C. H. GUENTER
Das Auge
Des Adlers
Erich Pabel Verlag GmbH, 7500 Rastatt
1.
Die Werkstatt telefonierte, daß die ...
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C. H. GUENTER
Das Auge
Des Adlers
Erich Pabel Verlag GmbH, 7500 Rastatt
1.
Die Werkstatt telefonierte, daß die Reparatur des Rolls-Royce drei Tage dauern würde, also nahm er den Mercedes. Obwohl er erst von einer schweren Lebensmittelvergiftung genesen war – seine Leber schmerzte und er fühlte sich noch recht matt – ließ er sich nicht vom Chauffeur nach Paris brin gen, sondern fuhr selbst. Es war nicht Härte gegen sich selbst, sondern reine Notwendigkeit. Sein Leben war immer Kampf gewesen, mit ein paar Pausen dazwischen. Die Pause war zu Ende, der Kampf ging weiter. Als Maurice Bergman von seinem Landgut kommend auf die Hauptstraße einbog, schmerzte seine entzündete Leber erneut bei jeder Berührung der Rippen. Es kam daher, daß sich die Hauptstraße in schlechterem Zu stand befand als sein Privatweg. Wie so oft in den letzten Wochen fragte er sich, wie es zu dieser Lebensmittelvergiftung kommen konnte. Er hatte eine erstklassige Köchin, die nur beste Zutaten verwendete, und wenn er auswärts essen ging, dann stets nur in Luxusrestau rants. Außerdem stammte er aus einer Gegend, von der allge mein behauptet wurde, die Menschen dort hätten die besten Innereien, sprächen aber auch das schlechteste Französisch. Und ausgerechnet ihn hatte es erwischt. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Wurde höchste Zeit, daß er gegen diese Anschläge etwas un ternahm. Es war schließlich nicht das erste Mal, daß er haar scharf am Tode vorbeischlitterte. Und immer kam es unve r hofft, wenn man nicht damit rechnete. Man konnte nichts da gegen tun, es traf einen wie aus heiterem Himmel. Der späte Winter zwang dem Land seine harten Konturen auf. Kahle, schwarze Bäume ragten in den frostigen Himmel Ein Trost, daß es die letzten kalten Tage sein würden. Man müßte eine Frau haben, dachte Maurice Bergman, dann wäre alles halb so schwer. Aber er hatte die richtige nicht ge 3
funden. Einmal hatte er erklärt; Ich würde sogar Tarzan heira ten, wenn ich wüßte, daß er mich liebt. Das war es. Nie hatte er einer Frau vertraut. Nie war er sicher gewesen, daß sie nicht nur sein Geld wollten. Und wenn ihre Augen strahlten wie blaue Kornblumen, keine hatte ihn je überzeugt. Der Tacho zeigte 110 an. Die Automatic hatte in Stufe vier geschaltet Die Reifen schmatzten auf dem feuchten Asphalt. Bergman überholte einen uralten R 4. Mit einem noch älteren Citroën und einem winzigen Kellerlabor hatte er angefangen. Das war vor 30 Jahren gewesen. Jetzt besaß er Vermögen. Aber was er nicht hatte, war Ruhm. Den hatte man ihm abgekauft, wie man anderen Leuten den Schneid abkaufte. Millionen, aber keinen Nobelpreis. Nun, er hatte sich daran gewöhnt. Doch wenn er es genau nahm, dann lebte er in seinem Schloß auf seinem Landgut in all dem Luxus auch nur wie ein Maul wurf. Und das machte wenig Spaß auf die Dauer. An seiner Unzufriedenheit lag es. Die machte alles noch schwerer. Mit seinem Geld wären andere vor Freude an die Decke gesprungen, trotz der Leberentzündung. Du bist unverbesserlich, schalt sich Maurice Bergman. Du bist stur, und Sturheit kann so schädlich sein wie Labilität. Warum fliegst du nicht nach Hawaii oder nach Rio, dort ist jetzt Karneval, Warum fährst du nach Paris. Du bist ein Idiot, Mann! Eh bien, wenn es dich glücklich macht, dann sei einer! In der Ferne tauchte die Landspitze von Hoc auf. Als die Deutschen 1944 die Invasion erwarteten, hatten sie hoch oben auf den Klippen sechs Langrohrgeschütze installiert. Unerreichbar für Bomben wurden sie als die gefährlichsten der ganzen Küste bezeichnet. Sie reichten 33 Kilometer weit und konnten die von den Alliierten vorgesehenen Landungsab schnitte Omaha und Utah bestreichen. Was hatten sie nicht alles unternommen, um die Batterie auszuschalten. Der Kreu zer Texas hatte sie beschossen. Vergebens. 4
Ein Colonel James E. Rudder hatte sein Rangerbataillon wo chenlang trainiert. Zwischen den Klippen, deren Fuß bei Ebbe frei lag, hatte er seine Männer an Land geführt. Mit Harpunen, mit Seilen und den großen Schiebeleitern der New Yorker Feuerwehr hatten sie sich unter ungeheuren Verlusten an der senkrechten Wand hochgearbeitet. Endlich oben angekommen, stellten sie fest, daß die Deutschen ihre Geschütze zurückge nommen hatten. Wofür sie ihr Blut vergossen hatten, war nichts anderes als ein paar Baumstämme unter Tarnnetzen. Daran mußte Maurice Bergman denken, als er an Hoc vorbei fuhr. Das ganze Leben war ein Trickspiel. Wohin man sah, überall die alten Kniffe. Liebe, Glück, Unglück, Macht Religi on, alles nur Tricks. Eh bien, jetzt würde auch er tief in die Kiste greifen. Ein Hinweisschild tauchte auf. Bayeux-Caen Autoroute nach Paris. 248 Kilometer. Er ging vom Gas und bog ab. * An der Place de la Muette hatte Bergman eine elegante Wo h nung. Er stellte den Mercedes in die Tiefgarage und fuhr mit dem Lift hinauf. Droben nahm er erst eine Tablette, verbotenerweise mit einem Glas Cognac, dann legte er sich hin. Kurz vor Mittag telefonierte er. Die Nummer war lange be legt. Als er endlich durchkam, meldete sich eine Frau mit einer Stimme, die sofort Klarheit darüber schaffte, daß sie noch im Bett lag und für vierhundert Franc zu haben war. Sie nannte nicht etwa ihre Nummer, sondern sagte nur: „Ja bitte, mon Cher?“ Auch Bergman hatte im Umgang mit der Dame einige Si cherheitsriegel vorgelegt. Er verwendete einen anderen Namen. „Nora, hier spricht Pierre.“ „Pierre Dunal, mein reicher Onkel vom Lande?“ 5
Das war Noras Art von Humor, ihre Freier zu klassifizieren.
„Erinnerst du dich an meinen letzten Besuch?“
Sie kicherte.
„Hatte noch tagelang gewisse Probleme. Du warst ganz schön
ausgehungert, mon ami“ „Daran dachte ich im Moment nicht“ „Verstehe.“ Sie reagierte rasch. „Du meinst das andere. Ich habe es nicht vergessen. Ich vergesse nie einen Wohltäter, der mir tausend Franc für einen kleinen Dienst spendiert“ Bergman wollte zur Sache kommen und drängte. „Hattest du Erfolg?“ „Wer so viele Freunde hat wie ich.“ „Versteht er etwas von Feinmechanik?“ erkundigte sich Bergman vorsichtig. Nora schmatzte laut, als lutsche sie Bonbons. „Er hat sie erfunden. Er ist wie ein Düsenflugzeug. Qualität hoch zehn. Als Experte, meine ich.“ Wenn Nora das behauptete, dann mußte etwas dran sein. Man konnte ihr manches nachsagen, aber nicht, daß sie übertrieb. Bergman wollte es jedoch genau wissen. „Ich suche zwei Mitarbeiter. Sie sollen nicht wie Algerier aussehen. Sie brauchen nicht gebildet, sollen aber furchtlos sein. Und sie müssen ihre Arbeit tun, perfekt ohne zu fragen.“ Das Callgirl lachte, aber es lachte Bergman nicht aus. „Reichlich viel verlangt.“ „Das weiß ich.“ „Du willst nicht nur von der Königin zum Tee eingeladen werden, die Königin soll auch noch einen Striptease aufführen, he?“ „Wenn möglich.“ „Komm vorbei, bei mir kannst du alles haben. Tee und das übrige.“ Maurice Bergman war im Moment auf nichts erpicht, was nicht sein Projekt betraf. „Wann treffe ich ihn wo?“ 6
„Melde dich wieder. In einer Stunde.“ Das tat er. Nora nannte Bergman ein Bistro in der Innenstadt und eine Uhrzeit. „Wie erkenne ich ihn?“ „Er wird dich erkennen. Einen eleganten Monsieur wie dich findet man im Dunklen, mein Schatz.“ „Täusche dich nicht in dem Onkel vom Lande“, sagte Bergman. Wie er das gemeint hatte, wurde deutlich, als er das Schlaf zimmer verließ und sich im großen Barockspiegel betrachtete. Seine Mutter hätte ihn nicht wiedererkannt. Aus dem teuer gekleideten Millionär, der nur Maßanzüge trug, war ein ameri kanischer Tourist geworden. Ohne große Hilfsmittel, nur mit schwarzen Jeans, einem schwarzen Baumwollhemd, Lederjak ke in der beigen Farbe der Stiefel und einer Drahtrandbrille hatte er sein Aussehen stark verändert. Statt der Mercedes-Schlüssel nahm er die des Citroën Visa, der schon seit Wochen in der Garage bereitstand. * Der Bursche im Bistro war so unauffällig wie ein Senfglas auf einem deutschen Speisetisch. Aber er hatte flinke Augen. Nachdem er alle Gäste gemustert hatte, pirschte er sich an Bergman heran. „Du mußt es sein“, sagte er, „du bist Pierre Dunal.“ „Und was macht dich so sicher?“ Der andere musterte ihn von oben bis unten, dann lächelte er. „Ein Mann, der Straßenanzuge von einer gewissen Eleganz trägt, der kann gar nicht anders, als immer nach dem Teuersten zu greifen. Pucci-Jeans, handgearbeitete Stiefel, die verraten dich.“ Sie tranken ein Glas, Dabei tasteten sie einander ab, Bergman 7
diesen blassen, aber kräftigen und vertrauenerweckenden Bur schen im Duffle-Coat, und der andere ihn. „Mein Name ist Edmond.“ „Wie weit, Edmond“, fragte Bergman, „bist du bereit zu ge hen?“ „Kommt auf das Verhältnis von Risiko zur Bezahlung an, Monsieur.“ „Arbeit gering, Risiko mittelgroß, Bezahlung gut.“ „Viel Kohle für wenig Mühe, das gefällt mir nicht, Mann. Wo liegt da der Hund begraben?“ „Es gibt keinen“, versicherte Bergman. Der Mann, der gegen Franc seine Talente verkaufte, hob die linke Braue. „Die Löhnung erfolgt erst nach Absatz der Beute. Stimmt’s? Dann bin ich nicht dein Mann, Pierre.“ „Fünfzigtausend Vorkasse“, lockte Bergman. „Die andere Hälfte bei Aushändigung der Ware.“ „Klingt schon besser.“ Edmond trank rasch. „Was für Ware?“ Bergman deutete einen Gegenstand vom Format einer Zigar renkiste an. „So klein.“ „Inhalt bedeutend.“ „Nur für mich. Für andere weniger.“ „Wo liegt das Ding?“ wollte Edmond wissen. Bergman zahlte. Sie gingen hinaus und ein Stück die Rue Düpier hinauf bis zur Place Pigalle. „Nicht in Paris“, sagte Bergman. j „Schon besser.“ „In einer Bank.“ „Das ist leider ganz schlecht“ „In einer kleinen Privatbank.“ „Im Safe natürlich. Die kleinen Banken haben oft die abge feimtesten Sicherheitsanlagen.“ „Das ist richtig“, räumte Bergman ein. „Aber das Haus ne benan ist von mir gemietet“ 8
Edmond gab einen Grunzlaut von sich. „Das bewegt die Sache wieder ein Stück zum Vorteil hin. Der Keller des Hauses grenzt an den Saferaum der Bank. Richtig?“ „Die Wände sind nicht besonders eindrucksvoll.“ „Woher willst du das Wissen?“ „Man hört den Schall durch.“ „Mit welchen Ohren? Mit deinen, mit denen eines Luchses oder mit elektronischer Verstärkung?“ „Nun, taub darfst du nicht gerade sein. Die Hauswand ist eine Ziegelmauer. Dann kommt Beton. Nicht einmal armiert“ „Bist du Baumeister?“ „Ich besorgte mir ein Metallsuchgerät und tastete die Mauer damit ab. Eindeutig Schüttbeton ohne Stahlarmierung.“ Plötzlich nahm Edmond Bergman beim Arm und zog ihn hin ter einen Lastwagen, der Getränke ablud, und weiter in einen Hausgang. „Ein Freund, der uns nicht zu sehen braucht“ „Von der Polizei?“ „Muß Ja nicht sein, oder?“ Als die Luft rein war, verließen sie das Haus und setzten sich weiter oben in Bergmans Citroën Visa. „Riecht nagelneu“, bemerkte Edmond. „Würdest du lieber einen alten klauen?“ „Würdest du überhaupt einen klauen?“ fragte Edmond und kam zurück zum Thema. „Beschreib mir den Safe.“ Bergman nannte den Herstellernamen, das Modell, die Seri ennummer bis zur letzten Ziffer mit Schräg- und Bindestrichen. Edmond gab zu, daß er das Fabrikat kenne, sich jedoch über das Modell erst erkundigen müsse. Zu öffnen sei der Safe na türlich in jedem Fall. Es gebe keinen Safe, der nicht zu öffnen sei. „Ein Tresor, der nicht aufgeht, ist so sinnlos wie ein Feuerlö scher im Schlafzimmer, verstehst du.“ Bergman nickte. „Du brauchst noch einen Mann, Edmond.“ 9
Edmond hob zwei Finger. „Einen Helfer und einen, der Schmiere steht und gut Auto fährt.“ Stumm deutete Bergman auf sich selbst. Doch Edmond lach te. „Mit der müden Karre da?“ „Ich würde es nicht unter einen Vierhundertfünfziger Merce des tun. Der ist schnell, sicher, stabil und hat einen Tank, der groß genug ist für hohe Reichweiten.“ „Damit machst du jeden Polizei-Citroën naß.“ „Leicht“, stimmte ihm Bergman zu. Edmond bat um Bedenkzeit. Wahrscheinlich würde er einsteigen, und nach einem dritten Mann wollte er sich auch umsehen. Er habe schon einen im Auge. „Bonso“, sagte er, „unauffälliger Typ wie ich. Hat nur einen Tick. Bei dem Wort Polizei muß er jedesmal husten. Und fal sche Zähne hat er auch. Statt Sonntag sagt er Zonntag. Man darf aber nicht darüber lachen. Sonst ist er okay.“ „Einverstanden“, erklärte Bergman. „Ruf ihn an.“ „Er bekommt dreißig. D’accord? Dreißig voraus, dreißig hin terher. Dreißig ist genug, um die Mauer durchzubrechen und für Unvorhergesehenes.“ „Was“, fragte Bergman, „ist Unvorhergesehenes?“ „Ein Wächter zum Beispiel.“ Bergman winkte ab. „Keine Gewalt Damit möchte ich nichts zu tun haben. Waf fen werden gar nicht erst mitgeführt“ „Das ist natürlich ein Märchen“, äußerte, Edmond, „daß Sa feknacker nicht schießen. Reines Geschwafel von Kriminal psychologen ist das. Wenn ich einen Bruch mache, will ich Erfolg haben. Unter Erfolg verstehe ich, ungehindert mit der Beute fortzukommen. Wenn sich da einer querstellt, muß ich ihn wegputzen. Doch sonnenklar, oder?“ „Keine Waffe!“ forderte Bergman erneut „Kleiner Besserwisser“, höhnte Edmond. 10
Das war der Punkt, an dem die Zusammenarbeit, ehe sie be gonnen hatte, zu scheitern drohte. Aber Bergman gab nicht nach. Und das wiederum imponierte Edmond. „Keine Waffe“, wiederholte Bergman, „und wenn ich dir auf die Nerven gehe, es ist mir egal“ „Verheiratet?“ fragte Edmond unvermittelt „Nein.“ „Freundin?“ „Nichts Festes“, deutete Bergman an. Edmond hob die Schultern. „Wenn man nicht gebunden ist dann kann man diese Welt in Ruhe verlassen. Ich möchte aber noch ein bißchen dableiben. Erst recht mit hunderttausend in der Tasche.“ „Keine Waffe!“ „Einverstanden“, sagte Edmond. „Aber für mich bist du ein Spinner, Pierre.“ Bergman gab sich kumpelhaft. „Aber ein erstklassiger“, fügte er hinzu. „Sind wir nicht allererste Güte“, entgegnete Edmond, „und wann soll der Coup klingeln?“ „An einem Wochenende.“ „Heute ist Freitag. Morgen fahre ich zu Bonso nach Orleans. Montag hast du Bescheid.“ „Und du Dienstag das erste Geld.“ „Also, in acht Tagen geht’s los.“ Ein Händedruck. Edmond stieg aus. Bergman fuhr zur Place Muette. Obwohl sich seine Leber abermals meldete, kehrte er am Spätnachmittag wieder nach Hause in die Normandie zurück. 2. Die Autobahn von München nach Salzburg war Urban schon so oft gefahren, daß sein BMW, wäre er ein Pferd gewesen, bis zur Grenze keiner Zügelführung bedurft hätte. 11
Um 13 Uhr 35 kam er in Freilassung an. Genau siebzig Mi nuten nachdem sich der Schlagbaum im BND-Gelände hinter ihm gesenkt hatte. Für den Durchschnittsbürger eine Fabelzeit, für den Formel 1-Weltmeister eine eher mäßige . „Gut daß Sie da sind“, begrüßte ihn der Chef an der Grenzpo lizeistation, „der Bursche tobt wie ein Mähdrescher.“ „Wann hat ihn der Fahndungscomputer ausgeworfen?“ „Gegen zehn Uhr.“ „Dann hat er sich jetzt erschöpft“, schätzte Urban und ließ sich berichten, wie es dazu gekommen war. „Er rollte an den Schlagbaum, grinste wie ein Honigpferd und sagte, daß er nichts anzumelden habe. Dabei lagen auf dem Rücksitz eine Stange Zigaretten und eine Flasche Sekt. Das darf er zwar einführen, muß es aber benennen. Daraufhin schaute sich mein Beamter den Kofferraum an und fand sechs Liter Wachauer. Noch immer kein Beinbruch. Kostet ein paar Pfennige Zoll. Aber nun nahmen wir ihm den Paß ab. Der Paß geht ins Sichtgerät, und der BKA-Computer wirft aus, daß etwas vorliegt. Die Einreise soll dem BND gemeldet werden. Was hiermit geschehen ist. Was machen wir mit ihm? Schieben wir ihn ab?“ Urban hob die Rechte und spreizte alle Finger ab. „Fünf Minuten.“ Wenig später betrat Urban den Raum, der für alles mögliche diente, als Abstellkammer für beschlagnahmtes Schmuggelgut, aber auch für kurzfristig Festgenommene. Geeignet war er dazu. Die Wände waren dick, das Fenster vergittert, die Tür massiv. Ein WC gab es auch. Der Wiener Ganove saß auf der Pritschenmatratze. Als er Urban sah, sprang er auf und protestierte erst einmal lautstark. Er verlangte, sofort auf freien Fuß gesetzt zu werden. Zollge bühren und Strafe würde er bar bezahlen. Außerdem verlange er einen Anwalt, zumindest aber nach Österreich in seine ge liebte Heimat zurückbefördert zu werden. 12
Dann war die Luft aus ihm heraus. Er setzte sich und blickte Urban an. „Schon da“, sagte er und reichte Urban die Hand. Der nahm sie aber nicht entgegen. „Tenerek“, Urban seufzte, „Tenerek, warum enttäuschst du uns immer nur?“ Der Wiener Ganove zog seine vorletzte Zigarette aus der Gi tanes-Packung. Die letzte bot er Urban an. Der lehnte die Schwarze dankend ab und fuhr fort: „Außerdem bist du blöder, als die Polizei erlaubt, Tenerek. Und mit so was hat man zusammengearbeitet.“ Stani Tenerek aus dem zweiten Wiener Bezirk saß da wie ein Haufen Hundedreck, zusammengesunken und stinkend vor Wut. „Könnte mir selbst in den Hintern beißen“, gestand er, „so viele Fehler auf einmal. Aber ich schwöre dir…“ „Was?“ fragte Urban und begann Punkt für Punkt die Dinge aufzuzählen, die sich nicht einmal ein Ganove leisten durfte. „Du hast zwanzigtausend Mark von uns angenommen und wolltest dafür Informationen liefern.“ „Wollte ich auch“, redete sich Tenerek heraus. Wer von die ser Bande hatte keine Ausreden auf Lager. „Aber der Mann in Graz, von dem ich die Nachrichten immer bekam, den haben sie in Böhmen kaltgestellt.“ „Nachrichten“, höhnte Urban, „es waren mehr Gerüchte, Märchen, Enten als Nachrichten.“ „Die Qualität auszusortieren, ist euer Geschäft“ Der Bursche, der in Wien alles machte, von Hehlerei bis zur Kuppelei diente den westlichen Geheimdiensten mitunter auch als Nachrichtenlieferant. Von zehn seiner Geschichten war höchstens eine brauchbar, aber er war ein guter Verkäufer. Urban ließ Tenereks Erklärung nicht gelten. „Du hast zwanzigtausend Mark genommen und bist verduf tet. Du hast sie mit dem Vorsatz, keinerlei Leistung zu erbrin gen, kassiert. Dein Lieferant in Graz war schon seit Wochen 13
verschwunden. Leider hat dich deine Phantasie diesmal im Stich gelassen, und du konntest nichts erfinden, wie das sonst üblich ist“ Wie er so vor Urban saß, wirkte Stani Tenerek völlig ge knickt. Eine schmächtige Unterweltratte war er, aber mitunter brauchte man solche Leute. „Fehler Nummer zwei“, fuhr Urban fort, „du hast obendrein noch die Frechheit, in die Bundesrepublik einzureisen, obwohl du dir ausrechnen kannst, daß wir dich auf die Fahndungsliste setzten.“ Jetzt grinste der spitznasige Ganove schief. „Die Liebe“, erklärte er. „Wollte meine Freundin in Rosen heim besuchen. Nur auf einen Sprung.“ „Fehler Nummer drei ist, wegen ein paar Mark Zollersparnis den Wein nicht zu deklarieren.“ „Verdammt!“ fluchte Tenerek, „Ich muß besoffen gewesen sein.“ „Dann war das dein Fehler Nummer vier. Betrunken fährt man nicht Auto.“ Stani machte aber einen ganz nüchternen Eindruck. Plötzlich zog er ein weinerliches Gesicht und versuchte es auf die Un schuldstour. „Fein, daß du dich selbst um mich bemühst, Dynamit. Alte Freunde laßt man nicht verkommen.“ „Alte Freunde! So siehst du aus.“ Der Ganove schien jetzt den richtigen Dreh gefunden zu ha ben. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Hör zu, Urban. Ich hätte dich ohnehin angerufen.“ „Wann? Am Sankt Nimmerleinstag.“ „Nach meinem Besuch bei der Rosi hätte ich mich sowieso gemeldet.“ „Klar, du hast Rosi nur besucht, um mich danach anzurufen.“ „Ich schwör’s!“ „Um mir die zwanzigtausend zurückzuzahlen.“ „Wie denn? Ich bin doch pleite.“ Der Ganove zog die Ta 14
schen seines auffällig gestreiften Zweireihers nach außen. Sie waren wirklich leer. Aber nur deshalb, weil man ihm alles weggenommen hatte. Nun deutete er auf seinen Kopf. „Aber da drin, da bin ich nicht pleite.“ Urban lehnte sich gegen die Wand. „Schön, dann laß es hören.“ Urban kannte Stani Tenerek. Eher hätte der sich einem Er schießungskommando gestellt, als ohne Gegenleistung das letzte herzugeben, was er noch besaß. Stani würde eine Forde rung stellen, zu handeln versuchen, soviel wie möglich dafür herausholen. Zumindest wollte er auf freien Fuß gesetzt we r den. Tenerek schaute sich um. Mit dem Kennerblick des erfahre nen Zuchthäuslers sagte er: „Ich muß raus hier.“ Urban hob lässig die Hand. „Du hast eine Unordnung im Hirn, wie ein Hippie im Reise koffer.“ „Weil ich Fehler Nummer fünf begehe und Forderungen stel le, statt abzubitten?“ „Weil du auch noch unverschämt bist, Tenerek.“ „Sind wir uns darin nicht ähnlich, Dynamit?“ Urban ging zur Tür, um zu klopfen. Stani Tenerek sollte den Eindruck gewinnen, Urban habe das Gespräch mit ihm beendet „Robertl, rief der Wiener. „Bleib da. Laß uns reden.“ „Du bist mir echt zu unverschämt“, sagte Urban. Der Ganove zog ihn jedoch wieder auf den Hocker. „Schön, ich bin zu weit gegangen. Du hast mich in der Hand.“ Dabei blickte er schlitzohrig in die Gegend und hoffte, daß er mit der Masche durchkomme. Jetzt mußte er Fakten liefern, oder in einer Stunde holte ihn der Häftlingsbus. Das wußte er. Also sagte er das, was einen BND-Agenten zweifellos elek trisieren würde: „Die Russen bilden eine Spezialeinheit.“ 15
Urban blieb äußerlich kühl. „Die bilden imme rzu Spezialeinheiten. Mal für dies mal für jenes, meist nur zur Übung.“ „Diesmal nicht.“ „Wo stellen sie sie auf?“ „In der Agentenschule in Minsk.“ „Neue Leute?“ „Nein, sie wird aus erfahrenen Agenten rekrutiert.“ „Woher weißt du das?“ „Eine Freundin von mir in Neustadt ging lange Zeit mit ei nem Iwan von der Handelsmission. Er war KGB-Agent. Sie wußte es. Sogar ein ziemlich hohes Tier war er dort. Eines Nachts mußte er Hals über Kopf abreisen. Er kam noch auf einen Abschiedskuß bei ihr vorbei. Er müsse nach Minsk, sagte er, Sonderkommando. Und was in Minsk ist, das wissen wir doch, oder?“ Die Information klang nicht so, als habe Tenerek sie soeben von A bis Z erfunden. Urban zeigte es aber nicht. „Und wozu dient das Sonderkommando?“ „Training für einen Spezialeinsatz.“ „Wo und für was?“ Stani hob drei Finger. „Ich schwör’s, ich weiß es nicht… noch nicht“, fügte er hin zu. Das Gewicht seiner Schläue drückte ihn nicht gerade zu Bo den. Auch wenn er es erhoffte, Urban fiel nicht darauf herein. „Wir behalten dich da, bis es dir einfällt.“ Jetzt wurde der Ganove wieder wütend. „Dann schmeiß ich den Löffel hin, ein für allemal. Dann sind wir fertig miteinander, und ihr kriegt nie mehr ein Wort von Stani Tenerek zu hören.“ „Also Servus dann, Stani“, sagte Urban und klingelte, damit man ihm von außen öffnete. 16
