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Die Reihe „Abenteuer aus aller Welt" macht ihre Leser mit verschiedenen Gegenden unserer Erde bekannt. Im Rahmen spannender Erzählungen vermitteln ihre Autoren präzise Wirklichkeitserfahrungen, die sie selbst an Ort und Stelle gesammelt haben. Der 1951 geborene Journalist und Autor Peter Koller ist bislang mit Arbeiten für Funk und Fernsehen und einem Reisebericht über Südamerika hervorgetreten. Jaguare sind die Todfeinde der Indios im südamerikanischen Tropenwald. Trotzdem wagt es Puna, ein zwölfjähriger Junge, ein verwaistes Jaguarbaby großzuziehen. Er wird von den Dorfältesten aus der Gemeinschaft ausgestoßen und muß mit seinem vierbeinigen Freund in den Dschungel fliehen. Der Kampf ums Überleben beginnt; er fällt beiden nicht leicht. Täglich lernen sie, sich der neuen Umgebung anzupassen, doch sie erleiden auch Rückschläge. Im Dorf allerdings arbeitet die Zeit für sie. Vielleicht ist der Jaguar gar kein Dämon?
Koller • Im Banne des Jaguars
PETER KOLLER
Im Banne des Jaguars
BOJE-VERLAG STUTTGART
81 82 83 84 85 54321 © 1981 Boje-Verlag, Stuttgart Gesamtherstellung: Richterdruck Würzburg Umschlag: Klaus Bürgle • Foto: VARIN-VISAGE, JACANA Printed in Germany • ISBN 3 414 14280 5
DIE ENTSCHEIDUNG Langsam zog die Dämmerung über die Hütten. Die lang gewordenen Schatten zerflossen zu einem konturlosen Grau. Punas Mutter legte den dicken Holzpflock zur Seite, mit dem sie Grassamen zu Mehl zerstoßen hatte. »Puna! Puna! Wo steckst du denn schon wieder? Puna! Komm, hilf mir beim Wegräumen!« Puna, der hinter der Hütte seines Onkels im Gras saß und seiner Schildkröte kleine Fleischstücke vor die Nase hielt, seufzte. Nie hatte man Zeit für sich selbst! Immer hieß es: Puna, mach dies! Puna, mach das! Den ganzen Vormittag war er unterwegs gewesen, um Yuccaknollen zu sammeln; am Nachmittag hatte ihm die Mutter drei kaputte Körbe hingestellt und gesagt: »Puna, hol dir ein paar Palmblätter und reparier die Körbe! Ich komme heute nicht mehr dazu, und wir brauchen sie dringend.« Punas geplante Bootsfahrt mit seinem Freund Altac war dadurch ins Wasser gefallen. Puna stand auf. »Tut mir leid, kleine Tortuga, es gibt nichts mehr. Ich muß Mutter helfen.« Die Schildkröte reckte den Kopf aus ihrem Panzer, als ob sie Punas Worte verstanden hätte. Sie sah dem davoneilenden Jungen nach und widmete sich dann einem Stückchen Fleisch, das noch auf dem Boden lag. »Da bist du ja!« Die Mutter war heute sehr ungeduldig. »Nimm die Schüssel und trag sie in die Hütte. Bist du mit -6-
den Körben fertig?« »Nein, noch nicht ganz«, antwortete Puna. »Der große hat so viele Löcher gehabt. Das hat so lange gedauert. Außerdem habe ich keine trockenen Palmblätter gefunden. Ich habe lange suchen müssen, bis ich genug zum Ausbessern beisammen hatte.« »Dann mußt du gleich morgen früh weitermachen. Ich brauche die Körbe!« Das wußte Puna. Morgen wollte die Mutter Casave, die großen Fladen aus geriebenem Manyok, die die Indios als Brot verwendeten, backen. Puna liebte frisches Casave. Er mochte den leicht säuerlichen Geschmack der hellgelben Fladen und ihre knusprige Kruste. Leider machte die Mutter nicht oft Casave, und die Fladen, die als Vorrat aufgehoben wurden, trockneten bald aus und wurden zäh wie Leder. Puna schleppte die große Schüssel mit den zerstoßenen Grassamen in die Hütte und stellte sie dort auf den Boden. Die Hütte war sehr geräumig und bot allen Familienmitgliedern genügend Platz. Punas Vater hatte ihm einmal von den Hütten der Weißen erzählt. Sie seien aus Steinen gebaut, sagte der Vater, hätten richtige Wände mit Löchern zum Durchschauen. Puna sah sich um. Die Hütten der Indios hier waren viel einfacher, aber auch praktischer. Eigentlich bestanden sie nur aus einem Palmstrohdach, das von einigen dicken Pfählen getragen wurde. Man konnte sie von allen Seiten betreten, wo man wollte, und mußte sich nicht erst durch eine Tür zwängen. Im Grunde genommen waren die Hütten nur ein Schutz gegen den Regen, den die Wolken täglich in einem kurzen, aber heftigen Guß über den Dschungel verströmten. Aber mehr war auch nicht nötig: ein Dach gegen den Regen und einige stabile Pfähle, an -7-
denen man seine Hängematte befestigen konnte. Puna verstand nicht, warum sich die Weißen so komplizierte Hütten mit steinernen Wänden und eisernen Türen bauten. Wäre es nicht sein Vater gewesen, der ihm das erzählt hatte, er würde es nicht glauben. »Träumst du schon wieder?« Mutters Stimme schreckte Puna aus seinen Gedanken auf. »Beeil dich, es ist gleich finster! Draußen liegt noch so viel herum!« »Ich geh’ ja schon«, murrte Puna. Es ärgerte ihn, daß die Mutter immer so nervös wurde, wenn die Jagd bevorstand. Sicher, diese Jagdzüge waren sehr wichtig, weil sie sonst kein Fleisch hätten, aber deswegen mußte man sich doch nicht so aufregen! Um keinen Preis der Welt hätte Puna zugegeben, daß auch er der Nacht entgegenfieberte, in der der Mond dick und rund am Himmel stehen würde. Denn für den darauffolgenden Morgen hatte der Vater den Beginn des Jagdzuges festgesetzt. Immer wieder dachte Puna an das Gespräch, das der Vater vor einigen Tagen mit Mutter geführt hatte: »Unsere Fleischvorräte gehen zu Ende. Ich habe mit den anderen Männern besprochen, daß wir nach dem nächsten Vollmond wieder eine große Jagd unternehmen. Und ich habe mir gedacht, daß Puna nun schon alt genug ist, um mitzugehen.« Während er die Hausratsgegenstände vor der Hütte einsammelte, erinnerte sich Puna an das betroffene Gesicht seiner Mutter, als Vater das sagte. »Er ist doch noch so jung«, erwiderte sie, »und die Jagd ist so gefährlich!« »Ich habe entschieden, daß er alt genug ist.« Gegen die Entscheidung des Vaters war Mutters Besorgnis machtlos. »Er muß anfangen zu lernen. Wie soll er später ein guter Jäger werden, wenn er nicht jetzt schon beginnt, die Ge-8-
heimnisse des Waldes kennenzulernen? Puna ist klug und geschickt, er ist kräftig und schnell. Ich habe keine Sorge um ihn.« Diese Worte seines sonst so schweigsamen Vaters hatten Puna mit Stolz erfüllt. Der Vater hielt ihn für klug und kräftig! Noch am selben Tag hatte Puna seinen kleinen Bogen und die Pfeile mit den Holzspitzen hervorgesucht. Bisher hatte er sich kaum damit beschäftigt, aber jetzt begann er hinter den Hütten zu üben. Wenn er den Jagdzug mitmachen durfte, wollte er den Vater damit überraschen, daß er mit Pfeil und Bogen gut umgehen konnte. Seither war eine Woche verstrichen, und jeden Tag hatte Puna sich heimlich im Bogenschießen geübt. Auch heute hatte er eine ganze Stunde – um die Mittagszeit, als ihm die Mutter ausnahmsweise keine Arbeit aufgetragen hatte – damit verbracht, seine kurzen Pfeile auf ein Astloch in einem Baumstamm abzuschießen. Er war mit dem Ergebnis zufrieden, denn von zehn Pfeilen trafen sieben ihr Ziel. Später in der Nacht, als Vater und Mutter und die kleine Schwester schon tief schliefen, kletterte Puna leise aus seiner Hängematte. Vorsichtig, damit er niemanden aufweckte, schlich er vor die Hütte. Wolken bedeckten den nächtlichen Himmel. Nur selten blinkte ein Stern durch ein Wolkenloch. Puna mußte lange warten, bis die Wolken einen Moment lang den Mond freigaben. Noch war er nicht rund, ein Viertel fehlte noch. Enttäuscht schlich Puna in die Hütte zurück. Warum braucht der Mond so lange, bis er rund wird? Kann er sich nicht beeilen damit? Während er das dachte, fielen ihm bereits die Augen zu.
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Eine Woche später war es dann soweit. »Heute ist Vollmond«, sagte der Vater. »Morgen früh brechen wir auf. Fühlst du dich stark genug, den Jagdzug mitzumachen, Puna? Wenn du morgen mitgehst, mußt du eine ganze Woche aushalten. So lange wird die Jagd dauern. Und wenn du unterwegs schlappmachst, ist keiner da, der dir hilft. Denk daran! Das Fleisch für das Dorf ist wichtiger als du.« Puna blickte zu seinem Vater auf. Das bronzefarbene Gesicht des großen Indianers war ernst, aber nicht besorgt. Der Vater war überzeugt, daß Puna seine Kräfte richtig einschätzen würde. Und er war sicher, daß er ihn nicht belügen würde. Wenn sein Sohn sagte, daß er mitgehen wolle, dann würde er die Strapazen auch durchstehen. Noch einmal horchte Puna in sich hinein, spannte zur Probe die Muskeln. Noch einmal dachte er an alles, was er aus den Erzählungen der Erwachsenen über solche Jagden wußte. »Ich gehe mit, Vater. Ich schaffe es.« »Gut.« Nun war es endgültig: Puna würde seine erste Jagd mitmachen! Trotz aller Vorfreude beschlich ihn ein Gefühl der Bangigkeit. Hatte er sich nicht doch zuviel zugemutet? Würde er wirklich eine Woche schwerster körperlicher Anstrengung durchhalten? Ich muß! Jetzt kann ich nicht mehr zurück! Alle meine Freunde würden mich auslachen, auch Altac, murmelte Puna vor sich hin. Altac stand ihm von den Jungen des kleinen Dorfes am nächsten; er war ein halbes Jahr älter als er selbst. Eine felsenfeste Freundschaft verband ihn mit diesem schmächtigen Knaben, der für sein Alter eigentlich viel zu groß war. Sie hatten so manchen Streich miteinander ausgeheckt, und fast alles unternahmen sie gemeinsam. Aber wenn Puna - 10 -
jetzt der Mut verließ, würde auch Altac kein Verständnis dafür haben. Altac haßte nichts so sehr wie Feigheit. Puna ging seinen Freund suchen. Dessen Mutter sagte ihm, er sei wahrscheinlich am Fluß zu finden; er wollte Fische für das Abendessen fangen. Altac saß im vorderen Ende eines Einbaumes, der am Ufer angebunden war. Neben ihm türmte sich bereits ein kleiner Berg von Fischen. Sein Angelzeug bestand aus einer dünnen, kräftigen Schnur aus Pflanzenfasern und einem riesigen, halbverrosteten Haken. Altac war auf diesen Angelhaken besonders stolz; sein Vater hatte ihn vor zwei Jahren mitgebracht, als er aus einer Stadt der Weißen zurückkam. »Sieh nur, wie viele ich schon gefangen habe!« rief Altac, als er Puna kommen sah. »Mein Haken ist eben doch viel besser als die knöchernen! Wenn du willst, borge ich ihn dir. Damit macht das Fischen gleich viel mehr Freude.« Das Fangen von Fischen gehörte ebenso zu den Aufgaben der jungen Indios wie das Sammeln von eßbaren Wurzeln und Knollen. Die Mädchen mußten bei der Hausarbeit und der Zubereitung der Mahlzeiten helfen. »Deine Fische interessieren mich momentan nicht. Ich habe ein anderes Problem. Ich gehe doch morgen zum ersten Mal auf die Jagd mit. Vater hat es gerade endgültig erlaubt. Weißt du, Altac«, Puna setzte eine Verschwörermiene auf und senkte seine Stimme zu einem Flüstern, »ich habe heimlich Bogenschießen geübt. Ich kann’s jetzt schon ganz gut. Von zehn Pfeilen neun im Ziel, einer knapp daneben. Nur halt nicht auf größere Entfernungen. Ich möchte Vater damit überraschen.« »Na, das ist doch prima! Wo ist da das Problem?« »Ich habe nur Pfeile mit Holzspitzen. Die splittern so - 11 -
leicht, und stumpf sind sie auch. Auf der Jagd möchte ich nicht nur die Beute schleppen oder den Spuren nachgehen, ich möchte auch selbst etwas erlegen. Und dazu brauche ich eiserne Pfeilspitzen. Dein Vater hat doch noch welche. Kannst du mir zwei oder drei davon besorgen? Nach der Jagd gebe ich sie dir wieder zurück.« »Das kann ich nicht machen! Du weißt doch, wie wertvoll die Eisenspitzen sind! Mein Vater hütet sie wie seinen Augapfel. Er hat sie damals vor zwei Jahren aus dem Dorf der Weißen mitgebracht. Nicht einmal mir hat er eine gegeben. Was ist, wenn du eine verschießt? Nein, das geht nicht.« »Wirklich nicht? Schade… Ich habe mich schon so auf die Jagd gefreut. Mit meinen Holzspitzen brauche ich gar nicht mitzugehen. Mit denen erlege ich nicht einmal einen Frosch.« Puna war ehrlich betrübt, aber ein bißchen übertrieb er schon. Er hoffte, den Freund dadurch umstimmen zu können. Tatsächlich ließ sich Altac durch sein trauriges Gesicht rühren. »Naja, wenn du mir versprichst, daß du aufpaßt und keine verlierst… Sonst werden wir beide den bösen Geistern zum Fraß vorgeworfen… Ich bringe dir am Abend zwei von den Eisenspitzen!« Punas Trübsal war wie weggeblasen. Dankbar strahlte er Altac an. »Das ist fein! Nur – am Abend ist es schon zu spät. Ich muß sie ja noch an den Pfeilen befestigen!« »Na, du hast Wünsche! Meine Mutter ist doch in der Hütte! Ich kann die Spitzen jetzt unmöglich holen.« »Ich weiß was! Ich rufe deine Mutter heraus, dann sieht sie dich nicht! Ich bringe ihr die Fische, die du gefangen hast, und lege sie vor der Hütte in den Schatten. Die holt sie auf jeden Fall, und du kannst in die Hütte.« - 12 -
Eine knappe halbe Stunde später hockte Puna unter einem Baum am Waldrand und umwickelte seine Pfeilschäfte mit dünnen nassen Riemen aus rohem Leder. Wenn sie trockneten, zogen sie sich zusammen und verbanden die Eisenspitzen fast untrennbar mit dem Holz. Dann war Puna für die große Jagd bereit. Allerdings lag noch eine lange Nacht dazwischen. Die erwartungsvolle Aufregung ließ ihn nicht schlafen. Ruhelos wälzte er sich in seiner Hängematte umher und wartete, daß die endlosen Stunden verstrichen. Als der Vater noch vor Sonnenaufgang an die Hängematte trat, um Puna zu wecken, sah er in die wachen Augen seines Sohnes. »Du bist schon munter? Oder hast du gar nicht geschlafen? Das ist nicht gut, denn da wirst du zeitig müde werden. Komm, steh jetzt auf!«
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DIE GROSSE JAGD Punas Gesicht war mit Schweiß bedeckt, salzige Tropfen liefen in die Augen. Dort brannten sie wie Feuer, doch Puna verbiß den Schmerz. Er wollte nicht, daß sein Vater sah, wie er sich die Augen rieb. Bestimmt hätte der dann gesagt: »Siehst du, du bist schon müde!« Puna war auch müde, aber das hätte er niemals eingestanden. Der Dschungel war in stickigheiße Feuchtigkeit gehüllt. Über den hohen Bäumen stand die Sonne grell am wolkenlosen Himmel. Der vom letzten Regen durchtränkte Boden jedoch dampfte; die Luft war schwül und schwer. Puna spürte zum ersten Mal, wie feucht und drückend dieses Klima hier im tropischen Urwald war. Das Dorf, in dem er lebte, lag auf einer großen Lichtung; dort war es zwar auch heiß, aber nie so schwül. Und bis jetzt war Puna noch nie so tief in den Dschungel eingedrungen. Seine Spiele hatten ihn höchstens einige Meter ins Dickicht geführt, er hatte sich nie weiter vom Dorf entfernt. Zu sehr hatten ihn die Erzählungen der Alten – von wilden Tieren, unheimlichen, schaurigen Wesen und bösen Geistern – beeindruckt. Manchmal hockten sie abends um ein prasselndes Feuer auf dem Versammlungsplatz, der sich mitten zwischen den Hütten befand, schlürften ein duftendes Getränk aus den Kalebassen, und wenn die flackernde Glut gespenstische Schatten über ihre dunklen Gesichter zucken - 14 -
ließ, dann redeten sie davon. Puna wurde immer schlafen geschickt, aber zweimal hatte er sich heimlich herangeschlichen und mit glühenden Ohren den Geschichten gelauscht. Gedankenverloren stapfte Puna hinter seinem Vater her. Sie gingen ganz vorn in der Gruppe, denn der Vater war ein guter Jäger. Die anderen elf Indianer überließen ihm die Führung, weil er am besten Spuren lesen konnte. Puna hätte eigentlich am Ende der Reihe gehen müssen, aber Vater hatte ihn mit nach vorne genommen. Zuerst war Punas Freude groß. Bald aber bemerkte er, daß der Platz ganz vorne recht unangenehm war. Vater mußte mit seiner Machete – dem Buschmesser – den Weg freischlagen. Häufig bog er kleinere Äste nur zur Seite, die dann zurückschnellten und Puna schmerzhaft ins Gesicht peitschten. Der Boden war bedeckt mit dornigen oder scharfkantigen Pflanzen. Dem Vater schien das nichts auszumachen, aber Punas Fußsohlen besaßen noch keine dicke Hornhaut und waren recht empfindlich. Der Indio, der als letzter ging, hatte es besser: die vorausmarschierenden Jäger brachen oder schnitten die zurückschnellenden Äste ab, und ihre Füße traten die Dornen in den Boden. Am Schluß der Reihe war der Weg verhältnismäßig breit und glatt. Wieder schnalzte ein Zweig quer über Punas Nase. Oder vielmehr eine mit unzähligen harten Stacheln besetzte Ranke. Der Schmerz trieb Puna die Tränen in die Augen, aber er gab keinen Laut von sich. Männer kreischten nicht gleich los, wenn etwas weh tat, und Puna war ein Mann, sonst hätte man ihn nicht auf die Jagd mitgenommen. Daß sein Kopf nicht höher ragte als bis zur Brust des Vaters, störte ihn nicht. »Nicht auf die Größe kommt es an, sondern auf die Haltung«, pflegte sein Onkel zu sagen. Die Worte - 15 -
des Onkels wurden allgemein anerkannt, denn als Häuptling nahm er eine bedeutende Stellung im Dorf ein. Der Vater hob die Hand. Ruhe, hieß das. Er hatte eine Spur gefunden. Puna betrachtete angestrengt die Erde: in unregelmäßigen Abständen waren kleine Vertiefungen darin, manchmal seicht und fast unsichtbar, dann wieder tief und ausgeprägt. »Ein Tapir«, sagte Vater, »er ist am Morgen hier vorbeigezogen. Schau, Puna, die Ränder der Abdrücke sind schon ausgetrocknet und teilweise abgebröckelt. Da liegt auch ein zertretener Halm; er ist ganz welk.« Puna bewunderte den Vater. Mit welch unglaublicher Sicherheit er das alles aus den wenigen Spuren herauslesen konnte! »Es ist kein sehr großer Tapir, wahrscheinlich ein Weibchen. Und er ist sehr müde; er hat die Beine nicht hochgehoben, sondern nachgeschleift.« Langsam folgte der Vater der Fährte; die anderen gingen aufmerksam hinterdrein. Besonders Puna sperrte Augen und Ohren auf, schließlich wollte er ja auch einmal ein guter Jäger werden. »Vater, da! An dem Baumstamm kleben Haare!« »Gut beobachtet, Puna. Komm, sieh dir die Haare genau an! Fällt dir etwas auf?« Puna starrte das Haarbüschel an, das an der rauhen Rinde eines dicken Baumes direkt neben der Fährte hing. Er sah nichts Besonderes; es war ein Haarbüschel, wie Haarbüschel eben sind. Es bestand aus braunen, knapp daumenlangen Haaren… Doch, da war etwas! An einem Ende waren die Haare mit einer bräunlichen Masse beschmiert; sie klebten an dieser Stelle zusammen! »Es könnte Blut sein, Vater! Vielleicht hat sich der Tapir - 16 -
verletzt!« »Richtig! Es ist Blut, aber kein frisches. Der Tapir muß eine ältere Wunde haben. Und er ist nicht müde, er ist krank! Sehr krank sogar! Ich glaube nicht, daß er sich absichtlich an dem Baum gerieben hat; solche Bäume sehen anders aus. Komm weiter! Wir werden ihn bald finden!« Die Augen auf die Fährte gerichtet, schritt der Vater rasch voran. Die Zweige und Lianen schienen von selbst zur Seite zu weichen, so schnell arbeitete sich der hochgewachsene Indio durch das Dickicht. Puna achtete nicht mehr auf die Dornen, die seine Haut ritzten. Er war begierig zu erfahren, ob sein Vater recht hatte. Er wollte den Tapir sehen, das Tier, dessen Fleisch er schon so oft gegessen, das er aber noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Hin und wieder hielt der Vater inne, bückte sich und prüfte die Fährte. »In einer Stunde haben wir ihn! Er wird immer schwächer und langsamer. Los, weiter, aber von jetzt an leise!« Puna bemühte sich redlich, kein Geräusch zu verursachen. Trotzdem hatte er das Gefühl, Lärm wie eine ganze Rinderherde zu machen. Ständig raschelte das Laub unter seinen Füßen, knackten irgendwelche Äste. Er sah sich mehrmals um, ob die anderen Jäger noch hinter ihm waren – denn hören konnte er sie nicht. Ich muß noch sehr viel lernen, glaube ich, schoß es ihm durch den Kopf. Wieder hob der Vater die Hand. »Dort vorne muß er sein! Ich rieche ihn!« Kaum hörbar flüsterte der Vater diese Worte. Puna zog die Luft prüfend durch die Nase. Nichts. Nur der ewig gleiche süßliche Geruch von dampfender Erde und faulendem Holz. Nun, der Vater war ja viel größer als er – - 17 -
vielleicht war der Tapirgeruch weiter oben! tröstete sich Puna. Der Vater nahm den Bogen von der Schulter und zog einen Pfeil aus dem Köcher, den er auf dem Rücken trug. Jetzt wurde es ernst! Auch Puna wollte seinen Bogen schußbereit machen, aber ohne sich umzudrehen, winkte der Vater ab. »Laß das, Puna! Mit deinen Spielzeugpfeilen richtest du nichts aus! Du vertreibst mir den Tapir nur!« Enttäuscht schulterte Puna seinen Bogen wieder. Er wollte doch dem Vater zeigen, wie gut er mit der Waffe schon umgehen konnte! Aber dann sah er ein, daß weder er selbst noch sein Bogen stark genug waren, um einen Tapir zu erlegen. Daran änderten auch die geliehenen Eisenspitzen seiner Pfeile nichts. Sie würden nicht bis zu einem lebenswichtigen Organ – etwa dem Herzen – vordringen, sondern in den zähen Muskeln steckenbleiben. Sie konnten den Tapir nicht ernstlich verletzen. Vaters Pfeile sahen zwar genauso aus, aber sein Bogen war fast doppelt so lang und viel stärker als der Punas. Ein einziger gut gezielter Pfeil würde den Tapir auf der Stelle töten. Sie fanden den Tapir ganz anders, als Puna erwartet hatte. Er lag bewegungslos vor einem dichten, farnartigen Busch am Rande einer kleinen Lichtung; der Kopf und der vordere Teil des Körpers waren von den Zweigen verdeckt. Langsam und zitternd hoben und senkten sich die Flanken des Tieres, es atmete schwer. Zwei der Indios schoben sich an Puna vorbei. Auch sie hielten ihre Bogen bereit, die Pfeile lagen auf der Sehne. Die übrigen Jäger und Puna blieben stehen. Als der Vater und die beiden anderen näher schlichen, versuchte der Tapir auf die Beine zu kommen. Die Hinterläufe scharrten über den Boden, der Kopf mit der rüsselar- 18 -
tig verlängerten Nase ruckte aus dem Geäst. Aber er schaffte es nicht. Schnaubend sank er wieder zurück. Der Vater spannte den Bogen, zielte kurz; zischend flog der Pfeil davon und verschwand in den Zweigen des Busches. Der Tapir bäumte sich auf und lag dann still. Puna rannte hin. »Paß auf, Puna! Seine Zähne sind gefährlich, wenn er noch nicht tot ist!« Er war tot. Die Indios zerrten den schweren Körper vollends aus dem Gestrüpp. Jetzt sahen sie, warum der Tapir nicht weiter geflohen war: an seinem Hals, vom Schultergelenk bis fast zu den Ohren, befand sich eine tiefe, vereiterte Wunde! Scharen von Fliegen und Moskitos hockten darauf. »Das war el tigre!« sagte der Vater leise. El tigre – der Jaguar! El tigre – der Herrscher des Dschungels! Ein Frösteln lief über Punas Rücken. El tigre – er kannte dieses Wort aus der Sprache der Weißen, das die Indios nur mit Haß und Ehrfurcht aussprachen. El tigre war der fürchterlichste aller Dämonen des Waldes. Das indianische Wort dafür auszusprechen, hieße, den Dämon heraufzubeschwören. Deshalb nannten die Indios nur seinen spanischen Namen, den die Weißen benutzten. Puna sah sich um. Lauerte er schon im Halbdunkel des Blätterdaches über ihnen? Peitschte sein Schwanz den Boden, duckte er sich schon zum Sprung? El tigre war überall und nirgends, seine samtweichen Pfoten trugen ihn schattengleich durch den Dschungel. Das schwarzgelb gesprenkelte Fell machte ihn völlig unsichtbar, sein Zuschlagen war von tödlicher Überraschung. - 19 -
Die Indios fürchteten den Jaguar. Die Angst vor seiner Kraft und seiner Unberechenbarkeit wurde von einer Generation an die andere weitergegeben, und jede Generation erlebte neue Beweise dafür, daß er der Herr des Urwaldes war. Nachts kam er in ihre Dörfer und tötete die wenigen Rinder, die sie besaßen. Aber auch am hellichten Tag war es schon geschehen, daß er Menschen anfiel, die etwa Wurzeln sammelten. »Ich hätte den Tapir gar nicht mit dem Pfeil töten müssen. Er hätte den Tag auch so nicht überlebt. Die Götter mögen wissen, wie er dem Jaguar entkommen konnte. Möglicherweise hat ihn die Bestie im dichten Gestrüpp überfallen. Tapire können sich durch ihre Körperform sehr schnell durchs Geäst zwängen, so daß der Jaguar den Halt auf ihrem Rücken verliert, bevor er den tödlichen Biß anbringen kann.« Puna merkte, daß der Vater den Tapir bewunderte, dem es gelungen war, aus den tödlichen Krallen und Zähnen des Jaguars zu entfliehen. »Es ist schon lange her, daß ein Jaguar so nahe bei unserem Dorf war.« Einer der Jäger, ein kleiner, stämmiger Indio mit narbenbedeckten O-Beinen, trat heran. »Er ist eine Gefahr für uns. Die zwei Tagesmärsche bis zu unseren Hütten legt der Jaguar in einer halben Nacht zurück. Vielleicht…« »Was vielleicht?« Punas Vater hörte die Besorgnis in der Stimme des Jägers. »Es sind doch jetzt nur Frauen, Kinder und Greise im Dorf.« Das stimmte. Das Dorf zählte knapp fünfzig Einwohner, es war eher ein großer Familienclan. Die zwölf kräftigen Männer, die ihm angehörten, waren alle auf diesen Jagdzug mitgekommen; es gab niemand im Dorf, der es - 20 -
hätte schützen können. Denn die, die nicht mit auf die Jagd gegangen waren, waren schon zu alt und zu schwach, um noch eine Waffe zu führen. Der Rest bestand aus Frauen und Kindern. »Wenn der Jaguar jetzt dort ist, finden wir nur noch Tote«, fuhr der Jäger fort. »Wir alle wissen, daß der Dämon in seinem Leib oft pure Mordlust in ihm weckt. Dann tötet er alles, was er erreichen kann!« Puna erschrak. Er dachte an die Mutter und an Lona, seine kleine Schwester. »Vater, wir müssen etwas tun! Wir müssen zurück!« »Ja, aber nicht alle. Wir brauchen Fleisch und müssen die Jagd fortsetzen. Ich schlage vor, daß die Hälfte der Männer zurückgeht und das Dorf vor dem Jaguar schützt. Die fünf anderen und ich werden uns beeilen, die nötige Menge Fleisch so schnell wie möglich zu erlegen. Dann kehren wir auch zurück. Seid ihr alle einverstanden?« In dieser Situation konnte Punas Vater nicht einfach bestimmen. Man hatte ihm die Leitung der Jagd übertragen, bei allem, was die Jagd betraf, war sein Wort Gesetz. Aber der Schutz des Dorfes fiel nicht in seinen Entscheidungsbereich, da konnte er nur Vorschläge machen. Die anderen Indios nickten und murmelten zustimmend. Der Vorschlag des Vaters war das Vernünftigste, was sie tun konnten. Rasch wurde besprochen, wer zurückgehen sollte, dann setzten sich sechs Männer in Richtung Dorf in Bewegung. In schnellem Trab verschwanden sie zwischen den Büschen. In diesem Trab konnten sie stundenlang laufen und dabei weite Strecken ohne allzu große Ermüdung zurücklegen. Auch die Last des erbeuteten Tapirs, den sie abwechselnd trugen, behinderte sie nicht dabei. Puna blieb beim Jagdtrupp. Er spürte deutlich die Unruhe, - 21 -
die die Jäger erfaßt hatte. Nur der Vater war ruhig wie immer. »Wir dürfen jetzt nicht an unser Dorf denken, sondern müssen uns auf unsere Aufgabe konzentrieren. Nur so können wir den Jagdzug schnell beenden. Zerstreute Jäger sind schlechte Jäger! Wir teilen uns in Gruppen zu je zwei Mann, Puna geht mit mir. Morgen bei Sonnenaufgang treffen wir uns wieder hier, an dieser Stelle. Ich erwarte, daß jede Gruppe mindestens ein Beutetier mitbringt! Brechen wir auf! Und seid vorsichtig, wir wissen nicht, wo sich el tigre wirklich aufhält! Er kann auch in unserer Nähe sein!« Die Männer teilten sich in drei Gruppen, dem Vater und Puna schloß sich der krummbeinige Indio an, der vorhin die Bedenken wegen der Sicherheit des Dorfes geäußert hatte. Eine Minute später lag die Lichtung so einsam und verlassen da wie zuvor, nur wenige Spuren deuteten auf die Anwesenheit der zwölf Indianer und des Jungen hin.
