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen besaß. Er stellte einen ungeheuren Wert dar und hatte beim Empfang für beträchtliches Aufsehen gesorgt. Sie war stolz auf den Besitz des Schmuckstücks, und doch war ihr, als würde er ihre Haut verbrennen. Er wurde unerträglich, als wollte die dünne goldene Kette, an der er hing, sie würgen. Renata de Angelis fuhr mit den Händen zum Hals. Angst stieg in ihr auf. Kalte, nackte Todesangst. Sie riß sich von ihrem Spiegelbild los. Es war besser, jetzt nicht allein zu sein. Die Unpäßlichkeit, mit der sie sich für kurze Zeit entschuldigt hatte, war zwar eher noch größer geworden, doch sie mußte an ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen denken. Außerdem konnte sie das Alleinsein nicht länger ertragen. Sie glaubte, schreien zu müssen. Die Fürstin eilte zur Tür. Von unten klang heiteres Gelächter. Gläser klirrten gegeneinander. Die Stimmung war ausgezeichnet.
Mit entschlossenem Ruck öffnete sie die Tür. Sie durfte sich nicht so gehenlassen. Mit einem Aufschrei prallte sie zurück. Vor ihr stand ein schwarzer Mönch, der sie mit haßerfüllten Augen anstarrte. Er war in eine bodenlange Kutte mit Kapuze gehüllt und streckte die Arme vor. Sein Gesicht wirkte in dem schwarzen Tuch kalkweiß. Renata de Angelis fühlte, wie die Farbe auch aus ihrem Gesicht wich. War das der Tod? Kam er, sie zu holen? Am Ende des Ganges entdeckte die Fürstin zwei Bedienstete. Sie blickten in ihre Richtung, rührten sich aber nicht von der Stelle. »Zu Hilfe!« rief sie kläglich. Sie mußte sich am Türrahmen festhalten, um nicht zu stürzen. Auf die Idee, die Tür hinter sich zuzuwerfen und im Zimmer Zuflucht zu suchen, kam sie nicht. Die Angestellten schauten sie fragend an. Dann setzten sie sich in Bewegung. Ohne große Eile. Ihre Gesichter waren große Fragezeichen. Der unheimliche Mönch berührte ihren Hals. Er besaß ekelhaft kalte Hände. Der Kontakt ließ ihr Blut erstarren. Sie rang nach Luft. In ihrem Kopf dröhnte es. Das war nicht mehr die Musik, die unten im Saal zur Unterhaltung spielte. Es handelte sich um gräßliche, disharmonische Töne, die Schmerzen bereiteten. »N-nein!« jammerte sie. »Ich will nicht. Laß mich los!« Sie sah, daß die Bediensteten ihr Tempo erhöhten. »Der Fürstin ist nicht gut«, hörte sie einen sagen. »Rasch! Hol einen Brandy!« Diese Tölpel! Begriffen sie nicht, was hier gespielt wurde? Dieser schreckliche schwarze Mönch wollte ihr Gewalt antun. Seine spinnenlangen Finger umspannten bereits ihren Hals.
Das war Mord. Er wollte sie töten. »Helft mir!« Ihr Schrei war nur noch ein Japsen. Renata de Angelis glitt zu Boden. Ein scharfer Ruck drohte ihr den Kopf vom Rumpf zu trennen. In den Schmerz mischte sich Erleichterung, als wußte sie, daß sie nun nie wieder Angst zu haben brauchte. Rauschen war über ihr, das in Flügelschlagen überging. Aber auch das währte nicht lange. Als die Diener mit dem Brandy kamen, sahen sie sich betreten an. Einer kippte den Inhalt des geschliffenen Glases selbst hinunter. »Ein Schnaps hilft mir jetzt mehr als ihr«, sagte er mit belegter Stimme. »Die Fürstin ist tot!« * Der Mann starrte mit brennenden Augen zu dem Prachtbau hinüber. Unaufhörlich murmelte er Worte, obwohl ihm niemand zuhörte. Er war allein. Niemand sonst befand sich auf der Waterford Road. In dieser Ecke von London gab es kein Nachtleben. Nur in dem riesigen Haus dort drüben pulsierte das Vergnügen. Der Mann wußte genau, was sich dort abspielte. Schließlich hatten die Zeitungen das Ereignis ausführlich angekündigt und würden auch morgen darüber berichten. Besonders über eine Frau, der zu Ehren das Essen gegeben wurde. Dieser Frau, die ihm gehörte, ihm ganz allein. Sie schien sich nicht mehr daran zu erinnern. Dabei war gerade ihr Gedächtnis eine ihrer größten Stärken. Den Fehler eines anderen vergaß sie nie, auch wenn er schon lange zurücklag. Verdammt! Raimondo Galdos zwängte sich hinter einen Baum, als er
den Wagen kommen hörte. Die Lichtfinger der Scheinwerfer tasteten sich um die Ecke, krochen über das Pflaster, das aufleuchtete. Es regnete leicht. Der Motor begann zu stottern. Der Wagen vollführte ein paar Bocksprünge. Irgend etwas an der Benzinzufuhr schien nicht in Ordnung zu sein. Raimondo Galdos wünschte den Burschen mit seiner Klapperkiste zum Teufel. Er konnte ihn nicht brauchen. Aber der Fahrer hatte ihn schon entdeckt. Er kurbelte das Seitenfenster herunter und beugte sich heraus. »Wären Sie wohl so freundlich, mich ein bißchen anzuschieben?« bat er. Er roch penetrant nach Fusel. Ein Streifenbeamter durfte ihn in diesem Zustand nicht hinterm Steuer erwischen. »Steigen Sie lieber aus und gehen Sie zu Fuß weiter«, riet der Italiener. »Das ist für beide besser. Für Sie und Ihr Vehikel.« »Von wegen Vehikel!« schnaubte der Angetrunkene. »Mein Floppy hat mich noch nie im Stich gelassen. Ich weiß gar nicht, was er hat. Ganz plötzlich fing er zu springen an. Als wenn ihm etwas nicht paßte.« Raimondo Galdos konnte sich schon denken, was den Unwillen des Fahrzeugs erregt hatte. Der unberechenbare Gasfuß eines Betrunkenen mißfiel dem gutmütigstem Gefährt. »Steigen Sie aus!« beharrte er. »Kann mir gar nicht einfallen, Sie anzuschieben. Damit würde ich mich strafbar machen.« Der Autofahrer blitzte ihn wütend an. »Na schön, dann eben nicht! Hoffentlich kommen Sie nie in die Lage, auch mal Hilfe zu brauchen. Auf mich können Sie dann nämlich nicht zählen.« Der Italiener wandte sich ab. Sein Kopf ruckte in die Höhe. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Irgend etwas stimmte nicht. Es lag was in der Luft. Es war direkt greifbar, und es war feindselig.
Es wird wohl an dem besoffenen Narren liegen, dachte er sich. Doch dann zuckte er zusammen. War das nicht ein Schrei gewesen? Nein, der andere hätte es auch hören müssen, aber der hockte in seinem Auto und drehte verdrossen den Zündschlüssel, ohne auch nur die geringste Reaktion des Motors dadurch zu erreichen. Raimondo Galdos blickte sich um. Da war etwas, das er sich nicht erklären konnte. Außer dem Fremden und ihm befand sich keine Menschenseele auf der Straße. Wieso hatte er den Eindruck, beobachtet zu werden? Aus welchem Grund zitterte er am ganzen Körper? Ihm war regelrecht übel. So hatte er sich nur gefühlt, als ihn Renata damals verließ. Wieder ein Schrei. O Gott! Das war Renatas Stimme. Ihr drohte Gefahr. Er mußte zu ihr. Ihr helfen. Er wollte die Straße überqueren, da löste sich etwas Großes, Schwarzes von dem Haus, das er die ganze Zeit beobachtet hatte. Es fiel aus halber Höhe von der Fassade. Anscheinend aus einem der erleuchteten Fenster im ersten Stockwerk. Ein Mensch stürzte in die Tiefe. Renata war es nicht. Sie kleidete sich nie schwarz, und heute zum Festbankett erst recht nicht. Der Stürzende glich einer Fledermaus. Oder einer Krähe mit gewaltigen Flügeln. Ja, er flog. Die Schwingen bewegten sich kaum. Einem Papierdrachen gleich schwebte er lautlos durch die Häuserschlucht direkt auf ihn zu. Raimondo Galdos sah zwei glühende Augen auf sich zukommen. Er erschrak zutiefst und wollte ausweichen. Doch es war zu spät. Der Schreck lähmte ihn. Er bewegte sich erst, als er einen mörderischen Hieb von einer der Schwingen empfing, der ihn zurücktaumeln ließ. Das fliegende Ungeheuer sprühte knisternde Funken. Jetzt
sah er es genau. Es handelte sich um kein Tier. Es war ein Mensch. Das Gesicht war das eines Mannes, und die Flügel waren nichts weiter als seine Arme, um die ein schwarzer Umhang flatterte. Der Kerl sah wie ein Mönch aus. Raimondo Galdos war überzeugt, daß er überschnappte. Der Mann im Auto, der von alledem nichts zu merken schien, brachte ihn zur Raserei. Man mußte dieses Ungeheuer verfolgen! Zu Fuß war es aussichtslos, aber mit dem Wagen konnte man es schaffen. Er raffte sich vom Boden auf, während der unheimliche Mönch ein höhnisches Gelächter ausstieß und knisternd in nördlicher Richtung flog. Dorthin, wo der große Brompton Cemetery lag. Er suchte anscheinend auf dem Friedhof Zuflucht. Raimondo Galdos spürte Schmerzen im ganzen Körper. Besonders auf der Brust machte sich ein gräßliches Stechen bemerkbar. Hier hatte ihn das gespenstische Wesen getroffen. Er taumelte auf den Wagen zu, aber in diesem Moment sprang der Motor gehorsam an, und das Auto schnurrte davon, als hätte es niemals Schwierigkeiten gegeben. Der Italiener rannte noch ein Stück hinterher. Dann sah er ein, daß das sinnlos war. Wütend stampfte er mit dem Fuß auf. Der betrunkene Kerl wurde ihm immer unsympathischer. Sein Glück, daß sie sich bestimmt nie wieder trafen. Verstört kehrte Galdos um. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es waren Dinge geschehen, die ihm unbegreiflich waren. Renata! Das Herz in seiner Brust krampfte sich zusammen und verursachte zusätzliche Schmerzen. Er lief auf das Portal zu, wurde aber von zwei Männern in Livree aufgehalten. Er sprudelte hervor, warum er unbedingt ins Haus müsse, obwohl er nicht zu den illustren geladenen Gästen gehörte. In
der Aufregung bediente er sich. seiner Muttersprache, was nicht dazu beitrug, daß man ihm mehr Verständnis entgegenbrachte. Die beiden Uniformierten standen wie zwei erzene Löwen. Da platzte ihm der Kragen. Renata brauchte seine Hilfe, und diese Narren ließen ihn nicht zu ihr! Seine Faust schoß vor und traf einen von ihnen am Kinn. Die Wirkung war erstaunlich, aber keineswegs so, wie Raimondo Galdos sich das erhofft hatte. Der Wächter war nicht nur hart im Nehmen, sondern noch härter im Austeilen. Die anfängliche Überraschung überwand er in Sekundenschnelle, und dann legte er los. Sein Partner stand nicht untätig herum. Auch er fiel über den Italiener her, der nur mit äußerster Mühe der Mehrzahl der Schläge ausweichen konnte. Galdos war ein geschickter Kämpfer. Und er war sportlich durchtrainiert. Das kam ihm zugute, als er immer wieder im letzten Augenblick abduckte und auswich. Seine eigenen Fäuste trafen aber ebenfalls nur noch selten ihr Ziel. Die beiden stellten sich geschickt auf ihn ein. Er sah ein, daß es sinnlos war, sich mit ihnen zu prügeln. Er mußte an ihnen vorbei, dann konnten sie sich seinetwegen gegenseitig die Schädel einschlagen. Er täuschte einen Angriff vor, sprang aber, als sie gleichzeitig gegen ihn anrannten, zur Seite und wischte an ihnen vorbei. Er konnte es nicht lassen, einem von ihnen noch einen gehörigen Tritt ins verlängerte Rückgrat zu erteilen. Fluchend rannten sie hinter ihm her und schnappten ihn am Fuß der breiten, geschwungenen Treppe, auf der sich viele heftig diskutierende Männer und Frauen eingefunden hatten. Die Damen kreischten hysterisch auf. Die Männer riefen nach der Polizei.
Polizei? Gegen dieses Wort war Raimondo Galdos allergisch. Ihm lag nichts an einer Begegnung mit den Hütern von Gesetz und Ordnung, und in einem fremden Land schon gar nicht. Die Treppe war verstopft. Da kam er nicht hindurch. Also mußte er zurück. Er sah die beiden Türwächter mit wutverzerrten Gesichtern auf ihn zustürmen. Wenn sie ihn in die Hände bekamen, war er geliefert. Sein gehetzter Blick fiel auf ein Tischchen, auf dem ein Tablett stand. Irgend jemand hatte sich am Buffet mit Roastbeef, Kaviar und delikaten Salaten bedient und die Köstlichkeiten hier abgestellt, als das Durcheinander begann. Der Italiener schnappte sich das Tablett und schleuderte es den beiden Angreifern entgegen. Er traf voll. Einer war im Gesicht plötzlich schwarz gesprenkelt, als wäre er in eine Schrotladung gelaufen. Dem anderen lief Mayonnaise über Nase und Augen. Sie sahen ziemlich komisch aus, aber keiner lachte. Raimondo Galdos kümmerte sich nicht weiter um die Burschen. Ein paar beherzte Männer lösten sich von der Treppe und rückten ihm auf den Pelz. Er durfte keine Zeit verlieren. Er sprang zwischen die mit Kaviar und Salat Dekorierten, stieß sie mit voller Kraft zur Seite und bahnte sich so einen Weg zum Ausgang. Diesen erreichte er unangefochten. Er warf sich gegen die Tür, die nach außen pendelte. Die kühle Luft schlug ihm hart entgegen. Aber noch unangenehmer waren die vielen Hände der Polizisten, die nach ihm griffen und ihn in Windeseile überwältigten. Vor dem Gebäude waren Polizeifahrzeuge vorgefahren, und Raimondo Galdos ahnte schon jetzt, daß es ein Fehler gewesen war, sich in diesem Haus unbeliebt zu machen.
* Die folgenden Stunden waren die Hölle. Er wurde pausenlos verhört, ohne anfangs zu wissen, worum es eigentlich ging. Doch das brachte man ihm auf ziemlich rücksichtslose Weise bei. Er erfuhr, daß die italienische Fürstin Renata de Angelis ermordet worden war und daß es lächerlich war, wollte er seine Täterschaft leugnen. »Sie sind überführt, Mann«, sagte Inspektor Gallinger ungeduldig. »Halten Sie uns für hirnlose Idioten? Wir haben doch Augen im Kopf, und zwei und zwei können wir auch noch zusammenzählen.« »Ich weiß«, sagte Galdos bissig. »In Italien erzählt man sich, daß das die Prüfungsaufgabe ist, wenn jemand in Großbritannien die Polizeilaufbahn einschlagen will.« Mit dieser Bemerkung machte er sich nicht beliebter. Die Beamten blickten ihn finster an, und der Inspektor setzte unerbittlich sein Verhör fort. »Sie werden nicht leugnen, daß wir Ihre Flucht verhindert haben. Sonst wären Sie jetzt über alle Berge. Wir wissen inzwischen, daß Sie zu dem Bankett nicht eingeladen waren. Ihre Kleidung bestätigt das. Was also, so frage ich Sie jetzt zum hundertsten Male, hatten Sie hier zu suchen?« Raimondo Galdos öffnete den Mund zu einem Protest, aber der Inspektor ließ ihn erst gar nicht zu Worte kommen. »Ich will es Ihnen sagen«, fuhr er fort. »Sie gingen zur Fürstin und erdrosselten sie.« »Erdrosselt?« Der Italiener wurde bleich. Was für ein grausamer Tod! Und ausgerechnet ihm traute man diese schreckliche Tat zu, wo er sie liebte wie sonst nichts auf der Welt. Geliebt
hatte. Renata war tot. Mit ihr mußte er seine Hoffnung begraben, daß sie eines Tages zu ihm zurückkehren würde. Der Tod hatte sie endgültig getrennt. »Stellen Sie sich nicht unwissend«, fauchte der Beamte. »Für einen Mann Ihrer Stellung ist das unwürdig. Wir wissen über Sie Bescheid. Sie sind in Ihrem Land ein hohes Tier. Zumindest waren Sie es bis vor kurzem. Sie hatten ein Verhältnis mit der Fürstin und sie… »Wie reden Sie über Signora de Angelis?« ereiferte sich der Beschuldigte. »Eine Dame ihres Standes hat kein Verhältnis!« »Wie Sie das in Italien nennen, ist mir egal«, konterte Gallinger und zündete sich eine Zigarette an. »Für das, was Sie dort oben angerichtet haben, haben auch unsere italienischen Kollegen dieselbe Bezeichnung wie wir – Mord!« »Das ist doch verrückt! Warum hätte ich sie töten sollen? Ich habe sie geliebt.« »Ist uns bekannt. Leider stießen Sie in letzter Zeit auf keine Gegenliebe. Die Fürstin hatte einen neuen Favoriten. So etwas frustriert ganz schön. Ihr Südländer seid ja sowieso in dieser Beziehung eigen. Ich erinnere nur an Signor Othello. Das war auch so ein rabiater Typ.« »Zum Teufel!« schrie Galdos. »Ich werde mich bei meiner Botschaft über Sie beschweren.« »Dann lassen Sie sich vor allem einen geschickten Anwalt besorgen. Den werden Sie brauchen. Mit Mördern verfährt man hierzulande nämlich nicht zimperlich. Im übrigen wurde Ihre Botschaft längst über den Fall unterrichtet. Ihre Regierung ist an einer raschen Aufklärung genauso interessiert wie die unsere. Und dafür werde ich sorgen. Verlassen Sie sich drauf!« »Ich bin Überhaupt nicht bis zur Fürstin vorgedrungen«, versicherte der Italiener. »Ich hörte sie schreien und wollte ihr zu Hilfe eilen. Aber diese Narren wollten mich nicht durchlas-
sen.« Der Inspektor lachte böse auf. »Dieses Märchen bieten Sie mir nun schon seit Stunden an. Durch Beharrlichkeit wird es nicht glaubwürdiger. Alle Anwesenden in der Halle haben übereinstimmend ausgesagt, daß Sie über die Treppe aus dem oberen Stockwerk kamen und fliehen wollten.« »Aber das ist gelogen!« »Hören Sie, soll ich Ihnen die Namen unserer Zeugen aufzählen? Da wimmelt es nur so von Juristen, anerkannten Wissenschaftlern, Wirtschaftsmagnaten und natürlich auch Politikern. Jeder einzelne ist über Ihren Verdacht erhaben.« Raimondo Galdos lenkte ein. »Vielleicht sah es zum Schluß so aus, als wollte ich fliehen. Ich suchte aber nur einen Weg nach oben. Hat mich denn im oberen Stockwerk jemand gesehen? Die Fürstin hat geschrien. Man ist doch bestimmt darauf aufmerksam geworden.« Der Inspektor kaute auf seiner Zigarette. Einen Augenzeugen für die Tat selbst gab es leider nicht. Aber das war auch nicht nötig. Die Indizien waren erdrückend, zumal ein bombenstarkes Motiv vorhanden war. Die Befragung zog sich bis zum Morgen hin. Raimondo Galdos war total fertig, und auch der Inspektor wirkte erschöpft. Trotzdem gab er nicht nach. Als es draußen schon hell wurde, brachten Beamte einen neuen Zeugen. Er hatte sich freiwillig gemeldet, nachdem er von dem Mord in der Moore Park Road erfahren hatte. Raimondo Galdos war zuversichtlich, als er den Mann erkannte. Es war der Bursche mit dem defekten Auto. Der würde bestätigen, daß er sich zur Tatzeit nicht in dem fraglichen Gebäude befunden hatte. Der Mann hieß Terry Bogart und schien inzwischen nüchtern zu sein.
»Das ist er«, erklärte er und zeigte auf den Italiener. »Der Halunke kam mir gleich verdächtig vor. Er hatte sich hinter einem Baum versteckt und starrte unentwegt zu den Fenstern hoch. Sein Gesicht gefiel mir nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine, Inspektor.« Raimondo Galdos glaubte, nicht richtig zu hören. Eine Entlastungsaussage stellte er sich anders vor. »Erzählen Sie dem Inspektor, daß wir miteinander sprachen, als die Frau schrie«, forderte er. »Erzählen Sie es ihm. Ich sollte Ihren Wagen anschieben, weil Sie Schwierigkeiten mit ihm hatten.« Terry Bogart legte eine Hand an sein Ohr und beugte sich vor. »Sagen Sie das noch mal. Mit meinem Floppy habe ich nie Schwierigkeiten, und gesprochen haben wir kein Wort miteinander. Wozu auch? Ich fuhr an Ihnen vorbei und dachte mir noch, der Kerl ist nicht astrein, der will etwas verbergen.« »Und die Schreie? Haben Sie die vielleicht auch nicht gehört?« Raimondo Galdos war außer sich vor Erregung. War der Bursche so voll gewesen, daß er sich an ihre kurze Unterhaltung nicht mehr erinnerte? »Was für Schreie?« Bogart tippte sich an die Stirn. »Wenn jemand geschrien hätte, hätte ich das mitgekriegt. Aber es hat keiner geschrien, nicht, solange ich Sie sah. Was danach war, kann ich nicht beurteilen. Aber ich schätze, Sie sind ins Haus geschlichen und haben die Lady umgelegt.« »Du Mistkerl!« schrie Galdos. »Du weißt genau, daß das nicht stimmt. Du bist nur sauer, weil ich deinen Klapperkasten nicht angeschoben habe. Stinkbesoffen bist du gewesen. Deshalb hast du auch nichts gehört. Dieser Lump gehört ins Gefängnis, Inspektor, nicht ich! Der hatte bestimmt zwei Promille und ist trotzdem mit dem Wagen gefahren. Und jetzt will er mir eins auswischen.«
Inspektor Gallinger teilte diese Ansicht nicht. Die Aussage Terry Bogarts paßte haargenau in das Mosaik, das er selbst zusammengestellt hatte. Warum sollte der Mann lügen? Das ergab keinen Sinn. Raimondo Galdos sah seine Felle davonschwimmen. Er sprang auf und stürzte sich auf Bogart, der den Angriff zu spät erkannte. Er schüttelte ihn an den Schultern und schrie ihn unaufhörlich an: »Gib es zu, daß du lügst, du Schwein! Ich bringe dich um, wenn du es nicht eingestehst!« Bogart wurde grün im Gesicht. Zum Glück nahte Rettung in Gestalt dies Inspektors. Der kannte ein paar Griffe, mit denen er den Rasenden schnell zähmte. »Danke für den zusätzlichen Beweis«, schnaubte er. »Jetzt konnte ich mich selbst davon überzeugen, daß Sie zur Gewalttätigkeit neigen.« An den Zeugen gewandt, fuhr er fort: »Ich glaube, ich brauche Sie nicht mehr, Mr. Bogart. Ihre Aussage wurde von meinem Kollegen protokolliert. Sie müssen sie nur noch unterschreiben.« Das tat Terry Bogart mit Wonne. * Raimondo Galdos war am Boden zerstört. Alles sprach gegen ihn. Nun auch noch seine unbeherrschte Reaktion. Aber jeder normal denkende Mensch mußte ihn begreifen, warum er aus der Haut gefahren war. Hatte er es mit normaldenkenden Menschen zu tun? Bis jetzt hatte er über seine unheimliche Beobachtung geschwiegen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Polizei seine Behauptung aufnehmen würde, ein fliegender schwarzer Mönch sei aus einem der Fenster auf ihn herabgestürzt, habe ihn zu Boden geschleudert und sei dann auf schwarzen Schwingen zum
Friedhof gesegelt. Natürlich würde man seinen Geisteszustand in Frage stellen oder aber diese Aussage als unverfrorene Lüge ansehen, die ihn vor der Anklage schützen sollte. Er wußte ja selbst nicht mehr, ob er das tatsächlich erlebt hatte. Alle sagten gegen ihn aus, obwohl sie es besser wissen mußten. Den Grund dafür kannte er nicht. Vielleicht hatten auch sie die gespenstische Erscheinung wahrgenommen und fürchteten sich nun vor ihrer Rache. Ihm schwirrte der Kopf. Was er auch sagte, alles wurde gegen ihn ausgelegt. Er war davon überzeugt, daß früher oder später jemand auftauchen würde, der Stein und Bein schwor, ihn dabei beobachtet zu haben, wie er Renata erwürgte. Etwas war gegen ihn am Werk. Etwas, was er sich nicht erklären konnte, das aber gekommen war, nicht nur Renata, sondern auch ihn zu vernichten. Raimondo Galdos sprach mit dem Botschafter, der zwar sehr reserviert war, ihm aber einen angeblich tüchtigen Anwalt beschaffte. Der Anwalt, ein gewisser Leonardo Beluzzi, kam mit einer vorgefaßten Meinung zu ihm, hörte seinem Klienten aber geduldig zu. In ihm schien mehr zu stecken, als Galdos nach den ersten Worten befürchtet hatte. Vor allem aber besaß er den Vorteil, Italiener zu sein. Zu ihm konnte er Vertrauen haben. Das war der Grund, warum Raimondo Galdos ihm sein nächtliches Spukerlebnis bis in alle Einzelheiten schilderte und ihn eindringlich bat, dieser Spur nachzugehen. Beluzzi legte seine Stirn in Falten, murmelte ein »Madonna!« und riet, sich lieber nicht auf diesen vagen Rettungsanker zu verlassen. Er habe die britische Gerichtsbarkeit in sämtlichen bisherigen Strafprozessen als durch und durch sachlich ken-
nengelernt. Trotzdem versprach er, die Sache im Auge zu behalten. Raimondo Galdos aufkeimende Hoffnung erfuhr einen empfindlichen Dämpfer, als er auf Waffen untersucht wurde, was bisher versäumt worden war. Man zwang ihn, sich auszuziehen, und der Anwalt schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Warum haben Sie mir das verschwiegen, Signor Galdos?« beschwerte er sich. »Wie soll ich Sie verteidigen, wenn Sie sogar mich zu täuschen versuchen?« Inspektor Gallinger strahlte dafür über sein ganzes übermüdetes Gesicht. Er betrachtete die Kette mit dem großen schwarzen Stein, den der Beschuldigte über dem Herzen getragen hatte, und stellte spontan fest: »Das ist das Schmuckstück, das der Ermordeten geraubt wurde! Einen besseren Beweis gibt es nicht. Sergeant, führen Sie den Mann ab!« * Als Sir Horatio mich in den Fall einschaltete, hörte sich das, was er mir erzählte, durchaus nicht so klar an, wie Inspektor Gallinger das darzustellen versuchte. »Ich verlasse mich ganz auf Ihr Fingerspitzengefühl, Mac«, sagte mein Chef mit genau dem niederträchtigen Lächeln, das er immer dann aufsetzte) wenn ein Fall besonders delikat und die Aussicht, sich die besagten Fingerspitzen nicht zu verbrennen, ausgesprochen gering war. Eigentlich war jedes Ereignis, mit dem sich der Secret Service befaßte, delikat, aber ich bekam in schöner Regelmäßigkeit die Verbrechen aufgebrummt, mit denen die anderen nichts anzufangen wußten. Warum der Mord an der italienischen Adligen bei mir gelan-
det war, erfuhr ich in dürren Worten. »Es werden diplomatische Verwicklungen befürchtet. Der italienische Botschafter hat bereits scharfe Worte gefunden. Wenn die Angelegenheit nicht äußerst schnell und vor allem ohne Pannen aufgeklärt wird, ist mit Konsequenzen zu rechnen«, sagte Sir Horatio. »Konsequenzen für mich, Sir?« erkundigte ich mich. Vorläufig ließ ich mich noch nicht von seinen Sorgen anstecken. Er stemmte seine Fäuste gegeneinander und sah entsetzlich zerknirscht aus. »Konsequenzen für uns alle«, murmelte er düster. Mit uns allen meinte er nach meiner bisherigen Erfahrung üblicherweise sich selbst und mich. Wie ich meinen Chef kannte, hatte er wieder einmal etwas aufgeschnappt und prompt ziemlich lautstark die Reklametrommel für seine Spezialabteilung gerührt. Er brüstete sich gerne damit, daß es keine unaufklärbaren Fälle gäbe. Der Fall de Angelis war so gut wie aufgeklärt. Es gab einen Verdächtigen mit doppeltem Motiv, der von glaubwürdigen Zeugen schwerstens belastet wurde. Der Mann machte keinen guten Eindruck, war verlogen und gewalttätig und versuchte zu allem Überfluß, die Polizei mit Anzüglichkeiten zu brüskieren. Seine Verurteilung war so gut wie sicher. Doch dieser Raimondo Galdos hatte seinem Anwalt ein paar merkwürdige Geschichten erzählt, und diese waren der Grund, warum die Akte auf meinem Schreibtisch gelandet war. Ich blätterte die Unterlagen durch, wobei mich besonders der Bursche interessierte, der angeblich wie ein Vogel durch die Lüfte gesegelt war. Kurz nach dem Schrei der Fürstin.