„Sie haben seine Abschiebung nach Österreich veranlaßt?“ fragte zwei Tage später im BND-Hauptquartier Pullach der Operationschef. „Und ich verantworte das“, erklärte der Agent Nr. 18. „Nach einem Bündel miserabler Erfahrungen mit diesem VMann.“ Urban deutete zwischen Daumen und Zeigefinger einen fei nen Spalt Luft an. „So klein war er, mit Hut. Jetzt weiß er, was auf dem Spiel steht. Er kann sich jenseits der österreichischen Grenze nicht mehr blicken lassen. Auf NATO-Territorium greifen wir sofort zu.“ „In die Schweiz kann er noch“, warf Oberst Sebastian ein und rieb seinen Bauch rechts, etwa dort wo bei Menschen, die über dieses Organ noch verfügten, die Galle saß. Er hatte längst keine Galle mehr, aber der Phantomschmerz sich bildender Steine war noch vorhanden. „Was hat er Ihnen versprochen?“ „Daß er anruft.“ „Wegen dieser Minsker Sondereinheit? Die stellten in Minsk schon so viele Sondereinheiten auf wie wir im Krieg Ersatzba taillone.“ „Aber nicht für jede Sondereinheit ziehen sie Spitzenagenten zusammen.“ Sebastian beendete die Gallenmassage, weil sie ja doch zu keinem Ergebnis führte. Er schraubte das Monokel vor das Auge, um seinen Einmeterachtzigmann, der sonnengebräunt und lässig, vor ihm stand, schärfer zu sehen. „Sie glauben also, daß sich etwas zusammenbraut.“ „Tenerek fährt nach Wien-Neustadt, um mit diesem Mädchen zu reden.“ „Ich fürchte, auf seinen Anruf können Sie lange warten,“ Urban goß Kaffee ein. Er war ausnahmsweise heiß und stark. „Am Ende“, meinte der Alte, „rutschen wir ja doch hinten runter.“ 17
„Was ist schon verloren“, fragte Urban. „Zwanzigtausend Mark V-Mann-Löhnung.“ „Die wir auf keinen Fall wiedersehn“, betonte Urban. „Und wenn wir versucht hätten, Tenerek auf irgendeine Weise ein zubuchten, hätte das nur Kosten verursacht. Außerdem wäre dazu eine ziemlich verwegene juristische Konstruktion nötig gewesen. Genaugenommen liegt nichts gegen ihn vor. Unsere Geschäfte mit Tenerek sind illegal und nicht einklagbar. Daß er auf die Fahndungsliste kam, war ein reines Entgegenkommen des Bundeskriminalamtes. Ein Typ wie Tenerek in einem deut schen Gefängnis schmorend nützt uns nullkommanull minus.“ „Er nützt uns auch in Freiheit wenig“, entgegnete der Alte. „Ich kriege ihn“, versprach Urban, „wenn er nicht anruft, dann suche ich ihn persönlich auf und ziehe ihm die Schlawi nerohren lang.“ Der Alte steckte sich gegen alle Vernunft eine Virginia an. Dieser genußvolle Prozeß stimmte ihn immer milde. „Möchte Ihnen keine Vorschriften machen“, sagte er, „man soll seinen Leuten, falls sie schon mal Initiative zeigen, nicht gleich in die Arme fallen. Wenn Sie sich von der Sache etwas versprechen, okay, meinetwegen. Aber wenn es nur heiße Luft war, mit dieser KGB-Aktion… dann wandern Sie in die zweite Liga-Nord.“ „Schön wär’s“, bemerkte Urban. Eines der Telefone summte. Urban nahm ab. Der Anruf war für ihn. Als er auflegte, stand noch etwas mehr als das perma nente Lächeln um seinen Mund. „Tenerek“, sagte er. „Treffpunkt Salzburg.“ * Als Urban das Espresso in der Getreidegasse betrat, dämmerte es bereits. Die Bar war noch leer. Tenerek saß allein da. Er hatte ein Glas vor sich, dessen Inhalt für Laien wie Milch aus sah. Es war Pernod, ein klargelber Absinthlikör, der sich beim 18
Aufgießen mit Wasser verfärbte. „Auf dich ist Verlaß“, rief Stani, „ich wollte, ich wäre wie du.“ „Sei froh, daß du anders bist“ Urban bestellte Kaffee mit Cognac. Er brauchte das jetzt. So eine Fahrt durch dichtes Schneetreiben auf vereisten Autobah nen schlauchte ganz schön. Der Wiener Ganove, dessen engstehende Augen ein wenig an einen doppelläufigen Derringer erinnerten, begann zu jammern. „Was mich das kostet. Die Reise nach Wien, herumtelefonie ren, Schmiergelder. Jeder hält die Hand auf.“ „Es wird dich nicht umbringen“, spottete Urban. „Und was hast du gehört?“ „Nur wenig.“ „Laß es heraus!“ „Die Hauptsache erfahre ich später.“ Tenerek schaute auf die Uhr. „In zwei Stunden.“ „Gib mir schon, was du hast.“ Jetzt wurde der Ganove verlegen. „Ich weiß, ich gelte als Windmacher, als Geschichtenerfin der, und es klingt auch wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, zumindest was den Titel betrifft. Aber ich kenne bis jetzt nicht mehr als diesen.“ „Mach keine Umschweife“, drängte Urban, „ich kauf s dir ohnehin nur mit Vorbehalt ab.“ Tenerek beugte sich zu Urban hin. Der Kellner kam und ser vierte den Kaffee. Also wartete Tenerek noch. Erst als der Ober außer Hörweite war, sagte er: „Das Auge…“, er setzte ab, nahm neuen Anlauf: „Das Auge des Adlers.“ Urban gab Sahne und Zucker in die Tasse, anschließend den Cognac, dabei rührte er langsam um. „Na?“ fragte Tenerek. „Was soll das sein, das Auge des Adlers?“ „Der Russe von der Handelsmission, der mit der Freundin in 19
Neustadt, hat ihr das geflüstert, als sie ihn fragte, was er in Minsk zu suchen habe.“ Urban überlegte, ob es sich um ein russisches Sprichwort handeln könne. Es gab welche, die nur für Insider Bedeutung hatten. Die Amerikaner hatten so eines. Es lautete: Der Postbo te klingelt immer zweimal. Wer wußte schon, daß sie damit das Unheil meinten, das sich meist vorher ankündigte. Vielleicht war mit dem „Auge des Adlers“ die Anstrengung gemeint, die man zur Lösung eines Problemes aufwenden muß te. „Holzauge“, sagte Urban, „den Begriff kenne ich. Aber das Auge des Adlers, nicht daß ich wüßte.“ „Ist es scharf?“ „Nicht so scharf wie das eines Falken oder eines Bussards.“ „Aber größer.“ „Nur, insofern, als Adler die größeren Vögel sind.“ „Gibt es“, setzte Stani an, „in der Geschichte etwas, in der Kunst, oder in der Technik, das unter der Bezeichnung Adler auge läuft?“ „Schon möglich. Aber was?“ Urban mutmaßte: „Ein Objek tiv, eine Linse, eine Kamera?“ Es war sinnlos, im dunkeln herumzutasten. „Das ist zu wenig“, bedauerte Urban. „Was nützt eine Infor mation, die von frühägyptischen Skulpturen bis zum Spiegelte leskop auf dem Mount Palomar alles umfassen kann, was Au gen hat.“ Tenerek leerte seinen Lakritzlikör. „Ich rufe hier an“, versprach er. „Besser wir treffen uns noch einmal.“ „Geht nicht. Sie nehmen mich mit zurück nach Wien.“ „Deine Nummer?“ Nach anfänglichem Zögern nannte ihm Tenerek auch noch die Adresse. „Du mißtraust mir, Dynamit“ „Habe ich etwa keinen Grund?“ 20
„Du meinst, weil ich schon im Zuchthaus war.“ „Und weil du immer wieder mit schöner Regelmäßigkeit hi neinkommst.“ Der Ganove zog seinen Pelzmantel an, ein Zuhältermodell aus Rotfuchsschwänzen. „Der Mensch kann sich ändern“, meinte Tenerek. „Der Mensch ändert sich nie“, antwortete Urban, * Nach einem Abendessen im Peterskeller schlenderte Urban durch die Gassen zu der kleinen Bar zurück. Es ging auf 20 Uhr 30. Jede Minute konnte sich Tenerek melden. Urban nahm zur Verdauung einen Bitter, rauchte eine Ziga rette nach der anderen. Um 21 Uhr wandte er sich an den Kee per. „Mein Name ist Urban. War vielleicht ein Anruf für mich?“ „Heute nicht“, erhielt er als Antwort, „ich bin seit Mittag hier.“ Urban gab noch fünfzehn Minuten zu, dann wählte er die Nummer, die ihm Tenerek gegeben hatte. Das Freizeichen kam, aber niemand hob ab. Sicher ist er schon weg, dachte Urban, und er hinterließ eine Nachricht für Tenerek. Wenig später bestieg er seinen an der Salzach parkenden BMW, rollte über die Brücke und stadtauswärts Richtung Fuschl. Weiter draußen fragte er einen Passanten. Der überlegte erst, dann sagte er: „Vor der Bahn biegen Sie links ab. Die Straße führt nach Hellbrunn. Aber soweit fahren Sie nicht Sie sehen das Neubau viertel schon liegen.“ „Jetzt bei Nacht?“ „Die Lichter der hohen Häuser sind nicht zu verpassen.“ 21
Bis auf knapp hundert Meter erreichte Urban sein Ziel. Dann ging es nicht weiter. Die Straße war gesperrt. Die Drehlichter von Polizei- und Rettungsfahrzeugen blinkten. Urban stieg aus. Wegen der dichtstehenden Leute sah man wenig. Also wandte er sich an ein junges Mädchen. „Was ist los?“ „Einer hat sich aus dem Fenster gestürzt. Sechster Stock.“ „Wo?“ „Von Nummer neunzehn.“ Von dem Haus also, das ihm Tenerek genannt hatte. „Frau oder Mann?“ „Eine Frau“, vermutete das Mädchen. „Ich habe, liegen se hen. Sie trug einen langen eleganten Pelzmantel Er war ganz voll Blut. Sie landete auf dem Müllcontainer.“ „Rotfuchs?“ fragte Urban. „Ja, Schwänze.“ „Sind Sie sicher?“ „So einen Mantel wollte ich schon immer. Kostet ein Vermö gen. Gut und gern dreißigtausend Schilling.“ Tenerek kostete es das Leben, überlegte Urban und steckte sich eine MC an. Warum hatte Tenerek sterben müssen? Eine Gangsterabrech nung? Oder waren das Auge des Adlers daran schuld und seine Neugier? Der Notarztwagen fuhr leer weg. Um Tote kümmerten die sich nicht. Nach zwei Zügen trat Urban die Zigarette in den Asphalt. 3. Edmond war wie ein nervöser Terrier, Bonso eher wortkarg. Die Anspannung vor dem Coup riß jedem die Tapete vom Gesicht. Wenn die Spannung wuchs, dann verstellte sich keiner mehr. Nur Maurice Bergman, den sie Pierre nannten, spielte weiter 22
hin den kühl überlegenen Boß. Es kostete ihn Kraft, aber es war notwendig. Jetzt, wo er endlich den Hammer ansetzte, durfte der Nagel nicht krumm werden. Sie saßen in dem dunkelblauen Mercedes 450-SE und warte ten, bis die Luft in St Genis rein war. Maurice genoß eine Cho pin-Sonate vom Kassettenband. „Er hat die Ruhe weg“, bemerkte Edmond kettenrauchend. „Ich lenke mich nur ab“, erklärte Maurice. „Bist ein reicher Pinkel wie?“ fragte Bonso. Je mehr er seinen Sprachfehler zu vertuschen suchte, desto deutlicher kam er durch. „In Texas würde ich als armer Mann gelten“, sagte Maurice. „Unter Priestern gelte ich auch als Heide“, meinte Bonso. Maurice nahm eine Tablette ohne Wasser und ohne Cognac. „Wogegen hilft das?“ fragte Edmond. „Leber.“ „Kauf dir eine neue.“ „Eine Pavianleber kommt mir nicht rein.“ Sie lachten. Drüben ging ein Pärchen vorbei. Ab und zu kam noch ein später Wagen oder ein Taxi durch die Strauße. Maurice schaltete die Armaturenbeleuchtung an. Nach einem Blick auf die Quarzuhr sagte er: „Ich denke wir können!“ Er sprach leise und leidenschaftslos, als führe alles, was er tat, ja doch zu keinem Ziel. „Und kein Licht im Haus, compris?“ „Dachte, du hast es gemietet.“ „Trotzdem.“ Sie fuhren den Boulevard hinauf und um die Ecke. Maurice und Edmond stiegen aus. Bonso parkte den Mercedes ein Stück weiter oben am Park. Als er zurückkam, war die Eingangstür des alten grauen Hauses nur angelehnt. Er verschloß sie hinter sich und tastete sich im Dunkeln die Treppe hinauf zu den 23
anderen. Oben stand Maurice am geöffneten Fenster und beo bachtete die Straße durch die Jalousienblätter. „Im Keller kann Licht gemacht werden“, sagte er. „Die Fen ster dort sind verklebt. Auf dem Tisch liegt ein Sprechfunkge rät. Sobald eure Arbeit lauter wird, meldet ihr mir das. Ich gebe dann durch, ob die Luft rein ist. Wie lange wird es dauern, bis ihr durch seid?“ „Sechs bis acht Stunden“, schätzte Edmond. „Das wäre dann zur Frühstückszeit.“ „Dachte, die Bank ist am Samstag geschlossen?“ „Richtig! Und auf der Straße herrscht Wochenendverkehr.“ Edmond war zufrieden. „Dann können wir notfalls auch sprengen, und keiner merkt was. Aber bis vierzehn Uhr müssen wir drüben sein. Ab Mittag wird es still.“ „Kleinigkeit“, sagte Bonso. * Die Dämmerung setzte ein. Die Stadt erwachte. Lieferwagen waren die ersten Fahrzeuge, die Maurice von seinem Fenster platz aus sah. Gegen acht Uhr kam die Sonne heraus und lockte die Men schen auf die Straße. Weekendbummler, Spaziergänger, Haus frauen. Der Autostrom aus der Stadt verstärkte sich, als wolle alles ins Rhônetal, um die ersten blühenden Mandelbäume zu suchen. Stadteinwärts fuhr hauptsächlich die Landbevölkerung, um Einkäufe zu tätigen. Auf dem Fluß kamen Schleppkähne vor bei. Güterzüge rollten nach Paris hinauf und nach Marseille hinunter. Die Männer im Keller des Hauses arbeiteten lautlos. Edmond meldete sich jede Stunde einmal „Wir sind durch die Brandmauer. Jetzt kommt der Beton.“ „Kaffee?“ fragte Maurice. 24
„Danke, ist noch genug da.“ „In zehn Minuten setzen wir den Elektromeißel an.“ Maurice Bergman, der vor vielen Jahren aufs Land gezogen war, um dort die Stille zu genießen, freute sich heute über jeden Lastwagen, der auf dem Autobahnzubringer vorbeidon nerte. Die schweren Camions, die die Straße vibrieren ließen, durften leider nur bis 13 Uhr unterwegs sein. Dann galt Wo chenendfahrverbot für Lkw von 3,5 Tonnen aufwärts. Es schien, als drängten sie in Massen vorbei, um rasch nach Hause zu kommen. Maurice war das recht Im Keller arbeitete jetzt der Magnetmeißel. Zwar hörte man sein Rattern nur gedämpft, aber er erschütterte das Haus, daß die Scheiben klirrten. Nach einer Stunde bangen Beobachtens nahm Bergman das Walkie-Talkie. „Wie lange noch?“ „Verdammt hart und dick, dieses Betonzeug. Eine Wand wie bei einem Bunker.“ „Also Butter ist anders“, sagte Bonso. „Wir sind durch, aber das Loch taugt nur für einen Zwerg. Eine Stunde noch.“ Das einzige, was Bergman nicht hatte recherchieren können, war das Alarmsystem der Laval-Bank. Er hoffte nur, daß die Erschütterungen es nicht auslösten. Für den Fall, daß die Sirenen losheulten, war vorgesehen, daß sie alles liegen ließen und die Flucht ergriffen. Dann gab es keine Chance mehr, das zu bekommen, was er haben wollte. Nie mehr in diesem Leben. Bergman stand am Fenster und rauchte. Der Ascher war voll von zerdrückten Zigarettenfiltern. Das Rattern im Keller wurde immer lauter und der Verkehr auf der Hauptstraße immer dün ner. Maurice wurde nervös und ungeduldig. Er fragte sich, ob er vielleicht doch die falschen Leute angeheuert hatte und ob das Ganze nicht grenzenloser Schwachsinn war. Da piepte mit einem Mal das Sprechfunkgerät. 25
„Hast du nichts bemerkt, Pierre?“ erkundigte sich Edmond. „Was gibt’s?“ „He, stehst du auf den Ohren?“ Jetzt erst merkte Maurice, daß es ganz still war in der Bude. „Ihr seid drin?“ „Komm herunter und schau dir das Ding an“, riet Edmond, „aber bring eine Sitzgelegenheit mit. Möglich, daß du in Ohn macht fällst“ * „Je mieser die Bank, desto gewaltiger der Safe“, sagte Bonso und nuckelte an seiner Schwarzen. Was da vor ihm stand, war wirklich ein Ding aus einer ande ren Welt. „So was hat normalerweise die Manhattan Chase in New York“, erklärte Edmond sachkundig. „Ich habe mich schon immer gefragt“, bemerkte Maurice, „warum sie das Zeug ausgerechnet hier in St. Genis einlagern. Jetzt weiß ich es.“ „Etwas entlegen zwar, dafür um so sicherer. Wer vermutet hier schon so ein Ungetüm von Panzerschrank.“ Ohne weitere Worte zu verlieren, machte sich Edmond an die Arbeit. Das Problem der Drehkombination löste er mit Hilfe eines hochsensiblen Mikrofons, das an einen MiniOszillographen angeschlossen war. Jeder Ton im Innern der Panzerung brachte den Lichtpunkt auf dem Sichtschirm zum Ausschlag, Als der Punkt nur noch eine gerade Linie zog, waren alle drei Verriegelungen frei. „Aber am Hauptschloß muß ich sägen“, entschied Edmond und machte den kreisrunden Diamantschneider, der wie eine mit Zähnen besetzte Krone auf dem Bohrfutter der Maschine saß, fertig. Das Ganze wurde hydraulisch verspannt dann in Betrieb gesetzt. 26
Nach dreißig Minuten waren die Zähne von zwei neuen Schneidekronen stumpf. Edmond maß die erreichte Tiefe. „Vier Millimeter. Da nagen wir noch bis Montag früh dran rum.“ „Wir müssen schweißen.“ Bonso machte die Sauerstofflanze klar. Das heißt, er verschwand und kam nach wenigen Minuten mit einem Bergsteigerrucksack wieder. Darin befanden sich eine Gas- und eine Sauerstoffflasche. Der Sack hatte im Koffer des Mercedes gelegen. „Der Wagen ist okay?“ fragte Maurice. „Auf dem Dach liegt welkes Laub.“ Bonso brannte sich eine Schwarze an. „Und unter dem Wischer steckt ein Strafzettel. Hab’ ihn an ‘nen Citroën weitergereicht“ Maurice schaute auf die Uhr. „Das Parkverbot gilt nur bis vierzehn Uhr. An die Arbeit!“ Die Sauerstofflanze erschöpfte sich bis zum letzten Atemzug aus der Azetylenflasche. Endlich konnte Edmond das Zentral schloß mit Hammer und Stemmeisen herausschlagen. „Das war’s“, sagte er schweratmend. „Offen!“ „Bedien dich!“ forderte Edmond den Patron auf. Aber Maurice zögerte noch. „Bis jetzt ging alles gut. Kein Alarm. Kaum anzunehmen, daß sie ihn einzuschalten vergaßen. Aber was passiert wenn der Geber oben im Türfalz sitzt?“ „Dann heult die Sirene.“ „Sobald ich öffne?“ „In der gleichen Sekunde“, bestätigte Edmond. „Dagegen wird wenig zu machen sein. Ich sehe die Leitung nicht. Wird wohl im Boden oder in der Decke verlaufen. Um an den Re laiskasten zu kommen, müßte man die Gitterschleusen und die äußere Panzertür der Stahlkammer öffnen.“ Maurice überlegte kurz. „Fingerabdrücke beseitigen, alle Spuren löschen. Was ist mit dem Werkzeug?“ 27
„Versenken wir in die Rhône.“ „Dann holt den Mercedes. Tankt erst auf und stellt ihn vor der Haustür ab.“ Sie machten einen Probedurchlauf. Vom Safekeller durch die Maueröffnung ins Erdgeschoß des alten Hauses bis auf die Straße stoppte Bonso vierzig Sekunden. „Wie lange braucht die Polizei, bis sie zur Stelle ist, falls die Sirene anspringt?“ Sie schätzten zwischen zwei und vier Minuten. „Wenn keine Sirene anspringt“, meinte Bonso, „kann es auch stillen Alarm geben. Dann fällt in der Präfektur nur eine Klap pe.“ „Wir rechnen besser damit“, sagte Maurice. Fünfzig Minuten später war alles bereit. Sie hatten die Spuren beseitigt. Der Mercedes stand mit warmem Motor vor dem Haus. Edmond setzte das Stemmeisen an die tonnenschwere Tresor tür. „Er hat Innenfächer“, sagte er. „Es ist Fach hundertzehn.“ Edmond gab Druck auf das Stemmeisen. Erst rührte sich die Tür nicht, dann schien sie sich widerstrebend und seufzend der Gewaltanwendung zu fügen. Sie glitt auf. Nur millimeterweise. Endlich schwang sie zügig bis zum Gummianschlag an der Wand auf. Griffbereit in Stapeln lagen etwa zwei Millionen Franc her um. „Mann Gottes!“ staunte Bonso. Sie lauschten. „Nichts“, sagte Edmond und setzte den schweren Meißel in die Fuge von Fach 110. Alles bestand aus Chromnickelstahl, die Einfassung, die buchrückengroße Klappe, die Scharniere. Aber das Schloß gab nach. Die Klappe sprang auf. Edmond leuchtete hinein. Dann blickte er den Boß an. „Was’n das? Ein Flötenetui!“ 28
„Für Piccoloflöte“, ergänzte Bonso, den Buchstaben S ve r meidend. Maurice holte das schwarze lederbezogene Etui heraus, drückte es an die Brust und küßte es. „Und das Bare?“ „Unwichtig.“ „Verdammt wenig Beute für soviel Zoff“, konstatierte Bonso. Er öffnete gerade den Mund zu einer weiteren Bemerkung, da hörten sie es brummen, heller brummen, singen, heulen, auf und ab heulen. Die Alarmsirene war angesprungen. Fluchend stürzten sie durch die Maueröffnung hinaus und nach oben. Als sie das Haus verließen und den Mercedes bestiegen, taten sie das in gebremster Hektik. Erst auf der Stadtautobahn legten sie Tempo zu. Maurice Bergman glaubte noch immer das Heulen der Sirene von St. Genis herüberzuhören. Aber es war wohl die Auswir kung des Schocks, in den ihn der Alarm versetzt hatte. Bald war er wieder ganz ruhig. * Sie fuhren nicht schneller als 145. In Avignon, das sie drei Stunden später erreichten, übernahm Edmond den Mercedes. Bonso hörte am Autoradio den Polizei funk ab. Allmählich drückten die Mienen der drei Männer Besorgnis aus. „Ringfahndung erweitert“, kommentierte Edmond, „erst Pha se fünfzig, jetzt Phase hundertfünfzig. Das ist das Maximum.“ „Was bedeutet das?“ erkundigte sich Maurice. „In einem Radius von hundertfünfzig Kilometern um St. Ge nis geht gar nichts mehr. Ich meine verkehrsmäßig. Ob auf den Straßen, auf dem Fluß, auf der Bahn oder in der Luft, alles ist dicht.“ „Großfahndung also.“ 29
„Mehr als das.“ „Und alles wegen dem lachhaften Zirkelkasten“, staunte Bonso. Maurice, der die Beute in der Sakkotasche trug, nahm das Etui heraus, öffnete es aber nicht. Nur einmal hatte er sich vom Inhalt überzeugt. Alles hatte seine Ordnung. Eigentlich wunderte er sich nicht, daß sie Großfahndung aus lösten. Die Bank gab den Druck, den der Inhaber des Schließ faches Nr. 110 mit all seiner Macht ausübte, natürlich weiter. Und diese Macht war nicht klein. Weiß Gott, sie war ungeheu er. „Möchtest du wissen, was drin ist, Bonso?“ fragte Maurice. „Nein“, log Bonso. „Ist besser so. Es bringt euch nur in Schwierigkeiten.“ Im Radio kam eine neue Durchsage, die ihnen bewies, daß die Gefahr auch so groß genug war. Die Polizei fahndete nach einem Mercedes, dunkelgrau, großes Modell. Genau stimmten die Angaben nicht. Sie benutzten den Typ mit langem Radstand, die Farbe war anders und auch das Kennzeichen, aber die Verfolger waren auf dem richtigen Weg. „Verdammt, die schaffen es!“ fluchte Edmond. „Sie kreisen uns ein.“ „Als ich das Haus mietete, sah ich ziemlich anders aus“, be ruhigte sie Maurice. „Und das alles wegen ‘nem niedlichen Manikürkasten“, murmelte Bonso. Es ging auf 17 Uhr 30. Die Nacht kam rasch. Die Springlich ter eines Polizeihubschraubers zogen über ihnen dahin. „Schätze, am Autobahnkreuz Orange machen sie dicht“ „Wie weit noch?“ „Zwanzig Kilometer vielleicht“ Maurice griff in die Tasche und entnahm ihr zwei Umschlä ge. Jeder war mit dem Anfangsbuchstaben des Namens eines seiner Komplicen versehen. „Euer Honorar. Für den Fall, daß wir uns trennen müssen.“ 30