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DER DÄMON Gähnend öffnete sie die Augen und reckte und dehnte sich. Durch den Halbdämmer der Höhle fiel ein Sonnenstrahl und zeichnete gelbe Kringel auf den sandigen Boden. Eine Hummel summte am Eingang vorbei, ihr Brummen drang herein. Ein sanftes Stupsen an ihrem Bauch erinnerte sie daran, daß ihre Jungen hungrig waren. Vier dunkelgelbe, fast braune wollige Knäuel maunzten kläglich, bis sie sich auf die Seite legte und sie trinken ließ. Vier Junge sind selten. Sonst waren es immer nur zwei, ein einziges Mal hatte sie drei gehabt. Und nun lagen vier Junge neben ihr in der Höhle und vertrauten darauf, daß sie für sie sorgte. Das war eine große Aufgabe für das Jaguarweibchen. Mit der Pfote rieb sie ihre Schnauze. Dort, ein Stück oberhalb der Lippe, schmerzte eine verkrustete Schramme… Ein gewaltiger Sprung hatte sie von einem Ast aus auf den Rücken des ahnungslosen Tapirs getragen. Mit den scharfen Krallen fand sie Halt, schon holte sie mit der linken Pranke zum tödlichen Schlag aus. Da rannte der Tapir los, preschte genau auf einen Baum mit tiefhängenden, starken Ästen zu! Beinahe verlor das Jaguarweibchen das Gleichgewicht; der Hieb, der dem Tapir das Genick brechen sollte, ging daneben. Er fetzte ihm nur die Haut und einige Muskeln aus dem Hals. Im nächsten Augenblick - 23 -
erreichte das in panischer Flucht dahinhetzende Tier den Baum. Die Jägerin prallte mit dem Kopf an einen waagrecht wegstehenden Ast, der sie einfach vom Rücken ihrer Beute fegte! Sie flog in einen Busch und blieb einen Augenblick lang benommen liegen. Als sie wieder hochkam, war der Tapir weg. Das war vier Tage her. Und noch immer schmerzte die Stelle an der Schnauze, mit der sie den Ast gerammt hatte. Aber der Schmerz hatte wenigstens so weit nachgelassen, daß sie die Zähne wieder aufeinanderpressen konnte. Abrupt stand sie auf. Die Jungen, die darauf nicht gefaßt waren, purzelten durcheinander. Ein beleidigtes Raunzen kam aus ihren Kehlen. Die Jaguarmutter sah auf ihre Sprößlinge hinab. Das eine Junge, ein Kater mit fast schwarzem Fell, in dem sich die Zeichnung nur schwach abhob, war schon jetzt, knapp zwei Wochen nach der Geburt, größer und kräftiger als seine Geschwister. Erst vorgestern und gestern hatten alle drei Kater die Augen geöffnet. Das einzige Weibchen des Wurfes war etwas klein geraten. Es konnte sich nicht recht durchsetzen, immer wieder drängten es die anderen ab, wenn sich die Mutter zum Säugen hinlegte. Dann zog es sich zurück und wartete ab. Es war auch das einzige, das die Augen noch nicht offen hatte. Im Moment war es dadurch den anderen gegenüber noch mehr benachteiligt. Auch jetzt zog es sich wieder schüchtern in eine Ecke der Höhle zurück. Die Mutter ging zu ihm und leckte es fürsorglich ab. Wohlig schnurrend rollte sich das Junge zusammen. Sekunden später zeigte sein gleichmäßiger Atem, daß es eingeschlafen war. Die Mutter stieß ein tiefes Knurren aus. Die drei männlichen Jungen, die in der Höhle umhertollten, wußten, was - 24 -
das bedeutete. Ich gehe weg, hieß das Knurren, seid leise und bleibt in der Höhle! Bevor die Jaguarmutter die Höhle verließ, witterte sie prüfend nach draußen. Die Luft war klar und sauber, sie trug keinen Geruch einer Gefahr mit sich. Andererseits – wer sollte auch einem ausgewachsenen, gesunden Jaguar gefährlich werden? Sie kannte nur zwei Feinde, und beiden war sie erst einmal begegnet. Der eine ernstzunehmende Gegner war die Anakonda. Diese braune, schwarzgetupfte Riesenschlange war durchaus in der Lage, einen Jaguar anzugreifen und auch zu besiegen. Dazu mußte sie aber ausgewachsen sein und ihre volle Länge von bis zu zehn Metern in den Kampf werfen können. Solch große Exemplare waren selten, und mit kleineren wurde der Jaguar fertig; sie gehörten sogar zu seiner Jagdbeute. Dem zweiten, bedeutend gefährlicheren Feind war die Jaguarmutter begegnet, als sie gerade eine Beute schlug. Hinter einer seltsam regelmäßigen Anordnung von dicken Ästen – einem Zaun, aber das wußte sie nicht – hatte sie eine lohnende Beute entdeckt. Größer als ein Tapir oder ein Wasserschwein, braun mit weißen Flecken und Hörnern auf dem glotzäugigen Kopf. Das Jaguarweibchen zwängte sich unter den Latten des Gatters durch und sprang ihr Opfer an. Unter dem fürchterlichen Hieb ihrer Pranke brach es sofort zusammen. Die große Katze packte das Kalb mit den Zähnen und begann, es zum Wald zu schleifen, da bekam sie einen derben Schlag gegen den Hinterlauf. Sie ließ ihre Beute los und fuhr herum: ein dünner Ast mit eigenartigen Federn an seinem Ende stak wippend in ihrem Schenkel! Brennender Schmerz durchzuckte sie, das Bein knickte unter ihr weg. Ein großes Tier, wie sie es noch nie gesehen hatte, nä- 25 -
herte sich. Erstaunt sah sie, daß es nur auf den Hinterbeinen lief, während es mit den Vorderbeinen hoch in der Luft herumfuchtelte! Sie hörte schrille Laute, die ihr unangenehm ins Ohr stachen, und nahm gleichzeitig einen durchdringenden fremden Geruch wahr. In den Vorderpfoten trug das unbekannte Tier einen gebogenen Ast, so wie es die Affen manchmal taten. Es blieb stehen, legte einen zweiten Ast quer über den ersten, zog das Ganze auseinander und ließ dann mit der einen Hand los. Sirrend zischte der Ast auf das Jaguarweibchen zu und bohrte sich tief in seine Flanke! Ihm wurde schwarz vor den Augen, benommen brach es zusammen. Die große Katze wachte auf, weil der Geruch ekelerregend in ihre Nase stieg. Als sie die Augen öffnete, sah sie das Gesicht des unheimlichen fremden Wesens über sich. In einer Art von Reflex wischte sie es mit der Pfote weg. Dann schleppte sie sich auf den Waldrand zu. Mit den Zähnen zog sie die beiden Pfeile aus ihrem Körper und leckte die Wunden sauber. Es dauerte drei qualvolle Wochen, bis sie einigermaßen verheilt waren. So verlief ihre erste Begegnung mit dem Feind, den sie mehr als alles andere fürchtete und haßte. Sie hatte überlebt. Der Indianer, der ihr die beiden Pfeile in den Leib geschossen hatte, nicht – ihr reflexartiger Prankenhieb hatte ihm den Schädel zertrümmert… Die Jaguarmutter verließ die Höhle. Mit geschmeidigen Bewegungen schob sie sich durch das Gewirr von Lianen, das den Eingang verdeckte. Noch einmal hob sie witternd den Kopf. Erst als sie sicher war, daß nichts von dem Geruch des verhaßten Zweibeiners zu spüren war, glitt sie weiter. Hier kannte sie jeden Zentimeter Boden, jeden Strauch und jeden Baum. Sie mußte eine größere Strecke - 26 -
laufen, um auf lohnende Beute zu stoßen, denn die Umgebung der Höhle wurde von allen größeren Tieren gemieden, der scharfe Raubtiergeruch warnte sie schon von weitem. Die besten Aussichten auf eine erfolgreiche Jagd bestanden am Ufer des Flusses. Dort tummelten sich die Wasserschweine, diese mehr als schafsgroßen Nagetiere. Dort gab es Tapire, die zur Tränke kamen, und dort waren auch Kaimane zu finden. Die Jaguarmutter schätzte das Fleisch dieser Echsen, und am Ufer waren sie eine leichte Beute. Sie hatte noch nie gezögert, die mächtigen Reptilien anzugreifen, solange keine Möglichkeit bestand, von ihnen ins Wasser gezerrt zu werden. Das Jaguarweibchen hatte Glück. Auf dem Weg zum Fluß kreuzte es die frische Spur eines Mazamas, eines Spießhirsches. Es entsprach nicht den Gewohnheiten dieser scheuen Tiere, noch bei Tageslicht unterwegs zu sein, normalerweise wurden sie erst nach Einbruch der Dunkelheit aktiv. In raschem Tempo folgte die Jaguarmutter der Fährte. Immer stärker wurde der Geruch, je mehr sie aufholte. An einem kleinen Wasserlauf verlor sie die Spur für kurze Zeit; als sie den Bach jedoch übersprungen und einen weiten Bogen geschlagen hatte, stieß sie wieder darauf. Der Spießhirsch, ein älteres Tier mit einer abgebrochenen Geweihstange, trabte knapp vor dem Jaguarweibchen dahin. Da ihm der leichte Wind ins Gesicht blies, ahnte er nichts von der drohenden Gefahr, die sich an seine Fersen geheftet hatte. Der Tod kam für ihn überraschend und schmerzlos. Er fühlte plötzlich ein schweres Gewicht in seinem Rücken landen, doch er hatte keine Zeit mehr, sich darüber zu wundern. Mit einem knackenden Geräusch zerbrach sein Nackenwirbel – den Aufprall auf den Boden spürte er bereits nicht mehr. - 27 -
Mit Zähnen und Krallen riß das Jaguarweibchen große Brocken aus seinem Opfer, die es gierig verschlang. Als der erste Heißhunger gestillt war, nahm es den Kadaver mit Leichtigkeit auf und trug ihn mühelos zur Höhle. Seine Jungen hatten sich müde getollt und schliefen, zu kleinen Pelzbällchen zusammengerollt. Sie wachten auf, als die Mutter die Jagdbeute klatschend zu Boden fallen ließ. Aufgeregt umkreisten sie den leblosen Mazama; mit ihm übten sie spielerisch das Beuteschlagen. Auf wackeligen Beinchen schlichen sie sich an, kippten dabei mehrmals um und lagen dann mit rudernden Pfoten auf dem Rücken. Tolpatschig sprangen sie ein Ohr oder einen Huf des Hirsches an, schlugen ihre winzigen Krallen und Zähne in sein Fell, die noch viel zu kurz waren, um es zu durchdringen. Aber sie gaben nicht auf. Besonders die kleine weibliche Raubkatze, deren Augen sich im Laufe des Tages geöffnet hatten, tat sich durch hartnäckige Ausdauer hervor. Sie hatte sich auf ein Ohr der Beute konzentriert und versetzte es mit unsicheren Prankenhieben in pendelnde Bewegung. Immer wieder sprang sie das Ohr an und grub ihre nadelspitzen Milchzähne hinein. Plötzlich gab es einen Ruck – das Ohr hing abgetrennt in ihrem Maul! Stolz, mit erhobenem Kopf trug sie ihre erste Beute in den Hintergrund der Höhle, während sich ihre Geschwister mit den Hufen des Mazamas erfolglos abmühten. Zur gleichen Zeit traf die Gruppe von Indios, die die Jagd fortgesetzt hatte, auf dem Platz ein, wo das Jaguarweibchen den Hirsch geschlagen hatte. Es war reiner Zufall, denn dieser Platz lag weit entfernt von der Stelle, an der sie den Tapir gefunden hatten. Zwei Tage und zwei Nächte lang waren die Jäger kreuz und quer durch den Busch gezogen, fast ohne zu schlafen. In den kurzen Pausen, die sie einlegten, verschlangen sie eilig ihre Mahlzeiten und ruhten - 28 -
ein wenig aus. Puna war am Ende seiner Kräfte. Aber dafür hatte ihnen die Jagd gute Beute eingebracht: ein Wasserschwein, zwei Sumpfhirsche, ein Pekari – das Wildschwein des südamerikanischen Dschungels – und vier Affen lagen schwer auf den Schultern der Männer. Dazu hatten sie eine Anzahl verschieden großer, buntgefiederter Vögel erlegt. Sie waren schon auf dem Rückweg zum Dorf, als sie den aufgewühlten, blutdurchtränkten Flecken Erde entdeckten. Punas Vater kniete nieder und prüfte die Spuren. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht ernst. »El tigre hat wieder zugeschlagen. Er ist also noch hier. Ich hatte gehofft, daß er die Gegend bereits wieder verlassen hat. Andererseits wissen wir jetzt, daß unserem Dorf keine unmittelbare Gefahr droht. Ich bin dafür, der Spur zu folgen, um zu sehen, wohin sie führt.« Die Männer brummten zustimmend. Auch Puna, der eigentlich lieber nach Hause gegangen wäre, nickte. Er war so erschöpft, daß ihn eine neuerliche Verlängerung des Jagdzuges nicht mehr reizte. »Sieh her!« rief ihn der Vater. »Diese Fährte stammt von dem Hirsch. Sie ist von der Spur des Jaguars überlagert. Hier sind sie, einer nach dem anderen, gekommen. Und hier hat der Jaguar den Hirsch geschlagen. Die Erde ist von Hufen aufgewühlt. Der Jaguar hatte sich gesättigt und den Rest der Beute weggeschleppt. Seine Fußabdrücke sind hier viel tiefer und nicht so weit auseinander. Dieser Fährte müssen wir nachgehen, sie ist die letzte.« Sie setzten sich wieder in Bewegung. Die Spur, die deutlich erkennbar vor ihnen lag, verlief ziemlich geradlinig. Nur um große Hindernisse, etwa einen umgestürzten Baumriesen oder ein Wasserloch, schlug sie einen Bogen, um gleich darauf die ursprüngliche Richtung anzunehmen. - 29 -
Puna ließ sich ans Ende der Reihe zurückfallen; dort war der Weg etwas bequemer. Sein Vater hielt nach wie vor die Spitze, unermüdlich arbeitete er sich durchs Dickicht. Ohne daß es Puna auffiel, vergrößerte sich der Abstand zu seinem Vordermann: er war im Gehen eingedöst. Die Augen halb geschlossen, marschierte er automatisch, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. So konnte es auch passieren, daß Puna plötzlich hart gegen den vor ihm befindlichen Indio prallte. Die Jäger waren stehengeblieben, Puna jedoch weitergegangen. An dem knochigen Rücken des Mannes schlug er sich seine Nase heftig an – das machte ihn munter. Vor ihnen ragte ein sanfter Hügel empor. Nur an einer Stelle war der Abhang ziemlich steil, und genau dorthin zeigte die Spur des Jaguars. Der Steilhang – offenbar durch einen Erdrutsch entstanden – war von Schlingpflanzen und Lianen überwuchert. »Hier also hat er seine Höhle!« stellte der Vater fest. »Es ist ein Weibchen, vielleicht mit Jungen. Die Männchen benützen nur sehr selten Höhlen.« Puna fühlte sich unbehaglich. Er war nicht unbedingt darauf erpicht, dem schrecklichsten Räuber des Dschungels zu begegnen, dessen Körper noch dazu von bösen Geistern bewohnt war! Unruhig blickte er sich um und schob sich zwischen die erwachsenen Jäger. Der Platz am Ende der Gruppe erschien ihm auf einmal gar nicht mehr so günstig. Mitten drin fühlte er sich sicherer.
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TÖDLICHE BEGEGNUNG Flüsternd beratschlagten die Indios, was sie tun sollten. Sie hatten die Behausung ihres größten Feindes entdeckt, und diese Höhle lag bedrohlich nahe bei ihrem Dorf. Demgegenüber stand die Furcht, die Rache des Dämons heraufzubeschwören, wenn sie gegen den Jaguar etwas unternahmen. »Wenn wir nichts tun«, sagte der krummbeinige Jäger, »dann steht el tigre eines Nachts in unserem Dorf. Wir müssen ihn töten, sonst…« »Der tote Jaguar ist gefährlicher als der lebende!« unterbrach ihn ein anderer. »Wir alle wissen, was geschehen ist, als die Bewohner eines Dorfes am Rio Cahuyra im vorigen Jahr einen Jaguar töteten. Eine Woche später schickte der Geist des Jaguars eine Krankheit, an der drei Viertel der Menschen dort qualvoll starben. Die Überlebenden zogen fort, das Dorf ist heute leer und verfallen – ein Tummelplatz der Dämonen! Wollt ihr, daß das unserem Dorf auch passiert?« Punas Vater sagte nichts. Sein Gebiet war die Jagd, den Umgang mit den Geistern überließ er den anderen. Er würde auch die Jagd auf den Jaguar erfolgreich leiten, aber entscheiden mußten die anderen, ob der Jaguar getötet werden sollte oder nicht. Das war nicht seine Aufgabe. Gespannt folgte Puna der Diskussion. So sparsam die In- 31 -
dios sonst mit ihren Worten umgingen, nun ereiferten sie sich immer mehr. Wenn sie noch lauter werden, dachte Puna, dann löst sich das Problem von selbst. Dann heißt die Frage nicht mehr: Töten wir den Jaguar oder nicht?, sondern: Wann kommt er, um uns zu töten? »Seid ihr verrückt?« wies der Vater sie jetzt zurecht. »Ihr vergeßt wohl, wo wir sind! Die Höhle ist keinen Steinwurf weit entfernt, und ihr brüllt so herum! Seid leiser, oder wir sind die Sorgen los! Alle Sorgen und für immer!« In der Höhle stellte die Jaguarmutter die Ohren auf. Täuschte sie sich, oder trug der Wind wirklich fremde Geräusche herein? Angestrengt lauschte sie. Dann zuckte die Erinnerung wie ein Blitz durch ihren Kopf: das waren die gleichen schrillen Laute, die sie damals gehört hatte, als der Zweibeiner… Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Ihr Nackenfell sträubte sich, ein heiseres Fauchen kroch aus ihrer Kehle. Erschrocken blickten ihre Jungen sie an. So hatten sie die Mutter noch nie gesehen! Die Ohren angelegt, die Lefzen von den fürchterlichen Zähnen zurückgezogen, stand sie geduckt da. Ihre Augen funkelten wie gelbe Kristalle, der Schwanz peitschte den Boden. Die Jungen schlichen ängstlich zur Rückwand der Höhle. Sie verstanden nicht, was die Mutter so erregte, aber sie spürten instinktiv, daß es etwas Schreckliches sein mußte. Als dann der Wind den süßlichen, widerlichen Geruch in die Höhle trug, sträubten auch sie ihr wolliges Nackenhaar. Die Mutter hatte Angst. Panische Angst. Weniger um sich selbst, als um ihre wehrlosen Jungen. Ihre Feinde standen vor der Höhle; sie roch, daß es mehrere waren. Töte sie! Verteidige deine Jungen! befahl ihr Instinkt. Dieser Trieb, der sie bisher unfehlbar geleitet hatte, versagte diesmal. Zu - 32 -
überlegen war der übermächtige Gegner, der vor der Höhle wartete. Noch immer fauchend wand sich die Jaguarmutter aus der Höhle. Nur wenige Meter vor ihr standen die Zweibeiner! Geduckt schlich sie näher, Haß und Angst vermischten sich in ihren Augen zu einem todverheißenden Glühen. Und dann sprang sie, fühlte, wie etwas unter ihren Pranken zerbrach, spürte warmes Blut zwischen ihren Zähnen! Ein greller Schrei drang an ihre Ohren, während sie sich nach ihrem nächsten Gegner umsah. Ein Zweibeiner, nur halb so groß wie die anderen, stand bebend in ihrer Sprungweite! Ihre Schwanzspitze zuckte, als sie die Muskeln spannte. Die Hinterpranken rissen die Erde auf, als sie sich auf den kleinen Zweibeiner abschnellte. Gestreckt, ein geschmeidiges Bündel explodierender Kraft, flog sie auf ihr Opfer zu! Ihre nadelscharfen Krallen waren weit vorgereckt, bereit, sich in sein weiches Fleisch zu graben, bereit, seine dünnen Knochen zu zerschmettern! Ein mörderischer Schlag in ihre Seite warf sie aus der Bahn! Diesen Schlag kannte sie – die fliegenden Zweige der Zweibeiner! Grelle Lichter flammten vor ihren Augen auf, ein tobender Schmerz breitete sich in ihrem Inneren aus. Sie spürte dumpf, wie sie auf der Erde aufschlug. Dunkelheit löschte ihre Sinne, es wurde Nacht um sie. Endlose Nacht… Puna stand wie versteinert. Nur eine Armlänge vor ihm lag die riesige Katze, noch im Tod die Krallen nach ihm ausgestreckt. In ihrer Seite, knapp hinter der Schulter, zitterte der Pfeil seines Vaters. Den Bruchteil einer Sekunde später, und das Geschoß wäre nutzlos gewesen! Punas Ge- 33 -
sicht war aschgrau, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Langsam wandte er den Kopf. Dort, wo der Jaguar abgesprungen war, lag eine verkrümmte Gestalt. Es war der stämmige, O-beinige Jäger. Leblos starrten seine Augen zum Himmel. »Puna! Puna! Bist du in Ordnung?« Das war Vater. Verstört drehte sich Puna um. »Ja… ja, ich bin unverletzt. Aber er! Ist er… tot?« »Seine Seele ist bei den Göttern. Es ging so rasend schnell! Ich konnte nichts tun. Ich bin froh, daß mein Pfeil bei dir rechtzeitig kam! Die Götter haben ihn genau ins Herz der Bestie gelenkt.« Allmählich wich der Schreck aus Punas Gliedern. Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, auch wenn seine Knie noch weich waren. Der Tod hatte ihn um Haaresbreite verfehlt. Er durfte weiterleben! Weiter die warmen Strahlen der Sonne auf seiner Haut fühlen, weiter dem Gesang der Vögel lauschen. Die Welt kam ihm unendlich schön vor, angefüllt mit wertvollen Kleinigkeiten. Ernst umstanden die Indianer den krummbeinigen Jäger. Er war tot. Aber Puna lebte, lebte, lebte! »Wir nehmen ihn ins Dorf mit. Er soll bei seinen Ahnen bestattet werden«, ordnete der Vater an. »Aber zuerst wollen wir die Brut dieser Bestie vernichten! Kommt zur Höhle!« Sie mußten nicht lange suchen. Knochenreste und Fellfetzen zeigten ihnen, wo der Eingang zur Höhle lag. Da die Höhle zu eng für einen Kampf war und sie nicht wußten, welche Größe die Jungen hatten, beschlossen die Indios, sie auszuräuchern. Vor dem Eingang entfachten sie ein Feuer, und als es hoch aufloderte, warfen sie nasses Holz und grünes Laub darauf. Dichte graue Rauchschwaden zogen in die - 34 -
Höhle. Jetzt, da man die Jungen fauchen und husten hörte, ließ ein ganz bestimmter Gedanke Puna nicht mehr los. Er drängte sich neben seinen Vater. »Vater, ich glaube, der Jaguar wollte nur seine Jungen beschützen! Wir waren doch so nahe bei seiner Höhle! Du hast mich doch auch verteidigt! Du hast doch auch getötet, um mich zu retten!« Nachdenklich legte der Vater einen Ast ins Feuer. »Das stimmt schon. Ich habe nie so recht an den bösen Geist in einem Jaguar geglaubt. Vielleicht war es wirklich der Mutterinstinkt, der sie veranlaßte, uns zu überfallen.« Seine Stimme wurde hart. »Aber das ändert nichts daran, daß einer von uns tot ist. Und du wärst es auch, wenn ich nicht rechtzeitig geschossen hätte. Deshalb müssen die Jungen hier sterben. Denn aus kleinen Jaguaren werden große Jaguare!« Das sah Puna ein. Trotzdem taten ihm die wehrlosen Jungen leid. Traurig wandte er sich ab, als sie der Rauch mit tränenden Augen aus der Höhle trieb. Dreimal funkelten die Macheten auf, dreimal endete der sausende Hieb der Buschmesser mit einem langgezogenen, kläglichen Miauen. Dann war es vorüber. »Drei Kater, etwa zwei Wochen alt.« Die Jäger standen um die blutigen Fellknäuel. »Es kommt nicht oft vor, daß ein Jaguar drei Jungen hat. In ein, zwei Jahren hätten uns diese Burschen schwer zu schaffen gemacht. Diese Gefahr ist jetzt beseitigt. Im Dorf werden wir ein Kalb opfern, um die Geister der Jaguare zu besänftigen. Gehen wir nach Hause.« Während die Indios eine Trage für ihren toten Gefährten anfertigten und das Jaguarweibchen abhäuteten, hockte Puna neben den erschlagenen Jungen. Das rauchende Feuer - 35 -
war ausgegangen. Warum ist das Leben so grausam? grübelte Puna. Diese Jungen haben niemandem etwas getan – und ich auch nicht. Trotzdem wollte der erwachsene Jaguar mich, ein Menschenjunges, töten, trotzdem haben die erwachsenen Menschen die Jaguarjungen getötet. Warum gibt es kein friedliches Nebeneinander? Puna konnte keine Antwort finden. Wie sollte auch ein knapp zwölfjähriger Indianerjunge eine Frage beantworten, über die sich schon Generationen weiser Menschen den Kopf ergebnislos zerbrochen haben? Ein leises Geräusch ließ Puna aufhorchen. Er glaubte, sich getäuscht zu haben, doch da war es wieder: ein fast unhörbares Scharren drang aus der Höhle! Puna blickte zu den Jägern am Fuß des Abhanges, aber niemand achtete auf ihn. Die Männer waren mit ihrer traurigen Arbeit beschäftigt. Auch mußte die Last der zuvor erlegten Jagdbeute neu verteilt werden. Ungesehen schlüpfte Puna in die Höhle. Einen Augenblick lang dachte er, das Scharren könne von den Dämonen stammen, die ihn ins Verderben locken wollten. Rasch verwarf er den Gedanken wieder – auch sein Vater glaubte nicht an diese Geister. Die Höhle war geräumiger, als Puna vermutet hatte. Beißend hing noch der Rauch in der Luft. Punas Augen gewöhnten sich langsam an das fahle Dämmerlicht; er konnte die Umrisse der Höhle erkennen. Ganz hinten bewegte sich ein dunkler Fleck. Vorsichtig kroch Puna näher. Der Fleck stieß ein Fauchen aus. Ein viertes Junges! Es war vor dem Rauch an die rückwärtige Höhlenwand geflohen und dort bewußtlos geworden, als es die dichten Schwaden einholten. Mit einem raschen Griff packte Puna das Jaguarjunge – es war das schwächliche Weibchen – am Nackenfell und hob - 36 -
es hoch. Wie ein Sack hing es in seiner Hand. Puna drückte es an seine Brust. »Ich lebe – du sollst auch leben!« flüsterte er. »Wir beide sind am Tode nur knapp vorbeigekommen. Wir gehören zusammen – du und ich – das Jaguarjunge und das Menschenjunge!« Das Kätzchen leckte über seine Hand und schnurrte. Die Freude im Dorf über die Rückkehr der Jäger schlug in tiefe Trauer um, als man erkannte, was sie mitbrachten. Die Frau des toten Indios weinte nicht, ihr Gesicht erstarrte zu einer steinernen Maske. Sie spuckte auf das Jaguarfell und ging wortlos in ihre Hütte. Nur Lona war unbeschwert und fröhlich wie immer. Jauchzend lief sie auf ihren Bruder zu und umarmte ihn. »Du bist wieder da, Puna! Jetzt können wir wieder miteinander spielen! Ich freue mich so!« Das kleine Mädchen begriff noch nichts von den traurigen Ereignissen, die sich abgespielt hatten. Sanft befreite sich Puna aus der Umklammerung. »Später, kleine Schwester«, sagte er, »später.« Lona zog einen Schmollmund. Aber gleich darauf lachte sie wieder. »Hier sind sie alle so komisch, seit ihr weg wart«, erzählte sie unbekümmert. »Ich weiß nicht, wieso. Ich…« Sie nahm Punas Hand und zog ihn plappernd mit sich in die elterliche Hütte.
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DIE FLUCHT »Ich weiß nicht«, sagte Altac, als er von einem anderen Indianerjungen besucht wurde, »Puna ist in letzter Zeit so eigenartig. Eigentlich, seit er von diesem Jagdzug zurück ist.« »Ja«, gab ihm der andere recht, »er spielt kaum noch mit uns. Dauernd sagt er, daß er irgend etwas zu tun hat, und verschwindet. Erst gegen Abend kommt er zurück. Nie sagt er, wo er hingeht. Bei dir ist er ja auch nie lang. Früher wart ihr doch unzertrennlich. Ob Punas Verhalten etwas mit dieser Jagd zu tun hat? Vielleicht, weil ihn dieser Jaguar angesprungen hat?« Der Junge hatte recht und auch wieder nicht. Denn Punas eigenartiges Verhalten hing wohl mit den Erlebnissen auf dem Jagdzug zusammen, aber anders, als der Junge vermutete. Tag für Tag, wenn ihn niemand beobachtete, schlich Puna von der Dorflichtung fort. Dabei schlug er jedesmal eine andere Richtung ein, um sein wahres Ziel zu verheimlichen, dem er sich nur auf Umwegen näherte. Über eine Stunde lang trabte er eilig dahin, in der Hand einen ledernen Sack schwingend. Dann erreichte er einen riesigen umgestürzten Baumstamm, dem man nicht ansah, daß er innen hohl war. Puna vergewisserte sich, daß ihm wirklich niemand gefolgt war, und kniete neben dem Stamm nieder. »Asik«, rief er - 38 -
leise und lockend, »Asik, ich bin’s, Puna! So komm doch, Asik!« Aus einem großen Astloch des Stammes leuchteten zwei bernsteinfarbene Augen. Steife, weiße Schnurrhaare tauchten auf, eine rosige Nase folgte. Puna hielt seinen Finger hin. Unter der Nase kam eine kleine rauhe Zunge hervor und leckte darüber. Für einen Augenblick waren kurze, spitze Zähne sichtbar. »Meine kleine Asik«, lockte Puna weiter und griff in das Astloch. Er zog ein gelbbraunes Fellbündel heraus, das wohlig zu miauen begann, als er es neben sich auf den Boden setzte und sanft streichelte. Puna hatte das überlebende Jaguarjunge zum Dorf geschmuggelt! Das war nicht weiter schwierig gewesen, denn jeder Teilnehmer an dem Jagdzug hatte mindestens einen großen Lederbeutel bei sich, der seine Nahrungsmittel und Ausrüstungsgegenstände, zum Beispiel Steine zum Feuerschlagen, enthielt. Puna hatte seinen Sack einfach ausgeleert und den kleinen Jaguar hineingestopft. Während des ganzen zweieinhalbtägigen Rückmarsches mußte er deswegen hungern; er aß Früchte, die er unterwegs fand. Kurz vor dem Dorf versteckte Puna den Sack in einem unbeobachteten Moment unter einem Busch. Später, als die Dorfbewohner mit der Wiedersehensfeier beschäftigt waren, kehrte er zurück und schaffte den Jaguar zu dem Versteck in dem hohlen Baumstamm. Puna gab dem kleinen Jaguarweibchen den Namen »Asik«, ein indianisches Wort, das die gute Seele im Menschen bezeichnete. Asik machte sich hungrig über die Fleischstücke her, die Puna mitgebracht hatte. Auch Milch aus der Kürbisflasche bekam sie. Nach der Fütterung tollten sie gemeinsam umher. Asik machte Jagd auf Punas Zehen, der ihr oft grobes - 39 -
Zwicken lachend in Kauf nahm. Dafür zupfte er sie an den Ohren oder trat ihr leicht auf den Schwanz. Seit zwei Wochen ging das so. Für Puna wurde es immer schwieriger, die notwendigen Fleischstücke zu beschaffen, Asik entwickelte einen gewaltigen Appetit. Sie holte offenbar das nach, was sie, als ihre Geschwister noch dabei waren, versäumt hatte. Punas Mutter kam es bereits unheimlich vor, welche Fleischmengen ihr Sohn verspeiste. Sie bemerkte nicht, daß er die Stücke heimlich aus dem Mund nahm und in einen Beutel steckte. Schließlich blieb Puna nichts anderes übrig, als für seinen Zögling auf die Jagd zu gehen. Er konnte unmöglich noch mehr Fleisch von zu Hause verschwinden lassen. Also nahm er seinen Bogen und die Pfeile – ohne Eisenspitzen, die hatte er schon längst zurückgegeben – und zog los. Asik, die inzwischen ein gutes Stück gewachsen war und an Sicherheit gewonnen hatte, trabte neben ihm. Puna achtete sorgfältig darauf, nicht in die Nähe des Dorfes oder der vielbegangenen Wege zu kommen. Asiks Spuren hätten erneut Verwirrung und Unruhe ausgelöst. Dies war Asiks erster Ausflug. Bisher hatte sie die Geborgenheit der Höhle und später des Baumversteckes nicht verlassen. Sie kamen nur langsam voran. Alle Augenblicke blieb Asik stehen, beschnupperte dies und beroch das. Es gab ja so viel Neues zu sehen und – vor allem – zu riechen! Ein schmaler, goldglänzender Käfer erregte ihre Aufmerksamkeit. Neugierig reckte sie die Nase vor, um das geschäftige Insekt zu beschnuppern. Im nächsten Moment zuckte sie prustend zurück und rieb sich mit der Pfote über die Nase, die entsetzlich juckte und brannte! Der Käfer hatte eine scharfe, übelriechende Flüssigkeit versprüht! Asik schüttelte den Kopf, während Puna laut auflachte. - 40 -
Auch er hatte diesen Käfer schon kennengelernt und wußte, daß man den ekeligen Geruch tagelang nicht aus der Nase bekam. Arme Asik! Am Ufer eines schmalen Baches, kaum mehr als ein dünnes Rinnsal, hörte Puna den schmetternden Ruf eines Trompetenvogels. Er entdeckte den Vogel auf den unteren Asten eines Baumes, wo er gerade die jungen Triebe abrupfte. Behutsam schlich er näher. Asik schien begriffen zu haben, worum es ging, denn ihre Verspieltheit fiel von ihr ab, geduckt und lautlos blieb sie an Punas Seite. Als sie in Schußweite waren, legte Puna einen Pfeil auf die Sehne. Langsam, damit ihn keine hastige Bewegung verriet, spannte er den Bogen, zielte und schoß. Aber entweder traf er nicht richtig, oder die Kraft des Pfeiles reichte nicht aus, das harte Gefieder zu durchdringen, jedenfalls stürzte der Vogel zwar vom Ast, rappelte sich jedoch wieder auf und schickte sich an, davonzufliegen. Da sauste Asik wie ein Blitz los! Mit wenigen Sprüngen erreichte sie den Vogel, der soeben vom Boden abhob. Ein grotesk wirkender Satz nach oben – die Flucht der Beute war verhindert! Asiks scharfe Klauen krallten sich in den schweren Vogel, ihre Zähne besorgten den Rest. Mühsam, aber mit hocherhobenem Kopf, trug sie ihr erstes selbst erlegtes Opfer zu Puna. Diesen Augenblick hatte Puna gefürchtet. Was würde geschehen, wenn Asik selbst Beute schlagen konnte? Wenn sie nicht mehr auf seine Hilfe angewiesen war? Würde sie sich von ihm abwenden und ihre eigenen Wege gehen? Vorsichtig streckte er die Hand aus und legte sie auf Asiks Kopf. Er war durchaus darauf gefaßt, daß sie ihre Beute gegen ihn verteidigen würde. Aber das erwartete drohende Fauchen blieb aus. Asik ließ den schweren Vogel - 41 -
fallen, hob den Kopf – und leckte über Punas Hand! Erleichtert spürte er ihre rauhe Zunge auf seiner Haut. Dann griff er nach dem Vogel, gespannt beobachtend, wie Asik nun reagieren würde. Der junge Jaguar leckte sich die Lippen und blickte Puna erwartungsvoll an. Puna atmete auf. »Es ist deine Beute«, sagte er schmeichelnd. »Ich helfe dir ja nur beim Zerteilen. Mit deinen Milchzähnen kriegst du den zähen Vogel ja nie auseinander!« Er zog sein Messer aus dem Gürtel und begann, den mehr als hasengroßen Vogel zu zerlegen. Geduldig saß Asik daneben. Sie machte keinen Versuch, nach dem Fleisch oder gar nach Punas Hand zu schnappen, obwohl ihr der Hunger den Speichel vom Kinn tropfen ließ. Erst als ihr Puna die einzelnen Stükke mit spitzen Fingern hinhielt, nahm sie sie behutsam, ohne die Finger mit den Zähnen zu berühren. Die Wochen verstrichen, Asik entwickelte sich prächtig. Ihr ehemals dunkles Fell wurde leuchtend gelb, von schwarzen Kringeln unterbrochen. Sie begleitete Puna alle paar Tage auf die Jagd. Auch Punas Geschicklichkeit wuchs; gemeinsam erlegten sie nun schon Beutetiere bis zur Größe eines Hirschkalbes. Damit war Asik wieder für einige Tage versorgt, sie blieb in der Nähe ihres Baumversteckes. Wenn Puna kam, begrüßte sie ihn stürmisch. Als sie ihn dabei zum ersten Mal ansprang – mit zurückgezogenen Krallen und geschlossenen Kiefern – erschrak er fürchterlich. Der Anprall der ungestümen Katze warf ihn glatt über den Haufen. Hilflos lag er auf dem Rücken, Asik stand breitbeinig über ihm und leckte ihm das Gesicht ab.
Altac war gekränkt. Er spürte, daß ihm Puna etwas ver- 42 -
heimlichte, und das tat weh. Früher hatten sie nie Geheimnisse voreinander gehabt. Doch jetzt schwieg Puna beharrlich, wenn Altac ihn fragte, wo er sich denn Tag für Tag herumtriebe. »Ich will allein sein«, sagte Puna dann. »Hier geht mir der Trubel auf die Nerven. Ich laufe einfach so durch den Wald.« Altac wußte, daß Puna nicht die Wahrheit sagte. Er log ihn an, seinen besten Freund! Eines Tages beschloß Altac, der Sache auf den Grund zu gehen. Als Puna wieder unter einem Vorwand im Dickicht am Rande der Lichtung verschwand, schlich er ihm nach. Puna ging zielstrebig in Richtung Fluß. Altac fragte sich schon, was Puna dort wollte, da schwenkte dieser nach rechts. An seiner Art zu gehen erkannte Altac, daß Puna ein bestimmtes Ziel ansteuerte. So ging niemand, der »einfach durch den Wald laufen« wollte! Altac verspürte Gewissensbisse – den Freund zu bespitzeln, das war nicht in Ordnung. Aber andererseits, dachte er, hatte ja Puna die Freundschaft so vernachlässigt. Also war es Altacs Recht herauszufinden, was dahintersteckte. Er setzte Punas Beschattung fort. Nach rund einer Stunde, in der Puna mehrmals die Richtung gewechselt hatte, begann Altac schon zu glauben, daß sein Freund wirklich nur planlos durch den Dschungel streifte. Da brachen die Schritte vor ihm abrupt ab; gleich darauf hörte er Punas Stimme: »Asik, komm raus. Ich bin’s!« Altac drückte sich hinter einen dicken Baum und spähte angestrengt nach vorn. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gerinnen: Ein Jaguar hetzte auf Puna zu, sprang ihn an, beide stürzten zu Boden. Ein Kampf auf Leben und Tod - 43 -
entbrannte. Altac riß sein Messer aus dem Gürtel und wollte dem Freund zu Hilfe eilen. Doch mitten in der Bewegung erstarrte er. Er rieb sich die Augen, weil er glaubte, er sehe nicht richtig: Puna saß rittlings auf dem Jaguar und zog ihn an den Ohren. Die Katze, die noch sehr jung sein mußte, wie Altac erst jetzt an ihrer geringen Größe erkannte, wand sich und schüttelte Puna ab. Die beiden kämpften nicht, sie spielten ja! Asik stellte plötzlich die Ohren auf und zog witternd die Luft ein. Sie begann leise zu knurren. »Was hast du?« fragte Puna. »Willst du nicht mehr raufen? Ist irgend etwas? Ach, komm, du bist langweilig!« Er ließ sich auf Asik fallen und warf sie um. Das tobende Spiel ging weiter. Altac zog sich vorsichtig zurück. Es wurde Zeit, zu verschwinden, bevor der Jaguar ihn wirklich entdeckte. Was er gesehen hatte, genügte! In seinem Inneren bohrte ein heftiger Schmerz. Nicht nur, daß Puna ihre Freundschaft verraten hatte, ausgerechnet einen Jaguar zog er ihm vor, den unheimlichsten Feind der Indios, dessen Körper von Dämonen beherrscht wurde. Glühender Zorn flammte in Altac auf. Wahrscheinlich hatte der Dämon schon von Puna Besitz ergriffen, anders konnte sich Altac den Verrat an ihm und am ganzen Dorf nicht erklären. Als er außer Sichtweite war, rannte er los…
Puna kehrte kurz vor Einbruch der Dämmerung ins Dorf zurück. Schon von weitem hörte er, daß irgend etwas los war: man schlug die große Trommel! Das geschah nur, wenn sich etwas Besonderes ereignet hatte. Puna beschleu- 44 -
nigte seinen Schritt. »Puna, komm mit zum Versammlungsplatz.« Die Stimme des Vaters war tonlos und drückte tiefe Besorgnis aus. Mutter weinte. Was war geschehen? Puna konnte sich keinen Reim darauf machen. Auf dem Versammlungsplatz brannten vier hochauflodernde Feuer. Puna hatte sie nicht gesehen, als er kam, weil er sich der Hütte seiner Eltern von hinten genähert hatte. Zwischen den Feuern hockten im Halbkreis die Alten des Dorfes, dahinter die übrigen Bewohner. Puna blickte in lauter ernste, bewegungslose Gesichter. Ratlos sah er zu seinem Vater auf, doch der starrte ebenso regungslos in die Flammen des Feuers. Der Häuptling erhob sich. Puna stand einsam in der Mitte des Halbkreises. Seine Knie zitterten. »Vor vielen, vielen Jahren«, begann der Häuptling, »lebten unsere Völker in Ruhe und Frieden. Sorglos gingen sie ihrer Beschäftigung nach und ernährten sich von den Früchten und Tieren des Waldes. Die Götter waren ihnen wohlgesinnt. Doch dann, eines Tages, überfielen die Bewohner eines Dorfes die eines anderen. Sie raubten deren Vorräte und plünderten ihre Hütten. Und sie töteten! Töteten ihre eigenen Brüder! Das erzürnte die Götter. Sie sprachen: Wenn ihr nicht in Frieden leben könnt, dann wollen wir euch lehren, was Angst heißt! Von nun an sollt ihr um euer Leben fürchten! Kurz darauf ging ein Morden durch den Dschungel, ein unfaßbares Morden. Aber es ging nicht von den Indianern aus. Ein gefleckter Schatten war es, der alles vernichtete, was seinen Weg kreuzte – el tigre, die Strafe der Götter! Seither leben wir in Angst und Schrecken vor dieser dämonischen Bestie. Es gab einmal einen Jungen, der seine Freunde und Ver- 45 -
wandten, sein ganzes Dorf an el tigre verkaufte. Er verriet die Menschen, die ihn liebten, und war die Ursache dafür, daß sie el tigre später zum Opfer fielen.« Die Stimme des Alten wurde scharf und schneidend: »Puna! Sag uns, welche Strafe dieser Verräter verdient!« »Er… ich…« In Punas Kehle würgte ein Kloß. »Rede!« donnerte ihn der Häuptling an. Drohendes Gemurmel klang auf. Die Tränen schossen in Punas Augen. »Ich… ich habe niemanden verraten! Asik ist kein Dämon! Sie ist mein Freund!« Der Häuptling lachte böse auf. »Dein Freund! Wann gab es je eine Freundschaft zwischen bösen Geistern und Menschen! Du bist selbst ein Dämon!« Punas Schultern zuckten; Schluchzen schüttelte ihn. Klein und verlassen stand er auf dem sandigen Platz; sein Vater hatte sich zu den Dorfältesten gesetzt und sah ihn nicht an. »Ich bin kein Dämon!« stammelte Puna. »Und Asik auch nicht!« »Daß du den Jaguar so gut kennst«, dröhnte die Stimme des Häuptlings, »ist ein Beweis dafür, daß du mit den Dämonen im Bunde bist! Du weißt, was dich erwartet?« Puna nickte traurig. »Noch bevor die Sonne aufgeht, wird der Dämon deinen Körper verlassen haben. Du wirst die Sonne nicht mehr sehen.« »Nein! Das dürft ihr nicht tun! Ihr dürft ihn nicht töten! Er ist mein Sohn! Er ist kein Dämon!« Punas Mutter lief in den Kreis und stellte sich schützend vor ihn, die Arme verzweifelt ausgebreitet. »Geh!« befahl der Häuptling. »Er ist nicht mehr dein - 46 -
Sohn.« Punas Vater stand auf. Ruhig hob er die Hand. »Puna hat den Tod verdient. Sein Handeln verstößt gegen unser höchstes Gesetz. Er ist ein Verräter. Und doch: wir alle kennen ihn. Er ist mutig und tapfer. Vor allem aber ist er – jung. Sehr jung und unerfahren. "Wie ihr wißt, hätte ihn vor wenigen Wochen beinahe ein Jaguar getötet. Seine Jugend konnte dieses Ereignis nicht verkraften. Wer von uns bleibt denn so, wie er war, wenn der Flügel des Todes ihn streift? Auch Puna hat er gestreift, und das hat den Jungen so verändert. Ich bin überzeugt – nicht, weil ich sein Vater bin, sondern weil ich ihn genau kenne –, daß er den Verrat an uns beging, ohne sich dessen bewußt zu sein. Bedenkt das, bevor ihr euer Urteil fällt!« Die Rede des Vaters rettete Puna das Leben. Doch als der Häuptling den endgültigen Spruch verkündete, wünschte er, man hätte ihn zum Tode verurteilt. »Puna! Höre, was wir beschlossen haben: Von heute an bist du kein Angehöriger unseres Stammes mehr. Du hast keine Eltern, keine Freunde, kein Dorf. Nimm deine Sachen und geh!« Ausgestoßen! Punas Tränen versiegten. Bitterkeit stieg in ihm hoch. Wortlos wandte er sich ab. Ein Stein flog durch die Luft, schmetterte an seine Stirn und ließ ihn taumeln. Die Witwe des krummbeinigen Jägers, den der Jaguar zerrissen hatte, hatte ihn geworfen. Altac drehte das Gesicht weg, als sich Puna an ihm vorbeischob. Ausgestoßen! Lona, die das alles nicht begriff, wirbelte heran. »Puna, gehst du fort? Mußt du fortgehen?« »Ja, kleine Schwester. Ich muß.« Puna lächelte traurig und schob Lona zur Seite. Noch einmal strich er zärtlich über das Haar seiner Schwester, die ihn mit großen Augen ansah… - 47 -
Dann rannte er los.