Natürlich dachte ich sofort an einen Vampir. Diese durstigen Bewohner des Schattenreiches waren in der Lage, sich in riesige Fledermäuse zu verwandeln, um auf diese Weise ihre Opfer aufzusuchen. Nur hatte ich noch nie davon gehört, daß ein Blutsauger sein Opfer erdrosselt hätte. Das paßte also nicht zusammen, und alles, was nicht zusammenpaßte, stachelte meinen Ehrgeiz an. Ich machte mich auf allerhand Ärger gefaßt. Inspektor Gallinger von Scotland Yard mit seinen Mannen würde über meine Einmischung nicht erfreut sein. Ich verließ mich darauf, daß die Kompetenzfragen auf höherer Ebene geregelt worden waren. Fairerweise suchte ich zunächst den Inspektor auf und war angenehm überrascht über die kollegiale Begrüßung. »Kinsey, ich bin informiert.« Er streckte mir die Hand entgegen. An dem energischen Druck erkannte ich, daß ich es mit einem Kämpfer zu tun hatte. Ich kam gleich auf den Kern meines Besuches. »Ich habe die Akte studiert. Stehen tolle Dinge drin. Sie sind so toll, daß ich schon mächtig gespannt auf den Beschuldigten bin.« Gallinger grinste breit. »Der ist gut aufgehoben«, verriet er. »Der Mann hat sich so aggressiv aufgeführt, daß wir ihn einsperren mußten. Wahrscheinlich wird er bis zur Verhandlung nicht mehr auf freien Fuß gesetzt. Es besteht die Gefahr, daß er sich nach Italien absetzt, und die dortige Regierung macht uns die Hölle heiß, wenn wir den Mörder der Fürstin entkommen lassen.« Das konnte ich mir gut vorstellen. Ich ahnte aber auch, daß Rom weniger an irgendeinem Verurteilten als an dem tatsächlich Schuldigen gelegen war. Ob es sich hierbei wirklich um Galdos handelte, hoffte ich schon bald zu wissen.
Über diese Überlegungen schwieg ich wohlweislich, nachdem mir Gallinger bisher entgegengekommen war. Er führte mich sogar selbst zu dem Gefangenen und erlaubte mir ein Gespräch unter vier Augen mit dem Italiener. Ich stellte mich vor und nannte den Grund meines Hierseins. Mir entging das hoffnungsvolle Aufleuchten in seinen dunklen Augen nicht. »Also hat Beluzzi tatsächlich Wort gehalten«, sagte er erleichtert. »Ich habe nicht damit gerechnet, Mr. Kinsey. Es klingt alles so absurd, und doch ist es die reine Wahrheit.« »Sie müssen mir jetzt ein paar Fragen beantworten, Signor Galdos, die Ihnen vielleicht seltsam vorkommen.« »Fragen Sie! Etwas Seltsameres als das, was mit mir geschehen ist, kann es nicht mehr geben.« »Sie kannten Renata de Angelis?« Sein Blick verfinsterte sich. Seine Hände ballten sich, und ich rechnete damit, daß er mir im nächsten Augenblick an die Kehle sprang. Aber er beruhigte sich wieder und preßte nur hervor: »Warum fragen Sie Dinge, die alle Welt weiß? Sind Sie hier, um mich in Widersprüche zu verwickeln? Ich habe mich über ein Jahr lang als Verlobter der Fürstin betrachtet, aber sie zog es vor, mir den Laufpaß zu geben. Renata liebte die Abwechslung. Sie war eine schöne Frau, und sie wurde von vielen begehrt. Aber wirklich geliebt habe nur ich sie.« »Ich will nur eine einzige Frage klären«, stellte ich richtig. »Wer hat Renata de Angelis ermordet? War es ein Mensch? Dann überlasse ich Inspektor Gallinger diesen Fall. Bei ihm weiß ich ihn in besten Händen. Oder haben andere Mächte ihre Hand dabei im Spiel gehabt? Mächte aus dem Schattenreich zum Beispiel? Das ist mein Ressort, wenn es auch immer noch Leute gibt, und zwar erstaunlich kluge, die darüber lä-
cheln. Beschreiben Sie mir Ihre gespenstische Begegnung noch einmal in allen Einzelheiten. Versuchen Sie, sich an alles zu erinnern. Jeder Ton, jeder Windhauch, jede Veränderung der Temperatur kann von Wichtigkeit sein.« Er erzählte genau das, was er Leonardo Beluzzi, seinem Anwalt, anvertraut hatte. Kein Wort mehr und keines weniger. Es war, als würde ein Tonband abspulen. Ich war nicht zufrieden. »Etwas Wichtiges haben Sie vergessen«, tadelte ich. »Oder wollen Sie bewußt nicht über den Anatas reden, der bei Ihnen gefunden wurde?« Der Italiener lief schon wieder rot an. Er war in der Tat sehr impulsiv. Bei den Geschworenen würde ihm das nicht helfen, seine Unschuld zu beweisen. »Ich weiß nicht, wo die Kette plötzlich hergekommen ist. Mir gehört sie nicht. Jemand muß sie mir zugeschmuggelt haben.« »Sie hing um Ihren Hals«, erinnerte ich. »Zugegeben, es gibt Taschenspieler, die es sogar fertigbringen, Ihnen das Hemd zu wechseln, ohne daß Sie es merken, aber ich finde es verwunderlich, daß Sie behaupten, das kostbare Schmuckstück nicht zu kennen. Alle Gäste bestätigten, daß die Fürstin es beim Bankett getragen hatte. Unter Juwelenkennern ist es als das ›Auge der sieben Sehnsüchte‹ bekannt. Es kostet ungefähr fünfundzwanzigtausend Pfund oder, wenn Ihnen das mehr sagt, fünfzig bis sechzig Millionen Lire. Es wurden schon Menschen wegen ein paar Pence umgebracht.« Raimondo Galdos stampfte wütend in der engen Zelle auf und ab. »Da kann ich doch nur lachen!« fauchte er. »Natürlich kenne ich das ›Auge der sieben Sehnsüchte‹. Der Stein, den man mir zugespielt hat, um mich zu belasten, ist eine plumpe Fälschung. Der wahre Mörder wäre nicht so verrückt gewesen, sich von einer derartigen Kostbarkeit freiwillig zu trennen.
Einen Anatas dieser Größe und Form gibt es kein zweites Mal.« Als ich ihm sagte, daß mehrere Experten die Echtheit des Steins bestätigt hatten, drehte er durch. Er stand unmittelbar vor mir, als er explodierte. Seine Fäuste trafen meine Magengrube voll und unerwartet. Mir wurde übel. Ich brauchte vier Sekunden, um aus einer reflexartigen Abwehrhaltung eine Gerade zu schießen. Diese Bewegung verschaffte mir die nötige Luft, wenn sie auch Galdos nicht ernsthaft in Verlegenheit brachte. Er duckte sich, aber seinen zweiten Angriff blockte ich ab und setzte ihm meine Fingerknöchel auf die Nase. Galdos wimmerte auf und vergewisserte sich, ob er blutete. Die sträflich vernachlässigte Deckung nutzte ich und stieß ihn vor die Brust, daß er sich schnaufend auf den Hintern setzte und seine Aggressionen wirkungslos verpufften. »Der Stein ist echt«, wiederholte ich. »Aber ich habe deshalb nicht gesagt, daß ich Sie für den Mörder halte. Vielleicht sind Sie mit den Fäusten ein bißchen schneller als mit dem Kopf, aber für total vertrottelt sehe ich Sie nicht an. Selbst der ungeschickteste Mörder hätte sich ein bißchen klüger verhalten als Sie. Sie sind also ganz sicher, daß der Menschvogel aus jenem Fenster kam, das zu dem Raum gehörte, in dem die Fürstin getötet wurde?« »Ich habe mir die Lage des Zimmers beschreiben lassen. Ich bin absolut sicher.« »Und er flog zum Brompton Cemetery?« »Jedenfalls in diese Richtung. Ich habe ihn nicht landen sehen. Ich hatte nur noch Angst, daß mit Renata etwas Schreckliches passiert sein könnte.« Ich stellte noch ein paar Fragen, bekam aber nichts Neues aus dem Mann heraus. Ich war enttäuscht, denn ich hatte mehr
erwartet. Wo sollte ich ansetzen? Natürlich konnte ich versuchen, die Aussagen der Zeugen zu erschüttern. Zum Beispiel die von Terry Bogart, den Galdos der rachsüchtigen Lüge bezichtigte. Doch das war letzten Endes Aufgabe von Gallinger und seinen Leuten. Mich interessierte in erster und bisher einziger Linie der Unbekannte in der schwarzen Kutte, der nicht nur fliegen, sondern, falls er überhaupt existierte, vermutlich auch noch ein paar andere Dinge konnte. Ich lenkte meine Schritte zu meinem MG, der vor dem Polizeigebäude auf mich wartete, und suchte den Friedhof auf, der sich in der Nähe des Tatortes befand. Ein mächtiger Gottesacker mit eindrucksvollen Grabmonumenten, aber auch schlichten Ruhestätten. Eine Stätte des Friedens und der Besinnung. Um so ungewöhnlicher, daß ich schon beim Betreten des Friedhofs das Gefühl nicht abschütteln konnte, hier nicht erwünscht zu sein. Etwas Feindliches stellte sich mir entgegen und versuchte, mich aufzuhalten. Ich bildete mir das nicht nur ein. Es war schon einige Zeit her, seit ich zum erstenmal erstaunliche Fähigkeiten an mir beobachtet hatte. Ich reagierte mit äußerster Sensibilität auf dämonische Strahlungen. Bis ich erkannt hatte, worum es sich überhaupt handelte, hatte ich beträchtliches Lehrgeld zahlen müssen. Inzwischen hatte ich dazugelernt und mir zum Ziel gesetzt, die Feinde aus den Reichen der Hexen und Geister, der Vampire und Ghoule bis zur Vernichtung zu bekämpfen. Hatte bisher noch ein Zweifel an Raimondo Galdos' Behauptung bestanden, jetzt wischte ich ihn beiseite.
Ich schloß die Augen, um mich besser konzentrieren und die bösartigen Schwingungen aufnehmen zu können. Das wurde mir zum Verhängnis. Ich hörte nur noch, wie in der Nähe eine junge Frau aufschrie. Etwas knirschte dicht neben mir. Ich riß die Augen wieder auf in der Meinung, dieser Frau drohe Gefahr. Ohne zu überlegen, sprintete ich los. Die Frau sah mich kommen. Ihre Augen waren entsetzt aufgerissen, als sähe sie hinter mir ein Gespenst. Das ohrenbetäubende Krachen hinter meinem Rücken ließ allerdings auch mich herumfahren, und jetzt sah ich den Grund für den Schrei der Friedhofsbesucherin. Eine kolossale Bronzefigur, die einen Heiligen darstellte, war von ihrem mannshohen Sockel gekippt. Ohne ersichtlichen Grund. Sie trug in der Linken ein Lamm und in der Rechten eine Lanze. Diese Waffe durchbohrte den Boden genau an jener Stelle, an der ich eben noch mit geschlossenen Augen gestanden hatte. Die Figur hätte mich erschlagen. Ich ging auf die Frau zu, die so stark zitterte, als hätte, es ihr eigenes Leben gegolten. »Haben Sie den Burschen erkennen können?« fragte ich. Sie blickte mich irritiert an. »Ich verstehe nicht«, gestand sie. »Nun, so ein Heiliger kippt für gewöhnlich nicht ohne Grund aus seinen Schuhen. Jemand muß nachgeholfen haben. Er ist vermutlich anschließend fortgelaufen.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Da war niemand, Mister. Ich sah Sie kommen. Rein zufällig.« Sie wurde verlegen und schlug die Augen nieder. In dieser Haltung sprach sie weiter. »Da kippte plötzlich die Figur vornüber. Ich konnte nichts tun. Ich glaube, ich habe vor Schreck geschrien. Ist Ihnen auch wirklich nichts passiert?«
Ihre Sorge war rührend und noch rührender ihre Verlegenheit. Ich hätte mich ganz gerne mit der Kleinen etwas näher befaßt, aber ich vergaß nicht den eigentlichen Grund meines Hierseins. Mir wurde klar, daß dieser heimtückische Anschlag so etwas wie eine Begrüßung für mich sein sollte. Oder aber eine Warnung. * Die Strahlungen, die ich empfangen hatte, waren verschwunden. Es war, als hätte jemand mit einem Schalter alles ausgelöscht. Demnach hatte ich die Anwesenheit meines unsichtbaren Angreifers gespürt und nicht jenen rätselhaften Unbekannten, von dem der Italiener gesprochen hatte. Doch wie dem auch war, für mich stand dadurch fest, daß ich entweder auf Schritt und Tritt beobachtet oder hier auf dem Friedhof erwartet worden war. Die Gegenseite schien bestens informiert zu sein. Das machte meine Aufgabe nicht gerade leichter. Die junge Frau half mir nicht weiter. Nachdem ich mich bei ihr bedankt hatte, ging ich langsam weiter und spürte ihren Blick auf meinem Rücken. Ich vergaß sie schnell, denn mich nahm bereits eine andere Person gefangen. Es handelte sich um einen jungen Mann, ungefähr zwanzigjährig, der sich für meine Begriffe reichlich eigenartig benahm. Sofort erwachte mein Mißtrauen. Der Bursche schlenderte zwischen den Grabreihen entlang, bückte sich hin und wieder und zerkrümelte ein wenig Erde von den Grabstellen zwischen den Fingern. Danach erhob er sich, schüttelte den Kopf oder seufzte und wanderte zum
nächsten Grab, wo sich das Schauspiel wiederholte. Ich beobachtete ihn eine Weile. Er wurde auf mich aufmerksam und benahm sich nun noch merkwürdiger. Er fing an zu laufen, was das Zeug hielt. Das sah nicht nach einem reinen Gewissen aus. In mir stieg der Verdacht hoch, er könne etwas mit dem Anschlag auf mich zu tun haben. Warum sonst rannte er vor mir davon? Das wollte ich genauer wissen. Im nächsten Moment entwickelte sich eine handfeste Verfolgungsjagd quer durch den ehrwürdigen Friedhof. Einige Besucher, die vor den Gräbern verharrten, hoben mißbilligend den Kopf. Ich mußte ihnen innerlich recht geben. Die letzte Ruhestätte der Toten war nicht der geeignete Platz, um einen Halunken zu jagen, aber man sollte auf ihm auch nicht versuchen, einen Mann kaltblütig mit einer Bronzefigur zu erschlagen. Ich hetzte weiter. Der Bursche war zwar jünger als ich, doch etwas schien ihn beim Laufen zu behindern. Er preßte den linken Arm gegen seine Brust, als wolle er dort etwas verbergen. Er nutzte raffiniert jeden Winkel. Er kannte sich offenbar gut aus. Aber das nützte ihm nichts. Ich war schneller, und der Abstand zwischen uns verringerte sich zusehends. Nur fünf Schritte trennten uns noch voneinander. Da sah ich von der Seite zwei Friedhofswärter nahen. Sie wollten für die gebührende Ordnung sorgen. Aber da machte mein Vordermann einen entscheidenden Fehler. Er setzte zum Sprung über eine ausgehobene Grube an. Dahinter war der Erdhügel aufgeworfen. Er rechnete damit, daß ich lieber den Umweg nehmen und sich der Abstand wieder vergrößern würde. Doch da sollte er sich täuschen. Auch ich konnte springen. Das war allerdings nicht erforderlich.
Der Bursche setzte über das offene Grab, landete auf dem Hügel aus Erde und Lehm und ruderte mit den Armen hilflos durch die Luft. »Dagon, hilf mir!« schrie er, doch es half ihm alles nichts. Er rutschte auf dem lockeren Erdreich zurück und stürzte rücklings in die Grube. Ich hatte das Unglück vorausgesehen und rechtzeitig abgebremst. Zunächst mußte ich mich um die beiden Friedhofswärter kümmern, die mich mit asthmatischem Schnaufen erreichten. »Was fällt Ihnen ein?« krächzte der eine. »Haben Sie die Friedhofsordnung nicht gelesen?« Was hätte ich den guten Leuten sagen sollen? Sie hatten ja recht. Schließlich wußte ich selbst noch nicht, warum ich den jungen Mann eigentlich gejagt hatte. »We ti allo parist que redof?« fragte ich mit dem unschuldigsten Gesicht, das mir möglich war. Dabei zeigte ich zuerst auf meine Armbanduhr und anschließend zur Sonne. Die beiden blickten sich betreten an. Natürlich hielten sie mein Kauderwelsch für eine fremde Sprache. Vielleicht sogar für Latein. Wer aber Latein sprach, war etwas Besseres. Der war von vornherein im Recht. Die Männer tuschelten miteinander, wobei sie mir immer wieder unsichere Blicke zuwarfen, die ich freundlich erwiderte. Sie hatten keine Ahnung, wie sie sich mit mir verständigen sollten. »Sorry!« murmelten sie verstört. Darauf entfernten sie sich kopfschüttelnd. Jetzt konnte ich mich um den Halunken kümmern, der in der Zwischenzeit versucht hatte, aus seinem unfreiwilligen Gefängnis zu entkommen. Zum Glück bisher vergeblich. Ich streckte ihm meine Hand entgegen, die er widerwillig er-
griff. Zwischen Schnecken und Würmern fühlte er sich offensichtlich nicht wohl. Ich zog ihn heraus, wobei mir wieder seine krampfhafte Armhaltung auffiel. Kurzerhand zerrte ich ihn mit mir fort und ließ ihn erst los, als wir den Friedhof hinter uns gelassen hatten. Er gab seinen Widerstand nicht auf, aber mein Griff war stärker. Deshalb fügte er sich und rechnete sich wahrscheinlich eine Chance aus, mir später doch noch zu entwischen. »Was treiben Sie hier?« fragte ich ihn drohend. Er blitzte mich frech an. »Das geht Sie einen Dreck an!« Er war kein Engländer. Das hörte ich sofort an seinem Akzent. Aber für einen Italiener hielt ich ihn erst recht nicht. Was hatte er mit dem Fall de Angelis zu tun? »Passen Sie auf«, fuhr ich fort. »Wir können das Ganze unter uns regeln. Wir können es aber auch die Polizei entscheiden lassen. Ich bin zu beidem bereit.« »Ich habe nichts verbrochen«, behauptete er trotzig. »Ich kann nicht dafür, daß Sie wie ein Verrückter hinter mir herlaufen. Ich glaubte, Sie wollten mich überfallen.« Ich lachte. »Wem wollen Sie dieses Schauermärchen erzählen? Was hatten Sie bei den Gräbern zu suchen, und was verstecken Sie da so krampfhaft vor mir? Ich packte seinen Unterarm und riß ihn an mich heran, obwohl er sich heftig widersetzte. Im ersten Moment war ich enttäuscht. Ich hatte mehr erwartet als nur eine Zeitung. Bei näherem Hinsehen fiel mir jedoch auf, daß sie so zusammengefaltet war, daß der Bericht von der Ermordung der italienischen Fürstin als erstes ins Auge stach. Unter der zollhohen Schlagzeile waren zwischen dem reißerischen Text zwei Fotos montiert. Eines zeigte Renata de Angelis während des Galadiners. Auf dem anderen war der geraubte Halsschmuck
abgebildet, der schwarze Anatas, der wie ein fliegender Vogel aussah. Das »Auge der sieben Sehnsüchte«. Ich deutete auf den Artikel und forschte: »Was haben Sie damit zu tun?« Er erschrak, und sein Entsetzen wirkte echt. »Was glauben Sie, Mister? Ich bin doch kein Mörder.« »Und der Anschlag auf mich? War das kein Mordversuch?« Er behauptete, von einem Anschlag nichts zu wissen. Das Gegenteil hatte ich auch nicht erwartet. Ich wurde deutlicher. »Sie sprechen unsere Sprache ausgezeichnet«, sagte ich. »Also kann ich damit rechnen, daß ich mich Ihnen verständlich machen kann. Sie interessieren sich auffallend für das Verbrechen, das vergangene Nacht verübt wurde. Sie schleichen auf verdächtige Weise auf dem Friedhof herum und befassen sich mit der Erdbeschaffenheit der Gräber. Sie behaupten, mit der vom Sockel gestürzten Statue nichts zu tun zu haben, laufen aber dennoch ohne ersichtlichen Grund vor mir davon. Und, was das Erstaunlichste ist, Sie rufen einen gewissen Dagon um Hilfe an, als Sie in Bedrängnis sind.« »Das – das war nur so eine Redensart«, stotterte der Bursche. Ich ließ nicht locker. Er konnte mir nichts vormachen. »Dagon ist ein übler Dämon, ein Teufel. Ihn kennt nur, wer sich mit Magie beschäftigt. Ich behaupte, Sie haben sich der Schwarzen Magie verschworen.« »Das ist nicht wahr.« »Mir können Sie alles erzählen, Mann. Ich mache ja offenbar einen bescheuerten Eindruck. Aber ich bin gespannt, wie ein gewisser Inspektor Ihre Behauptungen aufnehmen wird.« Der andere wurde kleinlaut. »Sie sagten doch, wir könnten die Polizei aus dem Spiel lassen.« »Unter der Bedingung, daß Sie ehrlich sind. Ich habe eine
Nase für Lügen. Damit kommen Sie bei mir nicht durch.« Der Bursche wand sich wie ein Aal. »Ich darf nicht darüber reden. ES ist geheim. Aber wir tun nichts Verbotenes. Das schwöre ich. Es ist ganz harmlos. Und mit dem Mord kann ich schon deshalb nichts zu tun haben, weil ich ein Alibi besitze.« »Welches?« »Ich sagte doch schon, daß ich nicht darüber sprechen kann.« Ich nickte. Der Bursche wirkte nicht gewalttätig. Mit dem Anschlag auf mich hatte er wahrscheinlich wirklich nichts zu tun. Aber er konnte davon gewußt haben. Er wußte nach meiner Überzeugung überhaupt ein paar Dinge, auf die ich auch neugierig war. Einiges hatte er mir bereits verraten. Offensichtlich gab es eine Gruppe von Menschen, die sich mit geheimen Dingen befaßte. Ein magischer Zirkel. Er konnte tatsächlich harmlos sein, aber das wollte ich schon genau wissen. »Wo befindet sich der Zirkel, und wer leitet ihn?« fragte ich kalt. Der Junge zuckte zusammen. »Bei Dagon!« entfuhr es ihm, »Können Sie hellsehen?« »Lassen Sie vor allen Dingen den Teufel aus dem Spiel«, sagte ich ungehalten. »Es gibt angenehmere Partner. Ich will Ihnen etwas sagen, und zwar in aller Freundschaft: Sie befinden sich auf einem fragwürdigen Weg. Dieser Zirkel, dem Sie angehören…« »Ich gehöre ihm nicht an«, warf er hastig ein. »Noch nicht.« »Aber es ist Ihr Wunsch?« »Allerdings. Ich habe mich schon immer für okkulte Probleme interessiert. Ich wohne eigentlich in Deutschland. In der Nähe von Osnabrück. Ich pflege Kontakte zu vielen Gleichgesinnten, aber England ist nun mal die Wiege der Geister und Gespenster. Deshalb bin ich herübergekommen und hatte das
große Glück, durch einen Freund in den Zirkel eingeführt zu werden. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als die auferlegten Prüfungen zu bestehen. Dann endlich werde ich Antwort auf meine drängenden Fragen erhalten.« Ein Suchender. Dieser Mann gab sich nicht mit dem zufrieden, was in Zeitungen stand oder in Hörsälen doziert wurde. Er wollte tiefer in die Geheimnisse eindringen, die uns umgeben. Aber dieser Weg war voller Fallen. Nur zu leicht schlug man eine verlockende, aber gefährliche Richtung ein. War der Bursche dabei, sein Leben auf eine abschüssige Bahn zu lenken? »Uns interessieren offensichtlich ähnliche Fragen«, stellte ich fest. »Wie heißen Sie?« »Göpfert. Ralf Göpfert.« »Mac Kinsey«, sagte ich kurz und reichte ihm die Hand. Erleichtert schlug er ein. Nein, mit einem Verbrecher hatte ich es bei ihm nicht zu tun. Allenfalls mit einem Irrenden. »Okay, Ralf, Ihr Interesse für die Gräber hat einen bestimmten Grund. Ich glaube nicht, daß Sie mit den Toten sprechen wollten. – Sie sollten einen Schädel beschaffen, habe ich recht?« Der Junge war sprachlos. Er nickte betroffen. »Ist das die einzige Aufnahmebedingung?« »Es folgen noch weitere, aber ich kenne sie noch nicht. Sie steigern sich in der Schwierigkeit. Wenn ich versage, werde ich aus dem Kreis ausgeschlossen.« Er wirkte ehrlich bekümmert. Ihm mußte viel an seiner Mitgliedschaft liegen. »Sie können mit meiner Hilfe rechnen«, versprach ich. »Allerdings erwarte ich dafür eine Gegenleistung.« »Und die wäre?« »Zunächst möchte ich wissen, in welchem Zusammenhang der Zirkel mit dem Mord an Renata de Angelis steht.«
»Mit keinem«, wehrte Ralf Göpfert erschrocken ab. »Wir tun nichts weiter, als mit Verstorbenen und Geistern Kontakt aufzunehmen. Der Meister führt uns den Weg zum Wissen.« »Aber was hat es für eine Bewandtnis mit der Zeitung?« Der junge Mann lächelte wissend. »Sehen Sie den Stein, Mr. Kinsey?« Er zeigte auf das »Auge der sieben Sehnsüchte«. »Diesen Stein trägt der Meister um den Hals. Ich bin ganz sicher. Eine Verwechslung ist ausgeschlossen. Wenn es wahr ist, daß das Schmuckstück einen so großen Wert besitzt, dann muß einer der beiden Steine falsch sein. Der des Meisters ist echt. In ihm wohnt eine sagenhafte Kraft. Er nennt den Stein das ›Schwarze Amulett‹.« Endlich eine Spur! Ich durfte sie nicht wieder verlieren. Ich mußte den Jungen warnen. »Ich möchte den Meister kennenlernen«, sagte ich. »Dazu müßten Sie in den Zirkel aufgenommen werden.« »Können Sie das arrangieren?« »Ich fürchte, nein. Wie gesagt, ich bin ja selbst noch nicht Mitglied.« »Versuchen Sie es trotzdem, aber nennen Sie nicht meinen Namen.« Ralf Göpfert überlegte. Die Sorge, von mir hereingelegt zu werden, stand ihm im Gesicht. Ich machte ihm die Entscheidung leichter. »Ich beschaffe Ihnen dafür den verlangten Schädel«, versprach ich. »Nicht vom Friedhof. Ich besitze andere Quellen.« »Aber er muß echt sein. Nicht etwa eine Nachbildung aus Kunststoff.« »Das versteht sich von selbst. Wir treffen uns in drei Stunden wieder hier. Sie übernehmen den Schädel, und wir fahren zum Zirkel. Ich bleibe selbstverständlich draußen. Sie legen ein gutes Wort für mich ein, und ich erwarte Sie an einem Platz, den
ich noch bestimmen werde.« »Und alles bleibt unter uns?« »Solange es nicht gilt, ein Verbrechen zu verhindern, wird die Polizei nichts davon erfahren«, versprach ich. »Abgemacht!« Ralf Göpfert war anscheinend froh, mühelos in den Besitz des Schädels zu gelangen. * Von der nächsten Telefonzelle aus rief ich Sir Horatio an und erklärte ihm, daß ich schleunigst einen menschlichen Schädel benötigte und keine Zeit hätte, mich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Seine Antwort bestand der Reihenfolge nach aus einem kurzen Schweigen, einem drohenden Schnaufen und schließlich einem Seufzen, das einer Kapitulation gleichkam. »Frau oder Mann?« erkundigte er sich knapp. »Bei Totenköpfen bin ich mit allem zufrieden«, räumte ich ein. »Ich will Ihnen Ihr bitteres Los nicht noch erschweren, Sir.« Er setzte zu einem neuerlichen Schnaufen an, erkundigte sich dann aber doch lieber, wofür ich den Schädel benötigte. »Für einen Freund«, wich ich aus. »Ich kann nicht garantieren, daß Sie ihn zurückbekommen.« »Wie kommen Sie voran, Mac?« »Ich hocke noch in den Startlöchern«, gab ich zu. »Ungefähr so groß wie ausgehobene Gräber. Und das Unangenehmste ist, daß die Gegenseite anscheinend schon besser über mich Bescheid weiß als umgekehrt.« Ich berichtete kurz von dem Anschlag auf dem Friedhof und versprach, mich in ein paar Stunden wieder zu melden. Bis dahin hatte ich noch eine Menge vor.