„Bist ein echter Gentleman“, sagte Bonso. „Schätze, du kommst nicht auf deine Kosten, he!“ „Es gibt auch noch ideelle Werte“, versuchte Bergman zu er klären. Dann studierte er die Karte. „Nächste Ausfahrt runter!“ befahl er. „Das ist Bollenne.“ „Nein, Montragon.“ Edmond fand das nicht gut. „Wetten, daß sie dort stehen? Ich behaupte, daß das eine ka tastrophale Entscheidung ist“ „Überlaß mir das bitte.“ „Überlaß ihm das!“ äußerte Bonso vertrauensvoll. Entgegen seiner Erfahrung verringerte Edmond das Tempo, fuhr in Montragon heraus und dort nach Bergmans Anweisung erst durch einen Wald, dann in Richtung auf die Weinberge. Edmond deutete ins Tal, wo die Drehlichter von Polizeifahr zeugen heraufblitzten. „Jetzt sitzen wir in der Falle.“ „Auf das Haus zu“, sagte Maurice. „Dort auf dem Hügel.“ Es war ein einsames, offenbar verlassenes Gehöft. Maurice stieg aus, öffnete das Scheunentor und ließ den Mercedes hin ein. Er kam neben einem großen Citroën zum Stehen. „Da bist du platt“, staunte Bonso, „daß so was hier auf uns wartet“ „Ich habe ihn selbst geparkt“, erklärte Bergman. Wenige Minuten später hatten sie den Mercedes mit Stroh ballen getarnt und waren wieder unterwegs. Die Polizeikontrol len vor Carpentras und später bei Aix und St. Maximin passier ten sie ohne Schwierigkeiten. Nur das Ausmaß der Fahndung mißfiel ihnen immer mehr. „So ein Aufwand für so geringe Beute!“ Edmond konnte es nicht fassen. „Kommt mir beinah so vor, als säße der Staatspräsident im Etui.“ „Der Staatspräsident wäre zu ersetzen“, äußerte Maurice und kein Wort mehr. 31
Die Suche nach den Bankräubern von Lyon entwickelte sich zur aufwendigsten Polizeifahndung der letzten zehn Jahre. Maurice kannte die Hintergr ünde, Edmond und Bonso frag ten schon nicht mehr danach. Sie wußten, daß der Patron eben sowenig Auskunft erteilen würde, wie er ihnen den Inhalt des Lederetuis zeigte. Je weiter sie sich der Riviera näherten, desto konkreter wurde ihre Absicht, sich zu trennen. „Sobald das Meer auftaucht“, sagte Edmond zu Maurice, der inzwischen wieder am Lenkrad saß, „und eine Ortschaft mit Bistro, hältst du kurz an, und schon seid ihr um einen weniger.“ Maurice war es recht. „Ich kenne ’ne Schwester in Cannes“, sagte Bonso, „von Agay ab nehme ich den Bus.“ „So spät fährt kein Bus mehr“, sagte Edmond. „Dann ein Taxi“ „Immer hübsch sparsam sein, Bonso!“ „Das bin ich von Geburt. Was das betrifft, bin ich Schotte“, meinte er. „Agay liegt auf dem Weg“, meinte Maurice. „Was mich be trifft, ich steige immer im Negresco ab.“ „Vornehm geht die Welt zugrunde“, sagte Bonso. „Trotzdem solltest du dir neue Zähne leisten.“ „Was du nicht sagst, neue Zähne. Warum?“ „Warum“, stöhnte Edmond und griff nach seinem Reisekof fer. „Dort bei der Lampe.“ Maurice bremste ab. Edmond stieg aus, tippte einen Gruß an die Stirn und war verschwunden. Vier Kilometer weiter überholten sie einen Linienbus. An der nächsten Haltestelle empfahl sich Bonso. Nun hatte Bergman nicht mehr weit bis Nizza. Bevor er am Negresco vorfuhr, rollte er hinunter zum Hafen und schaute nach seinem Boot. In der Kajüte kleidete er sich um. Als er die Halle des Luxushotels betrat, strahlte er wieder die Eleganz eines Modemagazins aus. 32
„Ist meine Suite bereit?“ fragte er an der Reception. „Die Nummer fünfzehn“, sagte der Chefportier, „wenn es recht ist, Monsieur Dunal.“ * Nach einem Bad, einer Lebertablette und einem Cognac kleide te sich Bergman zum Abendessen um. Bevor er hinunterfuhr, nahm er das Lederetui aus der Mantel tasche und öffnete es unter der Schreibtischlampe. Das flache Etui war innen tintenblau mit Samt gefüttert. In der Mitte hatte es eine vertiefte Längsrille. Sie war in der Tat groß genug, um eine Piccolo-Flöte aufzunehmen. Aber es lagen nur Steine dort, unregelmäßig runde oder eckige Glasbrocken von Würfelzuckergröße. Insgesamt zehn Stück. Obwohl sie keinerlei Schliff hatten, warfen sie das Lampen licht auf vielfältige Weise gebrochen zurück. Im Kern schienen sie die Helligkeit der Mittagssonne zu erzeugen. Lange saß Maurice Bergman in den Anblick der Steine versunken, als betrachte er ein Heiligtum. Schließlich nahm er einen davon heraus, gab ihm ein gutes Versteck und schloß das Etui wieder. Da er es keinem Safe anvertrauen wollte, trug er es auf der Brust im Innern seiner Smokingjacke. Unten bekam er einen guten Einzeltisch in der linken Ecke des Speisesaales. Man hatte einen vorzüglichen Überblick. Nach dem Fischgang, noch bevor das Wildschweinfilet mit Kastanien serviert wurde, fuhr der Kellner den Wagen mit dem Telefon heran. „Anruf für Sie, Monsieur Dunal.“ Bergman unterdrückte seine Verblüffung. Niemand wußte, daß er heute in Nizza weilte. Er meldete sich. Was wie Störung klang, war eine gehetzte Stimme. „Sie sind hinter mir her“, keuchte Edmond, „kannst du mir helfen? Du hast doch immer was in Reserve.“ 33
„Wie ist das möglich?“ wollte Maurice wissen. „Der Bruch in Lyon verriet eben doch meine Handschrift“ „Du hast genug Geld. Hilf dir selbst, mein Junge.“ „Jetzt bei Nacht ohne Wagen im Winter? Wie denn?“ „Wie geht es Bonso?“ „Er steht neben mir. Den haben sie auch im Fadenkreuz.“ Schon wegen der gedämpften vornehmen Atmosphäre im Negresco blieb Bergman ruhig. „Wie stellt ihr euch das vor?“ „Wenn wir aufgeschmissen sind, dann bist du es auch.“ „Wohl kaum“, sagte Bergman. Doch in Wahrheit dachte er anders. „Versucht euch bis Nizza durchzuschlagen. Versucht sie abzuhängen und wartet im Hafen.“ Am anderen Ende wurde aufgelegt. Bergman bedauerte sei nen Fehler, im Negresco nicht unter Bergman abgestiegen zu sein. Dann hätte die Ze ntrale das Gespräch nicht durchstellen können. Aber irgendwie hätten sie es wohl doch geschafft. Wenn Ganoven gejagt wurden, entwickelten sie mindestens soviel Energie wie die Polizei, Sein Fehler war gewesen, Nizza und das Negresco zu erwähnen. Aber wer hatte schon damit gerechnet, daß die Bullen wie ein aufgescheuchter Hornissen schwarm reagieren, würden. Der Braten schmeckte ihm nicht mehr ganz so gut. Außerdem machte sich seine Leber bemerkbar. Es war, als blase sie sich bei Erregung auf wie ein Ballon. Er ließ das Dessert stehen, ging auf sein Zimmer und telefo nierte mit der Reception. „Um fünf Uhr wecken bitte!“ „Reisen Sie schon ab, Monsieur?“ „Ich möchte die Frühmesse in Notre Dame nicht versäumen“, erklärte Bergman. Um sechs Uhr würde es noch dunkel sein. Er drückte für Edmond und Bonso die Daumen, daß sie durchkamen. Damit drückte er sie auch für sich selbst. 34
Trotz der Kälte dampfte Fisch- und Algengeruch aus dem Ha fenbecken. Die Bootsrümpfe rieben aneinander im leichten Wellengang. Hier und da drang Licht aus einem Ruderhaus. Dunkle Gestalten huschten über Deck. Einige Fischkutter war fen die Diesel an und die Leinen los. Die Hände tief in seinen gefütterten Trenchcoat vergraben, Zigarette im Mundwinkel, schlenderte Maurice Bergman den Quai Papacino, den links hohe Häuser und rechts die Mauer des alten Hafens einfaßten, hinunter. Er blieb stehen, nichts Auffälliges war zu sehen. Sein Instinkt gab kein Signal. Aber wer verließ sich schon darauf. Eines von den Autos, die am Quai parkten, konnte ein Polizeifahrzeug sein, besetzt mit Kriminalbeamten, mit wachen bißwütigen Jägern. Bergman bog um das Ende der Mauer und ging am Wasser entlang. Die Eisenpoller standen da wie geduckte Wächter. Er stieg über eine Frischwasserleitung, schlenderte scheinbar ziellos weiter. Schon glaubte er zwischen den Bootsrümpfen die Aufbauten seiner weißen Motoryacht zu erkennen, da pfiff plötzlich etwas. Der Wind in den nackten Mastbäumen der Segler pfiff anders. Maurice ging weiter, aber langsamer, und saugte an der Ziga rette. Die Glut beleuchtete sein Gesicht. „Pierre?“ „Die Luft ist rein“, antwortete Maurice. „Hier sind wir.“ Es war Edmond. Seine Stimme kam aus halber Höhe. Sie hockten irgendwo im Dunkel. „Ich gehe auf das Boot“, sagte Maurice gerade so laut, daß sie es hörten. „Wartet, bis ich die Leinen einhole und die Moto ren anlasse. Kommt erst, wenn die Hecklaterne brennt.“ „Compris!“ Bergman zog das Yachtheck mit der Leine heran, stieg hin über und kleidete sich in der Kajüte erst einmal um. Mantel und Sakko hängte er auf. Über das Hemd stülpte er einen dik 35
ken Troyer, schlüpfte in den halblangen blauen Mantel und setzte die Schiffermütze auf. Oben im Fahrstand betätigte er den Batteriehauptschalter. Die Treibstoffpumpen liefen an. Dann glühte er die Perkins vor und startete die Steuerbordmaschine. Während beide warmliefen, machte er los. Ganz zuletzt schaltete er die Hecklaterne ein. In diesem Moment hörte er das dumpfe Geräusch, mit dem Springer am Boden aufkamen. Zwei Gestalten rannten auf die Motoryacht zu und flankten von der Pier an Bord. In diesem Moment gab Maurice Gas. Edmond schloß die achterne Relingklappe. Bonso holte die Fender ein. Als Maurice die Hafeneinfahrt passierte, kamen sie zu ihm. Das rote Molenlicht fiel in ihre übernächtigten Gesichter. „Dein Schiff?“ fragte Edmond. „Gemietet“ „Wie den Mercedes und den Citroën.“ Maurice nickte. „Fein von dir, daß du uns nicht im Stich gelassen hast“, sagte Bonso und schüttelte dem Patron die Hand, „werde ich dir nie vergessen.“ „Schon gut!“ Jetzt, im Hauptfahrwasser, gab Maurice noch einen tüchtigen Pull Gas mehr. Die Yacht schob den Bug höher und schien sich achtern in die See zu krallen. „Dreißig Knoten“, las Edmond vom Log. „Sie macht vierzig.“ „Damit laut du jeden Zerstörer schlecht aussehen, wie?“ Maurice ging auf Südkurs. „Wohin bringst du uns?“ „Erst mal in Sicherheit.“ „Und wo liegt die?“ „Nicht in Italien und nicht in Korsika.“ „Nicht in Europa, wie?“ „Du sagst es.“ 36
„Afrika?“ fragte Bonso, seine Mütze gegen den zunehmenden Fahrtwind festhaltend. „Ja, wir fahren in ein einsames verkommenes Nest an der al gerischen Küste.“ „Kein Luxus und viel Dreck.“ „Aber sie liefern euch nicht aus“, betonte Maurice. „Dort las sen wir Gras über die Sache wachsen. In vier Wochen seid ihr auf den Fahndungslisten ziemlich weit nach unten gerutscht Und im April denkt keiner mehr an euch.“ „Wenn wir bis Afrika kommen“, schränkte Edmond ein. Maurice deutete auf den Radarschirm. „Noch zwei Meilen bis zur Hoheitsgrenze. Und nichts ist in Sicht.“ „Nichts hält uns auf, meinst du.“ „Nichts“, sagte Maurice. 4. In Californien war die erste Märzwoche so warm, daß man ohne Infrarotheizung am Swimmingpool liegen konnte. Schon nach zwanzig Minuten in der Sonne verspürte man den Wunsch nach Abkühlung. Dr. Hektor Marlow überlegte gerade, was besser sei, einen Eisdrink zu nehmen oder ins Wasser zu hechten, als der Schat ten seines schwarzen Dieners über ihn fiel. „Sechzehn Uhr, Sir.“ Marlow öffnete die Augen, „Schon wieder.“ Gewöhnlich arrangierte er die Wochenenden auf der Ranch so, daß ihn niemand störte. Mitunter lud er Freunde ein, auch mal ein Mädchen, aber die Arbeit hielt er sich in diesen sechzig Stunden vom Freitagnachmittag bis Montagmorgen auf Di stanz. – Natürlich gab es Ausnahmen. Marlow drückte sich hoch. Er tat dies mit den kraftvoll ele ganten Bewegungen eines Zehnkämpfers und nicht wie ein 37
Techniker, der die meiste Zeit seines Lebens im Labor oder am Schreibtisch zugebracht hatte. Auf dem Weg ins Haus streifte Marlow die Badehose ab und ging dann unter die Dusche, um das Sonnenschutzöl herunter zuspülen. Wenige Minuten später flankte er in den Jeep. Es war die Luxusausführung des CJ-7 in Azurmetallic und weißen Lederpolstern. Bevor er startete, stülpte Dr. Hektor Marlow dicke Kopfhörer auf und schob eine Kassette in den Stereorekorder, BeethovenSound donnerte ihm in die Ohren, während er das haziendaar tige Anwesen verließ und abseits von Weg und Steg quer durch seine Tausend-Hektar-Ranch tobte. Er fuhr durch die ginsterbewachsenen Hügel, an der grünen den Limonenplantage entlang, über die Viehweiden, bis in das Flußtal, wo sein Besitz endete. Von der Uferböschung aus sah er einen Reiter kommen. Der Reiter bewegte seinen Hengst in verhaltenem Galopp. An einer bestimmten Stelle ließ er das Pferd hinunter und in den Fluß gehen. Das klare Wasser reichte etwa halbmeterhoch über das Geröll. Der Reiter nahm die Furt bis zu der weidenbestandenen Insel in Flußmitte. Als er dort angelangt war, absaß und sich ins Gras legte, rollte auch der Jeep vom Hügel des Nordufers und watete mit Allradantrieb durch den Steaple River. Die Strö mung bildete links eine Stauwelle. Bald griffen die Stollenrei fen auf der Kiesbank, zogen den Jeep ins Trockene und auf die Insel. Dort begrüßten sich die zwei Männer schon von weitem. Der mit dem Pferd rief: „Sie wollten mit mir reden, Doktor.“ „Danke, daß Sie so schnell gekommen sind, Colonel Hatch!“ sagte der Mann aus dem Jeep.
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Minuten später waren sie schon mitten im Fachgespräch. Die Gesundheit, das Befinden der Familien, die Wetteraussichten, das alles ließen sie heute beiseite. „Ist meine Information richtig“, fragte Dr. Marlow, „daß die B-Steine geraubt wurden?“ Der Colonel malte mit der Reitgerte Muster in den Sand, ehe er aufblickte. „Woher haben Sie das, Hektor?“ „Ich bitte Sie, Arthur“, antwortete Marlow, Vizepräsident der San-Diego-Mineral-Industries, „so was spricht sich herum. Erst erfuhren es die Franzosen. Von den Franzosen erfuhr es meine britische Konkurrenz und dann ich. Gerade auf diesem Gebiet gibt es ungeheuer große Ohren, die immer weit offenstehen und das Wispern des Windes im Gras aufnehmen.“ Colonel Hatch, der vom Äußeren her mit seinem Gesprächs partner große Ähnlichkeit hatte, beide waren sie schlanke Cowboytypen, hörte auf, mit der Gerte im Sand zu stochern. Er nickte. „Kein Gerücht“, bestätigte er. „Wir erhielten ge stern präzise Informationen, daß die B-Steine aus dem Safe einer kleinen Privatbank in Lyon gestohlen wurden.“ „Einer kleinen Privatbank“, wiederholte Dr. Marlow kopf schüttelnd, „wie kann man so etwas außerordentlich Wichtiges einer Privatbank anvertrauen?“ „Sie verfügt über Safeanlagen wie die Bank of England, wenn nicht noch bessere.“ „Aber der Tresor wurde geöffnet“ „Profiarbeit!“ Der Colonel erzählte, was er wußte: „Sie ka men vom Nebenhaus durch die Mauer. Sie hatten ein Wochen ende lang Zeit.“ „Warum“, fragte Dr. Marlow, „gab man es in eine Privatbank zur Verwahrung?“ „Fragen Sie das Syndikat.“ „Ich kann es mir nur damit erklären, daß sie das Material un auffällig aus der Welt schaffen wollten. Und das ging bei einer kleinen Bank leichter als bei einer großen.“ 39
„Man könnte nun die Überlegung anstellen, warum sie die Dinger nicht vernichteten, wenn sie ohnehin keinen Gebrauch davon machten.“ „Kunstwerke zerstört man nicht“, bemerkte Dr. Marlow. Der Colonel stopfte seine Pfeife und steckte sie umständlich an. „Kunstwerke! Diamanten sind doch keine Kunstwerke.“ „Diese schon.“ „Unter einem Kunstwerk verstehe ich etwas Einmaliges, das in dieser Form nie wieder hergestellt werden kann.“ „Was in allen Punkten zutrifft“, bestätigte Dr. Marlow. „Zutraf“, verbesserte der Geheimdienstoffizier. „Bis letzte Woche.“ Nachdem sie lange genug darüber gesprochen hatten, was geschehen war, wollte der Colonel wissen, inwiefern sich die Lage damit verändert habe. Dr. Marlow faßte es in ein paar Sätzen zusammen. „Mit den B-Steinen verhält es sich wie mit einem unbekann ten Virus. Man hat ihn isoliert, weiß aber nicht, wie er wirkt. Man fürchtet jedoch, daß Gefahr von ihm ausgeht daß er viele Dinge, die geordnet sind, in Unordnung bringen könnte. Des halb wird er tiefgefroren, getrocknet, pulverisiert, was weiß ich, und dann weggesperrt, so daß niemand Unsinn mit ihm anstellen kann.“ „Die B-Steine sind kein Virus. Sie lösen keine Krankheiten aus“, wandte der Colonel ein, „Die Gefahr, die die Steine hervorrufen, betrifft wichtigste industrielle Sektoren im Westen.“ „Nur im Westen?“ zweifelte der Colonel. „Natürlich auch im Osten.“ „Chinesen, Russen eingeschlossen?“ „Eingeschlossen“, bestätigte Marlow, „Leider.“ „Ob die etwa dahinterstecken?“ Marlow versuchte den Diebstahl anders zu erklären. „Die B-Steine wurden aus dem Verkehr gezogen. Dies er 40
folgte etwa aus denselben Gründen, weshalb die Schweden einst die Erfindung des ewigen Streichholzes unterdrückten.“ Nun mußte der Colonel lächeln. „Aber Sie hätten die Steine gern. Stimmt’s?“ Dr. Marlow räumte ein, daß dies durchaus der Fall sei. „Solange sie verschwunden waren, in der Tiefe eines Safes lagerten und wir schon anfingen, ihre Existent zu vergessen, konnten wir ruhig schlafen. Aber jetzt, wo sie ausgegraben wurden, ist zu befürchten, daß die Diebe, vielmehr die Stroh männer, die den Raub finanzierten, die B-Steine ihrem ur sprünglichen Zweck zuführen we rden.“ „Und der ist?“ Der Vizepräsident der SDMI reagierte ausweichend. „Nun, ein Milliarden-Dollar-Geschäft“ Hatch zog hörbar an seiner Pfeife. „Immer sind es die verdammten Geschäfte, die uns in Krisen treiben.“ „Sie sehen eine Krise auf uns zukommen, Arthur?* Der Colonel hob die Schultern. „Wenn ein Mann wie Sie so reagiert, dann werden andere aus der Branche ebenso reagieren.“ Zum besseren Verständnis präzisierte der Ingenieur seinen Standpunkt „Solange die B-Steine im Safe lagen, spielte ihre Existenz für die Welt keine Rolle. Aber jetzt, wo man sie geraubt hat, berei ten sie mir soviel Kopfzerbrechen wie damals vor fünfzehn Jahren, als man sich entschloß, sie in den Safe zu legen und zu vergessen.“ „Sie wollen also diese Steine haben, Hektor.“ Marlow hob den Daumen. „Wenigstens einen davon.“ „Was nützt Ihnen einer?“ „Soviel wie alle. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß eine Gruppe sämtliche B-Steine besitzt und sich damit einen uner hörten technologischen Vorsprung sichert“ 41
Der Colonel wurde nachdenklich. „Ist das nur das übliche hektische Hochspielen eines Problems, oder ist der Fall wirk lich so ernst?“ „Wirtschaftlich und sicherheitspolitisch“, betonte Dr. Mar low. „Warum“, setzte der Colonel an, „hat man nicht schon vor Jahren versucht, einen der Steine in die Hand zu bekommen, zu kaufen, zu erwerben?“ „Dafür gibt es mehrere Gründe“, erwiderte der Ingenieur. „Der Hauptgrund ist, daß wir zu spät davon erfuhren.“ „Ihr habt also geschlafen.“ „Wir hielten die Existenz zunächst für unmöglich.“ „Und als ihr die Beweise hattet…“ „War es zu spät. Andere griffen zu.“ „Warum nahmen sie die B-Steine dann unter Verschluß?“ „Für sie herrschten wieder andere Gründe vor.“ „Humanitäre?“ Dr. Marlow lachte bitter auf. „Keine Machtgruppe der Welt verfolgte je echt humanitäre Ziele. Nein, es stehen immer handfeste finanzielle Interessen dahinter.“ Der Colonel ging zu seinem Pferd, das sich vo n der Leine losgemacht hatte. „Ich soll also den Inhalt unseres Gesprächs nach Washington berichten.“ „Sie sind mein direkter Draht zur CIA.“ „Und was erwarten Sie, Hektor?“ „Versucht einen der B-Steine zu kriegen. Schon mit einem von ihnen könnten wir eine Menge retten.“ „Okay“, sagte der Colonel. „Kann sein, daß Sie in der Sache nach Langley gerufen werden.“ „Ich würde sofort kommen.“ Arthur Hatch schwang sich in den Sattel. „Und was kriege ich für meine Mühe?“ 42
„Die Telefonnummer einer Schönen mit dunkelblauem In dianerhaar. Das ist doch Ihre Kragenweite?“ „Laden Sie mich lieber zum Essen ein“, rief der Colonel und gab seinem Hengst den Absatz. Beide verließen die Insel, die wie Niemandsland auf der Grenze zwischen der Marlow- und der Hatch-Ranch lag. Dr. Hektor Marlow hoffte, daß die Sache bei Colonel Hatch in guten Händen läge. Und Arthur Hatch sah, falls dieses Eisen wirklich glühend wurde, eine Chance, die nächste Stufe In der Rangliste ebenso zu nehmen wie sein Hengst die Zäune vor dem Herrenhaus. 5. „Wegen nichts“, äußerte Bob Urban, während er den BMW durch den Abendverkehr mogelte, „wegen nichts veranstaltet man keine Gangsterjagd ohnegleichen.“ „Sogar die Geheimdienste sind dabei.“ „Zunächst nur der französische“, schränkte Urban ein. „Wir verhalten uns weiterhin abwartend, wenn ich recht verstanden habe.“ Oberst Sebastian, der neben ihm saß und den Urban zu Hause in Grünwald absetzen sollte, hob die Hand. „Ab sofort wird das anders. Ich lasse mich nicht gerne von fahrenden Zügen abkuppeln.“ „Obwohl Sie gar nicht wissen, wohin der Zug rollt.“ „Eine Reise ins Blaue kann auch recht interessant sein.“ „Wegen ein paar Rohdiamanten“, entgegnete Urban kopf schüttelnd, „gleich zwei ungelöste Probleme auf einmal.“ „Mit Ihrem Auge des Adlers kommende ja doch nicht wei ter.“ „Aber es scheint mir wichtiger.“ „Dann spielen Sie eben vierhändig“, schlug der Alte vor, „machen das eine, ohne das andere zu vernachlässigen. Jeden falls hätte ich gerne gewußt, warum alle so hektisch hinter 43
diesem Ganoventeam aus Lyon her sind. Geht das bis morgen früh?“ Ergeben fügte sich der BND-Agent Nr. 18 in die Aussicht, eine Nacht lang auf allen Kanälen recherchieren zu müssen. Immerhin hatte er bei seinen Methoden volle Handlungsfrei heit. Einschränkungen auf diesem Gebiet waren ein Grund gewesen, Frührente zu beantragen. Nachdem Urban Sebastian vor seiner Nazistil-Villa in Grün wald abgeladen hatte, überlegte er, wo es sich besser arbeiten ließ, zu Hause oder im Hauptquartier. Als Entscheidungshilfe steckte er sich eine MC an. Dann beschloß er, den derzeitigen Kilometerstand entschei den zu lassen. Ungerade war nach Hause fahren. Der Tachostand endete mit einer Acht. Also wendete er und bewegte das CSi-Coupé über die Isar nach Pullach hinauf. Um 19 Uhr 45 saß er am Schreibtisch. Im Casino bestellte er einen Topf Kaffee und in der Telefonzentrale ein Gespräch mit Kommissar Boulanger von der Sûrete Paris. Minuten später hatte er seinen krausköpfigen Freund am Draht. Abermals drei Minuten später wußte er, daß Boulanger ebenfalls im dunkeln tappte. „Motiv nicht erkennbar“, sagte der Kriminalbeamte, der die Absicht, in Maigrets Fußstapfen zu treten, längst aufgegeben hatte. „Was sind die paar Steine schon wert.“ „Diamanten. Immerhin.“ „Zehn Stück etwa kamen abhanden.“ „Solitäre?“ „Ziemlich große Ottos sollen es schon sein, aber was zählt das. Die Täter haben Bargeld in Höhe von sieben Millionen Franc und Barrengold achtlos liegenlassen, als sei das Schwe i nemist.“ „Und ohne Motiv auch kein erkennbarer Auftraggeber, meinst du.“ „Rein theoretisch. Du nimmst es mir aus dem Munde, mon ami.“ 44
