Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie Ins Deutsche übertragen von Ralph Te...
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Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Fantasy Erste Auflage: August 1989 © Copyright 1966 by The Conde Nast Publications., Inc. © Copyright 1979 by Randall Garrett © Copyright 1981 by Randall Garrett All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1989 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Too Many Magicians/Murder and Magie/ Lord Darcy Investigates Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier Titelillustration: James Warhola Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, 2110 Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20127-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Band 2 Im Auge des Betrachters Sir Pierre Morlaix, Chevalier des Anglo-Französischen Reichs, Ritter vom Goldenen Leoparden und Privatsekretär Seiner Lordschaft, dem Grafen D'Evreux, blickte auf die Uhr. Drei Minuten vor sieben, Wie immer hatte das Angelus um sechs geläutet, wie immer war My Lord D'Evreux davon wach geworden. Jedenfalls konnte sich Sir Pierre nicht daran erinnern, daß My Lord niemals nicht zum Angelus wach geworden wäre. Er entsann sich, daß der Sakristan es einmal versäumt hatte, die Glocke zu lauten — da war der Graf eine Woche lang unbeschreiblich wütend gewesen. Nur die Einflußnahme von Vater Bright, der vom Bischof persönlich unterstützt werden mußte, hatte den Sakristan davor bewahrt, eine Runde in den Verliesen von Schloß D'Evreux absitzen zu müssen. Sir Pierre schritt in den Flur und sah mit geschultem Blick, daß sich alles in bester Ordnung befand: Diese alten Schlösser ließen sich nur schwer in Schuß halten, und My Lord der Graf ließ peinlich genau darauf achten, daß sich kein Salpeter in den Ritzen zwischen den Steinen der Wände ablagerte. Es war ganz gut, daß alles in Ordnung war, denn die Nacht zuvor hatte My Lord der Graf ordentlich gefeiert, und nach solchen Abenden war er meistens ziemlich schlecht gelaunt. Er wachte zwar jeden Morgen zum Angelus auf, aber dann war er keineswegs immer schon nüchtern. Sir Piere kam vor einer schweren, polierten Eichentür zum Stehen, zückte einen Schlüssel aus dem Bund an seinem Gürtel und schloß auf. Dann trat er in den Aufzug, und die Tür schloß sich automatisch hinter ihm. Er drückte auf den Schalter und wartete geduldig, bis er vier Stockwerke hoch befördert worden war, wo sich die Zimmerflucht des Grafen befand. Inzwischen würde My Lord der Graf sich gewaschen, rasiert und angekleidet haben. Auch den Wachmacher, ein halbes
Wasserglas voll Brandy aus der Champagne, würde er schon ausgetrunken haben. Frühstücken vor acht würde er nicht. Der Aufzug hatte sein Ziel erreicht. Sir Pierre stieg aus und schritt auf die Tür am anderen Ende des Ganges zu. Punkt sieben Uhr klopfte er forsch an die große Zimmertür, die das Wappen des Hauses D'Evreux trug. Zum erstenmal seit siebzehn Jahren erhielt er keine Antwort. Eine volle Minute wartete Sir Pierre auf den brummigen Befehl, einzutreten, ohne seinen Ohren zu trauen. Dann klopfte er, beinahe schüchtern, aufs neue. Immer noch keine Antwort. Sir Pierre wappnete sich innerlich bereits auf die Wut-tiraden, die ihn erwarteten, sollte er sich geirrt haben, und öffnete die Tür, als habe er die Stimme des Grafen vernommen. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er, wie er es seit siebzehn Jahren immer getan hatte. Aber der Raum war leer, und er erhielt keine Antwort. Er blickte sich um. »My Lord?« Nichts. Kein Ton. Die Schlafzimmertür stand offen. Sir Pierre ging darauf zu und blickte hinein. Sofort sah er, warum My Lord der Graf D'Evreux nicht geantwortet hatte und warum er nie wieder >Herein< rufen würde. My Lord der Graf lag flach auf dem Rücken, die Arme weit ausgestreckt; seine Augen starrten an die Decke. Er trug noch seine goldene und scharlachfarbene Abendgarderobe. Doch der große Fleck vorne auf seinem Jackett hatte eine andere Schattierung als der Rest des Stoffs, und mitten in dem Fleck befand sich ein Einschußloch. Sir Pierre blickte ihn lange an, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Dann stieg er über ihn, kniete nieder und berührte eine Hand des Grafen mit seinem eigenen Handrücken. Die Hand war kalt, der Graf war schon seit Stunden tot. »Ich wußte es, daß Euch irgendeiner früher oder später umlegen würde, My Lord«, sagte Sir Pierre fast traurig. Dann stand er auf und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken. Er schloß die Tür zur Zimmerflucht ab, steckte den Schlüssel ein und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Mary Lady Duncan starrte aus dem Fenster ins Licht der Morgensonne und überlegte, was sie nun tun sollte. Die Glocken des Angelus hatten sie aus einem unruhigen Schlaf im Sessel geweckt, und sie wußte, daß man von ihr als Gast auf Schloß D'Evreux erwarten würde, diesen Morgen wieder zur Messe zu erscheinen. Aber wie konnte sie? Wie konnte sie dem Heiligen Altar gegenübertreten, ganz zu schweigen vom Empfangen des Heiligen Sakraments? Aber es würde sehr auffallen, wenn sie heute morgen nicht erschiene, nachdem sie sich doch vorgenommen hatte, während der ersten vier Tage ihres Besuchs jeden Morgen mit Lady Alice zur Messe zu gehen. Sie wandte sich um und blickte auf die verriegelte Schlafzimmertür. Ihn würde man nicht erwarten. Laird Duncan nahm seinen Rollstuhl als Vorwand, aber sie glaubte, daß er, nachdem er sich zum Zeitvertreib der Schwarzen Magie verschrieben hatte, regelrechte Angst vor Kirchen haben müßte. Wenn sie ihn doch nur nicht angelogen hätte! Aber wie hätte sie die Wahrheit sagen können? Das wäre noch schlimmer gewesen, wesentlich schlimmer. Und jetzt hatte er sich wegen dieser Lüge im Schlafzimmer eingeschlossen und tat Gott weiß was! Wenn er doch nur herauskäme! Wenn er doch nur aufhören würde mit dem, was er gerade tun mochte, oder es nach all diesen langen Stunden doch endlich zu Ende brächte! Dann könnten sie unter einem Vorwand D'Evreux verlassen, Frankreich den Rücken kehren, den Kanal überqueren und nach Schottland zurückfahren, wo sie in Sicherheit waren! Sie blickte wieder hinaus. Letzte Nacht hatte sie ihn gehaßt, aber jetzt hatte es aufgehört. Nur die Angst fand noch Platz in ihrem Herzen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schalt sich eine Närrin. Nach dieser langen Nacht gab es keine Tränen mehr, die sie hätte weinen können. Plötzlich hörte sie, wie die Tür hinter ihr aufgeschlossen wurde. Laird Duncan von Duncan stieß die Tür auf und rollte sich ins Zimmer, eine Wolke übelriechenden Dunstes hinter sich herziehend. Lady Duncan starrte ihn an. Er sah älter aus als letzte Nacht, hagerer und mitgenommen, und in seinen Augen entdeckte sie einen Ausdruck, der ihr nicht gefiel. Einen Augenblick lang sagte er nichts. Dann leckte er sich kurz die Lippen mit der Zungenspitze. Als er sprach, klang seine Stimme benommen. »Es gibt nichts mehr zu befürchten«, sagte er. »Überhaupt nichts mehr zu befürchten.« Der Hochwürdige Vater James Valois Bright, Vikar der Kapelle von Saint-Esprit, zählte die mehreren hundert Bewohner von Schloß D'Evreux zu seiner Gemeinde. So stand er der größten Gemeinde der Grafschaft vor, wenn man den Bischof und das Kapitel der Kathedrale nicht mitzählte. Aber das beruhigte ihn keineswegs. Für eine Gemeinde dieser Größe war der Besuch der Messen erbärmlich mager, besonders unter der Woche. Die Sonntagsmessen wurden natürlich gut besucht; Graf D'Evreux erschien schließlich jeden Sonntag pünktlich um neun und zählte die Anwesenden. Aber wochentags
erschien er nie, und seine Laxheit hatte auch auf die unteren Chargen abgefärbt. Der große Trost war Lady Alice D'Evreux. Sie war ein einfaches, schlichtes Mädchen, fast zwanzig Jahre jünger als ihr Bruder, der Graf, und das blanke Gegenteil von ihm. Wenn er tobte, verhielt sie sich ruhig, wenn er sich aufspielte, benahm sie sich bescheiden, statt zu trinken wie er, befleißigte sie sich der Mäßigung. Und außerdem war sie keusch, während er ... Vater Bright unterbrach seinen eigenen Gedankengang. Er hatte nicht das Recht, darüber ein Urteil zu fällen. Schließlich war er nicht der Beichtvater des Grafen, das war der Bischof. Außerdem sollte er sich seinen Gebeten widmen. Erstaunt bemerkte er, daß er sein Ornat angelegt hatte und daß seine Lippen dabei waren, die Worte des Gebets zu sprechen, das er beim Anlegen aufzusagen hatte. Gewöhnung, dachte er, kann die Fähigkeit zur Kontemplation zerstören. Er blickte in der Sakristei umher. Sein Meßdiener, der junge Sohn des Grafen von Saint Brieuc, den man hierher geschickt hatte, um seine Erziehung als Gentleman zu vervollkommnen, damit er eines Tages Königlicher Gouverneur einer der wichtigsten Grafschaften der Bretagne werden könnte, war ihm beim Ankleiden behilflich. Die Uhr zeigte 07.11. Nach einem kurzen Stoßgebet öffnete Vater Bright die Augen aufs neue und griff eben nach seiner Kasel, als die Sakristei-tür geöffnet wurde und Sir Pierre eintrat. »Ich muß Euch sprechen, Vater«, sagte er leise und fügte mit einem Seitenblick auf den jungen De Saint-Brieuc hinzu: »Allein.« Da er wußte, daß Sir Pierre ihn nicht ohne Grund auf solch unerhörte Weise bei seinen Messevorbereitungen stören würde, nickte er und trat mit ihm in den Gang hinaus, der zum Altar führte. »Was gibt es, Pierre?« »My Lord, der Graf, ist tot. Ermordet.« Nach dem ersten Schreck kam Vater Bright die Erkenntnis, daß die Neuigkeit nicht ganz unerwartet gekommen war. Irgendwie hatte er immer insgeheim geahnt, daß der Graf eines gewaltsamen Todes sterben würde, noch bevor er durch sein Lotterleben seine Gesundheit ruiniert hatte. »Erzählt mir davon«, sagte er gefaßt. Sir Pierre erzählte ihm genau, was er getan und gesehen hatte. »Dann schloß ich die Tür ab und kam sofort hierher.« »Wer hat noch einen Schlüssel zur Zimmerflucht des Grafen?« »Nur My Lord selbst«, antwortete Sir Pierre, »jedenfalls soweit ich das weiß.« »Wo ist sein Schlüssel?« »Er hängt noch auf dem Schlüsselring an seinem Gürtel, das ist mir aufgefallen.« »Sehr gut. Wir lassen die Tür verschlossen. Ihr seid sicher, daß der Leichnam schon kalt war?« »Kalt und wächsern, Vater.« »Dann ist er schon einige Stunden tot.« »Man wird Lady Alice verständigen müssen«, sagte Sir Pierre. Vater Bright nickte. »Stimmt. Man wird der Gräfin D'Evreux mitteilen müssen, daß sie nun die Herrin des Grafensitzes ist.