»Gleich morgen bei Tagesanbruch«, ordnete der Häuptling an, als Puna den Platz verlassen hatte, »brechen zehn Jäger auf, Altac wird sie führen. Vernichtet el tigre!« Als die Jäger zu dem hohlen Baumstamm kamen, lag dieser leer und verlassen da. El tigre schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Das Wirrwarr von Spuren ließ nicht erkennen, wohin der Jaguar geflohen war. »Viel Glück, Puna! Viel Glück, Asik!« murmelte Altac leise…
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GEFÄHRLICHER FISCHFANG Hungrig hockte Puna auf einem Baumstumpf. Sein Magen knurrte laut, er verlangte nach Nahrung. Asik lag ausgestreckt neben ihm, ihr Kopf ruhte auf Punas Knie. Ab und zu öffnete sie blinzelnd ein Auge, wie um sich zu vergewissern, daß der Junge noch da war. Zwei Tage und zwei Nächte waren sie durch den Dschungel gehetzt. Fort, nur fort aus der Reichweite der Jäger, die Asik töten wollten. Jetzt endlich fühlte sich Puna sicher. So weit würden sie ihnen nicht folgen. Ihre Aussicht war alles andere als rosig. Ein zwölfjähriger Junge und ein Jaguar, der noch die Milchzähne im Maul trug, allein im Dschungel! Um sich selbst machte sich Puna kaum Sorgen. Er konnte sich von Früchten und Wurzeln ernähren, die es ja reichlich gab. Aber Asik brauchte Fleisch – Fleisch in großen Mengen! Sie war noch zu jung und unerfahren, um ihre Beute selbst und ohne Hilfe zu erlegen. Zwar hatte sie auf den Jagden, die sie von ihrem Baumversteck aus unternommen hatten, hin und wieder ein Tier geschlagen, aber nur dann, wenn es Puna zuvor mit seinen Pfeilen verwundet oder betäubt hatte. Je länger sie hungerten, um so schwächer würden sie werden; um so geringer wurde ihre Aussicht auf eine erfolgreiche Jagd. Puna raffte sich auf. Sie mußten etwas unternehmen, wenn sie nicht verhungern wollten. - 49 -
»Komm, Asik! Wir suchen einen Fluß! Dort werden wir schon was erwischen! Und wenn es nur Frösche sind!« Asik rieb ihren Kopf an Punas Bein und reckte sich. Dann erhob sie sich mit einem Ruck. Unternehmungslustig sah sie Puna an. »Ich brauche eine Waffe!« sagte Puna. »Mit bloßen Händen fangen wir nichts.« Er zog sein Messer – ein Geburtstagsgeschenk seines Vaters, er erinnerte sich wehmütig daran – aus dem Gürtel und fuhr prüfend mit dem Daumen über die Schneide. Sie war scharf genug. Puna bereute jetzt, den Bogen zurückgelassen zu haben. In seiner Aufregung und seiner Sorge um Asik war er überstürzt aus dem Dorf weggelaufen und hatte ihn völlig vergessen. Auch an die Feuersteine und die Angelhaken hatte er nicht gedacht, er hatte nichts außer dem Messer in seinem Gürtel mitgenommen. Im dichten Gebüsch suchte er einen langen, geraden Ast aus und schnitt ihn ab. Dann zerrte er eine fingerdicke Liane von einem Baum, legte sie auf einen Baumstumpf und begann, mit dem Messergriff fest daraufzuklopfen. Unter den Schlägen löste sich die Liane in einzelne, lange Fasern auf. Mit einem dieser zähen Fäden band Puna sein Messer an das dickere Ende des zuvor abgeschnittenen Astes – sein Speer war fertig. Asik hatte neugierig zugesehen. Sie verstand nicht, was ihr Gefährte da machte. Aber als Puna seinen Speer gegen einen Baum schleuderte, wo er zitternd steckenblieb, leuchteten ihre Augen auf. Das war eine Kralle! Ziemlich unvermutet stießen die beiden auf einen breiten Wasserlauf. Nachdem sie ihren Durst mit dem lehmiggrauen Wasser gelöscht hatten, streiften sie am Ufer entlang. Puna hoffte, hier etwas Eßbares aufzustöbern, aber einstweilen war nichts zu sehen, was sie erbeuten konnten. - 50 -
Nur eine kleine Schildkröte saß auf einem überhängenden Ast, ließ sich jedoch sofort ins Wasser plumpsen, als ihr Puna zu nahe kam. »Weißt du was, Asik? Ich werde versuchen, einen Fisch zu fangen. Magst du Fisch? Schmeckt herrlich, du wirst schon sehen!« Puna sammelte etwas Erde auf und kletterte auf einen dikken Ast, der weit über das seichte Uferwasser ragte. Dort streckte er sich flach aus und warf ein Bröckchen Erde ins Wasser. Noch eines. Nichts rührte sich. Aber beim dritten Versuch sah er einen Fisch, der das vermeintliche Insekt ansteuerte. Wieder ließ Puna einen Krümel fallen. Der Fisch kam näher. Als er sich direkt unter dem Ast befand, stieß Puna mit seinem Speer zu. Der Fisch war weg. Ärgerlich kletterte Puna ans Ufer. Er brauchte neue Erdbrösel. Erst beim vierten Versuch glückte es. Die Messerklinge durchbohrte den Fisch! Puna jubelte laut auf, aber er freute sich zu früh: der Fisch rutschte von der glatten Klinge und klatschte ins Wasser zurück. Enttäuscht sah ihm Puna nach. »Asik, schau! Er ist wieder entkommen!« Als hätte sie auf diesen Ruf gewartet, sprang Asik auf. Sie hatte Punas erfolgloser Fischerei vom Ufer aus gelangweilt zugesehen. Zwei, drei lange Sätze brachten sie neben den an der Oberfläche abtreibenden Fisch. Was nun? Der Fisch war eineinhalb Meter vom Ufer entfernt, und Asik kannte Wasser nur vom Trinken! Doch sie überwand ihr Mißtrauen gegen das unbekannte Element und warf sich auf den Fisch. Sie erwischte ihn mit den Zähnen, als sie klatschend ins Wasser fiel. Prustend tauchte sie wieder auf. So übel war das gar nicht! Angenehm kühl, ja, es machte richtig Spaß! Mit dem Fisch im Maul ruderte sie umher. Diese Art von Bewegung, das schwerelose Treiben gefiel - 51 -
ihr. »Asik! Komm raus! Schnell!« schrie Puna. »Geh aus dem Wasser! Das ist gefährlich!« Asik schüttelte den Kopf. Warum schrie ihr Kamerad denn so? Es war doch herrlich, in dem kühlen Wasser umherzupaddeln und sich die kleinen Wellen ums Maul spülen zu lassen! In diesem Augenblick durchzuckte ein wilder Schmerz ihre linke Vorderpfote! Erschrocken wollte sie hinunterschauen, dabei geriet ihre Schnauze unter die Oberfläche. Wasser drang in ihre Nase. Sie mußte husten und ließ den Fisch los. Zum zweiten Mal zuckte ein glühender Schmerz durch ihre Pfote, diesmal ein Stück weiter oben. Sie schnappte ins Leere und ruderte hilflos im Kreis. Puna war von seinem Ast gesprungen und watete in den Fluß. Es ging viel zu langsam! Das Wasser, das schon bis zu seiner Hüfte reichte, ließ ihn nicht vorankommen. »Hierher, Asik! Schwimm hierher! Zum Ufer!« Asik jaulte auf, als sich etwas in ihre Flanke bohrte. Sie sah Puna auf sich zuwaten und versuchte, ihm entgegenzuschwimmen. Punas Hand krallte sich in ihr Nackenfell und zog sie aufs Ufer zu. Sie spürte den Grund unter sich und sprang mit heftigen Sätzen an Land. Puna, der ihr Nackenfell nicht losließ, schleifte sie einfach mit. Hinter sich hörte sie etwas ins Wasser klatschen. Schwer atmend lagen sie im Sand. Asik betrachtete verwundert ihre Pfote: knapp übereinander hatte sie zwei ausgefranste, stark blutende Wunden! Auch ihre Seite brannte wie Feuer. »Asik, du Dummkopf! Ich habe dich doch gerufen! Das - 52 -
waren die Piranhas! Da kann man nicht mit einem blutigen Fisch im Maul seelenruhig herumschwimmen. Diese Raubfische hätten dich in Fetzen reißen können! Das war verdammt knapp! Und unser schöner Fisch ist auch weg.« Asik verstand zwar Punas Worte nicht, aber sie begriff, daß sie großes Glück gehabt hatte. Fast sah es so aus, als fühlte sie sich schuldbewußt, während sie ihre Wunden sauberleckte. Punas nächster Fangversuch verschaffte ihnen endlich die nötige Nahrung. Der Fisch, der an Punas primitivem Speer zappelte, war fast so lang wie sein Arm. Puna hatte aus seinem Fehler gelernt. Als der Fisch wieder von der Klinge zu rutschen drohte, drehte Puna den Speer um die Längsachse und zog ihn gleichzeitig hoch. So brachte er den Fisch in Reichweite seiner freien Hand. Hart packte er zu… »Ich habe ihn! Asik, ich habe ihn! Das gibt ein Festessen!« Asik interessierte sich jedoch kaum für den Fisch, sie spitzte nur kurz die Ohren, als sie Punas Freudenschrei hörte. Dann wandte sie sich wieder ihren Wunden zu. Die gierigen Piranhas hatten tiefe Krater in ihre Muskeln gerissen, ganze Brocken herausgefetzt. Müde und zerschlagen legte sie den Kopf auf die Pranken. Das nächste Problem tauchte auf, als Puna den erbeuteten Fisch zerlegte. Er schnitt für sich selbst einige Filetstücke heraus, der umfangreiche Rest blieb für Asik. »So, jetzt steh’ ich da! Wie soll ich denn den Fisch braten? Ich habe ja kein Feuer! Roh essen? Brr, nein!« Bisher war Puna kaum genötigt gewesen, Feuer zu machen – irgendwo im Dorf brannte immer eines, an dem man das eigene entzünden konnte. Und wenn, dann hatte er seine Feuersteine. Die lagen jetzt allerdings – für ihn nutzlos – in der Hütte! Angestrengt dachte er nach. Wie hatte der Häuptling - 53 -
einmal gesagt? Mit einem Stück Weichholz und einem harten Stab konnte man auch Feuer machen. Oder war es umgekehrt – Hartholz und weicher Stab? Puna konnte sich nicht mehr genau erinnern. Er fand alles, was er brauchte, am Ufer des Flusses. Das Hochwasser der Regenzeit hatte Äste und Zweige, sogar ganze Bäume angespült. Er sammelte die verschiedensten Holzstücke, harte, weiche, faulige – nur trockene waren nicht dabei. Es gab im Dschungel so gut wie kein trockenes Holz, schon gar nicht am Ende der Regenzeit. Das Holz war entweder grün, oder es moderte; die hohe Luftfeuchtigkeit verhinderte das Trocknen. Deshalb war es kein Wunder, daß Punas Versuche, Feuer zu machen, ergebnislos blieben. Nicht einmal, als er die richtige Anordnung – Weichholzstück und harter Drehstab – traf, konnte er mehr als eine leichte Erwärmung erzielen. Asik hatte ihre Wunden gesäubert und hinkte heran. Die verletzte Pfote hielt sie achtsam hoch, ein Bild, das Puna trotz allen Mitleids zum Lachen reizte. Bei dem komischen Gehopple Asiks und ihrem bekümmerten Gesichtsausdruck konnte er einfach nicht anders. »Komm zu mir, Asik! Ich weiß, es tut weh, aber du schaust so belämmert drein, daß ich lachen mußte. Zeig her! Au, da fehlt ja ein ganzes Stück! Da auch!« Asik hatte die verwundete Pfote auf das Knie des am Boden hockenden Jungen gestellt. Puna untersuchte die beiden Bißverletzungen, ohne sie zu berühren. »Die Löcher wirst du noch lange spüren. Die verheilen nicht so schnell. Dreh dich, laß deine Seite anschauen.« Da Asik darauf natürlich nicht reagierte, zog Puna sie am Schwanz herum. »Das schaut böse aus! Da leuchten ja deine Rippen durch! Leg dich hin, ich säubere - 54 -
dir die Wunde. Mit deiner Zunge kommst du da ja nicht hin.« Er drückte und zerrte an Asik, bis sie begriff, was er wollte. Willig legte sie sich mit der unverletzten Flanke in den Sand. Puna reinigte die Wunde von anhaftenden Haaren und Sand. Dabei blickte er immer wieder auf Asiks Kopf, ob sie nicht doch nach seinen Händen schnappen würde. Aber Asik rührte sich nicht; als ob sie wüßte, daß Puna ihr nur helfen wollte, ertrug sie den Schmerz, den Puna beim Reinigen der Verletzung verursachte. »Erledigt, Asik! Du kannst aufstehen.« Puna gab ihr einen Klaps. »Hast du keinen Hunger? Da, das gehört alles dir. Koste doch einmal!« Asik beschnupperte den zerschnittenen Fisch. Ob man das wohl fressen konnte? Es roch ein kleines bißchen wie Fleisch, aber nicht sehr. Auch die Farbe war ganz anders, viel blasser. Mißtrauisch schleckte sie daran. Mit hochgezogenen Lefzen prüfte sie den Geschmack. Er schien ihr zuzusagen, denn sie legte sich vor dem Fisch in den Sand und begann, noch nicht ganz von der Genießbarkeit überzeugt, einige Fasern loszuzupfen. Erst als auch diese Prüfung zu ihrer Zufriedenheit ausfiel, packte sie herzhaft zu. Binnen weniger Augenblicke verschwand der doch recht große Fisch stückweise zwischen ihren mahlenden Kiefern. Für Puna war es nicht ganz so einfach. Roher Fisch zählte nicht unbedingt zu seinen Lieblingsspeisen, er war die meist sehr scharf gebratenen Gerichte seiner Mutter gewöhnt. Lange konnte er sich nicht entschließen, in die blutigen Stücke hineinzubeißen, aber dann siegte doch der Hunger. Er schloß die Augen und würgte das rosarote Fischfleisch so schnell wie möglich hinunter. Es ist unbedingt notwendig, ein Feuer zu bekommen! dachte er, als er fertig war. Aber er war wenigstens satt. - 55 -
DIE HÜTTE Bis jetzt war Puna noch nicht dazugekommen, sich gedanklich mit seiner Lage zu beschäftigen. Zu sehr hatten ihn die Flucht durch den Dschungel und später der Hunger in Anspruch genommen. Als die beiden aber nun satt auf dem Sand des Flußufers lagen, Asik schlief und jagte mit zuckenden Pfoten irgendwelchen Traumgebilden nach, da wurde Puna schlagartig bewußt, wie einsam er war. Vater! Mutter! Lona! Wo seid ihr? Wo bin ich? Ich bin so allein! Tränen schossen in seine Augen, er legte den Kopf in die Armbeuge und schluchzte haltlos. Warum waren seine Freunde so grausam? Was hatte er getan, daß ihn niemand mehr mochte? Tausend Fragen ohne Antwort wirbelten durch seinen Kopf. Die Schwere der Einsamkeit preßte ihn in den Sand, er fühlte sich elend und hilflos wie nie zuvor. Eine rauhe Zunge leckte über sein Ohr. »Ach, Asik! Deine Mutter ist tot, und meine Eltern sind es für mich auch! Ich habe Angst vor dem Alleinsein! Wenn du nur wenigstens reden könntest.« Asik stieß ein zärtliches Knurren aus, während sie ihren Kopf sanft an seiner Wange rieb. Ihre Zunge wusch die Tränen von Punas Gesicht. Er schlang seine Arme um ihren Nacken und vergrub das Gesicht in ihrem Fell. Lange Zeit saßen sie so da. - 56 -
Punas angeborener Optimismus gewann langsam die Oberhand. Sein Wille zu leben setzte sich durch und verscheuchte die Mutlosigkeit. Geschehen war geschehen, nun galt es, das beste daraus zu machen. Ein gewisser Trotz keimte in Puna auf. »Wir werden es ihnen schon zeigen, Asik! Wir lassen uns nicht unterkriegen! Wir schaffen es! Du und ein Dämon! Sie sollten dich jetzt sehen, dann würden sie ihre eigene Dummheit nicht glauben.« Asik spürte den Wandel in Punas Innerem. Sie hörte aus seinen Worten, daß die Verzweiflung in Unternehmungslust umschlug. Fast gleichzeitig sprangen sie auf. Nachdem sich Puna zum Überleben entschlossen hatte, widmete er sich dem Naheliegendsten. Zwei Nächte hatte er laufend und nur kurz rastend verbracht, seit man ihn aus dem Dorf ausgestoßen hatte. Die kommende Nacht war die erste, die er ruhig schlafend hinter sich bringen konnte. »Wir werden noch einige Tage weiterwandern. Ich glaube, wir sind noch zu nahe beim Dorf. Die Männer könnten uns finden, wenn sie wieder auf die Jagd gehen. Du weißt ja, was sie mit dir vorhaben.« Asik wußte es nicht, aber das war auch nicht wichtig. Und ob sie hierblieben oder woanders hingingen, war ihr ziemlich gleichgültig. So gelehrig sie auch war, so gut sie gewonnene Erfahrungen auch auswerten konnte, die Fähigkeit des logischen Denkens fehlte ihr doch. Ein Platz zum Übernachten war bald gefunden. Puna wählte eine Stelle am Flußufer aus, die breiter als sonst mit Sand bedeckt war. Direkt auf dem Waldboden wollte er wegen der vielen Insekten nicht schlafen. Dicht nebeneinander rollten sich der Junge und sein Jaguar zusammen, und noch bevor es völlig finster war, schliefen sie schon tief und fest. - 57 -
Zwei Wochen lang setzten sie ihre Flucht gemächlich fort. Puna orientierte sich häufig am Stand der Sonne, da er immer wieder fürchtete, im Kreis zu gehen und sich dem Dorf wieder zu nähern. Unvermittelt hörte der Dschungel auf. Eine große Lichtung breitete sich vor ihnen aus, an ihrem Rand glitt ein breiter Bach träge dahin. »Hier bleiben wir, Asik. Hier ist genügend Platz, einen Bach gibt es auch. Was wollen wir mehr? Mir gefällt es hier.« Er stürmte los, auf die sanfte Erhebung zu, die nicht weit vom Bach entfernt war. Einige mannshohe Büsche erhoben sich auf ihr, doch das war Puna nur recht. So würde ihre Hütte ein wenig versteckt liegen; es mußte sie ja nicht gleich jeder sehen, auch wenn kaum eine Chance bestand, daß sich je ein menschliches Wesen in diese Gegend verirren würde. Ungeduldig begann Puna, den geeignetsten Platz auszusuchen. Am liebsten hätte er alles auf einmal gemacht. Doch sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, daß es vorläufig wichtiger war, etwas Eßbares zu beschaffen. Asik teilte seine Begeisterung für die Hütte ohnedies nicht, sie schnüffelte neugierig an einem armdicken Loch in der Erde. Irgend etwas mußte da drinnen stecken, denn sie hörte deutlich ein dumpfes Scharren. Eigenartigerweise entströmte dem Loch keinerlei Geruch. Asik fing an, das Loch mit der unverletzten Pfote zu erweitern. Plötzlich stieß sie auf leichten Widerstand. Als sie die Pfote zurückzog, hing eine große braune Erdnatter daran! Sie hatte nach dem »Eindringling« geschnappt und sich im Fell der Pfote verbissen. Nun bekam sie ihre nach hinten gekrümmten Hakenzähne nicht mehr los und mußte sich aus dem Loch ziehen lassen. - 58 -
Kaum war sie heraus, ringelte sie sich sofort um Asiks Bein. Asik stieß ein verblüfftes Schnaufen aus. Was war das nur für ein komisches Wesen, das bloß aus Kopf und Hals zu bestehen schien? Wo blieben der Körper und die Beine? Der junge Jaguar schaute noch einmal in das Erdloch, aber da kam nichts mehr heraus. Dieses eigenartige Tier war wirklich schon zu Ende! Der Druck um Asiks Bein wurde unangenehm stark, beinahe schmerzhaft. Asik schüttelte die Pfote, doch die Umklammerung der Schlange lockerte sich nicht im geringsten. Puna war durch Asiks Schnaufen aufmerksam geworden und lief zu ihr herüber. »Was hast du denn da aufgestöbert? Hast du eine Schlange gefangen? Oder sie dich? Tanz doch nicht so herum! Halt still, wie soll ich sie denn erwischen, wenn du ständig mit der Pfote herumzappelst?« Puna faßte das Reptil im Genick und tötete es mit einem kräftigen Messerhieb. Der Schlangenkörper erschlaffte und glitt zu Boden; Asik betrachtete ihn mißtrauisch. »Das nächste Mal sei vorsichtiger!« warnte Puna. »In solchen Löchern könnten auch Giftschlangen sitzen. Denk daran, Asik! Sei nicht immer so neugierig und stecke deine Nase nicht überall hinein!« Er ging zu dem Platz zurück, den er für den Bau seiner Hütte ausgewählt hatte. Während sich Asik über die Schlange hermachte und ihren Hunger stillte, schnitt Puna einige Äste von einem Busch. Er steckte sie in den Boden und markierte so die Ausmaße seiner zukünftigen Behausung. »Schau, Asik! Glaubst du, daß das groß genug ist? Von einer Ecke zur anderen sind es sieben Schritte. Das müßte eigentlich für uns beide genügen. Weißt du, ich möchte die Hütte so bauen, wie es die Weißen tun. Mit richtigen Wän- 59 -
den. Und einer Tür. Du kannst mir helfen, wenn du willst.« Puna begann, die Büsche und Farne innerhalb des ausgesteckten Viereckes auszureißen. Was er nicht aus der Erde ziehen konnte, schnitt er knapp über dem Boden ab. Da er kein geeignetes Werkzeug besaß, dauerte diese Arbeit ziemlich lange. Schließlich ließ er sein Messer fallen und besah sich die Blasen an seinen Händen. „Genug für heute! Ich habe fürchterlichen Hunger! Du auch, Asik? Komm, wir wollen an den Bach gehen. Da sind sicher Fische drin.« Er befestigte das Messer wieder an dem Speerschaft und schlenderte zum Bach. Asik, von der Schlangenmahlzeit noch gesättigt, blieb faul auf dem Hügel liegen. Sie begnügte sich damit, Puna zuzusehen. Der Junge hatte in den vergangenen Tagen und Wochen einige Übung im Speerfischen gewonnen. In dem Bach an der Lichtung gab es zwar nicht so große Fische wie in den breiten Flüssen, aber trotzdem dauerte es nicht lange, bis Puna eine ausreichende Menge neben sich liegen hatte. Die gefräßigen Piranhas, die jeden noch so kleinen Wasserlauf zahlreich bevölkerten, stellten den Hauptanteil seiner Beute dar. Ihr Fleisch war äußerst schmackhaft, wenn auch von vielen Gräten durchzogen. Puna hatte sich daran gewöhnt, rohen Fisch zu essen, zumindest ekelte ihn nicht mehr davor. »Ich muß versuchen, ein Feuer zustande zu bringen. Auf die Dauer schmeckt mir das rohe Fleisch doch nicht. Jetzt habe ich so viel Zeit, da muß es doch klappen. Was meinst du, Asik?« Asik meinte nichts, sie war eingeschlafen. Puna wunderte sich, daß sie so viel schlief, aber dann fiel ihm ein, wie jung sie ja noch war. Sie brauchte den Schlaf zum Wachsen. - 60 -
Puna suchte am nächsten Morgen Holz zum Feuermachen, diesmal sorgfältiger. Die Stücke, die ihm geeignet erschienen, legte er in die pralle Sonne, damit sie trockneten. Dann arbeitete er an seiner Hütte weiter. Er hatte es sich leichter vorgestellt. Obwohl er nur knapp armdicke Stämmchen aussuchte, hatte er große Schwierigkeiten, sie mit seinem kurzen Messer abzuhacken. Außerdem machte das zähe Holz die Schneide bald stumpf. Er mußte den Hüttenbau unterbrechen und einen Stein suchen, an dem er sein Messer schleifen konnte. Doch Steine waren selten in diesem Teil des Dschungels. Hier war flaches Schwemmland, der Boden bestand aus Sand und Erde, von den großen Flüssen vor langer Zeit herangespült. Puna brauchte den ganzen Nachmittag, bis er endlich einen passenden Stein gefunden hatte. Gegen Abend versuchte er, ein Feuer zu entfachen. Die Sonne hatte das vorbereitete Holz und die Flechten, die er als Zunder verwenden wollte, ausgedörrt. So glomm bald ein Funken unter dem rotierenden Hartholzstab auf; Puna erweckte ihn durch vorsichtiges Blasen zu flammendem Leben. Asik, die unbeteiligt daneben gehockt war, sprang erschrocken fauchend zurück, als die Flammen am Holz emporzüngelten. Was machte ihr Freund denn jetzt schon wieder? Dauernd fielen ihm Dinge ein, die sie, Asik, erschreckten! Wozu sollten denn diese funkelnden, leuchtenden Blitze gut sein, die er da aus dem Holz zauberte? Puna hatte sein Feuer! Zum ersten Mal seit Wochen konnte er seine Fische braten! Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als der appetitliche Duft über die Lichtung zog. Auch Asik schnupperte prüfend. Es roch gar nicht so schlecht; wenn nur nicht das Licht so unruhig und grell - 61 -
wäre! Sie konnte nicht ins Feuer schauen – trotzdem zogen die Flammen ihren Blick magisch an. Und heiß war das Licht, phhh! Die Hütte machte nur langsam Fortschritte. Puna fällte die Stämmchen und schleppte sie zum Bauplatz. Asik hatte ein lustiges Spiel entdeckt: sie machte Jagd auf die Zweige der Bäumchen, die Puna durch das Gras schleifte. Irgendwo hinter einem Busch versteckt lauerte sie, bis Puna unter seiner Last keuchend vorbeikam. Dann sprang sie das »vorüberkriechende« Geäst an – und schon lag Puna auf der Nase! »Asik, du verspielte Katze! Hör doch auf damit! Jetzt reißt du mir schon zum fünften Mal den Baum von der Schulter! So werden wir nie fertig! Hilf mir lieber!« Punas Entrüstung war nicht ganz ernstgemeint. Er warf sich auf Asik und zerzauste ihr das Fell. Oft entstand eine wilde Balgerei, wobei sie manchmal den ganzen Hügel hinunterrollten. So hart Asik auch bereits zuschlagen konnte, bei Puna bremste sie ihre ständig wachsende Kraft. Dennoch ließ ihn so mancher ihrer »sanften« Prankenhiebe – mit eingezogenen Krallen natürlich – kopfüber in den nächsten Busch fliegen. Lachend rappelte er sich dann auf und revanchierte sich, indem er sie am Schwanz umherzog. Als Puna genügend Stämmchen beisammen hatte, rammte er vier etwas dickere Pfähle an den Ecken des geplanten Bauwerks in den Boden. Mit Hilfe von Ranken und Lianen fügte er die einzelnen Stämmchen aneinander. Einige Querstreben verliehen dem Ganzen Festigkeit. Nach einer weiteren Woche waren die Wände fertig, er begann mit dem Dach. Er fertigte ein enges Geflecht aus dünnen Ästen an, auf dem er dicke Bündel trockener Plamblätter befestigte. Mit aller Kraft zog er die Verschnü- 62 -
rungen zusammen, stopfte immer neue Palmblätter dazwischen, bis das Dach auch einem stärkeren Regen standhielt. Anfangs ließ sich Asik nicht dazu bewegen, die Hütte zu betreten. Ihr dämmeriges Inneres – Puna hatte wohl eine Tür, aber keine Fenster gebaut – erweckte Asiks Mißtrauen. Nur durch List gelang es Puna, sie doch noch hineinzulokken: als Asik wieder einmal hungrig war, legte er eine Reihe kleiner Fischbrocken aus. Asik folgte der Spur, Stückchen für Stückchen vom Boden aufnehmend, und als sie den letzten Brocken verschlungen hatte, stand sie mitten in der Hütte. Puna strahlte sie an. »Das ist jetzt unser Zuhause«, sagte er schmeichelnd, »hier wohnen wir – du und ich. Schau, ich habe dir da in der Ecke ein Strohlager gemacht, gleich neben meinem.« Da Asik nun schon einmal in der Hütte war, begann sie gleich alles zu beschnüffeln. Mit den Tatzen riß sie das sorgfältig hergerichtete Lager auseinander, um zu sehen, was darunter war. Schimpfend schob Puna das Palmstroh wieder zusammen. Er legte sich darauf, um Asik zu zeigen, wozu es diente. Schnurrend legte sich Asik neben ihn, sie hatte die Hütte als neue »Höhle« akzeptiert. Draußen verglühte langsam das Feuer, der letzte Rauch kräuselte sich in der hereinbrechenden Dunkelheit. Puna und Asik waren zu Hause.