„Gerade, daß sie nur die Steine nahmen, ist doch ein deutli cher Hinweis.“ „Auf wen?“ fragte Boulanger neugierig. „Wer ist der Inhaber des Stahlfaches?“ „Unbekannt. So unbekannt wie eine Codenummer. Der Stahl fachmieter wird als Code geführt. Wir haben das Bankgeheim nis zwar gebrochen, aber die Bank weiß auch nichts Näheres. Der Code führt wieder zu einem Code, der zu einem weiteren Code und so fort, aber nie zu einer konkreten Person. Auch der Innenminister schweigt darüber, wer ihn von Anfang an unter Druck setzte.“ „Warum schreist du nicht Merde?“ fragte Urban. „Weil mein Vorrat an Merde erschöpft ist“, knurrte Boulan ger. „Wessen Handschrift verrät der Safebruch?“ Jetzt zögerte der Kommissar, was schließen ließ, daß es auch in diesem Punkt kaum Fakten gab. „Die Techniken, Safes bestimmter Größe zu öffnen, sind heu te allgemein bekannt. Bis in die tiefste Provinz bedienen sich die professionellen Safeknacker dieser Methoden. Man kann nicht mehr davon sprechen, daß diese oder jene Arbeit die Handschrift eines bestimmten Ganoven zeigt“ „Nun, es gibt Künstler und Stümper“, entgegnete Urban, „wie in der Chirurgie. Manche Ärzte schneiden dir den Blinddarm mit der Machete heraus, andere mit der Nagelschere. Das sieht man schon außen an den Narben. Es gibt Blinddarmnarben, die sind so lang, wie der Bauch breit ist. Andere sind nicht größer als der Groschenschlitz in einem Colaautomaten. Obwohl man das lernen kann und eine Blinddarmoperation kein Geheimnis mehr ist, bestehe n diese Unterschiede. Um so mehr muß es Unterschiede in der seltenen Kunst des Tresorbrechens geben.“ Urban hatte seinen Einwand so ausführlich begründet, um Boulanger jede Hintertür zu verschließen. Natürlich wußten sie immer viel mehr, als sie zugaben. Sie hielten sich nur deshalb zurück, weil sie Störungen, die Unruhe in die Fahndung brach 45
ten, befürchteten. Vor allem vermieden sie Hinweise auch dann, wenn sie Chancen witterten, selbst den Fall zu klären. „Eh bien“, räumte Boulanger ein, „es gibt gewisse Parallelen zu dem System, wie der Safe in Angriff genommen wurde. Wir sind dabei, eine bestimmte Gruppe von Experten einzukreisen. Wir überprüfen gerade ihre Alibis.“ Urban formulierte es genauer. „Das heißt, ihr habt sie bereits überprüft. Wer fiel dabei durch das Sieb?“ „Zwei haben bombenfeste Alibis. Der dritte mögliche Täter ist nicht greifbar. Er macht angeblich Urlaub.“ „Das ist doch schon was.“ „Aus der Bevölkerung bekamen wir Hinweise, daß ein dun kelgrauer Mercedes im Spiel ist. Der Wagen wurde verfolgt, löste sich aber in Luft auf.“ „Wo?“ „Halbwegs zwischen Lyon und der Riviera,“ „Kennzeichen bekannt?“ „Die Angaben waren ungenau. Wir konnten sie aber rekon struieren. Ein Mercedes vierhundertfünfzig S-Klasse blau mit ähnlich lautendem Kennzeichen wurde aus der Normandie als gestohlen gemeldet.“ Urban dachte nach. „Normalerweise beschafft sich eine Bande von Einbrechern ihre Wagen nicht auf dem Lande, sondern wohl in Paris.“ „Vielleicht taten sie es, um die Spuren von vornherein zu verwirren.“ „Der Safeknacker, den ihr in Verdacht habt, stammt er aus Paris?“ „Er lebt seit vielen Jahren dort.“ „Eine bekannte Figur der Szene?“ „Du kennst ihn bestimmt nicht.“ „Dann gib mir den Namen.“ „Was nützt er dir, Urban?“ „Ein Name bewirkt gewisse bildliche Vorstellungen.“ 46
„Na schön, er heißt Edmond. Edmond Rapeaux. Aber bitte, das ist ohne Gewähr. Meine Abteilung bearbeitet den Fall ja nicht. Ich kenne die Details nur aus der Nachtkonferenz.“ Urban war gut in Schwung und hoffte noch mehr aus Bou langer herausholen zu können. „Erzähl mir etwas über diesen Edmond.“ Unerwartet rasch baute sich eine Barriere auf. „Ich kenne ihn nicht, hatte nie mit ihm zu tun. Ich hörte nur, daß er ein erstklassiger Mann ist“ „Nach ihm wurde also Zielfahndung vorgenommen.“ „Es sah fast nach einem Erfolg aus. Ein Sonderkommando meldete, daß sie ihn irgendwo an der Riviera gesehen hätten. Wie es hieß, standen die Beamten unmittelbar vor dem Zugriff auf Edmond und einen Mann in seiner Begleitung. Plötzlich waren beide wie vom Erdboden verschluckt. Eine dünne Spur lief noch bis Nizza, aber der Frühwind hatte sie endgültig ve r weht.“ „Schade“, bedauerte Urban. „Ich nehme an, daß dir das weniger Kopfzerbrechen bereitet als uns.“ „Deine Annahme stimmt“, äußerte Urban. „Falls du aber et was über den Grund hören solltest weshalb man zwei Bankräu ber sucht, als seien sie Königskiller, gib einen Laut.“ „Dann hörst du von mir“, versprach Boulanger. „Aber bitte verschone mich mit weiteren Anrufen. Ich habe dir mehr er zählt, als ich durfte.“ „Ich sag es zwar weiter“, erklärte Urban, „aber ich sag’ nicht, von wem ich es habe. D’accord?“ „Nichts ist in Ordnung“, seufzte Boulanger, „wenn ein Bur sche wie du erst die Finger drin hat.“ Urban machte sich Notizen über alles, was er erfahren hatte, und ging ins Casino, um einen Happen zu essen. Der Hühner salat saftete schon und der gekochte Schinken schmeckte wie Kleenex. – Man sollte das Angebot für die Nachtschicht wirk lich verbessern, überlegte Urban. 47
Er hatte praktisch nichts. Also mußte er mit dem wenigen, das er besaß, wuchern. Um Mitternacht herum erwischte Urban seinen Freund Gil Quatembre vom französischen Geheimdienst in dessen Maiso nette-Wohnung an der Place Belleville. „Du hast mir noch gefehlt“, seufzte Gil, der aussah wie ein Konfirmand und die Stimme einer Baßgeige hatte. „Und schon bin ich zur Stelle“, faßte Urban Gils Bemerkung absichtlich falsch auf, „wie es sich bei Freunden gehört.“ „Ich weiß nichts“, sagte Gil, „es gibt nichts Neues.“ Mit denselben Worten wimmelte er auch penetrante Reporter ab. „Ich bin mit im Spiel“, log Urban. „Was sollte der BND für Interessen hegen?“ „Einer der Akteure war Deutscher.“ Etwas Besseres fiel Ur ban im Augenblick nicht ein. Gil lachte los. „Vielleicht war seine Urgroßmutter die Urenkelin eines deut schen Soldaten, der mit Napoleon über den Rhein zog und eine Badenserin schwängerte. Mehr aber nicht.“ „Wie kommst du auf Baden?“ fragte Urban mit hochfeiner Witterung. Er kannte Gil seit Jahren. Er hatte viel für Gil getan, Gil war bei ihm mit einem untilgbaren Sollsaldo vertreten. Aber eines stand fest, Phantasie besaß Gil wenig. Napoleon, Baden und Urgroßmutter, das fiel ihm nicht einfach so ein. Urban versuchte ihn festzunageln. „Ich spinne nicht irgend etwas zusammen. Ich meine Edmond Rapeaux.“ Einen Augenblick herrschte Stille. „Woher hast du diesen Namen?“ „Ich sagte doch, wir sind mit drin.“ „Rapeaux steht erst seit kurzem auf der Liste der Verdächti gen.“ „Er steht schon seit mindestens vierundzwanzig Stunden 48
oben auf der Liste“, entgegnete Urban. „Leider entwischte er euch vor zwei Nächten bei St. Raphael.“ „Es war in Agay“, verbesserte ihn der SDECE-Mann. „Warum“, fragte Urban, „dieser Aufwand für zehn lumpige Diamanten?“ „Aber was für lumpige.“ „Egal, was für welche. Was ist das Besondere daran?“ Hier mußte Gil schon passen. „Keine Ahnung. Ich möchte tot umfallen, wenn ich es weiß.“ „Wer übt dann solchen Druck auf die Fahndung aus? Ge heimdienste befassen sich in der Regel nicht mit Bankräubern.“ „Das läuft über das Innenministerium.“ Gil, das hörte man deutlich, war sauer. Sie mußten unge wohnte Arbeit verrichten, und zum Dank informierte man sie nicht. Das führte immer zu Unlustgefühlen. „Ich bin auch nur gezwungenermaßen dabei“, erklärte Urban, „Man mißbraucht uns mal wieder, und wie ich fürchte, für Privatinteressen. Was gehen uns die Steine von reichen Leuten, von Konzernen an.“ Der Franzose vom Geheimdienst war ihm offenbar schon weit voraus. „Das trifft zu.“ „Fällt euer Scheinwerferlicht auf bestimmte Kreise?“ „Kein Kommentar.“ Urban ließ nicht locker. „Eine Spur schon von Edmond?“ „Sie waren angeblich zu zweit aber ich sage, sie waren zu dritt. Der dritte Mann half ihnen, daß sie sich unsichtbar ma chen konnten.“ „Aber keine Spur“, faßte Urban nach. Gil zögerte. „Bis auf dieses Weib.“ Wenn Gil eine Frau als Weib bezeichnete, dann war sie für ihn keine Dame. „Edmonds Freundin?“ 49
„Soweit das bei einem Callgirl möglich ist.“ „Ihr habt sie durch die Mangel gedreht.“ „Bis es ihr zuviel wurde und sie Paris verließ.“ „Was habt ihr erfahren?“ „Daß sie Nora Fontaine heißt, dreiundzwanzig Jahre ist, na turrotes Haar hat und gewöhnlich für eine Nachmittagsstunde vierhundert Franc nimmt. Hübsche Person und ausgekocht. Sie weiß mehr, als sie rausläßt, aber sie ist schlau genug zu schweigen. Das Delikt der Mittäterschaft ist schnell konstru iert. Davor fürchten sich diese Weiber.“ Urban hätte sich gern mit Nora Fontaine unterhalten, ganz locker bei einer Flasche Champagner. Aber dafür bestand wohl keine Aussicht Doch dann stellte Gil eine Frage. „Glaubst du, daß uns euer Bundeskriminalamt auch ohne den Umweg über Interpol oder eine untersuchungsrichterliche An ordnung behilflich sein würde?“ „Ich kenne genug Leute dort, die mir einen Dienst erweisen.“ „Nur für den Fall, daß wir Nora Fontaine noch einmal spre chen müssen.“ „Ist sie in Deutschland?“ „Sie soll irgendwo im Schwarzwald einen Bruder haben. Bei der Hausdurchsuchung landen wir Briefe. Aber da war sie schon weg. Natürlich wurden sofort die Grenzstationen alar miert. Kurz vorher überquerte ein roter Bagheera den Schlag baum bei Erstein.“ „Das ist südlich von Straßburg.“ „Und ein roter Bagheera ist auf Nora Fontaine zugelassen.“ „Pech gehabt“, bedauerte Urban. „Falls sich die Notwendig keit ergibt, können wir nach ihr suchen lassen.“ „Sonst weiß ich wirklich nichts.“ Gil war bereit zu schwören.
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Mit einer Stimmungslage, die noch eine Oktave tiefer war als nach der Unterhaltung mit Kommissar Boulanger, hängte Ur ban ein. Ziemlich spät erschien der Vizepräsident in der Operations abteilung. Manchmal führte er sich als Sparkommissar auf und ging durch die Büros, um unnötig brennende Lampen auszu knipsen. Daß diese primitive Tätigkeit angesichts seiner Gehaltsstufe erheblich unterbezahlt war, schien ihn nicht zu beunruhigen. Leutselig setzte er sich auf Urbans Schreibtisch. „Probleme?“ „Probleme nein“, sagte Urban. „Es paßt mir nur einiges nicht in den Kram.“ „Probleme stören immer den Programmablauf. Nach meiner Erfahrung ist alles, was den Programmablauf stört, ein Pro blem.“ „Muß ich mir merken.“ Urban vermied auch nur den leisesten Schimmer von Hohn. „Ist es diese B-Stein-Geschichte?“ erkundigte sich der Vize präsident Urban hörte das B zum ersten Mal. „Was bedeutet B?“ „Die Amerikaner bezeichnen sie als B-Steine. Man kann sie auch Lyoner Steine nennen, oder anders, meinetwegen.“ „Die CIA ist auch schon im Spiel?“ „Wenn Sie mich fragen, wer nicht dabei ist, kann ich die Fra ge schneller beantworten. Deshalb sind wir, schon aus informa torischen Gründen, verpflichtet mitzuhalten.“ Urban berichtete dem Vize, was er erfahren hatte. „Meine anderen Projekte mußten leider solange auf das Ran giergleis.“ „Welche Projekte?“ „Das Auge des Adlers, zum Beispiel“, erwärmte Urban. „Wobei es sich um das Phantasieprodukt eines zwielichtigen Nachrichtenhändlers handeln dürfte.“ 51
„Hoffentlich“, betonte Urban. „Fixieren Sie den Stand der Dinge trotz“, bat ihn der Vize. „Ich bin dabei“, sagte Urban. „Damit werden wir diese Lyon-Geschichte wohl auf sich be ruhen lassen. Wir sind ja nicht unmittelbar davon tangiert“ Als der Lichtmann gegangen war, sprach Urban den Zwi schenbericht auf Tonband. Er formulierte ihn so, als sei die Bundesrepublik, wie es der Vize so schön ausgedrückt hatte, von der Sache nicht tangiert Er war gerade beim letzten Satz, als das Telefon summte. Ur ban brachte das Diktat rasch zu Ende und hob ab. Kommissar Boulanger aus Paris war am Draht „Wollte deinem Anruf zuvorkommen“, sagte er, „es gibt überhaupt nichts Neues. Wie es aussieht, wird es auch morgen früh nichts Neues geben. Unnötig also, mich aus dem Bett zu klingeln.“ Boulanger rief nicht an, um solchen Mist zu verzapfen. „Dann melde ich mich also erst beim Mittagessen. D’accord?“ „Zumindest“, fuhr Boulanger fort, „hat das Kind jetzt einen Namen.“ „Lautet der Name etwa B-Steine?“ „Ziemlich daneben getippt“, erwiderte Boulanger. „Nein, er klingt mehr wie eine Überschrift. Ich weiß nicht wie sie darauf kamen. Einer warf es auf den Tisch, und es wurde sofort ak zeptiert. Vielleicht handelt es sich um eine Ableitung aus ir gendwelchen Erkenntnissen. Ebensogut hätte man aber auch ‚Der Sargnagel des Tischlers’ oder ‚Die Glocke des Küsters’ dazu sagen können.“ „Wirst du es mir nun verraten?“ fragte Urban, reichlich mü de. „Wenn nicht, dann behalte es für dich.“ Boulanger räusperte sich. „Sie nennen die Steine ‚Das Auge des Adlers’. Was sagst du nun?“ Urban schluckte. 52
„Nichts.“ „Ist doch Unsinn in Reinkultur, oder?“ „Nein, höher geht es wirklich nicht mehr“, pflichtete Urban dem Kommissar bei und war froh, daß Boulanger das Gespräch bald darauf beendete. Jetzt brauchte er Zeit zum Nachdenken. Die Information von Stani Tenerek war also nicht aus der Luft gegriffen gewesen. Jetzt hatte er zum zweitenmal vom Auge des Adlers gehört. Diesmal bezog es sich auf die in Lyon entwendeten Diamanten. Noch etwas stand fest: Auch die Russen mischten in der Sa che mit. Seine Hoffnung, daß die Bundesrepublik nicht davon tangiert sei, war binnen weniger Minuten zerplatzt * Der idyllische Ort hieß Bermersbach, lag östlich vom Eierku chenberg im Schwarzwald und war über die Bundesstraße 462 zu erreichen. In Forbach winkelte Urban das BMW-Coupé auf die Neben straße. Noch ein paar Kilometer, und er würde, wenn er soviel Glück hatte wie in den letzten acht Stunden, Nora Fontaine kennenlernen. Die Suche nach ihr war elektronisch schnell über Computer erfolgt. EG-Ausländer, die in der Bundesrepublik arbeiteten, waren mit Namen, Anschrift, Tätigkeit und Brotgeberdaten auf irgendeiner Magnetplatte gespeichert. Man mußte nur den Zugang zu ihr finden. Die BKA-Leute in Wiesbaden hatten das binnen weniger Stunden bewerkstelligt. Gerard Fontaine lebte in Bermersbach und arbeitete als Koch In Baden-Baden. So einfach war das. Die Nummer gehörte zu einem kleinen Haus, das, wenn man die Dorfstraße nach Westen verließ, an einem Steilhang unter 53
halb des dichten Tannenwaldes lag. Das Haus machte einen verlassenen Eindruck. Die Fensterläden waren zu. Nicht ein Handtuch flatterte an der Leine. Aus dem Kamin stieg kein Rauch. Urban fuhr noch ein Stück, ging ein paar Schritte und setzte dann das Fernglas an die Augen. Bei den Büschen hinter dem Haus schimmerte etwas länglich Rotes. Anfang März gab es keine Beeren und keine Blüten. Das mußte der rote Bagheera sein. Nicht, daß sie das Auto getarnt hätten, sie hatten es nur außer Sichtweite gebracht. Urban wendete, parkte den BMW und stapfte den schmalen Pfad hinauf. Tauender Schnee machte ihn matschig. Das Gatter am Zaun war unversperrt. Er ging um das kleine Haus herum und stand vor der hinteren Tür, als diese auf schwang und eine rothaarige Frau im Pelzmantel Richtung Wald entwischen wollte. Sie erschrak, als er sie ansprach. „Madame Fontaine?“ Sie unterdrückte einen Fluch und tat überrascht. „Mein Bruder ist nicht da.“ „Es geht nicht um Ihren Bruder.“ „Ich bin nur Gast hier.“ „Aber Sie sahen mich kommen und versuchten nun auszurei ßen.“ „Zum Teufel, was wollen Sie von mir? Ich weiß nichts, habe mit der Sache nichts zu tun.“ „Miteinander reden“, schlug Urban vor, „ist das kürzeste und schmerzloseste Verfahren für Sie.“ „Sie sind Franzose?“ „Weil ich Ihre Sprache spreche?“ „Als Franzose haben Sie keinerlei Rechte.“ „Ich bin Deutscher.“ Urban verschwieg, daß er auch als Angehöriger des BND 54
keinerlei Rechte hatte, auf dem Gebiet der Bundesrepublik tätig zu werden. Aber die Grenzen verschwammen bisweilen. Nora Fontaine war Ausländerin. Er besuchte sie in einer brisant werdenden Sache. BKA und Verfassungsschutz würden seine Tätigkeit also entschuldigen. Außerdem brauchten sie nichts davon zu wissen. „Polizei?“ „Was ist Ihnen lieber? Interpol oder Geheimdienst?“ Sie zögerte. Sie wußte wirklich nicht, wie sie reagieren sollte, und schien sich ihrer weiblichen Waffen zu erinnern. „Kommen Sie bitte herein, Monsieur!“ Sie ließ ihn vorausgehen. Urban war schon im Haus, Nora Fontaine noch draußen, da erlitt sie einen Blackout. Sie schlug hinter ihm die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Noch ehe sie den Wald erreichte, war Urban durch das Fen ster geklettert und hatte sie eingeholt Sie wehrte sich heftig. Er packte sie und warf sie in den Schnee. „Madame, das war ein Fehler.“ „Verdammte Bullen“, keuchte sie. „Jetzt wird aus dem Gespräch leider ein Verhör, Madame.“ Sie versuchte ihn anzuspucken, was ihr mißlang. Er wich rasch genug aus. Ob sie wollte oder nicht, sein Griff war hart und fest Er zog sie durch den Garten zurück ins Haus. „Mein Bruder wird den Konsul verständigen“, sagte sie. „Aber vorher verständige ich die Sûrete, Madame.“ Auf jede ihrer Drohungen setzte er eine schärfere, bis sie klein beigab. Recht belämmert, unfrisiert und mit verschmier tem Make-up saß sie im Sessel. Trotzdem war sie immer noch hübsch anzusehen. Urban steckte sich eine MC an, drehte die Heizung höher und zog einen Hocker heran. „Erzählen Sie mir etwas über Edmond“, begann er. 55
„Edmond, immer Edmond“, ereiferte sie sich. „Er ist wie ein Bruder zu mir und damit hat sich’s.“ „Seit wann, Madame?“ „Seitdem ich wie eine Schwester zu ihm bin.“ Wahrscheinlich beginnend mit dem Zeitpunkt, an dem sie ihr Gewerbe aufgenommen hatte, schätzte Urban. „Was wissen Sie über Edmonds Coup in Lyon?“ „Wahrscheinlich weniger als Sie, Monsieur.“ Sie hatte sich jetzt beruhigt, rauchte eine Zigarette und trank hastig einen Schluck Rose, ohne Urban an der Flasche teilha ben zu lassen. Dann fing sie an, über sich und Edmond, den sie schon seit Jahren kannte, zu reden. Dabei verlor sie sich in Einzelheiten und redete überhaupt zuviel. Offenbar wollte sie ablenken. Also hatte sie etwas zu verheimlichen. „Wer war noch dabei?“ fiel ihr Urban ins Wort. „Edmond braucht keine Helfershelfer.“ „Mag sein“, sagte Urban, „aber die Idee ist nicht auf seinem Mist gewachsen. Ihr braver Edmond knackt doch keinen Safe, um eine Kleinigkeit herauszunehmen und sieben Millionen achtlos liegenzulassen.“ Nora lehnte sich im Sessel zurück, spreizte die Beine lässig weg und rauchte zur Decke. „Stellen Sie mich auf den Kopf meinetwegen, es fällt nichts dabei heraus.“ Urban drehte den Knebel ein wenig an. „Ich werde Sie nicht anfassen“, erklärte er, „aber ich werde dafür sorgen, daß man Sie einsperrt.“ Ausführlich schilderte er die geringen Chancen, die sie hatte, wenn sie erst inhaftiert war. und die weitreichenden Möglich keiten der Justiz, sie festzuhalten. Er malte ihr aus, daß jeder Mensch jeden Tag seines Lebens nur einmal zur Verfügung hatte, und schon war er vom Konto abgebucht. „Doch schade um jede Stunde“, meinte er. Wie zur Unterstützung seiner Worte schien jetzt die Sonne in 56
das Tal und brachte den Schnee zum Glitzern. Die Schönheit der Natur wirkte stärker als jede Drohung. „Ja“, rückte Nora heraus, „es war noch einer dabei.“ „Name, Adresse, Aussehen?“ „Er nannte sich Pierre Dunal, glaube ich. Ein Mann aus bes seren Kreisen. Um die Fünfzig, mittelgroß, dunkles Haar mit grauen Schläfen und etwas gelblicher Gesichtsfarbe, als habe er es an der Leber. Er kommt wohl aus der Normandie.“ Urban stellte sofort die Querverbindung zu dem Mercedes her. „Kunde von Ihnen?“ „Er schaute ab und zu vorbei. Einmal im Monat“ „Und auf seinen Wunsch hin stellten Sie den Kontakt zu Ed mond her.“ Sie wußte, daß sie sich belastete, wenn sie es zugab. „Verwenden Sie das gegen mich?“ fragte sie. „Ich bin nicht von der Anklagebehörde“, versicherte Urban. „Es geht mir nicht um die Konstruktion von Mittäterschaften, ich will den Fall aufklären.“ „Ich würde auch nichts unterschreiben.“ „Außerdem haben wir keinen Zeugen“, fügte Urban hinzu. Es sah aus, als glaube sie ihm. „Alors, ich brachte Pierre mit Edmond zusammen. Pierre sag te, er hätte ein kleines privates Problem, für dessen Lösung er einen Mann suche, der mit Safes umzugehen verstehe. Das war alles.“ Urban fügte auch diesen Stein in das Mosaik, sah die Lücken und versuchte sie anhand neuer Fragen auszufüllen. „Pierre fiel aber nicht mit der Tür ins Haus.“ „Nein, er war sehr vorsichtig. Er kam schon ein halbes Jahr zu mir, bis er diesen Wunsch äußerte. Er nahm wohl an, daß alle Callgirls Kontakte zur Unterwelt haben.“ „In diesem Fall stimmte seine Vermutung.“ Urban konzentrierte sich nun auf diesen Pierre Dunal, was Nora sichtlich lieber war als seine Fragen nach Edmond. 57
„Ein Mann aus besseren Kreisen also, elegant gekleidet.“ „Er trug nur Maßanzüge, Maßhemden und Maßschuhe.“ „Verheiratet, Familie, Kinder, Witwer?“ „Nichts davon. Er mißtraute Frauen.“ „Welchen Beruf nannte er Ihnen?“ „Er deutete einmal an, daß er nicht mehr berufstätig sei.“ „Und Ihr privater Eindruck?“ Sie zögerte mit der Antwort. „Nach meiner Meinung hatte er mit Geld zu tun, mit viel Geld. Wie nennt man Leute, die mit Millionen umgehen?“ „Finanziers.“ „Oui, in dieser Richtung“, tippte Nora. „Aber eine sehr ex klusive Lebensführung pflegte er wohl nicht. Er hatte keine Hobbys, machte keine großartigen Reisen, bis auf…“ „Bis auf was?“ Nora erinnerte sich plötzlich. „...ja, ein Boot hat er, glaube ich. Er schwärmte immer davon, wie schön es sei allein draußen auf dem Meer, wenn die Nacht vergeht und der Tag kommt. Je weiter man in den Süden fahre, desto eindrucksvoller sei das.“ „Süden“, murmelte Urban, „Atlantik, Mittelmeer.“ „Ich glaube, er spricht ein paar Worte Arabisch.“ „Wie kommen Sie darauf?“ Nora drückte die Zigarette aus. „Einmal kam er zu früh zu einer Verabredung und ein Freund von mir, ein Tunesier, ging etwas zu spät. Sie begegneten sich im Flur. Pierre sprach mit ihm einige Sätze Arabisch, sehr flüssig, wie mir schien. Ich fragte ihn noch, woher er das kön ne. Er antwortete, daß ein gebildeter Mensch mindestens drei Sprachen beherrschen müsse.“ Die Lücken des Mosaiks füllten sich zusehends. Urban brach das Gespräch ab, als er den Eindruck gewann, daß das Ergebnis weiterer Nachforschungen in Madame Fontaines Gehirn in keinem Verhältnis zum Zeitaufwand stand. 58