« Der kurze Ausdruck von Verwirrung auf dem Gesicht von Sir Pierre sagte ihm, daß sich dieser über die Folgen des Geschehens noch nicht völlig klar geworden sein konnte. »Ich werde es ihr sagen, Pierre. Sie müßte mittlerweile in ihrem Kirchstuhl sein. Tretet einfach in die Kirche und teilt ihr leise mit, daß ich sie zu sprechen wünsche, nichts weiter.« »Ich verstehe, Vater«, sagte Sir Pierre. Es befanden sich ungefähr fünfundzwanzig oder dreißig Menschen in der Kirche, die meisten von ihnen Frauen, aber Lady Alice war nicht darunter. Sir Pierre ging unauffällig den Gang entlang und schritt hinaus in die Kirchenvorhalle. Dort stand sie und richtete soeben ihr Schleiertuch, als sei sie eben erst von draußen eingetreten. Plötzlich war Sir Pierre sehr froh, daß nicht er es sein mußte, der ihr die Nachricht zu übermitteln hatte. Wie immer sah sie etwas traurig aus, ohne ein Lächeln in ihrem schlichten Gesicht. Die gerade Nase und das eckige Kinn, die ihrem Bruder ein Aussehen aggressiver Männlichkeit verliehen hatte, ließen sie nur sehr ernst und beinahe geschlechtslos erscheinen, obwohl sie eine sehr gute Figur hatte. »My Lady«, sagte Sir Pierre und schritt auf sie zu, »der Hochwürdige Vater würde Euch gerne noch vor der Messe sprechen. Er wartet an der Sakristeitür.« Sie umklammerte ihren Rosenkranz und atmete erschreckt auf. »Oh! Sir Pierre! Es tut mir leid, Ihr habt mich erschreckt, ich habe Euch gar nicht kommen sehen.« »Bitte um Verzeihung, My Lady.« »Schon gut, ich war mit meinen Gedanken woanders. Führt Ihr mich bitte zu dem guten Vater?« Vater Bright hörte ihre Schritte, noch bevor er Lady Alice sah. Er war etwas nervös, denn es war schon eine Minute über die Zeit. Die Messe hätte genau um 07.15 Uhr beginnen sollen. Die neue Gräfin D'Evreux nahm die Nachricht genauso gefaßt auf, wie er es erwartete hatte. Nach einer kurzen Weile bekreuzigte sie sich und sagte: »Möge seine Seele in Frieden ruhen! Ich lege alles in Eure Hände, Vater, Sir Pierre. Was sollen wir jetzt tun?« »Pierre muß sofort per Teleklang Seine Hoheit in Rouen verständigen. Ich werde den Tod Eures Bruders ansagen und um Gebete für seine Seele bitten, aber
ich werde wohl nichts über die Todesumstände zu sagen brauchen. Wir brauchen die Aufregung und die Gerüchte nicht auch noch künstlich zu schüren.« »Gut«, sagte die Gräfin. »Kommt, Sir Pierre; ich werde mit meinem Cousin, dem Herzog, persönlich reden.« »Sehr wohl, My Lady.« Vater Bright wandte sich ab und ging daran, eine Messe für die Seelen der dahingegangenen Gemeindemitglieder zu lesen — in der Hoffnung, daß sich die Seele des Grafen auch darunter befinden möge. Die Uhr zeigte 07.17. Seine Königliche Hoheit, der Herzog der Normandie überflog das Dienstschreiben, das sein Sekretär soeben für ihn getippt hatte. Es war adressiert an Serenissimo Domino Nostro Johanni Quarte, Dei Gratia, Angliae, Franciae, Scotiae, Novae Angliae et Novae Franciae, Rex, Imperator, Fidei Defensor . . . »Unserem Durchlauchtesten Herrn, John IV, von Gottes Gnaden König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Verteidiger des Glaubens . . .« Es war eine Routineangelegenheit, eine einfache Benachrichtigung seines Bruder, des Königs, «daß Seiner Majestät höchst gehorsamer Diener, Edouard, Graf von Evreux, aus dem Leben geschieden sei, mit der Bitte, daß Seine Majestät die rechtmäßige Erbfolge von Alice, Gräfin von Evreux bestätigen möge. Seine Hoheit nickte und kritzelte seine Unterschrift unter das Schreiben: Ricardus Dux Normaniae. Dann schrieb er auf ein anderes Papier: »Lieber John, darf ich den Vorschlag machen, daß du die Sache vorläufig diskret behandelst? Edouard war ein Wüstling und ein echter Stinker, und ich bin mir sicher, daß er nur bekommen hat, was er verdient; aber wir wissen nicht, wer ihn umgebracht hat. Trotz allen gegenteiligen Beweismaterials könnte es sogar Alice gewesen sein, die abgedrückt hat. Sobald wir mehr wissen, lasse ich dich informieren. Liebevoll, Dein Bruder und Diener, Richard.« Er steckte beide Papiere in einen Umschlag und versiegelte ihn. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er per Teleklang mit dem König hätte sprechen können, aber bisher hatte noch niemand herausgefunden, wie man die Drähte über den Kanal spannen könnte. Geistesabwesend blickte er auf den versiegelten Umschlag. Seine gutaussehenden Gesichtszüge, von blondem Haar umrahmt, wirkten nachdenklich. Das Haus der Plantagenets herrschte schon seit acht Jahrhunderten, und das Blut von Henry D'Anjou floß nur noch dünn in seinen Adern, doch war die normannische Komponente noch genauso stark wie ehedem, da sie über die Jahrhunderte durch norwegische und dänische Prinzessinnen immer wieder aufgefrischt worden war. Richards Mutter, Queen Helga, Gattin des seligen Charles III, sprach nur wenige Brocken Anglo-Französisch, und die auch noch mit starkem nordischen Akzent. Trotzdem hatten weder Richards Sprache noch sein Benehmen und Auftreten etwas Skandinavisches. Er war nicht nur ein Mitglied der ältesten und am längsten herrschenden Familie Europas, sondern er trug auch noch einen Namen, der selbst in dieser hervorragenden Familie als besonders ruhmreich galt. Sieben Könige des Reichs hatten diesen Namen getragen, und die meisten von ihnen waren gute Herrscher gewesen, wenn auch vielleicht nicht immer >gute< Menschen in dem Sinne, wie alte Jungfern davon sprechen mochten. Selbst der alte Richard I, der es in seinen ersten vierzig Lebensjahren ganz schön wild getrieben hatte, war schließlich zur Ruhe gekommen und war ein prächtiger König geworden, zwanzig Jahre lang. Die lange und schmerzhafte Genesung von seiner schweren Verwundung bei der Belagerung von Chaluz hatte ihn zum besseren gewandelt. Auch Richard hatte eine Chance, eventuell einmal als König seinem Namen Ehre zu machen, auch wenn es vorerst wahrscheinlicher war, daß das Parlament, das von Gesetzes wegen einen Plantagenet nach dem eventuellen Tod des jetzigen Herrschers wählen mußte, den beiden Söhnen des Königs, dem Prinzen von Britannien und dem Herzog von Lancaster, den Vorzug geben würde. In der Zwischenzeit würde er als Herzog der Normandie die Fahne hochhalten. Ein Mord war geschehen, folglich mußte auch Recht geschehen. Der Graf von Evreux war für seine strenge aber gerechte Rechtsprechung ebenso bekannt gewesen wie für seine Lasterhaftigkeit. Und so wie seine Vergnügungen ohne Maßhalten gewesen waren, so war seine Gerechtigkeit auch ohne Gnade gewesen. Wer immer ihn getötet haben mochte, würde sowohl Gerechtigkeit als auch Gnade finden, jedenfalls soweit dies in Richards Möglichkeit stand. Wenn er es auch nicht so ausdrückte, so war Richard doch der Ansicht, daß eine entehrte Frau oder ein gehörnter Ehemann den tödlichen Schuß abgegeben hatte. Folglich fand er sich geneigt, an Gnade zu denken, bevor er überhaupt wirklich etwas über den Fall wußte. Richard warf den Umschlag in den Sonderkuriersack, der an diesem Abend noch den Kanal überqueren würde, und
drehte sich dann in seinem Stuhl um, um den mageren Mann in mittleren Jahren anzublicken, der am anderen Ende des Raums an einem Schreibtisch saß und arbeitete. »My Lord Marquis«, sagte er nachdenklich. »Jawohl, Euer Hoheit?« fragte der Marquis von Rouen und blickte auf. »Wie wahr sind die Geschichten, die man über den verstorbenen Grafen hört?« »Wie wahr, Euer Hoheit?« fragte der Marquis stirnrunzelnd. »Es fällt mir schwer, einen Prozentsatz festzusetzen. Wenn jemand erst einmal in einen solchen Ruf geraten ist, dann übersteigt die Zahl seiner angeblichen Sünden sehr bald die seiner tatsächlichen Missetaten. Viele von den Geschichten sind zweifellos wahr, andere wiederum wahrscheinlich nur teilweise. Auf der anderen Seite ist es sehr wahrscheinlich, daß wir sehr viele noch gar nicht gehört haben dürften. Es ist jedenfalls absolut sicher, daß er sieben nicht-eheliche Söhne anerkannt hat, und ich schätze, daß er dabei einige Töchter übergangen haben dürfte. Alles Kinder, wohlgemerkt, von unverheirateten Müttern. Seine Ehebrüche lassen sich wohl wesentlich schwerer nachweisen, aber ich glaube, Euer Hoheit können es als gesichert gelten lassen, daß solche Eskapaden alles andere als selten gewesen sein dürften.« Er räusperte sich. »Wenn Euer Hoheit nach dem Täter über das Motiv suchen sollten, dann fürchte ich, daß es viel zu viele Personen mit einem Motiv gibt.« »Verstehe«, sagte der Herzog. »Well, dann warten wir einmal, mit welcher Information Lord Darcy aufwarten wird.« Er blickte auf die Uhr. »Sie müßten inzwischen dort angekommen sein.« »My Lady«, sagte Sir Pierre sanft, »die Inspektoren des Herzogs sind eingetroffen.« My Lady Alice, Gräfin D'Evreux, saß in einem Goldbrokatstuhl des kleinen Empfangszimmers abseits der Großen Halle. Mit ernstem Gesicht stand Vater Bright neben ihr. Vor den strahlenden Farben der Zimmerwände wirkten die beiden Männer wie Tintenflecke. Vater Bright trug sein kirchliches Schwarz, das nur durch makellos weiße Spitzenmanschetten und einem ebensolchen Kragen gemildert wurde. Die Gräfin trug ein Kleid aus schwarzem Samt ohne jeden Schmuck. »Führt sie herein, Sir Pierre«, sagte die Gräfin ruhig. Sir Pierre öffnete die Tür, und die drei Männer traten ein. Einer von ihnen war wie ein Adliger gekleidet, die beiden anderen trugen die Livree des Herzogs. Der Adlige verbeugte sich. »Ich bin Lord Darcy, Chef Inspektor Seiner Herzoglichen Hoheit, und stehe zu Euren Diensten, My Lady.« Er war groß, braunhaarig und hatte ein recht gut aussehendes hageres Gesicht. Er sprach das Anglo-Französische mit einem eindeutig englischen Akzent. »Sehr angenehm, Lord Darcy«, sagte die Gräfin. »Dies ist unser Vikar, Vater Bright.« »Zu Diensten, Hochwürden.« Dann stellte er die beiden Männer in seiner Begleitung vor. Der erste war ein gelehrt aussehender, grauhaariger Mann mit einem goldumrandeten Kneifer, Dr. Pateley, Chirurgus. Der zweite, ein rundlicher, lächelnder Mann mit rotem Gesicht war Master Sean O Lochlainn, Hexer. Sobald Master Sean vorgestellt worden war, zog er ein kleines, in Leder gebundenes Heft hervor und reichte es dem Priester. »Meine Lizenz, Hochwürdiger Vater.« Vater Bright besah sich das Heft. Es war die übliche Lizenz, unterschrieben und besiegelt vom Erzbischof von Rouen. Das Gesetz war in diesen Angelegenheiten sehr strikt; kein Hexer durfte ohne Genehmigung der Kirche praktizieren, und eine Lizenz wurde nur nach einer genauen Überprüfung der Rechtschaffenheit des Hexers verliehen. »Völlig in Ordnung, Master Sean«, sagte der Priester. Lord Darcy hatte sein Notizheft gezückt. »Es mag zwar unangenehm sein, aber wir müssen ein paar Dinge überprüfen.« Er blickte auf den Block, dann sah er Sir Pierre an. »Ihr habt also den Leichnam entdeckt?« »Das ist richtig, Euer Lordschaft.« »Wie lange ist das her?« Sir Pierre sah auf seine Armbanduhr. Es war 09.55 Uhr. »Vor nicht ganz drei Stunden, Euer Lordschaft.« »Wann genau?« »Punkt sieben Uhr habe ich an die Tür geklopft, und ungefähr ein oder zwei Minuten später bin ich eingetreten, sagen wir also um 07.01 oder 07.02.« »Woher wißt Ihr das so genau?« »My Lord, der Graf«, sagte Sir Pierre ziemlich steif, »bestand auf peinlichster Pünktlichkeit. Ich habe mir angewöhnt, regelmäßig auf die Uhr zu blicken.« »Ich verstehe. Sehr gut. Und was habt Ihr dann getan?« Sir Pierre beschrieb es ihm. »Die Tür zu seiner Zimmerflucht war also nicht abgeschlossen?« »Nein, Sir.« »Ihr habt auch nicht damit gerechnet, daß sie abgeschlossen sein könnte?« »Nein, Sir. Das ist in siebzehn Jahren niemals der Fall gewesen.« Lord Darcy hob eine Augenbraue. »Niemals?« »Nicht um sieben Uhr, Euer Lordschaft. My Lord der Graf stand immer um Punkt sechs Uhr auf und schloß die Tür vor sieben Uhr auf.« »Nachts hat er sie also abgeschlossen?« »Jawohl, Sir.« Lord Darcy dachte kurz nach und machte sich eine Notiz, ohne das Thema jedoch noch einmal anzuschneiden. »Als Ihr gegangen seid, habt Ihr die Tür