Zunächst stattete ich dem Tatort einen Besuch ab. Natürlich war niemand von den illustren Dinnergästen mehr zu erreichen. Lediglich mit dem ständigen Personal konnte ich noch sprechen. Für das Bankett waren allerdings zusätzliche Bedienstete verpflichtet worden, die sich ebenfalls nicht mehr im Haus befanden. Ich nahm mir die Angestellten einzeln vor und ließ mir berichten, wie sie den Mord erlebt hatten. Nicht einer wußte etwas Konkretes zu berichten. Aufmerksam geworden war man erst durch die Schreie der Fürstin, die bei dem ausgelassenen Treiben und der Musik im Saal wohl sogar eine Weile untergegangen waren. Renata de Angelis war bereits tot, bis man begriff, daß sie offenbar Hilfe benötigte. Niemand hatte das Verbrechen mit eigenen Augen angesehen, doch alle beschrieben den Mörder als jenen Mann, den ich in Raimondo Galdos kennengelernt hatte. Entgegen seiner beharrlichen Behauptung wurde versichert, er sei während seiner Flucht aus der oberen Etage gestoppt worden. Genau das hatten auch alle anderen Befragten zu Protokoll gegeben. Zwei, drei Leute mochten sich irren, aber über hundert? Es sah verdammt schlecht aus für den Italiener. Trotzdem glaubte ich ihm. Daß hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging, stand seit meinem Friedhofsbesuch fest. Ich war gespannt, was ich in dem geheimnisvollen Zirkel erleben würde. Für Inspektor Gallinger und seine Crew brauchte ich allerdings ein paar handfeste Beweise. Ich mußte auf irgendeine Weise die Falschaussagen aufdecken. Ich war davon überzeugt, daß die Anwesenden beim Bankett durch einen magischen Zwang dazu gebracht worden waren, die Dinge so zu sehen, wie sie sich nicht abgespielt hatten.
Und das alles, um einen Mann zu belasten, bei dem zu allem Überfluß auch noch der geraubte Anatas gefunden worden war. War dieser Schmuckstein der Grund für das Verbrechen? Barg er ein Geheimnis, das ich nicht kannte? Ich wollte meine Fragestunde schon abbrechen, nachdem ich auch an jener Stelle, an der die Fürstin gefunden worden war, nichts Verdächtiges hatte entdecken können, als mir eine Frage in den Sinn kam, die ich eigentlich schon längst hätte stellen sollen. »Wer hat die Tote entdeckt?« Ich erfuhr, daß es sich um zwei Männer handelte, die zu dem Fest engagiert worden waren. Sie hatten sich zur Zeit des Mordes in der oberen Etage aufgehalten. Sie mußten etwas beobachtet haben, was bisher nicht ins Protokoll gekommen war. Das ließ ich mir nicht ausreden. Einer der Diener wußte, daß die beiden im Augenblick die Vorbereitungen für den Empfang einer in Genf erfolgreich gewesenen Rudermannschaft trafen. Ich ließ mir die Adresse geben und fuhr hin. Ich spürte sofort, als ich den verängstigten Männern gegenüberstand, daß sie an einem Problem kauten, mit dem sie nicht so recht fertig wurden. Zweifellos hatten sie die ihnen gestellten Fragen nach bestem Wissen beantwortet. Es mußte also an den Fragen liegen, wenn sie immer noch etwas Quälendes mit sich herumschleppten. Ich hatte Inspektor Gallinger als tüchtigen Mann kennengelernt. Ein tüchtiger Polizist im Bereich herkömmlicher Straftaten. Dem Unwirklichen allerdings stand er hilflos gegenüber. Er hatte ganz einfach nicht die richtigen Fragen formulieren können. Ich betrachtete es schon als Fortschritt, daß die beiden nicht
Raimondo Galdos belasteten. »Die Fürstin benahm sich sehr eigenartig«, berichtete Victor Hopper, der ältere der Diener, stockend. »Was verstehen Sie darunter?« half ich nach. Hopper suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht. Er sah mich verlegen an und kam sich offenbar wie ein Narr vor. Sein Kollege Sven Höllmark, ein Schwede, kam ihm zu Hilfe. »Warum sagst du nicht, wie es gewesen ist? Du warst nicht betrunken. Den Brandy hast du erst hinterher geschluckt.« »Halte den Mund!« herrschte ihn der andere an. »Es ist besser zu schweigen. Ich will mit diesen Dingen nichts zu tun haben. Oder hast du Lust, mit nach hinten gedrehtem Gesicht gefunden zu werden?« Der Jüngere bekreuzigte sich hastig und erbleichte. »Jesus, was sagst du da, Victor? Du glaubst doch nicht etwa, daß der Teufel seine Hand im Spiel hatte?« »Ich sage gar nichts«, eiferte der Ältere. »Ich bin jetzt fünfzig und fühle mich zu jung zum Sterben. Und schon gar nicht auf diese Weise. Wir haben nichts gesehen, also gibt es auch nichts zu erzählen, basta!« Ich hielt mich an den Schweden. Der schien eher bereit zu sein, mit der Wahrheit herauszurücken. »Erzählen Sie!« forderte ich ihn auf. »Haben Sie keine Angst, sich lächerlich zu machen. Ich bin stärken Tabak gewöhnt.« Er redete mich mit Inspektor an, und ich ließ ihn in dem Glauben. »Das ist ja gerade das Unheimliche«, begann der Blonde. »Wir haben nichts gesehen. Nur die Fürstin. Sie kam über die Türschwelle und schrie. Es war, als wehrte sie sich gegen einen für uns Unsichtbaren.« »Trug sie den Anatas?« unterbrach ich ihn.
Der Schwede nickte eifrig. »Ich bin ganz sicher. Ihr Kleid war stark dekolletiert, und das Schmuckstück schwamm auf ihrem Busenansatz wie zwischen zwei Wellen. Es sah wirklich sehr reizvoll aus.« Er grinste, doch das Grinsen gefror auf seinen Lippen, als ihm bewußt wurde, daß er von einer Toten sprach. »Was geschah dann?« drängte ich ungeduldig. Sven Höllmark blickte seinen Kollegen an, auf dessen Stirn sich Schweißperlen gebildet hatten. »Ich schickte Victor weg, um einen Schnaps zu holen.« »Das heißt, Sie waren für kurze Zeit mit der Fürstin allein«, warf ich ein. Er sah mich wütend an, und einen Moment lang sah es so aus, als überlegte er, wie sich seine Faust an meinem Kinn ausnehmen würde. Mein Blick schien ihn aber zu warnen, und sein Körper entspannte sich wieder. »Zum Teufel, ja, es war niemand sonst auf der Etage«, fauchte er mißmutig. »Aber mich trennte ein Gang von zwanzig Yards Länge von der Fürstin. Versuchen Sie mal, aus dieser Entfernung jemand zu erdrosseln.« Ich mußte ihn beruhigen. »Schon gut«, sagte ich lächelnd. »Ich halte Sie nicht für den Mörder. Reden Sie weiter!« »Als Victor mit dem Brandy kam, lag die Fürstin bereits am Boden und rührte sich nicht mehr. Wir liefen zu ihr, und Victor meinte, sie sei tot. Da haben wir die anderen geholt. Wir haben sie nicht angerührt, das schwöre ich.« »Ich glaube Ihnen«, versicherte ich. »Es steht nun aber mal fest, daß Renata de Angelis keinem Schwächeanfall zum Opfer fiel, sondern ermordet wurde. Der Täter mußte an Ihnen vorbei, als er floh.« »Ich sagte doch schon, daß wir nichts…« »… gesehen haben«, ergänzte ich ruhig. »Ist bis zu meinem Trommelfell vorgedrungen. Aber vielleicht haben Sie etwas ge-
spürt. Eine leichte Berührung am Arm. Eine Luftbewegung. Unerklärliche Kälte. Eine gewisse Benommenheit. Etwas, was Sie nicht begreifen können. Denken Sie sehr genau nach. Es könnte die wichtigste Aussage sein, die jemals ein Zeuge gemacht hat.« Das war ein bißchen übertrieben, aber dem Schweden gefiel es, derart aufgewertet zu werden. Ich sah förmlich, wie seine Hirnzellen schufteten. Das Ergebnis war trotz allem mager. Er schüttelte den Kopf. »Wir waren natürlich geschockt, als wir kapierten, was geschehen war. Aber ich muß Sie enttäuschen. Da war nichts, was auch nur im leisesten einer Erwähnung wert wäre. Als die anderen kamen, ging ich, um das Fenster zu schließen, doch ich hatte mich getäuscht. Es war schon zu. Später traf die Polizei ein, und ich machte meine Aussage. Das ist alles.« Für mich fing es jetzt an, interessant zu werden. »Wie kamen Sie darauf, das Fenster sei offen?« bohrte ich. Der Schwede kniff die wasserblauen Augen zusammen. Auf seinem Gesicht prangte ein riesiges Fragezeichen. Er konnte mit meiner Frage nichts anfangen. Ich wiederholte sie. Er hob die Schultern und klärte mich auf. »Es zog. Die Vorhänge plusterten sich auf.« »Die schwarzen Vorhänge?« fragte ich scharf. »Ja, ja«, stotterte er verwirrt. »Schwarz waren sie. Eine gräßliche Farbe. Ich mag sie nicht. Sie erinnert mich zu sehr an den Tod.« Ich behielt für mich, daß die Vorhänge in dem bewußten Raum rot waren. Ich ahnte, daß der Mann den fliehenden Menschvogel gesehen hatte, auf dessen Existenz auch Raimondo Galdos beharrte. Das Wesen war durch das geschlossene Fenster entwichen, nachdem es die schaurige Bluttat ausge-
führt hatte. »Versuchen Sie sich zu erinnern«, bat ich. »Trug die Fürstin den Anatas noch, als sie zu Boden sank?« »Das haben wir doch schon Ihrem Kollegen gesagt«, nörgelte Victor Hopper. »Der Stein war verschwunden. Da war nur noch die blutunterlaufene Stelle am Hals, die vermutlich von der Kette herrührte. Das verstehe ein anderer.« Ich begann langsam zu begreifen. Mein Gegner, den ich noch nicht kannte, war sehr raffiniert zu Werke gegangen. Er hatte es verstanden, alle im Saal befindlichen Gäste zu beeinflussen und sich sogar den Blicken der beiden Augenzeugen zu entziehen. Aber es gab einen Mann, der mit wachem Verstand und vollem Wissen die Unwahrheit gegenüber Inspektor Gallinger gesagt haben mußte, und den würde ich mir jetzt kaufen. Alle im Haus hatten die Schreie der Bedrohten gehört. Auch Galdos hatte sie vernommen. Warum leugnete sie ausgerechnet Terry Bogart, jener Mann, der sich freiwillig als Zeuge gemeldet hatte? Wollte er wirklich nur eine kleinliche Rache üben, weil der Italiener ihm seine Hilfe versagt hatte? Dann fuhr er allerdings ein unverhältnismäßig schweres Geschütz auf, denn für Galdos ging es um Kopf und Kragen. * Terry Bogart griff zur Flasche. Das hatte er schon früher oft und gern getan, in den letzten Tagen allerdings verstärkt. Es gab viele Methoden, mit einem Problem fertig zu werden. Terry Bogart hatte sich für die flüssige entschieden. Es war am besten, sich zu betäuben und alles zu vergessen. Vergessen? Konnte er das? Würde ihn nicht immer wieder
verfolgen, was er gehört und gesehen hatte? Dieser Südländer war ihm alles andere als sympathisch. Dafür konnte er eine Menge Gründe anführen. Erstens hatte er etwas gegen Ausländer, zweitens ganz besonders gegen reiche Ausländer, drittens hatte ihm dieser Italiener seine Hilfe versagt, und viertens war er auch noch gewalttätig geworden. Terry Bogart dürfte sich also im Recht fühlen, diesem Kerl eins auszuwischen. Der hatte einen Denkzettel verdient. Aber eine Mordanklage, die zweifellos mit einem Schuldspruch enden mußte, war mehr als ein Denkzettel. Er hätte wohl besser daran getan, seinen Mund zu halten. Jetzt war es zu spät. Wie sollte er der Polizei seine absichtliche Falschaussage erklären? Er hatte sich nicht nur damit strafbar gemacht, er würde auch zugeben müssen, sich in volltrunkenem Zustand hinters Steuer seines Floppy gesetzt zu haben. Verdammt! Die Schreie der Frau gellten ihm noch immer in den Ohren. Er hatte geahnt, daß etwas Furchtbares geschah. Dieser Italiener befand sich zu der Zeit noch auf der Straße. Er konnte unmöglich etwas damit zu tun haben. Er allein konnte das bezeugen. Terry Bogart nahm einen großen Schluck. Etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit rann ihm aus dem Mundwinkel, lief am Kinn entlang und tropfte ihm in den Kragen. Er merkte es nicht. Seine Gedanken waren bei dem unheimlichen Vogel, den er gesehen und der Polizei gegenüber geleugnet hatte. Diese furchteinflößende Erscheinung, die ihn blitzschnell ernüchtert hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Nur gut, daß wie durch ein Wunder der Motor wieder angesprungen war, damit er sich schleunigst aus dem Gefahrenbereich hatte bringen können. Durch ein Wunder? Steckte nicht eher etwas ganz anderes
dahinter? Es war ihm gleich merkwürdig vorgekommen, als der Wagen zu bocken anfing. Inzwischen war er davon überzeugt, daß eine fremde Kraft Einfluß auf ihn genommen hatte. Eine Kraft, deren Herkunft er sich nicht erklären konnte. Der Mann rülpste und packte die halbleere Flasche fest am Hals. Er hatte ein Geräusch gehört. Es kam aus dem Treppenhaus und verstummte direkt vor seiner Tür. Er erwartete keinen Besuch. Cilly hatte er zum Teufel gejagt. Vielleicht war es auch umgekehrt gewesen. Seinen Hang zum Alkohol hatte sie ja nie akzeptieren wollen. Aber blieb einem Mann, über dem die Schatten des Dämonischen hingen, etwas anderes übrig, als sich nach Strich und Faden zu besaufen? Das Leben war zum… Seine sich selbst bemitleidenden Gedanken wurden in eine neue Richtung gezwungen. Er fröstelte. Dabei lief ihm der Schweiß in Strömen über Gesicht und Rücken. Was war das? Da machte sich doch jemand an der Tür zu schaffen! Kein Zweifel, jemand wollte zu ihm! Aber nicht auf dem üblichen Weg. Es mußte ein Einbrecher sein. Oder Schlimmeres. Jeder konnte von draußen sehen, daß in seiner Wohnung Licht brannte. Welcher Dieb stahl sich ausgerechnet in bewohnte Räume? Außerdem gab es bei ihm nichts zu holen außer Whisky, und auch von dem hatte er nur noch zwei Flaschen. Terry Bogart blickte auf seine Hände, die den gläsernen Hals umkrallten. Eine prächtige Waffe. Besonders der dickwandige Boden war geeignet, mächtige Beulen wachsen zu lassen. Mit grimmigem Grinsen erhob er sich, befeuchtete noch einmal die ewig durstige Kehle und schlich zur Wohnungstür. Der Halunke, der ihn überraschen wollte, sollte selbst das
blaue Wunder erleben! Schon wollte er nach der Klinke greifen, als sich die Tür geräuschlos öffnete. Terry Bogart erschrak heftig, war aber geistesgegenwärtig genug, sich mit einem raschen Schritt im äußersten Winkel zu verbergen. Automatisch hob er die Flasche zum Schlag. Der Rest des Whiskys rann in dünnem Strahl auf ihn herab und durchnäßte ihn. Er unterdrückte einen Fluch. Eine singende Stimme lachte. »Eine wunderliche Taufe, Bogart, fürwahr. Meiner Erinnerung nach verwendet man dafür normalerweise Wasser, obwohl ich Blut für sinnvoller halte. Schönes warmes, lebendiges Blut. Aber Schnaps? Was für ein Einfall!« Terry Bogart sah einen runzligen Mann in den Flur treten. Dieser Greis stellte keine Gefahr dar. Er vergaß, auf welche Weise sich der Fremde Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatte. Er kannte ihn nicht. Und doch wußte jener seinen Namen, obwohl er draußen an der Klingel kein Namensschild befestigt hatte. Er verstand es nicht. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Er brachte es tatsächlich fertig, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. Der Alte zeigte ein dünnes Lächeln. Sein Blick wanderte an dem hochgereckten Arm entlang und saugte sich an der nun leeren Flasche fest. »Nehmen Sie doch den Arm herunter«, sagte er. »Und dann schauen Sie in den Spiegel. So naß, wie Sie sind, sehen Sie aus wie ein Idiot. Oder wie eine Wasserleiche. Wie gefällt Ihnen dieser Gedanke? Sie werden eine prächtige Leiche abgeben. So etwas kann man immer brauchen.« Terry Bogart erbleichte. Ein Irrer! Ohne Zweifel hatte er es
mit einem Geisteskranken zu tun. Diese Burschen waren unberechenbar. Körperlich war ihm das Männchen zwar unterlegen, aber vielleicht hatte es ein Fläschchen mit Säure mitgebracht. Oder einen Revolver. »Verschwinden Sie!« krächzte er mühsam. Der Alte rührte sich nicht von der Stelle. Terry Bogart senkte den Arm. Seine Finger öffneten sich. Die Flasche zerklirrte auf dem Fußboden. Das Geräusch ließ ihn zusammenzucken. »Ich werde verschwinden«, hörte er den Greis sagen. »Aber nicht allein, Bogart. Sie werden mich begleiten.« »Ich denke nicht daran«, wehrte sich der Jüngere. »Wir haben nichts miteinander zu schaffen.« »Jetzt schon«, widersprach der Eindringling. »Ich mag keine Zeugen.« »Zeugen?« fragte Terry Bogart verständnislos. »Die Nacht in der Waterford Road«, half der Greis nach. Terry Bogart spürte, wie sich die Haut auf seinem ganzen Körper zusammenzog. Sie wurde ihm zwei Nummern zu eng. Ein scheußliches Gefühl. »Der Mord an der italienischen Fürstin?« flüsterte er. »Was haben Sie damit zu tun?« Statt einer Antwort breitete der Fremde die Arme aus. In derselben Sekunde floß schwarzes Tuch an ihm herab. Es bedeckte ihn wie ein weiter Umhang und ließ nur noch sein Gesicht frei. Er sah wie ein schwarzer Mönch aus. Bogart taumelte zurück. Dieses Wesen hatte er in jener Nacht aus dem erleuchteten Fenster auf die Straße schweben sehen! Er irrte sich bestimmt nicht. Es gab nicht zwei Erscheinungen, die sich derart glichen. Wie hatte der Kerl das angestellt? Es mußte ein Trick dabei sein. Dieses faltige, abgetakelte Individuum konnte doch un-
möglich über magische Kräfte verfügen. Auf jeden Fall nahm er sich vor, sich schleunigst mit Inspektor Gallinger in Verbindung zu setzen. Die Wahrheit mußte heraus. Er wollte sie los sein. Auch wenn sie ihn einsperrten. Ein paar Wochen Gefängnis waren immer noch besser, als wenn er überschnappte. »Das ist es, was ich meine«, krächzte die unheimliche Gestalt. »Sie haben die Absicht zu reden. Das ist nicht gut. Nicht für mich, aber vor allem nicht für Sie. In unser beider Interesse sollten wir das verhindern. Gehen Sie freiwillig mit mir oder soll ich Sie dazu überreden?« Terry Bogart setzte zweimal zu einer wütenden Antwort an. Erst beim dritten Versuch gehorchte ihm seine Stimme. Aber auch jetzt klang es nicht sehr energisch, als er sagte: »Wenn Sie mich nicht sofort in Ruhe lassen, werden Sie mich kennenlernen! Wenn man mich ärgert, kann ich nämlich ungemütlich werden!« »Und unberechenbar.« Der Mann in der schwarzen Kutte nickte. »Sie verlieren sehr schnell die Übersicht. Sie sind nicht der Mann, der sich unter Druck an ein gegebenes Versprechen halten würde. Deshalb bleibt mir nur diese eine Möglichkeit.« Seine recht Hand huschte unter den Umhang und kam als Faust wieder zum Vorschein. Bogart glaubte, der andere wollte ihn schlagen und riß instinktiv seine Deckung hoch. Doch der Alte öffnete die Hand und donnerte: »Sieh hin! Sieh genau hin, und du wirst deine Zukunft erkennen!« Zunächst sah er lediglich einen schwarzen Stein auf der flachen Hand. Erst nach einigen Sekunden erkannte er die goldene Kette, die zwischen den Fingern nach unten baumelte. Sie pendelte hin und her. Immer hin und wieder zurück. Eintönig, einschläfernd, hypnotisch.
Terry Bogart riß sich zusammen. Was hatte der Lump vor? Wollte er ihn außer Gefecht setzen? Nicht mit diesem Taschenspielertrick. Nicht mit ihm. Er zwang sich, nur den Stein anzusehen, und wurde aufmerksam. Hatte er dieses Schmuckstück, das wie ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen aussah, nicht in der Zeitung abgebildet gesehen? Natürlich! Diese Kette war der ermordeten Fürstin geraubt worden. Wenn dieser Kerl sie besaß, mußte er auch etwas mit dem Verbrechen zu tun haben. Wieder dachte er an den riesigen Vogel, der auf die Straße schwebte und in Richtung des Friedhofs verschwunden war. Ihm graute. Er ahnte, daß er vor einem Mörder stand. Auch vor seinem Mörder? Ich muß fort von hier, dachte er gehetzt. Doch alles, was er tun konnte, war, den schwarzfunkelnden Stein anzustarren. Es war wie ein böser Bann. Er konnte den Blick nicht lösen. Er sah Bilder auf der blanken Oberfläche. Erst nur undeutlich und verschwommen, dann immer klarer, bis sich alle Einzelheiten unterscheiden ließen. Der unheimliche Mann hatte davon gesprochen, daß er seine eigene Zukunft erkennen sollte. Ja, da drin in dem Stein spiegelte er sich selbst. Aber er befand sich nicht in seiner Wohnung, sondern an einem Ort, den er nicht kannte. Er hatte ihn nie zuvor gesehen und spürte auch kein Verlangen danach, denn er wußte plötzlich mit erschreckender Klarheit, daß er dort sterben sollte. Er unterschied gräßliche Bilder. Das war mehr, als Terry Bogart zu ertragen vermochte. Er schrie gellend auf, während sich eine eiskalte Hand mit Nachdruck auf seine Schulter legte und ihn durch die Tür ins Treppenhaus zerrte.