Daß er einfach ging, ohne ihr Auflagen zu machen, das miß fiel ihr. „Kein Protokoll?“ „Sie unterschreiben ja doch nicht.“ „Ich kann fahren, wohin ich will?“ „Von mir aus.“ „Sind Sie etwa gar nicht von der Polizei, sondern von der Presse?“ „Die Presse kümmert sich nicht um Bankeinbrüche mit weni ger als einer Million Dollar Beute.“ „Irgend etwas an Ihnen stimmt nicht“, beharrte sie. „Mag sein“, erwiderte er, „vielleicht muß ich Sie noch einmal sprechen. Dann erzähle ich es Ihnen.“ „Ich werde nicht mehr hier sein.“ „Wir finden Sie schon“, sagte er, schlüpfte in den gefütterten Burberry und stapfte den Weg hinunter zu seinem Auto. * Noch auf der Rückfahrt nach München erteilte Bob Urban über Funktelefon präzise Aufträge. Die Zentrale sollte versuchen festzustellen, ob in der Nacht nach dem Safebruch in Lyon ein Mann namens Pierre Dunal an der Riviera abgestiegen war und ob dieser Pierre Dunal in einem der Rivierahäfen ein Boot liegen oder gechartert hatte. Ferner sei zu ermitteln, ob in der fraglichen Nacht ein Boot mit Kurs Nordafrika ausgelaufen sei. Wenn ja, welchen nordafri kanischen Hafen in Ägypten, Tunesien, Marokko oder Algeri en es angelaufen habe. Wichtig war ferner die Zahl der Perso nen an Bord, deren Aussehen und so weiter. „Stellt mir“, fügte Urban noch hinzu, „außerdem ein Flug zeug bereit. Mit Linienmaschine bin ich nicht flexibel genug. Gebt mir eine Zweimotorige. Über dem Meer verlasse ich mich nicht gern auf nur einen Propeller. Für das alles gibt es jedoch eine Einschränkung.“ 59
„Und die lautet?“ „Der Operativ-Commander muß den Aufwand ausdrücklich befürworten.“ Urban hatte immer noch die Hoffnung, das Hauptquartier würde den Einsatz für unnötig erachten und die Ergebnisse der anderen Dienste abwarten. Erfahrungsgemäß hatte man aber lieber die Nase vorn. 6. Bevor Maurice Bergman einen Hafen anlief, ankerte er die Dieselyacht in einer einsamen Bucht der algerischen Küste nahe Kap Aiguille. Noch ehe seine Mitarbeiter Fragen stellten, entnahm er einem Schapp mehrere Farbkübel und Pinsel und drückte sie ihnen in die Hand. „Rumpf dunkelblau“, wünschte er, „ Aufbauten hellblau.“ Bonso schob die Mütze ins Genick. „Schöner Haufen Quadratmeter.“ „Los!“ drängte Maurice „Lange Striche, kurze Pausen! Mit dem schneewittchenweißen Luxusdampfer können wir uns nicht sehen lassen.“ „Den Namen auch übermalen?“ fragte Edmond. „Nur ein paar Buchstaben, nämlich alle sieben. Neuer Name Lucille.“ Sie gingen ans Werk. Sie pinselten in der Hitze des Tages und in der Kühle des Abends. Als sie zu den Aufbauten kamen, war der Rumpf schon trocken. Die ganze Zeit über hatte sich Maurice nur blicken lassen, um kontrollierende Blicke auf ihre Arbeit zu werfen. Als sie end lich fertig und ganz erschöpft waren und die Hände mit Ve r dünnung säuberten, fragte Bonso: „Und was hast du getrieben? Gepennt?“ Maurice zeigte ihnen die Flagge, die er genäht hatte. Sie war 60
grün mit einer arabischen Schriftzeile und einem querliegenden Schwert darunter. „Saudi-Arabien“, erklärte er. „Die Saudis sind hier hochge achtet.“ „Und die Schiffsdokumente?“ „Die will keiner sehen. Außerdem sind sie englischen Ur sprungs. Das geht schon in Ordnung. Die Yacht wurde in Schottland gebaut. Englische Schiffspapiere gehen immer in Ordnung.“ Sie setzten die Flagge, verbrachten eine Nacht in den Kojen und holten am Morgen den Anker aus der kristallklaren Tiefe. Ihr Zielhafen lag weiter westlich, dicht an der Grenze zu Ma rokko. „Auf nach Port Say!“ rief Maurice. „Ich war einmal dort, kenne mich da aus. Aber mich kennt keiner.“ „Klar, mit dem Rübezahlbart“, meinte Bonso. „Außerdem hat Port Say Vorteile. Wir sind schnell in Tanger, in Gibraltar oder in Spanien.“ „Ein paar Tage Ruhe könnte ich gebrauchen“, meinte Ed mond. „Bekommst du“, versprach Maurice. „Seit der Nacht in Lyon ist eine Woche vergangen. Die Wirkung einer Großfahndung verringert sich mit dem Quadrat des zeitlichen Abstandes zu den ersten vierundzwanzig Stunden.“ Dann stachen sie wieder in See. * Sie mußten Oran anlaufen, um Frischwasser zu übernehmen und eine der Batterien zu ersetzen. Das war außerplanmäßig. Maurice ließ gleich die Dieseltanks füllen und kaufte beim Ausrüster Konserven, Frischobst und Tiefkühlfleisch. Der Aufenthalt dauerte nur drei Stunden. „Hat man Fragen gestellt?“ erkundigte sich Edmond. 61
„Nicht dümmere als sonst.“ Nachts, während sie an der Küste entlang auf die Meerenge zuliefen und der Mond herauskam und es wirklich angenehm war an Deck, machte sich Edmond an Maurice heran und be gann eine Unterhaltung mit ihm. „Ich setze mich ab“, eröffnete er dem Patron. „Deine Sache, Edmond.“ „Kenne ein paar Leute in Rabat.“ Maurice nickte. „Am besten, du mietest dir einen Wagen. Die Straßen durch das Atlasgebirge sind gut ausgebaut. Nimmst du Bonso mit?“ „Der möchte bei dir bleiben, Patron.“ „Ich lege keinem was in den Weg“, äußerte Maurice. „Viel Glück also.“ „Mein Glück ist auch euer Glück“, bemerkte Edmond. „Und unseres das deine.“ „Wollte mich noch mal bedanken“, sagte Edmond. „War fein von dir uns mitzunehmen. Hättest auch solo abhauen können. Hättest sicher noch bessere Chancen gehabt.“ „Noch sehe ich keine Gefahr für uns“, erwiderte Maurice. „Oder hast du den Eindruck, daß man uns beobachtet und ve r folgt?“ „Nicht unbedingt…“, Edmond zögerte, „… aber genau weiß man das nie.“ Damit verschwand er wieder unter Deck, Um zwei Uhr kam Bonso herauf, um Maurice abzulösen. „Kurs immer zwei -zwei- neun Grad“, wies ihn Maurice ein, „Motordrehzahl unverändert. Sollte sich an der Kühlwasser temperatur oder dem Öldruck etwas ändern, rufst du mich. Und wenn einer geradewegs auf uns zuläuft, laß ihn backbord lie gen.“ „Das ist links.“ „Ja, auf der Landseite.“ Maurice war im Begriff zu gehen, als ihn Bonso am Ärmel zurückhielt. 62
„Habe es mir überlegt“, gestand er, „bist du mir böse, Pi erre?“ „Keine Spur.“ Maurice war erleichtert „Was hast du vor?“ „Ich besorge mir ‘ne Flugkarte nach Rio.“ „Du kannst kein Wort Portugiesisch.“ „Was rätst du mir?“ „Westindien“, Maurice überlegte, „Antillen oder Martinique. Da verstehen sie dich wenigstens.“ „Und kriegen mich leichter.“ „Auch nicht schneller als anderswo. Laß dir einen Bart wach sen wie ich.“ Nach kurzem Nachdenken sagte Bonso: „Muß noch mal drüber nachdenken.“ Während Bonso auf den Kompaß starrte, zuckte sein Gesicht im gedämpften Licht der Armatur. Ganz so einfach, fürchtete Maurice, würde es für die zwei nicht werden. Er hingegen kam mühelos durch, wenn er wieder allein war. In Oran war es ihm einen Moment so vorgekom men, als hätte ein Unbekannter die Lucille fotografiert. Viel leicht hatte er auch etwas anderes geknipst, aber aufgefallen war es ihm. Es gab nicht allzu viele Touristen um diese Jahres zeit. In der Koje dachte er erneut seinen Plan durch. Er würde die weitere Entwicklung in Ruhe abwarten. Je mehr die Presse die Sache an die große Glocke hängte, desto besser. Hauptsache, die Jagdkommandos erwischten ihn nicht. Daß sich die Jäger und die Treiber längst formiert hatten, daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. Hauptsache, sie bekamen ihn nicht. * Es sah alles recht gut aus. Bis Port Say hatten sie prächtiges Wetter und glatte See. Nach dem Festmachen zwischen den Fischkuttern kam ein 63
Zollbeamter angeradelt und nahm die Deklaration entgegen. Er ging kurz durch das Boot, warf nur einen Blick in die Pässe. „Meine Besatzung“, stellte Maurice auf französisch mit ara bischem Akzent vor. „Bleiben Sie länger?“ „Wir beheben nur einen Pumpenschaden. Kann zwei Tage dauern. Das Ersatzteil kriegen wir aus Ceuta.“ „Angenehmen Aufenthalt!“ wünschte der Beamte. Später gingen sie an Land. Edmond erkundigte sich nach ei nem Mietwagen, Bonso nach den Flugverbindungen. Die Nachrichten, die sie beim Bier in der Hafenkneipe tauschten, klangen nicht gerade hervorragend. „Wir müßten nach Oran zurück“, sagte Edmond, „nur dort gibt es eine Mietwagenzentrale. Auch Linienflugzeuge gehen nur von Oran ab.“ „Nehmt den Bus.“ Doch Edmond hatte sich für die Eisenbahn entschieden. „Mit dem Bus bis du Kiss, dann erster Klasse Schlafwagen nach Rabat. Bonso entschied sich, Edmond bis Rabat zu begleiten und von Tanger aus über den Atlantik zu fliegen. Wieder an Bord, packten sie ihre paar Sachen. Maurice brachte sie zur Haltestelle. Der Bus ging um 17 Uhr, verspätete sich aber um die übliche halbe Stunde. Dann war noch drin gend eine Panne zu beheben. „Vielleicht sieht man sich mal wieder“, sagte Edmond. „Wohl kaum.“ Maurice blieb lieber bei der Wahrheit. „Du lebst eben in einer anderen Welt“, sagte Bonso sichtlich gerührt, „Aber fein war es doch.“ Der Fahrer rief. Sie stiegen ein. Der Bus fuhr los. Sie winkten zurück. Das war das letzte, was Maurice Bergman von seinen Komp licen sah. Die Dämmerung setzte ein. Mit der aufziehenden Dunkelheit wendete s ich auch ihr Glück. Als Maurice an Bord kam und in den Salon ging, um sich ei 64
nen Cognac einzugießen, spürte er die Veränderung, wie Herz kranke durch Stechen in der Brust den Wetterwechsel fühlten. Das Glas in der Hand, Zigarette im Mund, wanderte Maurice durch das Schiff. Nichts hatte sich während seiner kurzen Ab wesenheit verändert. Weder mit dem Geruchssinn noch mit dem Gehör war etwas registrierbar, Er fühlte es nur. Wie ein zum Tode Verurteilter fügte er sich resignierend in sein Schicksal. Vielleicht war es gut, wenn alles mit einem Riesenknall endete. Maurice betrat wieder den Salon. Im Sessel saß ein Mann und fixierte ihn mit seinen hellgrauen Augen. Er war unbewaffnet. Gewiß war es nur eine Frage von Zehn telsekunden, bis sich ein Revolver in seinen Händen befand, sofern dies die Lage erforderte. „Pierre Dunal?“ fragte der Fremde. „Bin ich.“ Bergmans Stimme klang rauh. „Ich muß mit Ihnen reden.“ Bergman kam näher und stützte sich schwer auf die Tisch kante. „In wessen Auftrag?“ erkundigte er sich. Der Besucher hatte ein Lächeln um den Mund, das über den Ernst der Situation hinwegtäuschen sollte. „In meinem Auftrag.“ Bergman ließ sich in den Sessel fallen. „Bitte, stellen Sie Ihre Fragen“, sagte er blaß, nervös, aber auch erwartungsvoll. 7. In München Riem war eine zweimotorige Beechcraft-76 aus dem Flugzeugpark des BND für Urban bereitgestellt worden. Daraus zu schließen, daß es weiterging, war keine Kunst. Wenige Stunden nach der Rückkehr aus dem Schwarzwald befand sich Bob Urban bereits in der Luft Das Ziel war Mal lorca, was seiner Reichweite von 1300 Kilometern entsprach. 65
Nicht nur wegen der günstigen Zwischenlandemöglichkeit auf der Baleareninsel nahm Urban diesen Kurs. Über Funk erhielt er zusehends Gewißheit, daß die Safeknacker von Lyon auf dem von ihm beschriebenen Weg zu finden waren. Wenn ihn zum Start in München der Befehl der BNDDirektion veranlaßt hatte, dann motivierte ihn über Südfrank reich die nächste Zwischenbilanz zum Weitermachen. Der Funkspruch lautete: „Heamstedt-Yacht, 28 Meter, zwei Perkins Diesel, ausgelau fen Nizza am 29. in Oran gesichtet. Farbanstrich blau in blau verändert. Drei Mann an Bord. Läuft weiter West. Vorwarnung an alle Hafenbehörden. Auf Empfang bleiben.“ Über dem Golf von Genua mußte Urban eine Störfront durch fliegen. Mit ihren knapp dreihundert Stundenkilometern war die Beechcraft nicht besonders schnell. Aber robuste Propel lermaschinen eigneten sich für Nordafrikapisten besser als sensible Jets. In Palma mußte er eine Nachtlandung vornehmen. Außerdem regnete es. Urban ließ gleich volltanken. Dann fragte er nach dem Wetter. Die Auskunft klang miserabel. Erst gegen Morgen würde das stürmische Regentief Richtung Sardinien abziehen. Er be schloß zu warten. In der Kabine konnte man aus zwei Sesseln ein Bett machen. Zu essen war genug in der Kühlbox. Gegen einen Zug durch Palma oder gegen ein Dinner in ei nem der guten Restaurants hätte Urban nichts einzuwenden gehabt, aber besser war, in der Nähe der Funkanlage zu blei ben. Außerdem ließ sich das nachholen. Vielleicht erwischte er die Burschen schon morgen. Dann war der Fall für ihn beendet. Beim Rückflug konnte er wieder in Palma vorbeigucken, oder noch besser auf Ibiza. Da war immer was los. Er braute sich einen extrastarken Mokka, in dem der Löffel stand, legte sich hin und war im Nu eingeschlafen. 66
Gegen Morgen, der Regen pladderte noch immer auf die Aluhaut der Kabine, weckte ihn der eingeschaltete Funk. „Yacht läuft eindeutig Port Say an. Name jetzt Lucille.“ Urban sprach mit dem Tower. „Start bei Sonnenaufgang“, meldete er. „Bitte um Freigabe für Null acht Uhr.“ * Die zwei Motoren der Beechcraft zeigten sich bei starkem Gegenwind ein wenig schwach auf der Brust Ihre je 180 PS richteten nicht viel aus, wenn es einem Flugzeug voll ins Ge sicht blies. Für die 320 Kilometer übers Meer bis zur algerischen Küste brauchte Urban eine Stunde länger als berechnet, nämlich 195 Minuten. Auch der Funkverkehr war gestört. Soviel aber hatte er ver standen, daß Pierre Dunal und sein Team mittlerweile im Grenzhafen Port Say angelegt hatten, Urban überließ die Fliegerei für mehrere Minuten dem Auto piloten und studierte die Karte. Nahe Port Say gab es einen kleinen Sportflugplatz. Den steuerte er an und landete gegen 15 Uhr 30 mit ziemlich leeren Tanks auf der holprigen Wüstenpi ste. An einem Werktag wie diesem lag der Platz recht ausgestor ben da, Urban rollte die Beechcraft bis vor die Baracke, wo auch die Flugleitung saß. Drinnen war keiner zu sehen. Alles hielt Siesta, Aber ein Te lefon hing ah der Wand. Um das Telefon herum waren die Bretter mit Nummern voll gekritzelt. Nach einigem Suchen entzifferte er das Wort Taxi. Dann wählte er, und das Wunder geschah. Nach zwei Zigarettenlängen fuhr draußen ein älterer Peugeot vor und hupte. 67
Der Fahrer sprach, wie jedermann in Algerien, Französisch. Urban wünschte, zum Hafen gebracht zu werden. Die Fahrt dauerte länger als erwartet. Der Flugplatz lag gute zehn Kilometer vom Stadtrand landeinwärts. Unten am Hafen bat Urban den Taxifahrer zu halten. Er ori entierte sich erst einmal. Als er gefunden hatte, was er suchte, nämlich eine blau gemalte britische Heamstedt -Yacht, wandte er sich an den Fahrer. „Hast du Zeit?“ „Wenig zu tun im Moment, Monsieur.“ Er gab dem Fahrer zehn Dollar. „Du wartest auf mich. Kann einige Stunden dauern.“ „Ich warte“, versprach der Fahrer. Urban stieg die Treppen zum Kai hinunter und ging an der stinkenden Fischpier entlang zu der Yacht Lucille. Daß niemand an Bord war, wußte er binnen kurzem. Also sprang er hinüber und machte es sich im Salon bequem. Es ging schon auf Abend, als er Schritte vernahm. Der Eigner sollte ihn nicht gleich sehen, also versteckte sich Urban in der Pantry. Von dort aus beobachtete er den Bur schen, der, kaum im Salon, sogleich Witterung aufnahm. Er entsprach Nora Fontaines Beschreibung. Nur von seiner Eleganz war wenig übriggeblieben. Er trug weiße Drillichho sen, Pullover, eine Schifferjacke und Turnschuhe. Kein Zwe i fel, es handelte sich um Pierre Dunal. Dunal verschwand wieder. Urban hörte, wie er unter Deck das Boot von vorne bis hinten durchstöberte. Als er wieder in den Salon kam, saß Urban im Sessel. „Pierre Dunal?“ fragte er. * Nachdem Bergman den Besucher aufgefordert hatte, seine Fragen zu stellen, tat Urban dies ohne Umschweife. 68
„Sie und Ihre Komplicen haben in Lyon einen Banksafe auf gebrochen. Ist das so?“ „Ja“, sagte Bergman. „Sie haben dem Safe ein Etui mit Diamanten entnommen.“ „Ja.“ „Befindet es sich hier an Bord?“ „Ja“, antwortete Bergman zum dritten Mal. „Möchten Sie es sehen?“ Darauf verzichtete Urban, „Gehören die Steine Ihnen?“ Bergmans Antwort kam zögernd. „Nein.“ „Warum haben Sie diese Steine gestohlen und Bargeld in Millionenhöhe unbeachtet gelassen?“ „Weil es mir nur auf die Diamanten ankam.“ Urban legte die Hand jetzt direkt auf die Wunde. „Warum so bescheiden?“ Bergman lächelte resigniert. „Um gewisse Dinge in Bewegung zu bringen.“ „Worauf“, setzte Urban nach, „beruht das Geheimnis dieser Steine?“ „Ich weiß es nicht.“ Diesmal log der andere. Urban spürte es. Da er annahm, daß Dunal das Geheimnis der Steine sehr wohl kannte, versuchte Urban ihn zu schocken. „Warum“, fragte er weiter, „nennt man sie das Auge des Ad lers?“ Der Schock wirkte. Dunal zuckte deutlich. „Wie kommen Sie auf diesen Namen?“ „Das erfahren Sie später“, erwiderte Urban, „Offenbar ist der Name zutreffend.“ Bergman nickte. „Was bedeutet ,Auge des Adlers’?“ Bergman /Dunal machte eine wegwerfende Handbewegung. 69
„Vielleicht stimmt die Karatzahl mit dem Gewicht eines Ad lerauges überein.“ „Sind alle zehn Steine so groß?“ „In etwa.“ „Und was haben Sie damit vor? Ich nehme an, daß die Steine versichert sind. Würden Sie mit der Versicherung gegen eine angemessene Gebühr in Verhandlungen treten?“ „Keinesfalls“, erklärte Bergman. „Sie verkaufen die Steine auch nicht?“ „Niemals.“ „Was haben Sie dann davon?“ „Das herauszufinden, ist Ihre Sache, Monsieur’’, lautete Bergmans Antwort. Nun war er es, der an seinen Besucher eine Frage richtete: „Woher kennen Sie die Bezeichnung ‚Auge des Adlers’?“ Urban gab ihm die gewünschte Auskunft. „Als ich es zum ersten Mal hörte, konnte ich mir nichts dar unter vorstellen. Ich erfuhr lediglich, daß der sowjetische Ge heimdienst eine Einsatzgruppe, bestehend aus erfahrenen Agenten, bildete. Als Operationsziel nannte man das Auge des Adlers. Daraus dürfen Sie schließen, Monsieur, daß der KGB hinter den Steinen, mithin also hinter Ihnen her ist. Aber damit noch nicht genug. Auch alle anderen Geheimdienste von Rang sind aufgebrochen, um Ihnen die Lyoner Beute abzujagen,“ Dunal nahm es offenbar mit Gleichmut hin. Und nicht nur das. Fast schien er Genugtuung darüber zu empfinden. Urban warnte ihn. „Diese Kommandos gehen über Leichen.“ „Na, wenn schon.“ Wenn ihm so wenig an seinem Leben liegt, dachte Urban, dann beantwortet er auch die nächste Präge. „Wem gehören diese Steine?“ Als Dunal antwortete, nahmen seine Züge einen starren Aus druck an. „Dies zu wissen ist tödlich, Monsieur.“ 70
„Für Sie?“ „Für jeden, der davon Kenntnis hat.“ „Sie meinen für jeden, der die näheren Umstände kennt.“ Dunal stand auf und ging zur Bar, um Cognac und zwei Glä ser zu holen. Erst goß er ein, dann öffnete er eine Holzkiste mit Zigaretten und Zigarren. „Da Sie nicht gekommen sind, Monsieur“, sagte er, „um mich zu verhaften, was Sie im übrigen auch gar nicht könnten, denn niemand in diesem Lande würde Sie dazu schriftlich ermächtigen, und da Sie andererseits auch nicht aussehen, als würden Sie mich gewaltsam nach Europa zurückbringen wo l len, trinken wir ein Glas auf unser Wohl.“ Urban ließ sich nicht lange bitten. So wie der Cognac duftete, war er von bester Herkunft. „Wir haben es beide nötig. A votre santé!“ Nachdem Urban abgesetzt hatte, machte er, angeregt vom bisherigen Erfolg, weiter. „Wo sind Ihre Komplicen, Dunal?“ „Welche Komplicen?“ „Edmond“, erwähnte Urban. „Sie haben den ZehntonnenTresor doch nicht eigenhändig angebohrt. Sie, ein Mann von Welt“ „Edmond und Bonso sind ausgestiegen.“ „Heute?“ Bergman/Dunal machte eine Armbewegung, als wolle er die Zeit von seiner Armbanduhr ablesen, unterließ es aber dann. Demnach konnte es nicht lange her sein, daß sie sich getrennt hatten. „Ohne die beiden hätten Sie müheloser untertauchen kön nen“, bemerkte Urban. „Mag sein.“ „Daraus schließe ich, daß Sie ein fairer Partner sind.“ „War“, verbesserte ihn Dunal. „Sein werden“, faßte Urban den Satz neu und anders, „denn 71
Ihre Freunde schweben in Lebensgefahr. Man ist hinter ihnen her, Dunal.“ „Das haben Sie vorhin schon behauptet.“ „Andere halten sich nicht an die Gesetze der Jagd, sondern handeln nach dem Instinkt der Bluthunde. Ihnen mag das Le ben ziemlich gleichgültig sein, vielleicht sind Sie ein kranker Mann, der den Tod herbeisehnt, aber müssen deshalb auch Ihre Partner sterben? Ex und hopp, nachdem sie ihre Schuldigkeit taten.“ „Sie wurden erstklassig bezahlt“, erwiderte Dunal und blickte zu Boden. „Das ist doch kein Grund, daß sie gemeinsam mit Ihnen ins Gras beißen, oder?“ Dunal glaubte dem Fremden nicht. „Sie übertreiben maßlos, Monsieur.“ „Sollte mich freuen, wenn es so wäre.“ Doch in diesem Moment hatte sich Dunal offenbar durchge rungen. „Die beiden sind unterwegs nach Rabat. Per Bahn. Sie neh men den Nachtexpreß. Sie s itzen schon im Bus nach du Kiss.“ „Wenn sie noch dahin kommen“, sagte Urban. Ungefähr hatte er die Karte dieses Küstenabschnitts im Kopf. Nach du Kiss waren es vielleicht fünfundvierzig Kilometer. Busse fuhren langsam und hielten an jeder Ecke. „Warten Sie auf meine Rückkehr“, riet Urban, „löschen Sie das Licht und verriegeln Sie die Schotte. Bis später!“ Oben wartete noch das Taxi. * Neben der staubigen Straße zogen Karawanen ins Landesinne re. Die Sonne ging rotbraun unter. „Ein Sandsturm ist unterwegs“, sagte der Taxifahrer. Er schloß es aus der Farbe des Westhorizonts und daraus, daß die Beduinen die Kamele zwischen ihren Zelten anpflockten. 72