abgeschlossen?« »Das ist richtig, Euer Lordschaft.« »Und seitdem ist sie verschlossen geblieben?« Sir Pierre zögerte und sah Vater Bright an. Der Priester sagte: »Um 08.15 Uhr sind Pierre und ich ins Zimmer gegangen. Ich wollte die Leiche sehen. Wir haben nichts angerührt und sind um 08.20 wieder gegangen.« Master Sean O Lochlainn sah beunruhigt aus. »Eh . . . entschuldigt, Hochwürden. Ihr habt ihm doch wohl nicht die Letzte Ölung verabreicht?« »Nein«, sagte Vater Bright. »Ich dachte mir, daß es besser wäre, damit zu warten, bis die Behörden die ... eh ... den Tatort besichtigt hätten. Ich wollte die Beweisaufnahme nicht behindern.« »Sehr richtig«, murmelte Lord Darcy. »Kein Segen, hoffe ich, Hochwürden?« beharrte Master Sean. »Kein Exorzismus oder . . .« »Nichts dergleichen«, erwiderte Vater Bright ein wenig pikiert. »Ich glaube, ich habe mich bekreuzigt, als ich die Leiche sah, aber sonst nichts.« »Euch bekreuzigt, Sir, sonst nichts?« »Nein.« »Na, dann ist ja alles in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich so bohren muß, aber jegliche Rückstände des Bösen, die noch vorhanden sein mögen, sind ein sehr wichtiges Indiz und sollten nicht beseitigt werden, bevor sie untersucht wurden, Ihr versteht?« »Rückstände des Bösen!« fragte die Gräfin schockiert. »Es tut mir leid, My Lady, aber . . .« »Regt Euch nicht auf, meine Tochter«, unterbrach Vater Bright den Hexer. »Diese Männer erfüllen nur ihre Pflicht.« »Natürlich, ich verstehe. Es ist nur so . . .« Sie zitterte. Lord Darcy warf Master Sean einen warnenden Blick zu und fragte höflich. »Haben My Lady den Verstorbenen gesehen?« »Nein«, antwortete sie, »das will ich aber, wenn Ihr es verlangt.« »Wir werden sehen«, sagte Lord Darcy. »Vielleicht ist es ja nicht nötig. Können wir uns den Tatort ansehen?« »Selbstverständlich«, sagte die Gräfin. »Sir Pierre, ich darf Euch bitten?« »Sehr wohl, My Lady.« Während Sir Pierre die Wappentür aufschloß, fragte Lord Darcy: »Wer schläft noch auf dieser Etage?« »Niemand, Euer Lordschaft. Die ganze Etage ist ... war für My Lord den Grafen reserviert.« »Gibt es noch einen anderen Aufgang, außer dem Aufzug?« Sir Pierre zeigte auf eine Tür am anderen Ende der Halle. »Die führt zur Treppe, aber sie wird stets verschlossen gehalten. Wie Ihr sehen könnt, ist ein schwerer Riegel davor. Sie wird nie benutzt, nur um manchmal schwere Möbel hinein- oder herauszutragen oder etwas ähnliches.« »Es gibt also gar keinen anderen Weg?« Sir Pierre zögerte. »Nun, doch, Euer Lordschaft. Ich zeige ihn Euch.« »Eine Geheimtreppe?« »Jawohl, Euer Lordschaft.« »Gut, wir werden sie uns ansehen, nachdem wir die Leiche untersucht haben.« Die Leiche lag im Schlafzimmer, so wie Sir Pierre und Vater Bright sie verlassen hatten. »Wenn ich bitten darf, Dr. Pateley«, sagte Seine Lordschaft. Lord Darcy kniete neben der Leiche nieder und sah aufmerksam zu, während Dr. Pateley auf der anderen Seite niederkniete und das Gesicht des Toten betrachtete. Denn berührte der Chirurgus eine Hand der Leiche und versuchte, den Arm zu bewegen. »Die Starre ist eingetreten, sogar in den Fingern. Einzelnes Geschoßloch. Ziemlich kleines Kaliber, ,28er oder .34er, würde ich sagen; läßt sich mit Gewißheit erst sagen, nachdem ich das Geschoß entfernt habe. Scheint aber genau durchs Herz geschlagen zu sein. Pulververbrennungen sind schwer zu bestimmen, das Blut ist in den Stoff gesickert und getrocknet. Immerhin, diese Flecken . . . hm, ja ... hm.« Lord Darcy besah sich alles aufmerksam, dann fiel ihm ein goldenes Schimmern auf. Er erhob sich und lugte unter das Himmelbett. Eine Münze? Nein. Er hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn. Ein Knopf. Gold, mit feiner Arabeskenarbeit graviert, in der Mitte ein einzelner Diamant gefaßt. Wie lang hatte er dort schon gelegen? Woher stammte er? Jedenfalls nicht von der Garderobe des Grafen, die hatte andere Knöpfe, kleiner, mit eingraviertem Wappen. Hatte ein Mann oder eine Frau ihn verloren? Das ließ sich jetzt noch nicht sagen. Darcy wandte sich an Pierre. »Wann ist dieser Raum das letzte Mal saubergemacht worden?« »Gestern abend, Euer Lordschaft. My Lord war immer sehr eigen in dieser Hinsicht, der Raum mußte jeden Abend zu Dinnerzeit gereinigt werden.« »Dann muß er nach dem Dinner unter das Bett gerollt sein. Erkennt Ihr das hier? Das Design ist ungewöhnlich.« Der Privatsekretär sah den Knopf in Lord Darcys Hand genau an, ohne ihn zu berühren. »Ich . . . ich zögere, es zu sagen. Es sieht aus, als ob ... aber ich bin mir nicht sicher . . .« »Aber, aber, Chevalier! Wo könntet Ihr den denn gesehen haben? Oder einen ähnlichen?« Lord Darcys Stimme hatte einen scharfen Unterton. »Ich versuche nicht, etwas zu verbergen, Euer Lordschaft«, sagte Sir Pierre mit gleicher Schärfe. »Ich sagte, daß ich mir nicht sicher sei. Das bin ich immer noch nicht, aber es läßt sich leicht überprüfen. Wenn Euer Lordschaft gestatten . . .« Er wandte sich Dr. Pateley zu. »Darf ich um My Lords Schlüssel bitten, Doktor?« Da Lord Darcy nickte, gab der
Chirurgus ihm die Schlüssel vom Gürtel des toten Grafen. Der Privatsekretär wählte einen kleinen Goldschlüssel und sagte: »Das ist der richtige. Wollt Ihr mir bitte folgen, Euer Lordschaft?« Lord Darcy folgte ihm durchs Zimmer an eine Wand, deren Behänge noch aus dem sechzehnten Jahrhundert zu stammen schienen. Sir Pierre griff dahinter und zog an einer Kordel. Der gesamte Vorhang schob sich wie auf einer Schiene zur Seite und offenbarte eine scheinbar ganz gewöhnliche Eichentäfelung. Sir Pierre aber steckte den Schlüssel in ein unauffälliges Loch und drehte ihn herum. Das heißt, er versuchte es. »Das ist aber merkwürdig«, sagte Sir Pierre. »Es ist ja gar nicht abgeschlossen!« Er zog den Schlüssel wieder heraus und drückte auf die Eichentafel, wobei er sie beiseite schob. Dahinter befand sich ein Wandschrank voller Frauenkleider in allen möglichen Stilrichtungen und Moden. Lord Darcy stieß einen fast geräuschlosen Pfiff aus. »Die blaue Robe, Euer Lordschaft, das ist die richtige«, sagte Sir Pierre. Lord Darcy nahm sie vom Bügel herunter. Die gleichen Knöpfe. Und einer fehlte, war abgerissen worden! »Master Sean!« rief er, ohne sich umzudrehen. Master Sean trat in seinem schweren, fast wälzenden Gang dazu. In seiner Hand hielt er einen seltsamen Gegenstand aus Bronze, den Sir Pierre nicht erkannte. Der Hexer war dabei, vor sich hinzubrummen. »Böses, das ist hier, fürwahr, fürwahr, überall schwingt es. Ja, My Lord?« »Überprüft dieses Kleid und den Knopf, wenn Ihr an der Reihe seid. Ich möchte wissen, wann die beiden voneinander getrennt wurden.« »Jawohl, My Lord.« Er nahm die Robe über den Arm und steckte den Knopf in seine Gürteltasche. »Eins kann ich Euch sagen, My Lord. Rückstände des Bösen, die haben wir hier, und zwar nicht zu knapp!« Er hielt den Gegenstand aus Bronze hoch. »Hat einen festen Hintergrund, etwas, was schon jahrelang hier hereingesickert ist. Aber damit nicht genug, da ist auch eine höllische Menge auf einmal draufgekommen, hat es überlagert. Sehr frisch und sehr kräftig.« »Das wundert mich nicht, schließlich ist hier letzte Nacht ein Mord geschehen, oder heute früh.« »Hm, hm, ja ja, My Lord, der Tod ist auch dabei, aber da ist noch etwas anderes. Etwas, was ich nicht genau ausmachen kann.« »Das bekommt Ihr alles dadurch heraus, daß Ihr dieses Bronzekreuz hochhaltet?« fragte Sir Pierre interessiert. Master Sean sah ihn auf eine freundliche Weise brummig an. »'s ist nicht ganz ein Kreuz, Sir. Man nennt es crux ansat a. Die alten Ägypter nannten es ankh. Bemerkt bitteschön die Schlaufe anstelle des kurzen geraden Stücks, wie es das gewöhnliche Kreuz hat. Wenn man nun ein richtiges Kreuz aufladen würde, durchsegnen eben, dann würde es das Böse vertreiben. Der ankh reagiert auf Böses nur mit Schwingungen, wegen der Schlaufe oben, die einen kurzgeschlossenen Kreislauf bewirkt. Und er wurde auch nicht durch einen Segen aufgeladen, sondern durch einen anderen ... eh ... Zauber.« »Master Sean, wir sollen hier einen Mord aufklären«, sagte Lord Darcy. Der Hexer erkannte sofort die Bedeutung seines Tonfalls und nickte schnell. »Jawohl, My Lord.« Und er wälzte sich wieder davon. »Gut, wo ist jetzt die Geheimtreppe?« »Hier entlang, Euer Lordschaft.« Sir Pierre führte Lord Darcy zu einer Wand, die mit der äußeren Wand einen rechten Winkel bildete, und schob einen weiteren Wandvorhang beiseite. »Meine Güte«, brummte Lord Darcy, »hat er denn hinter allem was versteckt?« Aber er sagte es nicht so laut, daß der Privatsekretär es hören konnte. Diesmal sahen sie eine solide scheinende Steinwand vor sich. Aber Sir Pierre drückte auf einen kleinen Stein, und ein Teil der Wand schwang zurück. .Dahinter war eine Treppe zu sehen. »Aha, ich verstehe«, sagte Darcy. »Dies ist die alte Wendeltreppe, die sich im Hauptturm befindet. Unten befinden sich zwei Türen, die eine führt in den Hof, die andere ist eine Hintertür nach draußen, aber die wurde schon im sechzehnten Jahrhundert zugemauert, also kann man nur über den Hof nach draußen.« »Euer Lordschaft kennen Schloß D'Evreux also?« fragte Sir Pierre erstaunt. »Nur die Pläne, die sich in den Königliche Archiven befinden. Aber ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht . . .« Darcy hielt inne. »Oho, was ist denn das dort?« Es lag ungefähr einen Fuß von der Geheimtür entfernt am Boden, zum Teil noch von dem Gobelin verdeckt, den Sir Pierre zurückgezogen hatte. Dacry beugte sich vor und zog den Rest des Vorhanges beiseite. »Well! eine .28er Taschenpistole, zweischüssig. Vergoldet, fein graviert, Perlmuttgriff, ein richtiges Schmuckstück!« Er hob die Waffe auf und betrachtete sie. »Ein Schuß abgefeuert!« Er zeigte Sir Pierre die Pistole. »Schon mal irgendwo gesehen?« Der Privatsekretär besah sie sich genau und schüttelte dann den Kopf. »Nicht daß ich wüßte, Euer Lordschaft. Jedenfalls ist es keine von den Waffen des Grafen.« »Seid Ihr sicher?« »Völlig