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DER BRAND Puna und Asik waren in ihrer Hütte zufrieden. Sie hatten alles, was sie zum Leben brauchten. Puna verfügte sogar über einen Bogen und Pfeile. Eine Reihe glücklicher Zufälle und seine eigene Geschicklichkeit hatten ihm dazu verholfen: Auf einem ihrer ausgedehnten gemeinsamen Streifzüge, kurz nachdem Puna die Hütte fertiggestellt hatte, entdeckte Asik eine sonderbare Spur. Deutlich waren die scharfen Abdrücke paariger Hufe im weichen Erdreich zu erkennen. Puna hielt sie zuerst für die Fährte eines Hirsches, aber der geringe Abstand zwischen den einzelnen Zeichen machte ihn stutzig. Hirsche mit so großen Hufen und so kurzer Schrittlänge gab es nicht. Sie gingen der Spur nach, neugierig, welches Tier sie hinterlassen haben mochte. Wenig später stieß die Spur auf eine breite Bahn gleichartiger Abdrücke. Hier mußten einige Dutzend dieser Tiere vorübergezogen sein. Puna war nun sicher, daß es sich keinesfalls um Hirsche handelte. Die Hirsche des Dschungels bildeten nie so große Rudel, sie lebten zu fünft oder zu sechst. Dröhnendes Getrappel ließ den Boden federn. Ein dumpfer Aufprall war zu vernehmen, ein lautes Quieken. Asik verschwand mit einem raschen Satz auf einem Baum. Sie konnte – wie alle Jaguare – ausgezeichnet klettern. Puna nahm hinter dem Baumstamm Deckung und hielt den Atem - 64 -
an. Seine Faust umklammerte den Speer. In unmittelbarer Nähe brach ein nicht allzugroßes Tier aus dem Gebüsch. Der fast keilförmige Körper wurde von relativ dünnen, kurzen Beinen getragen und war von drahtigem graubraunen Haar bedeckt. Der Kopf endete in einer rüsselartigen Schnauze; im offenen Maul waren die kräftigen Eckzähne zu sehen. Ein Pekari – ein Dschungelschwein! Ein zweites Pekari, größer als das erste, stürmte aus dem Dickicht; es rannte das erste einfach nieder. Ein Kampf brandete auf, dessen Wildheit und Schnelligkeit Puna mit den Augen kaum verfolgen konnte. Binnen Sekunden bluteten beide Pekaris aus mehreren tiefen Wunden, die sie sich gegenseitig mit den zentimeterlangen Hauern zufügten. Es waren zwei Eber, die sich über die Rangordnung im Rudel nicht ganz einig waren. Der kleinere war offenbar der Herausforderer, der nun vom älteren Platzeber seine Lektion erteilt bekam. Es dauerte nicht lang, und der Herausforderer lag fürchterlich zugerichtet auf dem Boden. Der Sieger, über und über mit dem Blut seines Gegners, aber auch seinem eigenen, beschmiert, hob stolz den Kopf und stieß ein tiefes Röhren aus. Puna preßte sich dicht an den Baumstamm. Der große Eber warf noch einen kurzen Blick auf den Besiegten, dann wandte er sich ab und trabte zu seinem Rudel zurück. Er hatte bewiesen, daß er der Herr war! Jetzt würde wieder Ruhe im Rudel sein, die jungen Eber würden es sich überlegen, ihm seinen Platz streitig machen zu wollen! Puna verließ seine Deckung. Wie ein Schatten landete Asik auf weichen Pfoten federnd neben ihm. Vorsichtig näherten sie sich dem Pekari, das schwer atmend im Gras lag. »Ich glaube, es lebt nicht mehr lange, Asik. Schau, wie es - 65 -
blutet!« flüsterte Puna. Er hatte keine Ahnung von der Zähigkeit der Dschungelschweine. Ihre dicke Schwarte schützte sie vor ernsthafteren Verletzungen in den Rangordnungskämpfen. Das viele Blut, das aus den Wunden drang, ließ sie ärger aussehen, als sie wirklich waren. »Das ist eine Beute für uns. Paß auf, Asik! Nicht so schnell!« Asik, vom Blutgeruch angelockt, vergaß jede Vorsicht. Sie stürmte auf ihr anscheinend wehrloses Opfer los. Aber plötzlich stand der Eber auf den Beinen! Er senkte den Kopf und scharrte mit den Hufen die Erde auf! Er hatte seine Benommenheit abgeschüttelt und starrte Asik mit blutunterlaufenen Augen an. Nach dem verlorenen Kampf sammelte er alle verbliebenen Kräfte zur Abwehr. Asik blieb abrupt stehen, als wäre sie gegen eine Mauer geprallt. Was war denn das? Eben noch lag das Pekari auf der Erde, als würde es im nächsten Augenblick seinen letzten Schnaufer tun, und auf einmal stand es aufrecht da und schickte sich an, auf sie loszugehen! Schrittweise zog sich Asik zurück. Das Pekari war ein gutes Stück größer als sie selbst, seine Eckzähne von bedrohlicher Länge. Asik konnte nicht wissen, daß gerade diese Reaktion sie in Gefahr brachte. Ihr Zurückweichen reizte den Eber zum sofortigen Angriff! War er vorher vielleicht noch unsicher gewesen, ihre Rückwärtsbewegung war ein Signal für ihn, daß er ihr überlegen war. Unvermittelt preschte er mit gesenktem Kopf auf Asik los. Ein wütendes Schnauben stieg aus seiner Kehle. In Puna, der vor Schreck erstarrt war, kam Leben. Mit einem Sprung war er an Asiks Seite. Er rammte das hintere Ende seines Speers in den Boden und richtete die Spitze auf den heranrasenden Eber. Splitternd zerbrach der Speerschaft, als das Pekari blind - 66 -
vor Wut dagegenrannte. Puna flog in hohem Bogen zur Seite und landete unsanft in einem Dornengestrüpp. Der Eber stand sekundenlang zitternd da, dann brach er in die Knie, wenige Schritte vor der erschrockenen Asik. Die Messerklinge hatte sich tief in seine Brust gebohrt. »Wir haben es geschafft!« sagte Puna heiser, während er sich aus den Dornen befreite. »Asik, wir haben gesiegt! Ein ganzes Pekari! Fleisch, richtiges, gutes Fleisch! Weißt du, daß das unsere erste große Beute ist? He, Asik, wach auf! Beweg dich!« Asik wollte sich nicht noch einmal von dem bewegungslos daliegenden Wildschwein überrumpeln lassen. Deshalb näherte sie sich ihm diesmal auf Umwegen von hinten. Zögernd packte sie einen Hinterlauf des Pekaris mit den Zähnen und zog daran. Das Tier rührte sich nicht. Da wurde Asik wieder mutiger und begann, das Blut aufzulecken. Puna zog sein Messer aus dem Kadaver und wischte es an einem Grasbüschel sauber. »Warte, Asik! Wir tragen es nach Hause! Hörst du nicht? Du sollst nicht hier zu fressen anfangen! Laß das!« Asik sah Puna fragend an. Er schob sie von der Beute weg, was sie sich murrend gefallen ließ. Mühsam wuchtete Puna das Pekari auf seine Schultern. Die schwere Last ließ ihn taumeln, als er die ersten Schritte machte. »So geht’s nicht. Da komme ich keine hundert Schritte weit. Es ist zu schwer.« Er warf den Eber wieder ab. »Ich muß mir eine Art Schleifbahre machen. Du hilfst mir dann beim Ziehen, Asik, ja?« Bei der Hütte angekommen, zerlegte Puna das Pekari. Er steckte den Großteil des Fleisches auf Spieße und machte es durch Braten über dem Feuer haltbar. Asik bekam den Rest und die Innereien. - 67 -
»Jetzt kann ich mir viele wichtige Dinge machen, Asik. Die Haut schneide ich in Streifen, das gibt prima Schnüre. Mit einer Sehne kann ich einen Bogen anfertigen, die Eckzähne nehme ich als Pfeilspitzen. An ein Schulterblatt mache ich einen Griff, und schon habe ich eine Schaufel. Dieses Wildschwein war ein Geschenk der Götter!« Puna brauchte drei Tage, bis er das Pekari beinahe restlos verwertet hatte. Pausenlos werkte er; schließlich lag ein ganzer Haufen nützlicher Geräte neben ihm: Bogen und Pfeile, Schaufel, Schlingen, verschieden lange Lederriemen, sogar einige Angelhaken hatte er aus den Knochen geschnitzt. Asik langweilte sich in dieser Zeit. Sie beschäftigte sich damit, Grashüpfern nachzuspringen und kleine Eidechsen zu jagen. Allerdings erwischte sie keines dieser flinken Tiere; regelmäßig verschwanden sie in ihren Löchern, bevor Asik sie erreichte. Die Beschaffung des Fleisches machte keine Schwierigkeiten mehr. Puna hatte für seinen Bogen einen Ast ausgewählt, den er gerade noch biegen konnte. Das verlieh seinen Pfeilen genügend Kraft, auch größere Beutetiere zu töten. Auch Asik gewann im Laufe der Wochen zusehends an Kraft, sie verlor ihr Milchgebiß, starke weiße Zähne wuchsen nach. Sie lernte es schnell, diese Waffen erfolgreich zu gebrauchen. Mit zunehmender Körpergröße wuchs ihre Geschicklichkeit; sie legte einen Teil ihrer Verspieltheit ab. Aus dem Kätzchen wurde eine Raubkatze. Aber wenn sie mit Puna spielte, hielt sie sich an das alte Ritual. Da miaute sie, ließ sich das Fell kraulen und schlug linkisch mit den Pfoten nach Punas Hand. Einmal vergaß sie dabei, ihre nadelscharfen Krallen zurückzuziehen – fünf tiefe Furchen zogen sich über Punas Handrücken und bluteten heftig. Asik selbst war darüber mehr erschrocken als - 68 -
Puna. Sie maunzte demütig und leckte das Blut behutsam von seiner Haut. »Sei doch nicht so grob, Asik! Uiii, das brennt! Laß deine Krallen drinnen, sonst spiele ich nicht mehr mit dir! Ich hab’ ja auch nicht mein Messer in der Hand, wenn ich mit dir raufe. Paß besser auf, du Grobian!« Aber dieser Vorfall beeinträchtigte nicht ihre Freundschaft. Die Wunden verheilten, nur fünf weißliche Narben blieben zurück. »Schau, Asik«, sagte Puna und hielt seine Hand neben Asiks linke Vorderpfote, »jetzt haben wir beide Narben auf den Tatzen: du von den Piranhas und ich von einem unvorsichtigen Jaguar.«
Als sich die Trockenzeit ihrem Höhepunkt näherte, erlebten sie eine böse Überraschung: der Bach, der sie mit dem notwendigen Wasser versorgte, wurde schmäler und schmäler und versiegte eines Tages ganz. Nur einige trübe Lachen standen noch in dem ausgedörrten Bachbett, und auch sie verschwanden bald. Der tägliche Regenguß wurde immer kürzer und spärlicher; schließlich blieb auch er ganz aus. Flirrende Hitze stand über dem Wald. Die Blätter hingen welk an den Zweigen, alles schrie nach Wasser. »Komm, Asik, wir müssen einen Fluß suchen, der noch Wasser führt. Sonst verdursten wir. Unser Vorrat geht bald zu Ende.« Puna hatte, als das Wasser weniger und weniger wurde, eine große Anzahl hartschaliger, kürbisähnlicher Früchte ausgehöhlt und darin Wasser gespeichert. Aber jetzt waren alle Kürbisflaschen bis auf zwei oder drei leer. Er band sie mit einem Lederriemen zusammen und hängte sie über seine Schulter. Die vollen Behälter nahm er als »Wegzehrung« mit. Asik sah ihn mit heraushängender - 69 -
Zunge so lange bettelnd an, bis er ihr aus der hohlen Hand zu trinken gab. Dankbar schleckte sie die wenigen Tropfen auf. »Den Rest müssen wir aufheben, kleine Asik«, sagte Puna, »wer weiß, wann wir einen Fluß finden! Wir brauchen das Wasser unterwegs!« Noch vor wenigen Wochen war er breit und träge dahingeströmt, jetzt war er kaum mehr als ein armseliges Rinnsal. Da in den weit entfernten Gebirgsketten der Anden der Regen fehlte, war der Fluß auf weniger als ein Zehntel seiner ursprünglichen Breite zusammengeschrumpft. Aber es war Wasser, was sich da durch die Rinne in der Mitte des Flußbettes schlängelte! Puna warf sich bäuchlings hinein und spritzte sich das kühle Naß ins Gesicht. Asik planschte neben ihm. Puna spritzte sie an. »Ist das nicht herrlich?« jubelte er. »Wasser! Trink, Asik! Trink, bis du platzt!« Er packte sie bei den Ohren und drückte ihren Kopf unter die Oberfläche. Prustend und schnaubend tauchte Asik wieder auf. Aus dem Stand heraus sprang sie Puna an; jetzt bekam er zu schlucken. Hohe Fontänen spritzten auf, als sich die beiden übermütig balgten. »Brr! Jetzt ist es genug, Asik. Hör auf. Ich kriege keine Luft mehr! Ich glaube, ich habe den ganzen Fluß in meinem Bauch.« Lachend und keuchend stieg er ans Ufer. Asik wollte noch weitertollen und sprang ihm nach, um ihn ins Wasser zurückzuzerren. »Schluß jetzt, Asik. Schau, ich muß doch die Flaschen füllen. Gib Ruhe!« Er befreite sich aus ihren vorsichtig ziehenden Kiefern und gab ihr einen Klaps. Mit den Kürbisflaschen in der Hand ging Puna ein Stück flußaufwärts, dorthin, wo sie nicht den Schlamm aufgewühlt hatten und das Wasser sau- 70 -
berer war. Er füllte eine Flasche nach der anderen und verschloß sie mit Moospfropfen. »So, weiter geht’s! Erst die Arbeit, dann das Spiel!« rief er und stürzte sich erneut in das flache Gewässer. Sofort war Asik über ihm und drückte ihn mit ihrem beträchtlichen Gewicht nieder. Puna zog ihr die Hinterläufe weg, klatschend plumpste sie neben ihn. Es war einfach wunderbar, das Wasser angenehm kühl! Nach dem anstrengenden Marsch durch den stickigen Wald – sie waren einen ganzen Tag lang dem trockenen Bachbett gefolgt, bis sie endlich auf den Fluß stießen – konnten sie von dem erfrischenden Spiel nicht genug bekommen. Asik war es, die plötzlich die Balgerei beendete und mit gespitzten Ohren den Kopf hob. Sie ließ Punas Arm, den sie gerade im Maul hielt, los, und fegte mit geschmeidigen Sätzen ans Ufer. Bevor Puna noch begriff, was los war, verschwand sie schon im Gestrüpp. »He, halt! Wo rennst du hin? Asik, komm zurück!« schrie Puna hinter ihr her. Eilig watete er ans Ufer. Was war denn in Asik gefahren, daß sie so plötzlich weglief? Weit vorne hörte Puna Äste brechen, ein Rascheln und Knacken drang an seine Ohren. Dann war es wieder still. Puna fühlte sich unbehaglich, weil er nicht erkennen konnte, was sich da im Dickicht abspielte. Direkt neben Puna schob sich Asik wieder aus dem Gebüsch, er hatte sie gar nicht kommen gehört. In ihrem Fang baumelte ein rötlichbraunes Fellbündel! Ihr scharfer Geruchssinn hatte ihr verraten, daß sich einige der kleinen Spießhirsche dem Fluß näherten, um hier zu trinken. Gegen den Wind hatte sie sich herangepirscht und war auf einen Baum geklettert, bevor die Hirsche in Sichtweite waren. Von ihrem erhöhten Lauerplatz aus wählte sie das - 71 -
schwächste der ohnedies nicht großen Tiere aus, und als es ahnungslos unter ihrem Ast vorüberzog, schnellte sie sich wie ein Pfeil ab! Der Schwung des Sprunges verlieh ihr solche Wucht, daß der Hirsch sofort zusammenbrach. Die übrigen Tiere hetzten in panischer Furcht davon und verursachten dabei die Geräusche, die Puna vernommen hatte. Mit ihrer Beute im Maul kehrte Asik zum Flußufer zurück. »Weißt du was, Asik«, sagte Puna, während er die Beute zerlegte, »wir bleiben ein paar Tage hier. Warum sollen wir zur Hütte zurückgehen? Hier gibt es Wasser, und von überall kommen die Tiere her, um zu trinken. Hier gibt es Fleisch in Hülle und Fülle! Warten wir, bis der Regen kommt, dann können wir noch immer nach Hause gehen.« Da ihm ein Gesprächspartner fehlte, hatte Puna es sich angewöhnt, seine Pläne und Gedanken mit der stumm zuhörenden Asik zu besprechen. Diesmal konnte ihr Schweigen nur Zustimmung bedeuten. »Also gut, richten wir uns hier ein. Wie gefällt dir die Mulde dort? Dort werden wir schlafen. Und tagsüber gehen wir baden. Einverstanden?«
Vor dem ersten Regen kamen die Gewitter. Unaufhörlich zuckten die Blitze vom bleigrauen Himmel, grollte der Donner. Nur die Tropfen fielen noch nicht. Es war, als wollten die Götter die lange Trockenperiode noch mit einem flammenden Schauspiel krönen, ehe sie den ersehnten Regen schickten. Asik hatte noch nie ein Gewitter erlebt. Ängstlich und bebend duckte sie sich in die Bodenmulde, eng an Puna gedrückt. Er kraulte ihr beruhigend das Fell. »Keine Angst, Asik«, redete er besänftigend auf sie ein, »es dauert nicht - 72 -
mehr lang. Es ist bald vorüber, und dann kommt der Regen. Du brauchst dich nicht zu fürchten, es kann dir nichts passieren.« Die ersten Tropfen fielen vom Himmel, zuerst einzeln und zögernd, dann immer schneller und dichter. Der Regen! Puna warf die Arme in die Luft und tanzte jauchzend im Sand des Flußufers. Wasser lief über seine Stirn, seine Augen, seinen Mund. Es gab wieder Wasser! Jetzt konnten sie nach Hause, in ihre Hütte zurückkehren! »Asik! Komm! Lauf!« Er rannte an dem Bachbett entlang, das sich langsam und glucksend mit Wasser füllte. Asik trabte mißmutig hinter ihm drein. Sie war bei weitem nicht so begeistert. Ihr war der Wolkenbruch nicht angenehm; die Tropfen peitschten hart in ihr Gesicht. Sie verstand nicht, wie sehr sich Puna nach seinem Zuhause sehnte, nach einem sorglosen Leben in seiner – seiner! – Hütte. Dem Bach folgend, erreichten sie die Gegend, die ihnen bekannt war. Sie näherten sich der Hütte. Plötzlich blieb Asik stehen und sog die Luft witternd durch die geblähten Nüstern. Da war ein fremder Geruch in der Luft! Irgendwie kam er ihr bekannt vor, sie konnte ihn aber momentan nicht einordnen. Doch… das war derselbe Geruch, den sie verspürte, wenn Puna sein Feuer anfachte. Jetzt schnupperte auch Puna. »Da brennt es irgendwo, Asik! Das ist Rauch!« Er schritt hastig aus. Asik mußte große Sprünge machen, um an seiner Seite zu bleiben. Der brenzlige Geruch wurde immer stärker. Leichte Rauchschwaden wehten ihnen durch den Regen entgegen. Betroffen blieb Puna stehen, als sie die Lichtung erreichten. Er konnte nicht fassen, was seine Augen sahen: auf dem Hügel, dort, wo seine Hütte gestanden war, wälzten sich dicke Qualmwolken! - 73 -
»Nein! Nein, das darf nicht sein«, schrie er heiser. »Asik! Sag, daß es nicht wahr ist. Unsere Hütte. Unser Zuhause!« Die Tränen schossen ihm in die Augen, er stand wie versteinert. »Alles ist aus. Vorbei«, flüsterte er tonlos, seine Stimme versagte. »Alles verbrannt… die Hütte… das Werkzeug… nichts mehr übrig…«
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NEUER ANFANG Einsam hockte Puna am Fuße des Hügels. Er spürte nicht den trommelnden Regen, nicht den beißenden Wind, der aufgekommen war. Er sah nur die schwelenden Trümmer, die einmal seine Hütte gewesen waren. Zum zweiten Mal hatte er sein Zuhause verloren. Zuerst hatte man ihn aus der elterlichen Hütte verstoßen, und nun vernichtete ein Blitz sein zweites Heim, das er mit so viel Schweiß aufgebaut hatte. Die ganze bittere Verzweiflung eines verlassenen, enttäuschten Kindes stieg in ihm hoch. Ein Schluchzen würgte in seiner Kehle, seine Schultern zuckten. Asik hatte sich vor dem Regen unter einem Busch verkrochen und äugte ratlos zu Puna hinüber. Ihr Gehirn konnte nicht erfassen, was ihn so traurig machte, aber ihr Gefühl sagte ihr, daß er sehr unglücklich war. Schließlich stand sie auf und trottete zu Puna. Sanft stieß sie ihn mit der Schnauze an, und als er den Kopf hob, leckte sie ihm die Tränen und den Regen vom Gesicht. Nimm es nicht so tragisch, schien das zu heißen; es waren doch nur Stämmchen und Stroh. Du wirst eben eine neue Hütte bauen. Sie rieb die Stirn an seiner Schulter und schmiegte sich an ihn. Puna hob die Hand und legte sie zwischen ihre Ohren. Ihr nasses Fell war glatt und vertraut. Er grub sein Gesicht hinein und weinte haltlos. Monoton strömte der Regen auf sie. »Für mich war das mehr als nur Balken und Stroh«, - 75 -
murmelte er, während seine Erregung nachließ. »Du wirst das nie verstehen, Asik. Diese Hütte war meine ganze Welt, und sie ist eingestürzt. Das ist, als stünde man vor einem klaffenden Abgrund und hat nichts, an dem man sich halten kann. Nichts und niemanden! Keinen Vater, keine Mutter, keine Freunde. Nur einen dummen kleinen Jaguar, der mich nicht versteht.« Asik schnurrte und drückte sich an ihn. »Entschuldige… das war ungerecht von mir. Ich habe dich sehr gern, und ich weiß, daß du mich auch magst. Nur manchmal, weißt du, manchmal würde ich auch gern eine Stimme hören. Eine Menschenstimme, die antwortet, wenn man etwas sagt. Eine Stimme, die ›Ach, du bist es, Puna!‹ sagt oder ›Reparier die Körbe, Puna!‹ Irgend etwas, verstehst du?«
So schlagartig, wie der Regen gekommen war, hörte er auch wieder auf. Und mit den ersten Sonnenstrahlen drang auch ein Funken Hoffnung in Punas Gemüt. Rings um ihn stieg dampfend die Feuchtigkeit auf – sie nahm seinen Kummer mit. In flüchtigen Schwaden flog er gleich dem Nebel davon und löste sich in kleine Wölkchen auf, die im Wind zerflatterten. Der Lebensmut kehrte in Puna zurück. Er erhob sich, schüttelte das Wasser aus den Haaren und besah sich den Schaden, den der Blitz angerichtet hatte. Trotz des Regens hatte das Feuer ganze Arbeit geleistet. Verkohlte Holzreste waren alles, was noch an die Existenz der Hütte erinnerte. »Na ja«, sagte Puna, als er später durch die noch immer leicht qualmenden Trümmer stieg, »viel ist da nicht übriggeblieben. Ich muß alles neu machen. Da wartet viel Arbeit auf mich. Dumm ist nur, daß der Bogen und die Pfeile auch - 76 -
verbrannt sind. Du mußt allein jagen, Asik. Ich kann höchstens ein paar Fische fangen, wenn sie von den großen Flüssen wieder den Bach heraufgeschwommen sind.« Er stocherte in den Aschenhaufen herum in der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas Brauchbares zu finden. Vergebens, das Feuer war wirklich gründlich gewesen. In den dicken Strohschichten des Daches hatte es ausreichend Nahrung gefunden. Als erstes begann Puna damit, die Überbleibsel der Hütte wegzuräumen. Dicke, vom Regen durchtränkte Asche bedeckte den Boden. Mit einem Holzstück kratzte er sie auf einen Haufen zusammen, den er dann mit den Händen zum Bach trug und ins Wasser warf. Die rauschenden Fluten führten die letzten Erinnerungen an seine Behausung mit sich fort. Ein Besen aus dichtbelaubten Zweigen fegte die Erde sauber. Als Puna damit fertig war, fauchte ihn Asik an. Dieser kohlschwarze Kerl war doch nicht ihr Freund Puna! Das war ein nach Rauch stinkendes, fremdes Wesen! Puna mußte lachen. In komischer Verzweiflung tanzte Asik um ihn herum, beschnüffelte ihn und nieste, als sie den Ruß von seiner Haut in die Nase bekam. Am Bach säuberte sich Puna, doch die fettige Asche ließ sich nur schwer entfernen. Sie saß in den Hautfalten fest wie ein Lacküberzug. Als die Sonne am Morgen strahlend aufging, sah alles nur noch halb so schlimm aus. Der Hüttenplatz war sauber, die Tautropfen an den Blättern und Gräsern verströmten einen Eindruck von Frische und Lebenskraft. Entschlossen machte sich Puna an die Arbeit. Während er am Rande der Lichtung geeignete Stämmchen auswählte und umhackte, erklärte er Asik, was er vorhatte: »Genau genommen ist es gar nicht einmal so schlecht, daß - 77 -
die Hütte verbrannt ist. Ich habe ein paar Fehler gemacht, die ich jetzt vermeiden kann. Ich werde zum Beispiel in den Wänden Löcher zum Durchschauen machen. Dadurch wird es auch innen viel heller werden. Außerdem werde ich eine richtige Feuerstelle bauen. Und die Tür kommt auf die andere Seite, zur Lichtung hin. Du wirst sehen, die neue Hütte wird viel schöner als die alte!« Eine sehr zeitraubende Neuerung war, daß er die Stämme, die er für die Wände verwenden wollte, von der Rinde befreite. Bei der alten Hütte hatte er das nicht getan, und die austrocknende Rinde war in häßlichen Streifen abgeplatzt. Nun würde das entrindete Holz sein sauberes Aussehen beibehalten, außerdem konnte sich so kein Ungeziefer ansiedeln. Die Fenster, die Puna plante, machten ihm einige Schwierigkeiten – er hatte so etwas ja noch nie gesehen. Erst nach einigem Überlegen konnte er das Problem lösen, indem er rahmenartige Stangengebilde anfertigte, die den »Löchern in der Wand« den nötigen Halt gaben. Da Puna keinerlei Anstalten traf, auf die Jagd zu gehen, wurde Asik ungeduldig. Puna ernährte sich seit vier Tagen von Früchten, Asik hatte in dieser Zeit nur zwei unvorsichtige Mäuse erwischt. Das war natürlich ein bißchen wenig; ihr Magen rumorte und knurrte. Immer wieder versuchte sie, Puna von seiner Arbeit wegzuholen und zum Jagen zu bewegen, aber er reagierte nicht darauf. Er ließ sich nicht ablenken und werkte unbeirrt weiter. »Du mußt selbst etwas beschaffen, Asik«, sagte er jedesmal, wenn sie sich ihm in den Weg stellte oder ihn mit den Zähnen vorsichtig an der Wade packte. »Ich weiß, daß du Hunger hast. Ich auch. Aber ich habe keinen Bogen und keine Pfeile. Soll ich einen Hirsch mit bloßen Händen fan- 78 -
gen? Du kannst es! Geh allein jagen, Asik! Wenn du eine größere Beute erlegst, kann ich mir neue Waffen machen. Dann jagen wir wieder gemeinsam. Aber vorläufig bist du dran! Versuch es doch!« Mit zunehmendem Hunger dehnte Asik ihre Wanderungen um die Lichtung immer weiter aus. Einmal entdeckte sie einen auf dem Boden nach Insekten pickenden taubengroßen Vogel, doch der gefiederte Braten war schneller als sie. Er schlüpfte ihr direkt unter der zuschlagenden Pranke davon und flatterte laut keifend auf einen Ast. Der mißglückte Versuch ließ Asiks Appetit nur noch größer werden. So war es nicht verwunderlich, daß ihr das Wasser im Maul zusammenlief, als sie am Bachufer oberhalb der Lichtung auf eine eigenartige, jedoch gut riechende Spur stieß. Die Fährte bestand aus seltsam ausgefransten Einzelabdrücken, in der Mitte dazwischen war etwas über den sandigen Boden geschleift worden. Interessiert folgte Asik der Spur. Sie endete plötzlich am Stamm eines weitverzweigten Baumes, ihr Verursacher schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Ein Rascheln schräg über ihrem Kopf lenkte Asiks Blick nach oben: auf einem dicken Ast nahe beim Stamm lag ein Tier ausgestreckt, das wie eine enorme Vergrößerung der kleinen Eidechsen aussah, die sie auf der Lichtung gehetzt hatte! Über den Rücken des grünen Leguans lief ein bedrohlich wirkender Stachelkamm, von seinen Flanken hingen die Fetzen einer alten, abgestreiften Haut. Noch hatte er Asik nicht bemerkt, der Baumstamm gab ihr Deckung. Lauernd duckte sie sich nieder, nur ihre Schwanzspitze pendelte aufgeregt hin und her. Wenn sie es schaffte, mit zwei Sätzen auf dem Baum zu sein, konnte sie den Leguan erwischen! Sie spannte ihre Muskeln und setzte zum - 79 -
Sprung an. Die untersten Äste befanden sich an der Grenze ihrer Reichweite. Mißlang Asik der erste Anlauf, würde der Leguan, der einschließlich des langen Schwanzes beträchtlich größer war als sie selbst, auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Und dann schnellte Asik empor! Sie fühlte die rauhe Rinde des Stammes unter ihren Krallen, fand Halt und stieß sich sofort wieder ab! Schwungvoll flog sie dem angepeilten Ast entgegen, setzte mit den Hinterbeinen nach – und war oben! Vor ihr, in Reichweite auf dem nächsthöheren Ast, ruckte der Leguan herum. Er sah Asik und reagierte sofort! Ohne einen Laut von sich zu geben, ohne jede Vorankündigung, ließ er sich seitlich vom Ast kippen. Prasselnd stürzte er durchs Gezweig, bremste daran seinen Fall ein wenig und landete plumpsend auf dem Boden. Asik sah ihm verblüfft nach. Sie hatte mit einem Gegenangriff des Leguans gerechnet oder daß er höher in die Baumkrone floh, aber sein einfaches Fallenlassen traf sie völlig unvorbereitet. Unten trampelte der Leguan soeben auf eine Buschgruppe zu und verschwand darin. Asik lief den Ast, auf dem sie sich befand, entlang, sprang auf einen anderen hinüber, noch ein Sprung, dann stand sie genau über dem Gebüsch! Zwar konnte sie den Leguan durch das Blattwerk nicht sehen, aber ein zitternder Zweig verriet ihr, wo er sich aufhielt. Entschlossen, sich nicht noch einmal bluffen zu lassen, überlegte Asik nicht lange und sprang von oben her auf den zitternden Zweig. Ranken peitschten in ihr Gesicht, irgend etwas Spitzes riß ihr linkes Ohr auf, als sie wie ein Geschoß durch das Gebüsch brach. Ihre Krallen bekamen etwas Weiches zu fassen, und obwohl kaum Platz zum Ausholen war, schlug sie sofort mit aller Kraft zu. Ein glückli- 80 -
cher Zufall hatte sie genau auf den Rücken des Leguans aufkommen lassen, direkt hinter seinen Schultern. Für den Leguan war dieser Zufall das Ende. Asiks Prankenhieb zerschmetterte sein Rückgrat, bevor er zum Gegenangriff übergehen konnte. Sein Bewußtsein erlosch schlagartig, nur sein Schwanz peitschte im Reflex das Laub von den Ästen. Asik hob den Kopf, ein dröhnendes Grollen rollte aus ihrer Kehle. Sie hatte gesiegt! Der Gegner lag leblos unter ihren Pranken. Puna horchte auf. Diesen röhrenden Ton hatte er noch nie vernommen! Auf- und abschwellend, mächtig und voll, schien er von allen Seiten zu kommen. Es hörte sich an, als vermischte sich rings um ihn brüllender Donner mit dem Tosen eines Wasserfalles. Er zog den Kopf zwischen die Schultern und lauschte angestrengt, konnte aber nicht feststellen, woher das Grollen kam. Abrupt brach es wieder ab. Mißtrauisch wartete Puna ab, was da nun kommen würde. Als sich das Gebüsch am Rande der Lichtung raschelnd teilte, riß er sein Messer aus dem Gürtel. Er war bereit, sich seiner Haut zu wehren. Doch dann ließ er die Arme sinken und atmete erleichtert auf. »Du bist’s, Asik! Ich habe schon geglaubt, da kommt wer weiß was aus dem Wald! Hast du so gebrüllt? Das ist ja ganz was Neues. He! Was bringst denn du daher?« Erst jetzt sah Puna, daß Asik einen großen Körper mit sich schleifte. »Das ist ja ein riesiger Leguan! Wie hast du denn den erwischt? Der ist ja länger als du!« Er lief hin und half Asik, die schwere Echse zur halbfertigen Hütte zu schleppen. »Na, siehst du, ich hab’s dir gesagt. Du kannst es. Ein Prachtexemplar ist das! Hast du was abgekriegt? Laß schauen. Diese Leguane können mit ihren harten Kiefern ganz grob zubeißen. Nein, nichts, nicht mal ein einzi- 81 -
ger Biß. Bravo, Asik! Das ist herrlich! Aus der Haut kann ich mir wieder Streifen schneiden; das gibt eine wunderbare Sehne für meinen neuen Bogen. Schade, daß ein Leguan nicht so große Zähne hat wie ein Wildschwein, sonst hätte ich jetzt auch ausgezeichnete Pfeilspitzen. Ich werde eben Knochensplitter nehmen, die sind fast genauso gut.« Puna umarmte Asik, die sich jedoch gleich wieder aus der Umklammerung befreite und an dem Leguan zu zerren begann. »Ja, natürlich«, lachte Puna, »ich habe ganz vergessen, wie hungrig du bist. Warte, gleich zerteile ich den Braten. Du zerreißt mir sonst das Leder.« Ungeduldig sah Asik zu, wie Puna die Echse abhäutete und zerlegte. Der Geifer tropfte ihr vom Kinn; sie stürzte sich gierig auf die Brocken, die ihr Puna hinwarf. Nach langer Zeit hatte sie endlich wieder richtiges Fleisch zwischen den Zähnen.
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WO IST ASIK? Mit den neuen Waffen und Geräten, die Puna aus der Haut und den Knochen des Leguans herstellte, wurde das Leben der beiden wieder einfacher und weniger mühevoll. Sie gingen ein- oder zweimal in der Woche auf die Jagd, je nachdem, wie lange die erlegte Beute ausreichte. Die Regenzeit steuerte ihrem Höhepunkt zu, die täglichen Wolkenbrüche wurden immer heftiger und ausdauernder. Puna war froh, seine Hütte auf dem Hügel gebaut zu haben, denn der Bach trat über die Ufer und überflutete große Teile der Lichtung. Das Wasser stand in einer durchgehenden Fläche bis zum Fuß des Hügels. Es war nicht allzu tief, reichte Puna etwa bis zum Knie, aber so manches Mal waren er und Asik in einer von schmutzigbraunen Fluten verdeckten Bodenmulde kopfüber verschwunden. Das war nicht gefährlich – beide waren ausgezeichnete Schwimmer –, doch gelegentlich recht unangenehm. Im Hochwasser blieben Wurzeln und umgestürzte Baumstämme unsichtbar, und man holte sich daran schmerzhafte Beulen und Schrammen. Auf der anderen Seite, zur Mitte der Lichtung hin, fiel der Hügel flacher ab. Dort gab es eine Art Landrücken, der aus dem Wasser ragte. Nach den unangenehmen Erfahrungen auf der Bachseite benutzten Puna und Asik meist diesen Weg, wenn sie zur Jagd aufbrachen. So gelangten sie trok- 83 -
ken auf einen höher gelegenen Landstrich, der außerhalb des Überschwemmungsbereiches des Baches lag. Das bewegungsreiche, mehr oder weniger selbständige Leben und die ausreichende Nahrung förderten Asiks Entwicklung. Sie war jetzt, knapp ein dreiviertel Jahr alt, fast so groß wie eine der Ziegen, die die Indios in ihren Dörfern hielten. Ihre Muskeln waren hart wie Stahl und konnten enorme Kräfte freisetzen. Puna hatte sie früher oft im Spiel umgeworfen; das gelang ihm jetzt nicht mehr, wenn Asik nicht wollte. Dabei hatte auch Punas Kraft bedeutend zugenommen – die harte Arbeit des Hüttenbaues und die langen Streifzüge durch den dichten Dschungel hatten dazu beigetragen. Doch so kräftig er vielleicht im Vergleich zu gleichaltrigen Jungen auch sein mochte, der unbändigen Stärke des heranwachsenden Jaguars war er unterlegen. Asik mußte sich bei den Balgereien sehr bremsen, um den Jungen nicht zu verletzen. In ihren Pranken steckte genügend Wucht, um Puna mit einem einzigen Hieb zu töten – das spürte Asik und zügelte ihre Kraft. Dennoch endeten so manche ihrer spielerischen Schläge mit einem ungewollten Purzelbaum Punas. Obwohl sich die beiden für die Jagd kein bestimmtes System zurechtgelegt hatten, arbeiteten sie wunderbar zusammen. Meist war es Asik, die ihre Beute – Hirsche, größere Vögel, Echsen und sogar junge Tapire und Wasserschweine – aufspürte. Ihr scharfer Geruchssinn und ihr ausgezeichnetes Gehör verrieten ihr den Standort des Wildes, bevor sie es sah. Puna hatte inzwischen gelernt, aus Asiks Verhalten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Wenn der Jaguar plötzlich stehenblieb und die Luft prüfend einzog, erstarrte auch er. Er beobachtete aufmerksam die Richtung, in die Asik witterte, und schlich dann vorsichtig weiter. Durch - 84 -
lange Übung waren seine Schritte unhörbar geworden – kein Zweig knackte mehr, kein Blatt raschelte. Puna konnte sich schon beinahe genauso schattengleich bewegen wie Asik. War das Wild in Sicht, folgte Punas eigentlicher Beitrag zu der gemeinsamen Jagd. Durch seinen Bogen verfügte er über eine wesentlich größere Reichweite als Asik, die erst an das Opfer herankommen mußte, um ihre Kraft zur Wirkung zu bringen. Punas Pfeile hingegen wirkten auch aus der Entfernung. Sein Schuß verletzte die Beute; manchmal – mit einigem Glück – traf der Pfeil auch tödlich. Asik wartete jedesmal, bis der Pfeil zischend die Sehne verließ. Dann hetzte sie mit gewaltigen Sätzen los und erreichte das Wild, kurz nachdem es vom Pfeil getroffen worden war. Sie warf sich auf das erschrockene Tier, das durch den Pfeilschuß und den dadurch verursachten Schmerz abgelenkt wurde und nicht auf die neue Gefahr achtete. Ein tödlicher Hieb mit der Pranke beendete die Qualen der Beute, noch bevor sie richtig begonnen hatten. »Paß auf, Asik«, sagte Puna eines Tages, als die Regenzeit ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte und das Hochwasser langsam zurückging, »wir sollten getrennt jagen. Wir sind beide gut genug, um die doppelte Beute zu erlegen. Wenn die Trockenperiode kommt, wäre es günstig, wenn wir einen größeren Fleischvorrat hätten. Wir werden jetzt schon damit anfangen; ich schneide das Fleisch in Streifen und trockne es an der Sonne, dann hält es sich sehr lange. Was meinst du?« Da Asik auf Punas Frage nichts erwiderte, sondern gelangweilt einer kleinen Spinne zusah, die an ihrer Pfote hochkrabbelte, stand Puna auf und holte seinen Bogen aus der Hütte. Sofort war auch Asik auf den Beinen und sah ihn - 85 -
erwartungsvoll an. Sie freute sich auf die gemeinsame Jagd. »Nein, Asik«, sagte Puna, »du hast mich nicht verstanden! Wir gehen nicht miteinander! Ich gehe da hinüber, und du dort.« Er schob und zerrte Asik herum. Doch immer wieder kam sie hinter ihm her, sobald sich Puna entfernte. Er konnte ihr nicht begreiflich machen, daß sie getrennt jagen sollten. So begleitete er sie ein gutes Stück, und als Asik bald darauf eine Spur aufnahm und ihr zielstrebig folgte, verlangsamte Puna seine Schritte. Vom berauschenden Geruch der Fährte gefangen, nahm Asik nicht wahr, daß ihr Begleiter immer mehr zurückfiel und schließlich die Richtung wechselte. Auf leisen Sohlen schlich er davon; so zwang er Asik dazu, allein zu jagen. Sie würde es schon schaffen. Für Puna war sein erster Jagdversuch ohne Asik eine bittere Enttäuschung. Er war zwar überzeugt, die Beute erlegen zu können, aber zuerst einmal mußte er sie überhaupt finden. Schon bald kam ihm zu Bewußtsein, daß er sich bisher viel zu sehr auf Asiks unfehlbare Nase verlassen hatte. Jetzt lief er schon stundenlang durch den Busch, ohne auch nur ein Haar einer möglichen Beute zu sichten. So gut war die Idee, getrennt zu jagen, wohl doch nicht, dachte er. Ob Asik mehr Glück hatte? Er selbst jedenfalls wollte aufgeben und zur Hütte zurückkehren. Ohne Hoffnung machte er sich auf den Rückweg. Asik drückte die Nase tief auf den Boden. Ein intensiver Geruch stieg von den Trittsiegeln auf, die durch ihre breitflächige Form verrieten, daß hier ein Wasserschwein vorübergewechselt war. Die Fährte wurde immer frischer; Asik beschleunigte ihr Tempo. Gleich würde sie das Wild erblicken, und dann würde Puna einen seiner fliegenden Zweige abschießen. - 86 -
Wo war Puna überhaupt? Asik blieb stehen und sah über die Schulter zurück. Puna war nicht da! Er war immer seitlich hinter ihr gewesen, wenn sie einer Fährte folgte, aber jetzt war sie allein! Ein nervöses Zucken lief über ihr Fell. Sollte sie der Spur weiter folgen? Oder sollte sie umkehren und Puna suchen? Als der Wind ihr erneut eine aufregend starke Duftwolke entgegentrug, war die Entscheidung gefallen. Die Beute war dicht vor ihr! Jetzt nahmen auch ihre empfindlichen Ohren das mahlende Geräusch auf, mit dem die Großnager ihre Nahrung abweideten. Asik duckte sich und schlich vorwärts. Nach wenigen Schritten nahm sie Bewegung im Gebüsch vor ihr wahr. Mehrere braune Körper glitten hin und her, ein ganzes Rudel Wasserschweine. Asik ließ ein drohendes Fauchen vernehmen. Unruhe kam in das Rudel, und als noch einmal ein Knurren ertönte, setzten die Tiere zu einer planlosen Flucht an. Ein unbeschreibliches Durcheinander entstand. Die Tiere behinderten sich gegenseitig und stoben auseinander. Auf diesen Augenblick hatte Asik gewartet. Ein halbwüchsiges Wasserschwein raste direkt auf ihr Versteck zu. Asik spannte die Muskeln zum Sprung. Sekunden später war alles vorüber. Asik packte die leblose Beute mit den Zähnen und machte sich auf den Rückweg. Das junge Wasserschwein hatte ein beachtliches Gewicht. Von Zeit zu Zeit ließ sie es fallen und legte sich nieder, um zu rasten; sie hatte ja keinen Grund, sich besonders zu beeilen.