Die Straße führte jetzt in Kurven hinauf in die Berge. Das mit dem Sandsturm war weniger tragisch. Es wehte ein bißchen pulverisiert, aber noch knirschte es nicht, wenn man die Zähne aufeinander bewegte. Jenseits des Passes war der Himmel sternenklar. Der Mond kam herauf. Was wie ein schmaler gradlinig verlaufender Fluß aussah war der Schienenstrang der Oran-Fes-Eisenbahn. Der Taxifahrer nahm die Umgehungsstraße für Lastwagen. Sie erreichten den Bahnhof von du Kiss, ohne durch den Ort zu müssen. „Warten?“ fragte der Fahrer. „Warten“, sagte Urban. Der Nachtexpress war noch nicht durchgekommen. Um die Station herum warteten gut zweihundert Fahrgäste, entweder auf dem Boden hockend oder im Stehen angelehnt schlafend. Urban kümmerte sich nur um die Leute in europäischer Klei dung. Edmond und Bonso waren mit Sicherheit nicht dabei. Vor dem Billettschalter stand eine Schlange. Also ging er durch die Tür und zeigte als Ausweis eine Zehndollarnote. Der Beamte schloß kurz sein Klappfenster. „Zwei Männer“, fragte Urban und gab die Beschreibung, die er von Pierre Dunal erhalten hatte, weiter, „lösten Fahrkarten nach Rabat.“ „Nach Rabat“, bestätigte der Eisenbahner. „Sie kamen mit dem Bus.“ „Wo können sie stecken? Gibt es ein Bistro hier?“ „Im Ort. Aber der Zug läuft gleich ein.“ „Wann?“ „Die Grenzstation hat schon abgeläutet.“ Urban ging wieder. Mittlerweile war es Nacht geworden. In der Annahme, daß Edmond und Bonso nicht erkannt we r den wollten, dehnte er seinen Suchkreis aus. Er durchstöberte die Toilettenbaracke, die Stückguthalle und lief bis zum Maschinenschuppen. Er war leer, ebenso das Ko h lenlager. Seitdem die Bahn mit Dieselloks betrieben wurde, 73
wechselten sie die Maschinen in du Kiss wohl nicht mehr. Urban stieg über die Gleise, um auf die andere Seite zu gelan gen, wo ein Wasserbehälter schief auf seinen stählernen Beinen stand. Die Tage, wo er die Tanks der Loktender gefüllt hatte, waren längst vorbei. Unter Urbans Füßen schnappte etwas hart und metallisch. Ei ne Weiche war gestellt worden. Der Wasserbehälter brachte auch nichts. Urban leuchtete die Gegend ab, um sich dann wieder in Richtung Bahnhofsgebäude zu begeben. Da sah er etwas liegen. Was er für Plastiksäcke voll Abfall gehalten hatte, entpuppte sich als zwei schlafende Männer, und bei näherer Untersu chung als die Leichen von zwei Männern. Beide hatten sie, mitten in der Stirn, Geschoßeintrittsöffnun gen. Das war Profiarbeit. Profis fackelten nicht lange. Sie führten ihre Exekutionen wie Metzger im Schlachthaus aus. Sauber und schmerzlos. Urban suchte die Taschen der beiden ab. Sie hatten noch die Pässe. Sie lauteten auf Edmond Rapeaux und Felix Bonson. In Lederbeuteln gleicher Machart, die beide an Schnüren um den Hals trugen, hatten sie größere Franc-Beträge bei sich. Die Tatsache, daß Pässe und Geld noch vorhanden waren, lieferte Urban einen weiteren Beweis dafür, daß es sich nicht um Raubmord handelte. Urban beeilte sich, zu verschwinden. Kaum hatte er die Stati on erreicht, donnerte der Fez-Express herein. Sein Taxifahrer lehnte am Kotflügel und süffelte Cola aus einer Dose. „Zurück nach Port Say!“ rief Urban. „Aber so schnell du kannst“ „Das hängt nicht von mir ab, Monsieur“, sagte der Algerier, „sondern von meiner Mühle. Aber ich tue, was ich kann, Mon sieur.“ 74
Pierre Dunal, oder wie immer er heißen mochte, hatte Urbans ersten Rat befolgt und kein Licht brennen. Den zweiten Rat, die Schotten zu verriegeln, hatte er nicht befolgt oder aus ir gendwelchen Gründen nicht befolgen können. Jedenfalls stand die Tür zum Decksalon offen. Urban tastete zum Schalter und betätigte ihn aus der Deckung heraus, was sich jedoch als unnötig erwies. Die Vandalenhorde war schon durchgekommen, und sofort weitergezogen. Im eleganten Yachtsalon sah es aus wie nach einer Plünde rung. Die Bar war abgeräumt und zerlegt worden, die Polster der Sessel hatten sie aufgeschlitzt, die Teppiche aus den Wand leisten gerissen. Sogar den Safe in den Eichenpaneelen hatten sie aufgebrochen. Am Boden lag ein schwarzes Lederetui von der Größe eines Zirkelkastens, etwas dicker vielleicht. Das mit tintenblauem Samt ausgeschlagene Etui war geöffnet. Innen hatte es eine daumendicke Mittelrille. Im Samt konnte man noch die Ab drücke der Steine zählen. Neben dem Etui aus der Bank in Lyon lag Pierre Dunal. Du nal war tot. Seine Leiche wies denselben Kopfschuß auf seine Kompli cen. Die Kugel war so zentral Stirn gefeuert, als hätte man die Stelle mit einem Kreuz markiert und vorgekörnert. Die Bluthunde hatten gefunden und an sich gebracht, was sie gesucht hatten. Die Augen des Adlers waren in andere Hände übergegangen. Wer von den Jägern es letztlich geschafft hatte, war für Ur ban im Moment nicht wichtig. Er schloß die Augen des Toten und versuchte ihn mit dem Wollplaid, auf dem er zur Hälfte lag, abzudecken. Dazu mußte er den Toten an der Schulter leicht anheben. Durch diese Veränderung seiner Körperlage kippte Dunals Kopf nach links, denn die Starre war noch nicht eingetreten. In Seitenlage öffnete sich der Mund des Toten. Blut sickerte heraus. Der Zähre folgte ein ganzer Klumpen, rot und merk 75
würdig schwer. Er kollerte über den Spannteppich, wie das für ein klebriges Blutgerinnsel unmöglich gewesen wäre. Mit dem Papiertaschentuch hob Urban den Klumpen auf. Er war hart wie Glas. In der Pantry ließ er Wasser darüberlaufen. Als das Blut weggeschwemmt war, sah er einen Stein in seiner Hand, unregelmäßig rund, etwa so groß wie ein Zwetschen kern. Zweifellos ein Diamant von ungewöhnlicher Größe. Warum und auf welche Weise Pierre Dunal einen der Beute steine separiert hatte, diese Frage stellte sich Urban jetzt nicht Er nahm den Stein entgegen wie ein Vermächtnis und verließ den Salon, diesen Schauplatz eines weiteren Verbrechens. Um Verbrechen handelte es sich fraglos, auch wenn manche Staaten glaubten, ihren Geheimagenten im Einsatz das Recht zum Töten zuspreche n zu dürfen. Immerhin herrschte kein erklärter Krieg, sondern ein sogenannter Friede. Im unteren Teil der Yacht suchte Urban noch nach Hinwei sen, fand aber keine. Dann löschte alle Spuren, die er selbst hinterlassen hatte, und verschwand. „Zum Flugplatz!“ rief er dem Taxifahrer zu, „Sie verlassen unser schönes Land schon wieder, Monsieur?“ „Wirklich ein schönes Land“, bemerkte Urban. Draußen am Flugplatz bezahlte er die Landegebühr, aber gleichzeitig auch die Startgebühr. „Ich hoffe. Sie haben kein Nachtflugverbot in Port Say.“ „Hier läuft bei Dunkelheit sowieso nichts“, sagte der Platz meister, der außerdem noch die Funktion des Flugleiters, des Tankwarts, des Mechanikers und des Kantinenwirts ausübte. „Das heißt, jahrelang geht fast nichts, und dann häuft es sich rätselhafterweise.“ „Was“, fragte Urban, „häuft sich?“ „Erst kommen Sie an, dann noch ein Hubschrauber.“ „Wann war das?“ „Der ist schon wieder weg. Sie tankten nur und gingen in die Stadt essen, ein Pilot und zwei Mann. Sie wollen noch bis Malaga rüber.“ 76
Urban ließ sich den Helikopter beschreiben. Wie sich ergab, war es die Zivilausführung der Westland-Scout. „Engländer also“, stellte Urban fest. „Non, die Messieurs sprachen kein Englisch“, erklärte der Flugplatzverwalter. „Sie bemühten sich zwar um Französisch, aber ich will taub sein, wenn das nicht Polacken gewesen sind.“ „Wie kommen Sie auf Polacken?“ „Im Krieg war ich mit einem Polen in derselben Kompanie. Sein Französisch klang wie das des Helikopterpiloten. Die anderen zwei sagten kaum ein Wort“ »Russen vielleicht?“ faßte Urban nach. „Ruskis, Polacken, wo ist da der Unterschied?“ Urban sah keine Veranlassung, dem Mann den erheblichen Unterschied klarzumachen. „Nach Malaga flogen sie also.“ „Nun, sie meldeten sich nach Malaga ab. Wer weiß, wohin die wirklich wollten.“ „Kann ich auch ein Feuerzeug voll Sprit haben?“ fragte Ur ban. Er wurde bis zum Rand betankt. Dabei blinzelte der Alte nach Norden. „Trübt ein“, befürchtete er, „ich würde lieber abwarten.“ „Ich auch“, gestand Urban. Aber wenn die drei wirklich von der KGB-Einsatzgruppe Minsk kamen, dann mußte er auf ihrer Fährte bleiben. Und das machte einen Nachtflug erforderlich. Er trank noch einen Kaffee, schwarz und sehr süß, auf arabi sche Art mit Zucker aufgekocht. Dann ließ er an. Kaum waren die Sechszylindermotoren warm, gab er ihnen voll Stoff. Unwillig bockend wie ein junger Mustang zog die Beech in den Himmel. Was sie so störrisch machte, waren die ersten Böen des nahenden Gewitters.
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8.
Zwei Agenten des Sonderkommandos Minsk verließen in Ma laga den Hubschrauber. „Fliege ich euch nicht sicher genug?“ erkundigte sich der Pi lot. „Uns schon“, antwortete einer der Männer, der bis vor weni gen Minuten den Funkverkehr abgewickelt hatte. „Wem nicht?“ „Der Zentrale. Sie halten die Marine für die geeignetere Transportgesellschaft.“ „Sie ist langsamer.“ „Morgen früh steht der Zerstörer Kerenski vor der Küste. Al les weitere erledigt Krischtechew.“ „Na, dann angenehme Seereise.“ Durch einen tastenden Griff an den Sakko vergewisserte sich der Agent noch einmal, daß er den Beutel mit den Lyoner Stei nen noch am Herzen trug. Dann gingen sie durch den spanischen Zoll und nahmen draußen ein Taxi. Sie wünschten in die Stadt, zum Hotel Dolo ritta gebracht zu werden. Während eines Imbisses, den sie schweigend einnahmen, schauten sie immer wieder auf die Uhr. „Er verspätet sich“, sagte der eine. „Über Funk kam durch, daß er sich melden wird.“ „Mit Kennwort?“ „Adler.“ „Klar Adler, wie sonst wohl.“ Als Dessert gab es Käse oder Früchte. Der Kellner kam und bat einen der Señores ans Telefon. „Wanowitsch“, meldete sich der rotblonde Hotelgast. „Adler!“ „Wann und wo?“ „Die Küstenstraße Nummer dreihundertvierzig nach Osten. 78
Einen Kilometer hinter Playa de Banos del Carmen wartet am Strand ein Motorboot.“ „Gracias!“ „Kennwort bleibt“, fügte der V-Mann Krischtschew noch hinzu, „vier Uhr.“ „Vier Uhr“, bestätigte Wanowitsch. Der russische Señor legte auf, bestellte für 03 Uhr 30 einen Wagen und ließ sich den Käse schmecken. Später nahmen sie noch eine Flasche Tinto mit aufs Zimmer, weil sie der Meinung waren, daß es sich nicht lohne, wegen drei Stunden noch zu schlafen. An Bord des Zerstörers wü rden sie genug Zeit dafür haben. „Die wollen diesmal absolut sichergehen“, sagte der eine Agent zu dem anderen. „Nur wegen uns zwei Schönheiten schicken sie keinen Turbinenzerstörer von Spanien ins Schwarze Meer.“ „Oder in die Ostsee.“ „Es geht um die Steine, nicht um uns.“ „Was dachtest du denn.“ Wanowitsch kniff den Filter seiner Lucky auf russische Art ein, obwohl das nicht nötig war. Er tat es aus Gewohnheit. Als der Taxifahrer kam, waren sie doch eingeschlafen. Aber ein Top-Agent war immer und jederzeit sofort einsatzbereit. Er brauchte sich nicht erst zu orientieren. Selbst wenn er vom Wolgastrand träumte und in der Sahara erwachte. Im Dunkeln vor dem Hotel erkannten sie den Fahrer vom Flugplatz. „Sie sind es schon wieder?“ „Die Funkzentrale hat mich für die Fahrt eingeteilt, Señor. So was kommt vor.“ „Vamos!“ rief Wanowitsch und nannte ihm den Weg. „Aber fahren Sie etwas flotter als gestern abend, hombre.“ Der Seat brachte sie rasch durch die schlafende Großstadt über den Rio Guadalmedina, den Paso del Puerte entlang durch die Vororte und weiter zu den breiten Stranden im Osten. 79
Als sie Playa del Carmen hinter sich hatten, beobachtete der neben dem Fahrer sitzende Russe scharf die Hundertmeterwal ze des Tachos. Sobald ein Kilometer voll war, tippte er dem Fahrer auf die Schulter. Der hielt an. Die Agenten zahlten. „Brauchst nicht zu warten“, sagte Wanowitsch. Der Fahrer wendete. Die Agenten kletterten über die Mauer und die Straßenböschung hinab. Der Sand war trocken und körnig. Leichter Wind stand in die Bucht herein. Sie orientierten sich. Ihre Nachtsichtwerte waren identisch. Fast gleichzeitig entdeckten sie im Dunkel den Bootssteg und an dessen Ende ein schwankendes Licht. „Das sind sie.“ „Wer sonst“, bemerkte Wanowitsch. Bevor sie den Fuß vom Ende des Steges an Bord des Kutters
setzten blieb der kleinere der beiden Sowjetagenten stehen und
packte seinen Partner am Arm.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte der andere.
„Das ist doch keine Zerstörerpinasse.“
„Klar ist das keine. Sie werden sich hüten, nachts ohne Erlaub
nis hier zu landen. Krischtschew, unser Mann in Malaga, hat
das Boot besorgt“
Sie riefen den Namen. Die Kajüttür glitt auf. Licht fiel heraus. Die Silhouette eines Mannes erschien breitbeinig in der Türöffnung. „Kennwort?“ fragte Wanowitsch. „Adler“, antwortete der Mann auf dem Boot in einwandfrei em Leningrader Russisch. Nun hatten sie keinen Zweifel mehr. Erleichtert stiegen sie an Bord und in die Kajüte. An der Back des niederen Logis saß Krischtschew. Die pendelnde Lampe warf Licht und Schatten in sein Gesicht „Ist ja alles in Ordnung“, sagte Wanowitsch, „wir dachten schon…“ In diesem Moment merkten sie, daß es an der Ordnung doch 80
ziemlich haperte. Ihr spanischer V-Mann bewegte zwar die Augen, aber sonst nichts. Wo seine Lippen waren, verbot ihm ein hautfarbenes Klebepflaster das Sprechen. Im übrigen war er sehr fachgerecht an den Händen und mit dem ganzen Körper an die Sitzbank gefesselt. Normalerweise reagierten hochtrainierte Agenten in solchen Situationen blitzschnell. Doch ehe sie etwas unternehmen konnten, fühlten sie schon die Gegenmaßnahmen im Kreuz. Die zwei Männer, die sie für spanische Bootsleute gehalten hatten, drückten ihnen Faustfeuerwaffen schweren Kalibers auf die empfindlichste Stelle zwischen Rückgrat und Niere. „Gebt die Steine heraus!“ Der kleinere Russe fuhr herum, kam aber zu keinerlei wirk samer Abwehr. Ein Hieb gegen den Hinterkopf paralysierte ihn auf der Stelle. Keuchend legte er sich über den Tisch, „Die Steine jetzt!“ „Amerikaner?“ fragte Wanowitsch. „Dann laßt uns verhan deln.“ „Die Steine !“ Wanowitsch öffnete seine Jacke, um sich freiwillig durchs u chen zu lassen. Das sollte heißen, er habe die Steine nicht. „Wie ist das möglich, daß ihr hier seid?“ Der Amerikaner, der aussah wie ein Automonteur, sagte: „Es gibt keinen Funkspruch im Mittelmeerraum, den die sechste Flotte nicht mithört. Vom Flugplatz folgten wir euch bis ins Hotel. Ich stand neben der Telefonkabine im Doloritta, als Krischtschew anrief. Wir schnappten ihn, als er diesen Kutter besorgte. Zufrieden? – Und nun die Steine bitte, Towaritsch!“ „Die sind schon mit der Post unterwegs“, log der Agent „Ja, mit Kurierpost.“ Einer der Amerikaner hielt ihn in Schach, während sein Part ner den kleinen Russen abtastete. Wenig später hatten sie den Lederbeutel gefunden. Sie öffneten ihn und ließen den Inhalt auf den grünen Tisch filz kollern. 81
Der zweite Amerikaner rief: „Sind das die Steine, Colonel Hatch?“ Die schmale Tür zur Kombüse öffnete sich. Ein Cowboytyp trat ins Logis und warf einen Blick auf die prachtvollen Dia manten. „Warum nur neun?“ „Es waren nicht mehr“, keuchte Wanowitsch. „Genügen Sie Ihnen nicht?“ „Durchsuchen!“ befahl der Colonel, Wanowitsch stand mit erhobenen Händen da. Als ihm der CIA-Agent die Beine abtastete, riskierte er es. Er schlug mit der Handkante zu. Mit einem schnorchelnden Laut ging der Amerikaner zu Boden. Aber schon reagierte Colonel Hatch. Unter seinem Fausthieb prallte der Kopf des Russen nach rechts. „Noch einen Versuch“, warnte der Colonel, „und es geht euch schlecht“ „Geht es uns so etwa besser?“ „Das Leben besteht aus oben und unten.“ „Was werden Sie mit uns machen. Colonel?“ Hatch glaubte die Situation so fest im Griff zu halten, daß er den Russen sogar mitteilte, was ihnen bevorstand, „Mit diesem Boot geht es zu einem Träger der sechsten Flot te. Von dort per Hubschrauber zur Landbasis Torrejon, und weiter per Düsentransporter in die USA. Einverstanden?“ Während Colonel Hatch die Steine einzeln musterte, sie ein sammelte, in den Lederbeutel zurücktat, diesen sorgfähig ver schnürte und in eine Außentasche seines Kampfanzuges schob, wurden die KGB-Agenten gefesselt. „Ablegen“, befahl der Colonel, „denn in einer Stunde wird es hell.“ Der Agent, der den schnellen Kutter fuhr, zog die Schiebetür auf, um die paar Meter bis zum Ruderhaus zu gehen. Nach zwei Schritten zuckte er zusammen. Mitten im dritten Schritt warf er beide Arme hoch und polterte der Länge nach an Deck, 82
„Was ist, Jenkins?“ rief der Colonel. Weil er keine Antwort erhielt, trat er aus der Kajüte, um nach seinem Mann zu sehen. Ein Geräusch, als schlage ein Ketten glied gegen die Bordwand, gefolgt vom Knirschen eines Gummifenders, und Colonel Hatch erging es ebenso wie Jen kins. Nur gab er noch einen Fluch von sich, als er über den ersten CIA-Mann fiel. „Hallo Sir!“ rief der dritte Amerikaner noch etwas benom men aus der Kajüte. Irgend etwas hatte ihn irritiert. Bevor er ins Freie trat, leuchtete er mit der Stablampe hinaus. Dem Lampenstrahl folgte der Lauf seiner Maschinenpistole. Der Lauf bewegte sich wie eine schnuppernde Hundenase. Vielleicht hatte er etwas gesehen, vielleicht war es auch Panik, jedenfalls gab der dritte CIA-Mann einen Feuerstoß aus seiner Waffe ab. Die Kugelkette raste bellend in den grauenden Mor gen hinaus. In diesem Augenblick ereilte auch ihn der lautlose Tod. Er sackte gegen den Niedergang. Die Kugel aus einem Gewehr mit Schalldämpfer hatte sein Leben beendet. Wenig später löste sich der Schatten eines Mannes von den Planken des Landungssteges. Mit den Bewegungen einer Wildkatze flankte er auf den Kutter und durchsuchte die Toten. Bei Colonel Hatch fand er, worauf es ihm ankam. Dann ging er in die Kajüte und verrichtete dort den Rest seiner Arbeit durch zwei aufgesetzte Schüsse. Bevor er den Kutter verließ, löschte er die Lichter. Das in der Kajüte und das kleine oben am Funkmast. 9. Der Taxifahrer Benito Antarez war ziemlich überrascht, als er nach Hause kam. Eigentlich hatte er vor Beginn der Früh schicht noch zwei Stunden schlafen wollen. Aber daraus wurde wohl nichts. Nur warum dieser gutaussehende Bursche in Glenchecksakko 83
und Schlips mit der braunen Haartolle und den hellen Augen ihn so penetrant angrinste und dabei noch seinen Kaffee trank, das begriff er nicht sofort. Er blickte seine Frau an. Amora stand im Schlafrock neben der Spüle und hob die Schultern. Der frühe Gast setzte die Tasse ab. „Benito Antarez?“ „Bin ich. Und Sie?“ „Ich bekam deine Adresse über die Taxifunkzentrale, Du hast gestern abend zwei Männer vom Flugplatz ins Hotel Doloritta gebracht. So gegen dreiundzwanzig Uhr. Damit fängt es an.“ „Ist noch Kaffee da?“ Der Taxifahrer setzte sich. Der Gast goß ihm aus der Kanne ein. „Und weiter ging es damit, daß ich von der Funkzentrale er fuhr, daß du dieselben Leute heute morgen noch einmal fahren würdest.“ „Und was geht Sie das an, Señor?“ „Das ist ein langer Roman.“ Der Gast schob, um Erklärungen zu sparen, eine Zehndollarnote über den Tisch. Es gab kaum ein Papier dieser Größe in grüner Farbe, das international be liebter gewesen wäre. Man konnte sagen, es war weltweit be kannt und begehrt. „Bring mich hin, wo du sie hinbrachtest“ „Jetzt gleich?“ „Sofort. Mein Name ist Urban.“ Der Taxifahrer leerte die Tasse, stand auf, nahm seine Mütze und die Wagenschlüssel. „Vamos!“ sagte er. „Aber fluchen Sie hinterher nicht, wenn Sie sie nicht mehr kriegen.“ „Das ist dann meine Sache. – Und jetzt nehmen Sie Ihre Kut sche mal stramm heran, Señor Antarez, wenn ich darum bitten darf.“
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Bob Urban gab sich keinerlei Illusionen hin, daß er die zwei Iwans noch kriegen würde. Agenten, die sich an einem einsa men Strandstück absetzen ließen, kampierten nicht bei Lager feuer und Gitarrenmusik. Um so erstaunter war Urban, als er draußen am Bootssteg einen Kutter liegen sah, einen von der Sorte, die reiche Privatleute den Fischern abkauften, sie elegant möblierten und mit starken Motoren ausstatteten, um sie dann Kutteryacht zu nennen. „War es hier?“ vergewisserte sich Urban. „Ich fahre seit dreißig Jahren Taxi“, sagte Antarez, „ich ken ne in Malaga jeden Meter Straße. Aber an dem Kutter brannte ein Mastlicht, als ich die Señores absetzte.“ Urban ließ das Taxi warten, riet Antarez aber abseits zu par ken. Das Licht am Kuttermast war eindeutig gelöscht worden. Aber warum legte der Kutter nicht ab? Möglicherweise hatte er mit den zwei Sowjetagenten überhaupt nichts zu tun. Trotzdem beschloß Urban nachzusehen. Als er die Spur von zwei Männern im Sand sah, revidierte er seine Ansicht. Die Spuren führten genau auf den Steg zu. Aber dann entdeckte Urban eine dritte Spur. Sie kam von Rincon, der nächsten Ortschaft her. Nachdem sie sich mit der Spur der Russen vereint hatte, scherte sie vor dem Landesteg wieder aus. An dieser Stelle lagen mehrere angerauchte Zigarettenkippen. Obwohl es noch ziemlich dunkel war, versuchte Urban mög lichst viel aus den Spuren zu lesen. Dabei ging er in die Hocke. Alle drei Spuren führten vom Strand zum Steg. Und es gab keine, seine eigene eingeschlossen, die vom Steg zurück an Land führte. Nach dem Gesetz der Logik mußten sich die Señores also noch auf dem Kutter befinden. Vorsichtig, auf Geräusche, Gerüche und Bewegungen ach tend, betrat Urban den klapprigen Steg. Der Kutter dümpelte leicht in der Dünung. Die Autoreifen, die als Fender dienten, 85
scheuerten am Dalben. Nichts war zu sehen. Weder auf dem Steg noch auf dem Wasser, noch an Deck. Urban mochte fünfzehn Meter vom Heck des Kutters entfernt sein, da fiel der Schuß. Das Geschoß sirrte so scharf an ihm vorbei, daß Urban zu spüren glaubte, wie es sein Haar sengte. Ein verdammt guter Schütze mußte das sein. Er warf sich zu Boden, und tat dies mit einem Bewegungsab lauf, der wie Hinstürzen aussah, Minuten vergingen. Endlich hörte er, wie sich ein Mann nä herte. Er sprang vom Kutterdeck auf den Steg. Die Bretter des Steges gaben unter seinem Gewicht nach. Urban hielt das Ge sicht gegen die Bohlen gepreßt, aber jeder Muskel war bereit zu reagieren. Noch war es zu früh. Er mußte den anderen he rankommen lassen. Eine Bohle klapperte. Jetzt vibrierte auch die Bohle, auf der Urban lag. Der andere stand vielleicht noch zwei Meter ent fernt. Urban vermutete, daß er ein Gewehr hatte. Mit einem schall gedämpften Revolver ließ sich bei so ungünstigem Licht un möglich ein solcher Schuß plazieren. Der Schütze hatte in der Tat ein Gewehr. Damit berührte er Urbans Hüfte und versuchte ihn mit dem Lauf umzudrehen. Da Urban aber spreizbeinig dalag und obendrein die Arme ausge streckt hatte, erwies sich das als unmöglich. Näher als auf Lauflänge wollte der andere aber nicht an ihn heran. Der Lauf bohrte sich jetzt in Urbans Körper. Der Druck ließ wieder nach. Bald darauf spürte Urban die Berührung des Ko l bens. Der Schütze hatte jetzt also den Lauf in der Hand. Mit dem Kolben drehte er Urbans Kopf so, daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. Dann fluchte er leise. Nicht über Urbans Reaktion fluchte er, die kam erst eine Zehntelsekunde später. Urban öffnete die Augen, packte den Gewehrkolben und riß auf eine Weise daran, daß dem anderen der Lauf aus den Händen glitt und er auch die Balance verlor. Bis Urban sich aufgerichtet hatte, stieß der Gegner mit dem 86