sicher, Euer Lordschaft. Ich kann Euch die Waffensammlung zeigen, wenn Ihr wünscht. My Lord der Graf mochte keine solch kleinen Waffen, er zog größere Kaliber vor. Nie hätte er eine Waffe behalten, die für ihn nur ein Spielzeug gewesen wäre.« »Gut, wir werden der Sache nachgehen müssen.« Er rief Master Sean und gab ihm die Pistole. »Und haltet die Augen offen, Master Sean! Bisher hat sich alles, was in diesem Fall von Interesse sein könnte, mit Ausnahme des seligen Grafen selbst, hinter Gobelins, unter Betten und so weiter verborgen. Kontrolliert alles! Sir Pierre und ich werden uns diese Treppe anschauen.« Die Wendeltreppe war düster, aber durch die Schießscharten in den Wänden kam ausreichend Licht hinein. Sie machte vier Drehungen im Hauptturm, bevor sie im Erdgeschoß endete. Lord Darcy besah sich alles sehr aufmerksam und blieb auf dem Geschoß unmittelbar unter der Zimmerflucht des Grafen plötzlich stehen. »Hier war einmal eine Tür«, sagte er und deutete auf einen rechteckigen Teil der Innenwand. »Ja, Euer Lordschaft. Früher gab es in jedem Geschoß eine Öffnung, aber man hat sie alle versiegelt. Es ist alles sehr massiv, wie Ihr selbst feststellen könnt.« »Wo würden sie denn hinführen, wenn sie offen wären?« »Zu den grafschaftlichen Büros. Mein eigenes Büro, die Büros der Sekretäre, dazu die Gendarmeriebüros im ersten Stock. Darunter befinden sich die Kerker. My Lord der Graf war der einzige, der den Hauptturm bewohnte. Der Rest des Haushalts lebt über der Großen Halle.« »Und Gäste?« »Werden meistens im Ostflügel untergebracht. Wir haben nur zwei Hausgäste zur Zeit. Laird und Lady Duncan sind seit vier Tagen hier.« »Ich verstehe.« Sie schritten noch vier Stufen hinunter, dann fragte Lord Darcy leise: »Sagt mir, Sir Pierre, wart Ihr in alle Geschäfte des Grafen eingeweiht?« Sir Pierre antwortete erst nach vier weiteren Stufen. »Ich verstehe, was Euer Lordschaft meinen«, sagte er. Zwei weitere Stufen. »Nein, das war ich nicht. Ich wußte, daß My Lord der Graf, eh ... Beziehungen zum anderen Geschlecht unterhielt. Aber . . .« Er hielt inne, und trotz der Dunkelheit konnte Lord Darcy sehen, wie sich seine Lippen versteiften. »Aber«, fuhr er langsam fort, »ich habe My Lord nie eine beschafft, wenn Ihr das wissen wollt. Ich bin kein Zuhälter und bin es auch nie gewesen.« »Ich hatte in keiner Weise vor, so etwas anzudeuten, guter Chevalier«, sagte Lord Darcy in aufrichtigem Ton. »Ganz und gar nicht! Aber es gibt doch wohl einen Unterschied zwischen Handlangerdiensten und Mitwissern.« »Oh. Ja, ja natürlich. Nun ja, man kann natürlich nicht siebzehn Jahre lang Privatsekretär eines Gentleman wie des Grafen bleiben, ohne Kenntnis davon zu erlangen, was, eh, was so alles vorgeht, das stimmt. Ja. Ja. Hm!« Lord Darcy lächelte vor sich hin. Erst jetzt war Sir Pierre klar geworden, wieviel er eigentlich tatsächlich gewußt hatte. Aus Loyalität gegenüber dem Grafen hatte er siebzehn Jahre lang seine Augen buchstäblich verschlossen gehalten. »Es ist mir klar«, fuhr Lord Darcy elegant einlenkend fort, »daß ein Gentleman niemals eine Dame oder den Ruf eines anderen Gentleman kompromittieren würde, ohne einen guten Grund dafür zu haben. Aber . . . fragen wir einmal so: Wir wissen, daß er nicht sehr diskret war. War er denn auch wählerisch?« »Wenn Euer Lordschaft damit meinen, ob er sich auf Damen von Adel beschränkte, dann kann ich sagen, daß dies nicht der Fall gewesen ist. Solltet Ihr damit fragen, ob er sich ausschließlich mit dem schwachen Geschlecht beschäftigte, so kann ich nur sagen, daß dies, soweit ich weiß, der Fall war.« »Ich verstehe. Das erklärt den Schrank voller Kleider.« »Euer Lordschaft meinen?« »Ich meine, daß er, wenn ein Mädchen oder eine Frau niedrigen Standes ... zu Besuch kam, genügend Kleidung für sie vorrätig hatte.« »Sehr wahrscheinlich, Euer Lordschaft. Er achtete peinlich genau auf Kleidung. Konnte keine Frau leiden, die unordentlich oder ärmlich gekleidet war.« »Auf welche Weise?« »Nun, ich erinnere mich beispielsweise daran, daß er einmal ein sehr hübsches Bauernmädchen sah, von dem er sehr angetan war. Sie war natürlich sehr einfach gekleidet, aber ordentlich und gepflegt. My Lord sagte: >Da habt Ihr ein Mädel, das weiß, wie man sich anzuziehen hat. Steckt sie in anständige Kleider, und sie könnte als Prinzessin durchgehen^ Aber ein Mädchen, das vielleicht ein hübsches Gesicht und eine gute Figur hatte, konnte ihn nicht beeindrucken, wenn sie ihre Kleidung nicht anmutig auszurichten verstand.« »Wenn man die Kleidung in dem Schrank bedenkt, dann scheint der verstorbene Graf einen ausgezeichneten Geschmack gehabt zu haben.« Sir Pierre dachte darüber nach. »Hm! Nun ja, My Lord, das würde ich nicht ganz so ausdrücken. Er wußte eigentlich nur, wie Kleidung zu tragen sei, aber er war nicht fähig, sie selbst auszusuchen, von Kleiderschnitten und so weiter verstand er nichts.« »Wie hat er denn dann die ganzen Kleider im Wandschrank sammeln
können?« fragte Lord Darcy verblüfft. Sir Pierre lachte leise in sich hinein. »Sehr einfach, Euer Lordschaft! Er wußte, daß Lady Alice einen guten Geschmack hatte, also ordnete er heimlich an, daß jedes Stück, das Lady Alice anfertigen ließ, kopiert werden sollte. Natürlich mit kleinen Änderungen. Ich bin sicher, daß die Lady nicht sehr erfreut wäre, wenn sie es erführe.« »Nein, das glaube ich auch«, stimmte Darcy nachdenklich zu. »Hier ist die Tür zum Hof«, erklärte Sir Pierre. »Ich bezweifle, daß sie in den letzten Jahren jemals bei hellem Tageslicht geöffnet worden ist.« Er nahm einen Schlüssel vom Bund des Grafen und öffnete das Schloß. Die Tür schwang auf und offenbarte auf ihrer Außenfläche ein großes, daran befestigtes Kruzifix. Lord Darcy bekreuzigte sich. »Guter Gott, was ist das denn?« Er blickte in einen kleinen Schrein, der vom Hof abgemauert war und zehn Fuß von ihrer Öffnung entfernt einen einzigen kleinen Eingang aufwies. Im Raum standen vier kleine Betschemel. »Wenn ich eine Erklärung geben soll, Euer Lordschaft . . .« fing Sir Pierre an. »Nicht nötig«, sagte Lord Darcy mit harter Stimme. »Es ist ziemlich offensichtlich. My Lord der Graf war recht einfallsreich. Dies ist ein verhältnismäßig neuer Schrein, vier Wände und ein Kruzifix, an die Schloßwand angebaut. Jeder konnte Tag und Nacht hierher kommen, um zu beten, niemand würde dabei auffallen.« Er schritt in den kleinen Raum und drehte sich um, um die Tür zu betrachten. »Und wenn die Tür geschlossen ist, dann weist nichts darauf hin, daß sich hinter dem Kruzifix eine Öffnung befindet. Wenn eine Frau hier hereinkam, dann nahm man an, daß sie beten wollte. Aber wenn sie von dieser Tür wußte . . .« Er beendete den Satz nicht. »Ja, Euer Lordschaft«, sagte Sir Pierre. »Ich habe es nicht gebilligt, aber es stand mir nicht zu, es zu mißbilligen.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy, machte einen Schritt rückwärts und sah sich um. »Also konnte jeder, der sich innerhalb der Schloßmauern befand, von hier in die Gemächer des Grafen gelangen.« »Ja, Euer Lordschaft.« »Nun gut. Begeben wir uns wieder nach oben.« In dem kleinen Büro, das man Lord Darcy und seinem Stab für die Dauer der Untersuchungen zugewiesen hatte, beobachteten drei Männer, wie ein vierter ihnen etwas vorführte. An einem Tisch in der Mitte des Raums stand Master Sean O Lochlainn und hielt einen feingravierten Arabeskenknopf mit einem in der Mitte eingefaßten Diamanten hoch. Er sah die anderen drei an. »Nun, My Lord, Hochwürden und Kollege Doktor, ich bitte um Eure Aufmerksamkeit für diesen Knopf.« Dr. Pateley lächelte, während Vater Bright ernst dreinblickte. Lord Darcy war lediglich damit beschäftigt, aus den südlichen Golfkolonien Neuenglands importierten Tabak in eine Porzellanpfeife aus deutscher Manufaktur zu stopfen. Er gönnte Master Sean die Möglichkeit, sich ein wenig aufzuspielen; gute Hexer waren schwer zu finden. »Würdet Ihr bitte die Robe halten, Dr. Pateley? Danke. Jetzt ein wenig zurücktreten, so, danke, ja. Jetzt lege ich den Knopf auf den Tisch, gut zehn Fuß von der Robe entfernt.« Er murmelte leise ein paar Formeln und stäubte ein wenig Pulver auf den Knopf, strich mit den Händen ein paarmal darüber und blickte Vater Bright an. »Hochwürden?« Vater Bright hob feierlich die rechte Hand und sagte, während er das Zeichen des Kreuzes machte: »Herr unser Gott, möge diese Vorführung in vollem Einklang mit der Wahrheit sein und möge der Leibhaftige uns, die wir hier als Zeugen anwesend sind, nicht in die Irre führen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.« »Amen«, sagten die anderen drei im Chor. Master Sean bekreuzigte sich und murmelte etwas vor sich hin. Der Knopf sprang vom Tisch hoch und heftete sich mit großer Gewalt so fest an das Kleidungsstück, als sei er von einem Schneidermeister daran befestigt worden. »Ha!« sagte Master Sean. »Wie ich's mir gedacht habe!« Er gönnte den drei Männern ein breites Lächeln. »Die beiden gehörten mit absoluter Sicherheit zusammen!« Lord Darcy sah gelangweilt aus. »Zeit?« fragte er. »Einen Augenblick noch, My Lord«, sagte Master Sean. »Einen Augenblick.« Während die anderen zusahen, führte er einige weitere Beschwörungen durch, obwohl keine von ihnen so spektakulär wie die erste war. Schließlich sagte Master Sean: »Sie wurden ungefähr um 11.30 Uhr gestern abend voneinander getrennt, My Lord. Aber ich möchte mich nur darauf festlegen, daß es zwischen elf und Mitternacht gewesen sein muß. Die Schnelligkeit, mit der der Knopf zurückgesprungen ist, deutet darauf hin, daß er sehr heftig abgerissen worden ist.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. »Jetzt das Projektil, bitte.« »Jawohl, My Lord. Das funktioniert etwas anders.« Er entnahm seinem symbolverzierten Reisesack einige weitere Utensilien. »Das Gesetz der Ansteckung, edle Sirs, ist eine recht verzwickte Angelegenheit. Wenn man nicht weiß, wie man