Inzwischen war Puna schon fast auf seiner Lichtung angelangt. Nun bescherte ihm der Zufall doch noch eine Beute. - 87 -
Ein lärmendes Gekrächze ließ ihn aufhorchen; in allernächster Nähe turnte ein großer brauner Vogel auf einem Ast herum! Es war, wie Puna von seinem Vater wußte, ein Hoatzin, den die Indios nach dem Klang seiner Rufe so nannten. Mit seinen starken, klauenartigen Füßen kletterte er den Ast entlang und pickte dabei nach jungen Blättern. Puna nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Als sich der Hoatzin ein wenig drehte und Puna die Breitseite zuwandte, schoß er. Der Pfeil durchbohrte den Hühnervogel und ließ ihn taumelnd zu Boden stürzen. Zwei-, dreimal schlugen die Flügel, dann lag er bewegungslos. Puna sprang hin, hob seine Beute auf – und schauderte! Von dem Vogel stieg ein bestialischer Gestank auf. Ekel würgte in Punas Kehle, angewidert ließ er den Körper fallen. Deshalb also jagte man keine Hoatzins. Der Gestank machte das Fleisch absolut ungenießbar. Puna ärgerte sich. Da hatte er endlich eine Beute erwischt, und nun konnte man sie doch nicht essen. Hoffentlich hat Asik mehr Glück gehabt, dachte er enttäuscht, und bringt etwas Ordentliches! Nicht so einen blöden, stinkenden Vogel! Doch auch Asik hatte Schwierigkeiten mit ihrer Beute. Sie machte immer wieder Pausen, und bei einer dieser Pausen döste sie ein. Sie mochte etwa eine halbe Stunde geschlafen haben, als sie ein juckendes Brennen am ganzen Körper hochfahren ließ. Sie sprang auf und schüttelte sich. Doch das Brennen blieb, an den Pfoten verstärkte es sich sogar! Der Boden unter ihr wimmelte von winzigen, braunen Leibern, deren Köpfe große Zangen trugen: Wanderameisen! Asiks Ruheplatz befand sich genau auf dem Vormarsch- 88 -
weg dieser blinden, gefräßigen Kerbtiere, sie war von ihnen umzingelt. Im Umkreis von mehreren Metern erblickte sie nichts als kleine, krabbelnde Ameisen! Sie hatte sich zwar mit ein paar kräftigen Sprüngen in Sicherheit bringen können, aber sie wollte ihre Beute nicht aufgeben. Das Wasserschwein war über und über mit den winzigen Räubern bedeckt; als Asik es mit den Zähnen aufnahm, spürte sie unzählige scharfe Bisse im Maul. Trotzdem schleifte sie die Beute an den Rand der Ameisenkolonie; dort ließ sie das Wasserschwein zu Boden fallen und leckte ihre schmerzenden Pfoten. Im Fell des Wasserschweines saßen noch Tausende von Ameisen. Asik faßte es vorsichtig bei einem Hinterlauf und zerrte es über den Boden. Die Gräser und Farne streiften einige Ameisen ab, aber unaufhaltsam fraßen sich andere immer weiter in Asiks Beute. Plötzlich spürte Asik an den Hinterbeinen – sie schleifte das Wasserschwein rückwärtsgehend dahin – eine angenehm kühlende Feuchtigkeit. Ein schmales Rinnsal querte ihren Weg, gerade tief genug, daß Asik darin untertauchen konnte. Ohne die Jagdbeute loszulassen, watete sie hinein. Das langsam fließende Wasser linderte das Brennen der unzähligen kleinen Bißwunden in ihrer Haut und spülte viele Ameisen aus ihrem Fell. Auch von dem Wasserschwein trieben sie in dichten Klumpen davon. Genießerisch verharrte Asik im Wasser, bis das Brennen und Jucken nachließ. Dann erklomm sie das jenseitige Ufer des Baches und schüttelte die Tropfen aus ihrem Fell. Asiks Beute war übel zugerichtet. Die Wanderameisen hatten in der kurzen Zeit große Stücke aus seinem Körper herausgefressen. Sie hatten es stellenweise richtig abgehäutet, an den Weichteilen klafften tiefe Löcher. - 89 -
»Was ist denn mit deinen Pfoten los? Du hinkst ja!« rief Puna ihr entgegen, als Asik müde der Hütte zutrottete. Er sah die armseligen Reste des Wasserschweines und konnte sich denken, was geschehen war. »Warum hast du das Wasserschwein nicht liegengelassen? Dann wäre dir das nicht passiert! Du kannst ja kaum noch auftreten, deine Ballen sind ganz wund! Komm, leg dich, ich gebe dir Schlamm drauf, das kühlt.« Mit weichem Schlamm vom Bachufer berieb Puna Asiks Pfoten. Dankbar leckte sie ihm über die Hände.
Trotz des mäßigen Erfolges beim ersten Versuch beschloß Puna, weiterhin getrennt auf die Jagd zu gehen. Asik begann zu begreifen, was Puna wollte, und zog nach einigem Zögern selbständig los. Auch Puna hatte seine Enttäuschung überwunden und ließ sich nicht entmutigen. Bald lernte er, das Wild aufzuspüren. Aus den geringsten Spuren konnte er allmählich ablesen, welches Tier sie hinterlassen hatte. Die leisesten Geräusche vermochte er nach einiger Zeit richtig zu deuten. Der Erfolg blieb nicht aus: immer reichlichere Beute trug er nach Hause. Eines Tages zu Beginn der Trockenzeit, der zweiten seit Punas Ausstoßung aus dem Dorf, geschah es dann. Asik kehrte von der Jagd nicht zurück! Bis jetzt war sie noch jedes Mal gegen Abend wieder bei der Hütte eingetroffen, meist mit einem Stück Wild im Fang. Doch an diesem Tag wurde es später und später, von Asik keine Spur! Der Mond ging auf, er zog seine Bahn am Himmel und begann wieder zu sinken, doch Asik kam nicht. Immer wieder ging Puna vor die Hütte. Er drang sogar in den nächtlichen Dschungel vor, dabei laut ihren Na- 90 -
men rufend: »Asik! Asik, wo bist du? So antworte doch!« Unruhe und Besorgnis stiegen in ihm auf. Was war mit Asik geschehen? Weshalb kam sie nicht zurück? Hatte sie sich verletzt? Oder war sie auf einen stärkeren Gegner gestoßen? Sie war noch so jung und unerfahren! War sie einer Giftschlange begegnet, ohne die Gefahr zu erkennen? Punas Gedanken überschlugen sich, während er sich in der Dunkelheit durch das Dickicht zwängte. Im Osten bekam der Himmel einen hellen Streifen. Die Nacht wich einem neuen Tag, und noch immer war Asik nicht zurück. Puna saß wieder bei seiner Hütte, den Rücken an die Wand gelehnt, und hing sorgenvollen Gedanken nach. Im Laufe der Nacht, als er planlos suchend durch den umliegenden Dschungel geirrt war, hatte sich eine bestimmte Ahnung in seinem Kopf festgesetzt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Asik – diesem jungen, vor Kraft berstenden Jaguarweibchen – etwas zugestoßen war. Immer öfter schlich die Vermutung durch seine Überlegungen, daß Asik freiwillig verschwunden sein könnte. Je mehr er daran dachte, um so wahrscheinlicher erschien es ihm. Asik war ein in Freiheit geborenes Raubtier. Ein Zufall hatte sie und Puna zusammengeführt; eine Zeitlang verband sie eine innige Freundschaft miteinander. Aber dann, so überlegte Puna, war Asik herangewachsen. Viel schneller als ein Menschenjunges wurde ein Jaguarjunges erwachsen, und Asik war jetzt schon mehr als ein Jahr alt. Sie hatte beinahe ihre volle Körpergröße erreicht. Von einem völlig erwachsenen Jaguar unterschied sie nur noch ihre Schlankheit – sie würde kaum mehr in die Höhe, sondern nur noch im Volumen wachsen, breiter und massiger werden. Vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, wo Asik sich nach der Gesellschaft ihrer Artgenossen sehnte. Vielleicht – wahr- 91 -
scheinlich – nein, sicher sogar hatte Asik den Kontakt zu einem anderen Jaguar gesucht und gefunden. Puna kämpfte gegen die Tränen an. Daß Asik einmal ihre eigenen, ihrer Art entsprechenden Wege gehen würde, hatte er geahnt. Asik war eben ein wildes Tier, eine Bindung zu einem Menschen konnte nicht von Dauer sein; irgendwann würde der Drang nach einem Leben in vollkommener Ungebundenheit in ihr siegen. Aber Puna hatte gehofft, daß dieser Zeitpunkt erst viel später kommen würde. Jetzt saß er vor seiner Hütte, einsam, verlassen und traurig. Jetzt war er ganz allein. Es gab niemanden mehr, mit dem er reden, mit dem er seine Freuden und seine Sorgen teilen konnte. Asik hatte ihn verlassen…
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GEFANGEN Aber Asik hat ihren Freund Puna nicht verlassen. Sie hockte in einem engen Käfig aus kräftigen Holzstangen und verstand die Welt nicht mehr! Rundherum drängten sich Wesen, die wie Puna aussahen und auch so ähnlich rochen, und gafften sie an! Ein kleiner Zweibeiner, viel kleiner als ihr Freund, hielt einen spitzen Stock in der Hand, schob ihn durch die Gitterstäbe und stach sie in die Flanke. Dazu lachte er laut. Asik jaulte. Was war geschehen? Wie war Asik in diese mißliche Lage geraten? Es hatte damit begonnen, daß sie – weit von ihrer Hütte entfernt – ein Rudel Hirsche hetzte. Ein ungünstiger Windstoß hatte den Tieren vorzeitig Asiks Witterung zugetragen, worauf sie sofort flüchteten. Asik jagte hinterdrein, doch war sie den schlanken Hirschen mit den langen Läufen im Dickicht unterlegen. Nur langsam schien der Abstand zwischen ihnen kleiner zu werden. Mitten im vollen Lauf fing sie einen Geruch auf, der sie verwirrt stehenbleiben ließ. Puna war in der Nähe! Aber nein – irgendwie roch es anders! Aufgeregt folgte Asik der Luftströmung. Schon nach wenigen Schritten wurde der Geruch intensiver, und dann sah sie etwas! Acht oder neun Zweibeiner, mit Bogen und Pfeilen in den Händen, lauschten gespannt in die Richtung, in die die Hirsche flohen! Das Hirschrudel preschte ziem- 93 -
lich genau auf sie zu, die Zweibeiner machten sich schußbereit. Asik freute sich. Endlich gab es wieder eine gemeinsame Jagd! Hinter den fremden und doch so vertrauten Zweibeinern, von einem Gebüsch verdeckt, wartete sie begierig auf ihren Einsatz. Wie sie es von den Jagden mit Puna gewohnt war, würde sie in dem Augenblick auf das Wild losstürmen, in dem die Pfeile die Sehne verließen! Das Hirschrudel brach seitlich aus dem Dickicht und erstarrte angesichts der unerwarteten, neuen Feinde. Die Pfeile der Indios schwirrten auf sie zu. Eine Hirschkuh brach zusammen. Das war Asiks Augenblick! Der Anblick der getroffenen Beute ließ sie alle Zurückhaltung gegenüber den fremden Zweibeinern vergessen. Wie der Blitz huschte sie zwischen den überraschten Indianern hindurch, erreichte die zuckende Hirschkuh und tötete sie mit einem gewaltigen Prankenhieb! Die Jäger konnten kaum glauben, was sie sahen! Der unheimlichste Feind, den sie im Dschungel kannten, sprang mitten durch ihre Gruppe, ohne sie anzurühren, und tötete vor ihren Augen eine Hirschkuh. Der Anführer des Jagdtrupps rieb sich die Augen. Das gab es doch nicht. Die Hirschkuh war seine Beute, sein Pfeil hatte sie niedergestreckt! Schritt für Schritt, ohne den Blick von Asik abzuwenden, wichen die Indios zurück. Was hatte der gefleckte Dämon vor? Wollte er sie überlisten? Die Männer waren darauf gefaßt, daß er im nächsten Augenblick das Wild liegenließ und sich auf sie stürzte! Sie wagten keine schnelle Bewegung, wagten es nicht, einen neuen Pfeil auf die Sehne zu legen – der Jaguar war zu nahe. Die Gesichter der Männer - 94 -
waren aschgrau, Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Asik wurde unsicher. Diese Zweibeiner rochen nicht nur anders als ihr Freund Puna, sie verhielten sich auch anders. Keiner von ihnen traf Anstalten, die erlegte Beute zu zerteilen und Asik ihren Anteil davon zu geben. Erwartungsvoll und ein wenig mißtrauisch ließ Asik ihren Blick von einem zum anderen gleiten. Die bernsteingelben Augen des Jaguars, in denen kleine helle Funken zu tanzen schienen, bannten die Jäger auf die Stelle. Jeder von ihnen hatte das Gefühl, er würde das nächste Opfer sein, sobald er auch nur die geringste Bewegung wagte. Das wiederum steigerte Asiks Verwirrung, denn sie roch die Angst, die von den Männern ausströmte. Es war der gleiche, nicht greifbare Geruch, der einem gehetzten Beutetier anhaftete, kurz bevor ihre Pranken es erreichten. Asik schüttelte ratlos den Kopf; sie fühlte sich unbehaglich und wäre am liebsten weggelaufen. Andererseits fachte die ungewöhnliche Situation ihre Neugier an. Unentschlossen wartete sie ab, was geschehen würde, und als nichts geschah, ließ sie sich zögernd neben der Beute nieder. Der warme, frische Fleischgeruch erinnerte sie daran, wie hungrig sie eigentlich war. Wieder blickte sie zu den Jägern. Sie standen nach wie vor unbeweglich da. Asiks Aufmerksamkeit wurde vom Knurren ihres eigenen Magens abgelenkt und ließ für kurze Zeit nach. Diese wenigen Augenblicke, da Asik an der Hirschkuh schnüffelte, genügten dem am entferntesten stehenden Indio, sich lautlos hinter einen nahen Busch zu drücken. Behutsam, ohne jedes Geräusch schlich er zurück und schlug dann einen großen Bogen, um in Asiks Rücken zu gelangen. Asik zupfte ein wenig am Fell der Hirschkuh, unschlüssig, ob sie ihren Hunger stillen oder nicht doch lieber ver- 95 -
schwinden sollte. Sie beobachtete die Gruppe der Jäger, die ihr scheinbar unverändert gegenüberstand. Daß sich einer von ihnen davongeschlichen hatte, bemerkte sie nicht, da er von zwei anderen verdeckt gewesen war. Plötzlich war ein kurzes, feines Sausen in der Luft, irgend etwas legte sich würgend um Asiks Hals und nahm ihr den Atem! Erschrocken wollte sie aufspringen, doch ein Ruck an ihrem Hals raubte ihr das Gleichgewicht und warf sie zu Boden! Jetzt kam Leben in die Jäger: mit fliegenden Fingern rissen sie Lederriemen aus ihren Umhängebeuteln und warfen die Schlingen nach Asik. Zwei, drei fielen über ihren Kopf, eine verfing sich an ihrer Pranke. Die Männer johlten auf, als sie das sahen. Das Blatt hatte sich gewendet! In fünf Schlingen gefangen, war Asik wehrlos. Als die Schrecksekunde vorüber war und sie fliehen wollte, war es zu spät. Die Jäger hatten sie umringt – in welche Richtung sie sich auch wandte, immer war einer hinter ihr und hielt sie mit der würgenden, unzerreißbaren Lederleine zurück. Noch vor wenigen Sekunden, als sie nur die Schlinge des hinter sie geschlichenen Jägers um den Hals hatte, wäre ihr die Flucht geglückt, hätte sie ihre volle Kraft eingesetzt. Aber die Verblüffung über das ihr unbekannte Würgen hatte wertvolle Zeit gekostet. Die Jäger zogen die Schlingen erbarmungslos zu. Beklemmende Atemnot erfüllte Asik, ihre Gegenwehr – ohnedies von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil ihr die Erfahrung fehlte – wurde schwächer. Bunte Kreise begannen sich vor ihren Augen zu drehen, dann wurde es dunkel um sie… Als sie wieder zu sich kam, hatte sie Schmerzen und begriff nicht, was geschehen war. Sie hing schwer an einer Stange, die man zwischen ihren gefesselten Beinen hin- 96 -
durchgeschoben hatte. Ihr Kopf pendelte haltlos nach unten; bei jedem Schritt, den die Jäger mit der Stange, die sie auf ihren Schultern trugen, machten, zuckte ein schmerzvoller Stich durch ihre Pranken, weil die Fesseln ihr das Blut abschnürten. Der Transport zum Dorf der fremden Indios war alles andere als angenehm. Je länger der Marsch dauerte, um so schlechter ging es ihr. Das Blut stieg ihr in den nach unten hängenden Kopf, doch bei dem Versuch, den Kopf waagrecht zu halten, verkrampften sich sofort ihre Nackenmuskeln. Gab sie nach und ließ den Kopf wieder hängen, schlug sie mit der empfindlichen Nase gegen hervorstehende Wurzeln. Die dornigen Ranken und federnden Zweige, durch die sie die Jäger rücksichtslos schleiften, zerschrammten ihr Gesicht und Flanken. Wie durch einen dichten Nebel nahm Asik wahr, daß man sie irgendwo hineinwarf. Hart schlug sie mit der Schulter auf, doch der schmerzende Druck zwischen ihren Pfoten verschwand. Die Indios hatten die Stange aus der Fesselung gezogen und schlossen die Tür des Käfigs. Zwei der Jäger waren vorausgelaufen und hatten die rasche Herstellung des Gefängnisses für Asik veranlaßt. Der Anführer des Jagdtrupps schnitt durch das Gitter die Fesseln des Jaguars durch. Daß sein Messer dabei auch einen Fetzen Fell mitnahm, rührte ihn nicht. Die Dorfbewohner waren johlend zusammengelaufen, als Asik im Triumphzug ins Dorf getragen worden war. Jetzt standen sie um den Käfig, in dem Asik langsam wieder zu sich kam, und bestaunten den tollkühnen Mut der Jäger. Noch nie war ein Jaguar lebend gefangen worden, noch nie hatten sie eine solche Bestie so nah gesehen! »Schau, wie mordgierig seine Augen funkeln«, sagte ei- 97 -
ner. »Ja, gut, daß der Käfig so fest ist«, antwortete ein anderer. »Das Biest würde uns alle umbringen, wenn es herauskönnte!« Der Junge, der mit dem Stock in Asiks Seite gestochen hatte, begann zu weinen. »Er will mich fressen!« heulte er. Dann rannte er schreiend davon. »Die Götter haben uns diesen Dämon in die Hand gespielt«, sagte der Häuptling, ein dicker alter Mann mit listigen Schweinsäuglein und schwabbelnden Hängebacken. »Wir werden ihnen den Jaguar zurückgeben. Das wird sie gnädig stimmen, und sie werden unserem Dorf gute Zeiten schicken. Mein Freund, der Medizinmann, der mit den Göttern spricht, ist der gleichen Meinung. Die Götter haben ihm vor Tagen einen Traum gesandt und ihm darin gesagt, daß unsere Jäger einen Jaguar lebend ins Dorf bringen würden. Nun ist der Jaguar wirklich da – wir werden ihn den Göttern opfern! Bereitet alles vor, wir wollen ein großes Fest feiern, das dieses Opfers würdig ist! Wenn der Mond voll ist, wird der Jaguar auf dem Altar sterben!« Ein Raunen der Zustimmung lief durch die Menge. Ein solches Opfer mußte die Götter gewogen machen, eine blühende Zukunft stand dem Dorf bevor! Außerdem war schon das versprochene Fest an sich ein Grund zum Freuen. Das Leben im Dschungel ließ nicht viel Zeit für derartige Feiern. Eine Welle der Begeisterung erfaßte die Dorfbewohner; sie machten sich an die nötigen Vorbereitungen. So viel war noch zu tun, und der nächste Vollmond kam bald! Geschäftig rannten sie in ihre Hütten. Asik blickte ihnen verdrossen nach. Der Käfig war eng, die Pfoten schmerzten; Durst hatte sie auch, doch niemand kümmerte sich um sie. Wenn sie wenigstens ein bißchen - 98 -
Platz hätte! Links und rechts stieß sie mit den Flanken an die Gitterstäbe; hob sie den Kopf, so berührten auch oben die Stangen ihr Fell. Sie konnte sich nur mit unter den Körper gezogenen Beinen niederlegen. Diese Stellung war nicht die bequemste, bald stand sie wieder auf. Die Nacht brach herein, Asik bekam weder Futter noch Wasser. Sie konnte sich nicht einmal der quälenden Moskitos erwehren, die sie in dichten Schwärmen umsummten. Ihr ganzer Körper juckte von den Insektenstichen, doch Kratzen war unmöglich. So verschaffte sie sich wenigstens etwas Linderung, indem sie an den Stäben auf und nieder scheuerte. An Schlaf war nicht zu denken. Ihre Schmerzen und ihre Unruhe ließen nicht zu, daß sie die müden Augen schloß. Der Morgen dämmerte, langsam stieg die Sonne über den Horizont. Noch hatte sie nicht ihre volle Kraft, aber in ein, zwei Stunden würde eine Gluthitze auf den winzigen, ungeschützten Käfig prallen. Asiks Zunge lag wie ein dicker, aufgequollener Klumpen in ihrem Maul, trübe Schlieren verschleierten ihren Blick. Die Indios waren längst auf den Beinen. Die Alltagsarbeit blieb unerledigt, man beschäftigte sich nur mit den Vorbereitungen für das große Opferfest. Einige Männer zimmerten aus dicken Balken ein Podium mit einer Art Tisch darauf – den Altar. Asik sah ihnen dabei zu, ohne auch nur zu ahnen, daß dies ihr Hinrichtungsplatz werden sollte. Nach wie vor kümmerte sich niemand um sie. Nur einmal, am späten Nachmittag, kam eine alte, verhutzelte Indianerin zu ihr, betrachtete sie aufmerksam und ein wenig mitleidig. »Du mußt sehr durstig sein, großer Dämon«, murmelte sie mehr zu sich selbst. »Ich werde dir Wasser bringen. - 99 -
Auch wenn du den Göttern geopfert wirst, sollst du nicht vorher schon verdursten.« Sie holte eine Schüssel mit Wasser, wagte es aber nicht, sie durch das Gitter zu schieben. So schöpfte sie das Wasser mit ihrer faltigen Hand heraus und spritzte es über Asiks Gesicht. Asik öffnete das Maul und fing die wenigen Tropfen dankbar auf. Die Alte warf einen ängstlichen Blick auf ihre gewaltigen Zähne, fuhr aber fort, Asik zu bespritzen, bis die Schüssel leer war. Dann schlurfte sie wortlos davon. Von nun an kam die Greisin jeden Tag und brachte Asik Wasser. Einmal schob sie sogar ein Stück sehniges Fleisch mit einem Stock durchs Gitter; Asik wurde zwar nicht satt davon, aber der bohrende Hunger ließ wenigstens ein bißchen nach. Der Mond wurde immer runder und voller.
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DIE BEFREIUNG Je länger Puna auf Asik wartete, um so verzagter wurde er. Nichts machte ihm mehr Freude, er schien noch dazu vom Pech verfolgt zu sein. Als sein Fleischvorrat nach vier Tagen zu Ende ging, mußte er jagen. Lustlos machte er sich auf den Weg. Seine Gedanken waren ganz woanders, und so war es kein Wunder, daß er an einem Leguan achtlos vorüberlief und die große Schildkröte nicht sah, die nur wenige Schritte neben seinem Weg durchs Gebüsch kroch. Zwei Stunden später stieß er zufällig auf einen jungen Tapir – auch ihn hätte er nicht bemerkt, wenn er nicht direkt vor ihm aufgesprungen wäre. Ganz mechanisch legte Puna einen Pfeil auf die Sehne, folgte dem flüchtenden Jungtier und erlegte es, als er in Schußweite war. Gedankenverloren lud er sich die Beute auf die Schultern und stapfte müde zur Hütte zurück. Er aß, ohne zu schmecken, was er aß, er trank, ohne sich dessen bewußt zu werden, und er schlief dort ein, wo er müde wurde. Ob in der Hütte oder davor, ob auf der Lichtung oder im Wald, es war ihm egal. Ohne Asik war ihm alles egal. Punas Leben beschränkte sich auf den rein biologischen Ablauf von Nahrungsaufnahme, Wachen und Schlafen. Sein Inneres war leer, ausgehöhlt. Die notwendigen Arbeiten erledigte er, weil sie erledigt werden mußten, aber er tat es freudlos und uninteressiert. - 101 -
Manchmal, besonders nachts, wenn er sich an Asiks weiches Fell kuscheln wollte und sie nicht da war, dachte er, daß es besser wäre, tot zu sein. Einschlafen… schlafen… und nie mehr aufwachen! Sein Dasein war so trostlos, so einsam und verloren. Weinen konnte er nicht mehr, nach zwei endlosen Tagen und Nächten waren seine Tränen versiegt. Nur die Bitterkeit blieb zurück. Allmählich verdrängte Puna wieder den Gedanken, daß Asik freiwillig weggelaufen sein könnte. Seine ursprüngliche Vorstellung, daß ihr etwas zugestoßen war, gewann neuerlich die Oberhand. Noch war er nicht ganz überzeugt davon, zu wenig sicher, um etwas zu unternehmen. Aber im gleichen Maße, wie sich das quälende Gefühl der Verlassenheit steigerte, verstärkte sich auch seine Bereitschaft, Asik zu suchen – komme, was da wolle! Seit Asik nicht mehr bei ihm war – ihr Verschwinden lag schon über eine Woche zurück –, dachte er auch wieder sehr oft an sein Dorf. Vater, Mutter, die kleine Lona und natürlich auch sein Freund Altac geisterten durch seinen Kopf. Er erwog ernsthaft, ob er nicht versuchen sollte, ins Dorf zurückzukehren. Aber dann dachte er daran, daß gerade dieses Dorf ihn zum Tode verurteilt und ihn dann »gnadenhalber« aus der Gemeinschaft ausgestoßen hatte. Punas Stolz regte sich – nein, er würde nicht um Verzeihung betteln und um Aufnahme im Dorf! Trotzig schüttelte er den Kopf. Einige Tage später war er soweit. Er konnte das Alleinsein nicht länger ertragen. Entschlossen hängte er seinen Bogen über die Schulter, schob das Messer und die Pfeile hinter den Gürtel, ließ noch einmal den Blick wie abschiednehmend über die Hütte schweifen und brach dann auf. Er wußte, welches Gebiet Asik für die Jagd bevor- 102 -
zugte. Dort wollte er anfangen zu suchen. Er vermutete zwar, daß der tägliche Regen in den zwei Wochen seit Asiks Verschwinden alle Spuren verwischt haben würde, aber er hoffte, doch irgendeinen Hinweis auf ihren Verbleib zu finden. Diesen erhofften Hinweis fand er, als er tags darauf auf die kleine Lichtung stieß, auf der Asiks Leidensweg begonnen hatte. Der Regen hatte sowohl die Fußabdrücke als auch das Blut des erlegten Hirsches weggewaschen, doch die niedergetretenen Stauden und Farne wiesen deutlich auf einen Kampf hin. Puna entdeckte den Stumpf des abgehackten Bäumchens, mit dem die Indios Asik abtransportiert hatten. Die Schnittstelle und die darunterliegenden Späne leuchteten weiß durch das Dämmer des Waldrandes. Ein Schreck durchzuckte Punas Glieder: hier waren Menschen gewesen! Und hier war Asik gewesen! Wenn sie aufeinandergetroffen waren, sah es schlimm für Asik aus! Gründlich untersuchte Puna jede Handbreit Boden, ohne jedoch weitere Spuren zu finden. Er konnte lediglich die Richtung feststellen, in die der Trupp abmarschiert war, und folgte dieser halbverwischten Fährte. Die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf, die schrecklichsten Vorstellungen jagten durch sein Gehirn. Viele Anhaltspunkte hatte Puna nicht. Hier ein umgetretenes Grasbüschel, dort ein geknickter Zweig, dazwischen über lange Strecken nichts. Einige Male verlor Puna die Spur und mußte große Bogen durch den Busch schlagen, um sie wieder zu finden. Er war verzweifelt, weil er dadurch viel Zeit verlor und fürchtete, zu spät zu kommen. Wenn es nicht ohnedies längst zu spät war! Er verfluchte sich selbst, weil er wertvolle Tage vergeudet hatte, indem er tatenlos bei seiner Hütte gehockt war. Wenn die fremden - 103 -
Indios Asik töteten, war das allein seine Schuld! Das würde er sich nie verzeihen können! Doch jetzt war keine Zeit für Selbstvorwürfe. Puna riß sich zusammen und konzentrierte sich auf den kleinen Schimmer Hoffnung, der ihm noch blieb. Verbissen folgte er der Fährte und wendete keinen Blick davon ab. An einem Strauch, der sich nur wenig über dem Boden erhob, hing ein kleines Büschel gelblicher Haare. Puna untersuchte es und stellte beruhigt fest, daß kein Blut daran klebte. Von jetzt an war er sich ganz sicher, daß Asik hier vorbeigekommen war. Stunde um Stunde verrann, Puna hatte längst das Gebiet verlassen, das er kannte. Diese Gegend hier war ihm völlig fremd, er hatte nur eine ungefähre Vorstellung davon, wo er sich befand. Aber das war im Augenblick auch bedeutungslos, wichtig war nur, daß er Asik folgte.