Fuß zu. Er traf Urban voll an der Schulter. Urban schleuderte die Waffe gegen ihn. Der andere duckte ab. Dadurch ging sein zweiter Fußkantara schlag daneben. Urban bekam seinen Un terschenkel zu fassen. Er packte ihn mit aller Kraft drehte ihn herum. Der Gegner hatte zwei Möglichkeiten. Er konnte sich den Fuß aus dem Gelenk hebeln lassen, oder der Bewegung nach geben. Letzteres schien ihm besser zu sein. Er warf sich, mit einer scherenartigen Körperbewegung dem Fußhebel folgend, vom Steg ins Wasser. Dort tauchte er sofort unter. Urban sprang auf, suchte die Wasserfläche ab und konnte nichts erkennen. Die Dünung nahm die Sicht auf den Schwim mer. Du entkommst mir nicht, dachte Urban, hetzte den Anleger hinauf und wartete, bis der andere aus der Dünung an Land robben würde. Minuten vergingen, doch er tauchte nicht wieder auf. Ver dammt mächtige Lungen mußte der Bursche haben, um so lange unter Wasser auszuhalten. Nach zehn Minuten gab Urban auf. Er suchte den Strand nach jeder Seite mehrere hundert Meter weit ab, sah aber nichts. Dann ging er an Bord des Kutters. Was er dort vorfand, nämlich fünf Leichen, ließ es ihm gera ten erscheinen, den Schauplatz so schnell wie möglich zu räu men. Trotzdem durchsuchte er die Toten. Drei von ihnen, der Klei dung nach waren sie Amerikaner, hatten keinerlei Papiere bei sich. Die zwei Leichen in der Kajüte besaßen ungarische Pässe. Die Diamanten entdeckte Urban bei keinem von ihnen. Seine Rekonstruktion der Vorgänge ergab folgenden Tathergang: Bei dem Versuch der Amerikaner, den Russen die Lyoner Diamanten abzunehmen, waren CIA- und KGB-Agenten Opfer eines Dritten geworden. Aber wer war der Dritte? 87
Urban steckte sich eine MC an, um den Blutdunst, den er süß lich im Rachen schmeckte, zu überdecken. Beim zweiten Zug aus der Zigarette blieb er stehen und machte noch einmal kehrt. Unmittelbar am Steg, wo sich die Spuren der Agenten vereinigt hatten, lagen hastig angerauchte Kippen. Im Licht seines Punktstrahlers untersuchte er sie. Es waren amerikanische Camel. Fingerabdrücke fand man an Mundstücken erfahrungsgemäß nicht, also nahm er auch keine davon mit. Der Mann, der von Rincon her gekommen war, hatte an die ser Stelle mindestens zehn Minuten gewartet. Soviel stand fest. Urban folgte seiner Spur weiter nach Osten. Sie verlief sich in einem kiesigen Flußbett, das von den Bergen ins Meer führ te, jetzt aber trocken lag. Auch hier war also Schluß. Die Uferstraße belebte sich jetzt. Über den Bergen wurde es heller. Bald würde die Sonne herauskommen. Urban wollte schon zum Taxi hinauf marschieren, da fiel sein Blick noch einmal auf den Landesteg, auf das Stück Sand dar unter und auf den ersten Pfahl, der noch ins Trockene gerammt worden war. Er hatte gute Augen. Zwischen den Muscheln, dem Tang und den Bierbüchsen glaubte er zusammengeknülltes Papier zu sehen. Er stieg hinunter. Es war eine Camelpackung. Sie fühlte sich trocken an. Die Kunststoffolie knisterte noch. Auch lag sie nicht weiter von den Camelkippen entfernt, als man gewöhnlich eine leere Packung zu werfen pflegte. Es war eine leere Zigarettenpackung wie jede andere leere Zigaretten packung. Urban nahm sie trotzdem mit. „Alles in Ordnung, Señor?“ fragte der Taxifahrer. „Zum Flugplatz!“ wünschte Urban. Er wollte weg von hier. Die Polizei würde von dem Massaker auf dem Kutter bald erfahren; Man würde den Taxifahrer aus findig machen, und der würde alle Personen, die er hergefahren hatte, genau beschreiben, die Russen und ihn. Daraus wü rde 88
man kombinieren und zu dem Schluß kommen, daß er nicht der Täter sein könne – wenn man sich Mühe gab. Meistens gab man sich aber keine allzu große Mühe. Von München aus konnte er per Telex oder durch ein Tete fongespräch mit seinem Freund Ernesto Segovia von der Si cherheitsbehörde in Madrid die Sache eleganter klären. Die Fahrt in die Stadt dauerte länger als die Fahrt heraus. Es gab schon die ersten Staus. Doch das Licht war jetzt gut. Urban untersuchte noch einmal die Camelpackung. Er las auch das Kleingedruckte. Unter dem Namen des Tabak-Konzerns stand etwas noch kleiner Ge drucktes. Er traute seinen Augen nicht. Hergestellt in Johannesburg – Südafrika Wie, zum Teufel, kamen am Kap der guten Hoffnung gedreh te Camels nach Malaga? Es gab nur eine Antwort: durch den Killer. Also kam der Killer, der alle anderen überspielt und jetzt die Diamanten hatte, aus Südafrika. Und wo wurden die meisten Diamanten der Welt geschürft? In Südafrika. Urban fielen die ersten Schuppen von den Augen. 10. Im BND-Hauptquartier München-Pullach legte Urban zwei Dinge auf den Tisch. Einen Diamanten im Gewicht von mindestens 80 metrischen Karat (16 Gramm) und eine leere Zigarettenpackung. Dazu gab er dem Chef der Operationsabteilung einen ersten umfassenden Bericht. Sebastian schien mit dem Diamanten wenig anfangen zu können und mit der Zigarettenpackung noch weniger. Allein die Tatsache, daß Urban das buntbedruckte Papier mit null Pfennig Wert neben einen Stein im Wert von sechzigtausend Mark legte, gab ihm zu denken. 89
„Ist es die Packung, die der Killer wegwarf?“ „Mit hoher Wahrscheinlichkeit.“ „Und was besagt der Aufdruck?“ „Hergestellt in Südafrika. Das habe ich schon per Telefon durchgegeben.“ Sebastian nuckelte, das blitzende Monokel im Auge, an sei ner kalten Virgina herum, wie ein Säugling am Daumen. „Ich habe sofort die nötigen Hebel stellen lassen“, erklärte der Alte. Also von BOSS ist der Bursche nicht.“ „Das behauptet BOSS“, fügte Urban hinzu. Der Oberst drückte sich hoch. Sein Schmerbauch war wie der Mond, einmal wuchs er, dann nahm er wieder ab. Sebastian marschierte, sein Übergewicht vor sich herschiebend, im Raum auf und ab. Ruckartig zog er die Bremse und sagte: „Man kann zu den Südafrikanern stehen, wie man mag, ich zum Beispiel kann es im Gegensatz zu anderen Herren ziem lich gut mit ihnen und halte sie als politisches Gegengewicht am Zipfel des schwarzen Kontinents für so bedeutend, daß man sie erfinden müßte, falls es sie nicht gäbe. Aber das nur neben bei. Hm, worauf wollte ich nun eigentlich hinaus…?“ Der Alte hatte den Faden verloren. Er trat ans Fenster und betrachtete die kahlen Ulmenäste. Urban wußte, daß er das soeben Gesagte jetzt in Gedanken zurückspulte. Auf dem Absatz, wie man es ihm vor vierzig Jahren als Rekrut in Preußen beigebracht hatte, machte er kehrt „Ach ja, also ich persönlich wurde von denen da unten noch nie hinters Licht geführt. Das betrifft in erster Linie die Gent lemen, mit denen wir zu tun haben, nämlich die Mijnheeres vom Geheimdienst BOSS.“ Urban faßte zusammen: „BOSS in Johannesburg versichert also, daß sie keinen Kil leragenten in Malaga im Einsatz hatten.“ „BOSS hat überhaupt nie von einem Bankraub in Lyon oder von B-Diamanten gehört. Was bedeutet übrigens B-Diamant?“ 90
Diese Frage konnte Urban noch immer nicht beantworten. Aber eine andere Antwort, nämlich die, wer noch hinter der Massenabmurkserei in Malaga stehen könne, fiel ihm schon leichter. „Dann müssen es De Queer-Leute gewesen sein.“ Daß es sich bei De Queer um den größten Diamantenförderer aller Kontinente handelte, um ein Syndikat, das Preise und Absatz weltweit bestimmte, brauchte zwischen ihnen nicht erwähnt zu werden. „De Queer“, bemerkte der Al te, „De Queer gewinnt pro Jahr zwei Tonnen Diamanten. Da kommt es doch auf zehn Steine nicht an, oder?“ „Nun“, wandte Urban ein, „um zwei Tonnen Diamanten zu erhalten, müssen sie vierzig Millionen Tonnen Rohgestein abbauen und das Endprodukt herausfiltern. Da das nur in hoch komplizierten teuren Anlagen möglich ist kommt es auf jedes Karat an. Man bedenke, daß schwarze Arbeiter, die versuchen, Rohdiamanten im Darm aus den Minen zu schmuggeln, mit harten Zuchthausstrafen belegt werden.“ Der Alte stieß die Hände in die Hosen von altertümlicher, aber bequemer Weite und hob die Schultern. „De Queer brauchen wir nicht zu fragen. Von denen bekom men wir sowieso keine Antwort“ „De Queer unterhält eine eigene Nachrichtenabteilung und eine sehr schlagkräftige Agentengruppe. Und die fackelt nicht lange.“ „Wenn es um De Queers Interessen geht.“ „Oder um Konzerneigentum“, fügte Urban hinzu. Der Oberst, der jede Unlogik schon im Ansatz witterte, hakte sofort ein. „Angenommen“, sagte er, „De Queer hätte sich zurückgeholt, was ihnen gehört, was hatten die Steine dann in einem Banksa fe in Lyon zu tun? Soviel ich weiß, vertraut De Queer seine Steine nur zwei festungsähnlichen Tresorbunkern an. Der eine steht in Kapstadt, und der andere gehört der Bank of England 91
in London. Ich wiederhole also meine Frage: Was haben Stei ne, die De Queer gehören, in Lyon zu suchen?“ „Und warum sind diese zehn Steine gar so wichtig?“ ergänzte Urban, womit er sein Unwissen offen zugab. „Bitte!“ Der Alte wartete auf eine Erklärung. Urban hatte keine. Er nahm das Auge des Adlers, warf es spielerisch wie eine Glasmurmel hoch, fing es wieder auf. „Wenn Zweifel dich plagen. Stralman fragen.“ Sebastian senkte den Kopf wie ein Stier beim Angriff. „Schön, fragen Sie den Experten aller Experten. Aber ich bit te mir aus, daß stramm rangegangen wird.“ Damit eilte er in den Nebenraum, wo schon ein neues Pro blem auf ihn wartete. Aus Sebastians Äußerung entnahm Urban, daß der Fall noch immer brandaktuell war. * Urban hatte nicht soviel Zeit, um den Ablauf der Laboruntersu chung abzuwarten. Das konnte länger dauern als die Geburt von Vierlingen. Als er spätabends wieder in das weißgeflieste von Leucht stoffröhren erleuchtete Basement hinunterfuhr, war der hagere Professor der letzte, der die Stellung hielt. Er saß in seinem Stahlmöbelbüro, dessen einzige Augenfreude ein wurmstichi ger Chiemgauer Bauernschrank war. Wie immer, wenn er einen Freund begrüßte, nahm er den Zwicker ab. Nachdem er ihn wieder auf. Die Nasenwurzel geklemmt hatte, zog er die Schublade unter der dicken Schwarzglasplatte auf. Darin lag ein Schnellhefter, darauf ein Papiertaschentuch. Im Hefter befand sich das Gutachten, im Taschentuch der Stein. „Folgende Situation“, begann Stralman sachlich. um sofort privat zu werden. „Vorher vielleicht einen Schnaps, mein Jun ge?“ 92
Urban kannte Stralmans mit Liebe zu hohem Alkoholgehalt selbstgebrannte Obstschnäpse. „Vielleicht nachher.“ „Vorher wäre ratsamer. Dann verdaust du das besser.“ „Lassen wir es drauf ankommen“, schlug Urban vor und war auf einiges gefaßt. Stralman nahm den Stein zwischen zwei Finger. Zum Zweck der Untersuchung hatten sie ihn rundum fein poliert, nicht etwa geschliffen, nur poliert. Jetzt funkelte er im Licht wie ein riesi ger Tautropfen. „Schön, nicht wahr?“ „Wer so was mag“, sagte Urban. „Andere mögen nicht mal Joghurt.“ „Aber leider kein Naturprodukt“, sagte Stralman, „wie Jo ghurt.“ Urban riß es fast vom Stuhl. „Ein falscher?“ „Nein, echt ist er schon, ich meine, was das Ausgangsprodukt Kohlenstoff betrifft. Diamanten entstehen bei einem Druck von rund fünfzigtausend Atmosphären und einer Hitze von unge fähr eintausenddreihundert Grad. Sie haben Härte zehn, neh men also in der Härteskala den Platz zehn ein. Bis hierher un terscheidet sich dieser Stein durch nichts von jenen, die man in Kimberlit zu finden pflegt.“ „Aber?“ Nun legte Stralman den Diamanten hin und stützte die Unter arme auf. „Nur eben, daß er künstlich ist.“ Für Urban war das eine Erleichterung. Es klärte mit einem Schlag zwei Drittel aller offenen Fragen. „Künstlich hergestellt also. Und von wem? Wer stellt künstli che Diamanten her? General Electric, De Queer, die Russen, die Schweden?“ „Richtig“, stimmte ihm der Professor im weißen Mantel zu, „aber dieser Stein entstand mit Sicherheit nicht in ihren La bors.“ 93
Urban kniff ein Auge schmal. „Mit Sicherheit ist ein großes Wort. Wie kommen Sie darauf, Professor?“ Stralman holte ein wenig aus. „Was man an Naturdiamanten weltweit schürft, das reicht natürlich weder hinten noch vom. Deshalb stellt man für tech nische Zwecke längst künstliche Diamanten her. Kreissägen zur Trennung von Stahlbeton, Gestein oder Keramiken sind ohne Diamanten nicht denkbar. Die Industrie verbraucht welt weit nahezu fünfzig Tonnen von diesen Glitzerdingern.“ Urban entspannte sichtlich. „Na schön, es ist also ein künstlicher Diamant. Wunderbar. – Und?“ Der Professor fand diese Erkenntnis weniger fabelhaft als der Agent. „Diamanten sind wie Petroleum“, fuhr Stralman fort, „ein Produkt, das nur in begrenzten Mengen vorkommt. Eines Ta ges wird es keine mehr geben. Deshalb suchte man schon vor dem zweiten Weltkrieg ein Verfahren, das es erlaubt, künstli che Diamanten zu kristallisieren.“ Urban wollte jetzt keinen Vortrag über die Technik des Dia mantenbackens hören, sondern eine Frage anbringen. „Die Einzelheiten des Verfahrens werden natürlich streng ge hütet“, fuhr Stralman fort Endlich machte der Professor eine Atempause, und Urban kam zum Zuge. „Die Herstellung künstlicher Diamanten ist trotzdem kein Geheimnis mehr. Warum also versteckte man diese zehn Steine irgendwo und holte sie sich, nachdem sie gestohlen wurden, mit allen Mitteln zurück? Was ist das Besondere an diesen sogenannten B-Diamanten?“ Stralman erklärte es nicht, er demonstrierte es. Zunächst ent nahm er dem Schrank einen Salzstreuer, mit dem er gewöhn lich das Casinoessen nachwürzte. Dann suchte er aus seinen Akten einen Hefter mit dunkel 94
blauem Umschlag. Auf diesen Umschlag streute er eine Portion von dem grobkörnigen Salz. „Schau dir das genau an!“ bat er. „Hab schon mal Salz benutzt“, sagte Urban. „Wie schwer, glaubst du, wiegt eines dieser Steinsalzkör ner?“ „Zwanzig Milligramm“, schätzte Urban. Stralman nickte zufrieden. „Kommt hin!“ Er schüttete das Salz in den Ascher „Die syn thetischen Diamanten sind sehr klein fast winzig. Die größten bisher gewonnenen bringen es auf dreißig Milligramm. Größer lassen sie sich noch nicht herstellen.“ „Moment bitte!“ Urban erhob Einspruch. „Dieser B-Stein da wiegt doch das Tausendfache.“ „Und ist damit fast ein Wunder“, ergänzte der Wissenschaft ler. Urban konnte jetzt wieder einen Punkt abhaken. „Oder ein unglaublicher technologischer Durchbruch.“ „Oder auch das.“ Urban spann den Faden weiter. „Irgendeinem Chemiker muß es also gelungen sein, durch ein neues Verfahren künstliche Diamanten mit allen Eigenschaften der natürlichen in beliebi ger Größe herzustellen.“ „So lautet das Problem in einem Satz.“ Urban kam immer mehr in Fahrt „Sie sind aber bis heute nicht auf dem Markt, obwohl ein rie siger Bedarf dafür besteht.“ „Abermals richtig.“ „Weil De Queer es zu verhindern weiß.“ Stralman stopfte seine Pfeife und steckte sie an. Die Glut quoll hoch. Da ihm sein Daumen zu schade dazu war, drückte er die Glut mit dem wertvollsten aller Diamanten in den Pfei fenkopf hinein. Lächelnd meinte er dazu: 95
„Dem kann ja nichts etwas anhaben. Nur Diamanten zerstö ren Diamanten.“ Urban war mit seinen Gedanken schon längst in Lyon. „Ich phantasiere jetzt einmal drauflos“, sagte er. „Es gab einmal einen Mann, dem gelang es, solche Steine herzustellen. Um so was industriell aufzuziehen, braucht man Kapital. Also suchte er das Kapital. Das De Queer-Syndikat erfuhr davon und versuchte mit ihm ins Geschäft zu kommen. Der Erfinder aber lehnte ab. Nun übte man den branchenüblichen Druck aus. Schließlich wurde der Erfinder weich. Er wurde hoch abgefun den, mit vielen Millionen Dollar wahrscheinlich. Dafür ve r kaufte er die Steine und das Herstellungspatent. Dies mit der Verpflichtung, es nie anzuwenden oder weiterzugeben. Da man die B-Steine nicht vernichten wollte, gab man sie in einen Safe, und zwar in einen, den man auf Grund seiner Provinzlage für sicher hielt. Man deponierte sie in Lyon.“ „Wo sie prompt gestohlen wurden.“ „Doch rasch holte sich De Queer sein Eigentum wieder.“ Nun brauchte Urban doch einen Schnaps. Er bekam einen Klaren, der sich durch die Farbe nicht von Wasser, vom Geschmack her kaum von Fallobst und von der Stärke wenig von Benzin unterschied. Aufmerksam beobachte te Stralman Urbans Reaktion. „Ganz neue Mischung“, betonte Stralman stolz. „Super“, keuchte Urban, „wirklich. Gleich fahre ich wie eine Rakete zur Decke.“ Aber im Magen wurde es einem warm ums Herz. Dermaßen angeregt stellte Urban neue Fragen: „Warum ist es so wichtig, daß man größere als DreißigMilligramm-Kunstdiamanten erhält?“ „Zum Polieren, Schleifen, Sägen, Drehen“, erläuterte der Pro fessor, „sind die kleinen ausreichend.“ „Man besetzt doch sogar Bohrköpfe für die Ölsuche mit Diamanten.“ „Damit fängt das Problem an“, machte Stralman weiter. „Es 96
ist natürlich ein Unterschied, ob man den Zahnbohrer eines Arztes mit Diamanten bestückt oder einen schweren Bohrmei ßel. Betrachten wir einen der im Ölgeschäft gebräuchlichen Dreißig-Zentimeter-Bohrer. Ohne Diamanten muß er nach zwanzig Bohrstunden aus großer Tiefe mühsam heraufgeholt werden. Ein diamantbesetzter Bohrkopf kostet zwar sechzig tausend Dollar, hält aber auch zweihundert Stunden. Die Ölge sellschaften haben errechnet, daß sie beim Einsatz von Dia mantbohrern pro tausend Meter Tiefe zwei Millionen Dollar einsparen.“ „Und wo ist der Haken dabei?“ Stralman faßte es kurz und verständlich. „Die winzigen Synthetik-Diamanten taugen für Bohrmeißel nicht. Man muß schon große Natursteine dazu nehmen. Ihre Seltenheit wiederum setzt der Bestückung und der Größe der Bohrköpfe enge Grenzen. Und das ist der Dollpunkt. Man braucht händeringend billige große Naturdiamanten für die riesigen Erschließungsaufgaben in Sibirien, in Asien, in Au stralien und in den arktischen Zonen.“ „Und für die Rüstungsindustrie“, ergänzte Urban. Stralman streifte das Thema nur oberflächlich. „Da gibt es Dinge, die kann man bis jetzt noch gar nicht ma chen, weil es an den nötigen Werkzeugen mangelt. Nehmen wir nur die Titanbearbeitung oder das Ziehen von Rohren für die neuartigen Magnetkanonen und so weiter.“ „Deshalb die Experimente im Weltraum.“ „Schon seit Jahren versuchen die Sowjets auf ihrer Raumsta tion, also außerhalb der irdischen Schwerkraft größere künstli che Diamanten herzustellen. Sie haben dafür eine komplette Anlage zu Sojus hinauf geschossen. – Ohne Ergebnis bis jetzt.“ „Dagegen muß es geradezu spottbillig sein, an das gestoppte Verfahren heranzukommen.“ „Dem man schon einen guten Schritt näher ist, wenn man erst einen der neuen Steine in Händen hat.« „Was sieht man an ihm?“ wollte Urban wissen. 97
„In Härte und Reinheit wenig. Aus gewissen Strukturen kann man jedoch schließen, ob er aus Graphit gewonnen wurde, was man als Katalysator verwendete, Eisen, Nickel oder Kobalt, welcher Druck und welche Temperaturen nötig waren, um ihn zu solcher Größe wachsen zu lassen. Das alles ist so streng geheim wie die NATO-Strategie der nächsten zwanzig Jahre.“ Mehr zu erfahren war nicht nötig. Urban wußte jetzt, warum jeder Industrienation daran lag, das Verfahren zu bekommen. „Letzte Frage, Professor. Warum heißen die Steine BDiamanten?“ „Angeblich hat ein Belgier namens Bonthomme das Verfah ren entwickelt.“ „Lebt dieser Mann noch?“ „Keine Ahnung. Schätze, er genießt seine Millionenabfin dung und beobachtet amüsiert die Jagd nach den Klunkern.“ Urban stand schon an der Tür. „Das kann auch für Bonthomme ins Auge gehen. Jetzt, wo die Geschichte aufgewühlt ist, wird man sich seiner erinnern und aus ihm das Patent herauskitzeln wollen. Notfalls mit Nachhilfe. Von Erpressung bis Entführung und physischem Druck ist alles drin.“ „Ja, so ziemlich alles“, bestätigte Stralman. „Aber das ist nicht meine Abteilung, junger Mann, da wenden Sie sich bes ser an Dynamit & Co.“ Nachdenklich geworden verließ Urban die vollklimatisierte BND-Unterwelt. Aber auch weiter oben war die Luft nicht besser. * „Gut gestemmt!“ formulierte der Oberst karges Lob. „Bis jetzt hatten Sie hundert Kilo auf der Hantel. Hängen Sie noch ein paar Gewichte dran, vielleicht qualifizieren Sie sich dann für die Vorentscheidung.“ Urban bat um eine verständliche Erklärung. 98
„Bitte langsam zum Mitschreiben.“ Der Alte faßte es jetzt weniger sportlich. „Wir wissen nun, um was es geht. Auch unserer Industrie würde es guttun, wenn sie das Verfahren besäße. Sonst läuft es wieder drauf hinaus, daß man die Großdiamanten in Kaliforni en macht und in Tokio, und nicht in Idar-Oberstein.“ „Die Südafrikaner haben sich zurückgeholt, was ihnen ge hört.“ „Und die Russen und die Amerikaner haben ein paar gute Leute verloren. Das heißt aber nicht, daß sie die Jagd aufge ben.“ „Die Jagd nach dem Verfahren?“ „Nach dem Kopf, der es einst ausdachte.“ „Kann sein“, befürchtete Urban, „daß das auch bei uns Opfer kostet.“ Nun bleckte der Alte sein Dackelgebiß. „Sie werden es schon schaffen.“ „Also weitermachen!“ „Betrachten Sie das als Chefanweisung.“ „Das kann teuer werden.“ „Die Möglichkeit einer weltweiten Jagd ist nicht auszuschlie ßen.“ „Teuer und mitunter ein wenig am Rande der Legalität.“ „Nicht immer ganz legal meinetwegen. Hauptsache legitim.“ Mit Wortspielereien war Urban wenig geholfen. Er ging hinaus, fuhr hinunter, setzte sich in sein stahlfarbenes CSI-Coupé, verließ das BND-Gelände in der Heilmannstraße zu Pullach und fuhr ziellos ins Oberland. Die Luft war wie Sekt an diesem milden Vorfrühlingsabend. Über dem Starnberger See ging die Sonne unter. Urban hatte sich von der Fahrt Inspirationen erhofft. Aber sie kamen wohl so wenig wie von einer schönen Frau. Schönheit lenkte nur ab.