* Ich war sicher, den Burschen zum Reden zu bringen. Notfalls mußte ich ihn ein wenig härter anfassen, als das sonst meine Gewohnheit ist. Die Anschriften sämtlicher Zeugen kannte ich aus den mir zur Verfügung gestellten Unterlagen. So auch die von Terry Bogart. Er wohnte in der Vauxhall Street in Lambeth in einem der Betonsilos, die für die Industriearbeiter errichtet worden waren. Nicht gerade die exklusivste Gegend, aber auch nicht die anrüchigste. Ich erreichte mein Ziel nach einer zwanzigminütigen Fahrt und stellte meinen Wagen auf einem bewachten Parkplatz ab. Die letzten zweihundert Schritte ging ich zu Fuß. Es roch nach Gewitter. Die Luft war elektrisch geladen. Ich konnte die Spannung förmlich spüren. Ich überquerte die Straße. Neben mir radierten Reifen auf dem Asphalt. Ein Mann fluchte schauderhaft. Ich schüttelte den Kopf. Meinetwegen hätte er wirklich nicht zu bremsen brauchen. Er war weit genug entfernt, daß ich mit Leichtigkeit vor ihm die andere Straßenseite erreicht hätte. Doch auch die anderen Autofahrer benahmen sich seltsam. Alle bremsten so abrupt, daß diejenigen, die sich nicht angegurtet hatten, mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe knallten. Der Lärm war unbeschreiblich, das Chaos perfekt. Daß bei diesen Manövern nicht wenigstens zwei Autos aufeinandergefahren waren, war erstaunlich. Der gesamte motorisierte Verkehr war wie eingefroren. Aber die Menschen reagierten um so beweglicher. Schläge wurden aufgerissen. Bleiche, verstörte Gesichter kamen zum
Vorschein. Verständnisloses Kopfschütteln. Ein paar öffneten die Motorhaube ihres streikenden Fahrzeugs und beschäftigten sich mehr oder weniger hilflos mit dem Innenleben ihres Lieblings. Mir war längst klargeworden, daß der plötzliche Stau andere Ursachen haben mußte. Anscheinend hatte gar niemand auf die Bremse getreten. Die Wagen waren von allein stehengeblieben. Blitzschnell kam mir die Behauptung Raimondo Galdos' in den Sinn. Angeblich hatte auch Bogarts Wagen gestreikt, und das ausgerechnet kurz bevor der noch nicht identifizierte Vogelmensch aufgetaucht war. Nach seinem Verschwinden war das Auto angeblich wieder normal weitergefahren, als wenn nichts gewesen wäre. Mein Kopf ruckte nach oben. Unwillkürlich ging ich in eine geduckte Abwehrhaltung und ließ meinen Blick an den Fassaden entlangwandern. Fast war ich sicher, daß sich hier Galdos' Worte bestätigen würden. Aber nichts geschah. Es löste sich kein mächtiger Schatten von einem der Fenster. Kein Schrei ertönte. Kein dämonisches Wesen raste auf mich oder ein anderes Opfer herab. Sollte alles nur ein Zufall sein? Daran glaubte ich nicht. Es gab merkwürdige, unglaubliche Zufälle, aber keinen wie diesen. Während die Autofahrer sich gestikulierend und schimpfend um ihre fahrbaren Untersätze bemühten und jemand sogar nach der Polizei schrie, machten die wenigen Fußgänger ihre Witze über die Nöte der Betroffenen. Ein Halbwüchsiger versuchte sogar einen Griff in den Fond eines Volvo. Der auf der Rückbank liegende Recorder hatte es ihm anscheinend angetan. Er sah meinen beobachtenden Blick und gab schleunigst Fer-
sengeld. Der Besitzer des Volvo, der mit seinem Vordermann diskutierte, hatte von dem Zwischenfall nichts bemerkt. Ein Mädchen lief hinter seinem Ball her, der ihm über die Fahrbahn gerollt war. Nun lag er auf der gegenüberliegenden Seite direkt vor dem Schaufenster eines Friseurgeschäftes. Zwei Männer kreuzten den Weg der Kleinen. Das Mädchen bückte sich hastig und drückte den Ball an sich. Als es aufblickte, erstarrte es. Dann begann es heftig zu weinen und rannte davon, während die beiden Männer, die in der Kleidung überhaupt nicht zueinander paßten, weitergingen. Beunruhigt blickte ich den beiden nach. Etwas, was ich noch nicht definieren konnte, gefiel mir nicht. Ich glaubte, einen der Männer, den jüngeren, zu kennen, vermochte aber nicht, ihn einzuordnen. Der andere wandte seinen Kopf. Ich sah nun sein Gesicht. Es war alt und runzlig. Daß er überhaupt noch lebte, war erstaunlich. Lediglich in seinen dunklen Augen glomm etwas. Ich nahm mir vor, diese beiden Zeitgenossen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, bevor ich sie aus den Augen verlor. Ich setzte mich in Laufschritt, doch da geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Der Autoverkehr begann wieder zu fließen. Es war, als hätte ein Kind den Schalter für ein mechanisches Spielzeug betätigt. Die Motoren brummten auf. Die, die noch hinter dem Steuer saßen, fuhren weiter, die anderen lärmten erfreut, weil sie sich einbildeten, selbst den Fehler behoben zu haben. Ich war jetzt beinahe sicher, daß diese beiden Burschen dort drüben mit diesem Phänomen etwas zu tun hatten. Ich mußte sie haben. Vor mir schrie das kleine Mädchen auf. Es klammerte sich an seinem Ball fest. Es wollte ihn keinesfalls ein zweites Mal verlieren. Und von beiden Seiten rasten die Autos auf die Kleine
zu. Ich sprintete los. Das Kind war zu keiner Bewegung fähig. Mit langen Sätzen hielt ich auf die Kleine zu. Ich mußte es noch schaffen. Es war fast ausgeschlossen. Warum bremste denn jetzt niemand? Von links kam ein Lancia, von rechts ein Bentley und gleich dahinter ein Lieferwagen, der zum Überholen ansetzte. Berufsfahrer haben es immer eilig. Dieser hier konnte das Kind nicht sehen. Es wurde durch den Lancia verdeckt. Die letzten drei Yards legte ich durch einen Sprung zurück. Ich prallte gegen das Mädchen, riß es mit mir fort und erhielt von hinten einen mörderischen Schlag, der mich ein paar Schritte vorwärts katapultierte. Ich nahm die Kleine mit mir und sah vor mir einen drohenden Kühler auftauchen. Mit dem Mädchen, das wie eine willenlose Puppe in meinen Armen hing, vollführte ich eine Rolle auf dem Asphalt. Ich ließ nicht los und achtete im Fallen darauf, daß ich das Kind nicht in Mitleidenschaft zog. Das führte dazu, daß ich den Aufprall mit den Armen nicht abfangen konnte. Ich knallte mit voller Wucht auf die Seite und spürte einen stechenden Schmerz in der linken Hüfte. Aber noch hatte ich längst nicht gewonnen. Noch immer brauste die Gefahr von allen Seiten auf uns zu. Dicht neben uns ging ein Schuß los. Verdammt! Jetzt wurde es so richtig gemütlich. * Ralf Göpfert wurde von Unruhe geplagt. Hatte er sich zwischen zwei Stühle gesetzt? Was ging ihn dieser Kinsey an? Was hatte er mit dem Mord an der Italienerin zu schaffen? Beide Fragen konnte er mit einem uneingeschränkten
»Nichts!« beantworten. Sollte er deswegen seine ersehnte Mitgliedschaft in dem geheimen Zirkel aufs Spiel setzen? War er nicht ein Narr? Der Meister war bewundernswert, das würde auch Kinsey zugeben müssen. Sein Wissen, seine Fähigkeiten mußten jeden in Erstaunen versetzen. Und vor allem war der Mann kein Verbrecher. Es war nicht verboten, mit den Toten zu sprechen und sich ihre Kenntnisse von den unerforschten Reichen zunutze zu machen. Daraus erwuchs keinem ein Schaden. Daß die Gemeinschaft der Eingeweihten begrenzt bleiben mußte, sah Ralf Göpfert ein. Gerade deshalb brannte er darauf, endlich dazuzugehören. Seine Freunde in Deutschland würden staunen, wenn er mit Wissen über die Geheimnisse des Lebens und des Todes beladen zu ihnen heimkehrte. Ganz klar, daß er dann der Größte unter ihnen war. Die Augen des jungen Mannes leuchteten. Er wollte nichts Böses. Sein Trachten galt der Erforschung okkulter Geheimnisse. Dafür war er bereit, einiges zu riskieren. Mac Kinsey war ein Störfaktor. Er konnte alles verderben. Ein unangenehmer Schnüffler, der seine Mitgliedschaft gefährdete. Und wenn er sich einfach nicht an die Vereinbarung hielt? Wenn er nicht zur verabredeten Zeit beim Friedhof erschien? Kinsey würde ihn sicher nicht wiederfinden. Er hatte keine Ahnung, wo er wohnte oder gar, wo sich der Zirkel befand. Da konnte er lange suchen. Göpfert grinste triumphierend. Dann allerdings dachte er an den Schädel, den zu beschaffen er nur noch wenige Stunden Zeit hatte. Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Der Friedhof war noch viel zu belebt. Außerdem würde ihn dort Kinsey erwischen.
Es hatte auch wenig Zweck, sein Glück auf einem anderen Totenacker zu versuchen. Die Zeit reichte nicht. Sie lief ihm davon. Also sah es fast so aus, daß er noch für Mac Kinseys Hilfe dankbar sein mußte. Hoffentlich legte ihn der nicht herein. Eigentlich hatte er keinen unredlichen Eindruck auf ihn gemacht. Allerdings einen äußerst entschlossenen. Wenn der sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte er es bestimmt durch. Ralf Göpfert hatte zwar wenig Lust, nur Mittel zum Zweck zu sein, wenn er sich andererseits überlegte, daß das Beschaffen eines menschlichen Schädels noch die leichteste Prüfungsaufgabe war, so amüsierte ihn der Gedanke, den Spieß umzudrehen und Kinsey als Kehrbesen für seine Schwierigkeiten zu benutzen. Warum nicht? Der Typ sollte schon noch merken, daß man auch in der Gegend des Teutoburger Waldes, aus der er stammte, sein Gehirn zu benutzen verstand. »Ich komme in den Zirkel hinein, Mac Kinsey«, flüsterte er. »Mit oder ohne deine Hilfe. Du hast nicht immer das Glück, daß ich ausgerechnet in ein Grab falle.« Er dachte dabei an sein Erlebnis während seiner Flucht durch den Friedhof. Daß er schon bald in seinem eigenen Grab liegen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. * Das Mädchen schluchzte. Ich igelte es mit meinem Körper ein und rollte quer über die Fahrbahn. Um mich herum stank es nach Gummi und Benzin. Irgendwie erreichte ich den rettenden Bürgersteig. Ein paar Arme zerrten mich über die Bordsteinkante. Eine hohe Frauenstimme kreischte in mein Ohr.
Erst später erfuhr ich, daß es sich um die Mutter des Mädchens handelte, die einen hysterischen Anfall aus Angst um ihr einziges Kind erlitten hatte. Als ich mich mit zerschundenen Gliedern erhob, hielt ich die Kleine noch immer bombenfest. Sie war jetzt ganz still, nur in ihren braunen Augen sah ich heiße Tränen. Ich übergab sie der Frau, die sie wimmernd in die Arme schloß. »Mein Ball!« hörte ich das Mädchen jammern. Ich sah ein paar bunte Plastikfetzen auf der Straße verteilt. Nun wußte ich auch, was der angebliche Schuß zu bedeuten gehabt hatte. Irgendein Autoreifen hatte das Spielzeug unter lautem Knall zerplatzen lassen. Ich atmete ein paarmal tief durch, um frische Luft durch meine Lungen zu pumpen. Mir war noch etwas schwindlig. Wenn ich den vorbeibrausenden Verkehr beobachtete, begriff ich noch nicht ganz, wie wir dort mit verhältnismäßig heiler Haut hindurchgekommen waren. Endlich fiel mir wieder der runzlige Mann mit den höhnischen Augen ein. Er war mit seinem jüngeren Begleiter in der Zwischenzeit verschwunden, aber ich mußte ihn wiederfinden. Unbedingt! Hastig zog ich eine Pfundnote aus der Tasche und reichte sie der Frau. »Kaufen Sie ihr einen neuen Ball und noch etwas Hübsches dazu«, sagte ich. »Sie hat ein Trostpflaster verdient.« Ich wartete keine Antwort ab, sondern spurtete los. Jede Bewegung bereitete mir fast unerträgliche Schmerzen. Ich träumte von einer heißen Dusche mit anschließender Massage. Mattila, der Georgier, verstand dieses Geschäft besonders perfekt. Er nahm einen fast brutal in die Mangel, aber nach fünfzehn Minuten fühlte ich mich regelmäßig wie neu geboren.
Doch ich hatte weder für die Dusche noch für Mattila Zeit. Ich mußte den geheimnisvollen Alten aufspüren. Weit konnte er noch nicht sein. Ich biß die Zähne aufeinander und rannte bis zur nächsten Kreuzung. Meine Augen waren scharf, aber die Gesuchten entdeckten auch sie nicht. Also weiter. Ich keuchte vorwärts. Unterwegs überlegte ich mir, was ich eigentlich gegen die beiden vorbringen wollte. Ich hatte gegen sie nichts in der Hand außer meinem vagen, unbegründeten Verdacht. Aber ich baute darauf, daß das Verhalten der Verdächtigen schon eine Handhabe gegen sie bieten würde. Doch erst mußte ich sie einmal haben. Der Alte hatte ausgesehen, als wäre er weit über neunzig. Ein Hundertmetersprinter war er also vermutlich nicht mehr. Von dem Jüngeren hatte ich nur kurz das Profil gesehen. Ich schätzte ihn auf höchstens dreißig, doch er hatte heruntergekommen ausgesehen. Wahrscheinlich trank er zuviel. Innerhalb einer Minute, länger hatte das Abenteuer zwischen Kühlern und Autoreifen keinesfalls gedauert, konnten die beiden nicht vom Erdboden verschwunden sein. Trotzdem hatte es den Anschein. Schließlich gab ich auf und kehrte ärgerlich an den Ausgangspunkt zurück. Der Stau hatte sich längst aufgelöst. Auch die Frau mit dem Mädchen war nicht mehr zu sehen. Ich erinnerte mich, daß die Kleine vor den beiden Fremden Angst gehabt hatte. Nur deshalb war sie davon und blind über die Straße gerannt. Ich konnte sie nicht mehr befragen und hätte es wahrscheinlich auch nicht getan. Sie hatte genug durchgemacht. Ich baute auf Terry Bogart. Er mußte mir helfen, die Spur wiederzufinden. Ob er wollte oder nicht.
Ich ging zu dem Haus Nr. 17, das ich aus der Akte kannte, und kletterte drei Treppen hinauf. Allmählich gewöhnte ich mich an die Schmerzen in meinem Körper. Etwas anderes blieb mir auch nicht übrig. Ich studierte sämtliche Namensschilder. Eine Tür ohne Schild blieb übrig. Die mußte es sein. Erst nach dem dritten erfolglosen Klingeln merkte ich, daß sie lediglich angelehnt war. Ich stieß sie entschlossen auf und machte mich auf eine neue Gaunerei gefaßt. Bogart mußte nach meiner Überzeugung ein schlechtes Gewissen haben. Er hatte gelogen und konnte sich denken, warum ich ihn aufsuchte. Der erwartete Angriff blieb aus. Dafür empfing ich unangenehme Strahlen, die mich warnten. Hier war eine dämonische Aktivität im Gange oder war es zumindest vor ganz kurzer Zeit gewesen. Ich mußte auf der Hut sein. Jedenfalls gab es keinen besseren Beweis, daß ich mich tatsächlich auf der richtigen Fährte befand. Bogarts Leugnen würde nichts nützen. Es roch intensiv nach Schnaps. Ich stellte fest, daß der Flurläufer mit Whisky getränkt war. Die Scherben einer Flasche lagen verstreut. Ich kontrollierte sämtliche Räume. Nichts. Im Wohnzimmer mußte sich noch vor kurzem jemand aufgehalten haben. Eine Langspielplatte drehte sich. Der Tonabnehmer schwamm ungefähr auf dem mittleren Drittel, der Ton war gedrosselt. Auch hier war der Whiskygeruch nicht zu leugnen. Auf einem Sessel lag die Zeitung vom Vortag. Auf der aufgeschlagenen Seite wurde berichtet, daß der verhaftete, des Mordes an Renata de Angelis verdächtigte Raimondo Galdos noch immer beharrlich seine Schuld leugnete.
Der Wohnungsinhaber war ausgeflogen. Vielleicht kam er gleich zurück. Alles deutete darauf hin, daß er nur auf einen Sprung fortgegangen war. Er wollte wohl nur Zigaretten besorgen. Oder neuen Schnaps. Und der verschüttete Whisky in der Diele? Die Scherben? Sah das nicht eher nach einem gewaltigen Schreck aus? Oder nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung? Nicht unbedingt. Es konnte ein Zeichen von Volltrunkenheit sein. Galdos hatte ja behauptet, Bogart sei auch hinterm Steuer alles andere als nüchtern gewesen. Nachdem ich auch sämtliche Fenster geöffnet und sicherheitshalber die Fassade kontrolliert hatte, kehrte ich zur Wohnungstür zurück. Hier bückte ich mich, um die Scherben genauer zu untersuchen. Vielleicht fand ich Blut, wenn das auch unterschiedliche Ursachen haben konnte. Ich kam nicht weit. Als ich das Geräusch hinter mir hörte, packte mich bereits eine derbe Faust von hinten am Kragen und riß mich in die Höhe. Ich hatte durch die bisherigen Fehlschläge eine gehörige Wut im Bauch. Die bekam der Angreifer zu spüren. Ich knallte ihm, nachdem ich mich mit einer harten Drehung seinem Griff entwunden hatte, die Faust gegen den Kinnwinkel und war bereit, den nächsten Haken folgen zu lassen. Doch der Mann sah nicht so aus, als könnte er mir ernstlich gefährlich werden. Fett, schmierig, mit angegrauten, ungepflegten Haaren stand er vor mir und bemühte sich, die Fassung wiederzugewinnen. An Gegenwehr dachte er nicht. Sein weinerliches Gesicht zeigte die Angst vor dem nächsten Treffer. Es tat mir leid, ihn so hart angefaßt zu haben, und ich sagte es ihm. »Ich suche Terry Bogart. Sind Sie das?«
Der Schmierige verneinte. »Ich bin der Hausmeister, Sir. Sind Sie von der Polizei?« »Wie kommen Sie darauf? Hat Bogart öfter Schwierigkeiten mit den Gesetzen?« Der Mann hob die Schultern. »Davon weiß ich nichts. Ich kümmere mich nicht um das Privatleben der Mieter. Nur, als ich die entsetzlichen Schreie hörte, dachte ich mir gleich, daß da etwas nicht in Ordnung sein könne. Ich wollte schon früher nachsehen, aber dann kam Mr. Bogart die Treppe herunter, und ich sah, daß ihm nichts passiert war.« »Schreie?« hakte ich nach. »Und Sie glaubten, Bogart habe sie ausgestoßen?« »Ich bin ganz sicher, Sir. Es hörte sich grauenvoll an. Ich muß gestehen, daß ich es mit der Angst zu tun bekam. So habe ich hoch nie einen Menschen schreien hören. Es war, als würde ihn jemand umbringen. Zum Glück habe ich mich geirrt.« »War er allein, als er ging?« Der Hausmeister schüttelte eifrig den Kopf. Allmählich erholte er sich von seinem Schrecken. »Ein älterer Herr war bei ihm. Schon sehr alt. Bogart mußte ihn führen, obwohl es eher aussah, als wäre es umgekehrt.« Ich war elektrisiert und ließ mir das Aussehen Terry Bogarts und jenes anderen Mannes beschreiben. Sekunden später wußte ich, daß es sich um die beiden handelte, die ich vergeblich verfolgt hatte. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder hatte Bogart Dreck am Stecken, was seine wissentliche Falschaussage zu bestätigen schien. Oder aber er war nicht der Partner dieses geheimnisvollen Greises mit den höhnischen Augen. Dann befand er sich jetzt zweifellos in Gefahr, Dafür sprachen auch die Schreie, die er angeblich ausgestoßen hatte.
In beiden Fällen aber war eines klar. Ich mußte sie finden. * Ich brannte darauf, den Alten und Terry Bogart aufzuspüren. Aber vorher mußte ich eine Verabredung einhalten, die ich für mindestens genauso wichtig hielt. Ich wollte mich mit dem jungen Deutschen auf dem Brompton Cemetery treffen. Ich holte meinen MG, fuhr auf dem schnellsten Wege nach Whitehall und traf dort meinen Chef. Sir Horatio Merriman rümpfte die Nase, als er mich sah. »In diesem Aufzug würden Sie bei der Marine nie Karriere machen, Mac«, stellte er fest. »Tun Sie mal etwas für Ihr Äußeres. Sie sehen ja schauderhaft aus.« »Das ist mir auch schon aufgefallen, Sir«, gab ich zurück. »Ich werde unverzüglich Gegenmaßnahmen einleiten. Haben Sie den Schädel?« Er nickte stolz. »Sie finden ihn in Ihrem Büro. Aber wollen Sie mir nicht erzählen, was passiert ist?« Ich wollte schon, aber ich hatte keine Zeit mehr. Es würde mindestens eine Stunde dauern, bis ich mich wieder in einen Menschen zurückverwandelt hatte. Danach mußte ich gleich wieder fort. Ich duschte sehr heiß und wechselte meine Kleidung. Dann raste ich in mein Büro, wo mich der Totenkopf und Sir Horatio erwarteten. »Soviel Zeit muß sein«, beharrte mein Chef. »Okay!« knirschte ich. Dann mußte ich eben auf der Fahrt zum Friedhof das Tempolimit ignorieren. Ich berichtete knapp, was ich in der Zwischenzeit erlebt hatte. Ich begann bei der Aussage der Diener Hopper und Höllmark und meiner Vermutung, der Schwede habe den Vogel-
menschen gesehen, von dem auch Galdos gesprochen hatte. Dann folgte das Verkehrschaos auf der Straße, dem ich nur mit viel Glück mit heiler Haut entronnen war. Ich zeigte die Parallele zu dem streikenden Fahrzeug von Terry Bogart und erwähnte, daß dieser wichtige Zeuge verschwunden war. Ob freiwillig oder durch den Zwang des merkwürdigen Greises, wußte auch ich noch nicht zu sagen. »Galdos ist unschuldig«, schloß ich meinen Rapport ab. »Meine bisherigen Ermittlungen bestätigen seine Behauptungen voll und ganz.« »Dann rede ich mit Gallinger, daß er den Mann auf freien Fuß setzt.« »Nein«, widersprach ich. Sir Horatio sah mich verwundert an. »Nein?« »Der tatsächliche Mörder soll noch in dem Glauben bleiben, daß wir die von ihm gelegte falsche Spur verfolgen. Solange er sich unentdeckt fühlt, komme ich leichter an ihn heran.« »Und dieser Schädel«, er deutete auf den grinsenden Totenkopf, den ich soeben in Papier wickelte und in einer Plastiktüte versenkte, »soll Ihnen dabei helfen?« »Ich hoffe es, Sir. Ich hoffe es stark.« * Bis zuletzt fürchtete ich, daß Ralf Göpfert unsere Verabredung platzen lassen würde. Als ich ihn dann zwischen den düsteren Gräbern entdeckte, war ich erleichtert und hoffte nur, daß ich mich nicht hier an etwas Harmlosem festbiß, während Terry Bogart gleichzeitig Hilfe benötigte. Göpfert sah bleich aus. Seine Zweifel waren ihm anzusehen. Ich hätte wetten können, daß er mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt hatte, mich zu versetzen.
»Haben Sie ihn?« flüsterte er hastig. Ich drückte ihm die Plastiktüte in die Hand, und er überzeugte sich voller Mißtrauen, daß er nicht betrogen wurde. Er schien äußerst zufrieden zu sein. »Woher haben Sie ihn?« wollte er wissen. Ich winkte ab. »Die Tatsache dürfte Ihnen genügen, Ralf. Fahren wir los. Es wird bald ein Gewitter geben. Dann gibt es bestimmt Stauungen im Zentrum.« Ich war davon überzeugt, daß sich der anrüchige Zirkel irgendwo im äußersten Osten der Stadt befand. Mein Partner aber nannte eine Adresse in Chelsea. Das war nicht weit. Ralf Göpfert war begeistert von meinem Oldtimer und erkundigte sich, wo man solch einen Wagen noch bekommen könne und was er koste. Er redete während der Fahrt überhaupt ziemlich viel, und ich wurde den Verdacht nicht los, daß er damit etwas vertuschen wollte. Führte er etwas gegen mich im Schilde? Innerhalb der letzten drei Stunden hätte er eine Menge arrangieren können. Ich beschloß abzuwarten und ihm weiterhin mit einer angemessenen Portion Mißtrauen zu begegnen. Es lag an ihm, es zu zerstreuen. Er ließ mich an einem schmalbrüstigen Giebelhaus in der Uverdale Road vorbeifahren und flüsterte fast ehrfürchtig: »Dort ist es.« Ich drosselte das Tempo nicht, um nicht aufzufallen, aber ich hatte genügend Zeit, mir die ganze Umgebung und auch ein paar Einzelheiten des Hauses einzuprägen. Menschen sah ich keine. Ich fuhr bis zum Elektrizitätswerk, fand dort einen Parkplatz und ließ Ralf Göpfert aussteigen. »Ich warte hier auf Sie«, erinnerte ich. »Jetzt sind Sie an der
Reihe, sich zu revanchieren. Versuchen Sie alles, um mir Zutritt zum Zirkel zu verschaffen. Und nehmen Sie sich in acht! Ich möchte nicht, daß Ihnen etwas zustößt.« Er blickte mich fragend an. »Was soll mir zustoßen? Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, daß man mich ausstößt. Das will ich nicht hoffen. Ich habe ja den Schädel, und die anderen Bedingungen werde ich hoffentlich auch noch erfüllen.« »Wenn ich mit Ihnen zufrieden bin, werde ich Ihnen dabei wieder helfen«, versprach ich. »Eine Hand wäscht die andere.« Er preßte die Plastiktüte an sich, und ich sah ihm nach, bis er in die Uverdale Road einbog und meinen Blicken entschwand. Fernes Grollen kündigte das Gewitter an. Die ersten schweren Tropfen klatschten auf das Pflaster. Es war dunkel. Die Nacht war hereingebrochen. Ich wußte, daß es lange dauern konnte, ehe der Deutsche zurückkehrte, aber ich wurde angenehm überrascht. Schon nach weniger als einer Stunde hörte ich eilige Schritte, und gleich darauf tauchte Göpfert auf. Er war außer Atem. Sein Gesicht glühte, und seine Augen leuchteten begeistert. »Ich habe es geschafft«, rief er schon von weitem. »Der Meister hat seine Einwilligung gegeben, Sie zu sehen. Natürlich dürfen Sie noch nicht an den großen Beschwörungen teilnehmen. Sie müssen auch erst einige Prüfungen über sich ergehen lassen. Aber darauf legen Sie ja wohl ohnehin keinen Wert.« Ich legte mich nicht fest. Zunächst war ich nur auf diesen Meister gespannt und vor allem auf den Anatas, den er angeblich trug. Ich hatte mir das Aussehen jenes Schmuckstücks, das bei Raimondo Galdos gefunden worden war, genau eingeprägt. »Gehen wir!« sagte ich. Den Wagen ließ ich stehen.