Als der Abend hereinbrach, wußte er nicht, wo er schlafen sollte. In der Dunkelheit kam ihm die fremde Umgebung nun doch ein bißchen unheimlich vor. Die Geräusche des nächtlichen Dschungels klangen hier so anders, irgendwie bedrohlich und feindlich. Vergeblich sagte er sich, daß es nur seine innere Unruhe war, die ihm den Wald hier so düster erscheinen ließ. Ein Vogel schrie, und Puna zuckte zusammen. Ob es hier nicht doch böse Geister gab? Er war sich nicht ganz sicher, obwohl er in der ganzen langen Zeit, die er jetzt fern vom Dorf gelebt hatte, nie einen Dämon gesehen oder auch nur andeutungsweise bemerkt hatte. Die Erziehung und die Lehre von Eltern, Häuptling und Medizinmann waren tief in ihm verwurzelt und ließen sich nicht so leicht abschütteln. - 104 -
An einen dicken Baumstamm gelehnt, Bogen und Messer griffbereit neben sich, fiel Puna in einen von Alpträumen gequälten Schlaf, aus dem er immer wieder erschrocken hochfuhr. Erleichtert fühlte er die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages auf seinem Gesicht. Er setzte seinen Weg fort. Spät am Nachmittag roch er Rauch. Sofort beantwortete sein Magen diesen Geruch mit einem lauten Knurren – er hatte heute außer einigen zufällig gefundenen Früchten noch nichts bekommen. Mit dem Rauch vermischt schwebte der Duft gebratenen Fleisches heran. Puna beschleunigte seinen Schritt. Vor ihm öffnete sich, als der Bratenduft bereits unverschämt intensiv war, eine Lichtung. Darauf, in einem engen Kreis aneinandergeduckt, befand sich ein gutes Dutzend strohgedeckter Hütten. Aufrecht ging Puna näher. Er sah, wie einige Indios zwischen den Hütten auf ihn aufmerksam wurden und zu einer größeren Behausung – offenbar der des Häuptlings – eilten. Unbeirrt und ohne zu zögern schritt Puna weiter, auch als ihm kurz darauf eine Gruppe bewaffneter Männer entgegenkam. Wortlos und mit grimmigen Gesichtern umringten sie ihn; ihre Hände lagen auf den Griffen der Buschmesser, bereit, sie beim kleinsten Anzeichen von Feindseligkeit aus dem Gürtel zu reißen. Doch Puna streckte seine leeren Hände vor, um seine friedlichen Absichten kundzutun. Vor einem häßlichen dicken Mann blieb der Trupp ehrfurchtsvoll stehen. Puna blickte in schmale, heimtückische Augen, die fast auf gleicher Höhe mit den seinen waren. Er straffte sich. »Wer bist du?« fragte der kleine, fette Häuptling. Seine Stimme klang schleimig. »Woher kommst du und was willst du hier?« - 105 -
Puna hatte diese Fragen erwartet und sich bereits die Antworten zurechtgelegt. Auf keinen Fall wollte er den wirklichen Grund seines Hierseins verraten – die Spur, die er verfolgt hatte und die mit Asiks Verschwinden verknüpft war, führte genau in dieses Dorf! »Ich heiße Puna«, sagte er. »Vor zwei Wochen hat mich Vater zum erstenmal auf die Jagd mitgenommen. Während eines Wolkenbruches habe ich ihn aus den Augen verloren. Seither irre ich allein umher.« »Aus welchem Dorf bist du?« »Aus gar keinem. Vater und Mutter leben in keinem Dorf. Wir wohnen bald hier, bald dort, wo es uns gefällt.« »Seid ihr ausgestoßen worden?« Diese lauernde Frage des Häuptlings war gefährlich! Wenn Puna sie bejahte, könnte der Häuptling ihn als Gebrandmarkten sofort wieder wegschicken! Denn Ausgestoßene waren Gesetzesbrecher, die niemand in seinem Dorf haben wollte. »Nein«, antwortete Puna deshalb, »mein Vater wollte nicht sein ganzes Leben im Dorf verbringen. Er will die Welt sehen, sagte er immer. Und eines Tages haben wir unsere Sachen gepackt und haben das Dorf verlassen. Wenn ich mich bei euch ein bißchen ausruhen darf«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »dann werde ich meine Familie schon finden. Ich brauche nur etwas Erholung und vielleicht etwas Fleisch, wenn ihr habt.« Die Geschichte vom wanderlustigen Vater klang gut. Sie erklärte auch, warum sich ein halbwüchsiger Junge so gut allein im Dschungel zurechtfand. Der Häuptling schluckte Punas Lügen, ohne mit der Wimper zu zucken. »Natürlich kannst du ein paar Tage hierbleiben, wenn du dich an die Ordnung in unserem Dorf hältst. Eine der Frauen wird dir Fleisch geben, und wenn du dich ausgeruht - 106 -
hast, ziehst du wieder weiter.« Es war eindeutig, daß der Häuptling diesen für sein Alter so kräftigen Eindringling so bald wie möglich wieder loswerden wollte. Mit einer lässigen Handbewegung entließ er Puna. Das Verhör war beendet, der Häuptling hatte sich von der Harmlosigkeit Punas überzeugt – wie er glaubte. Puna trottete auf die nächstbeste Hütte zu und trat ein. Auf seine Bitte hin gab ihm die alte Frau, die darin hockte, einen Brocken Fleisch und ein Stück uraltes Casave, das Brot der Indios. Nach einer dürftigen Mahlzeit bummelte Puna durch das Dorf. Er sprach mit einigen erwachsenen Indios, während sich die Kinder scheu fernhielten. Ganz plötzlich und unvermutet stand er vor Asik! Man hatte ihren Käfig zwischen zwei Hütten aufgestellt, und als Puna ahnungslos um die Ecke bog, prallte er fast dagegen. Er stieß einen überraschten Ruf aus. Zugleich fuhr ein eisiger Schreck durch seine Glieder, als er Asiks erbarmungswürdigen Zustand bemerkte. Sie war erschreckend abgemagert, die Knochen drückten sich deutlich durch das stumpf und ruppig gewordene Fell. Über und über war sie mit Schmutz und Kot bedeckt, niemand war auf den Gedanken gekommen, den Käfig zu reinigen. Asik lag teilnahmslos und apathisch in der unbequemen Haltung, zu der sie das enge Gitter zwang. Sie hob nicht einmal den Kopf, als Puna neben dem Käfig stand. »Asik!« flüsterte er, heiser vor Aufregung und Freude, sie endlich gefunden zu haben. »Meine liebe, kleine, dumme Asik! Ich bin’s, Puna! Jetzt wird alles wieder gut!« Beim Klang seiner Stimme öffnete sie langsam die Augen und sah Puna traurig an. Wo warst du so lange? sagte ihr Blick. Ich habe so sehr auf dich gewartet. Warum bist du - 107 -
nicht gekommen? Puna verstand den stummen Vorwurf, den ihr Blick ausdrückte. Beschämt dachte er daran, wie er überzeugt gewesen war, daß sie ihn freiwillig verlassen hatte. Daß es Asik so schlecht ging, war allein seine Schuld. »Was machst du denn da?« Der Häuptling war unbemerkt hinter Puna getreten. Hatte er dessen Worte noch gehört? »Mach, daß du wegkommst! Verschwinde!« Mit gesenktem Kopf trollte sich Puna. Verschwinden! Ja, das würde er. Sobald wie möglich und mit Asik an seiner Seite. Das Problem war nur, sie unbemerkt aus dem Käfig zu bekommen. Wann immer Puna jetzt mit den Indios ins Gespräch kam, brachte er es vorsichtig auf den gefangenen Jaguar. Stückweise erfuhr er, was man mit Asik vorhatte und – vor allem – den Zeitpunkt des geplanten Opferfestes. Bei Vollmond würde es soweit sein, und mit Schrecken dachte Puna daran, daß bis dahin nur noch zwei Tage blieben! Wenn er Asik vor einem grausamen, qualvollen Tod retten wollte, mußte er sehr bald etwas unternehmen! Er zermarterte sich den Kopf, doch keine taugliche Lösung wollte ihm einfallen. »Dieser fremde Junge gefällt mir nicht«, sagte der dicke Häuptling. Er saß dem Medizinmann gegenüber und sah ihn ratsuchend an. »Er interessiert sich zu sehr für diesen Jaguar. Alle fragt er danach und streunt ständig in der Nähe des Käfigs umher. Mir wäre lieber, er würde wieder fortgehen. Was will er denn hier bei uns? Ich habe ein ungutes Gefühl.« Der Medizinmann wiegte den Kopf. »Irgend etwas ist los mit ihm. Ich weiß auch nicht, was. Er ist so anders als die anderen Jungen in seinem Alter. Sein Interesse an dem Ja- 108 -
guar ist mir auch aufgefallen. Ich glaube, es ist günstig, den Jaguar zu bewachen! Es wäre sehr dumm, wenn jetzt, zwei Tage vor dem großen Opferfest, noch etwas dazwischenkäme. Das können wir uns beide nicht leisten. Wir haben auch so schon genug Schwierigkeiten mit den Leuten.« »Ja, das ist gut. Ich werde ab sofort zwei kräftige Männer vor dem Käfig aufstellen! Dann kann nichts passieren!« Punas Vorhaben schien hoffnungslos geworden zu sein. Zwei muskelbepackte, grimmig dreinblickende Indios bewachten Asiks Käfig Tag und Nacht; Puna hatte keine Chance, heranzukommen. Die Zeit lief ihm davon – er hatte nur noch eine Nacht! Am nächsten Morgen sollte das Fest beginnen; das Opfer für die Götter war für den späten Nachmittag vorgesehen! Und auch diese letzte Nacht verrann, ohne daß sich eine Gelegenheit geboten hätte, Asik zu befreien. Voll und rund stieg der Mond am Himmel auf; Puna saß in der Hütte, die man ihm angewiesen hatte, und kämpfte mit den Tränen. Dann raffte er sich auf und huschte in die Dunkelheit hinaus. Wie ein hungriges Tier schlich er um Asiks Käfig und lauerte auf jede Bewegung der Wachen. Die beiden Indios rührten sich nicht vom Fleck, sie redeten nicht miteinander und schliefen auch nicht. Wachsam erfüllten sie ihre Aufgabe. Der Morgen brach an. Puna kehrte müde und niedergedrückt in die Hütte zurück. An Asiks traurigem Los ließ sich nichts ändern. Das Fest nahm seinen Anfang. Der Häuptling kam und lud Puna ein, daran teilzunehmen. Auf diese Weise habe ich ihn unter Kontrolle, dachte er. Puna blieb nichts anderes übrig, als die Einladung mit gespielter Freude anzunehmen. Das hatte ihm gerade noch ge- 109 -
fehlt! Die letzten wertvollen Stunden rannen dahin, und er stand unter der persönlichen Aufsicht des widerlichen Häuptlings! Er konnte sich keinen Augenblick lang frei bewegen, ständig war der Alte wie ein Schatten an seiner Seite. Zum Schein täuschte Puna Lustigkeit vor. Er nahm den Becher mit dem vergorenen Beerensaft, den ihm der Häuptling reichte, und tat so, als leere er ihn mit einem Zug. Den Saft schüttete er ins Gras, als einen Moment lang niemand hersah. Die ausgelassene Stimmung der Indios tat Puna fast körperlich weh. Andererseits – und das half ihm ein wenig – bot ihm die Heiterkeit rings umher und die berauschende Wirkung des Beerensaftes vielleicht doch noch die Möglichkeit… Seine Chance kam, als dem Häuptling übel wurde. Sei es, daß er zuviel getrunken hatte, sei es, daß er sich beim Festmahl übernommen hatte, jedenfalls begann er zu würgen, wurde grau im Gesicht und ging dann eilig auf den Waldrand zu. Puna schnappte entschlossen eine der Kürbisflaschen mit dem Beerensaft und hastete zu den Wächtern an Asiks Käfig. »Der Häuptling schickt mich!« rief er den beiden zu. »Ich soll euch etwas zu trinken bringen.« Er hielt ihnen die Flasche hin. Zuerst zögerten sie, doch dann griffen sie zu. Wenn der Häuptling es erlaubte, warum nicht? Puna lächelte. »Wenn ihr wollt, passe ich ein bißchen für euch auf. Dann könnt ihr euch was zu essen holen. Auf dem Versammlungsplatz wird ein ganzes Kalb am Spieß gebraten!« Die beiden Wächter sahen sich an. Die ganze Zeit standen sie hier bei dem Käfig, während die anderen feierten. Das war ungerecht! Und außerdem, was sollte schon passieren, - 110 -
wenn sie ihren Posten für ein paar Minuten verließen. Der Junge würde schon achtgeben. »Ja, in Ordnung«, sagte einer der Wächter. »Wir sind gleich wieder da. Laß niemanden an den Käfig heran, Kleiner!« »Ist gut. Aber bleibt nicht zu lange weg! Ich will auch noch mitfeiern. Beeilt euch!« Puna hatte sich genau überlegt, was er sagen mußte, damit die Wächter keinen Verdacht schöpften. »Natürlich, wir beeilen uns!« Grinsend bogen sie um die Ecke der Hütte. Kaum waren sie außer Sichtweite, zog Puna sein Messer aus dem Gürtel und begann, die Riemenverbindungen der Käfigstangen durchzuschneiden. Asik nahm kaum Notiz davon, sie lag apathisch und entkräftet da. »Gleich, Asik«, flüsterte Puna, »gleich haben wir es geschafft! Komm, raff dich auf! Zwei Stangen noch, und du bist frei!« Verbissen schnitt und zerrte er an den Riemen, die nur langsam nachgaben. Das ausgetrocknete Leder war hart wie Holz. Punas Hände schmerzten, er keuchte vor Anstrengung. Wenn die Wächter nur lange genug ausblieben. Er wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie vorzeitig zurückkamen. Knirschend löste sich die letzte Verschnürung. Puna atmete auf. Geschafft! Er bog die Stangen, die nur noch am oberen Ende befestigt waren, zur Seite. Der Spalt war groß genug, Asik durchzulassen. »Jetzt komm, Asik! Komm! Du bist frei!« Beinahe wäre Puna zu laut geworden, als Asik keinerlei Anstalten traf, sich zu erheben. Sie sah ihn nur mit trüben Augen an. Der tagelange Hunger und das Eingesperrtsein hatten ihre Energie gebrochen. Puna griff in den Käfig und packte Asiks - 111 -
Ohr. »Los jetzt! Auf! Beweg dich!« rief er und zog an ihrem Ohr. »Wir müssen weg. Die können jeden Augenblick zurückkommen. Reiß dich zusammen! Es geht ums Ganze!« Das schmerzhafte Zerren an ihrem Ohr weckte Asik aus ihrer Benommenheit. Als ob sie aus einem tiefen Schlaf erwachte, sah sie sich verwirrt um. Da war doch ihr Freund. Puna war da. Und der Käfig war offen! Mit einem unbeholfenen Sprung zwängte sie sich durch den Spalt des Gitters. Puna strich ihr über den Kopf, kraulte sie kurz zwischen den Ohren. »Lauf, Asik, lauf um dein Leben!« Das war leichter gesagt als getan! Die Gefangenschaft hatte ihre Knochen steif und unbeweglich gemacht, der Hunger ihre Kräfte angegriffen. Taumelnd setzte Asik eine Pfote vor die andere, immer wieder knickte sie ein. Puna schob und zog sie weiter, auf den Waldrand zu. Als die ersten Zweige gegen ihre Körper schlugen, jubelte er leise auf. »Asik, wir haben es geschafft! Wir sind aus dem Dorf draußen. Sie haben es nicht bemerkt. Weiter! Wir haben nur einen kleinen Vorsprung. Lauf! Sie werden uns verfolgen, sobald sie unsere Flucht entdecken. Wir dürfen keine Pause machen. Weiter! Weiter! Fort von hier!«
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EIN NEUER WOHNPLATZ Der Häuptling tobte, als er alles erfuhr. »Ich habe gewußt, daß mit dem Jungen etwas nicht stimmt. Ich habe es gewußt. Er muß mit den Geistern im Bunde sein. Wie sonst konnte er mit dieser Bestie verschwinden? Mit einem wilden Jaguar. Ich will beide zurückhaben. Holt sie! Fangt sie! Bringt sie mir her, lebend oder tot, aber bringt sie mir!« Doch der Zorn des Alten stieß auf Ablehnung. Er, der Häuptling, hatte versagt; die Indios waren nicht gewillt, seine Fehler wieder auszumerzen. Sie fürchteten die offensichtlich dämonische Kraft Punas und waren nicht bereit, sich wegen der Unfähigkeit ihres Häuptlings auf einen Kampf mit den Geistern einzulassen. Es war der Wille der Götter, daß der Junge und der Jaguar entkamen, und dagegen sollte man sich nicht auflehnen. Die Verfolgung der beiden Flüchtlinge gestaltete sich lustlos und oberflächlich und verlief sich nach einigen Stunden erfolglosen Suchens im Sande. Schade war nur, daß nun das Opferfest abgebrochen werden mußte.
Asik konnte kaum noch die Pfoten heben; sie schleppte sich mühsam dahin. Hätte sie Puna nicht ständig getrieben, sie hätte sich niedergelegt und auf das Ende gewartet. So aber raffte sie sich immer wieder auf. - 113 -
Das leise Plätschern eines Baches wirkte wie ein Geschenk des Himmels auf die beiden. Sie warfen sich in das flache Gewässer und tranken, tranken, tranken. Das Wasser war lauwarm und schmeckte abgestanden, aber es löschte den brennenden Durst. »Trink nicht so viel, Asik«, mahnte Puna, »du bist es nicht mehr gewöhnt!« Mit sanfter Gewalt zog er sie vom Bach weg, was sie sich nur widerstrebend gefallen ließ. »Wir müssen weiter. Komm schon!« Puna drängte zum Aufbruch. Asik drehte immer wieder den Kopf verlangend zum Bach zurück, aber sie trottete doch weiter. Das Wasser hatte sie etwas belebt und ihr wieder neue Kraft gegeben. Als die Abenddämmerung hereinbrach, kauerte sich Puna zwischen die ausladenden Wurzeln eines Baumes. Er zog Asik dicht an sich heran und legte den Kopf auf ihre Flanke. »Ich glaube, wir sind weit genug. In der Dunkelheit werden sie uns nicht weiter verfolgen, sie fürchten die Geister des Dschungels. Hier sind wir ziemlich sicher. Morgen brauchen wir nicht mehr so schnell zu laufen, und jagen werden wir morgen auch. Es wird Zeit, daß wir etwas zu essen auftreiben.« Asiks gleichmäßige Atemzüge zeigten, daß sie schon eingeschlafen war; kurz darauf schloß auch Puna die Augen. »Na, siehst du«, sagte er am nächsten Tag gegen Mittag, mit vollen Backen kauend, »ich hab’s ja gesagt, es wird wieder alles gut. Wir haben zu essen, und bald sind wir wieder zu Hause.« Asik lag neben ihm und riß gierig Fleischbrocken aus dem langen, schlanken Beutetier. Sie hatten es ohne großen Aufwand, eigentlich mehr zufällig, erwischt. Die junge Anakonda hatte direkt ihren Weg gekreuzt, und Puna hatte nicht lange überlegt. Er war auf das armdicke Reptil zuge- 114 -
sprungen und hatte es mit dem Messer erlegt, bevor es die Gefahr bemerkt hatte. Seiner Schnelligkeit verdankte Puna es, daß es zu keinem Kampf gekommen war, dessen Ausgang ungewiß gewesen wäre. Immerhin war die halbwüchsige Riesenschlange ein beträchtliches Stück länger als er; ihre unberechenbare Körperkraft hätte ihm schwer zu schaffen gemacht. Punas Messer hatte die empfindlichste Stelle der Schlange, das Rückgrat dicht hinter dem Kopf, getroffen. »Schade, daß ich kein Feuer machen kann!« Puna zuckte bedauernd die Achseln. Er rechnete noch immer damit, verfolgt zu werden. Er wußte nicht, daß die Indios die Suche abgebrochen hatten. Die ausgehungerte Asik war vollauf damit beschäftigt, die Anakonda nach und nach in ihrem knurrenden Magen verschwinden zu lassen. Als sie fertig war, leckte sie sich genießerisch und sah Puna zufrieden an. Müde von der ungewohnten Anstrengung rollte sie sich auf die Seite und schloß die Augen. »He, nein! Das geht nicht, du Faulpelz!« Puna rüttelte sie auf. »Schlafen kannst du zu Hause. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Heb dich!« Asik knurrte und rollte sich auf die andere Seite. Sie blinzelte und streckte gähnend die rauhe Zunge heraus. Au! Was soll denn das? Laß los! Puna hatte ihre Zunge gepackt. Asik konnte das Maul nicht schließen und sprang auf die Beine. »Na, also! Warum nicht gleich!« sagte Puna und ließ ihre Zunge los. Er tätschelte ihren Kopf und hinderte sie daran, sich erneut niederzulegen. Schließlich ging er einfach weg. Asik war unschlüssig, ob sie ihrer Müdigkeit nachgeben oder Puna folgen sollte. Aber dann trottete sie doch hinter - 115 -
ihm her. Die Hütte stand noch da, wie Puna sie verlassen hatte. Wie lange war das her! Ein kleiner gelber Vogel schwirrte über die Lichtung und ließ sich auf einer Strebe der Hütte nieder. Fliegen summten über den Platz, am Bach quakte ein Frosch. Puna sog das friedliche Bild tief in sich ein. Wieder zu Hause! Glücklich jauchzend lief er den Hügel hinauf, Asik am Nackenfell mit sich ziehend. »Wir sind da, Asik. Schau nur, wie schön es hier ist. Bin ich froh!« Er ließ sich fallen und legte seine Arme um Asiks Hals. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel auf Puna, gemeinsam kugelten sie den Hang wieder hinunter. Asik war genauso glücklich, auch wenn sie es nicht wie Puna mit Worten ausdrücken konnte. Diese Hütte war auch ihr Zuhause; sie war ihr vertraut und gab ihr Geborgenheit. Die schlechten Zeiten waren vorüber, sie freute sich auf das ruhige, sorglose Leben, das der Anblick der Hütte versprach. Hier würde sie bald wieder zu Kräften kommen und die qualvollen Tage der Gefangenschaft vergessen. Asik schnurrte wie ein Kätzchen und leckte quer über Punas Gesicht. »Au«, lachte er, »deine Zunge ist wie ein Reibeisen. Wenn du das öfter machst, habe ich bald keine Haut mehr auf der Nase.« Ausgelassen zauste er Asiks Fell und balgte mit ihr, bis sie müde wurden.
Ein paar Tage später, als sie sich von den Strapazen ihrer letzten Erlebnisse einigermaßen erholt hatten, wurde Puna unruhig. Mit dem Nachlassen der körperlichen Anspan- 116 -
nung, mit der Einkehr eines ruhigen, geregelten Tagesablaufes begann er, über seine und Asiks Zukunft nachzudenken. Die Freundschaft zwischen ihnen war zwar nach wie vor innig und ungetrübt, dennoch überschatteten Sorgen Punas Gemüt. Er fühlte sich irgendwie bedroht. Die Angst, daß der widerliche Häuptling jenes Dorfes eines Tages mit seinen Leuten vor ihrer Hütte stehen könnte, wurde immer größer. »Ich fühle mich hier nicht mehr sicher«, sagte er zu Asik, die ihren Kopf auf seine Schenkel gebettet hatte und vor sich hindöste. »Das Dorf ist ja kaum zwei Tagesmärsche entfernt. Wenn die noch weiter nach uns suchen, könnten sie uns hier leicht finden. Was sollen wir tun? Ich kann kaum noch richtig schlafen, und hinter jedem Baum sehe ich einen von ihnen.« Puna zögerte die Entscheidung noch einige Tage hinaus, doch dann, als Unbehagen und Mißtrauen immer mehr zunahmen, faßte er einen Entschluß: »Wir ziehen fort. Irgendwohin, wo wir sicher sind. Wo wir ungestört jagen und schlafen können. Es fällt mir bestimmt nicht leicht, aber hier halte ich es nicht mehr aus. Wir werden einen Platz finden, der noch schöner ist als unsere Lichtung. Ich werde eine neue Hütte für uns bauen. Morgen brechen wir auf. Wir gehen den Bach entlang bis zum Fluß. Dort werden wir sehen, wie’s weitergeht.« Noch am selben Tag flocht Puna aus Palmblättern eine große Tasche und versah sie mit Riemen, so daß er sie auf dem Rücken tragen konnte. Asik, deren Körper in den vergangenen Tagen wieder Fleisch zugesetzt und deren Fell seinen alten Glanz zurückgewonnen hatte, sah ihm zu. Sie erkannte ja nicht, was er damit bezweckte. »Schlaf gut«, flüsterte Puna wehmütig, als sie sich auf - 117 -
dem Lager ausstreckten. »Es ist unsere letzte Nacht in dieser Hütte.« Er dachte an die lange Zeit, die sie hier verlebt hatten. Während er langsam in den Schlaf hinüberdämmerte, zogen die Erinnerungen an ihm vorüber. Wie sie hier angekommen waren, wie er seine erste Hütte gebaut hatte… und dann, nach dem Brand, die zweite… wie sie gespielt und gejagt hatten… die Stunden des Glücks tauchten vor ihm auf, die Stunden der Sorge und der Einsamkeit. Allmählich verschwammen die Erinnerungen, verwischten sich und wurden von wirren Traumgebilden abgelöst…
»Erinnerst du dich? Hier waren wir, als die Trockenheit unseren Bach versiegen ließ. Dort in der Mulde am Ufer haben wir geschlafen, und du hast dich vor dem Gewitter gefürchtet. Das ist jetzt schon fast ein Jahr her. Und jetzt sind wir wieder hier. Weißt du was? Wir bauen uns ein Floß und fahren den Fluß hinunter.« Puna stellte seine Tasche ab, die alles enthielt, was er besaß. Nicht das kleinste Stück hatte er zurückgelassen, als er der Hütte den Rücken kehrte. Ohne sich noch einmal umzusehen, war er fortgegangen. Endgültig. Mit dem Floß gab sich Puna nicht allzuviel Mühe. Er fällte einige armdicke Bäumchen, befreite sie flüchtig vom Geäst und band sie mit Ranken und Lianen zusammen. Das Gefährt sah alles andere als ordentlich aus, aber es war stabil genug, sie auf dem Fluß zu tragen, bis sie einen geeigneten Platz für ihr neues Zuhause fanden. Trotz aller Eile, mit der Puna arbeitete, dauerte es doch drei Tage, bis das Floß fertig war. Eine unerwartete Schwierigkeit tauchte auf, als Asik sich weigerte, das schaukelnde Fahrzeug zu betreten. Sie miß- 118 -
traute den dünnen Stämmchen und ließ sich nicht dazu bewegen, einen Fuß darauf zu setzen. Alles Locken, Schmeicheln und auch Schimpfen Punas nützte nichts. Asik war stur und störrisch wie ein Esel. Sie fauchte sogar böse, als er versuchte, sie mit sanfter Gewalt aufs Floß zu ziehen. »Laß doch den Unsinn und komm endlich!« Puna war gereizt und ungeduldig. »Glaubst du, ich schufte drei Tage lang, nur damit du dann deine Launen austoben kannst? Wenn du jetzt nicht einsteigst, fahr’ ich allein! Dann kannst du schauen, wo du bleibst!« Er stieg aufs Floß, und als Asik den Kopf unbeteiligt wegdrehte, stieß er sich zornig vom Ufer ab. Die Strömung erfaßte das Fahrzeug, drehte es um die eigene Achse und trieb es dann den Fluß hinunter. Asik sah, wie sich Puna immer weiter von ihr entfernte. Ihr dämmerte, daß dies eine unwiderrufliche Trennung sein würde. Da setzte sie mit einem mächtigen Sprung ins Wasser und paddelte, was ihre Pfoten hergaben! Das Floß war weitergetrieben, und sie mußte sich gewaltig anstrengen, um es einzuholen. Der Abstand zwischen ihr und Puna wollte nicht schrumpfen. Puna stemmte die lange Ruderstange in den Grund und bremste so die Fahrt. Seine Kraft reichte nicht aus, das Floß gegen die starke Strömung auf der Stelle zu halten, aber er konnte wenigstens die Geschwindigkeit verringern. Asik kam – nach Kräften rudernd – näher. Sie erreichte die schwimmenden Stämme völlig ausgepumpt und ließ sich von Puna heraufziehen. An Bord streckte sie sich flach aus, preßte ihren Körper eng an das Holz und sah Puna unglücklich an: warum verlangte er von ihr, auf diesem wakkeligen Ding mitzufahren? Hätten sie nicht auch zu Fuß am Ufer entlanggehen können? Sie schlug ihre Krallen in die Stämme und suchte Halt. Mit dieser unsicheren Schaukelei - 119 -
würde sie sich nie anfreunden können! Zum Glück gestaltete sich die Flußfahrt sehr ruhig – sie stießen weder auf Stromschnellen noch gerieten sie in einen Wirbel. Puna hielt das Floß möglichst in der Mitte des durch die Trockenheit schmal gewordenen Flusses, wo das Wasser glatt und gleichmäßig dahinströmte. Und genauso gleichförmig rannen die Stunden dahin. Allmählich gewann Asik etwas Vertrauen zu dem Floß – sie setzte sich auf und betrachtete das vorübergleitende Ufer, wagte aber keine heftige Bewegung, da das Fahrzeug dann sofort stark zu schlingern begann. An einer sanften Biegung steuerte Puna dem Ufer zu. Die Nacht kündigte sich an, und er wollte sie lieber an Land verbringen. Außerdem machte sich bei beiden nagender Hunger bemerkbar. Knirschend glitt das Floß auf eine Sandbank, drehte sich noch einmal und saß dann fest. Asik sprang sofort ans Ufer, erleichtert, daß sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Puna blieb auf dem flußseitigen Ende des Floßes sitzen und kramte sein Angelgerät, Knochenhaken und die aus Fasern geflochtene Schnur, aus der Tasche. Zum Abendessen würde es Fisch geben, gebraten für Puna, für Asik roh.
Vier Tage blieben sie auf dem Fluß. Asik machte beim Einsteigen keine Schwierigkeiten mehr, sie hatte sich daran gewöhnt und erkannte, daß ihr auf dem Floß nichts geschah. Am späten Nachmittag des vierten Tages sagte Puna: »Ich glaube, wir sind jetzt weit genug gefahren! Wir sollten uns langsam nach einer geeigneten Stelle für die Hütte umsehen. Bis hierher werden uns die Indios, die dich gefangen - 120 -
haben, bestimmt nicht folgen. Bleiben wir beim Fluß; er führt auch in der Trockenzeit genug Wasser. Wir müssen nur aufpassen, daß wir in der Regenperiode oberhalb der Hochwassergrenze bleiben. Auf jeden Fall muß ich die Hütte auf einem Hügel oder oben auf einem Steilufer bauen.« Aufmerksam beobachtete er die Umgebung, und als er ein Uferstück sah, das seinen Vorstellungen entsprach, steuerte er darauf zu. Es war eine steil abfallende lehmige Böschung, die unten in eine breite Sandbank überging. Eine verfärbte Linie zeigte deutlich an, wie hoch der Fluß in der Regenzeit anschwoll: er erreichte nicht die obere Kante der Böschung. Asik blickte sehnsüchtig ans Ufer. Wie schon an den drei Abenden zuvor, sprang sie ungeduldig an Land, sobald das Floß das Ufer berührte. Puna hingegen ließ sich Zeit. Er besah sich die Sandbank sehr genau, bevor er ausstieg. Dann suchte er nach einem Weg, den Steilhang zu erklimmen. Denn direkt vor ihm war die Wand fast senkrecht und bestand aus glitschigem, grauem Lehm. Da würde er nie hinaufkommen. Aber ein Stückchen weiter rechts, da ging es: ein schmales Rinnsal hatte eine Furche in den Hang gegraben, terrassenförmige Stufen gebildet und sogar einige Büsche in der sonst kahlen Wand wachsen lassen. Puna machte sich an den Aufstieg, nachdem er das Floß mit Hilfe der Ruderstange am Ufer befestigt hatte. Wenn sie hier blieben, würden sie es nicht mehr brauchen – dann konnte es abtreiben. Aber noch wußten sie nicht, was sie oben auf dem Steilufer erwartete; war der Platz ungeeignet, so brauchten sie das Floß für die Weiterfahrt. Endlich erreichte Puna das Plateau. Der Aufstieg war anstrengender gewesen, als er erwartet hatte. Auf dem Lehm - 121 -
war er mehrmals ausgeglitten, einmal sogar fast wieder bis auf die Sandbank hinuntergeschlittert. Asik, die mit ihren Krallen leichter Halt fand, stand schon lange oben und sah zu, wie sich Puna abmühte. Als Puna schwer atmend bei ihr anlangte, war er über und über mit Lehm verschmiert, der rasch trocknete und seinen Körper mit einer rissigen hellgrauen Schicht bedeckte. Bei jeder Bewegung sprangen große Stücke wieder von der Haut ab; bald sah er fast so gefleckt aus wie Asik. »Also, ich finde es schön hier. Hier bleiben wir. Ich schlage eine kleine Lichtung im Gebüsch frei, etwa da.« Er deutete auf eine Stelle dicht am Abhang. »Von da aus können wir den ganzen Fluß übersehen. Die dicken, hohen Bäume fangen erst weiter hinten an, mit dem Gestrüpp hier vorne werde ich schon fertig. Da habe ich dann auch gleich das Baumaterial für die Hütte. Heute ist es schon zu spät, aber morgen fange ich gleich nach Sonnenaufgang an. Es wird dir auch gefallen, kleine Asik!« Die »kleine« Asik – sie reichte Puna bereits bis über die Hüfte! – begutachtete den neuen Wohnplatz. Alles beschnüffelnd strich sie umher, erschrak fürchterlich, als ihr ein gelbschwarz gestreifter Käfer eine klebrige Flüssigkeit auf die Nase spritzte, und ließ sich schließlich vor Punas Füßen zu Boden fallen. Behaglich streckte sie sich in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne und ließ ein zufriedenes Grunzen hören: Ja, hier fühle ich mich wohl! Wenn du hier bleiben willst, ich bin einverstanden!
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IM FREMDEN REVIER Als der fremde Jaguar sich von seinem Schlafplatz erhob, trug der Wind wieder diese seltsame Witterung an seine Nase. Es war ein Geruch, der ihn eigenartig anzog und zugleich abstieß. Irgendwie kam er ihm bekannt vor, vertraut, und doch wieder fremd. In den vergangenen Wochen hatte er diesen Geruch schon mehrere Male verspürt, ganz leicht und unmerklich zuerst, dann immer intensiver. Wenn er ihm jedoch nachgehen wollte, verflüchtigte er sich wieder, löste sich in Nichts auf. Aber heute war er wieder da – faszinierend und widerlich in einem! Er hob und senkte den mächtigen Schädel, um festzustellen, in welcher Höhe die Witterung am intensivsten war. Seine schwarze Nase weitete sich und folgte dem Wind: es roch stärker als je zuvor. Geschmeidig setzte er sich in Bewegung. Unter dem glänzenden, schön gemusterten Fell zeichneten sich die kraftvollen Muskeln ab. Die Ohren waren nach vorn gerichtet, dorthin, wo die Witterung herkam. Jetzt würde er feststellen können, wer sie verursachte! Neben der Neugier machte sich auch eine Art von unbestimmtem Zorn in ihm breit. Dies hier war sein Revier! Er würde nicht dulden, daß ihm die Herrschaft streitig gemacht würde. Dieser Grundsatz war tief in seinem Instinkt verwurzelt, und er hatte bisher immer danach gehandelt. - 123 -
Um so mehr verwirrte ihn der fremde Geruch. Er konnte ihn nicht einordnen, und das steigerte seinen Unmut. Ein unwilliges Fauchen drang aus seiner Kehle, während er zügig der Witterung folgte. Sie führte ihn in Richtung Fluß; er war lange nicht an dieser Stelle gewesen, nachdem er einmal auf dem Steilufer abgerutscht und gestürzt war und sich dabei schmerzhafte Prellungen geholt hatte. Daß der fremde Geruch genau von dem Steilhang kam, den er in so unangenehmer Erinnerung hatte, trug nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Kurz bevor er den Abbruch erreichte, erstarrte er. Irgend etwas hatte sich hier verändert! Es war nicht mehr so, wie er es in Erinnerung hatte! Jeder Baum, jeder Busch war ihm vertraut; und hier hatten früher mehr Büsche gestanden! Er spürte einen Ungewissen, instinktiven Widerwillen vor dem Unbekannten in sich aufsteigen und verharrte unentschlossen. Dieser Geruch! Er wußte, daß er am Ziel war, aber er zögerte, den letzten Schritt zu tun. Nur wenige Schritte noch, und er würde wissen, woher der geheimnisvolle Geruch kam. Puna hing mitten in der Steilwand, er klebte am Lehm wie eine Fliege. In der Hand hielt er einen Stock, dessen eines Ende er zugespitzt, das andere spachteiförmig abgeflacht hatte. Er baute eine Treppe. Der Zugang zum Wasser war nicht nur lebenswichtig, er war einer der häufigsten Wege Punas. Mehrmals am Tage mußte er zum Fluß hinunter, um Wasser zu holen, zu fischen oder um sich zu waschen. Mit der Zeit wurde ihm die Rinne, die er bei seinem ersten Aufstieg benutzt hatte, zu unbequem, und der Umweg zu einem flacheren Uferstück dauerte ihm zu lange. So entschloß er sich, als er mit dem Hüttenbau fertig war, eine direkte Verbindung zwischen - 124 -
Hütte und Fluß zu schaffen. Unten beginnend, schnitt er Stufe um Stufe mit dem Grabstock in die Lehmwand, trug dicke Äste heran und verstärkte sie damit. Für jede Stufe brauchte er fünf verschieden lange Pflöcke, damit der Lehm dem Regen und dem Hochwasser standhielt. Das Zuschneiden der Pflöcke mit dem kurzen Messer war äußerst mühsam und zeitraubend, aber Zeit hatte er ja genug. Es gab keinen Grund zur Eile. Asik, die sich an Punas Arbeiten natürlich nicht beteiligte, hatte in den ersten Tagen die Umgebung erkundet. Da Puna offenbar weder am Spiel mit ihr noch an der Jagd Interesse hatte, streifte Asik stundenlang allein umher. Sie durchforschte das Buschgelände, drang ein Stück in den Wald vor und pirschte sich am Flußufer entlang. Von ihren Erkundungsausflügen brachte sie meistens ein Stück Wild mit, das sie unterwegs erbeutet hatte. Wenn sie einmal nichts erlegte, dann setzte sich Puna gegen Abend auf das Floß und fing Fische. Um ihre Nahrung brauchten sie sich also keine Sorgen zu machen. Auch Puna aß in diesen Wochen ausschließlich Fleisch und Fisch. Er hatte keine Lust, Früchte zu suchen – zuerst wollte er die Hütte bauen und dann, als sie stand, war er mit seiner Treppe beschäftigt. Er haßte es, eine begonnene Arbeit ständig zu unterbrechen. Lieber verzichtete er einstweilen auf den Genuß der schmackhaften Dschungelfrüchte. Später, wenn alles fertig war, was er sich vorgenommen hatte, würde er das nachholen. Puna trieb gerade einen der Befestigungspflöcke mit wuchtigen Schlägen in den Lehm, da sah er Asik unter sich über die Sandbank hetzen. Das machte sie öfters, der weiche glatte Sand verlockte sie zum Laufen. Puna dachte sich - 125 -
nichts dabei, als sie in gestrecktem Galopp daherpreschte. Erst als sie nicht weiterlief, sondern hastig über die fertigen Stufen der Treppe zu ihm heraufsprang, bemerkte er, daß Asik anders als sonst war. Ihre Augen zeigten einen Ausdruck von Furcht, es lag fast Panik darin. »Was ist denn passiert?« fragte Puna. »Du schaust ja ganz verschreckt drein? Hast du dir weh getan, oder was ist los?« Asik maunzte ratlos. Aber natürlich verstand Puna das nicht. Wie sollte er auch ahnen, daß es gleich zwei Ereignisse waren, die Asik so in Furcht versetzt hatten. Wie immer in den vergangenen Tagen war sie ziellos umhergestreunt und dabei ziemlich weit von der Hütte weggekommen. Sie überquerte eine kleine Lichtung, auf der ein einzelner, freistehender Baum wuchs. Und von diesem Baum ausgehend, hatte sie eine scharfe fremde Witterung wie ein Keulenschlag getroffen. Asik beschnüffelte aufgeregt den Stamm und fand ein gutes Stück über ihrem Kopf eine Menge tiefer Furchen in der Rinde. Sie kannte solche Furchen, wußte, wie sie entstanden: hier hatte eine große Katze ihre Krallen geschärft und auf diese Weise auch ihr Revier markiert. Sie – Asik – machte das gelegentlich auch, von einem unbekannten Instinkt angetrieben. Was sie nun allerdings so beunruhigte, war, daß die Kratzspuren, die sie da entdeckt hatte, weit höher am Stamm lagen, als sie selbst reichte! Asik war zum ersten Mal, seit sie mit Puna zusammen war, auf die Spur eines anderen Jaguars gestoßen. Ein Wesen ihrer eigenen Art hielt sich hier auf! Asik war schon auf dem Rückweg zur Hütte gewesen und näherte sich ihr unbekümmert von der Waldseite. Da erspähte sie plötzlich eine schwache Bewegung im Buschge- 126 -
lände zwischen sich und der Hütte. Instinktiv spannte sie die Muskeln, um anzugreifen. Im gleichen Augenblick, in dem sie zum Sprung ansetzte, trug der Wind den Geruch heran. Sie konnte den Sprung nicht mehr bremsen, änderte in ihrem Schreck jedoch die Richtung. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und kugelte einige Schritte weit seitwärts in die Büsche. Im Nu stand der fremde Jaguar vor ihr. Asiks geräuschvolle Bruchlandung hatte ihn herumfahren lassen, seine Nerven waren ohnedies schon bis zum Zerreißen gespannt. Seit Stunden lauerte er hier im Gebüsch und beobachtete konzentriert das eigenartige Gebilde aus Stangen und Palmblättern, das dort vorn am Rande des Abhangs stand und von dem die aufreizende Witterung ausging. Seit Stunden hatte sich dort nichts gerührt – Puna arbeitete ja für den Jaguar unsichtbar an seiner Lehmtreppe, und Asik streunte weit entfernt umher. Und plötzlich krachten hinter ihm die Äste, raschelte das Blattwerk! Nun erging es dem fremden Jaguar wie Asik wenige Sekunden zuvor. Bereits im Sprung begriff er, was er da ansprang, warf sich in der Luft herum und landete wenige Schritte vor der erschrockenen Asik. Sie standen sich Auge in Auge gegenüber, die Ohren an den Kopf gelegt, die Zähne gefletscht. Langsam begann der Fremde mit steifen Beinen hin und her zu gehen. Sein Gegner vor ihm war noch jung, kleiner und schmächtiger als er, kaum ernst zu nehmen. Und – vor allem – es war ein Weibchen! Eine unbestimmte Sehnsucht erfaßte den Jaguar, er richtete die Ohren wieder auf und ließ die hochgezogenen Lefzen über die bleckenden Zähne sinken. Schritt für Schritt näherte er sich behutsam der Katze. - 127 -
Asik verfolgte gebannt jede seiner Bewegungen. Sie merkte die Veränderung in seinem Gesichtsausdruck und spürte, wie seine drohende Haltung sich lockerte. Dennoch blieb sie in Abwehrstellung und fauchte ihn an. Doch der Fremde ließ sich nicht abhalten; er kam näher und näher – jetzt schnurrte er sogar! Asik verstand dieses Friedensangebot, blieb aber vorsichtig. Der Fremde duckte sich und schlug – mit eingezogenen Krallen – spielerisch und linkisch nach ihrer Schulter. Beinahe sanft strich seine Pranke über ihr Fell. Nun schnurrte auch Asik; ein bisher unbekanntes, verlangendes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie war bereit, mit dem Fremden Frieden zu schließen. Die Wandlung kam völlig überraschend und überrumpelte sie total. Urplötzlich verzerrte sich die Miene des fremden Jaguars, seine Augen schlossen sich zu schmalen Schlitzen, die langen Reißzähne blinkten sie an! Seine Pranke fuhr sausend durch die Luft, die Krallen schossen zwischen den Zehenballen hervor. Asik sprang entsetzt zurück und entging knapp dem pfeifenden Hieb. Er fetzte nur ein paar Haare aus ihrem Hals, ohne jedoch die Haut zu berühren. Hätte sie nicht so schnell reagiert, der Schlag hätte ihr das Genick gebrochen. Vom eigenen Schwung wurde der Fremde vorwärts gerissen, der danebengegangene Hieb ließ ihn einen Sekundenbruchteil lang wanken. Als er wieder festen Stand hatte, sah er Asiks Schwanzspitze gerade noch im Dickicht verschwinden. Er verfolgte sie nicht. Irgendwann würden sie einander wieder begegnen, und dann… Asik verstand nicht, was so plötzlich in den fremden Jaguar gefahren war. Warum seine zärtliche Annäherung sich in kalte Mordlust verwandelt hatte. Sie wußte nicht, daß Punas menschlicher Geruch an ihr haftete und von dem - 128 -
Fremden genau in dem Augenblick erkannt wurde, als sie ihm ihre Freundschaft anbot. Er haßte die Zweibeiner seit jener Stunde, als sie ihn wegen einer läppischen Ziege mit Steinen und spitzen Stöcken beworfen hatten, die sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrten. Auf diese Erinnerung reagierte er sofort und blitzschnell, zu Asiks Glück jedoch nicht exakt genug. Puna ahnte von all dem nichts, er redete beruhigend auf Asik ein und nahm sich vor, aufzupassen. Irgend etwas Gefährliches hatte sie so erschreckt, und er wollte dieser Gefahr nicht unvorbereitet gegenüberstehen. Wenn er nur wüßte, auf was er achten sollte! Auf jeden Fall beschloß er, keinen Schritt mehr ohne seinen Bogen und seine Pfeile zu tun.