es zu handhaben hat, dann kann es einen leicht das Leben kosten. Damals in Cork hatten wir in der Gilde einen Zauberlehrling, der einmal ein guter Hexer hätte werden können. Er hatte das Talent; leider, so muß man hinzufügen, konnte er aber nicht vernünftig damit umgehen. Nach dem Gesetz der Ansteckung haben zwei Gegenstände, die jemals miteinander in Verbindung gestanden haben, eine gemeinsame Affinität, die sich direkt proportional zu dem Produkt der Relevanz des Kontakts zueinander und der Zeitdauer des Kontakts verhält, aber umgekehrt proportional zu der Zeitdauer der Trennung voneinander.« Er lächelte den Priester an. »Das gilt natürlich nicht in gleichem Ausmaß für Heiligenreliquien, Hochwürdiger Sir; da kommt noch ein anderer Faktor hinzu, wie Ihr wißt.« Während er sprach, klemmte der Hexer die kleine Handfeuerwaffe vorsichtig in einen gepolsterten Schraubstock, so daß ihr Lauf parallel zur Tischplatte lag. »Jedenfalls beschloß dieser Zauberlehrling auf eigene Faust, die Küchenschaben im Haus zu beseitigen, was eigentlich ziemlich einfach ist, wenn man weiß, wie man es zu machen hat. Also sammelte er aus allen möglichen Ecken und Ritzen des Hauses Staub, der natürlich die Ausscheidungen des Ungeziefers enthielt. Diesen Staub kochte er unter Beachtung der angemessenen Beschwörungen. Es funktionierte wunderbar, die Küchenschaben bekamen alle Fieber und starben weg. Leider hatte der ungeschickte Junge keine sorgfältige Labortechnik zur Verfügung, so daß drei seiner Schweißtropfen in die Brühe fielen, während er über dem dampfenden Kessel mit seinem Werkzeug hantierte, so daß ihn das Fieber dahinraffte wie eine Schabe.« In der Zwischenzeit hatte er das Geschoß, das Dr. Pateley aus dem Leichnam entfernt hatte, auf einen kleinen Block in gleicher Höhe und Linie mit der Pistolenmündung aufgestellt. »So«, sagte er leise. Dann wiederholte er die Beschwörungen und das Bestäuben, das er schon bei dem Knopf angewandt hatte. Als er die letzte Silbe gesprochen hatte, verschwand die Kugel mit einem Fing! im Pistolenlauf. Die Waffe zitterte ein wenig in ihrem Schraubstock. »Aha!« sagte Master Sean. »Keine Frage, nicht wahr? Das ist die Todeswaffe, My Lord. Ja. Etwa die gleiche Zeit wie das Abreißen des Knopfs. Nur wenige Sekunden später, nicht mehr. Ergibt schon ein Bild, nicht, My Lord? Seine Lordschaft der Graf reißt einem Mädchen einen Knopf vom Kleid, sie zieht die Knarre und steckt ihm ein Loch.« Lord Darcys Miene verzog sich. »Keine voreiligen Schlüsse, mein guter Sean! Es gibt keinerlei Beweise dafür, daß er von einer Frau ermordet wurde.« »Würde ein Mann denn diese Robe tragen, My Lord?« »Möglicherweise«, sagte Lord Darcy. »Aber wer sagt denn, daß irgend jemand sie anhatte, als der Knopf abgerissen wurde?« »Oh!« Master Sean verfiel in Schweigen. Mit einem kleinen Metallstab entfernte er wieder das Projektil aus der Pistolenkammer. »Vater Bright«, sagte Lord Darcy, »wird die Gräfin heute nachmittag ihren Tee nehmen?« Der Priester sah plötzlich aus, als habe er ein schlechtes Gewissen. »Guter Himmel! Ihr habt ja alle überhaupt noch nichts gegessen! Ich werde dafür Sorge tragen, daß man Euch sofort etwas hochbringt, Lord Darcy. Bei diesem ganzen Durcheinander . . .« Lord Darcy hob eine Hand. »Entschuldigung, Vater, aber das meinte ich nicht. Ich bin sicher, daß Master Sean und Dr. Pateley gerne eine Kleinigkeit zu sich nehmen würden, aber ich kann bis zum Tee warten. Woran ich dachte, war die Frage, ob die Gräfin wohl ihre Gäste zum Tee bitten würde. Kennt sie Laird und Lady Duncan gut genug, um auf ihre Kondolenz an einem solchen Nachmittag Wert zu legen?« Vater Brights Augenlider verengten sich fast unmerklich. »Es könnte sicherlich eingerichtet werden, Lord Darcy. Werdet Ihr anwesend sein?« »Ja, aber vielleicht komme ich ein bißchen zu spät. Doch bei einem nichtformellen Tee wird das wohl kaum etwas ausmachen.« Der Priester blickte auf seine Armbanduhr. »Sagen wir um vier?« »Ja, das wäre gut.« Vater Bright nickte wortlos und verließ den Raum. Dr. Pateley polierte seinen Kneifer mit einem Seidentaschentuch. »Wie lange wird Euer Zauber den Leichnam konserviert halten, Master Sean?« »So lange wie nötig. Bis der Fall gelöst ist oder wir genug Material haben, um den Fall lösen zu können. Ihr wißt ja, ein Heiliger bin ich nicht, um einen Leichnam jahrelang intakt zu behalten, braucht man schon eine gehörige Motivation.« Sir Pierre blickte auf die Robe, an der der Knopf noch immer festhaftete. »Master Sean, ich verstehe nichts von Magie«, sagte er, »aber könntet Ihr nicht ebenso leicht herausbekommen, wer die Robe getragen hat, wie Ihr festgestellt habt, daß der Knopf zur Robe gehört?« Master Sean wackelte mit dem Knopf. »Nein, Sir. es ist nicht magisch relevant. Das Kleid als ganzes, mit allem drum und dran, das ist eine relevante Einheit; dazu gehört auch die Schneiderin oder derjenige, der den Stoff gewoben hat. Aber eine Person, die ein
Kleidungsstück trägt, hat kaum eine magische Beziehung dazu, von wenigen Ausnahmefällen abgesehen.« »Das verstehe ich nicht ganz, fürchte ich.« Master Sean erklärte ihm, daß ein Kleidungsstück und sein Besitzer nur dann eine magisch relevante Beziehung zueinander hätten, wenn das Stück schon lange getragen wurde und auch dann immer nur von derselben Person. »Wenn wir dagegen diese Pistole hier nehmen«, fuhr Master Sean geduldig fort, »dann ist es doch klar, daß sie allenfalls mechanische Abnutzungserscheinungen haben kann. Der Pistole ist es völlig gleichgültig, von wem sie abgefeuert wird. Nicht so der Kugel — sie hat eine magisch relevante Beziehung zu ihrer Pistole. Das muß man alles mitbedenken, Sir Pierre.« »Ich verstehe«, sagte der Chevalier. »Höchst interessant.« Dann wandte er sich an Lord Darcy. »Benötigen Euer Lordschaft noch meine Dienste?« Lord Darcy winkte ab. »Im Moment nicht, Sir Pierre. Es ist mir klar, daß Ihr noch andere Dinge zu tun habt.« »Danke, Euer Lordschaft. Solltet Ihr mich noch einmal benötigen, so findet Ihr mich in meinem Büro.« Sobald Sir Pierre die Tür hinter sich zugezogen hatte, reckte Lord Darcy dem Meisterhexer die Hand entgegen. »Master Sean, die Waffe.« Master Sean reichte sie ihm. »Schon mal eine ähnliche gesehen, Master Sean?« »Nicht genau die gleiche, My Lord.« »Bitte, bitte, Sean! Nicht zu vorsichtig sein! Ich bin kein Hexer, aber ich brauche nichts von den Gesetzen der Ähnlichkeit zu verstehen, um eine ganz offensichtliche Ähnlichkeit bemerken zu können.« »Edinburgh«, sagte Meister Sean knapp. »Genau. Schottische Arbeit. Die Goldarbeit, das Schloß — alles urschottisch. Wie Ihr gesagt habt: Edinburgh.« Dr. Pateley setzte seinen Kneifer wieder auf und besah sich die Pistole in Lord Darcys Hand. »Könnte es keine italienische Waffe sein, My Lord? Oder eine maurische? Im maurischen Spanien arbeitet man ähnlich.« »Kein maurischer Waffenschmied würde den Griff mit einer Jagdszene schmücken«, sagte Lord Darcy kurz, »und die Italiener hätten wohl kaum Heidekraut und Disteln im Feld abgebildet.« »Aber das FdM, das in den Lauf eingraviert ist . . .« »Ferrari de Milano«, sagte Lord Darcy, »ganz genau. Aber der Lauf ist viel neuer als der Rest, genau wie die Geschoßkammern. Diese Pistole ist schon ziemlich alt, ich schätze, zirka fünfzig Jahre. Schloß und Kolben sind noch in allerbester Verfassung, was darauf hindeutet, daß die Waffe gut gepflegt worden ist. Aber häufiger Gebrauch oder vielleicht ein Unfall, haben den Besitzer möglicherweise dazu veranlaßt, einen neuen Lauf einbauen zu lassen. Er wurde von Ferrari ersetzt.« »Ich verstehe«, meine Dr. Pateley ein wenig eingeschüchtert. »Wenn wir das Schloß öffnen . . . Master Sean, gebt mir doch bitte einmal Euren kleinen Schraubenzieher, danke! Wenn wir das Schloß öffnen, dann werden wir den Names eines der besten Waffenschmiede vorfinden, die es vor einem halben Jahrhundert gegeben hat, ein Name, der bis heute noch nicht vergessen worden ist — Hamish Graw von Edinburgh. Ah, hier, ja. Seht Ihr?« Sie sahen es alle. Zufrieden schraubte Lord Darcy das Schloß wieder zu. »Männer, jetzt haben wir die Waffe plaziert. Wir wissen auch, daß ein Laird Duncan of Duncan hier im Schloß zu Gast ist. Der Duncan of Duncan höchstpersönlich. Ein schottischer Laird, der vor fünfzehn Jahren Seiner Majestät Gesandter am Hof des Großherzogtums Milano gewesen ist. Mir scheint, daß es doch sehr seltsam wäre, wenn es zwischen Laird Duncan und dieser Waffe keine Verbindung gäbe, na?« »Kommt, Master Sean, kommt schon!« sagte Lord Darcy ziemlich ungeduldig. »Wir haben nicht allzuviel Zeit!« »Geduld, My Lord, Geduld«, sagte der kleine Hexer ruhig. »Kann diese Dinge nicht überstürzen.« Er machte sich an einer Reisetruhe zu schaffen, die in dem Gästezimmer stand, das zur Zeit von Laird und Lady Duncan bewohnt wurde. »Gar nicht so einfach, mit einem Zylinderschloß — ah!« . Das Schloß sprang auf. Lord Darcy hob behutsam den Deckel. »Vorsicht, My Lord!« rief Master Sean leise. »Er hat einen , Zauber auf dem Ding, laßt mich das machen!« Im Inneren der Truhe befand sich ein zweiter, dünnerer Deckel, der scheinbar von einem einfachen Bolzen gehalten wurde. Als Master Sean mit seinem Zauberstab, einem fünf Fuß langen Stock aus Corthainn-Holz, an den Deckel rührte, geschah nichts. Auch als er den Bolzen damit berührte, erzeugte er damit keine Reaktion. Er sah sich im Zimmer um und hob einen steinernen Türstopper auf, den er auf den Innenrand der Truhe legte. Dann schob er seine Hand in die Truhe, als ob er den Innendeckel hochheben wolle. Mit einem heftigen Knall fiel der Außendeckel plötzlich auf den Stein herab. Lord Darcy massierte sanft sein rechtes Armgelenk, als fühle er, wo ihn der Deckel hätte treffen sollen. »Soll also fremde Hände einklemmen? Eh?« »Oder Köpfe, My Lord. Übrigens nicht sonderlich wirkungsvoll, wenn man weiß, was man beachten muß. Es gibt bessere Zauber, eine Truhe zu