Regen strömte inzwischen herab und durchnäßte uns völlig. Blitze zuckten fahl nieder. Das Donnerrollen riß überhaupt nicht ab. Das Gewitter schien genau über dem Giebelhaus in der Uverdale Road zu toben. Ein Blitz fuhr direkt ins Dach, richtete jedoch keinen Schaden an. Das war schon merkwürdig. Die schmale Seitentür, zu der mich Göpfert führte, war verschlossen. Ich merkte mir sein Klopfzeichen, rechnete allerdings damit, daß es von Zeit zu Zeit geändert wurde. Das sollte mich nicht davon abhalten, bei Bedarf unter Verzicht auf einen Willkommensgruß in das geheimnisvolle Gebäude einzudringen. Wir brauchten nicht lange zu warten. Man wußte ja, daß der Deutsche gleich wiederkommen wollte. Schlurfende Schritte wurden laut. Ein Riegel kreischte gequält auf. Von der Rückseite wurde ein Schlüssel ins Schloß gestoßen und herumgedreht. Die Tür öffnete sich. Aber nur so weit, daß ich ein funkelndes Augenpaar und dazwischen eine spitze, tropfende Nase erkannte. »Mach endlich auf!« forderte Ralf Göpfert ungeduldig. Er wollte mir wohl zeigen, daß er in diesem Haus schon eine gewisse Stufe erklommen hatte und sich von einem dienstbaren Geist nicht mehr zu gängeln lassen brauchte. Gehorsam flog die Tür auf. Trotzdem sah ich auch jetzt nicht mehr als die Augen mit der Nase. Im Haus war es stockfinster, und von der entfernten Laterne fiel nur schwacher Lichtschein herüber. Hinzu kam, daß der Bursche – oder handelte es sich um eine Frau? – von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet war. Unwillkürlich dachte ich an den Vogelmenschen mit seinen schwarzen Schwingen. Ich nahm mir vor, diese Erscheinung nicht hinter meinen Rücken zu lassen. Diese Absicht verfolgte sie offenbar auch nicht, denn sie
wandte sich ab, ohne ein Wort zu sagen, und schlurfte davon. Göpfert gab, mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Das hätte ich ohnehin getan. Die Tür hinter mir schloß sich knarrend. Sie flog im selben Moment ins Schloß, als wiederum ein Donnerschlag das Haus erzittern ließ. Ich war versucht, meine kleine Stablampe anzuknipsen, wollte aber nicht gleich zu Anfang Unwillen erregen. Elektrisches Licht war innerhalb des Zirkels zweifellos verpönt. So war ich auf die, allerdings rasche, Blitzfolge angewiesen, um mich wenigstens leidlich zu orientieren. Ich war enttäuscht. Außer einem kahlen Gang, der anscheinend kein Ende nahm, war nichts zu erkennen. Sogar die schwarze Gestalt vor uns verschwand zwischen zwei Blitzen. Wir waren allein. Und trotzdem spürte ich deutlich eine fremde Gegenwart. Wir wurden beobachtet. Jemand leitete uns, ohne daß wir ihn sahen. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich. Ich fühlte mich wie in der Höhle des Löwen und wußte nicht, was mich erwartete. Dieser Eindruck fand durch ein plötzliches Grollen seine Bestätigung. Es rührte diesmal nicht vom Donner her, sondern entstammte zweifellos der Kehle eines Tieres. Ich dachte daran, was passieren würde, wenn plötzlich von beiden Seiten des engen Ganges Löwen auf uns einstürmten. Dieser Gedanke war keinesfalls abwegig. Ich hatte erlebt, wie ein indischer Fakir es fertigbrachte, mittels einer winzigen Elfenbeinfigur jenen getöteten Elefanten zu beschwören, aus dessen Stoßzahn die Figur geschnitzt worden war. Der Dickhäuter war zu schrecklichem Leben erwacht. Solche Dinge waren möglich. Warum nicht auch hier?
Ich sah Ralf Göpferts Grinsen im Dunkeln nicht, aber ich hörte, wie er beruhigend sagte: »Das ist nur Hellof, der Hund des Meisters. Er ist zahm, aber er wittert jeden Fremden. Außerdem fürchtet er sich vor Gewittern.« Ich schwieg. Der Name Hellof kam mir bekannt vor. Im Moment konnte ich aber nichts mit ihm anfangen. Der nächste Blitz zeigte ihn mir. Es war ein Ungetüm. Schwarz wie das Böse, riesig wie ein Neufundländer, aber von undefinierbarer Rasse. Er kauerte vor einer Tür. Als wir uns näherten, erhob er sich und knurrte, doch er griff uns nicht an und ließ uns passieren. »Hunde, die bellen, beißen nicht«, meinte Göpfert. Meine Erfahrungen waren anderer Art, aber ich mußte zugeben, daß das Sprichwort zumindest diesmal zutreffend gewesen war. Ich blickte mich ein paarmal um. Die grünlich glimmenden Augen des Hundes verfolgten uns. Es war kein angenehmes Gefühl. * Endlich hielt der Deutsche an. »Wir dürfen von jetzt an nicht mehr sprechen«, hauchte er. »Nur, falls der Meister das Wort an uns richtet.« »Wenn es sein muß!« knurrte ich. Ich behielt mir vor, mich an diese Regel zu halten oder auch nicht. Ein paar Fragen würde ich an diesen geheimnisvollen Knaben sicherlich haben. Ich wollte die Tür öffnen, vor der wir standen, aber Ralf Göpfert riß erschrocken meine Hand von der Klinke. »Bei Dagon! Man wird uns hereinbitten, wenn es an der Zeit ist. Sie müssen sich schon an die einfachsten Regeln halten, wenn Sie mir keinen Ärger machen wollen.«
Wem ich Ärger machen wollte, mußte sich erst noch zeigen. Vorläufig wartete ich voll grimmiger Ungeduld auf die Dinge, die da kommen sollten. Ich preßte mein Ohr gegen die Tür. Außer einem verschwommenen Gemurmel hörte ich jedoch nichts. Ein vernünftiges Wort war nicht zu verstehen. Ich schätzte, daß eine halbe Stunde verging. Leute, die sich wichtig machen wollten, ließen ihre Gäste ungebührlich lange vor verschlossener Tür stehen. Der Meister wurde mir nicht sympathischer. Dann endlich war es soweit. Die Tür schwang von selbst zurück und gab den Blick in einen düsteren Raum frei, in dem ich aber immerhin einen Kreis von Menschen erkennen konnte. Sie kauerten mit gekreuzten Beinen auf dem Boden und hielten den Kopf gesenkt. Nicht einer wandte uns sein Gesicht zu. Es handelte sich um Frauen und Männer unterschiedlichsten Alters. Sie alle waren aus dem gleichen Grund hier wie Ralf Göpfert. Sie wollten tiefer in die Geheimnisse des Lebens und des Todes eindringen. Einer sollte ihnen dabei helfen. Der Meister. Aber wer war das? Ich trat zwei Schritte vor und hörte hinter mir ein verzweifeltes Seufzen. Offenbar war ich schon wieder zu voreilig gewesen. Aber allmählich ging mir dieses Spielchen über die Hutschnur. Ich war hier, um ein scheußliches Verbrechen aufzuklären, und hatte nicht die Absicht, mich zum Narren machen zu lassen. Erst jetzt erkannte ich zwei Lücken im Kreis. Sie befanden sich so, daß vier Personen dazwischensaßen, und waren offenbar für uns freigehalten worden.
Ich wandte mich um, aber Göpfert setzte sich bereits in Bewegung, und auch ich erhielt einen inneren Befehl, meinen Platz einzunehmen. Ich war geschockt. Wer auch immer hier die Fäden in der Hand hielt, er verfügte über Kräfte, vor denen ich mich hüten mußte. Es durfte ihm nicht gelingen, meinen Willen lahmzulegen. Ich nahm den Platz ein und konzentrierte mich auf den Mittelpunkt des Kreises. Ich vermied es, an meine Aufgabe zu denken, denn es war immerhin möglich, daß der Meister in der Lage war, meine Gedanken abzuzapfen. Mehr als zuvor war ich davon überzeugt, daß der junge Göpfert in einen Kreis geraten war, der für ihn und möglicherweise für alle, die hier saßen, noch sehr gefährlich werden konnte. Keiner gab einen Laut von sich. Niemand kümmerte sich um uns. Und doch war mir klar, daß wir im Mittelpunkt des Interesses standen. Nach langer Pause hob mein Gegenüber auf der anderen Seite des Kreises den Kopf und sprach mich an: »Ich begrüße dich im Kreis der Suchenden, Fremdling. Wenn du ein Wissender werden willst, hast du einen schwierigen Weg vor dir. Niemand zwingt dich, ihn zu gehen. Das mußt du selbst entscheiden. Nur wer stark ist, erträgt den Kontakt zu den Geistern. Deshalb muß ich dir Prüfungen auferlegen. Mit ihnen wirst du stufenweise in unsere Geheimnisse eingeweiht. Ich werde nichts von dir verlangen, dessen du nicht fähig bist. Du mußt nur gehorsam sein.« Ich nahm die Worte in mich auf und bemühte mich, meine Überraschung zu verbergen. Der Meister war jener Alte, den ich in Begleitung von Terry Bogart gesehen hatte!
* Diesmal wirkten seine Augen allerdings nicht höhnisch, sondern beinahe väterlich gütig. Ich konnte verstehen, daß Ralf Göpfert ihm keine Untat zutraute, und vielleicht hatte er mit dieser Meinung sogar recht. Terry Bogart entdeckte ich nicht in der Runde. Das beunruhigte mich. Ich sagte mir doch, daß der Kreis, in dem ich mich augenblicklich befand, nicht der einzige des Zirkels war. Ich hatte erst die unterste Stufe kennengelernt. Bogart war vielleicht schon weiter fortgeschritten. Ich schwieg und begnügte mich als Antwort mit einem Kopfnicken, das der Meister als Einverständnis wertete. Er zeigte keinen Argwohn, denn er wandte sich nun an meinen Begleiter und stellte ihm die nächste Aufgabe. »Du wirst mir ein Herz bringen. Das Herz eines Menschen. Es muß unversehrt sein, und ich brauche es schnell. Schon morgen. Hast du mich verstanden?« »Ja, Meister«, bestätigte der Deutsche. Mir lief es kalt den Rücken herunter. Man konnte ein menschliches Herz auf zweierlei Weise besorgen: entweder öffnete man ein frisches Grab oder man beging kurzerhand einen Mord. Für welche Methode würde sich Göpfert entscheiden? Für den Alten war dieses Thema abgeschlossen. Er schritt nun zu einer Demonstration, an der ich teilhaben durfte. Ich erwartete keine Sensation. Er stellte den Schädel vor sich auf den Boden. Wahrscheinlich wollte er dessen Augenhöhlen zum Glühen bringen. In diesem Halbdunkel ein billiger Trick, zumal er genügend Zeit gehabt hatte, alles Erforderliche vorzubereiten. Die Anwesenden beobachteten fasziniert jede Bewegung des
Greises. Sie bildeten eine willige, kritiklose Gefolgschaft. Ich fragte mich, ob sie alle schon dem Meister ein Menschenherz gebracht hatten. Schauerlicher Gedanke! Der Alte hob die dürren Hände, und jetzt sah ich, daß er in der rechten eine Kette hielt. Ein schwarzer Stein hing an ihr. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Überraschungsruf. Es war das ›Auge der sieben Sehnsüchte‹ oder zumindest eine perfekte Nachbildung. Der Mann ließ den Anatas hin- und herschwingen. Unmerklich folgten die Köpfe der Teilnehmer diesem Rhythmus. Ich selbst mußte mich mit aller Gewalt dagegen wehren. Ich spürte, daß mich der Greis fixierte. Da hielt ich es für richtig, diese Bewegung nachzuvollziehen, um nicht aufzufallen. Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete ich den Mann scharf. Mir durfte nichts entgehen. Ich mußte wissen, ob ich es mit einem harmlosen Gauner oder mit einem ernstzunehmenden Magier zu tun hatte. Der Alte hielt den Anatas etwa zwei Fuß hoch über den Totenkopf, als er fragte: »Kannst du mich hören?« Etwas Unglaubliches geschah, und ich konnte schwören, daß kein Trick dabei war. Der Schädel klappte seinen Unterkiefer nach unten, schnappte ihn wieder zu, und dann antwortete er mit eigentümlicher Stimme, während sich sein bleckender Mund dabei bewegte: »Ich höre dich, Meister. Was hast du für Wünsche?« Ein Aufstöhnen ging durch die Runde. Alle waren von diesem Schauspiel zutiefst beeindruckt. Ich auch. Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Ich kannte die Stimme, mit der der Schädel sprach. Sie war unverwechselbar und gehörte einem gewissen Bram Rishey.
Zugegeben, ich hatte Rishey als ausgekochten Halunken kennengelernt. Ihm wäre es ohne weiteres zuzutrauen gewesen, daß er sich mit dem Alten für einen gewinnträchtigen Coup zusammentat. Nur eine Kleinigkeit hinderte ihn daran – Bram Rishey war vor knapp zwei Jahren im Zuchthaus von Dartmoor gestorben. Das wußte ich genau. »Du mußt wissen«, fuhr der Alte fort, »daß ich keine Unwürdigen in diesen Kreis aufnehmen will. Deshalb frage ich dich, ob einer unter uns ist, der das Vertrauen der Geister mißbraucht?« Ralf Göpfert zuckte zusammen. Auch mir war klar, daß die Situation, in der wir uns befanden, alles andere als gemütlich war. Dieser Schädel mit der Stimme eines Toten würde die Wahrheit ans Licht bringen. Bei einer Entlarvung hatte ich die empörte Meute gegen mich. Für Erklärungen, daß ich ihren verehrten Meister für einen Mörder hielt, blieb dann keine Zeit. Vielleicht nahmen sie die günstige Gelegenheit wahr, ihm mein Herz zu übergeben. Ich ballte die Fäuste und suchte mit den Blicken diejenigen, denen ich die größten Körperkräfte zutraute. An die mußte ich mich halten. Mit dem Rest wurde ich dann schon irgendwie fertig, falls der Greis nicht erneut in seine Trickkiste griff. Ich wechselte mit dem Deutschen einen unauffälligen Blick. Konnte ich mit seiner Unterstützung rechnen? Fühlte auch er sich durch unseren Handel mit dem Schädel bedroht? Die nächsten Sekunden würden es zeigen. Ich spannte sämtliche Muskeln und war bereit. Dieser Raum am Ende eines dunklen Ganges war die reinste Mausefalle. Wenn ich nicht schnell reagierte, gab es daraus kein Entkommen.
Da klappte der Schädel seine Kiefer auseinander, um die Antwort zu geben. * Terry Bogart hing in Ketten. Er verging fast vor Angst. Er wußte, daß die augenblicklichen Qualen erst die Vorstufe waren. Er hatte in dem schwarzen Stein seine Zukunft gesehen. Er würde sterben. Grausam und voller Schmerzen. Warum brachte man ihn nicht gleich um? Warum ließ man ihn zuvor noch das Entsetzen auskosten? Was hatte er denn verbrochen? Mindestens tausendmal hatte er schon verflucht, daß er sich bei der Polizei gemeldet hatte. Seine kleinlichen Rachegefühle hatten ihn nun hierher in diese entsetzliche Folterkammer gebracht, die er lebend nicht mehr verlassen sollte. Oder doch? Wenn er sich richtig erinnerte, war der Schauplatz seines Todes ein anderer gewesen. Auf offener Straße war sein Körper buchstäblich zerfetzt worden. Er konnte dieses fürchterliche Bild nicht vergessen. Besaß er doch noch eine Chance? Wenn der Stein die Wahrheit gezeigt hatte, würde er auf irgendeine Weise seinen stählernen Fesseln, mit denen er an die Wand geschmiedet war, entrinnen. Dann aber würde sein erster Weg zur Polizei führen. Er würde die Wahrheit sagen. Sollten sie ihn doch einsperren. Ihm konnte gar nichts Besseres passieren. Dann befand er sich wenigstens in Sicherheit vor diesem Wahnsinnigen. Die Zeit tropfte dahin. Niemand ließ sich blicken. Nur vor der Tür hörte er hin und wieder ein drohendes Knurren. Er
wurde bewacht. Terry Bogart lachte irre auf. Bewacht? Wozu? Kein Mensch war in der Lage, sich von diesen Fesseln loszureißen. Flucht war völlig ausgeschlossen. Und von außen erhielt er auch keine Hilfe. Niemand ahnte, wo er sich befand. Zudem besaß er keine Freunde, die seinetwegen etwas riskiert hätten. Sogar Cilly hatte er verloren. Cilly! Im Grunde war sie an seinem ganzen Unglück schuld. Hätte sie ihm nicht den Laufpaß gegeben, hätte er sich in jener Nacht nicht betrunken. Dann wäre er auch nie diesem Italiener begegnet und hätte keine Dinge beobachtet, die ihm besser unbekannt geblieben wären. Cilly, du Luder! Und dich habe ich einmal geliebt! dachte er. Der Gefesselte steigerte sich in diesen Haßgedanken hinein. Er ahnte nicht, daß dies beabsichtigt war. Sein Denken wurde beeinflußt, ohne daß ihm das bewußt wurde. Ein böser Bann war über ihn geworfen. Wenn er alles Unheil auf Cilly herabwünschte, ertrug er die Schmerzen, die ihn peinigten, leichter. Die böse Saat ging auf. * Nur Ralf Göpfert blickte zu mir herüber, als der Schädel zu sprechen begann. Sonst niemand. Auch der Alte nicht. »Sei unbesorgt, Meister«, tönte der Totenkopf. »Alle, die sich hier versammelt haben, sind dir und den Geistern treu ergeben.« Der Kiefer klappte zu. Der Schädel verstummte. Die Spannung fiel nur langsam von mir ab. Wie gut hatte ich mich in der Gewalt gehabt? War dem Greis meine Unruhe nicht aufgefallen?
Offensichtlich nicht. Logisch betrachtet, ließ sich meine Spannung auch mit einer Art Prüfungsangst erklären. Wahrscheinlich hatten alle Anwesenden insgeheim befürchtet, für nicht würdig befunden zu werden. Der Alte ließ den Anatas in seiner Tasche verschwinden. Er richtete sich auf und erhob sich. Die Teilnehmer, von denen ich keinen kannte, deren Gesichter ich mir aber möglichst genau einprägte, verließen stumm den Raum. Auch Ralf Göpfert folgte ihnen und forderte mich mit einem stummen Blick auf, es ihm gleichzutun. Ich zögerte, und der Meister blickte mich ungeduldig an. »Hast du für mich keine Aufgabe, Meister?« fragte ich scheinheilig. Ich mußte meine Rolle spielen. Der Greis lächelte dünn. »Du bist sehr ungeduldig. Zu den Geistern führen nur kleine Schritte. Ungestüm würde sie erschrecken. Dann verschließen sie sich vor uns. Komme wieder, und wenn deine Zeit reif ist, werde ich dich den Weg des Wissens leiten.« Das waren milde Worte, aber ich hatte den Verdacht, daß dieser Mann auch anders zu reden verstand. Ich war entschlossen, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen. Ich folgte Ralf Göpfert. Die anderen gingen vor uns. »Sind Sie verrückt?« tadelte er mich. »Reicht die Aufgabe nicht, die er mir aufgebrummt hat? Wo, um alles in der Welt, soll ich ein menschliches Herz auftreiben?« »Überlegen Sie halt mal.« Er machte sich die Sache einfacher. »Was Sie heute erlebt haben, ist mehr wert als nur einen Totenschädel.« »Aha! Ich höre die Nachtigall marschieren. Sie verlassen sich also wieder auf meine Unterstützung?«
»Sie haben es versprochen«, sagte er aufsässig. Das gab ich zu. Es war mir auch lieber, wenn ich die Dinge in die Hand nahm, als daß der Junge mit den Gesetzen in Konflikt geriet. Noch konnte ich ihm nicht beweisen, daß der Meister ein gefährlicher Verbrecher war. Meine eigene Überzeugung war zu wenig. Wir passierten wieder den knurrenden Hund und verließen schließlich das Haus. Ich hatte mir den Weg im Dunkeln genau eingeprägt, denn es gab verschiedene Abzweigungen des Ganges. Ich wollte sicher sein, auch ohne Begleitung und ungebeten zu dem Alten vordringen zu können. »Was nun?« fragte Göpfert, als wir wieder auf der Straße standen. Der Regen hatte zwar nachgelassen, doch es gewitterte nach wie vor. »Ich bringe Sie nach Hause«, schlug ich vor. »In dieser Nacht unternehmen wir nichts mehr. Wir haben den ganzen morgigen Tag Zeit.« Der andere sah mich an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. »Wollen Sie etwa bei hellichtem Tage ein menschliches Herz besorgen?« erkundigte er sich fassungslos. »Es wird jedenfalls pünktlich zur Stelle sein«, versicherte ich mit dem Brustton der Überzeugung. »Langsam werden Sie mir unheimlich, Mr. Kinsey.« Ich lachte. »Ich? Und Ihr Meister kommt Ihnen wohl ganz geheuer vor, wie? Verrückte Welt!« Er bewohnte zwei Zimmer in Kensington, wo ich ihn ablieferte. Ich war froh, nun wenigstens seine Adresse zu kennen. Anschließend konnte ich mir nicht verkneifen, Sir Horatio wenigstens noch aus dem Bett zu klingeln.
»Sie, Mac? Wissen Sie, wie spät es ist?« »Keine Ahnung, Sir. Deswegen rufe ich Sie ja an. Ich konnte die Zeitansage nicht erreichen. Im Ernst, es gibt ein Double vom ›Auge der sieben Sehnsüchte‹, und in ihm scheint eine magische Kraft zu wohnen. Ich wette, daß sich ein freundlicher, alter Mann, den ich heute kennengelernt habe, den Schmuck der Fürstin auf gewaltsame Weise unter den Nagel gerissen hat.« »Und der Stein von Galdos? Die Experten haben ihm absolute Echtheit bescheinigt.« »Mag sein, daß es ein echter Anatas ist, aber keiner mit magischen Fähigkeiten. Für meinen Mann dürfte es kein Problem sein, sich kostbare Edelsteine zu beschaffen. Der führt Ihnen Kunststücke vor, da bleibt Ihnen die Sprache weg. In dem Zusammenhang habe ich eine Frage. Woher stammte eigentlich der Schädel, den Sie mir besorgt haben?« »Besser, wenn Sie's nicht wissen, Mac. Sie sind doch so zart besaitet.« Die Stimme des Chefs klang ganz schön sarkastisch. »Wie haben Sie das herausgefunden, Sir? Es war mein ängstlich gehütetes Geheimnis. Also woher stammt er?« »Er gehörte einem gewissen Bram Rishey. Sie müßten ihn eigentlich noch kennen, Mac. Er wurde wegen Doppelmordes verurteilt und starb vor zwei Jahren in Dartmoor.« Ich schluckte. Das war mehr als Taschenspielerei. Der Alte hatte das unmöglich wissen können. Bram Rishey hatte wirklich aus dem Schädel zu uns gesprochen! » Jetzt hatte ich den Beweis, daß ich den Greis nicht unterschätzen durfte. Ich erklärte Sir Horatio Merriman, daß ich bis morgen ein menschliches Herz benötigte. »Ich habe an eine Organbank gedacht. Das Herz darf krank sein, aber es muß unbeschädigt sein.«
Mein Chef schnaufte und erinnerte mich, daß es da eine Menge Schwierigkeiten gäbe, was mich aber nicht beeindruckte. Ich wußte, daß er sofort nach unserem Gespräch sämtliche Hebel in Bewegung setzen würde. Ich verließ die Telefonzelle und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause. Zumindest hatte ich das vor. Aber ich hatte jene Kräfte nicht einkalkuliert, die das mit aller Macht verhinderten. * Terry Bogart war wie im Fieber. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Das einzige Gefühl, das ihn beherrschte, war Haß. Er fühlte sich verraten. Verraten von Cilly, die er geliebt hatte. Warum konnte er sich nicht mehr an ihr rächen? Er hing in eisernen Schellen. Hilflos. Er konnte nur noch auf seinen Tod warten. Dabei wußte er nicht einmal genau, warum er sterben sollte. Er konnte sich nur denken, daß er gehindert werden sollte, der Polizei die Wahrheit zu sagen. Der Italiener war kein Mörder. Den wahrhaft Schuldigen würde man nie zur Verantwortung ziehen. Er war zu mächtig. Als die Geräusche vor der Tür lebhafter wurden, erschrak Terry Bogart. Jetzt war es soweit! Der ekelhafte Alte, in dessen dürren Fingern eine unbeschreibliche Kraft wohnte, kam, um ihn umzubringen! Nicht irgendwo auf offener Straße, sondern hier an Ort und Stelle. Die Tür öffnete sich, und tatsächlich schob sich der Greis herein. Sein Blick war voller Hohn und Haß. Seine Freundlichkeit war von ihm abgefallen.