Zwei Tage verstrichen, ohne daß etwas Besonderes geschah. Asik beruhigte sich allmählich, wich jedoch nicht von Punas Seite. Bei ihm fühlte sie sich sicher und geborgen. Auch Punas Aufmerksamkeit ließ nach. Der sperrige Bogen war bei der Arbeit hinderlich, er spielte mit dem Gedanken, ihn in der Hütte zurückzulassen. Alles schien sich zu normalisieren, und Puna begann schon zu glauben, daß Asik sich von etwas völlig Harmlosem hatte narren lassen. »Du wirst dich vor was ganz Ungefährlichem erschreckt haben«, sagte er zu Asik, die sogar bei der Arbeit an der steilen Treppe ständig neben ihm war. »Vielleicht vor einem unvermutet auffliegenden Vogel oder einem Baum, der plötzlich umgestürzt ist. Du hast mich ganz schön beunruhigt, aber ich glaube, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Es ist alles in Ordnung.« - 129 -
Der Angriff überraschte sie daher beide. Puna und Asik traten am Morgen des dritten Tages aus ihrer Hütte, dehnten und reckten sich verschlafen in den wärmenden Strahlen der Sonne. Da flog ein lautloser, gefleckter Schatten heran! Der fremde Jaguar prallte auf Asik und riß sie zu Boden. Und wieder war es ihre schnelle Reaktion, die ihr das Leben rettete! Der mörderische Prankenhieb riß ihr nur die Schulter auf, als sie sich unter dem tödlichen Gewicht ihres Gegners wegdrehte. Puna stand wie versteinert. Sein Blick war starr auf den wilden Kampf gerichtet, der wenige Schritte vor ihm entbrannte. Er war wie gelähmt, sein Hirn erfaßte nicht, was seine Augen sahen. »Asik!« schrie er, ohne es zu bemerken. »Asik, paß auf!« Dann kam Leben in ihn, er sprang zurück in die Hütte, riß den Bogen von der Wand und legte mit eiligen Fingern einen Pfeil auf die Sehne. Als er vor die Tür trat, schien der Kampf bereits entschieden zu sein. Asik war ihrem Gegner an Größe und Kraft eindeutig unterlegen. Sie lag auf dem Rücken, die Krallen in die Flanken des über ihr stehenden Feindes gegraben, und war nicht mehr in der Lage, seine wütenden Prankenhiebe abzuwehren. Sie fetzten ihre Schultern auf, ihren Hals, ihre Beine. Eine tiefe Wunde zog sich über ihre Stirn, das Blut rann ihr in die Augen und nahm ihr die Sicht. Der andere Jaguar fauchte siegessicher. Mit diesem schwachen Weibchen würde er gleich fertig sein, und dann würde er sich den verhaßten Zweibeiner holen! Er öffnete die mächtigen Kiefer und senkte den Kopf zu Asiks ungeschützter Kehle. Seine dolchartigen Zähne würden dem ungleichen Kampf rasch ein Ende machen. Da flammte ein rasender Schmerz in seiner Lende auf! Ir- 130 -
gend etwas bohrte sich in seinen Leib, grub sich in seine Eingeweide! Er zuckte zusammen und fuhr herum. Der Zweibeiner stand vor der Hütte, den Bogen in der ausgestreckten Hand, dessen Sehne noch leise vibrierte. Asik, vom eigenen Blut halb geblendet und am Ende ihrer Kräfte, nutzte die Unachtsamkeit ihres übermächtigen Gegners. Ihre Pranke löste sich von seiner Flanke, zuckte in einer verzweifelten Anstrengung hoch und landete in seinem zur Seite gedrehten Gesicht. Von unten her rissen ihre Krallen den Mundwinkel des Feindes auf, spalteten seine Wange und bohrten sich in seine Augenhöhle, bis sie am Stirnknochen Halt fanden. Im Gehirn des Jaguars explodierten tausend Sonnen. Er sah den Zweibeiner an der Hütte plötzlich unklar und verschwommen, rote Nebel wallten auf. Dort, wo das rechte Auge gesessen war, tobten glühende Flammen! Die ganze rechte Hälfte seines Gesichts pochte in wühlendem Schmerz. Er fühlte es heiß und zäh über seine Unterkiefer rinnen und vergaß seine Gegner und daß er sie töten wollte. Sein Auge! Der letzte verzweifelte Hieb Asiks hatte es zerstört. Er war blind. Die roten Nebel breiteten sich aus, umhüllten ihn. Er versank in einer Flut greller Blitze. Mit einem zischenden Jaulen aus den zerrissenen Lefzen floh er vor den Schmerzen, jagte in gehetzten Sprüngen davon. Doch das Feuer in seinem Gesicht blieb, er konnte ihm nicht entkommen. Er rannte und rannte, prallte in seiner Blindheit gegen Bäume, ohne es noch zu spüren, rannte weiter, rannte, bis ihn schließlich die Kräfte verließen und er zusammenbrach… Puna kniete neben der ermattet daliegenden Asik im blutgetränkten Gras. Fassungslos sah er ihre gräßlichen Verletzungen. »Bitte, Asik«, stammelte er, »bitte, stirb nicht! - 131 -
Verlaß mich nicht. Bleib bei mir, ich brauche dich doch so!« Ihre Flanken hoben und senkten sich leise und zitternd, die Augen waren geschlossen, während das Blut aus ihren Wunden sickerte. Sie muß aufhören zu bluten, schoß es durch Punas Kopf. Er sprang auf und raste in die Hütte. Mit einem glühenden Holzstück aus der Feuerstelle kam er zurück. Er achtete nicht darauf, daß die Haut seiner Finger Blasen bekam und sich ablöste. Wenig später war es vorüber. Die bewußtlose Asik hatte nicht einmal gezuckt, als Puna die Blutungen mit dem glühenden Holz zum Stillstand brachte. Der süßliche Geruch versengter Haare und verbrannten Fleisches erfüllte die Luft. Aber Asik blutete nicht mehr! Puna lief zum Fluß hinunter und holte in einer Kürbisflasche Wasser. Vorsichtig träufelte er es Asik zwischen die Lefzen und beobachtete glücklich, wie sie es schluckte. Sie lebte. Sie war gerettet. Tränen der Freude schossen in seine Augen.
Die Tage reihten sich zu einer endlosen Kette der Verzweiflung. Puna hatte die schwere Asik unter Aufbietung aller Kräfte in die Hütte geschleppt und sie dort vorsichtig auf ihr Palmstrohlager gebettet. Mehrmals am Tag ging er zum Fluß und holte Schlamm, mit dem er ihre Wunden behutsam bestrich. Ihr Körper wurde vom Fieber geschüttelt, oft jaulte sie stundenlang vor Schmerzen. Puna saß dann hilflos neben ihr, streichelte ihren heißen Kopf und vertrieb die lästigen Moskitos, die sich auf ihren Wunden versammelten. Nach einer qualvollen Woche hatte es Asik geschafft. Ihre kräftige Natur siegte über das heimtückische Fieber, es - 132 -
sank langsam. An den Wunden zeigten sich erste Ansätze einer Heilung, dank der kühlenden Schlammpackungen Punas klang die Entzündung ab, ohne eitrig zu werden. Allmählich verschorften die Verletzungen. Es dauerte lange, bis sich Asik halbwegs erholte. Der Blutverlust und das Fieber hatten ihre Kräfte geraubt, und sie brauchte viel Zeit, sie wieder zu erneuern. Ihr Körper war erschreckend abgemagert, doch Punas fürsorgliche Pflege verhinderte das Schlimmste. Er zwang Asik zum Fressen, indem er ihr kleine Fleischbrocken so tief in den Rachen schob, daß sie sie schlucken mußte. Nur für kurze Zeit verließ er ihr Krankenlager, um Flußschlamm und Wasser zu holen oder, so schnell es ging, die notwendige Nahrung zu erjagen. Er schoß alles, was ihm in die Quere kam, egal wie klein die Beute auch sein mochte, nur um rasch wieder zu Asik zurückkehren zu können. »Na, siehst du, es geht schon wieder«, ermunterte er Asik, als sie ihre ersten taumelnden Schritte in der Hütte machte. Er hatte seinen Arm unter ihre Brust geschoben und stützte sie. Dabei achtete er allerdings sorgfältig darauf, nicht an ihre sich langsam schließenden Wunden zu stoßen. »In ein paar Tagen wirst du umherspringen wie früher. Nur die Narben werden zurückbleiben. Das ist meine Schuld. Aber ich mußte die Wunden ausbrennen, sonst wärst du verblutet. Dort wird das Fell wohl nicht mehr nachwachsen.« Nicht Tage, sondern Wochen vergingen, bis Asik allmählich wieder umherspringen konnte und ihre alte Geschmeidigkeit zurückgewann. Besonders die Wunden an den Schultern verursachten noch lange ein schmerzendes Ziehen, auch wenn sich schon die neue Haut darüber gebildet hatte. Sie bewegte sich langsam und vorsichtig, aber eines Tages war es dann soweit: als Puna Bogen und Pfeile holte, - 133 -
um auf die Jagd zu gehen, erwartete ihn Asik unternehmungslustig vor der Hütte und begleitete ihn. Die letzten Auswirkungen jenes unglückseligen Zusammentreffens mit dem fremden Jaguar waren überstanden. Von ihm hatten sie übrigens nichts mehr gehört oder gesehen. Puna nahm an, daß er irgendwo seinen Verletzungen erlegen war. Das war ein schwerer Irrtum, doch das sollte er erst viel später erfahren. Auf diesem ersten gemeinsamen Jagdzug seit langem erlegten sie am Flußufer einen kleinen Brillenkaiman. Puna wollte aus Rücksicht auf Asik nicht allzuweit gehen, und so streiften sie am Ufer entlang. Dort bestand ohnedies die größte Chance, Beute zu machen, da sich die meisten Tiere infolge der Trockenheit am Wasser einfanden, um zu trinken. Der Kaiman lag auf einer sandigen Landzunge und sonnte sich. Puna bemerkte ihn, als er aus dem Dickicht trat, überlegte nicht lange, sondern legte sofort einen Pfeil auf die Sehne und schoß. Er hatte Glück. Der Pfeil prallte nicht an den harten Panzerplatten der Echse ab, sondern bohrte sich in die ungeschützte, weiche Haut an der Seite, knapp hinter dem Vorderbein. Der Kaiman bäumte sich auf und versuchte trotz der tödlichen Verletzung ins Wasser zu gelangen. Aber da war Asik schon über ihm. Geschickt wich sie den schnappenden Kiefern des Krokodils aus und biß im richtigen Augenblick zu. Sie erwartete, daß die Beute schlaff zusammensacken würde, aber sie täuschte sich! Mit unverminderter Heftigkeit kämpfte die Echse um ihr verlöschendes Leben, selbst als die Augen brachen und der Blick tot und starr wurde, schlug der Schwanz um sich, scharrten die Beine im Sand und schnappten die Zähne krachend aufeinander. Asik hatte Mühe, das eigentlich schon leblose - 134 -
Reptil festzuhalten und den ziellosen Bissen zu entgehen. Der gespenstische Kampf dauerte noch Minuten, ehe die Reflexe des Kaimans erlahmten. Dafür mundete ihnen das Krokodilfleisch später um so besser. Es war zart, weiß und kurzfaserig und übertraf in seinem Geschmack das Fleisch aller Säugetiere, die sie bisher erbeutet hatten. Selbst das Tapirfleisch, das Puna so schätzte, reichte nicht an die Qualität des Echsenbratens heran. Besonders die Stücke aus dem muskulösen Schwanz des Kaimans hatten es Puna angetan. Er aß und aß, bis er glaubte, platzen zu müssen. »Das sollten wir uns öfters leisten«, stöhnte er satt auf dem Rücken liegend. Sein Bauch war prall und schmerzte von den aufgenommenen Fleischmengen. »Da am Fluß gibt es genug Kaimane. Ich könnte mich ausschließlich von ihrem Fleisch ernähren! Und sie sind gar nicht so schwer zu erwischen. Man muß nur aufpassen, daß sie nicht ins Wasser entkommen.« Puna setzte seinen Entschluß in die Tat um. Er verschmähte jede andere Beute, ließ sogar ein Wasserschwein ungeschoren, das wenige Schritte vor ihm hochschreckte, und jagte nur noch Kaimane. Asik beteiligte sich, ohne sich den Kopf über die neue Jagdmethode zu zerbrechen. Immerhin waren diese Echsen eine ausgiebige, schmackhafte Beute, und wenn sie eine von mittlerer Größe erlegten, kamen sie gut eine Woche damit aus. Puna briet das Fleisch oder trocknete es an der Sonne, damit es haltbar wurde. Asiks Körper rundete sich zusehends, ihr stumpf gewordenes Fell glänzte wieder seidig. Sie war zufrieden und Puna auch.
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ALTAC WIRD VERMISST Auch in Punas Heimatdorf war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Beinahe hatte man schon vergessen, was eigentlich die Ursache für die Zwistigkeiten gewesen war; aber der innere Unfrieden bestand nach wie vor. Der greise Häuptling, der in den vergangenen zwei Jahren noch mehr gealtert war, hatte Mühe, die Dorfgemeinschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Es war zu erwarten, daß er dieser harten Aufgabe nicht mehr lange gewachsen sein würde. Punas Eltern hatten ihren Sohn natürlich nicht vergessen. Doch auch sie sprachen nicht mehr darüber. Die damaligen Vorfälle hatten den Unfrieden bis in Punas Familie getragen. Lona hatte all ihre Freundinnen verloren, und da sich Vater und Mutter seit jenen Tagen nicht mehr besonders gut vertrugen, fand sie auch bei ihnen keinen Trost. Sehr oft saß sie stundenlang mit Altac – Punas ehemaligem Freund – am Rande der Dorflichtung. Dann redeten sie, als einzige im Dorf, über Puna und was wohl aus ihm geworden sein mochte. »Ich kann es einfach nicht glauben«, sagte Altac, als sie wieder einmal beisammensaßen, »daß Puna tot sein soll. Die Alten haben es zwar immer wieder behauptet, aber ich glaube es nicht. Wenn ich mir vorstelle, wie geschickt er war und wie mutig. Es kann ihm nichts geschehen sein. Es - 136 -
darf nicht!« Lona blickte verträumt in die Ferne. »Du hast sicher recht, Altac. Ich kann es auch nicht glauben, und wenn es die Alten hundertmal gesagt haben. Er ist so stark und gescheit! Was er jetzt wohl macht? Wo mag er sein?« »Ich weiß es nicht, Lona. Vielleicht irgendwo weit weg, vielleicht ist er auch ganz nah bei uns. Auf jeden Fall glaube ich, daß er lebt. Andernfalls hätte ich ihn ja getötet, und das wäre schrecklich!« »Ja, das wäre furchtbar! Wenn wir es nur genau wüßten!« »Sag, Lona, was hältst du davon, wenn ich ihn suchen gehe?« Erschrocken sah ihn Lona an. Trotz ihrer Jugend ahnte sie, wie gefährlich diese Idee war. »Nein, Altac, das darfst du nicht. Du würdest dich verirren, oder sonst etwas passiert dir. Du würdest nicht zurückkommen! Nein, das darfst du mir nicht antun. Du bist doch der einzige, mit dem ich reden kann.« »Ja, schon, aber stell dir vor, ich finde Puna! Dann wäre doch mit einem Schlag wieder alles in Ordnung. Die Leute im Dorf würden sich wieder vertragen, deine Eltern auch, und du hättest deinen Bruder zurück! Ist das nicht das Risiko wert?« »Nein, und noch einmal nein! Vielleicht kommt Puna von allein zurück. Wir müssen warten. Ich will dich nicht auch noch verlieren!« »Na gut, reden wir nicht mehr darüber. Vergiß es.« Altac sagte nichts davon, daß er die Idee, Puna zu suchen, schon lange mit sich herumtrug. Daß es sogar mehr als nur eine Idee war; es war ein fest beschlossener Plan. Altac brauchte nur eine kleine Ermunterung, um ihn in die Tat umzuset- 137 -
zen. Diesen Anstoß hatte er sich von Lona erhofft. Enttäuscht trottete er davon. Als er allein zum Fluß hinunterschlenderte, murmelte er trotzig vor sich hin. »Jetzt erst recht! Wenn mir niemand dabei hilft, nicht einmal Lona, dann muß ich es eben allein tun. Ich werde Puna finden und ins Dorf zurückholen!« Tags darauf war Altac verschwunden. Zuerst fiel das gar nicht auf, weil jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war und Altac öfters die Lichtung verließ und durch die Umgebung streunte. Erst als er weder zum Mittagessen erschien und dann auch nicht zur Abendmahlzeit auftauchte, begann man sich Sorgen zu machen. Seine Eltern fragten alle im Dorfe, ob sie ihn nicht gesehen hätten oder ob sie wüßten, wo er war. Doch niemand hatte eine Ahnung. Lona, die auf ihrem Lieblingsplatz hinter der elterlichen Hütte mit der Schildkröte spielte, bemerkte die Aufregung, die das Dorf plötzlich ergriffen hatte. »Altac ist weg!« rief ihr ein Junge zu, als sie fragte, was denn los sei. »Er ist spurlos verschwunden, keiner hat ihn gesehen!« Da wußte Lona, daß Altac seine verrückte Idee verwirklicht hatte. Er war auf der Suche nach Puna. Lona rannte zu Altacs Vater, atemlos erzählte sie ihm alles. »Das darf doch nicht wahr sein!« sagte der. »Puna ist doch längst tot. Er… entschuldige, Lona.« Er hatte nicht daran gedacht, wie sehr Lona an ihrem verschollenen Bruder hing. »Aber trotzdem! Das ist doch völlig sinnlos.« Altacs Vater begriff plötzlich, wie weh es tat, ein Kind zu verlieren. Er, der damals so laut gerufen hatte, Puna müsse getötet werden, hatte nun selbst seinen Sohn verloren! Doch bald schlug sein Schmerz in Haß um. Altac war - 138 -
immer ein vernünftiger Junge gewesen, nie hätte er freiwillig eine dermaßen sinnlose Tat unternommen. Es konnte gar nicht anders sein, als daß ihn Puna mit seinen dämonischen Kräften behext hatte! Altacs Vater fiel nicht auf, daß er kurz zuvor noch felsenfest überzeugt gewesen war, daß Puna tot sei. Mit raschen Schritten ging er zu Punas Eltern. Da sie seit fast zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten, sondern sich mit feindseligem Schweigen aus dem Weg gegangen waren, war Punas Vater sehr überrascht, als der stämmige Indio plötzlich vor ihm stand. Erwartungsvoll sah er ihn an. »Du weißt, was geschehen ist?« fragte Altacs Vater. Die Erregung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Altac ist verschwunden!« »Ja, Lona hat es erzählt. Ich weiß.« »Aber weißt du auch, warum?« »Lona sagte, er will Puna suchen.« »Puna suchen! Daß ich nicht lache. Geholt hat er ihn und verzaubert. Dein mißratener Sohn hat ihn mit Hilfe der Geister zu sich gerufen. Puna ist schuld, wenn Altac etwas zustößt. Ich verfluche ihn!« Fassungslos hörte Punas Vater die wütende Anklage. Er setzte zu einer energischen Entgegnung an, doch der andere schnitt ihm das Wort ab: »Ich erwarte, daß du dich an der Suche nach Altac beteiligst; denn wir suchen ihn alle. Morgen früh brechen wir auf – du auch!« Das hatte Punas Vater ohnedies vorgehabt. Die Empörung über die harten Worte wich dem Mitleid mit Altacs Eltern. Er wußte aus eigener Erfahrung nur zu gut, welche Sorgen sie sich machten. Und er wußte ebenso, daß diese Sorgen - 139 -
berechtigt waren: Altac war bei weitem nicht so geschickt wie Puna. Er würde sich im Dschungel kaum zurechtfinden. Was Puna sozusagen mit der linken Hand erledigte, war für Altac ein fast unlösbares Problem. Das war allgemein bekannt, und vielleicht war Altacs Vater deshalb so beleidigend gewesen. Die Erwachsenen hatten recht: Altac befand sich wirklich in Schwierigkeiten. Bei seinem übereifrigen Aufbruch hatte er ganz vergessen, sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Jetzt, nachdem er einen Tag und fast eine ganze Nacht durch den Dschungel gestapft war, quälte ihn der Hunger. Außerdem fürchtete er die Dunkelheit und alles, was darin raschelte und krächzte. Er bereute seine Idee, Puna zu suchen, und wollte umkehren. Nur – er hatte die Orientierung verloren! Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und in welcher Richtung das Dorf lag. Die Finsternis und die großen Hindernisse, die er hatte umgehen müssen, hatten seinen Ortssinn völlig verwirrt. Er mußte warten, bis der Tag anbrach. Dann wollte er versuchen, auf seiner eigenen Spur zurückzugehen. Er kauerte sich an einen Baumstamm und lauschte ängstlich den unheimlichen Geräuschen des nächtlichen Dschungels, ohne Schlaf zu finden. Das Tageslicht brachte für Altac eine herbe Enttäuschung. Eine Zeitlang konnte er seine Spur zurückverfolgen, doch an einer Stelle, die mit einer dicken Schicht Blätter bedeckt war, verlor er sie. Er schlug kleine und große Bogen, ohne sie wiederzufinden. Jetzt hatte er sich hoffnungslos verlaufen. Was tun? Sollte er versuchen, das Dorf wiederzufinden oder Puna? Wenn ich nur wüßte, in welche Richtung ich gehen soll, dachte er mutlos. Und zu essen brauch’ ich auch etwas. Unsicher und bedrückt machte er sich erneut auf den Weg. Ein wenig - 140 -
später entdeckte er einige Früchte, die ihm bekannt waren, und er stillte seinen Hunger.
Kurz, nachdem die Jäger des Dorfes aufgebrochen waren, um Altac zu suchen – Punas und Altacs Vater gingen an der Spitze der Gruppe, ohne sich eines Blickes zu würdigen –, näherte sich ein großer dunkler Schatten dem Dorf. Das eine Auge leuchtete bösartig, dort, wo das andere Auge sein sollte, lag eine leere Höhle. Es war jener Jaguar, den Puna und Asik aus seinem Revier vertrieben hatten. Die Wunde von Punas Pfeil in seiner Flanke war nach langen qualvollen Wochen verheilt, doch Asiks letzter Prankenhieb hatte ihn für immer verstümmelt. Quer über sein Gesicht zogen sich vier häßliche Narben; sie endeten dort, wo früher das Auge gewesen war. Seine Einäugigkeit hatte den Jaguar, einst der stolze Herrscher seines Reviers, zu einer armseligen dahinvegetierenden Kreatur gemacht. Als seine Wunden einigermaßen verheilt waren, hatte er versucht, einen Hirsch zu schlagen. Doch sein eines Auge verschätzte sich in der Entfernung. Er sprang zu kurz und bekam einen wütenden Huftritt auf die empfindliche Nase. Der Hirsch war weg. Von da an ernährte sich der Einäugige nur noch von Käfern, Insekten und gelegentlich ertappten Mäusen. Er brachte nach seinem Mißerfolg nicht mehr den Mut auf, sich an großes Wild heranzumachen. Jetzt hatten ihn seine ruhelosen Streifzüge in die Nähe des Dorfes geführt. Die Witterung, die von den Hütten herüberströmte, weckte seinen Hunger, ließ aber zugleich auch seinen Unmut erneut auflodern. Denn dieser Geruch war für ihn untrennbar mit Schmerzen, mit Blindheit und dem - 141 -
Verlust seines Reviers verbunden. Es war der Geruch der Zweibeiner! Lautlos strich der Einäugige durch den Busch. Er umrundete das Dorfgelände und achtete auf jede noch so kleine Bewegung. So entging ihm auch nicht das leise Zittern eines hohen Grasbüschels am Rande der Lichtung. Ein Küken scharrte dort nach Würmern und hatte die Halme bewegt. Es kam nicht mehr dazu, einen Angstschrei auszustoßen; es wurde unter dem Gewicht des Jaguars erdrückt, ein paar Federn wirbelten durch die Luft. Dann war nur noch das dünne Knacken zu hören, mit dem die Knochen zwischen den Zähnen des Jaguars zermalmt wurden. Daß das Küken fehlte, merkte niemand. Auch nicht, als in den folgenden Tagen vier, fünf davon verschwanden und mehrere Hühner nicht mehr zurückkamen. Die Jäger waren erfolglos zurückgekehrt; es gab endlose Diskussionen über den Verbleib Altacs. Wer sollte sich da schon um Hühner kümmern? Man debattierte aufgeregt, warum Altac seine Spur verwischt hatte, ohne zu ahnen, daß er bloß die Orientierung verloren hatte und deshalb bald hierhin, bald dorthin, bald im Kreis gegangen war. Die Dorfbewohner bemerkten die Anwesenheit des Jaguars erst, als ein kleiner Junge hinter einer Hütte einen Flekken blutdurchtränkten Sandes mit einigen Knochenresten darauf entdeckte. Umherliegende Borsten und ein übriggebliebener Huf verrieten, daß der Einäugige hier ein Ferkel geschlagen hatte. Niemand hatte das Quieken gehört, als es in der Nacht dem Jaguar zum Opfer fiel. Die erste Reaktion war, daß man Puna verdächtigte. Puna hatte sich doch damals einen Jaguar gehalten! Wahrscheinlich war er nun zurückgekehrt, um sich am Dorf zu rächen! Die herrschende Aufregung um Altacs Verschwinden war - 142 -
die beste Grundlage für solche Vermutungen. Aber dann konnte Punas Vater – er war und blieb der tüchtigste Jäger im Dorf – anhand der Spuren beweisen, daß es sich um ein wesentlich älteres und größeres Tier handeln mußte. Punas Jaguar konnte, wenn er überhaupt noch lebte, nicht so gewaltige Prankenabdrücke hinterlassen. Dafür war er zu jung. Diese Einsicht versetzte die Dorfbewohner in panikartigen Schrecken. Alles rannte aufgeregt durcheinander, bis der alte Häuptling für Ruhe sorgte. »Ich halte es für das beste«, sagte er, »wenn die Jäger der Jaguarspur von hier aus folgen. Das Schwein wurde in der vergangenen Nacht getötet, er hat also einen beträchtlichen Vorsprung. Seht zu, daß ihr ihn erwischt! Ein Jaguar so nahe beim Dorf bringt uns alle in Gefahr. Wir müssen ihn vernichten oder mindestens vertreiben, auch wenn wir dabei das Risiko eingehen, uns der Rache der Dämonen auszusetzen. Die Alten, die im Dorf bleiben, werden inzwischen ein großes Opfer vorbereiten, das die Geister besänftigen wird.« Er wandte sich an die Jäger. »Zieht los und tötet den Jaguar! Wenn ihr dann zurückkommt, werden wir euch mit dem Blut der Opfertiere bestreichen, damit euch die Geister nichts anhaben können und ihr vor Rache sicher seid. Geht und erfüllt eure Pflicht!« Die Männer holten ihre Waffen aus den Hütten und folgten der Fährte, die deutlich sichtbar in den Dschungel führte. Angesichts der unmittelbaren Bedrohung des Dorfes vergaßen sie für einige Zeit ihren Zwist. Die dringliche Aufgabe nahm all ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Der einäugige Jaguar merkte sehr bald, daß ihm die Jäger nachstellten. Auch wenn seine Fähigkeit, größere Beute zu schlagen, beeinträchtigt war, sein Instinkt war eher noch - 143 -
schärfer geworden. Seine Erbitterung wuchs, als er merkte, daß er verfolgt wurde. Er hatte auch nicht die Absicht zu fliehen. Vielmehr würde er sich dem Gegner stellen, wann und wo er wollte. So lief er zunächst eine lange Strecke stur geradeaus. Sein Vorsprung war groß genug, daß er seine kunstvollen Tricks ganz ausspielen konnte. Nach etwa einer Stunde kehrte er um und trabte in seiner eigenen Fährte zurück. Lange folgte er ihr, wobei er jetzt allerdings nur wenig neue Abdrücke hinterließ. Schließlich erreichte er eine dichtstehende Baumgruppe. Mit einem gewaltigen Sprung aus dem Stand überbrückte er die Entfernung zu den untersten Ästen. Wieder trog ihn sein Sehvermögen, und er wäre beinahe abgestürzt. Im letzten Augenblick fanden seine Krallen Halt. Keuchend hockte er auf dem Ast und sah sich um. Das ineinanderverflochtene Geäst der Bäume bot einen idealen Fluchtweg. Hier konnte er, ohne eine Spur zu hinterlassen, eine weite Strecke zurücklegen. Er fühlte sich völlig sicher. Die Indios, die den Einäugigen verfolgten, konnten das von sich nicht behaupten. Ratlos umstanden sie die Stelle, an der die Spur nicht mehr weiterführte. »Er wird auf einen Baum gesprungen sein«, meinte einer der Jäger. »Wir sollten die Äste untersuchen. Vielleicht finden wir Kratzer in der Rinde.« »Oder er ist auf der eigenen Spur zurückgegangen«, hielt ihm Punas Vater entgegen. »Es sieht mir fast danach aus. Auf dem letzten Stück kam mir die Fährte undeutlich vor. Seid ihr dafür, sie noch einmal zu überprüfen?« Die Indios murmelten zustimmend. Der Gedanke, daß der Jaguar jetzt vielleicht in ihrem Rücken war, bereitete ihnen Unbehagen. Es dauerte lange, bis sie die Stelle fanden, wo der Einäugige die Spur verlassen hatte. Niederes Gebüsch - 144 -
verbarg sie vor dem Blick, so daß die Jäger zweimal achtlos daran vorübergegangen waren. Erst als sie die Stelle zum dritten Mal passierten, entdeckte einer der Männer die von den Krallen aufgerissene Erde unter dem Geäst. »Hier ist er abgesprungen!« rief er. »Er muß auf einem Baum sein. Seid vorsichtig! Kommt mit!« Sie fanden auch den Ast, wo der Jaguar gelandet war. Seine Klauen hatten, als er beinahe abgestürzt war, tiefe Furchen in die Rinde gegraben. Aber das, so mußten die Jäger wenig später feststellen, war das letzte Zeichen, das sie von ihm finden konnten. Hoch oben auf einem Baum, nicht sehr weit vom Dorf entfernt, kauerte jetzt der Einäugige und beobachtete, wie die Jäger ermüdet zurückkehrten. Fast schien es, als zuckte ein böses Grinsen über sein entstelltes Gesicht. Er hatte ihnen ein Schnippchen geschlagen. Es war nicht einmal schwer gewesen, sie an der Nase herumzuführen! Unhörbar glitt er tiefer, als die Indios unter ihm vorübergegangen waren. Nur wenige Schritte hinter dem letzten der Männer kam er auf dem Boden auf und duckte sich sofort zum Sprung. Der schweißglänzende, bronzefarbene Rücken des Jägers war ein Ziel, das er auf diese kurze Entfernung nicht verfehlen konnte… Die weiter vorn gehenden Indios fuhren herum, als hinter ihnen ein markerschütternder Schrei aufgellte! Sie sahen ihren Gefährten zu Boden stürzen, über sich den Jaguar. Bevor noch einer von ihnen den Bogen von der Schulter oder das Messer aus dem Gürtel reißen konnte, ließ die Bestie von ihrem Opfer ab und jagte auf die Männer zu! Er rannte sie einfach nieder. Prankenhiebe austeilend, stürmte er in die Gruppe. Schmerzensschreie ertönten; gleich darauf war der Spuk vorüber. Der Jaguar war einfach - 145 -
weitergerannt, nachdem er alles niedergeschlagen hatte, was ihm im Weg war. Zum Glück für die Indios machte er von seinen Zähnen keinen Gebrauch. So kamen alle, wenn auch zum Teil schwer verletzt, mit dem Leben davon. Trotzdem war das Ergebnis dieses unerwarteten Angriffes traurig genug: Von der ganzen Gruppe blieben nur drei Männer heil – sie hatten etwas abseits gestanden. Am ärgsten war der Jäger zugerichtet, den der Einäugige zuerst angesprungen hatte. Zwei schnelle Hiebe hatten ihm die Schulterblätter zertrümmert, sein Rücken wies mehrere stark blutende Wunden auf. Selbst wenn alles gut verheilte, würde er seine Arme kaum noch voll gebrauchen können. »Wir hätten das Opfer vor der Jaguarjagd darbringen sollen!« meinte Altacs Vater bitter, als das erbärmliche Häuflein ins Dorf zurückschwankte.