schützen. Aber jetzt werden wir uns einmal anschauen, was Seine Lordschaft unbedingt so sehr bewacht wissen wollte.« Er öffnete beide Truhendeckel. »Alles klar, My Lord. Oh! Schaut Euch das an!« Lord Darcy hatte es bereits erblickt. Beide schauten sie stumm auf die Gegenstände in der Truhe. Master Seans geschäftige Finger wickelten ein Utensil nach dem anderen aus seiner Papierumhüllung. »Ein menschlicher Schädel«, sagte er. »Flaschen mit Friedhofserde. Hm! Auf dieser steht: Jungfrauenblut. Oh! Eine Teufelspfote!« Es war eine mumifizierte menschliche Hand, steif und trocken, die Haut braun, die Finger teilweise gekrümmt, als hielten sie einen unsichtbaren Ball von ungefähr drei Zoll Durchmesser fest. Auf jeder einzelnen Fingerspitze befand sich ein Kerzenstummel. Wenn man die Hand auf ihren Rücken legte, konnte sie als Kerzenleuchter dienen. »Das besiegelt die Angelegenheit so ziemlich, eh, Master Sean?« sagte Lord Darcy. »In der Tat, My Lord. Auf jeden Fall können wir ihn wegen des Besitzes dieser Gegenstände belangen. Schwarze Magie ist eine Sache des Symbolismus und des Vorhabens. Der Vorsatz allein reicht.« »Also gut. Ich will eine vollständige Liste aller Gegenstände in dieser Truhe haben. Und legt sie wieder genauso hinein, wie Ihr sie vorgefunden habt.« Nachdenklich zupfte er sich am Ohrläppchen. »Laird Duncan hat also das Talent, eh? Interessant!« »Aye, My Lord. Aber nicht sonderlich verwunderlich, wenn man bedenkt, daß es in der Familie liegt.« Master Sean begann, einen Vortrag über die Genealogie der Familie Duncan zu halten. Unterdessen strich Lord Darcy im Raum umher wie ein Kater, der eine Maus gewittert hat. »Es bringt mich jedesmal zum Kochen, wenn jemand das Talent mißbraucht«, schloß Master Sean seine Rede. »Wenn wir ihm nicht das Handwerk legen, wird Laird Duncan sich noch selbst irgendwann ordentlich verbrennen«, meinte Lord Darcy geistesabwesend. »Aye, My Lord«, sagte Master Sean. »Der Geisteszustand, der für das Ausüben Schwarzer Magie notwendig ist, ist solcherart, daß er den Schwarzmagier schließlich selbst vernichtet. Aber wenn er etwas von seinem Fach versteht, dann werden eine Menge anderer Leute zuerst dran glauben, bevor es ihn selbst erwischt.« Lord Darcy öffnete ein Schmuckkästchen auf der Kommode. Der übliche Reiseschmuck — in ausreichender Menge, aber nicht allzuviel. »Wenn sich ein Mensch dem Haß und der Rachsucht verschreibt«, dozierte Master Sean im Hintergrund weiter, »dann gräbt er sich schließlich sein eigenes Grab. Und wenn er gerne zusieht, wie andere leiden oder ihnen auch noch selbst gerne Leiden zufügt, dann ist sein Verstand sowieso schon benebelt, und der Mißbrauch des Talents macht die ganze Sache dann noch schlimmer.« Schließlich fand Lord Darcy, was er suchte, in einer Schublade, versteckt unter säuberlich gefalteter Wäsche. Er mußte nicht erst den Hexer um Rat fragen, um zu erkennen, daß es das Pistolenhalfter der Mordwaffe war, aus wunderschönem Florentiner Leder gearbeitet und mit Goldverzierungen geschmückt. Vater Bright hatte das Gefühl, als sei er schon stundenlang auf einem Seil spazierengegangen. Laird und Lady Duncan hatten sich die ganze Zeit mit leiser, unterdrückter Stimme unterhalten, die ihre innere Nervosität verriet, und es wurde ihm klar, daß es mit der Gräfin und ihm nicht anders gewesen war. Zwar hatten die Duncans feierlich kondoliert, und die Gräfin hatte ebenso gefaßt dafür gedankt, doch Vater Bright wußte sehr genau, daß niemand im Raum das Ableben des Grafen bedauerte. Laird Duncan saß in seinem Rollstuhl; sein scharfgeschnittenes Gesicht trug einen Ausdruck, der freundlich und verbindlich wirken sollte, obwohl man ihm ansah, daß ihn ein großer Kummer bedrückte. Vater Bright bemerkte es, aber er wußte, daß er selbst den gleichen Ausdruck hatte. Niemand im Raum konnte irgendeinen der anderen täuschen, aber zuzugeben, was man dachte, wäre eine barbarische Verletzung der Etikette gewesen. Doch im Gesicht des Lairds spiegelte sich ein innerer Aufruhr, den Vater Brights priesterlicher Instinkt nur als — nun ja, böse deuten konnte. Lady Duncan war die meiste Zeit sehr schweigsam. Seit sie vor fünfzehn Minuten mit ihrem Mann zum Tee hinuntergekommen war, hatte sie kaum ein Dutzend Worte gesprochen. Ihr Gesicht wirkte maskenhaft, aber es spiegelte den gleichen inneren Aufruhr, die gleiche Besorgnis wider wie das des Lairds. Doch das feine Gespür des Priesters sagte ihm, daß es sich bei ihr nur um einfache, nackte Angst handelte. Seinen scharfen Augen war es nicht entgangen, daß sie eine Spur zuviel Schminke aufgetragen hatte; fast, aber eben nur fast, wäre es ihr gelungen, die kleine Schramme auf ihrer rechten Wange zu verdecken. My Lady die Gräfin D'Evreux war unglücklich und traurig, aber sie offenbarte weder Angst noch Böses. Sie lächelte höflich und sprach sehr ruhig. Vater Bright wäre jede Wette
eingegangen, daß nicht einer der vier Gesprächsteilnehmer sich später auch an nur ein einziges Wort der Unterhaltung würde erinnern können. Vater Bright hoffte, daß sich Lord Darcy beeilen würde. Keinem der Gäste war mitgeteilt worden, daß sich der herzogliche Inspektor im Schloß befand, und der Priester sah dem Zusammentreffen etwas bang entgegen. Man hatte den Duncans nicht erzählt, daß der Graf durch einen Mord seinen Tod gefunden hatte, aber er war sich sicher, daß sie es wußten. Vater Bright sah Lord Darcy durch die Tür am anderen Ende der Halle eintreten. Er entschuldigte sich mit einer gemurmelten Floskel, stand auf und ging auf Lord Darcy zu. »Habt Ihr gefunden, wonach Ihr gesucht habt, Lord Darcy?« fragte er ihn leise in der Halle. »Ja«, sagte Lord Darcy. »Ich fürchte, daß wir Lord Duncan festnehmen müssen.« »Mord?« »Möglich. Da bin ich mir noch nicht sicher. Angeklagt wird er wegen Schwarzer Magie werden. Er hatte alle Utensilien in einer Truhe in seinem Zimmer. Master Sean berichtet, daß in dem Zimmer gestern nacht ein Ritual durchgeführt worden ist. Aber das liegt natürlich außerhalb meines Bereichs. Als Vertreter der Kirche seid Ihr es, der ihn festnehmen muß.« Er hielt inne. »Ihr scheint nicht überrascht zu sein, Hochwürden.« »Nein, das bin ich auch nicht«, gab Vater Bright zu. »Ich habe es gefühlt. Ihr und Master Sean werdet mir aber erst eine eidliche Aussage geben müssen, bevor ich handeln kann.« »Ich verstehe. Könnt Ihr mir einen Gefallen tun?« »Wenn ich das kann?« »Holt My Lady, die Gräfin, unter irgendeinem Vorwand aus dem Zimmer. Laßt mich mit ihren Gästen allein. Ich möchte My Lady nicht mehr aufregen als unbedingt nötig.« »Ich denke, daß das gehen wird. Sollen wir zusammen eintreten?« »Warum nicht? Aber erwähnt nicht, warum ich hier bin. Sie sollen annehmen, daß ich irgendein anderer Gast bin.« »In Ordnung.« Alle drei Anwesenden blickten auf, als Vater Bright mit Lord Darcy eintrat. Man wurde einander vorgestellt. Lord Darcy bat seine Gastgeberin höflich um Verzeihung für seine Verspätung. Vater Bright bemerkte, daß Lord Darcy dasselbe traurige Lächeln aufgesetzt hatte wie die anderen. Lord Darcy bediente sich am Büffet und ließ sich von der Gräfin eine große Tasse heißen Tee einschenken. Er erwähnte den Tod des Grafen nicht. Statt dessen lenkte er das Gespräch auf die wilde Schönheit Schottlands und auf die ausgezeichneten Möglichkeiten, dort auf die Rebhuhnjagd zu gehen. Vater Bright war unterdessen noch einmal hinausgegangen und erneut zurückgekehrt. Er wandte sich sofort an die Gräfin und sprach in einem leisen, aber deutlich vernehmbaren Ton mit ihr. »My Lady, Sir Pierre Morlaix teilt mir soeben mit, daß es einige Angelegenheiten gibt, die Eure sofortige Aufmerksamkeit erfordern. Es dauert nur wenige Augenblicke.« My Lady die Gräfin zögerte nicht, sondern entschuldigte sich bei ihren Gästen. »Bitte, laßt Euch nicht stören. Ich werde wohl nicht lange bleiben.« Lord Darcy wußte, daß der Priester nicht lügen würde, und fragte sich, was dieser wohl mit Sir Pierre vereinbart haben mochte. Nicht, daß es ihm wichtig wäre, solange die Gräfin nur mindestens zehn Minuten lang fortblieb. Das unterbrochene Gespräch wandte sich wieder den Rebhühnern zu. »Seit meinem Unfall bin ich nicht mehr auf die Jagd gegangen«, sagte Laird Duncan, »aber früher hatte ich sehr viel Freude daran. Ich lade immer noch jährlich einige Freunde zu mir zum Jagen, wenn es Saison ist.« »Welche Waffe zieht Ihr denn bei der Rebhuhnjagd vor?« fragte Lord Darcy. »Eine einzöllige mit modifizierter Würgebohrung«, sagte der Schotte. »Ich besitze zwei Stück davon, exzellente Waffe!« »Schottisches Fabrikat?« »Nein, nein, englisch. Euren Londoner Waffenschmieden macht bei Schrotflinten niemand so schnell etwas vor.« »Ach, ich hatte gedacht, daß Euer Lordschaft vielleicht alle Eure Waffen in Schottland anfertigen ließen.« Während er sprach, zog er vorsichtig die kleine Pistole aus der Rocktasche und legte sie auf den Tisch. Nach einem plötzlichen Schweigen fragte Laird Duncan wütend: »Was soll das denn? Wo habt Ihr sie her?« Lord Darcy blickte Lady Duncan an, die plötzlich bleich geworden war. »Vielleicht«, sagte er kühl, »kann uns Lady Duncan darüber Auskunft geben.« Sie schüttelte den Kopf und rang nach Luft. Die Worte schienen ihr zu fehlen. »Nein, nein«, sagte sie schließlich, »ich weiß nichts. Nichts.« Aber Laird Duncan sah sie merkwürdig an. »Ihr leugnet nicht, daß es Eure Waffe ist, My Lord?« fragte Lord Darcy. »Oder die Eurer Gattin, wie auch immer?« »Woher habt Ihr sie?« Laird Duncans Stimme hatte einen gefährlichen Unterton, und Lord Darcy sah, wie sich die Muskeln seines früher einmal sehr kräftigen Körpers anspannten. »Aus dem Schlafzimmer des verstorbenen Grafen D'Evreux.« »Und was hatte sie dort zu suchen?« Die Frage schien ebenso an Lady Duncan wie an Lord Darcy gerichtet zu sein. »Unter anderem hat sie dem Grafen D'Evreux ins Herz
geschossen.« Lady Duncan fiel ohnmächtig nach vorne, wobei sie ihre Teetasse umwarf. Laird Duncan griff nach der Waffe, doch Lord Darcy kam ihm zuvor. »Nein, nein, My Lord«, sagte er sanft. »Dies ist ein Beweisstück in einem Mordfall. Wir dürfen keinen Unfug mit Königlichem Beweismaterial treiben!« Auf das, was nun folge, war er nicht gefaßt. Laird Duncan rief etwas Obszönes in schottischem Gälisch, legte Hände und Arme auf die Lehnen seines Rollstuhls, gab sich einen Schub und schoß auf Lord Darcy zu, indem er ihn mit beiden Händen am Hals zu packen versuchte. Es wäre ihm beinahe gelungen, doch ließen ihn seine matten Beine im Stich. So fiel er vornüber auf den schweren Eichentisch, die Hände immer noch nach dem überraschten Engländer ausgestreckt. Sein Kinn schlug hart auf der Tischfläche auf, dann rutschte er herunter, wobei er die Tischdecke mitsamt dem Porzellan und dem Tafelsilber mit sich zog. Schließlich kam er am Boden zu liegen und bewegte sich nicht, ebenso wie e Frau. Lord Darcy sprang auf und betrachtete die beiden ohnmächtigen Figuren vor sich. Er hoffte nur, daß er jetzt nicht zu sehr wie König Macbeth aussah. »Ich glaube nicht, daß sie einen bleibenden Schaden zurückbehalten werden«, sagte Dr. Pateley eine Stunde später. »Lady Duncan hat natürlich einen Schock erlitten, aber Vater Bright hat sie schon bald wieder zur Besinnung gebracht. Sie ist eine fromme Frau, glaube ich, auch wenn sie sündig sein mag.« »Und Laird Duncan?« fragte Lord Darcy. »Da sieht die Sache schon anders aus. Ich fürchte, daß sein Rückenleiden etwas abbekommen hat, und der Schlag auf das Kinn hat ihm auch nicht eben gutgetan. Ich weiß nicht, ob Vater Bright ihm helfen kann. Heilen erfordert die Mitarbeit des Patienten. Ich habe alles für ihn getan, was in meiner Möglichkeit stand, aber ich bin nur ein Chirurgus, kein Heiler. Vater Bright hat als Heiler allerdings einen recht guten Ruf, und es kann durchaus sein, daß er Seiner Lordschaft zu helfen vermag.