Der Gefangene zerrte wie verrückt an seinen Fesseln, doch das war sinnlos. Er hätte schon über dämonische Kräfte verfügen müssen, um ihrer Herr zu werden. Als er trotzdem vornüber fiel und dem Greis vor die Füße stürzte, konnte er es nicht fassen. Schon bald aber wurde ihm klar, daß er die Befreiung nicht seinen eigenen Bemühungen zu verdanken hatte und daß sie auch nicht die Rettung bedeutete. Der Greis lachte knöchern. »Steh auf!« befahl er, und als Terry Bogart gehorchte, fuhr er eisig fort: »Ich habe dir den Tod versprochen, denn dein Wissen ist mir unangenehm. Nekrotius läßt sich nicht von dir seine Rachepläne durchkreuzen.« »Rache?« wimmerte der andere. »Aber ich habe Ihnen doch nichts getan. Ich…« »Schweig!« donnerte der Greis. »Ich habe lange auf diese Stunde gewartet. Mir wurde schlimmes Leid zugefügt. Dafür werde ich mich jetzt rächen. Ich will die Menschen geißeln. Sie sollen spüren, wie es ist, wenn man das Liebste verliert.« Terry Bogart verstand von allem nur, daß er sterben sollte. Er fehlte um Gnade, küßte das Gewand des Alten und hob die zerschundenen Hände. Nekrotius stieß ihn verächtlich zurück. »Ich habe mir etwas Besonderes für dich ausgedacht. Du kannst deinem Tod entrinnen, aber du mußt etwas für mich tun. Ich will, daß du einen Menschen tötest. Für mich. Du sollst ein Werkzeug meiner Rache sein. Als Mörder kannst du dann auch nicht mehr der Polizei die Wahrheit sagen.« Terry Bogart glaubte zu träumen. Er sollte töten? Das konnte er nicht. Und doch! Wenn das der einzige Weg war, sein eigenes Leben zu retten? »Wenn – wenn ich es tue«, flüsterte er mühsam, »geben Sie
mich dann auch bestimmt frei?« »Wenn du es schaffst, hörst du nie wieder von mir.« »Und wen? Wen soll ich umbringen?« »Das überlasse ich dir. Es ist mir gleichgültig, wer an der Reihe ist. Ich will nur meine Rache. Die Menschen sollen vor mir zittern. Töte! Aber tue es richtig.« Terry Bogart wischte sich über die Augen. Träumte er? War alles nur Einbildung? Wo war er überhaupt? Das war doch seine Wohnung, in der er sich befand! Und dieser fürchterliche Kerl war auch verschwunden! Er wollte erleichtert aufatmen. Da fiel sein Blick auf seine aufgeschundenen Handgelenke. Sie bluteten noch. Die Verletzungen rührten von den Eisenfesseln her. Da wußte er, daß alles grausame Wahrheit war. Er fühlte heftige Schmerzen an der Stirn. Wahrscheinlich hatte er dort einen Schlag erhalten. Er tastete danach, konnte aber keine Beule feststellen. Erschöpft schleppte er sich ins Bad und nahm sich im Spiegel in Augenschein. Er prallte zurück. Auf seiner Stirn prangte der eingebrannte Abdruck eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen. Genauso hatte der schwarze Stein ausgesehen, in dem ihm Nekrotius sein Schicksal vorgegaukelt hatte. Er schrie auf. Nein! Er wollte nicht sterben. Warum er? Warum nicht ein anderer? Haß flammte in ihm auf. Töten! Ich muß töten, um gerettet zu sein! Er kehrte ins Wohnzimmer zurück. Sein Gesicht war eine starre Maske, als er den Telefonhörer abhob und eine Nummer wählte. Als nach geraumer Zeit auf der anderen Seite ein »Hallo« ertönte, fragte er mit belegter Stimme: »Bist du's, Cilly? Ich muß
dich unbedingt sprechen. Können wir uns gleich treffen?« * Cilly Brown war blond, jung und süß. Über zwei Jahre war sie mit Terry Bogart gegangen und hatte sich eingebildet, ihn vom Alkohol wegzubringen, damit sie endlich heiraten konnten. Es war ihr nicht gelungen. Da hatte sie kapituliert und Terry vor die Wahl gestellt: – entweder der Schnaps oder sie! Terry Bogart hatte erschrockene Kuhaugen gemacht, ihre Taille umfaßt, dabei die Whiskyflasche aber nicht losgelassen. Da war Cilly gegangen. Für immer, wie sie ihm versichert hatte. Und jetzt rief Terry wieder an. Mitten in der Nacht! Wollte sie sprechen! Der war doch verrückt. Wozu sollte das führen? Er änderte sich ja doch nicht. Er hätte es ihr schon hundertmal versprochen und nie gehalten. Aber seine Stimme hatte irgendwie verzweifelt geklungen. Vielleicht hatte er begriffen, daß sie Ernst machte. Ein heilsamer Schock konnte Wunder wirken. Unter Umständen sogar bei Terry. Cilly hatte sich noch immer ein zärtliches Gefühl für diesen Mann aufbewahrt. Sie fand, daß sie ihm diese letzte Chance geben müßte, und ahnte nicht, daß Terry Bogart etwas ganz anderes im Sinn hatte, als sich mit ihr auszusöhnen. Also kleidete sie sich hastig an, ordnete vor dem Spiegel flüchtig ihre Haare und putzte sich in aller Eile die Zähne. Sie dachte an einen Versöhnungskuß. Zur gleichen Zeit holte Terry Bogart ein scharfgeschliffenes Messer aus der Küche und ließ es in der Innentasche seines
Sakkos verschwinden. Er lächelte grausam. Mit dem Wagen fuhr er zu dem vereinbarten Treffpunkt. Er befand sich ganz in der Nähe von Cillys Wohnung. Sie konnte zu Fuß kommen. Er sah sie schon von weitem. Sie war zierlich und fror offenbar, denn es nieselte noch immer. Von Zeit zu Zeit grollte auch noch Donner. Dir wird gleich warm werden, Baby, dachte der Mann, während er den Wagen knapp vor der Wartenden zum Stehen brachte. Auf seiner Stirn brannte das Mal des Hasses, das Nekrotius ihm aufgedrückt hatte. Er beeinflußte sein Denken. Er konnte sich nicht davon befreien. Er stieg aus und ging auf Cilly Brown zu. Er sieht merkwürdig aus, dachte das Mädchen beklommen. Hat er wieder getrunken? Seine Augen haben einen seltsamen Glanz. Direkt zum Fürchten. Und wie er seine Haare gekämmt hat! Bis tief in die Stirn hinein. Als wollte er sein Gesicht verstecken. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Hallo!« begrüßte sie ihn. »Was gibt es denn so Wichtiges, daß du mich mitten in der Nacht aus dem Bett werfen mußtest?« Terry Bogart antwortete nicht. Er kam nur immer näher. Ein Windstoß blies seine Haare zur Seite. Cilly sah das blutige Mal auf seiner Stirn. Sie schrie gellend auf und hielt sich dann die Hand vor den Mund. Plötzlich wußte sie, daß etwas Unheimliches mit Terry geschehen sein mußte. Sie wollte davonlaufen, aber es ging nicht. Ihre Füße waren wie mit Bleiplatten beschwert. Und Terry kam immer näher. »Du bist schuld!« stieß er wild hervor. »Sieh mich an!«
Er reckte ihr seine Handgelenke entgegen, und sie entdeckte das rohe Fleisch. »O Gott!« stammelte sie entsetzt. Der Mann lachte brutal. »Der hilft dir jetzt auch nicht mehr. Du gehörst der anderen Seite, und ich stoße dich hinab. Ganz tief.« Er zog das Messer aus der Brusttasche und ließ die Klinge im Licht einer Laterne aufblitzen. Cilly drohte ohnmächtig zu werden. Gewaltsam riß sie sich zusammen. Sie mußte stark bleiben, sonst war sie rettungslos verloren. Sie wußte nicht, was in Terry gefahren war, sie begriff nur, daß er gekommen war, um sie umzubringen. Sein Haß mußte unendlich groß sein. »Tu's nicht!« schluchzte sie. Tränen rannen über ihr hübsches Gesicht. »Du mußt sterben«, kam es unerbittlich zurück. »Nekrotius hat es befohlen.« Nekrotius? Einer seiner Saufkumpane etwa? Sie kannte keinen mit diesem wunderlichen Namen. Sie hob die Hände zur Abwehr, doch das nützte ihr nichts. Terry Bogart riß mit einem wilden Aufschrei den Arm hoch. Wie ein Blitzstrahl leuchtete der Mordstahl auf. Dann zuckte er herab. * Ich gähnte. Ich war ganz schön geschlaucht. Der hinter mir liegende Tag war ziemlich ereignisreich gewesen. Ich war überzeugt, einen großen Schritt vorwärtsgekommen zu sein. Mir fehlten nur die Beweise. Außerdem machte ich mir Gedanken um Terry Bogart, Rai-
mondo Galdos' Entlastungszeugen. Wo war er geblieben? Lebte er überhaupt noch oder hatte der Alte ihn aus dem Weg geräumt? Ich spielte mit dem Gedanken, rasch noch an Bogarts Wohnung vorbeizufahren. Vielleicht war er längst zurückgekehrt. Da wurde ich auf andere Gedanken gebracht. Aus der Ferne wehte ein Schrei zu mir herüber. Er hörte sich an, als befände sich ein Mensch in höchster Not. Eine Frau. Fast jede Nacht geschehen in London gräßliche Verbrechen. Selten gibt es Zeugen, und wenn es welche gibt, dann halten sie sich lieber aus der Sache heraus. Zu leicht kann es geschehen, daß sie selbst in Mitleidenschaft gezogen werden. Ich sah es als einen Glücksfall an, eventuell eine Schurkerei verhindern zu können. Also drückte ich auf die Tube und ließ meinen MG einen Satz nach vorn machen. Der Schrei war schräg von links gekommen. Vermutlich von der Brücke. Ich mußte mich beeilen. Ich jagte den Wagen vorwärts, bog in die nächste Seitenstraße ein und sah die Brücke vor mir. Tatsächlich! Ich erkannte eine blonde Frau. Sie wurde halb von einem Mann verdeckt und dieser wiederum teilweise von einem Auto. Ich blendete die Scheinwerfer auf, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich hoffte, daß der Bursche die Frau dann nicht weiter belästigte und Fersengeld gab. Aber ich sah mich getäuscht. Der Kerl reagierte überhaupt nicht auf mein Signal. Jedenfalls nicht in der Weise, wie ich mir das vorstellte. Er hob den Arm, und nun sah ich, daß er ein Messer hatte. Gefährlich blitzte es auf. Er wollte die Frau umbringen! Ich trat fast das Bodenblech durch. Erleichtert nahm ich zur
Kenntnis, daß es dem Mädchen gelungen war, dem ersten Stoß zu entgehen. Es rannte davon, stolperte aber und fiel der Länge nach in eine riesige Pfütze, die sich durch den Regen gebildet hatte. Ich sprang aus dem Wagen und hetzte nun die beiden zu. Dabei tat ich alles, um den Kerl von seinem Opfer abzulenken. Er drehte sich auch wirklich kurz nach mir um und zeigte mir seine haßverzerrte Visage. Ich war starr vor Überraschung. Dieser Mann mußte Terry Bogart sein! Der Hausmeister hatte ihn mir exakt beschrieben, und von der Seite hatte ich ihn ja selbst gesehen. »Lassen Sie das Messer fallen, Bogart!« schrie ich durch die Nacht. Er stutzte. Dann lachte er höhnisch. Mich durchlief es eiskalt. Es war ein dämonisches Gelächter. So freuten sich nur jene Kreaturen, die im Banne des Bösen standen. Mit unglaublicher Schnelligkeit schleuderte er das Messer. Ich sah es kaum fliegen, lediglich seine blitzschnelle Armbewegung warnte mich. Im letzten Augenblick warf ich mich in den Dreck. Keine Sekunde zu früh. Die Mordwaffe schwirrte hautnah über mich hinweg, und als sie fünf Schritte weiter im Stamm einer Buche steckenblieb, flammte ein schrecklicher Blitz auf. Der Stamm spaltete sich und neigte sich zur Seite. Krachend stürzte er nieder. Genau in meine Richtung. Das war Teufelswerk! Ich katapultierte mich hoch und hechtete vorwärts. Trotzdem erwischte mich noch ein armstarker Ast an der linken Schulter und lähmte sie fast. Die Schmerzen ließen mich aufbrüllen. Bogart kreischte wie von Sinnen. Wütend stampfte er auf. Erst jetzt merkte er, daß sein Opfer dabei war, ihm zu entkom-
men. »Ich erwische dich!« schrie er. »Ich bringe dich um!« Er rannte zu dem Wagen, der offenbar ihm gehörte, aber dieser setzte sich, wie durch Geisterhand gesteuert, plötzlich in Bewegung. Während ich alles daransetzte, Terry Bogart einzuholen, versuchte er seinerseits, den Wagen aufzuhalten. Er packte dessen hintere Stoßstange, während er sich mit der freien Hand an einem Laternenmast festhielt. Auf diese Weise glaubte er, das Fahrzeug stoppen zu können. Das war lächerlich. Unter der Motorhaube kämpften achtzig Pferdestärken gegen ihn. Er hatte keine Chance gegen die Maschine. Er mußte loslassen. Das begriff Terry Bogart, aber zu seinem Entsetzen war er außerstande, die Stoßstange freizugeben. Er war daran wie festgeschmiedet. Auch von der Laterne kam er nicht frei. Er hing daran fest, während der durchstartende Wagen an seinen Gelenken zerrte und sie auszukugeln drohte. Terry Bogart schrie unter wahnsinnigen Schmerzen. »Nekrotius, hilf mir! Ich töte sie. Ich habe es dir versprochen. Hilf!« Es knackte und krachte in seinem gepeinigten Körper. Da endlich erkannte der Verzweifelte, daß die Stunde gekommen war, die er in dem schwarzen Stein vorhergesehen hatte. Der Augenblick seines qualvollen Todes. Ich war nur noch drei Schritte von ihm entfernt, als es geschah, was ich nicht mehr verhindern konnte. Ein Ruck ging durch Terry Bogarts Körper. Dann wurde er buchstäblich auseinandergerissen. *
Mir wurde übel. Ich konnte es nicht verhindern. Aus dem Wagen löste sich ein riesiger Schatten. Zwei ausdruckslose Augen starrten mich an. Dazwischen stach mir eine spitze Nase entgegen. Ich kannte dieses Gesicht. Es gehörte der Gestalt, die uns im Zirkel in Empfang genommen hatte. Jetzt breitete sie ihre Arme aus, und plötzlich stand jener Vogelmensch vor mir, nach dem ich gesucht hatte. Halb Vogelmensch, halb schwarzer Mönch! Also er, und nicht der Greis, hatte die Fürstin umgebracht! Oder waren beide ein und dieselbe Person? Ich riß meine Automatic heraus. Die Kreatur lachte nur und erhob sich in die Luft. Ihr Flügelschlag verursachte einen so starken Luftdruck, daß ich regelrecht zur Seite gefegt wurde und meine Schüsse fehlgingen. Als ich wieder fest auf den Füßen stand und genauer zielte, war die Entfernung für einen Treffer zu groß geworden. Der schwarze Dämon verschwand hinter den Dächern. Ich sah, daß das blonde Mädchen stehengeblieben war und sich anschickte, umzukehren. Hastig bedeckte ich den verstümmelten Leichnam mit meiner Jacke. Das war kein Anblick für eine Frau. Dabei entdeckte ich auf der Stirn des Toten den Abdruck eines fliegenden Vogels. Die Umrisse waren mir bekannt. Das »Auge der sieben Sehnsüchte«. Oder das schwarze Amulett, wie der teuflische Greis seinen Stein angeblich nannte. Kein anderer als er konnte Bogart den Stempel aufgedrückt haben! Das Mädchen kam zitternd näher. Es schluchzte. »Ist er…?« Sie sprach nicht weiter. Die Antwort war deutlich.
»Kannten Sie ihn?« erkundigte ich mich, während ich sie zu meinem Wagen führte. »Es ist Terry«, hauchte sie. »Wir waren einmal verlobt. Er wollte mich töten. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren war.« »Das Böse«, sagte ich hart. Ich kochte vor Wut. Das zweite Opfer. Ich kannte den Schuldigen und konnte ihm doch nichts nachweisen. Vor allem hatte ich noch keinen Weg gefunden, seine Macht zu brechen, die er anscheinend aus dem schwarzen Amulett bezog. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn weiter zu beobachten und auf den günstigen Augenblick zum Zuschlagen zu warten. Er würde kommen. Da war ich sicher. »Wer ist Nekrotius?« fragte ich. »Er hat diesen Namen gerufen, als er starb!« Die Blondine schüttelte hilflos den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Er sagte, er habe von ihm den Auftrag, mich umzubringen. Es war schrecklich.« Sie brach erneut in Tränen aus. Ich erfuhr, daß sie Cilly Brown hieß und ganz in der Nähe wohnte. Ich brachte sie nach Hause und informierte von dort meinen Boß, der über den neuerlichen Anruf mächtig entzückt war. Sein Knurren hörte sich jedenfalls lebensbedrohlich an. Er wollte seinen Unmut auf mich niederprasseln lassen, doch als er die Fakten erfuhr, hustete er und beteuerte, mir den Polizeikram vom Halse zu schaffen. »Gehen Sie jetzt endlich schlafen, Mac«, befahl er, »damit auch ich zur Ruhe komme. Wenn Sie unterwegs sind, passieren immer die schrecklichsten Dinge.« Ich glaubte nicht, daß für Cilly Brown weiterhin Gefahr bestand. Bogart lebte nicht mehr. Er hatte einen Mordauftrag er-
halten und sich den Menschen ausgesucht, den er hassen zu müssen glaubte. Mit ihm war für Raimondo Galdos die letzte Hoffnung gestorben, doch noch seine Unschuld zu beweisen. Cilly versicherte mir, daß ich mir um sie keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Zum Glück hatte sie das Scheußlichste nicht gesehen. Sie war noch jung. Sie würde nach einiger Zeit ihr gefährliches Abenteuer verkraftet haben. Ich verabschiedete mich, nicht ohne die Warnung ausgesprochen zu haben, Fremden gegenüber mißtrauisch zu sein und zumindest in dieser Nacht allenfalls der Polizei zu öffnen. Sicherheitshalber hinterließ ich ihr meine Telefonnummer, unter der sie mich auch nachts erreichen würde – falls ich mich nicht gerade mit diesem dämonischen Mönch und Vogelmenschen herumschlug. * Den folgenden Vormittag verbrachte ich damit, meine Privatbibliothek durchzuackern. Ich besaß eine Reihe seltener Schriften, die mir in meinem Kampf gegen unheimliche Mächte schon mehr als einmal wertvolle Dienste geleistet hatten. Ich glaubte mich zu erinnern, dort auch den Namen Hellof gelesen zu haben. Ich wühlte mich annähernd vier Stunden lang durch zum Teil uralte Schwarten. Dann hatte ich es gefunden, und ich fiel vor Überraschung fast vom Stuhl. Hellof, wie Ralf Göpfert den riesigen Hund des Greises genannt hatte, war bereits vor fünfhundert Jahren als Hund berühmt geworden. Berüchtigt mußte man wohl richtiger sagen, denn er war gesteinigt worden, nachdem er einen Säugling angefallen und verstümmelt hatte.
Na ja, im Mittelalter war man nicht zimperlich gewesen. Gerade bei uns in England hatte es eine Menge Hinrichtungen von Tieren gegeben. Er hatte, und jetzt kam der Hammer, einem alten Mönch namens Nekrotius gehört. Dieser hatte sich auf die wundersame Heilung von Kranken verstanden, die von den damaligen Ärzten längst aufgegeben worden waren. Die Unterlagen berichteten sogar davon, daß Nekrotius in einer Vollmondnacht sieben von der Pest befallene Menschen rettete. Er benützte dazu angeblich weder ein reichhaltiges Instrumentarium noch Zaubertränke oder Beschwörungsformeln. Ein Amulett, so stand geschrieben, verlieh ihm diese erstaunliche Kraft. Ein schwarzer Stein, der wie ein fliegender Vogel geformt war. Das war Teufelswerk! Sein Orden stieß ihn aus. Was er trieb war nicht gottgefällig. Ich konnte die schwer lesbare Schrift gar nicht so schnell studieren, wie sich meine Gedanken überschlugen. Hellof – Nekrotius – das Amulett – alles paßte zusammen. Der Mönch von einst mußte wieder oder noch immer unter uns weilen! Aber aus welchem Grund hatte er sich dem Bösen zugewandt? Warum benutzte er die Kraft des Amuletts nicht weiterhin, um damit zu helfen? Die Antwort erhielt ich auf einer der nächsten Seiten, nachdem ich mich durch ein paar uninteressante Absätze gequält hatte. Nekrotius hatte sehr weltlich gelebt und ein Verhältnis mit einer Magd gehabt. Daraus resultierte eine Tochter, die er über alles liebte. Sie erkrankte, und es gelang ihm nicht, sie zu retten. Sie starb unter seinen Händen. Zum ersten Mal hatte der Stein versagt.
Außer sich vor Schmerz und Trauer belegte ihn Nekrotius mit einem fürchterlichen Fluch und schleuderte ihn weit von sich. Von dieser Stunde an verlor sich die Spur von beiden. Vom Mönch und Magier und dem Amulett. Niemand konnte sagen, was aus ihnen geworden war. Ich richtete mich erschöpft auf. Ich glaubte, die Antwort zu kennen. Der Greis aus der Uverdale Road war Nekrotius! In ihm mußte der Haß gewachsen sein. Er hatte das verfluchte Amulett wieder aufgespürt, das inzwischen durch viele Hände gegangen war, bis es in den Besitz der Fürstin Renata de Angelis überging. Um wieder in den Besitz des unheilvollen Schmuckes zu kommen, brachte er die Italienerin um, raubte ihr den Stein, schuf mit dessen Kraft ein genaues Ebenbild und spielte es einem Unschuldigen zu, Raimondo Galdos,. Nur so konnte es sein. Nekrotius wollte das Böse. Er hatte Terry Bogart zum Mord angestiftet, und als dieser versagte, brachte er ihn um. Er würde weitere Untaten begehen, und alle, die ihm vertrauten, schwebten in höchster Gefahr. Den geheimen Zirkel hatte Nekrotius vermutlich nur deshalb ins Leben gerufen, um sich im Bedarfsfall vieler willfähriger Werkzeuge bedienen zu können. Ich dachte an Göpfert. Wie sollte ich dem Jungen klarmachen, zu welchem Teufelsspiel er mißbraucht wurde? Diese sogenannten Prüfungen waren eine Farce. Erst ein Schädel, dann ein Herz, vielleicht noch ein menschliches Gehirn, und irgendwann würde er einen Mord begehen müssen. Der Magier spann seine Netze, um den Tod seiner geliebten Tochter zu rächen. Eines positiven Gefühls war er längst nicht
mehr fähig. Ich mußte Ralf Göpfert auf dem schnellsten Wege warnen. Zu dumm, daß er über kein Telefon verfügte. Aber zum Glück kannte ich jetzt seine Adresse. Ich ließ die Bücher liegen und holte den MG. Ein unangenehmes Gefühl sagte mir, daß ich mich beeilen mußte. Der Deutsche steckte voller Wissensdurst. Und das ist immer gefährlich. Wie ich schon befürchtet hatte, war er nicht zu Hause. Von den Nachbarn konnte mir auch keiner weiterhelfen. Göpfert pflegte kaum Kontakte mit ihnen. »Der ist ein bißchen wunderlich«, erklärte einer. »Manchmal sieht er mich so merkwürdig an, als wäre ich ein Geist. Aber drüben auf dem Kontinent haben sie wohl alle eine kleine Macke.« Ich wußte, daß dem nicht so war. Aber etliche von unseren Bürgern träumten eben immer noch von der großen Zeit, in der England die Weltmeere beherrschte und sogar die Spanier das Fürchten lehrte. Jetzt war Nekrotius, der Mönch und Magier, aufgetaucht, um uns das Fürchten zu lehren. Ich hatte nicht die Absicht, dieses Spiel mitzuspielen. Noch hatte er keinen Verdacht. Bram Risheys Schädel hatte ihm genau die Antwort gegeben, die mir in den Kram paßte. Diese Chance mußte ich gegen Nekrotius nutzen. Ich hinterließ an Göpferts Wohnungstür einen Zettel mit der Bitte, er möge mich unverzüglich anrufen. Danach fuhr ich ins Büro, um Sir Horatio über meine neuesten Ermittlungen zu informieren. Ich war schon auf sein Gesicht gespannt, wenn ich ihm meinen Plan erklärte. *
Ich hatte nicht die Absicht, bis zur Nacht untätig zu sein. Ich brannte darauf zu erfahren, was in den Räumen des geheimen Zirkels vor sich ging. Auf irgend eine Weise hoffte ich, mir Zutritt zum Haus in der Uverdale Road zu verschaffen. Ich fuhr hin und umrundete den Häuserblock einige Male. Besonders nahm ich die Nachbarhäuser in Augenschein. Das linke war ein altes Lagerhaus, das mir auf den ersten Blick sehr geeignet für mein Unternehmen erschien. Rechts befand sich ein altersschwaches Gebäude, in dessen unterem Stockwerk eine Metzgerei untergebracht war. Darüber befanden sich Wohnungen. Ich steuerte auf das Lagerhaus zu. Das breite Tor mit dem Doppelflügel, war von innen verriegelt, doch ein leichter Druck genügte, um die Sperre zu lösen, ohne daß ich dabei ein nennenswertes Geräusch verursachte. Auf Diebe war man hier offensichtlich nicht eingestellt. Es roch nach Staub und Getreide. Es kitzelte beängstigend in meiner Nase, und ich mußte gewaltsam den aufsteigenden Niesreiz unterdrücken. Der Raum, in dem ich mich befand, war mit Ausnahme eines wackligen Schreibpultes und einiger zerbrochener Kisten leer. Das Kontor wurde nicht mehr benutzt. Das erklärte die nachlässige Sicherung. Um so besser. So konnte ich mich wenigstens in Ruhe und ungestört umsehen und nach einer Verbindung zum Nebenhaus suchen. Durch hohe, verschmutzte Fenster fiel genügend Licht in den Raum. Ich konnte mich ausgezeichnet orientieren. Ich stieg eine schmale, knarrende Treppe hoch und nahm die oberen Stockwerke in Augenschein.
Hier sorgte ich für Aufregung. Die Ratten hatten mit keinem lästigen Besucher gerechnet. Anfangs verkrochen sie sich pfeifend in irgendwelchen Löchern. Es dauerte aber nur wenige Augenblicke, da kamen sie wieder hervor und nahmen eine drohende Haltung ein. Sie waren entschlossen, ihren Machtbereich mit spitzen Zähnen zu verteidigen. Ich sah mich nach einem kräftigen Knüppel um, aber sie waren schneller als ich. Sechs sprangen mich gleichzeitig an, während mindestens die doppelte Anzahl auf allen Seiten mit tückisch funkelnden Augen auf das Ergebnis des ersten Sturmlaufes wartete. Ich trat um mich und brachte es auch fertig, die Biester zurückzutreiben. Mit langen Schritten setzte ich über das aufsässige Rudel hinweg und stieg den Rest der Treppe hinauf. Auch hier traf ich keinen Menschen an. Und doch hatte ich das Gefühl, als wäre erst vor kurzem jemand hiergewesen. Es roch nach scharfem Schweiß. Fast wie von einem Raubtier. Ich ging sehr sorgfältig bei der Suche zwischen alten Kisten und Fässern vor. Ich wollte keine unangenehme Überraschung erleben. Nichts. Das Haus war verlassen. Wahrscheinlich bereits seit Jahren. Ein Geräusch riß mich herum. Etwas war gegen eines der Fenster gestoßen. Ich sah gerade noch etwas Großes, Dunkles, das sich lautlos entfernte. Mit wenigen Schritten war ich am Fenster und versuchte, es aufzureißen. Es klemmte und gab nicht nach. Kurz entschlossen schlug ich mit dem Ellbogen die Scheibe hinaus. Durch das total Verdreckte Glas konnte ich lediglich
einen Schemen ausmachen. Die Scherben rasselten klirrend in den Hof und zerrissen die Stille. Vom Chelsea Creek wehte ein modriger Geruch herüber. Hastig entfernte ich die gefährlichen Glasstücke und beugte mich hinaus. Gerade verschwand- der Schemen zwischen den Giebeln auf der gegenüberliegenden Seite. Viel konnte ich nicht mehr von ihm erkennen, aber ich hätte geschworen, daß es sich um den merkwürdigen Vogelmenschen handelte, dem ich den Mord an der Fürstin zuschrieb. Hatte er mich beobachtet? Durch die Fenster war das kaum möglich, hier drinnen war es dunkel. Und wohin flog er jetzt? Was hatte er vor? Einen weiteren Mord? Ich glaubte nicht, daß bei Tage damit zu rechnen war. Diese Kreatur war ein Geschöpf der Nacht. Möglich, daß es auf dem Dach im Verborgenen genistet hatte und von mir aufgescheucht worden war. Ich konnte die Suche abbrechen. Es gab keine Verbindung zwischen beiden Häusern. Mir blieb nichts weiter übrig, als auf der anderen Seite mein Glück zu versuchen. Als ich die Treppe hinunterstieg, erwarteten sie mich bereits hungrig. Es waren noch mehr Ratten geworden. Einer flüchtigen Schätzung nach handelte es sich um drei Dutzend. Ich holte vom oberen Stockwerk eine Latte. Sie ließen mich erst gar nicht von der Treppe herunter, sondern sausten mir entgegen. Mit voller Wucht hieb ich mit der Latte auf sie ein, doch schnell stellte sich heraus, daß das Holz durch und durch von Würmern zerfressen war. Das Brett brach auseinander. Mehliger Staub breitete sich aus. Ich hustete, bis mir die Augen tränten, während ich mit dem verbliebenen Stumpf meine Verteidigung fortsetzte.