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PUNAS RÜCKKEHR In der Hütte im Dschungel schlich die Zeit träge dahin. Oft fragte sich Puna, wie lange sie wohl hier noch in Ruhe leben konnten. Die vergangenen Ereignisse hatten mehr Energie von ihm gefordert, als er selbst wußte. Und sie hatten ihn mit Besorgnis erfüllt. Als er eines Tages mit Asik gemeinsam auf der Jagd war, nahm ihr Schicksal eine überraschende Wendung. Sie folgten einem Rudel Wasserschweine. Die Tiere waren durch eine ungünstige Drehung des Windes aufmerksam geworden und hatten die Flucht ergriffen. Puna und Asik waren nicht gewillt, sich diese lohnende Beute entgehen zu lassen, und folgten eilig der Fährte. Da die Wasserschweine schon einmal aufgescheucht und daher mißtrauisch waren, zog sich die Jagd in die Länge. Schließlich wurde es Puna zu dumm, hinter ihnen herzulaufen. Je länger sie nicht zum Erfolg kamen, um so weiter würde der Rückweg werden. »Paß gut auf, Asik!« sagte er und drückte ihr Hinterteil nieder, bis sie sich setzte. »Du bleibst hier, verstehst du? Bleib hier! Ich werde die Wasserschweine seitlich überholen. Dann gehe ich mit dem Wind auf sie zu. Sie werden umkehren und dir genau vors Maul laufen.« Zweimal mußte er zurückgehen und Asik daran hindern, ihm nachzulaufen. Dann begriff sie, was er vorhatte, und sprang auf einen Ast. Dort legte sie sich auf die Lauer und - 147 -
wartete. Knappe zwanzig Minuten später konnten sie sich auf den Rückweg machen. Zwischen Asiks Zähnen baumelte ein junges Wasserschwein mit gutem, zartem Fleisch. Obwohl es ein beachtliches Gewicht hatte, war Asik keinerlei Mühe beim Tragen anzusehen. Sie hatten etwa ein Drittel des Weges zurückgelegt, Puna trabte fröhlich pfeifend hinter Asik her, da ließ Asik plötzlich die Beute fallen und zog prüfend die Luft ein. »Was ist?« flüsterte Puna. »Noch eine Beute? So viel können wir doch gar nicht tragen!« Aber dann wurde er stutzig, als er Asiks gesträubtes Fell sah. Er nahm den Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Asik stelzte mit steifen Beinen auf einen Busch zu, Puna folgte ihr vorsichtig. Was war dort? dachte er. Was konnte Asik so erregen? Asik blieb schnüffelnd vor dem Busch stehen. Ihre Ohren waren nach vorn gerichtet, die Lefzen von den Zähnen zurückgezogen. Sie wandte sich zur Seite und umging das dichte Gestrüpp. Puna hörte, wie sie ein drohendes Fauchen ausstieß. Lautlos schlich er ihr nach, umrundete ebenfalls das Gebüsch – und erstarrte. Wenige Schritte entfernt lag eine Gestalt am Boden, dicht davor kauerte Asik, bereit zum Sprung! »Halt! Nicht, Asik!« rief Puna. »Warte! Der ist nicht gefährlich. Das ist ein Junge.« Er lief zu der regungslos liegenden Gestalt und drehte sie um. »Altac, du bist das?!« schrie Puna. »Wo kommst du bloß her?« Mühsam öffnete Altac die Augen. »Puna! Ich… hab’s… geschafft!« stammelte er. »Ich habe… solchen… Hunger…« Puna wußte vor Aufregung nicht, was er zuerst tun sollte. - 148 -
Altac, sein Freund, hier mitten im Dschungel! Wie kam er hierher? Was war im Dorf geschehen? Tausend Fragen schossen durch Punas Kopf. Das Auftauchen des Freundes verwirrte ihn vollkommen. Hilflos stand er neben Altac, der die Augen wieder geschlossen hatte. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Hunger – hatte Altac gesagt! Er mußte halb verhungert sein! Puna rannte zu dem Wasserschwein zurück, das noch vor dem Gebüsch lag. Im Laufen riß er sein Messer aus dem Gürtel. Mit hastigen Bewegungen schnitt er einige Brocken aus der Beute und eilte damit zu Altac. Während er ihn an der Schulter rüttelte, blickte er nach Asik. Sie kauerte noch genauso da, aber ihre Haltung hatte die drohende Spannung verloren. Neugierig und verständnislos beobachtete sie, was Puna machte. »Altac, Altac! He, wach auf. Ich habe Fleisch für dich!« Das Wort Fleisch weckte Altac aus seiner Erschöpfung. Von Puna gestützt, setzte er sich auf. Plötzlich weiteten sich seine Augen, er riß den Arm hoch und schrie: »Puna! Da. Paß auf. Hinter dir – ein Jaguar!« Puna hatte alle Mühe, ihn zu beruhigen. »Das ist meine Asik«, sagte er lachend. »Sie tut dir nichts! Asik ist meine Freundin.« Als der entsetzte Ausdruck in Altacs Gesicht nicht verging, stand Puna auf, schlenderte zu Asik und kraulte sie zwischen den Ohren. »Glaubst du mir jetzt, daß sie ganz harmlos ist?« fragte er, über Altacs fassungsloses Staunen schmunzelnd. »Also… also ist es wahr!« »Was ist wahr?« »Daß du mit den Geistern verbündet bist!« Altacs Entsetzen wurde immer größer. Er wußte nicht, wovor er sich mehr fürchten sollte: vor dem Jaguar oder vor Puna. Er - 149 -
vergaß sogar seinen quälenden Hunger. »Aber nein! Wir haben uns gegenseitig nur etliche Male das Leben gerettet und sind Freunde geworden. Das hat nichts mit Dämonen zu tun. Oder sehe ich etwa aus wie ein Geist? Wenn überhaupt jemand einem Geist ähnlich sieht, dann du. Du bist ganz blaß, richtig durchsichtig!« Puna lachte. »Komm, iß jetzt. Das Fleisch liegt direkt vor dir.« Ohne den Blick von dem seltsamen Paar zu wenden, tastete Altac vor sich auf dem Boden umher, fand das Fleisch und stopfte es samt der daranhaftenden Erde in den Mund. Der Schock hatte ihn aus seiner Benommenheit gerissen. Als sich Asik auf einen Klaps Punas erhob und beide auf ihn zukamen, hob er abwehrend die Hände. Das soeben in den Mund gesteckte Stück Fleisch fiel ihm wieder heraus. »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben, Altac! Wirklich nicht. Da, schau her!« Puna setzte sich rittlings auf Asiks Rücken. Sie war das von ihren Spielen her gewöhnt, trug ihn einige Schritte und warf ihn dann mit einem Ruck ab. Altac interessierte sie nicht mehr, nachdem ihr Puna gezeigt hatte, daß er ungefährlich war. Asik war einer Balgerei nicht abgeneigt und ließ sich auf Puna plumpsen. Sofort war ein wild aussehendes Gerangel im Gange. Als sich Puna kurz darauf schnaufend und prustend erhob, war Altac verschwunden. Puna sah sich um und entdeckte ihn hinter einem dicken Baum, an dessen Stamm er sich preßte. »Altac! So komm doch her! Wir haben doch nur gespielt.« »Du… du lebst noch?« ertönte es zaghaft hinter dem Baum hervor. »Die Bestie hat dich nicht zerrissen?« »Jetzt hör aber auf! Wenn du Asik noch einmal Bestie nennst, werde ich ernsthaft böse. Bestie sagt er zu meinem verspielten Kätzchen. Hast du das gehört, Asik, sollen wir - 150 -
uns das gefallen lassen?« Puna beugte sich mit dem Ohr zu Asik und tat so, als lausche er. »Sie hat gesagt, sie verzeiht dir noch einmal. Aber du mußt hinter dem Baum hervorkommen. Los, komm, ich habe noch Fleisch für dich!« Puna lockte Altac heraus, fast so wie man einen jungen Hund lockt. Unsicher und bereit, sofort wieder in Deckung zu gehen, kam Altac näher. Puna sah, wie abgemagert der ohnedies nie allzu kräftige Junge war, und klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. »So, jetzt iß einmal ordentlich«, sagte er, während sie zu dem erlegten Wasserschwein gingen. Altac sah sich immer wieder mißtrauisch nach Asik um, und Puna mußte ihn mehr ziehen, als daß er alleine ging. »Wenn du dann satt bist, mußt du erzählen. Ich möchte so viel wissen! Wie geht es meinen Eltern? Lona? Den anderen? Was gibt…« »Brrr! Das soll ich essen?« Altac schüttelte sich angewidert, als er vor dem blutigen Tierkörper stand. »Das ist ja rohes Fleisch. Nein, das esse ich nicht!« »Du hast es ja schon gegessen! Da, das Stück, das an der Schulter fehlt, hast du schon im Bauch.« Altac begann zu würgen. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. »Laß es, wo es ist, Altac. Es wäre schade darum! Außerdem gibt es wirklich Schlimmeres als rohes Fleisch. Ich habe wochenlang nichts anderes gegessen und hab’s auch überlebt.« Puna bemerkte den grünlichen Schimmer in Altacs Gesicht. »Na schön, von mir aus mache ich ein Feuer. Aber wir müssen uns beeilen, wir haben noch ein gutes Stück Weg vor uns. Du kommst doch mit, oder?« Altac nickte. »Deswegen bin ich ja hier. Ich habe dich gesucht, Puna. So lange habe ich dich gesucht, so endlos lang, bis ich einfach nicht mehr konnte. Ich bin vor Erschöpfung, - 151 -
Angst und Hunger eingeschlafen, und ich glaube, ich wäre nicht mehr aufgewacht, wenn du mich nicht gefunden hättest. Ich war fertig, vollkommen fertig.« »Ich habe dich nicht gefunden. Asik war es, die deine Witterung aufgenommen hat. Ihr verdankst du das. Ich wäre wahrscheinlich ein paar Schritte von dir entfernt vorübergegangen, ohne dich zu bemerken. Nein, nein, es ist Asiks Verdienst, daß du jetzt gleich einen duftenden Braten essen wirst.« Der Geruch des bruzelnden Fleisches lockte Asik von ihrer Beschäftigung – sie jagte Grashüpfer – zum Feuer. Ungeduldig maunzend trabte sie heran. Der Bratenduft hatte sie daran erinnert, daß sie hungrig war. »Komm her, Asik«, rief Puna, »stell dich meinem Freund Altac vor!« Altac blieb tapfer sitzen, als die große Katze gravitätisch näher schritt. Ihre Augen befanden sich auf gleicher Höhe mit den seinen, und je näher sie kam, um so mehr schien Altac zusammenzuschrumpfen. Als ihr Gesicht unmittelbar vor dem seinen war, schloß er die Augen und wartete auf das Ende. Denn etwas anderes als das Ende konnte gar nicht kommen. Schon fühlte er den heißen Atem der Raubkatze in seinem Gesicht! Warum tust du mir das an, Puna? dachte er. Warum läßt du mich von deinem Dämon töten? Ist das der Dank dafür, daß… Da fuhr etwas Rauhes, Warmes über sein Gesicht. Unwillkürlich öffnete er die Augen. Rot. Vor seinen Augen war alles rot. Er schwamm im Blut. In seinem eigenen Blut! Plötzlich wurde das Rote wie ein Vorhang weggezogen. Asik rollte ihre Zunge, mit der sie über Altacs Gesicht und ausgerechnet in dem Moment, als er sie aufmachte, auch über seine Augen geleckt hatte, noch einmal genüßlich ein, - 152 -
dann schloß sie das Maul. »Na, siehst du«, hörte Altac Punas Stimme wie durch einen Nebel. »Sie mag dich. Ich hab’s dir ja gleich gesagt. Meine Freunde sind auch ihre Freunde.« Altac konnte nicht glauben, daß er noch lebte. Mit beiden Händen tastete er Gesicht, Kopf und Hals ab, und als seine Finger nirgends eine Wunde fanden, atmete er erleichtert auf. Er lebte tatsächlich noch! Stunden später saßen sie in der Hütte. Puna hielt es für notwendig, dem Freund zu erklären, warum er in solch einer Behausung lebte. Aber Altac wehrte ab. »Ich hätte wahrscheinlich nicht einmal eine Hütte. Ich würde gar nicht mehr leben. Verhungert, verdurstet, was weiß ich. Ich habe mir das Leben im Dschungel viel leichter vorgestellt. Sonst wäre ich vielleicht nie losgezogen, um dich zu suchen. Aber ich hab’ gedacht, es wachsen so viele Früchte, da komme ich schon durch. Und dann bin ich vor den Früchten gestanden und hab’ nicht gewußt, sind sie eßbar oder giftig. Vor lauter Hunger habe ich ein paar kleine gelbe gegessen. Prompt habe ich fürchterliche Bauchschmerzen bekommen. Von da an hab’ ich nichts mehr gegessen außer einer Kokosnuß, die zufällig auf dem Boden lag.« »Jetzt kannst du essen, soviel du willst. Fleisch, Früchte – ungiftige natürlich –, es ist genügend da. Aber jetzt erzähle: was ist los im Dorf?« Altac erzählte, bis spät in die Nacht hinein. Nur einmal kam er etwas aus dem Konzept – als Asik in die Hütte kam, sich neben die beiden so unterschiedlichen Jungen legte und ihren Kopf auf Punas Schenkel bettete. Ihr Schwanz zuckte kurz darauf im Traum und kitzelte Altac. Schüchtern und vorsichtig hielt er ihn mit der Hand fest. Als ihn Asik - 153 -
deswegen nicht auffraß, erzählte er weiter. »Eigentlich bin ich hier, um dich ins Dorf zurückzuholen. Ich glaube, das ist der einzige Weg, damit dort wieder Frieden einkehrt.« Er wagte nicht zu erwähnen, daß sich Puna dann ja von Asik trennen müßte. Bisher hatte Altac gar nicht daran gedacht, daß Puna noch mit dem Jaguar, mit dem alles begonnen hatte, beisammen sein könnte. »Ich habe auch schon oft daran gedacht«, sagte Puna nachdenklich. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Schließlich haben sie mich fortgejagt. Andererseits… Altac, laß mir ein paar Tage Zeit. Ich verspreche dir, mich dann zu entscheiden. Da sind so viele Dinge, die ich mir überlegen muß. Außerdem brauchst du auch ein bißchen Erholung – du Geist, du!«
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DER KAMPF Die nächsten Tage waren voll von Überraschungen für Altac. Er kam aus dem Staunen nicht heraus, und Puna machte sich einen Spaß daraus, ihm vorzuführen, was er in mehr als zwei Jahren Dschungelleben gelernt hatte. Zum Beispiel machte es Puna viel Freude, sich unvermutet an den ahnungslosen Altac heranzuschleichen, sei es auf einer deckungslosen Lichtung oder sei es im dichtesten Gestrüpp. Es gelang ihm jedesmal, Altac zu überrumpeln; nie sah oder hörte ihn dieser, bis er ihm auf die Schulter tupfte oder lachend anrief: »Da bin ich, hinter dir! Nicht dort vorn!« Manchmal gingen sie nebeneinander her und unterhielten sich. Plötzlich war Puna weg. Wie vom Erdboden verschluckt. So sehr sich Altac auch anstrengte, er konnte ihn nicht finden. Puna warf ihm dann kleine Zweige aus der Baumkrone, in der er hockte, auf den Kopf und amüsierte sich über das verblüffte Gesicht seines Freundes. In diesen Tagen schloß Altac auch mit Asik Freundschaft. Er überzeugte sich davon, daß sie weder eine »Bestie« noch ein »Dämon« war. Zwar veranstaltete er noch keine Ringkämpfe mit ihr, so wie es Puna tat – dafür fürchtete er noch zu sehr ihre unbändige Körperkraft –, aber besonders am Abend, wenn sie plaudernd beisammensaßen, ruhte seine Hand wie unbeabsichtigt auf ihrem Kopf oder kraulte ihr seidiges Fell. - 155 -
Asik genoß es, sich von den beiden verwöhnen zu lassen. Anfangs hatte sie ein wenig Eifersucht gefühlt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie fürchtete, ihren Freund Puna zu verlieren oder zumindest seine Zuneigung mit einem anderen teilen zu müssen. Aber im Laufe der Tage stellte sie fest, daß sie nicht einen Freund verlor, sondern einen zweiter, dazugewann. Wohlig streckte sie sich und ließ sich bald von diesem, bald von jenem kraulen. Gehorsam war sie allerdings nur Puna; er hatte eben die älteren Rechte, und ihre Zuneigung zueinander war viel tiefer verwurzelt. »Ich habe mich entschieden«, sagte Puna eines Abends zu Altac. »Ich gehe mit dir ins Dorf zurück. Aber nur unter einer Bedingung: Asik geht mit!« Das hatte Altac erwartet. »Ich verstehe dich. In den letzten Tagen sind Asik und ich auch Freunde geworden. Du hast es ja gesehen. Hoffentlich können wir die Leute im Dorf überzeugen, daß Asik nicht böse und auch nicht unheimlich ist. Wenn nicht, dann…« »… dann kehre ich mit Asik in den Dschungel zurück. Ich lebe lieber allein mit ihr als im Dorf ohne sie!« »Gut. Versuchen wir es. Aber wenn du nicht im Dorf bleibst, wenn du wieder in den Dschungel gehst…?« Die Frage fiel Altac sichtlich schwer. »Dann gehst du mit«, sagte Puna. »Das hast du doch gemeint – oder?« Altac nickte; genau das hatte er fragen wollen. Ob ihn Puna dann wirklich mitnehmen würde? »Weißt du, mir gefällt es, wie du lebst. Du und Asik. So möchte ich auch leben. Mit euch zusammen«, schwärmte er. »Stell es dir nicht zu einfach vor! Ich habe dir erzählt, was da so alles passieren kann. Es ist nicht leicht. Aber jetzt schlaf! Morgen wollen wir zeitig aufbrechen.« - 156 -
»Du, Puna, da gibt es noch ein… ein Problem!« Altac begann schon wieder zu stottern. »Na, was denn für eines?« ermunterte ihn Puna. »Ich weiß nicht, wo das Dorf liegt«, platzte Altac heraus. Er war froh, daß es dunkel war und Puna seine vor Scham glühenden Ohren nicht sehen konnte. »Das weiß ich schon lange.« Puna sagte es ohne Überheblichkeit. »Ich meine, ich weiß, daß du es nicht weißt. Aber wo ist das Problem?« »Wo? Wie sollen wir denn ins Dorf zurückfinden, wenn wir den Weg nicht wissen?« »Ganz einfach: wir gehen deiner Spur nach. Und jetzt schlaf!« Folgsam schloß Altac die Augen. »Ganz einfach«, murmelte er im Einschlafen, »ganz einfach der Spur nach…« Kurz nachdem die Sonne aufgegangen war, machten sie sich auf den Weg, dessen Ende sowohl Puna als auch Altac mit gemischten Gefühlen entgegensahen. Ihre Gedanken kreisten in erster Linie darum, welchen Empfang ihnen die Dorfbewohner wohl bereiten würden. Altac war sich auf einmal gar nicht mehr so sicher, daß die Schwierigkeiten im Dorf mit Punas Rückkehr zu Ende sein würden –, vielleicht fingen sie damit erst richtig an? Nur Asik war unbekümmert wie immer. Alles, was sich bewegte, erregte ihre Neugier. Oft mußten die beiden Jungen über ihre drolligen Sprünge lachen, wenn sie irgendwelchen flinken Tierchen nachstellte. Das Gelächter wollte nicht aufhören, als sich ein grünglänzender Käfer an ihrer übereifrigen Nase festklammerte und sich auch bei den tollsten Verrenkungen nicht abschütteln ließ. Puna befreite sie von dem Quälgeist, und für kurze Zeit war Asik etwas - 157 -
vorsichtiger. Doch bald saß sie wieder in der Patsche: Ein Insekt, kaum so groß wie ein halber Fingernagel, sprühte ihr einen klebrigen, fadenziehenden Saft über die Nase. Immer wieder war es die ungeschützte Nase, die etwas abbekam. Altac konnte es nicht fassen, mit welcher Leichtigkeit Puna seiner Spur folgte. Obwohl etliche Tage vergangen waren, seit er sie hinterlassen hatte, und inzwischen Regen gefallen war, ging Puna sicher wie auf einem Gleis. Jedes abgestreifte Blatt, jeder geknickte Grashalm war für Puna ein untrügliches Zeichen, daß Altac hier vorübergekommen war. Wußte er wirklich einmal nicht weiter, dann setzte er Asik auf die Fährte an. Ihr ausgeprägter Geruchssinn nahm auch die geringste Andeutung von Spuren wahr. Altac selbst konnte nur bei den Strecken helfen, die er damals im Tageslicht zurückgelegt hatte. Er versuchte sich an verschiedene Geländemarken zu erinnern, an denen er vorübergekommen war: ein abgestorbener hoher Baum mit nur drei Ästen, ein Busch mit besonders schönen Blüten oder ein moosiger Felsbrocken. Sie kamen flott voran. »Wenn du in einer geraden Linie gegangen wärst«, sagte Puna, »dann hättest du mich, ohne dich zu beeilen, vielleicht in vier Tagen erreicht. Du hast aber zehn oder zwölf Tage gebraucht, glaube ich. Stimmt das?« »Zwölf, ja. Ich habe nie gewußt, welche Richtung ich einschlagen soll. Außerdem war es ja egal: Ich wußte nicht, wo du warst. Jede Richtung konnte die richtige sein.« »Ich wollte dir deswegen auch keinen Vorwurf machen. Es ist nur: irgendwie habe ich das Gefühl, daß wir uns beeilen müßten. Ich weiß selbst nicht, warum. Da wir deiner Spur folgen müssen, werden wir genausolang brauchen. Können wir vielleicht etwas schneller gehen? Schaffst du - 158 -
das?« Obwohl es für den unerfahrenen Altac recht schwierig war, sich durch das Dickicht zu zwängen, und er schon ganz zerkratzt und zerschunden war, nickte er. »Übrigens«, fuhr Puna fort, »ich habe nicht gewußt, daß das Dorf so nahe ist. Ich muß mich ihm bei meinen ›Übersiedlungen‹ wieder genähert haben, ohne es zu merken. Wahrscheinlich habe ich einen riesigen Bogen geschlagen.« Altac konnte nicht ganz verbergen, daß er Puna ob seines Wissens und seiner Geschicklichkeit beneidete. Das war schon früher so gewesen, hatte aber nie ihre Freundschaft beeinträchtigt. Einer mußte ja der bessere sein. Altac hatte sich damit abgefunden, daß er es nicht war, versuchte aber trotzdem, dem Freund nachzueifern. Aus verschiedenen Anzeichen schloß Puna, daß sie sich ihrem Ziel näherten. Einmal kreuzten sie einen alten, zugewachsenen Pfad – den Altac übrigens nicht einmal sah –, dann wieder entdeckten sie einen Baum, der vor langer Zeit seines Saftes wegen angezapft worden war. Puna konnte sich an die Gegend nicht erinnern, aber er war ja früher nie allzu weit aus dem Bereich des Dorfes gegangen. Außerdem veränderte das rasche Wachstum der Tropenpflanzen das Gesicht der Landschaft in kurzer Zeit, und Puna war ja mehr als zwei Jahre weg gewesen. »Jetzt sind wir bald da. Soll ich mit Asik einfach ins Dorf hineinspazieren? Was meinst du? Du kennst die Leute besser als ich. Es hat sich im Dorf viel geändert, hast du gesagt. Was soll ich tun?« »Ich glaube, Puna, du wartest besser erst einmal. Ich gehe allein ins Dorf und höre mich um, wie die Sache steht. Wenn alles in Ordnung ist, hole ich dich. Und wenn dich die Leute nicht wollen, dann kannst du wieder verschwin- 159 -
den, ohne daß dich jemand sieht. Aber vergiß nicht: dann gehe ich mit dir! Vielleicht kommt Lona auch mit.« »Ja, so ist es gut. Du kannst sicher herausfinden, wie die Leute über mich denken, und sagst mir dann Bescheid. Glaubst du wirklich, daß Lona mitkommen will, wenn das Dorf immer noch gegen mich ist?« »Ich bin fast sicher. Sie war außer mir die einzige, die immer von dir geredet hat. Und einmal hat sie gesagt, daß sie schon längst zu dir gegangen wäre, wenn sie schon größer wäre… Es wird übrigens eine Zeitlang dauern, bis ich dir Bescheid geben kann. Ich muß sehr vorsichtig sein, wenn ich mich umhöre, und eine Wiedersehensfeier wird es auch für mich geben. Die werden sich freuen, wenn ich wieder da bin. Mit einem Tag mußt du schon rechnen. Ich kann frühestens in der Nacht zu dir kommen, oder überhaupt erst eine Nacht später.« »Gut, daß du mir das sagst, solange wir noch weit genug vom Dorf weg sind. Wenn ich so lange auf dich warten muß, brauche ich noch etwas zum Essen für Asik und mich. Wir werden gleich hier versuchen, ein größeres Beutetier zu erwischen. Direkt beim Dorf werde ich wohl kaum jagen können.« Sie unterbrachen die letzte Etappe ihrer Wanderung. Bis zum Dorf war es noch ein guter Tagesmarsch, also konnten sie unbesorgt jagen. Puna ging dabei auch von der Überlegung aus, daß ein großes Stück Wild als Willkommensgeschenk an das Dorf bestimmt nichts schaden konnte. Er bat Altac, der durch seine Unerfahrenheit bei der Jagd nur hinderlich gewesen war, auf einer kleinen Lichtung zu warten. Dann begann er gemeinsam mit Asik die Umgebung abzusuchen. Schon bald stießen sie auf die ziemlich frische Spur eines Tapirs. Leider stand der Wind ungünstig, so daß sie - 160 -
der Fährte nicht direkt nachgehen konnten. In weiten Zickzack-Schlägen kreuzten sie immer wieder die Fährte in der Hoffnung, den Tapir auf diese Weise zu überholen, ohne daß er von ihnen Witterung bekam. Es klappte. Beim neunten oder zehnten Bogen fanden sie die Spur nicht mehr vor. Der Tapir war hinter ihnen. Jetzt brauchten sie nur noch zu warten. Mit einigen Schritten Abstand legten sie sich auf zwei Bäumen auf die Lauer, Puna hielt seinen Bogen schußbereit. Ahnungslos ging der Tapir – ein großes, dunkles Tier – in den Hinterhalt. Da er aus einem ziemlich spitzen Winkel kam, verwundete ihn Punas Pfeil nicht allzu schwer, aber die Überraschung genügte. In Sekundenbruchteilen war Asik über ihm und grub ihre Zähne in seinen Nacken. Ein Prankenhieb besorgte den Rest. Schwer beladen kehrten sie zu der Lichtung zurück, wo Altac ein bißchen gelangweilt Grashalme zu Zöpfen flocht. Er hätte sich gern an der Jagd beteiligt, die Zurückweisung Punas empfand er als kränkend. »Das nächste Mal kannst du gern mitkommen«, sagte Puna und ließ die Beine des Tapirs zu Boden klatschen, an denen er ihn gemeinsam mit Asik herangeschleift hatte. »Aber diesmal mußte es schnell gehen. Wenn du uns begleitet hättest, hättest du ihn vielleicht verscheucht. Du bist im Anschleichen noch nicht genug geübt.« Das sah Altac ein. Seine trotzige Stimmung verflog. Zudem erwartete ihn ohnedies eine schwierige Aufgabe im Dorf, bei der er seine Geschicklichkeit, wenn auch auf einem anderen Gebiet, beweisen konnte. Die letzte Wegetappe legten sie ohne besondere Ereignisse zurück, wenn man davon absieht, daß die Erregung der beiden Jungen mit jedem Schritt zunahm, den sie näher - 161 -
ans Dorf kamen. Besonders Altac versuchte, seine Unruhe hinter betont lässigen Redensarten zu verbergen. Puna hingegen wurde immer schweigsamer, je vertrauter ihm die Umgebung wurde. Asik blieb plötzlich stehen und witterte. Auch Puna zog die Luft prüfend durch die Nase. Rauch. Es war soweit! Punas Herz begann heftig zu hämmern. Seine Ohren glühten vor Aufregung, als er Altac, der unbekümmert weitergehen wollte, an der Schulter festhielt. »Riechst du nichts, Altac?« »Nein. Was soll ich riechen?« »Rauch!« Unwillkürlich senkte Puna seine Stimme zu einem Flüstern. »Wir sind da. Geh allein weiter!« Er sah sich um und deutete auf ein undurchdringlich erscheinendes Gestrüpp. »Dort warte ich auf dich. Du brauchst jetzt nur noch geradeaus zu gehen, etwa eine halbe Stunde lang. Merk dir die Richtung, damit du mich auch wieder findest. Mach’s gut und beeil dich!« Jetzt, so knapp vor dem Ziel, wurde Puna ungeduldig. Er konnte es kaum erwarten zu erfahren, wie seine Zukunft aussehen würde. Sehnsüchtig blickte er Altac nach, der nach ein paar beruhigenden Worten flott weitermarschiert war. Dann hockte er sich, mit dem Rücken an einen Baum gelehnt, nieder und begann, sich mit völlig sinnlosen Dingen zu beschäftigen, nur damit die Zeit verging. Er grub kleine Löcher in den sandigen Boden und setzte Ameisen hinein, schnitzte aus einem Stück Holz einen Löffel, den er dann fortwarf, und flocht aus Lianenfasern ein Seil, um es gleich darauf wieder zu zerzupfen. Asik inspizierte die Umgebung und ließ sich dann bei dem erlegten Tapir nieder, um zu fressen. Puna sah ihr dabei zu, verspürte aber selbst keinen Appetit, obwohl er - 162 -
schon lange nichts gegessen hatte. Das nervenzehrende Warten schlug sich ihm auf den Magen. Altac kam früher als erwartet zurück; es war noch nicht einmal richtig dunkel. Schon von weitem sah Puna seinem Gesicht an, daß irgend etwas passiert sein mußte. Noch keuchend, begann Altac seinen Bericht: »Im Dorf geht es drunter und drüber! Außer meiner Mutter und Lona hat kaum jemand gemerkt, daß ich wieder da bin… Du kannst dich doch an den alten Potan erinnern? Du weißt schon, der nur mit Stöcken gehen konnte, weil er teilweise gelähmt war!« »Ja, was ist mit ihm?« »Heute morgen hat ihn ein Jaguar zerrissen! Mitten in seiner Hütte! Sag – Asik war doch die ganze Zeit bei uns heute morgen?« »Natürlich! Du hast doch selbst gesehen, daß sie immer in unserer Nähe war. Sie hat es nicht getan, und sie würde so etwas auch nie tun. Das weißt du doch!« »Ja, ich schon. Aber ob es die Leute im Dorf glauben werden? Laß mich weitererzählen. Dieser Jaguar – der fremde, mein’ ich – treibt sich beim Dorf herum, seit ich aufgebrochen bin, um dich zu suchen. Damit hat es angefangen. Ein paar Hühner, ein Schwein – und dann hat er die Jäger überfallen. Alle auf einmal, und sie konnten nichts dagegen tun. Er fiel wie ein Gewitter über sie her und hat mehr als die Hälfte von ihnen schwer verletzt. Seither hat sich der Jaguar nicht mehr gerührt. Sie haben schon geglaubt, daß er endgültig weggegangen ist. Bis heute früh! Da haben sie den lahmen Potan gefunden, fürchterlich zugerichtet. Keiner hat was gehört oder gesehen. Gleich danach sind die paar gesunden und die leichtverletzten Jäger – auch unsere Väter – losgezogen, um den Jaguar zu töten. - 163 -
Zum Glück ist er in die andere Richtung geflohen, sonst hätten sie euch hier gefunden. Asik hätte dann kaum eine Chance gehabt. Meine Mutter sagte, die Jäger seien rasend vor Wut. Wenn sie jetzt einen Jaguar erwischen, egal welchen, zerstückeln sie ihn in kleine Brocken!« »Wenn die Jäger alle fort sind, wer paßt dann auf das Dorf auf?« »Das ist es ja! Niemand. In ihrer Wut über den Tod Potans sind sie alle hinter dem Jaguar hergerannt. Wenn sie der wieder zum Narren hält, wie er es schon einmal getan hat, und heimlich zurückkommt, gibt es eine Katastrophe!« »Aber sie können doch die Frauen, die Kinder und die Kranken nicht völlig schutzlos zurücklassen! Bist du sicher, ist nicht ein einziger dageblieben?« »Nicht einer!« »Komm, Altac, wir müssen ins Dorf. Asik, komm! Laß die Eidechse und beeil dich. Komm schon!« So schnell sie konnten, eilten die drei dem Dorf zu. Sie achteten nicht auf die Dornenranken, die in ihre Gesichter peitschten, und als Altac mehrmals über Wurzeln stolperte und schließlich in vollem Trab gegen einen dicken Baum prallte, nahm ihn Puna bei der Hand und zog ihn mit sich weiter. Ihm machte die Finsternis nichts aus, er sah fast so gut wie Asik. Als sie das Dorf erreichten, erschraken sie. Es war wie ausgestorben, man hatte die Hütten mit Ästen und Dornenranken zu sichern versucht; keine Menschenseele war zu sehen. Die wehrlosen Bewohner – Frauen, Kinder, Alte und Kranke – hatten sich verkrochen und wagten sich nicht ins Freie. Nur auf dem Versammlungsplatz loderte ein Feuer, und - 164 -
daneben hockte – schmal und gebrechlich – der greise Häuptling. Er hielt einen Speer in der knorrigen Faust und starrte entschlossen in die Dunkelheit. Wenn der Jaguar kam, wollte er ihm den Speer entgegenstemmen – sie würden gemeinsam sterben. Der Häuptling versuchte angestrengt, die Finsternis zwischen den Hütten mit den Blicken zu durchdringen. Doch seine Augen waren zu alt, sie sahen den dunklen Schatten nicht, der sich dicht an den Boden preßte. Sie sahen nicht den Schwanz, dessen Spitze erregt hin und her pendelte, sahen nicht die mächtigen Pranken, die den schweren, gefleckten Körper unaufhaltsam vorwärtsschoben! Der Einäugige belauerte sein Opfer. Sein vernarbter Schädel glich der Maske eines Dämons. Dieses schmächtige Wesen dort vorn würde ihm keine Schwierigkeiten machen. Die spröden Knochen würden unter seinen Pranken kaum Widerstand leisten. Nur die zuckenden Flammen störten ihn. Er haßte Feuer, sonst hätte er schon längst angegriffen! So zögerte er den Augenblick des Angriffs noch hinaus. Doch dann strafften sich seine Muskeln. Langsam, mit steifen Beinen und gebleckten Zähnen trat er in den Lichtkreis des Feuers. Vier Schritte trennten ihn noch von dem alten Mann, aus dessen Augen jede Furcht verschwunden war. Der Greis wußte, daß sein Leben zu Ende ging. Er hatte nur noch eine Aufgabe zu erfüllen: den gefleckten Mörder auf seine lange Reise mitzunehmen. Ohne zu zittern, hob er den Speer und richtete die Spitze auf den Jaguar. Drei Schritte noch. Zwei Schritte! Der Häuptling fühlte den heißen Atem der Raubkatze und sammelte alle Kraft für den entscheidenden Stoß. Denn zu einem zweiten Zu- 165 -
stoßen würde er keine Gelegenheit mehr haben. »Wir beide«, flüsterte er, ohne Haß oder Furcht zu empfinden, »wir beide gehen gemeinsam… du und ich… zwei Häuptlinge…« Beim Klang der Stimme stutzte der Einäugige. Sie verwirrte ihn. Sein Schwanz begann wieder zu pendeln, hin, her, hin, her. Der Einäugige zögerte erneut. Dieses Zögern wurde ihm zum Verhängnis. Denn gerade, als er seine Unsicherheit überwunden zu haben schien und die Sache endlich zum Abschluß bringen wollte, als er die Lefzen zurückzog und die Krallen vorschob, da rammte ein gewaltiger Stoß seine Flanke! Er wurde zur Seite geschleudert und wußte einen Moment lang nicht, wo er war. An mehreren Stellen seines Körpers traf ihn gleichzeitig ein betäubender Schmerz; er war völlig überrumpelt. Der Blick des Häuptlings kehrte aus der unwirklichen Ferne zurück, als sein Gegenüber plötzlich aus seinem Blickfeld verschwand. Er war so sehr auf das Kommende konzentriert gewesen, daß er nicht gleich erfaßte, was sich da direkt vor ihm abspielte. Vor ihm tobte in flackerndem Licht ein Kampf mit einer Wildheit und Schnelligkeit, daß er ihm mit den Augen kaum folgen konnte. Der unvermutete Angreifer war offenbar kleiner als sein einäugiger Gegner, und als die Wirkung des Überraschungsmomentes nachließ, kam er in arge Bedrängnis. Der Einäugige verfügte über bedeutend mehr Kraft, und er setzte sie nun voll ein. Der kleinere Jaguar konnte dem nur seine größere Behendigkeit entgegensetzen, doch ein schwerer Hieb des Einäugigen, der knapp hinter dem Ohr des Gegners landete, ließ diesen taumeln. Der Einäugige ließ sich die Chance nicht entgehen. Mit unvorstellbarer Wucht setzte er nach und warf seinen Geg- 166 -
ner zu Boden, wo dieser für Sekunden benommen liegenblieb. Der greise Häuptling war aufgesprungen. Er wußte nicht, was er tun sollte. Kamen ihm die Götter zu Hilfe? Oder erwarteten die Götter, daß er sich an dem Kampf beteiligte? Wenn ja, dann wurde es höchste Zeit, daß er etwas unternahm, denn der Einäugige war nahe daran, seinem Gegner den Garaus zu machen. Er bearbeitete ihn mit Zähnen und Krallen; die verzweifelte Gegenwehr, die bis jetzt den tödlichen Biß verhindern konnte, wurde schwächer und schwächer. Der Alte hob den Speer und zielte auf die Flanke des Einäugigen. Entweder jetzt – oder es war zu spät! In diesem Augenblick zischte etwas haarscharf am Kopf des Alten vorbei. Er kannte dieses Geräusch – ein Pfeil. Seitlich im Hals des Einäugigen stak plötzlich ein wippender Schaft. Das Opfer, das rücklings unter ihm lag, nahm die letzte Möglichkeit, den Kampf zu seinen Gunsten zu entscheiden, wahr. Es schnellte empor, grub seine Zähne mit aller ihm noch zur Verfügung stehenden Kraft in die Kehle des Einäugigen und hielt eisern fest. Während die kleinere Raubkatze zurücksank, zog sie den Hals des Gegners mit sich. Einige Sekunden stand der große Jaguar noch benommen, dann lief ein Zucken durch seinen Körper. Er brach zusammen. Der Häuptling wandte sich um. Noch saß ihm die Überraschung in den Gliedern; doch er wußte: es war alles vorüber. Und er lebte! Mit großen Augen sah er den Jungen mit dem Bogen auf sich zulaufen, an sich vorüberhasten und sich über das dunkle Knäuel beugen, das die beiden Jaguare – der tote und der verwundete – auf dem Boden bildeten. »Asik!« rief Puna und zerrte den schweren Körper des - 167 -
Einäugigen von ihr herunter. »Asik! Meine tapfere, liebe, kleine Asik. Wir haben gesiegt. Du hast gesiegt!« Neben ihr niederkniend, streichelte er ihren Kopf, während die Tränen über seine Wangen strömten. »Das ist also dein Jaguar, Puna«, sagte eine leise Stimme hinter ihm. »Der Jaguar, für den du das Leben im Dschungel auf dich genommen hast.« Die Stimme begann zu zittern. »Wir wollten ihn töten… und er hat mich gerettet.« Der Häuptling kniete sich neben Puna und senkte den Kopf. Dann strich er mit einer ehrfurchtsvollen Geste über Asiks Stirn. Sie hatte die Augen offen und blickte den Alten klar an. Auch Puna sah zu ihm auf. »Deine Freundin hier, Puna, die du Asik nennst, hat nicht nur mir das Leben gerettet, sondern auch all den anderen. Sie hat den alten Potan gerächt und die Wunden der Jäger, die der Einäugige angefallen hat. Wir, das ganze Dorf, haben dir zu danken, Puna.« Er stand auf, reckte seine hagere Gestalt und hob die Arme. Gespenstisch zuckte das Licht des Feuers über ihn hinweg, als er mit lauter Stimme rief: »Kommt aus euren Hütten! Hört alle, was ich euch zu sagen habe! Es ist das letzte Mal, daß ich als Häuptling zu euch spreche. Hört und handelt dann danach.« Aus den Hütten kamen – erst zögernd, dann immer schneller – die Dorfbewohner heran. Fassungsloses Schweigen lag über dem Platz, als sich alle um Puna, Asik und den toten Jaguar versammelt hatten. Noch immer mit beschwörend erhobenen Armen, als wolle er nach den Sternen greifen, begann der Häuptling seine letzte Rede: »Hört: Meine Zeit ist um. Sie war um in dem Augenblick, als el tigre vor mir stand. Daß ich dennoch lebe, verdanke ich dem Jaguar, den ihr blutend hier - 168 -
liegen seht. Auch ihr verdankt ihm euer Leben. Ihm und dem Jungen, Puna, zu dem er gehört. Wären die beiden nicht gekommen, hätte der Einäugige vielleicht uns alle getötet. Denn ich weiß nicht, ob ich ihn hätte aufhalten können. Ich bin nur ein alter Mann. Zu alt für die Aufgaben eines Häuptlings – das ist mir heute nacht klar geworden. Doch bevor ich gehe, mein letzter Rat als Häuptling: Nehmt Puna wieder in die Gemeinschaft auf. Er ist dessen würdig. Puna und Asik, ihr werdet beide über unser Dorf wachen. Denn, das weiß ich, die Götter sind euch wohlgesinnt!« Er trat langsam aus dem Lichtkreis des Feuers, ein gebeugter, alter Mann. Da drängte sich eine kleine Gestalt durch die Reihen und lief auf Puna zu. Lona ergriff seine Hand, ihre Stimme tönte hell in das Schweigen: »Willkommen zu Hause, Puna!« Und ohne jede Scheu beugte sie sich hinunter zu der erschöpften Asik: »Willkommen zu Hause, Asik…«
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