« Master Sean schüttelte zweifelnd den Kopf. »Seine Hochwürden hat das Talent, da gibt es keinen Zweifel, aber jetzt hat er es mit einem Mann zu tun, der es auch hat, mit einem Mann, dessen Geist letzten Endes auf Selbstzerstörung aus ist.« »Na ja, das geht mich nichts weiter an«, sagte Dr. Pateley. »Ich bin nur ein Techniker. Das Heilen überlasse ich der Kirche, da gehört es hin.« »Master Sean«, sagte Lord Darcy, »hier ist immer noch etwas unklar. Wir brauchen mehr Beweismaterial. Was ist mit den Augen?« Master Sean blinzelte. »Ihr meint den Bildtest, My Lord?« »Ja.« »Der wird vom Gericht nicht anerkannt werden, My Lord«, sagte der Hexer. »Das ist mir klar«, sagte Lord Darcy frostig. »Augentest?« fragte Dr. Pateley. »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz . . .« »Er wird nicht oft angewandt«, sagte Master Sean. »Es handelt sich um eine psychische Erscheinung, die manchmal im Augenblick des Todes stattfindet, besonders bei einem gewaltsamen Tod. Die gewaltige Belastung bewirkt eine Art von geistigem Rückstoß, wenn Ihr versteht, was ich meine. Das führt dazu, daß das Bild, das der Sterbende zuletzt vor Augen hatte, wieder auf die Netzhaut zurückprojiziert wird. Mit den richtigen Zaubern kann man es wieder sichtbar machen. Aber selbst unter den allerbesten Bedingungen ist es eine sehr schwierige Sache, und meistens sind die Bedingungen katastrophal schlecht. Erstens geschieht es nicht immer, zum Beispiel wenn der Betreffende den Angriff erwartet. Im Duell oder unter Bedrohung durch eine Waffe kann sich das Opfer vorher auf die Situation einstellen. Außerdem muß der Tod praktisch sofort eintreten, sonst geht der Effekt verloren. Und wenn das Opfer die Augen geschlossen hält, dann tritt der Effekt natürlich auch nicht ein.« »Die Augen des Grafen waren offen«, sagte Dr. Pateley. »Sie waren noch offen, als ich ihn vorfand. Wie lange hält sich das Bild nach dem Tod?« »Solange, bis sich die Zellen der Netzhaut auflösen. Selten länger als vierundzwanzig Stunden, meistens wesentlich kürzer.« »Es ist noch keine vierundzwanzig Stunden her«, sagte Lord Darcy, »und es ist durchaus wahrscheinlich, daß der Graf völlig überrascht wurde.« »Ich muß zugeben, daß die Bedingungen recht günstig zu sein scheinen, My Lord«, sagte Master Sean nachdenklich. »Ich will es versuchen, aber macht Euch nicht zu große Hoffungen.« »Das werde ich schon nicht tun. Versucht Euer Bestes, Master Sean. Wenn es irgendeinen praktizierenden Hexer gibt, der das machen kann, dann seid Ihr es.« »Danke, My Lord. Ich werde mich sofort daranbegeben«, sagte Master Sean mit kaum verhohlenem Stolz. Zwei Stunden später schritt Lord Darcy durch die Große Halle. Master Sean, der ihm mit seinem Großen Stab aus Caorthainn-Holz und seinem Reisesack folgte, hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Darcy hatte Vater Bright und die Gräfin D'Evreux gebeten, sich mit ihm in einem der kleineren
Gästezimmer zu treffen, doch kam die Gräfin allein auf ihn zu. »My Lord Darcy«, fragte sie mit besorgtem Ausdruck in ihrem schlichten Gesicht, »stimmt es, daß Ihr Laird und Lady Duncan wegen dieses Mordes verdächtigt? Denn wenn dem so sein sollte, dann muß ich . . .« »Nicht mehr, My Lady«, unterbrach Lord Darcy sie schnell. »Ich glaube, nun beweisen zu können, daß keiner der beiden an diesem Mord Schuld trägt. Allerdings wird die Anklage gegen Laird Duncan wegen Schwarzer Magie aufrechterhalten werden müssen.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Aber . . .« »Bitte, My Lady«, unterbracht Lord Darcy sie erneut, »laßt mich Euch alles erklären. Kommt.« Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, traten sie in das Zimmer, in dem Vater Bright schon auf sie wartete. »Bitte«, sagte Lord Darcy, »nehmt doch Platz! Es wird nicht lange dauern. My Lady, darf Master Sean wohl den Tisch dort drüben benutzen?« »Aber gewiß doch, My Lord«, sagte die Gräfin leise, »aber gewiß doch.« Nur zögernd setzten die beiden sich und sahen zu, wie Master Sean O Lochlainn mit seinen Vorbereitungen begann. Als Lord Darcy sprach, richteten sie ihre Augen auf ihn. »Eine solche Untersuchung durchzuführen«, begann er, »ist nicht so einfach. Die meisten Mordfälle können durch jeden Oberwachtmeister gelöst werden, da sie nichts Geheimnisvolles an sich haben. Aber kraft Königlichen Gesetzen muß ein Herzoglicher Inspektor hinzugezogen werden, wenn der Fall unlösbar erscheint oder Mitglieder des Adels betrifft. Deshalb wart Ihr auch völlig im Recht, Seine Hoheit den Herzog sofort zu verständigen, nachdem der Mord entdeckt wurde.« Er lehnte sich zurück. »Und es war von Anfang an klar, daß der verstorbene Graf ermordet wurde.« Vater Bright wollte etwas sagen, doch ließ ihn Lord Darcy nicht dazu kommen. »Unter >Mord<, Hochwürden, verstehe ich, daß er keines natürlichen Todes gestorben ist. Vielleicht sollte ich besser von Totschlag sprechen. Nun gut, die Frage lautete also, wer für diesen Totschlag verantwortlich war. Wie Ihr wißt . . . My Lady werden verzeihen, wenn ich etwas direkt bin . . . wie Ihr also wißt, war der selige Graf ein ziemlicher Schürzenjäger. Nein, ich will es drastischer ausdrücken, er war ein Satyr, ein Wüstling, ein Mann, der von Sexualität besessen war. Wenn ein solcher Mann seiner Leidenschaft frönt — was der selige Graf mit Sicherheit tat —, gibt es meistens nur eine Art von Ende. Wenn er nicht gerade eine sehr einnehmende Persönlichkeit ist — und das war der Graf wohl nicht —, dann wird ihn eines Tages irgend jemand genug hassen, um ihn umzubringen. Ein solcher Mann hinterläßt immer eine endlose Reihe verletzter Frauen und verletzter Männer. Eine dieser Personen kann ihn umbringen. Eine dieser Personen hat es getan. Aber wir müssen herausbekommen, wer diese Person war und inwieweit sie schuldig war. Das ist meine Aufgabe. Aber nun zu den Tatsachen. Wir wissen, daß Edouard eine Geheimtreppe besaß, die direkt in seine Gemächer führte. Allzu geheim war die Sache allerdings nicht. Es gab zahlreiche Frauen — adlige und niederen Standes —, die davon wußten und auch, wie man die Treppe benutzt. Wenn Edouard die untere Tür nicht abschloß, dann konnte jeder hereinkommen. In seinem Schlafzimmer hatte er ein weiteres Schloß, so daß nur eintreten konnte, wer gebeten war, auch wenn sie, oder er, die Treppe hinauf gelangt war. Er war also geschützt. Aber jetzt zu den Ereignissen der letzten Nacht. Ich habe Beweise und auch die Aussagen von Laird und Lady Duncan. Wie ich die Geständnisse bekam, will ich gleich erklären. Erstens: Lady Duncan hatte letzte Nacht ein Stelldichein mit dem Grafen D'Evreux. Sie stieg die Treppe zu seinem Schlafzimmer hoch. Sie trug eine kleine Pistole mit sich. Sie hatte ein Verhältnis mit Edouard gehabt, und er hatte sie schließlich zurückgewiesen. Sie war wütend, aber sie suchte ihn auf. Als sie ankam, war er betrunken, in einer seiner Launen, die Ihr beide zu Genüge kennt. Sie bettelte darum, wieder seine Geliebte werden zu dürfen. Er lehnte ab. Lady Duncan zufolge sagte er: >Ich will dich nicht. Du bist es nicht wert, im gleichen Raum wie sie zu sein!< Diese Betonung stammt von Lady Duncan, nicht von mir. Wütend zog sie die Pistole, die Pistole, die ihn tötete.« Die Gräfin rang nach Luft. »Aber Mary konnte gar nicht . . .« »Bitte!« Mit einem Knall hieb Lord Darcy mit der Hand auf die Tischfläche. »My Lady, Ihr werdet mir gefälligst zuhören!« Vater Bright wandte sich an sie und sagte: »Bitte, meine Tochter, wartet.« »Verzeihung, My Lady«, lenkte Lord Darcy ein. »Ich wollte soeben erklären, wieso Lady Duncan Euren Bruder nicht umbringen konnte. Da ist zunächst einmal die Sache mit dem Kleid. Wir sind sicher, daß die Robe, die wir in Edouards Wandschrank gefunden haben, von der Person getragen wurde, die ihn umbrachte. Und diese Robe konnte Lady Duncan unmöglich passen, dazu ist sie viel zu ... eh ... kräftig gebaut. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt, und aus Gründen, die ich später erklären werde, glaube ich
ihr. Als sie die Waffe auf Euren Bruder richtete, hatte sie keinerlei Absicht, ihn zu töten. Euer Bruder wußte das. Er holte aus und verpaßte ihr eine Ohrfeige. Sie ließ die Pistole fallen, und er komplimentierte sie recht unsanft die Treppe hinunter. Er warf sie ganz schlicht hinaus. Hysterisch rannte Lady Duncan zu ihrem Mann. Und als sie von ihm einigermaßen beruhigt worden war, erkannte sie, daß sie ihm unmöglich alles erzählen konnte. Sie wußte, daß Laird Duncan ein gewalttätiger, aufbrausender Mensch war, genau wie Edouard. Also erzählte sie ihm eine Lüge. Sie erzählte ihm, daß Edouard sie bestellt habe, um ihr >etwas Wichtiges< zu sagen. Es sei um Laird Duncans Sicherheit gegangen. Sie behauptete, daß ihr der Graf gesagt habe, daß er davon wisse, daß Laird Duncan Schwarze Magie betreibe und daß er ihn bei der Kirche anzeigen wolle, wenn sie ihm nicht zu Willen sei. Daraufhin habe sie sich gewehrt und sei davongelaufen. Das war natürlich ein richtiger Lügenteppich. Aber Laird Duncan glaubte jedes Wort davon. Sein Ich bewußtsein war so ausgeprägt, daß es ihm gar nicht in den Sinn kam, daß sie ihm hätte untreu werden können, obwohl er seit fünf Jahren gelähmt war.« »Woher könnt Ihr wissen, daß Lady Duncan die Wahrheit gesagt hat?« fragte Vater Bright vorsichtig. »Abgesehen von der Robe, die Edouard stets nur für Frauen niederen Standes bereithielt, nicht für Adlige, haben wir noch die Aussage von Laird Duncan. Also — Zweitens: Laird Duncan konnte den Mord nicht körperlich verübt haben. Wie sollte ein Mann, der an den Rollstuhl gefesselt war, die Treppe hochkommen? Das halte ich für unmöglich. Die Möglichkeit, daß er alles nur vorgetäuscht hat und all die Jahre lang seine Beine sehr wohl gebrauchen kann, wurde vor drei Stunden widerlegt, als er sich selbst bei dem Versuch verletzte, mich zu erwürgen. Seine Beine können ihn nicht einmal einen Schritt weit tragen, geschweige denn die ganze Treppe hoch.« Lord Darcy faltete befriedigt die Hände. »Dann bleibt noch die Möglichkeit«, sagte Vater Bright, »daß Laird Duncan den Grafen D'Evreux auf magische Weise umgebracht hat.