Zum Glück waren auch die gefräßigen Bestien nicht ganz unempfindlich gegen den Staub. Sie quietschten, aber sie ließen nicht locker. Sie griffen an. Ich sprang den Rest der Treppe herunter und prallte hart auf dem Boden auf. Sie kamen hinter mir her, aber ich hatte nicht den Ehrgeiz, sie auszurotten. Ich wollte nur das Haus verlassen, um Endlich meine Suche fortzusetzen. Daran sollten die Viecher mich nicht hindern. Ich erschlug zwei oder drei. Dann endlich erreichte ich das Erdgeschoß und trat wieder ins Freie, nachdem ich mich zuvor vergewissert hatte, daß ich nicht beobachtet wurde. In diesem Aufzug konnte ich der Metzgerei keinen Besuch abstatten. Ich staubte mich hinter dem Wagen ab und machte wieder einen Menschen aus mir. * Der Empfang war vielversprechend. Der Metzger war ein bulliger, bärenstarker Mann mit finsterer Miene, und das Finsterste an ihm war das riesige Beil, das er in seiner schwieligen Faust hielt. Die Schürze vor seinem Bauch wies zahlreiche Blutspritzer auf. Sie waren noch feucht, und auch der Stahl des Beils glänzte rötlich. Er kniff die engstehenden Augen zusammen, fixierte mich einen Augenblick und stieß dann unwillig hervor: »Was wollen Sie?« Ich sah mich in dem Laden um. Ausgesprochen appetitlich sah es hier nicht aus. Die Fliegenschwärme, die auf dem Fleisch hockten, waren noch das
Harmloseste. Ich war davon überzeugt, daß die Fliesen seit grauer Vorzeit kein Wasser mehr gesehen hatten, und darin paßten sie zu dem Metzger, der mich feindselig anstarrte, als hätte ich ihn zutiefst beleidigt. »Ich wollte einen alten Freund besuchen«, behauptete ich. »Er hat mir seine Adresse gegeben. Aber nebenan öffnet niemand.« »Ich zeigte zu der Seite, auf der sich das schmalbrüstige Giebelhaus befand. Die Miene des Bulligen wurde noch finsterer. »Nebenan?« fragte er zurück. »Da können Sie nicht rein.« »Aber er hat mich eingeladen«, beharrte ich. Interessiert betrachtete er das Beil in seiner Faust und kam um den Ladentisch herum. Ich blieb stehen. Der Kerl hatte keinen Grund, mich anzugreifen. Vermutlich konnte er sich selbst nicht leiden und glaubte, jeden erschrecken zu müssen. Da hatte er bei mir Pech. »Sie lügen«, knurrte er. »Nebenan wohnt überhaupt niemand. Sie wollen wohl einbrechen, wie? Aber da gibt es nichts zu holen. Und jetzt schleichen Sie sich, sonst werde ich ungemütlich.« Das war deutlich. Aber so leicht ließ ich mich nicht einschüchtern. Er würde es nicht wagen, handgreiflich zu werden. Es gab keinen Grund. Manche Leute brauchten keinen Grund. Der Metzger fühlte sich jedenfalls provoziert. Er knurrte, als ich um keinen Zoll vor ihm zurückwich, und riß das blutige Beil hoch. Ich duckte mich rasch und trieb ihm beide Fäuste in den Bauch. Dabei trat ich einen Schritt zur Seite. Das war mein Glück, denn der Koloß klappte in der Mitte zusammen, und zwangsläufig sauste das Beil herunter. Es hieb
dicht neben mir auf den gefliesten Boden, daß es nur so klirrte. Fliesensplitter spritzten herum. Ich kam wieder in die Höhe und schlug noch einmal zu. Diesmal traf ich eine Etage höher. Sein massiger Schädel fing meine Faust auf und federte ein wenig zurück. Sonst geschah nichts. Der Kerl hatte sich von seiner Überraschung erholt. Wutschnaubend warf er sich herum, wobei seine Waffe einen sichelförmigen Bogen beschrieb. Mit der Handkante hämmerte ich auf seinen Unterarm, was ein Wutgeheul zur Folge hatte. Doch er ließ den Stiel des Beils nicht los. Er schlug blitzschnell zu. Ich schnellte zurück. Und dann sprang ich ihn an. Mit beiden Fußen voraus. Eine solche Attacke hatte er wohl nie erlebt und konnte nichts damit anfangen. Anfangs glaubte er wohl, mich umgehauen zu haben und lachte dröhnend. Als ich gegen ihn prallte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Maßloses Staunen zeigte sich auf seinem groben Gesicht. Er kippte lautlos um, und ich mußte aufpassen, daß er sich nicht selbst mit dem Beil verletzte. Ich entwand es ihm und warf es hinter den Ladentisch. Dort landete es in einem Blechtrog und verursachte einen scheppernden Laut. Ich rechnete damit, daß Hilfe herbeieilen würde, aber im Haus blieb alles ruhig. Ich packte den Metzger beim Kragen und schüttelte ihn. »So, Freund«, erklärte ich grimmig. »Jetzt spazieren wir beide hinüber, und Sie werden dafür sorgen, daß man mich hineinläßt.« Nicht nur die Kraft der Dämonen, sondern auch die der Magier ist tagsüber schwächer als in der Nacht. Ich hoffte, daraus
Kapital schlagen zu können und Nekrotius in einem für ihn ungünstigen Augenblick zu erwischen. Der Metzger glotzte mich fassungslos an. Er ächzte, als er in die Höhe kam. Sein Blick zeigte mir, daß er mit dem Gedanken spielte, es mir heimzuzahlen. Ich sagte nichts, aber in meine Augen trat ein harter Glanz, der ihn warnte und gefügig machte. Zögernd ging er vor mir her. Ich folgte ihm auf die Straße und beobachtete überrascht, wie er umständlich einen Schlüssel unter seiner Schürze hervorfingerte. Er schloß die schmale Tür auf, die uns in der Nacht von der unheimlichen, schweigsamen Gestalt geöffnet worden war, und stieß sie mit einem Fußtritt zurück. »Da!« fauchte er wütend. »Welcher von denen ist nun Ihr Freund?« Eisige Kälte schlug mir entgegen. Automatisch ging ich in Abwehrstellung, doch niemand griff mich an. Die Kälte rührte von keiner dämonischen Aktivität her. Ich blickte in ein Kühlhaus, das offensichtlich zu der benachbarten Metzgerei gehörte. Schweinehälften hingen in einer Reihe. Kalbsköpfe waren aufgestapelt und stierten mich mit gebrochenen Augen an. Mich fröstelte. Ich sparte mir die Frage, wie lange das alles schon existierte. Mir war klar, daß Nekrotius ein raffinierter Illusionist war. Die kahlen Gänge, der Raum, in dem sich der Zirkel versammelte, um seine gefährlichen Lehren aufzunehmen, existierte nur in der Einbildung. Er benutzte ein Kühlhaus für seine Show, und niemand ahnte etwas davon. Auf diese Weise würde er sich, nach Belieben jedem Zugriff entziehen können.
Sicherheitshalber schob ich den Metzger vor mir her und betrat mit ihm den Raum. Irgendwo summten Aggregate. Die Kälte biß durch meinen Anzug. Ich trat an die geschlachteten Tiere heran und befühlte einige. Sie waren eiskalte Realität. Nirgendwo war eine weitere Tür zu entdecken. In der Decke erkannte ich zwar eine viereckige Luke, die verschlossen war, aber diesen Weg hatten wir in der Nacht ganz sicher nicht genommen. Ich zeigte nach oben und erkundigte mich, was es dort gäbe. Der Mann schenkte mir einen haßerfüllten Blick, in den sich allerdings ein wenig Triumph mischte. Er betätigte einen Schalter neben der Tür, und durch eine Hydraulik bewegt öffnete sich die Luke. Eine Treppe fuhr herunter. »Gehen Sie voran!« forderte ich. Er gehorchte, und ich folgte ihm. Blitzende Maschinen waren aufgestellt, die unermüdlich arbeiteten und im unteren Bereich für die eingestellte Temperatur sorgten. Nichts weiter. Da war nichts Geheimnisvolles, nichts Gespenstisches. Nur Technik. Ich kletterte die Stufen hinunter und entschuldigte mich. »Er muß mir eine falsche Adresse gegeben haben«, behauptete ich lahm. Er war nicht bereit zu verzeihen. »Wenn Sie das nächste Mal hier auftauchen«, versicherte er grimmig, »werde ich ein Gewehr haben. Neben den Schweinen werden Sie mir direkt sympathisch sein.« Einen Freund hatte ich in ihm nicht gefunden. * Frustration nennt man das wohl, was ich empfand. Ich hatte
mich gründlich blamiert, obwohl ich genau wußte, daß ich die richtige Spur verfolgte. Angerufen hatte in der Zwischenzeit bei mir niemand. Weder Cilly Brown noch Ralf Göpfert. War er immer noch nicht nach Hause gekommen? Ich fuhr erneut zu ihm. Er war nicht da, aber der Zettel an der Tür war verschwunden. Von den Nachbarn hatte ihn niemand gesehen, und angeblich hatte auch keiner meine Nachricht entfernt. Die Sache war rätselhaft. Ich zermarterte mir den Kopf, was der Deutsche in der Zwischenzeit treiben mochte. Ich wußte eigentlich herzlich wenig über ihn. Ging er in London einer Arbeit nach oder hielt er sich ausschließlich zu seinen Studienzwecken auf der Insel auf? Ich blickte auf die Uhr. Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Ich hatte noch einiges zu erledigen. Ich schrieb eine neue Nachricht, schob sie diesmal aber unter der Tür hindurch in die Wohnung. Ein Fremder konnte sie nun nicht mehr entfernen. Dann fuhr ich zu Inspektor Gallinger in den Yard. Er machte keinen heiteren Eindruck. »Ich wußte gar nicht, daß es Sie überhaupt noch gibt«, empfing er mich mit wenig Begeisterung. Ich wich aus. »Was macht Galdos?« erkundigte ich mich. »Er leugnet.« »Dazu hat er auch allen Grund. Er hat die Fürstin nicht auf dem Gewissen.« »Und was hatte er in jener Nacht dort verloren?« fragte Gallinger mißgestimmt. »Er behauptet, daß er die de Angelis noch immer liebte und in ihrer Nähe sein wollte. Das ist doch lächerlich.«
»Menschliche Gefühle nehmen sich für Unbeteiligte oft lächerlich aus. Für die Betroffenen sind sie bitterernst. Haben Sie noch etwas Geduld. Hat Sir Horatio mit Ihnen gesprochen?« »Das hat er, Kinsey, und er hält große Stücke auf Sie. Aber bevor Sie mir nicht den wirklichen Mörder präsentieren, ist für mich Raimondo Galdos der Favorit.« Ich nickte. Er war Polizist und kein Geisterjäger. Er erledigte seine Arbeit und ich die meine. Beide an verschiedenen Fronten und doch für dasselbe Ziel, die Menschen vor verbrecherischen Angriffen zu schützen und die Schuldigen zu verfolgen. Ich ließ mir noch einmal den sichergestellten Anatas zeigen. Es bestand kein Zweifel, daß er das getreue Abbild des schwarzen Amuletts war, nur daß in ihm keine übersinnlichen Kräfte verborgen waren. Nach einigen Minuten verabschiedete ich mich von Gallinger. Ich hatte ihm mein beabsichtigtes Vorgehen erklärt, und er war eigentümlich grau im Gesicht geworden. Eine ungewöhnliche Farbe für einen unerschrockenen Rechtsverfechter wie ihn. Anschließend kreuzte ich wieder im Büro auf. Sir Horatios scharfem Auge entging nicht, daß ich ein paar neue Beulen hinzubekommen hatte. Er wollte die Herkunft genau wissen, und ich sah keinen Grund, ihm mein Erlebnis bei den Ratten und mit dem netten Metzger zu verheimlichen. Er schüttelte bedenklich den Kopf. »Brauchen Sie Unterstützung, Mac?« fragte er. »Sie wissen, daß ich Ihnen sofort eine ganze Mannschaft zur Seite stelle, wenn Sie das verlangen.« Ich grinste. »Ich verlange es aber nicht, Sir. Wenn alles vorbei ist, können Sie mir einen freien Tag spendieren. Ich würde gerne herausfinden, ob Kathleen mich noch kennt.« Das Gesicht meines Chefs zog sich in die Breite. Er kannte Kathleen Burke und wußte, daß sie bei mir die erste Stelle ein-
nahm. »Schon im voraus gewährt, Mac«, versicherte er. »Aber nun müssen Sie sich diese amouröse Ausschweifung erst mal verdienen.« Er schob mir ein kleines Paket über den Tisch, von dem ich wußte, daß es sich um das geforderte Herz handelte. Ich verzog das Gesicht. »Auch aus Dartmoor?« forschte ich. Seine Miene blieb unbewegt, als er antwortete: »Unfall. Herzinfarkt. Keine Angehörigen. Übrigens eine Frau, aber das stört ja wohl nicht.« Manchmal hatte er eine reichlich makabre Ader. Ich griff mir das Paket mit dem Plastikbehälter und verließ das Gebäude. Es war kurz nach elf Uhr. * Ralf Göpfert war pünktlich am vereinbarten Treffpunkt. Ich war etwas ungehalten. »Zum Teufel! Wo treiben Sie sich den ganzen Tag herum?« Er tat ahnungslos. »Man hat schließlich zu tun. Es liegt mir nicht, zu Hause herumzuhängen.« »Aber wenigstens melden hätten Sie sich mal können«, fuhr ich fort. »Meine Nachricht werden Sie ja wohl gefunden haben.« »Nachricht? Welche Nachricht? Davon weiß ich nichts. Und überhaupt hatten wir vereinbart, uns um halb zwölf zu treffen. Das habe ich eingehalten. Oder etwa nicht?« »Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht.« Der Deutsche lachte amüsiert. »Um mich? Wieso denn das?« Ich erklärte es ihm. Ich erzählte ihm alles, was ich in der Zwischenzeit herausgefunden hatte, und er hörte schweigend zu. Als ich geendet hatte, lachte er wieder. »Haben Sie das
Herz?« Das war sein einziges Problem. »Natürlich.« »Sie müssen verrückt sein«, vermutete er. »Sie haben den Meister doch selbst kennengelernt. Der tut keiner Fliege etwas zuleide, und Hellof ist so gutmütig wie ein Stofftier. Sie wollen mich auf den Arm nehmen.« »Und das Kühlhaus?« sagte ich ungehalten. »Quatsch! Sie haben sich einfach in der Straße geirrt. Die sehen da unten alle ziemlich gleich aus.« Ich sah ihn ernst an. »Ich möchte, daß Sie diese Nacht dieses Haus nicht betreten. Warten Sie im Wagen auf mich. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Terry Bogart wurde gezwungen, seine Freundin umzubringen. Auch Sie wird Nekrotius für eine Schurkerei benutzen. Vielleicht schon heute.« Göpfert wurde ärgerlich. »Hören Sie mal zu, Mr. Kinsey. Ich habe Sie nicht in den Zirkel eingeführt, damit Sie mich jetzt verdrängen. Natürlich gehe ich hinein. Wenn ich dem Meister nicht das geforderte Herz bringe, ist es aus mit meiner Mitgliedschaft. Und jetzt kein Wort mehr darüber.« Ich sah ein, daß er nicht gewillt war, mir Glauben zu schenken. Ich konnte nur hoffen, daß er auf ungefährliche Weise von der Wirklichkeit überzeugt wurde. In der Uverdale Road war alles wie in der vergangenen Nacht. Ich überzeugte mich davon, daß ich mich vor einigen Stunden keineswegs in der Straße geirrt hatte. Dort war das Lagerhaus. In der zweiten Etage erkannte ich die zerbrochene Fensterscheibe. Auf der anderen Seite befand sich die Metzgerei. Und jetzt gingen wir auf jene Tür zu, hinter der mich die Kühlanlagen geschockt hatten. Ralf Göpfert hämmerte das Klopfzeichen gegen das dröh-
nende Holz. Es war, als spulte ein Film ab. Die schleichenden Schritte, der kreischende Riegel, der Schlüssel im Schloß und dann die Gestalt mit den tückischen Augen und der spitzen Nase – das kannte ich schon. Ich mußte an mich halten, um mich nicht auf sie zu stürzen und sie ordentlich durchzubeuteln. Dazu ließ sie es aber erst gar nicht kommen. Sie eilte voraus, bevor ich sie berühren konnte. Vielleicht war sie gar nicht greifbar. Eine Illusion wie alles um mich her. Hellof, das Hundescheusal, war knurrig wie in der vergangenen Nacht. Wie unbeabsichtigt streifte ich ihn mit dem Bein. Er riß seinen Fang auf und zeigte mir ein fürchterliches Gebiß. Ich konnte keine überzeugende Ähnlichkeit mit einem harmlosen Stofftier feststellen. Auch Ralf Göpfert erschrak. »Teufel auch!« flüsterte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß der überhaupt noch einen Zahn besitzt. Mit dem stellt man sich am besten gut.« »Er hat einen Säugling verstümmelt«, erinnerte ich. »Aber doch nicht dieser hier. Das ist Hunderte von Jahren her.« Seine Stimme klang gepreßt. Seine Nerven begannen zu flattern, aber er schritt mutig vorwärts. Der Glaube an den Meister war größer als seine aufkeimende Furcht. Dann standen wir vor der Tür. Sie war offen. Wir wurden bereits erwartet. Wir betraten schweigend den Raum und nahmen unsere Plätze ein. Verstohlen ging mein Blick in die Runde. Heute würde etwas passieren. Da war ich sicher. Zum Glück hegte Nekrotius keinen Argwohn gegen mich. Die Aussage des Schädels hatte ihn beruhigt.
Ralf Göpfert reichte dem Greis das Gefäß, in dem das Herz schwamm. Er nahm es entgegen. »Heute«, so begann er, »will ich euch ein weiteres Beispiel für die Macht der Geister geben. Es soll euch beweisen, daß es klug ist, sie freundlich zu stimmen, dann helfen sie einem in ausweglosen Situationen.« Er hob die rechte Hand, die Tür öffnete sich, und die Gestalt mit der spitzen Nase schob einen Tisch auf Rädern herein, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt war. Unter dem Tuch war etwas verborgen, das ich unschwer als menschlichen Körper erriet. Alle hielten den Atem an. Die Gestalt zog sich wieder zurück, und Nekrotius erhob sich. Er trat gemessenen Schrittes an den Tisch und winkte die Teilnehmer des Zirkels heran. Ich stand hastig auf und richtete es so ein, daß ich neben Ralf Göpfert zu stehen kam. Es war mir lieb, wenn ich ihn in meiner Nähe wußte. Natürlich war ich auch um die anderen besorgt. Es waren elf Menschen, die ich nicht kannte, die aber allesamt gläubig auf den Meister starrten. Sie befanden sich völlig in seinem Bahn. Vier von ihnen waren Frauen. Wir bildeten einen Kreis um den Tisch und den Magier, der nun mit einem Ruck das Tuch vom Tisch zog. Ein Aufstöhnen ging durch die Versammelten. Eine Leiche bot sich ihnen dar. Sie war nackt und unwahrscheinlich schön. Es handelte sich, ich glaubte meinen Augen nicht trauen zu dürfen, um Renata de Angelis! Ich wußte, daß die sterbliche Hülle der Fürstin in ihre italienische Heimat überführt worden war. Sie konnte unmöglich hier sein! Aber sie war es. Ich streckte vorsichtig meine Hand
aus und berührte ihren Fuß. Kalt, starr, aber jedenfalls existent. Es handelte sich um kein Trugbild, keine gespenstische Illusion. »Diese Frau«, fuhr Nekrotius fort, »lebt nicht mehr. Ihr Herz hat aufgehört zu schlagen. Sie befindet sich in einem Reich, das den Unwissenden ewig verschlossen bleiben wird. Ihr, die ihr den Weg zur Wahrheit sucht, sollt miterleben, wie ein Mensch aus diesem Reich zu – uns zurückkehrt.« Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. War es möglich, daß der Magier auch von dem Leichnam ein Doppel angefertigt hatte, genau wie bei dem Anatas? »Bezweifelt jemand, daß diese Frau tatsächlich tot ist?« Niemand antwortete, und auch ich hielt mich zurück, denn ich wollte nicht unnötig die Aufmerksamkeit des Halunken erregen. Nekrotius drehte die Tote auf den Bauch, und nun sah ich die klaffende Wunde in ihrem Rücken. Hier hatte ein Eingriff stattgefunden. Ein sehr unsachgemäßer. Das Herz war entfernt worden. Göpfert fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er drängte sich vor, um ja alles ganz genau zu sehen. Nekrotius nahm das Gefäß mit dem Herz in beide Hände. Er stellte es ebenfalls auf den Tisch, und urplötzlich wurde es noch düsterer in dem Raum. Ich mußte meine Augen schon gewaltig anstrengen, damit mir keine Bewegung entging. Der Magier löste die Kette mit dem Amulett von seinem Hals. Er ließ den Stein über dem durchsichtigen Gefäß pendeln und murmelte Worte, die ich nur bruchstückhaft verstand. Vorsichtshalber prägte ich sie mir, genau ein. Da geschah etwas Unglaubliches. Zögernd erst, dann immer energischer begann das Herz der Unfalltoten zu schlagen. Es pulste und pumpte in der Flüssigkeit, in der es schwamm.
Wenn das ein Trick war, dann wurde er jedenfalls perfekt durchgeführt. Allerdings glaubte ich an keinen Trick. Nekrotius nahm das schlagende Herz und versenkte es in der offenen Rückenwunde der Toten. Danach strich er mit der Hand darüber und trat einen Schritt zurück. »Fürstin!« rief er verhalten. »Die Polizei rätselt über Ihren Tod. Nur Sie allein und Ihr Mörder wissen die Wahrheit. Geben Sie uns Antwort. Wer hat Sie getötet?« Ein vielstimmiger Schrei des Entsetzens erscholl, als sich der Leichnam aufrichtete. Er lebte! Die Augen waren offen, wenn sie auch starr in eine Richtung blickten und die Umgebung nicht zu erkennen schienen. Ja, sie war wirklich atemberaubend schön. Erst jetzt ließ sich das voll und ganz beurteilen. Ich wunderte mich nicht, daß die Männer zu ihren Lebzeiten verrückt nach ihr gewesen waren. Sie öffnete die Lippen, die blutleer waren, und sagte: »Raimondo hat mich erwürgt. Dieser Narr! Er tat es aus Eifersucht und aus Habgier.« Sie lügt! hämmerte es in mir. Wider besseren Wissens sagt sie genau das, was der Magier von ihr hören will! Es war die Stimme der Fürstin. Darauf verwettete ich mein nächstes Monatsgehalt. Ich hatte mir einige Bandaufnahmen angehört. Aber sie sagte nicht die Wahrheit, und Nekrotius wußte das genau. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Der Schädel! Auch er hatte gelogen. Ich sollte getäuscht werden! Alles war ein abgekartetes Spiel, damit ich glaubte, mein Trick, mir zum Zirkel Zutritt zu verschaffen, sei gelungen! Der Magier hatte meine Absicht von Anfang an durchschaut. Er hatte mich nur in eine Falle locken wollen. Mich und Ralf
Göpfert! Jetzt saßen wir drin! Ich mußte ihn schleunigst von hier fortbringen. Notfalls mit Gewalt. Erst dann konnte ich den Kampf aufnehmen. Ein Blick zu dem Magier sagte mir, daß er den Zeitpunkt zum Zuschlagen noch nicht für gekommen sah. Er wollte den Mord nicht vor so vielen Zeugen begehen. »Raus hier!« raunte ich dem Deutschen zu. »Ich erkläre Ihnen alles später. Sie müssen mir vertrauen. Nur dieses eine Mal.« Göpfert setzte sich in Bewegung. Er war totenbleich und wirkte wie ein Gespenst. Seine Augen waren ausdruckslos. Offenbar hatte er endlich die Nase voll. Er stand unter einem Schock. Niemand hinderte uns, den Raum zu verlassen. Der Magier wurde noch immer von seinen Anhängern umringt. Sie verdeckten ihm den Blick zur Tür. Die Tür schloß sich lautlos hinter uns. Ich schob den Jungen vor mir her. Es ging mir alles nicht schnell genug. In diesem Moment erlitt ich einen Schock. Meine Hände griffen durch Göpfert hindurch! Er war eine Fata Morgana. Ich hatte ihn mir nur eingebildet. Er war mir von Nekrotius vorgegaukelt worden. Nur deshalb war er mir so bereitwillig gefolgt. * »Raus hier!« hörte Ralf Göpfert Mac Kinsey flüstern. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. Der Bursche sollte sich zum Teufel scheren! Kapierte er noch immer nicht, was für großartige Dinge hier geschahen? Diese Frau lebte wieder. Sie war ermordet worden und dennoch von den Toten zurückgekehrt!