« Lord Darcy nickte. »Das ist in der Tat möglich, Hochwürdiger Sir, wie wir beide wissen. Aber nicht in diesem Fall. Master Sean hat mir versichert, und Ihr werdet das zweifellos unterstreichen, daß ein Mensch, der durch Schwarze Magie getötet wird, durch inneres Organversagen ums Leben kommt, aber nicht durch eine Kugel im Herzen. Tatsächlich bewegt der Schwarzmagier nämlich sein Opfer dazu, sich selbst zu töten, auf psychosomatische Weise. Er stirbt durch das, was man in der Fachsprache Psychische Induktion nennt. Master Sean hat mich belehrt, daß die verbreitetste und gröbste Methode die sogenannte Phantombild-Methode ist. Sie besteht darin, ein Abbild, meistens, aber nicht immer, aus Wachs herzustellen und mit Hilfe des Gesetzes der Ähnlichkeit den Tod herbeizuführen. Man wendet auch das Gesetz der Ansteckung an, da man meistens Fingernägel, Haare, Speichel oder Blutstropfen des Opfers in das Wachsbild gibt. Ist es nicht so, Vater?« Der Priester nickte. »Ja, das stimmt. Und im Gegensatz zu dem, was manche ketzerische Materialisten behaupten, ist es auch nicht unbedingt nötig, daß das Opfer davon in Kenntnis versetzt wird, obwohl das die Sache manchmal erleichtert.« »Genau«, sagte Lord Darcy. »Aber es ist wohlbekannt, daß ein fähiger Magier — ob >weiß< oder >schwarz< — auch Gegenstände bewegen kann. Würdet Ihr My Lady vielleicht erklären, warum ihr Bruder nicht auf eine solche Weise getötet werden konnte?« Vater Bright wandte sich an die Gräfin. »Es fehlt die magische Relevanz. In diesem Fall muß das Geschoß entweder in Beziehung zum Herzen oder zur Pistole gestanden haben. Um mit einer Geschwindigkeit zu fliegen, die es ihr erlaubt hätte, in die Haut einzudringen, hätte ihre Affinität zum Herzen wesentlich stärker sein müssen als die zur Waffe. Aber der Test, den Master Sean durchgeführt hat, zeigte, daß dies nicht der Fall war. Folglich muß man schließen, daß die Kugel mit physikalischen Mitteln bewegt wurde, nicht mit magischen.« »Was hat Laird Duncan denn dann getan?« fragte die Gräfin. »Drittens!« sagte Lord Darcy. »Da er glaubte, was Lady Duncan ihm erzählt hatte, beschloß er voller Wut, Euren Bruder umzubringen. Er verwendete einen Induktionszauber. Aber dieser erwies sich als Bumerang und hätte ihn fast umgebracht. Wenn man zum Beispiel Öl auf ein Feuer gibt, dann wird dieses, in Verbindung mit Luft, größer werden. Wenn wir aber Asche hinzugefügt, dann erlischt es. Wenn man, auf ähnliche Weise, ein lebendes Wesen angreift, dann stirbt es. Aber wenn man ein totes Wesen angreift, dann prallt die Energie zurück und schadet dem Angreifer selbst. Theoretisch könnten wir Laicd Duncan wegen versuchten Mordes anklagen, denn es besteht kein Zweifel daran, daß er Euren Bruder töten wollte, My Lady. Aber zu diesem Zeitpunkt war Euer
Bruder bereits tot! Der darauffolgende Rückschlag magischer Energie schlug Laird Duncan für mehrere Stunden bewußtlos, während Lady Duncan besorgt und ängstlich wartete. Als Laird Duncan wieder aufwachte, war ihm klar, was geschehen war. Er wußte, daß Euer Bruder bereits tot war, als er den Zauber verhängte. Also nahm er an, daß Lady Duncan ihn getötet habe. Andererseits wußte Lady Duncan genau, daß sie Edouard lebend verlassen hatte. Also dachte sie, daß ihn die Schwarze Magie ihres Mannes ins Jenseits befördert habe.« »Jeder versuchte, den anderen zu decken«, sagte Vater Bright. »Folglich ist keiner von beiden durch und durch böse. Vielleicht können wir also doch noch etwas für Laird Duncan tun.« »Davon verstehe ich nichts, Vater«, sagte Lord Darcy. »Die Kunst des Heilens obliegt der Kirche, nicht mir.« Amüsiert bemerkte er, daß er soeben die Worte Dr. Pateleys wiedergegeben hatte. »Was Laird Duncan nicht wußte«, fuhr er schnell fort, »das war, daß Lady Duncan eine Pistole in Edouards Zimmer mitgenommen hatte. Das warf natürlich ein etwas anderes Licht auf ihren Besuch in der Nacht, versteht Ihr? Deswegen griff er mich auch tätlich an, nicht, weil ich ihn oder seine Frau des Mordes bezichtigte, sondern weil ich das Verhalten seiner Frau in Frage gestellt hatte.« Er wandte sich Master Sean zu, der an dem Tisch arbeitete. »Fertig, Master Sean?« »Aye, My Lord. Jetzt muß ich nur noch die Leinwand aufstellen und die Lampe im Projektor anstellen.« »Dann nur zu!« Er blickte Vater Bright und die Gräfin an. »Master Sean hat da ein höchst interessantes Lichtbild, das ich Euch gerne vorführen möchte.« »Die beste Entwicklung, die mir je gelungen ist, wenn ich das mal so ausdrücken darf, My Lord«, sagte der Hexer. »Dann fangt an!« Master Sean öffnete den Verschluß des Projektors, und ein Bild sprang auf den Schirm. Vater Bright und die Gräfin taten beide einen heftigen Atemzug. Es war eine Frau. Sie trug die Robe, die im Wandschrank des Grafen gehangen hatte. Ein Knopf war abgerissen worden und die Robe stand offen. Ihre rechte Hand wurde fast völlig von einer dichten Rauchwolke verdeckt. Offensichtlich hatte sie soeben die Pistole auf den Betrachter abgefeuert. Aber das war es nicht, was ihnen den Atem verschlagen hatte. Das Mädchen war schön, herrlich, unglaublich, hinreißend schön. Es war keine sanfte Schönheit, nichts Blumengleiches oder Friedliches war darin. Es war eine Schönheit, wie sie auf einen Mann nur eine einzige Wirkung haben konnte. Sie war die körperlich begehrenswerteste Frau, die man sich vorstellen konnte. Retro me, Satans, dachte Vater Bright mit schiefem Blick. Sie ist ja fast unanständig schön! »Hat einer von Euch diese Frau schon einmal gesehen? Dachte ich mir, daß nicht«, sagte Lord Darcy. »Laird und Lady Duncan auch nicht. Sir Pierre ebensowenig. Wer ist sie? Wir wissen es nicht. Aber wir können ein paar Schlußfolgerungen ziehen. Sie muß zu einer Verabredung in das Schlafzimmer des Grafen gekommen sein. Ganz offensichtlich ist dies die Frau, die Edouard Lady Duncan gegenüber erwähnt hat. Es ist fast sicher, daß sie von niedrigem Stand ist, sonst würde sie nicht diese Robe tragen. Sie muß sich im Schlafzimmer umgezogen haben. Dann hatten die beiden Streit, wir wissen nicht worüber. Der Graf hatte offenbar zuvor Lady Duncan die Pistole abgenommen und sie achtlos auf dem Tisch liegenlassen, den Ihr hinter dem Mädchen erkennen könnt. Sie griff danach und erschoß ihn. Dann zog sie sich wieder um, hing die Robe in den Wandschrank und lief davon. Niemand sah sie kommen und gehen. Tja, ich glaube, wir werden sie finden, jetzt, da wir wissen, wie sie aussieht. Auf jeden Fall«, schloß Lord Darcy, »ist die Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit aufgeklärt. Das werde ich nun Seiner Hoheit berichten.« Richard, Herzog von der Normandie, schenkte zwei Gläser edlen Brandys ein. Lächelnd reichte er Lord Darcy das Getränk. »Sehr gut gemacht, My Lord! Sehr gut!« »Es freut mich, Euer Hoheit zufrieden zu sehen«, sagte Lord Darcy. »Aber wie wart Ihr Euch so sicher, daß es niemand von außen war? Jeder hätte doch das Schloß durch das Haupttor betreten können, es stand doch immer offen.« »Das ist richtig, Hoheit. Aber die untere Tür zur Treppe war immer verschlossen. Graf D'Evreux schloß sie ab, nachdem er Lady Duncan hinausgeworfen hatte. Man kann diese Tür nicht von außen auf schließen, und sie war völlig unversehrt. Niemand konnte hindurchgegangen sein, nachdem Lady Duncan sie passiert hatte. Der einzige Weg nach draußen war durch die andere Tür, und die war offen.« »Ich verstehe«, sagte Herzog Richard. »Ich frage mich, warum sie überhaupt dorthin gegangen ist.« »Wahrscheinlich weil er sie darum gebeten hat. Jede andere Frau hätte gewußt, was sie zu erwarten hätte, wenn sie sich auf eine Einladung des Grafen einließ.« »Nein«, sagte der Herzog mit dunkler Miene. »Vom eigenen Bruder hätte man das allerdings
nicht erwarten können. Sie hatte völlig recht, ihn zu erschießen.« »Genau, Euer Hoheit. Und wäre sie nicht die Erbfolgerin gewesen, so hätte sie wahrscheinlich sofort gestanden. Ich hatte ja meine liebe Mühe, sie davon abzuhalten, ein Geständnis abzulegen, als sie hörte, daß ich die Duncans verdächtigte. Aber sie wußte, daß es notwendig war, um ihren Ruf und den ihres Bruders zu wahren. Nicht als Privatpersonen, sondern als Graf und Gräfin, als Regierungsbeamte Seiner Kaiserlichen Hoheit des Königs. Wenn ein Mann als Grobian und Wüstling bekannt ist, dann ist das eine Sache. Aber wenn er bei dem Versuch erschossen wird, seine eigene Schwester zu vergewaltigen, das ist dann doch etwas anderes. Sie war völlig im Recht, die Sache vertuschen zu wollen. Und sie wird so lange schweigen, bis jemand anders des Verbrechens bezichtigt wird.« »Was natürlich nicht geschehen wird«, sagte Herzog Richard und nippte an seinem Brandy. »Sie wird eine gute Gräfin sein. Sie besitzt Urteilsvermögen und bewahrt auch unter großer Belastung die Ruhe, wie sie bewiesen hat. Nachdem sie ihren Bruder erschossen hatte, hätte sie in Panik ausbrechen können, aber das hat sie nicht getan. Wie viele Frauen hätten daran gedacht, einfach die zerrissene Robe abzulegen und das Duplikat aus dem Wandschrank anzuziehen?« »Sehr wenige«, stimmte Lord Darcy zu. »Deswegen habe ich auch nicht erwähnt, daß ich wußte, daß der Schrank des Grafen Duplikate ihrer Kleider enthielt. Übrigens, Euer Hoheit, wenn irgendein guter Heiliger, wie etwa Vater Bright, davon gewußt hätte, dann wäre ihm klar geworden, daß der Graf auf seine Schwester fixiert war. Alle anderen Frauen waren für ihn nur eine Ersatzbefriedigung.« »Ja, natürlich. Und keine konnte es mit ihr aufnehmen.« Er setzte das Glas ab. »Ich werde meinem Bruder, dem König, die neue Gräfin wärmstens ans Herz legen. Nichts davon darf schriftlich niedergelegt werden, das versteht sich von allein. Ihr wißt es, ich weiß es und der König muß es wissen. Sonst darf niemand davon erfahren.« »Einer weiß noch davon«, sagte Lord Darcy. »Wer denn?« Der Herzog sah ihn erschreckt an. »Vater Bright.« Herzog Richard sah beruhigt aus. »Natürlich. Er wird ihr doch wohl nicht sagen, daß wir davon wissen, oder?« »Ich glaube, auf Vater Brights Diskretion kann man sich verlassen.« Im Dämmerlicht des Beichtstuhls kniete Alice, Gräfin D'Evreux nieder und lauschte der Stimme von Vater Bright. »Ich werde dir keine Buße auferlegen, mein Kind, denn du hast keine Sünde begangen, jedenfalls was den Tod deines Bruders angeht. Wegen deiner anderen Sünden sollst du das dritte Kapitel von >Die Seele und Die Welt< von St. James Huntington lesen und auswendig lernen.« Er begann mit der Absolution, aber die Gräfin sagte: »Eine Sache verstehe ich nicht. Das Bild. Das war nicht ich. Ich habe noch nie ein solch wunderschönes Mädchen in meinem ganzen Leben gesehen. Und ich sehe doch so hausbacken aus! Ich verstehe das nicht.« »Hättest du genauer hingesehen, mein Kind, so hättest du bemerkt, daß das Bild dir durchaus geähnelt hat, es war eben nur sehr verklärt. Wenn eine subjektive Realität objektiv wird, dann kommt es unweigerlich zu Verzerrungen. Deswegen kann so etwas auch vor Gericht nicht als Beweis gelten.« Er hielt inne. »Um es in anderen Worten zu sagen, mein Kind: Die Schönheit findet sich im Auge des Betrachters.« Ende