Zudem hatte sie Kinseys Verdächtigungen ad absurdum geführt. Der Meister war der Größte. Der Greis blickte den jungen Mann plötzlich an. »Er ist fort«, sagte er schmeichelnd. »Der Verräter ist gegangen. Ich will dir nun deine dritte Aufgabe stellen. Wenn du sie löst, gehörst du endlich zu uns.« »Ich bin bereit, Meister.« »Gut. Nicht weit von hier, in der Lots Road, wirst du zwei Männer treffen. Es sind keine guten Männer. Deshalb ist es nur recht und billig, wenn du sie tötest.« Ralf Göpfert erschrak. »Ich soll sie ermorden?« »Bestrafen. Sie haben schon viele Verbrechen verübt. Geh! Oder du kannst bei uns nicht bleiben.« Göpfert fühlte eine dumpfe Leere in seinem Hirn. Er wollte dagegen ankämpfen, schaffte es aber nicht. Er setzte sich gehorsam in Bewegung. Der Bann lag auf ihm. Als er wieder einigermaßen klar denken konnte, fand er sich in einer stillen Straße wieder. Er wußte nicht zu sagen, wie er hergekommen war. Er erinnerte sich an den Befehl, den er erhalten hatte. Er sollte töten. Aber wen und wie? Er war doch kein Killer. Aber die anderen sind Gangster, schoß es durch sein Hirn. Wenn du sie nicht tötest, töten sie dich! Er hastete weiter. Vor sich vernahm er Geräusche. Es klang wie das Klirren von Glas. Einbrecher! Sie wollen ein Geschäft ausräumen. Das mußt du verhindern. Dann steht nicht nur morgen dein Name in allen Zeitungen, dann hast du auch die schwerste Prüfung bestanden. Dann gehörst du dazu! Er schlich sich in einem Bogen an die Männer heran, die er nun undeutlich sah. Es waren tatsächlich zwei. Der Meister
hatte sich nicht geirrt. Natürlich nicht! Nun stand er nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt. Sie machten sich an dem Schaufenster eines Elektrogeschäftes zuschaffen. Irgendwie kamen sie ihm bekannt vor. Einer von ihnen drehte sich um. Göpfert schaffte es gerade noch, hinter einer Reklametafel zu verschwinden. Verblüfft strich er sich über die Stirn. Aber das war doch der Mann, der ihm im Zirkel gegenübersaß! Er trug eine Brille, und sein Kinnbart war unverwechselbar. Er trat hinter der Tafel vor und rief verständnislos: »Ich bitte Sie, machen Sie sich nicht unglücklich. Was Sie da vorhaben, ist ein Verbrechen. Sie verpfuschen dadurch Ihr ganzes Leben.« Nun wandte auch der zweite ihm sein Gesicht zu. Auch er gehörte dem Zirkel an. Er grinste spöttisch. »Was du nicht sagst! Aber wir denken überhaupt nicht an unser Leben. Wir denken nur an deins. Und das ist jetzt gleich zu Ende.« Er richtete einen Revolver auf Ralf Göpfert, und sein Partner folgte seinem Beispiel. Göpfert glaubte zu träumen. Allerdings war es ein furchtbarer Alptraum. Nur fort von hier! Er war unbewaffnet, und plötzlich war er auch wieder in der Lage, glasklar zu denken. Niemals konnte er einen Mord begehen. Er wandte sich zur Flucht, doch er kam nicht weit. Von allen Seiten rückten sie gegen ihn vor. Sieben Männer und vier Frauen. Der ganze Zirkel. Und alle reckten ihm eine Schußwaffe entgegen. Er saß in der Falle. Der Meister hatte ihn hineingelegt, das stand fest. Kinsey hatte sich also doch nicht getäuscht. Dieser scheinheilige Alte war ein durchtriebener Verbrecher. Ein Ma-
gier, der das Böse wollte. Ihn hatte er als Verräter erkannt oder zumindest als gefährlichen Helfer von Mac Kinsey. Deshalb sollte er sterben. »Nein!« schrie er angstvoll. »Ich habe doch nichts getan.« »Verräter!« schrie es im Chor. »Verfluchter Verräter!« Langsam rückten sie näher. Sie hatten ihn umzingelt. In ihren Augen stand die blanke Mordgier. Sie waren nur willenlose Werkzeuge, doch das würde seinen Tod nicht angenehmer machen. Sie knüpften das Netz, das sich um ihn schloß, immer enger. Daraus gab es kein Entrinnen. * Ich lief zurück. Jetzt konnte ich die Maske fallenlassen, die ohnehin längst durchschaut war. Ich stieß die Tür auf und prallte zurück. Der Raum war annähernd leer. Nur der Magier befand sich noch darin. Sein Gesicht war jetzt eine höhnische Totenschädelfratze. In der Hand hielt er das unheilvolle Amulett. Vor meinen Augen verwandelte er sich in den schwarzen Mönch. »Komm nur näher, Mac Kinsey!« spottete er. »Ich habe alle fortgeschickt, um mit dir allein zu sein.« »Wo ist Göpfert?« schrie ich. »Was hast du mit ihm gemacht, Nekrotius?« Er kniff die Augen eng zusammen. »Du hast also herausgefunden, wer ich bin? Das hatte ich nicht erwartet. Aber das kümmert mich nicht. Gegen mich bist du nichts als ein Wurm. Du wirst meine Rache nicht aufhalten.« »Du gibst also zu, die Fürstin ermordet zu haben?« Er lachte auf. Seine Augen glühten voller Haß. »Was liegt an ihr? Sie besaß mein Amulett, das ich brauchte, um wieder
mächtig zu werden. Sieh es dir genau an! Auch du wirst durch diesen Stein sterben.« »Wo ist der Junge?« wiederholte ich wild. Ich mußte die Antwort aus ihm herausbekommen, bevor ich ihn zum Kampf forderte, sonst war Göpfert mit Sicherheit verloren. »Du rettest ihn nicht mehr«, widersprach Nekrotius. »Es wäre für dich klüger gewesen, meine Warnungen rechtzeitig zu befolgen und dich aus meinem Rachefeldzug herauszuhalten.« »Deine Warnungen?« »Die Bronzestatue auf dem Friedhof«, erinnerte er kichernd. »Dann die Autos, die dich auf der Straße um ein Haar überrollten. Na, und heute bei deinem unangemeldeten Besuch haben dir nicht mal die Ratten klarmachen können, daß du nicht erwünscht bist. Du bist ein blinder Narr, Mac Kinsey. Die Erfolge, die du früher gehabt haben magst, zählen nicht mehr. Du bist an einen Stärkeren geraten. An mich!« Am liebsten hätte ich ihm meine Faust in die schreckliche Fratze gestoßen, doch das konnte ich nicht riskieren. Nur wenn ich mit kühlem Verstand und überlegt vorging, besaß ich eine winzige Chance. Göpfert war verschwunden, und mit ihm alle anderen. Welche Teufelei hatte er sich für sie ausgeheckt? Auch von der wieder zum Leben erwachten Fürstin war nichts mehr zu sehen. Sie hatte ihre Schuldigkeit getan. Ihre Worte hatten mir die Augen geöffnet und mich aus diesem Raum getrieben. Das hatte Nekrotius beabsichtigt, konnte er doch während meiner Abwesenheit ungestört und unbeobachtet zwölf Menschen verschwinden lassen. Vielleicht hatte er sie direkt in den Tod geschickt, es war aber auch denkbar, daß sie als vom Magier gesteuerte Mordmaschi-
nen durch die Straßen von London streiften und ihre ahnungslosen Opfer suchten. Er las meine Gedanken. »Du hast recht, Mac Kinsey. Ich habe sie fortgeschickt, um das Verbrechen zu verbreiten. Ich werde diese Stadt mit Blut überschwemmen, bevor ich meine Macht auf das ganze Land und danach auf den Kontinent ausdehne. Rache! Rache für meine Tochter. Sie müssen alle sterben. Auch du. Und Göpfert, der Phantast, der meine Märchen wie alle anderen glaubte. In diesem Moment durchbohren ihn in der Lots Road die Kugeln seiner früheren Freunde. Freundschaft? Liebe? Pah, ich rotte sie aus. Der Haß muß regieren. Und der Tod.« Ich hatte genug gehört. Der Kerl war ja nicht dicht. Die Lots Road befand sich nur zwei Straßen entfernt. Sie verlief parallel zur Uverdale Road. Wahrscheinlich kam ich zu spät, aber ich mußte es wenigstens versuchen. Ich sauste aus dem Raum und hörte hinter mir das höhnische Gelächter des Magiers. »Lauf nur, lauf nur. Du entgehst mir nicht.« Mein Zorn kannte keine Grenzen. Er wurde nur noch übertroffen von der Sorge um Göpfert und die anderen manipulierten Opfer. Ich mußte an Hellof vorbei. Der Strahl meiner Taschenlampe suchte und fand ihn. Er sah schrecklich aus. Kein bißchen sanft und zum Streicheln. Sein Fell war gesträubt. Er blickte mir entgegen. Seine Augen waren zwei rotierende Feuerbälle. Sein hechelnder Rachen war weit geöffnet. Darin blitzten messerscharfe Zähne, die mich zerfleischen würden, falls ich ihnen zu nahe kam. Der enge Gang bot kaum eine Ausweichmöglichkeit. Zwar gab es kurz vorher zwei Abzweigungen, doch ich hatte keine Ahnung, wohin sie führten.
Dieses ganze unterirdische Labyrinth war Teufelswerk, das in Wirklichkeit gar nicht existierte. Beim Morgengrauen würde es wieder verschwunden sein. Dann hingen hier halbe Schweine und warteten auf ihre Verarbeitung. Ich zögerte nur einen flüchtigen Moment. Dann raste ich auf das dämonische Ungeheuer zu und versetzte ihm einen Tritt, bevor es angreifen konnte. Es schnappte nach meinem Fuß. Sein heißer Atem verbrannte mich fast. Hellof schien direkt aus dem Höllenschlund zu stammen. Aber mein Tritt zeigte Wirkung. Winselnd zog sich das Biest ein wenig zurück, und ich sprang kurzerhand über es hinweg. Ich drehte mich nicht um, sondern stürzte vorwärts. Mir war klar, daß Hellof die Verfolgung aufnahm, und er war vermutlich schneller als ich. Knapp vor der Tür entdeckte ich die Gestalt mit der spitzen Nase. Sie griff mit dürren Fingern nach mir. Ein Handkantenschlag setzte sie für Sekunden außer Gefecht. Ich schleuderte sie zur Seite und rannte mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Normalerweise ging sie zwar nach innen auf, doch diesmal war sie dem Anprall nicht gewachsen. Sie flog aus den Angeln, und ich segelte auf die Straße. Weiter! Ich hatte keine Zeit zum Verschnaufen. Nekrotius würde nicht zulassen, daß ich ihm ins Handwerk pfuschte. Ich jagte durch die Burnaby Street, überquerte die Tetcott Road und bog endlich in die Lots Road ein. Da hörte ich Schüsse. Ich kam zu spät. * Er wollte zurückweichen, aber auf allen Seiten bot sich das
gleiche bedrohliche Bild. Sie rückten gegen ihn vor. Alle richteten sie einen Revolver auf ihn, und Ralf Göpfert zweifelte keine Sekunde daran, daß die Waffen geladen waren. Er war ein Narr gewesen. Warum hatte er Mac Kinsey nicht mehr Vertrauen geschenkt? Er hatte sich eingebildet, ihn für sich dienstbar zu machen, und dabei die Gefahr nicht sehen wollen, die sich über ihm zusammenbraute. Jetzt kam die Einsicht zu spät. »Laßt mit euch reden«, keuchte er. Abwehrend streckte er seine Arme aus, als könnte er damit die tödlichen Geschosse aufhalten. »Der Meister hat uns betrogen. Er will euch in eine tiefe Schuld verstricken, in der ihr umkommen sollt. Er macht euch zu Killern, die man jagen wird. Ihr habt keine Chance. Nehmt Vernunft an. Ich bin nicht euer Feind. Unser wahrer Gegner ist Nekrotius, der Magier, der uns in seinen dämonischen Bann gezogen hat.« Sie gaben keine Antwort, sie rückten weiter vor. Schritt für Schritt. Mit jeder Sekunde wurde seine Lage aussichtsloser. Wenn er nicht jetzt handelte, hatte er später keine Gelegenheit mehr dazu. Er schloß die Augen und rannte los. Er suchte sich eine Lücke zwischen zwei Frauen aus, von denen er weniger Gewalttätigkeit erhoffte. In diesem Punkt irrte er sich. Auch die Frauen standen völlig unter dem unheilvollen Bann. Als sie ihre Zeigefinger krümmten, folgten sie nur dem inneren Befehl, der ihnen auftrug zu töten. Zwei Schüsse krachten durch die Stille. Göpfert schrie vor Entsetzen auf und stürzte nieder. Er war sicher, getroffen zu sein, aber er konnte noch fühlen und denken. Er richtete sich mühsam auf. Da sah er einen Mann direkt auf
sich zukommen. Der Mann rannte, als würde auch er verfolgt. Er erkannte ihn. Es war Mac Kinsey. »Mac!« brüllte er. »Mac, helfen Sie mir!« Diabolisches Lachen erfüllte die Luft. Das Schlagen von Flügeln war zu hören. Ein Schatten senkte sich herab, eine gräßliche Kreatur, halb Mensch, halb Vogel, landete vor Göpfert. »Schreie nur, du Einfaltspinsel«, krächzte der Vogelmensch. »Jetzt schnappt die Falle zu, die ich für Mac Kinsey gestellt habe. Er bildet sich ein, dich retten zu können. In Wirklichkeit erwartet ihn hier der eigene Tod.« Er breitete seine Schwingen gebieterisch aus. »Haltet ein!« schrie er. »Ich will, daß der Verräter miterlebt, wie Nekrotius mit Menschen verfährt, die glauben, ihn aufhalten zu können.« Die Mitglieder des Zirkels wichen ein paar Schritte zurück, aber sie senkten ihre Waffen nicht. Es war klar, daß sie die Flucht Ralf Göpferts niemals zulassen würden. * Ich sah den Vogelmenschen und hörte, wie der Deutsche um Hilfe rief. Der Junge lebte zumindest noch! In welchem Zustand er sich aber befand, vermochte ich nicht zu sagen. Ich forcierte mein Tempo noch mehr. In meiner Faust hielt ich die Automatic, doch ich fürchtete, daß ich mit ihr kaum etwas ausrichten konnte; Zwölf Gegner hatte ich gegen mich. Von den Männern und Frauen wollte ich nach Möglichkeit niemanden verletzen oder gar töten. Der Vogelmensch erwartete mich. Er stand unbeweglich. Nur die gelben Augen zuckten, und der starke, gekrümmte Schnabel öffnete sich erwartungsvoll. Er war bereit, mich in Stücke zu hacken.
Ich richtete meine Waffe, auf ihn und drückte ab. Ich zielte genau, denn ich durfte mir keinen Fehlschuß leisten. Wie ich befürchtet hatte, richteten die Geschosse nichts aus. Ich stand auf verlorenem Posten. Ganz ohne Ergebnis waren meine Schüsse allerdings nicht, nur hätte ich auf dieses Resultat gerne verzichtet. Aus der Gestalt des Vogelmenschen löste sich ein Schatten. Er raste unter wildem Schnaufen auf mich zu. Hellof, die Mordbestie, griff mich an! Und zu allem Überfluß erhob sich der Vogelmensch krächzend in die Luft, und zurück blieb – Nekrotius, der schwarze Mönch und Magier. Grausam lächelnd. Er trat mir in dreifacher Gestalt gegenüber. Als schwarzer Mönch. Als Vogelmensch und als Hund. Das war alles er selber. Er konnte mich von drei verschiedenen Seiten angreifen, und wenn ich einen Teil von ihm abwehrte, würden die beiden anderen mit vereinter Gewalt auf mich einstürmen. »Du hast dich von mir hierher locken lassen, Kinsey«, höhnte er. »Nun stirb. Deine Neugier war mir lästig, wenn sie auch nie eine Gefahr für mich darstellte.« Genußvoll löste er das schwarze, teuflische Amulett von seinem Hals und reckte es mir entgegen. Mir war klar, daß ich dieser fürchterlichen Waffe nichts entgegenzusetzen hatte. Nur meine Schnelligkeit, und die würde auf eine harte Probe gestellt werden. Schon griffen sie an. Der Vogelmensch stürzte wie ein Stein auf mich herab und hieb mit seinem Schnabel auf mich ein. Blitzschnell warf ich mich zu Boden und rollte unter den Krallen hinweg.
Doch da raste bereits Hellof heran. Mordgier stand in seinen glühenden Augen. Mit einem Satz über annähernd acht Yards sprang er mich an. Ich empfing ihn mit angewinkelten Beinen, die ich in dem Moment streckte, als ich sein Gebiß dicht über mir sah. Er jaulte auf und wirbelte davon. Funken stoben, als er auf den Boden prallte. Nekrotius tobte und verwünschte mich. Zwischendurch aber ließ er seinem triefenden Spott freien Lauf. Noch griff er nicht in den Kampf ein. Er wollte mich ermüden. Vielleicht hielt er es auch nicht für nötig, in seiner Mönchsgestalt meinetwegen einen Finger krumm zu machen. Der Vogelmensch flog den nächsten Angriff. Gleichzeitig hetzte Hellof wieder heran. Sie kamen von verschiedenen Seiten und nahmen mich in die Zange. Ich konnte mich nur einem widmen. Der andere mußte mich erwischen. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß Göpfert totenblaß war. Er gab für mein Leben keinen Penny mehr. Das las ich deutlich in seinem Gesicht. Ich konzentrierte mich auf meine Angreifer. Geduckt wich ich dem fliegenden Monster aus und packte gleichzeitig die Vorderläufe des Höllenhundes, die mir die Brust aufreißen wollten. Ich hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und wirbelte um meine eigene Achse. Im richtigen Augenblick ließ ich das sich wie rasend gebärdende Tier los. Es flog dem Menschvogel direkt in die Krallen. Sie bildeten ein Knäuel, das sich nur mühsam entwirrte. Die Verschnaufpause benutzte ich nicht, um mich auszuruhen. Ich wandte mich Nekrotius zu, dessen Wut mit jedem fehlgeschlagenen Angriff seine beiden Identitäten unbeschreiblich geworden war.
Er empfing mich mit dem Amulett und versuchte, es mir auf die Stirn zu drücken. Ich schlug mit der Handkante zu, und der schwarze Höllenstein trat eine Flugreise an. Ich verfolgte seine Flugbahn und merkte mir die Stelle, wo er aufprallte. Er lag neben der Bordsteinkante, ungefähr zwanzig Schritte von mir entfernt. Unerreichbar. Er hätte auch auf dem Mond liegen können. Nekrotius heulte zornig auf. Mit so verbissenem Widerstand hatte er nicht gerechnet. Er wirbelte herum, um sich das Amulett zurückzuholen. Ich sprang und landete auf seinem Rücken. Mit aller Kraft, die mir noch zur Verfügung stand, zerrte ich ihn zurück. Er schlug um sich und brachte mir Treffer bei, die ich nicht so schnell verdauen konnte. Inzwischen hatten sich auch die beiden Kreaturen erholt und kamen ihm zu Hilfe. Jetzt mußte ich es mit dreien aufnehmen. Solange Nekrotius nicht im Besitz des Amuletts war, sah ich eine Chance. Ich wollte versuchen, es in meinen Besitz zu bringen. Ich sprintete los. Doch Nekrotius ahnte meine Absicht. Er schleuderte mich zur Seite, und der Vogelmensch stieß auf mich herab. Sein mörderischer Schnabel zielte genau auf meinen Hals. Mit einer schnellen Rolle brachte ich mich aus der unmittelbaren Gefahr und erreichte, daß das Scheusal hart auf den Asphalt prallte. Dafür verbiß sich Hellof in meinem Bein. Der Schmerz war kaum zu ertragen. Es war, als würde ich bei wachem Verstand amputiert. Ich bäumte mich auf und stieß meine Daumen in die Höllenaugen der Bestie. Der Rachen öffnete sich. Ein Urschrei entrang sich der Kehle des Scheusals. Es wand sich unter Schmerzen.
Ich stieß nach. Ich hatte eine schwache Stelle gefunden. Das war mehr, als Hellof ertragen konnte. Er raste wild aufjaulend davon. Genau dorthin, wo Nekrotius inzwischen dem schwarzen Amulett gefährlich nahe gekommen war. Aus eigener Kraft war es mir unmöglich, den Magier noch einzuholen und ihm den Stein zu entreißen. Ich reagierte gedankenschnell. Meine Hände packten zu und bekamen Hellofs Rute zu fassen. Das Tier schleifte mich in höllischem Tempo mit, und die Distanz zu Nekrotius verringerte sich zusehends. Der Magier erkannte die Gefahr. Er beeilte sich. Aber nun war auch ich heran. Ich ließ Hellof los und griff im Liegen nach dem Amulett, das mir die Rettung bringen sollte. Eine verkrümmte Hand landete neben der meinen. Exakt im selben Augenblick. Nekrotius' Hohngelächter ließ die ganze Straße erzittern. Zwischen seinen Fingern hing die Kette mit dem Anatas. Er riß sie an sich und ließ mich nicht mehr auf die Füße kommen. Er scheuchte den Vogelmenschen weg, der sich gerade auf mich stürzen wollte. Jetzt war seine Stunde gekommen. Er hatte mich besiegt. Diesen Moment wollte er auskosten. Ich lag auf dem Rücken und starrte dem haßerfüllten Mönch und Magier entgegen. Der schwarze Stein funkelte in seiner zerfurchten Faust. Sein Gesicht verzerrte sich. Der Haß wurde von Triumph überflutet. Er hatte mich dort, wo er mich haben wollte. Ein Knie lastete auf meiner Brust. Ich konnte nicht entfliehen. Seine Hand näherte sich meiner Stirn. Ich sah den Anatas näherkommen. Quälend langsam. Er genoß meine Hilflosigkeit. Göpfert schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht. Das war das Ende. Auch für ihn. Der Arm des Magiers zuckte vor.
Mit schrillem Hohngelächter preßte er mir das Amulett mitten auf die Stirn und drückte mir damit den Stempel des Bösen auf. * Nekrotius schien nicht zufrieden zu sein. Er wartete auf etwas, was nicht eintrat. Vielleicht hätte ich in Rauch und Asche aufgehen sollen. Vielleicht wollte er mich zu einem seelenlosen Monster umfunktionieren, das ihm hörig war und seine verbrecherischen Befehle ausführte. Nichts dergleichen geschah. Am meisten aber irritierte ihn wohl mein überhebliches Grinsen, als er das Amulett noch fester gegen mich preßte. Allerdings weiterhin ohne Erfolg. »Wieso bist du gegen die dämonische Kraft des Amuletts gefeit? Es muß dich besiegen. Es muß!« Die letzten Worte brüllte er laut hinaus. Ich blieb ruhig, als ich entgegnete: »Manchmal liegt es nur an einer Kleinigkeit, Nekrotius. Du hast an alles gedacht, nur nicht daran, daß du in deine eigene Falle laufen könntest. Mit einem falschen Amulett wolltest du die Polizei täuschen und den Verdacht des Mordes auf einen Unschuldigen lenken. Du hast eine perfekte Nachbildung geschaffen. So perfekt, daß du ihrer Täuschung selbst erlegen bist.« Nach diesen Worten öffnete ich meine Faust, in der das echte Amulett ruhte. Es war mir gelungen, beide Ketten blitzschnell auszutauschen, bevor der Magier danach greifen konnte. Diesmal war ich es, der den Stein gegen eine Stirn drückte. Gegen seine Stirn. Nekrotius war wie erstarrt, als sich der heiße Anatas in sei-
nen Schädel brannte. Er schrie unter Qualen und wand sich. Ich durfte kein Erbarmen haben. Der Magier hatte sich dem Bösen verschrieben. Für ihn gab es nur eine Strafe: die Vernichtung. Die Hitze in meiner Hand wurde unerträglich. Ich mußte loslassen, sonst wäre ich verglüht. Nekrotius verging vor meinen Augen. Das Amulett blieb in ihm und hörte auf zu existieren, als der Magier verschwunden war. Mit Nekrotius wurden gleichzeitig auch der Vogelmensch und Hellof vernichtet. Sie waren nur andere Gestalten, in denen der Magier aufgetreten war. Ich hatte ihn gleich dreimal besiegt. Erschöpft richtete ich mich auf und ging zu Ralf Göpfert hinüber. Der junge Deutsche konnte noch immer nicht fassen, was geschehen war. Und vor allem, daß er noch lebte. »Ich fürchte, ich habe mich wie ein Narr benommen«, gestand er mit belegter Stimme. Ich schüttelte den Kopf. »Der Bann des Magiers war zu groß. Nicht nur Sie waren ihm verfallen. Was werden Sie jetzt tun? Suchen Sie sich einen neuen Zirkel?« Er wehrte erschrocken ab. »Hören Sie auf! Ich nehme die erste Maschine nach Frankfurt. Für den Rest des Lebens bin ich bedient.« Darüber war ich froh. Göpfert hatte gewaltiges Glück gehabt, daß er mit dem Schrecken davongekommen war. Sieben Männer und vier Frauen starrten entgeistert auf die Schußwaffen in ihren Händen. Nachdem der Bann von ihnen gefallen war, konnten sie sich ihr Handeln nicht erklären. Ich nahm an, daß auch sie in Zukunft keinen Wert mehr auf Kontakt mit den Geistern verstor-
bener legten. Ich fuhr nach Whitehall, rief Sir Horatio an und bat ihn, Inspektor Gallinger zu informieren. Den Anatas konnte ich nicht mehr zurückgeben. Weder den ursprünglichen noch die Nachbildung. Beide hatte Nekrotius mit sich genommen. Der Chef versprach, sofort zu kommen. Ich mußte mit ihm hinaus zu dem Ort des Grauens fahren. Er kniff die Augen zusammen und suchte den vernichteten Gegner. Die Straße war leer. Ich bedauerte, damit nicht dienen zu können. »Das ist das Erfreuliche an Ihnen, Mac«, meinte er dann. »Wenn Sie arbeiten, arbeiten Sie sauber und ohne Abfall. Nur Sie selber sehen hinterher immer so aus, als kämen Sie von der Müllkippe. Wenn ich Miß Kathleen wäre, hätte ich Ihnen schon längst den Laufpaß gegeben.« Ich grinste. »Gut, daß Sie mich an den versprochenen freien Tag erinnern. Er kann auch ein bißchen länger dauern. Auf jeden Fall melde ich mich gelegentlich wieder bei Ihnen.« ENDE
In vierzehn Tagen erhalten sie den packenden MacKinsey-Gruselkrimi Nr. 6 Norman Thackery hat ihn geschrieben. Er heißt:
Wächterin der toten Seelen Seine Faust zuckte vor. Er schlug mit aller Kraft zu. So hatte er es gelernt. Juha Södergren zwang sich zu gleichmäßigem Atmen. Gute Ratschläge vergaß der Finne nie. Er duckte ab und ließ seine Rechte kommen. Er mußte etwas für seine Rechte tun. Sie war seine schwache Seite. Mit der Linken lehrte er so ziemlich jeden Gegner das Fürchten. Aber die Rechte! Er tänzelte geschickt zur Seite, um nicht getroffen zu werden. So ein Sandsack hatte ein ganz hübsches Gewicht, und seine Partner bei der morgigen Gesprächsrunde um die Fischereirechte würden unverschämt grinsen, wenn er mit zusammengestauchter Nase am Verhandlungstisch Platz nahm. Sie würden glauben, daß sie ihm getrost auch eins überbraten konnten, aber da sollten sie sich täuschen. Er hatte genaue Anweisungen von seiner Regierung bekommen, und von denen würde er um keinen Zoll abweichen. Wieder schlug er auf den Trainingssack ein. Dieses kör-
perliche Austoben machte ihm Spaß. Außerdem mußte es sein. Achtzehn Stunden am Tag saß er entweder im Auto, am Diskussionstisch oder in einem Restaurant mit exzellenter Speisekarte. Das trieb den Cholesterinspiegel in die Höhe, und früher oder später sah er aus wie sein Boß im Ministerium, der zweieinhalb Zentner auf die Waage brachte. Juha Södergren stieg schon seit Jahren nur noch in Hotels ab, die über ein Fitneß-Center verfügten. Er hatte den Ehrgeiz, seine fette Pension noch zu erleben. Dem Staat, dem er jetzt treu diente, wollte er keine einzige Mark schenken. Der Finne grinste. Er stellte sich vor, der Sandsack wäre sein Chef. Vom Gewicht her kam das hin, nur war der Sack wesentlich hübscher. Sein Lächeln gefror auf den angespannten Lippen. Was war das? Wer keuchte da? Er befand sich doch ganz allein in diesem Raum, der unverständlicherweise nur sehr selten benutzt wurde. War er das selbst? Er trat zur Seite und ließ den Sack ausschwingen. Er lauschte. Nichts war zu hören. Nicht einmal die Digitaluhr über der Tür gab einen Laut von sich. Die Nerven! Juha, du bist überarbeitet. Vier Wochen Urlaub würden dir guttun! Er nahm sich wieder den Sandsack vor und bearbeitete ihn mit großer Verbissenheit. Seine Fäuste knallten gegen das Leder. Die Beine, an deren Waden sich deutlich Krampfadern abzeichneten, tänzelten. Seine wasserhellen Augen waren auf den imaginären Punkt gerichtet, der die Kinnspitze seines Gegners
darstellen sollte. Er hielt sich das säulenförmige Ungetüm geschickt vom Leib. Wie das Gestänge einer Dampflokomotive arbeiteten seine Arme.