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11.
Die Sonderabteilung B der CIA hatte einen Fund gemacht. Die Sache hatte nicht einfach so herumgelegen, sondern sie hatten tief danach graben müssen. Aber schließlich lag sie auf dem Tisch. Schwarz auf weiß wie bei einem amtlichen Dokument. „Max van Bonthomme“, las Pol Mannik, der Einsatzoffizier, einer Gruppe von Fahndern vor, „Geboren Mai neunzehnzwe i undzwanzig in Leiden. Wo immer das sein mag, es liegt glaube ich im flämischen Teil des Königreiches Belgien, spielt aber im weiteren Verlauf der Suche nach diesem Burschen keine Rolle. – Im Krieg Studium der Chemie und Physik in Spanien und Südamerika. B. mußte angeblich schwer arbeiten und hungern, um sich durchzuschlagen. Erst später, als man sein Talent ent deckte, bekam er Stipendien. Abschluß mit summa cum laude. Doktor der Chemie seit neunzehnfünfundvierzig und in den Forschungsabteilungen für Mineralogie verschiedener Unive r sitäten sowie der Industrie, unter anderem auch bei General Electric, tätig. Dort hatte er erste Berührung mit den Problemen der Herstellung synthetischer Diamanten. B. gründete eine eigene Firma. Von da ab ging es erst mal bergab, denn der Erfolg blieb aus.“ Der Lebenslauf Bonthommes wurde bis ins kleinste bespro chen und analysiert. Doch um 1960 endete das Dossier. Als es hieß, van Bonthomme stehe unmittelbar vor einem sensationel len Durchbruch, verschwand er spurlos. „Von da ab existiert nichts mehr über ihn“, erklärte der Einsatzleiter. „Doch da er sich nicht in Kohlensäure aufgelöst haben dürfte, werden Sie ihn finden, Gentlemen. Und zwar schneller als die Russen und noch bevor es zu einem neuen Gemetzel wie in Malaga kommen kann. So lautet die Order, Gentlemen.“ Die Agenten schwärmten aus. Die Kontakte zu FBI, zur Ein wanderungsbehörde und zu Interpol wurden aktiviert Binnen 24 Stunden lag ein Ergebnis vor. 100
„Die berühmte Stecknadel im Heuhaufen, die man vergebens sucht, gibt es heute nicht mehr“, berichtete der verantwortliche Abteilungsleiter dem CIA-Direktor beim morgendlichen Refe rat. „Dieser Mineralchemiker van Bonthomme konnte zunächst perfekt untertauchen, weil er verschiedene Decknamen an nahm. Aber wir bekamen ihn doch.“ „Wie war das möglich?“ fragte der CIA-Direktor verblüfft über seine Goldrandbrille hinweg. „Die Gezeichneten fallen einfach schneller auf, Sir. Wenn man unbeachtet sein will, darf man heutzutage nicht einmal Bart tragen, oder sich eine Glatze leisten. Leute mit körperli chen Defekten, wer einen Buckel hat, einen Wasserkopf, einen Arm zu wenig, hat kaum eine Chance, in der Masse zu ver schwinden. Der Chemiker van Bonthomme hatte einen Gehfeh ler.“ „Von Geburt an? Davon steht aber nichts im Dossier.“ „Es ist ein Hüftleiden, das in den sechziger Jahren auftrat Nach Aussagen seiner ehemaligen Arbeitskollegen handelt es sich um Knochenverschleiß im Bereich des rechten Hüftge lenks. Normalerweise tritt das erst in höherem Alter auf, man che erwischt es aber schon mit fünfunddreißig. Bonthomme litt sehr darunter. Wenn sich eine Kugel in der Gelenkpfanne ohne das natürliche Schmiermittel langsam durchscheuert, kann das einen Mann soweit bringen, daß er keinen Schritt mehr geht oder nur sehr langsam und mit einer bestimmten gelenkentla stenden Körperhaltung. Van Bonthomme ist oder war ein Mann voll Energie, Er gab nicht auf. Und anhand dieses Merkmals machten wir ihn ausfindig.“ „In einem Hospital?“ „Er suchte in der Majo-Klinik Rochester Hilfe. Damals konn te man sie ihm nicht mit der Sicherheit gewähren, die er forder te. Also verließ er die USA wieder. Das war im Jahre sieben undsechzig. Nun haben wir seine Spur.“ „Meine Anerkennung!“ Der CIA-Direktor schloß den Mittel knopf seines nachtblauen Jacketts, was immer ein Zeichen 101
dafür war, daß er es eilig hatte. „Bis wohin führt seine Spur?“ „Von Südamerika, wo er auf einer Hazienda lebte, nach Indi en, wo er sich lange nahe Bombay aufhielt, weiter zu den Phil ippinen, wo er seinen Schmerz offenbar bei der Entdeckung der schönen Insulanerinnen begrub, und wieder zurück nach Euro pa, zunächst in die Schweiz.“ Der CIA-Chef hatte es wirklich eilig. Er drückte die Taste der Sprechanlage. „Sagen Sie dem Innenminister, ich käme gleich!“ Dann hob er ruckartig das Kinn. „Und was unternehmen Sie jetzt, Mister Mannik?“ „Bonthomme hat seinen Hauptwohnsitz in Frankreich. Weder hier noch dort bekamen ihn unsere Leute in den Griff. Immer war er ihnen knapp entwischt. Wir wissen aber, daß er sich in Stockholm ein Hotelzimmer reservieren ließ.“ Der CIA-Direktor gab seiner Zuversicht dadurch Ausdruck, daß er dem Mitarbeiter die Hand zum Abschied reichte, was selten vorkam. „Sehen Sie zu, daß er Ihnen nicht wieder durch die Maschen schlüpft.“ „Diesmal nicht, Sir.“ „Dann kann ich also bis heute abend Ihre Erfolgsmeldung erwarten?“ „Ich denke schon, Sir“, deutete Mannik an. „Der Präsident wird sich freuen.“ Der CIA-Direktor konnte dem Präsidenten nichts Positives berichten. Die am Abend erwartete Erfolgsmeldung blieb aus. Die CIA-Agenten griffen in Stockholm ins Leere. Der Chemiker Max van Bonthomme hatte, kaum in Stock holm angekommen, das nächste Flugzeug genommen. Leider war es die Maschine in ein Land, das der CIA jeden Zugriff unmöglich machte. Bonthomme war nach Moskau geflogen.
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Von der CIA erfuhr es der sowjetische Geheimdienst nicht. Er bezog die Information aus anderen Kanälen. Der Flug Stockholm-Moskau war im Aeroflot-Büro Amster dam durch die Sekretärin des Chemikers persönlich gebucht worden. Am Moskauer Flughafen erwarteten drei Männer in gefütter ten Ledermänteln und Pelzkappen die Abendmaschine aus Schweden. Trotz sibirischer Kälte fuhren sie mit ihrer Limousine der landenden Iljuschin-86 entgegen. Alle männlichen Passagiere wurden noch in der Kabine über prüft. Der Gesuchte war nicht darunter. Auf einen grauhaarigen Mittfünfziger, der mit kanadischem Paß reiste, fiel trotzdem ihr Verdacht. Sie nahmen ihn mit zum Verhör. Wenig später mußten sie sich bei ihm entschuldigen. Wie sich herausstellte, war er An gehöriger der kanadischen Botschaft. In der Nacht lief ein Telex aus Stockholm ein. Ein Reisebüro, das auch Buchungen für die Sowjetunion und China vornahm, meldete, daß auf den Namen Max van Bonthomme eine Karte für den Transsibirien-Expreß gelöst worden sei, und zwar von Moskau durchgehend bis Wladiwostok. Die Männer vom KGB frohlockten. „Auf unserem Territori um entwischt er uns nicht mehr. Selbst wenn er Flügel hätte.“ „Oder eine Tarnkappe“, sagte ein anderer. Leider hatte der Transsibirien-Expreß den Moskauer Bahnhof wenige Minuten nach Mitternacht planmäßig verlassen. Doch für den zweitgrößten Geheimdienst der Welt stellte das kein Problem dar. „Wir halten den Zug in Uljanowsk an“, schlug einer der In landexperten vor. „Besser in Ufa“, meinte ein anderer. „Da hält er ohnehin eine Stunde. Das dürfte genügen, einen gehbehinderten Ausländer aus Abteil neun im Schlafwagen Nummer drei herauszuholen. Das ist wirklich nur ein Kinderspiel.“ 103
Der Verantwortliche rieb sich schon die Hände. „Jetzt kriegen wir das Auge des Adlers doch noch“, prophe zeite er. Auch die Männer des KGB freuten sich zu früh. Der Routineauftrag, einen gehbehinderten Ausländer anhand von Namen und Personenbeschreibung im Sibirien-Expreß zu verhaften, konnte insofern nicht erledigt werden, als das Bett Nr. 9 im Schlafwagen drei gähnend leer war. Der ganze Zug wurde mehrmals in beiden Richtungen abge sucht. Man suchte im Küchen-, Speise- und Packwagen, man suchte unter den Waggons, auf den Waggons und im Umkreis des Bahnhofsgeländes. Schließlich meldete der Fernschreiber zur KGB-Zentrale Moskau Fehlanzeige. „Das ist unmöglich“, kommentierte der verantwortliche KGB-Oberst die Nachricht „Unsere Leute in Ufa sind durch weg Idioten!“ Einen Tag später erfuhr der KGB, daß ein Max van Bonthomme, die Beschreibung stimmte ungefähr, auf Grund einer Intourist-Reservierung für einen Tag im Moskauer Hotel Gorski abgestiegen sei. Obwohl der KGB von den Falschmeldungen genug hatte, ging man auch dieser Sache nach. Wie sich ergab, war van Bonthomme mit an Sicherheit gren zender Wahrscheinlichkeit in Moskau gewesen, als man ihn jenseits des Ural vergebens suchte. Angeblich war der Belgier mit einem gemieteten Personenwagen weitergereist In der Zentrale Dzerzhinskystraße beschloß man, sich nicht länger an der Nase herumführen zu lassen. Man machte ganz Westrußland dicht. An keinem Grenzüber gang des europäischen Landesteils hatte ein Mann, der nur im entferntesten Max van Bonthomme ähnlich war, noch irgend eine Chance.
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Als die CIA-Zentrale von der vergeblichen Jagd der Sowjets auf van Bonthomme erfuhr, jubelte man dort nur kurz. Auch die Anstrengungen der Amerikaner hatten bisher nichts ge bracht als die zufällige Aufnahme eines Hotelfotografen. Sie zeigte einmal den Belgier und einmal dessen Sekretärin, eine schlanke hübsche Person von gewisser Eleganz. Leider stammte das Foto aus Hongkong. Es wurde dort aufgenommen, als die Russen den Chemiker gerade im Sibirien -Expreß wähn ten. „Dieser Mann ist ein Genie auf dem Gebiet taktischer Ab setzbewegungen“, lauteten die einhelligen Kommentare von Leuten, die das Geschäft kannten. Da der Chemiker vor 36 Stunden einwandfrei in der briti schen Kronkolonie identifiziert worden war, griff man zu. In 36 Stunden konnte er zwar mühelos Südamerika oder Australi en erreichen, aber die internationalen Fluglinien hatten keine entsprechende Buchung vorliegen, und eine private Charterge sellschaft hatte ihn auch nicht aus Hongkong abtransportiert. Wenig später überschlugen sich die Meldungen förmlich. Ein Agent des britischen MI-6 wollte den Belgier auf der Fähre nach Macao gesehen haben. Gleichzeitig hatten ihn die chinesische Spionageabwehr in Shanghai und die Japaner in Hokkaido ausgemacht Die weltweite Jagd nach van Bonthomme nahm hysterische Züge an. Dadurch begriffen die Experten in Langley allmäh lich, daß die Kollegen in Asien wohl Phantomgebilden auf den Leim gegangen waren. Ihre Erfolglosigkeit einem gehbehinderten Einzelgänger ge genüber lähmte sie. Die Lähmung bewirkte Resignation und diese wiederum Lustlosigkeit. „Ich will verdammt sein“, sagte Pol Mannik, Leiter der CIASonderabteilung B, „wenn dieser Diamantenbastler nicht längst irgendwo in einem Bungalow am Palmenstrand einer Insel sitzt, aufs Meer guckt, Zigarren raucht und Champagner süf felt.“ 105
„Und sich das Hüftgelenk von seiner schönen Sekretärin mit Hundefett einreihen läßt.“ „Warum ausgerechnet Hundefett?“ fragte Mannik. „Soll gut sein gegen Arthritis und Mitleid.“ „Oh, dieser Halunke!“ Der Angesprochene, ebenfalls ein Mann aus dem CIAManagement, leerte sein Whiskyglas. „Warum eigentlich Halunke? Bonthomme hat doch keiner Seele etwas zuleide getan. Kann er etwas dafür, daß wir uns seit Wochen die Köpfe an ihm blutig stoßen?“ „Das ist Defaitismus, ist das!“ rief Mannik. „Wer zahlt dir eigentlich dein Gehalt? Wir oder dieser verdammte Hundsfott van Bonthomme?“ „Weiß nicht“, erwiderte der Kollege, „mich beginnt er zu amüsieren.“ Mannik setzte das Glas hart auf. „Mich ganz und gar nicht“ „Du hast auch keinen Humor.“ „Nur, wenn es was zu lachen gibt. – Aber an dieser Sache stimmt irgend etwas nicht, sie stinkt, daran ist was faul.“ „Das bildest du dir ein, Pol, weil er so wenig zu fassen ist wie Wasser.“ „Wasser kann man fassen, indem man es gefriert.“ „Leichter kannst du die Südsee vereisen als den.“ „Wenn nötig, mache ich das.“ „Ja, du kannst alles.“ „Mehr als alles“, sagte Mannik und griff zum Telefon. * Nach längerem Bemühen erreichte die CIA-Telefonzentrale endlich jenen Mann, den Pol Mannik zu sprechen wünschte. Die Verbindung war deshalb so schwierig herzustellen, weil sich der Gesuchte in einer Jagdhütte im Kaisergebirge aufhielt. 106
Die letzten 250 Kilometer von München zu ihm mußten per Funk überbrückt werden. „Hast du aufgegeben?“ fragte Pol Mannik seinen BNDKollegen Urban. „Dachte, ihr seid so scharf auf ihn wie Katzen auf Baldrian.“ Urban lachte gequält. „Zu viele Katzen und zu wenig Baldri an“, erklärte er. „Wir beobachten eure ve rzweifelten Anstren gungen und versuchen den Fall durch Nachdenken zu lösen.“ „Mit Ergebnis?“ „Ohne Ergebnis.“ „Na bitte!“ „Aber es hat Kräfte gespart“, erwiderte Urban. „Diese Masse Aufwand in Ost, West und Süd für nichts, das ist absolut de primierend. Ich war solange Bergsteigen.“ „Und Sebastian, der Hetzer, erlaubt das?“ „Die Berichte aus Moskau und Washington waren ihm Be weis genug, daß man abwarten muß, bis sich irgend etwas ereignet.“ „Daß sich was ereignet?“ bohrte der Amerikaner. „Ein Anruf, ein Tip von euch, von den Russen oder irgend woher.“ „Da kannst du lange warten.“ „Ich habe Zeit“ „Aber wir nicht“ „Du willst also etwas von mir.“ Pol Mannik fiel nicht gleich mit der Tür ins Haus. Erst schnupperte er um den heißen Brei. „Ihr seid so merkwürdig passiv, das mißfällt mir.“ „Wenn man Zeuge ist von zwei... drei... fünf... acht Liquidie rungen, dann läßt man besser eine Weile die Finger vom Ob jekt“ „Oder hast du einen der Steine?“ fragte Mannik unvermittelt „Ich mache mir nichts aus Diamantohrringen. Ich trage auch selten Brillantenkolliers, eigentlich nur zu hohen Anlässen“, höhnte Urban. 107
„Es waren zehn Steine. Die Russen hatten nur neun, hört man, als unsere Leute sie ihnen wegnahmen.“ „Die Steine gehören De Queer. Er wird sich schon darum kümmern.“ „Über De Queer kommen wir nicht weiter“, bedauerte der Amerikaner. „In dieser Richtung wurde schon alles versucht De Queer ist ein Konzern wie ein Block aus Stahl. Eine kleine Weltmacht“ „Dann versucht doch, den Erfinder zu schnappen.“ „Der spielt Katz und Maus mit uns.“ „Und mit den Russen. Was regst du dich auf. Ihr seid in be ster Gesellschaft.“ Nach kurzer Pause sagte Mannik: „Und das mißfällt mir. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ein Mann Ende Fünfzig und krank, der schafft so was nicht“ „Alles im Leben ist eine Organisationsfrage.“ „Organisiert“, erklärte der CIA-Angestellte, „wird das offen bar von Bonthommes Sekretärin. Tüchtige Person. Material, aus dem man Agentinnen schnitzt.“ „Das ist mir neu“, gestand Urban, „daß eine Frau im Spiel sein soll. Aber ich habe mich in den letzten Tagen wirklich nur um mein körperliches und seelisches Wohlbefinden geküm mert. Langlauf, Abfahrten im Pulverschnee, Hüttenzauber. Mir geht es echt gut.“ Die Verbindung war kurz unterbrochen. Das kam bei so komplizierten Schaltungen über Fernämter, Bodenrelais, Satel liten und eine Funkbrücke von Pullach ins Kaisergebirge häu fig vor. Pol Mannik ließ sich eine Weile über diese Sekretärin aus. Er beschrieb sie anhand des Fotos. Urban wurde mit einem Mal aufmerksam. „Das Ganze noch mal von vorn, bitte!“ Die Beschreibung war typisch amerikanisch. „Person weiblich, Hautfarbe weiß, Alter etwa fünfundzwan zig, etwas über mittelgroß um einssiebzig, Teint hell, Haar 108
rötlich bis brünett, auf dem Foto nicht klar erkenntlich. Klei dung von oben nach unten: Kopftuch modisch geknotet, Trenchcoat pelzgefüttert mit Pelzkragen und ebensolchen Är melaufschlägen. Nylonstrümpfe, Riemchensandalen mittelho her Absatz, Krokoleder mit goldenem Seitenknopf. Mehr konn ten wir aus dem Foto nicht herausholen.“ Urbans Frage bewies, daß er plötzlich fasziniert war. „Augen?“ „Weitstehend, dunkel. Brauen dünnrasiert.“ „Kopftuch?“ „Vermutlich braungrundig mit goldfarbenen Ornamenten, nein, Arabesken heißt das präzise. Ja. es sind Arabesken.“ „Wie schminkt sie den Mund?“ „He“, rief Mannik, „hast du einen Verdacht?* „Der Mund ist wichtig“, erklärte Urban. „Mund, Beine und Hintern, das ist es, worauf der Blick des Mannes fällt“ „Des gesunden Kenners.“ „Wie also ist der Mund? Klein herzförmig, groß üppig, Übermalt, knallig oder blaß, wie sind die Konturen?“ Hier begann der Amerikaner zu schwimmen. „Schließlich haben wir kein Portraitfoto vorliegen. Mund normal groß, würde ich sagen, nicht unsinnlich.“ „Nicht unsinnlich“, der Angerufene mußte lachen. „Konturen nachgezogen.“ „Keinesfalls auf Hausfrauenart nur mach mal drüberge schmiert Stimmt’s?“ „Gewiß ist das keine Hausfrau.“ „Schick mir ein Funkfoto rüber.“ „In deine Berghütte?“ „Ich bin heute abend in München“, erklärte der deutsche BND-Agent, „planmäßig.“ Pol Mannik hatte genug Menschenkenntnis, um herauszuhö ren, daß sein Kollege Robert Urban nicht vorgehabt hatte, heute abend in München zu sein. Urban mußte also etwas an die Angel bekommen haben. 109
„Aber du teilst mit uns?“ fragte der Amerikaner. „So wie ihr mit uns teilt“, versicherte Urban. Dann brach die Funkbrücke zusammen. 12. Im BND-Hauptquartier lag kein Funkfoto der beschriebenen weiblichen Person vor. Urban wartete vergebens darauf. Bald war er sicher, daß das Funkfoto nie mehr eintreffen würde, und konnte sich auch denken, warum. Er hatte zuviel unverhohlenes Interesse für die Dame gezeigt. Spürhunde wie Mannik merkten das rasch. Sie registrierten jeden Wetterwechsel. Aus Urbans Fragen hatte er gewisse Schlüsse gezogen. Und da der Rückfluß von Informationen immer so schlecht war wie der Herfluß, mußte sich Mannik ausrechnen, daß er zu kurz kommen würde. Also setzte er sein eigenes Team auf die Dame an. Aber da würde er Pech haben. Er wußte nicht, was Urban wußte. Mannik mußte die Dame erst mühsam ausfindig machen, Ur ban hingegen brauchte sie mir aufzusuchen. Am frühen Morgen flog er nach Paris. Kurz vor elf stand er vor Nora Fontaines Appartementtür. Er läutete. Nichts rührte sich. Schließlich hämmerte er dagegen. „Machen Sie auf, Nora!“ rief er. „Ich weiß, daß Sie da sind. Habe mit Ihrem Bruder gesprochen.“ Daß ihretwegen in dem eleganten Wohnhaus Lärm entstand, das schätzte die Dame offenbar nicht. Sie kam näher. „Was wollen Sie?“ flüsterte sie an der Tür. „Nicht durch die Wände hindurch verhandeln.“ Urban drohte: „Ich kann auch die Polizei mitbringen.“ Der Schlüssel sperrte. Nora löste die Schließkette und stand da, ein wenig verschlafen, das Haar wuschelig, ungeschminkt 110
und müde, als sei sie eben von einer weiten Reise zurückge kehrt. „Wo waren Sie heute nacht?“ erkundigte sich Urban. „Unterwegs auf der Autobahn. Fragen Sie meinen Bagheera, der Motor muß noch warm sein.“ „Auf welcher Autobahn?“ „Straßburg-Paris.“ „Sie haben den Schwarzwald schon vor Wochen verlassen“, hielt ihr Urban entgegen. „Wollen Sie das Gebührenticket sehen?“ „Dann kamen Sie eben von Zürich über Basel herüber.“ „Von Zürich! Was sollte ich, zum Teufel, in Zürich tun?“ „Landen, mit einem Flugzeug vielleicht“ „Ich fliege ungern.“ „Mittlerweile konnten Sie sich daran gewöhnen. Alles ist Gewöhnung, wenn man kreuz und quer auf dem Globus her umschwirrt.“ „Sie spinnen ja!“ Nora steckte sich eine Zigarette an. Urban ließ nicht locker. „Kamen Sie aus Hongkong oder aus Australien?“ Sie tat, als sei das zum Lachen, aber es klang unecht. Ungeniert suchte Urban die Zweizimmerwohnung durch. Er fand einen Handkoffer. Er war leer. Das besagte nichts. Im Schrank hing ein nutriagefütterter Popelinmantel mit Kr a gen und Aufschlägen aus Pelz. Er fand außerdem Krokosanda len mit Goldknöpfen und ein Hermes-Kopftuch braun mit Ara besken. Da wußte er schon eine ganze Menge, und Nora Fontaine stand recht kleinlaut herum. Ihre Verlegenheit nahm noch zu, als er ihr die Stationen ihrer Reise und den Grund dafür nannte. Bei der Begründung verhielt er sich allerdings vorsichtig, da schwamm er noch ziemlich. Nora erwies sich als harter Brocken. Sie gab nichts zu. Sie versuchte ihn zu irritieren und vom Thema abzubringen. Dazu 111
setzte sie ihre beruflich bewährten Reize ein. Sie versuchte ihn anzumachen. Nachdem sie für einen Augenblick im Badezimmer ver schwunden war, kam sie in einem dünnen Gewand aus grünem Tüll wieder, bodenlang, ärmellos mit tiefem spitzem Aus schnitt und vorne in Nabelhöhe durch zwei Straßbroschen geschlossen. Es war eines jener Abendkleider, die man zu keiner Gesellschaft, sondern nur im Bett trug. Es verbarg nicht einen Quadratzentimeter ihres Körpers. Im Gegenteil, die Tüllmaschen bewirkten eine Art Lupeneffekt. Angetan mit diesem verführerischen Fummel legte sie sich in die Couchecke, zog das linke Knie an und ließ den Stoff spiele risch von Bein und Oberschenkel gleiten. „Ihre Arbeitskleidung?“ fragte Urban. „Nein, ich trage es heute als Erstaufführung.“ „Das zieht bei mir nicht“, stellte er fest. Sie lächelte. Dabei bewegten sich ihre Lippen, als wurde sie ihm etwas zuflüstern. „Ich bin sicher“, erwiderte sie. „Es hat seine Wirkung. Ein Mann wie Sie mit diesem Bullenberuf, der ist ein verdammt normaler Bursche.“ „Na schön, fangen Sie mit Ihren Künsten an, Madame.“ Sie hob die Arme, verschränkte sie im Nacken. Der Aus schnitt verrutschte, gab eine Brust bis zur Spitze frei. „Finden Sie nicht, Monsieur, daß ich der Typ Frau bin, nach dem man sich auf der Straße umdreht?“ „Und hinterherpfeift“ „Und denkt“, ergänzte sie, „mit der möchte ich mal…“ „Was?“ zeigte er sich nach wie vor am Thema uninteressiert Sie sorgte dafür, daß sich das grüne Gewand noch mehr Öff nete. „Das da“, sagte sie. Nora behielt recht, dieses Biest. Es wirkte wie Alkohol. Wenn man ihn erst im Magen hatte, begann die Wirkung un weigerlich einzusetzen. 112
„Tu dir keinen Zwang an“, flüsterte sie. Urban war bestimmt kein klösterlicher Typ, er war aber auch nicht nach Paris gereist, um mit einer Frau zu schlafen, aus der er sich im Grunde nichts machte. Doch dieses Teufelsweib verstand es, und er fürchtete, daß die Barriere nur auf diesem Weg zu nehmen sei. „Ich weiß“, sagte Nora, „vielmehr ich glaube zu wissen, was dich hemmt. Falls es überhaupt etwas gibt, was dich hemmt, dann ist es der Gedanke, so etwas mit einer Nutte zu tun… gegen Geld.“ „Gegen oder für Geld“, erweiterte er den Themenkreis. „Oder mit einer kriminell gewordenen Person. Aber ich ver sichere dir, mon ami, daß alles, was immer ich auch tat, nicht gegen irgendwelche Gesetze verstieß.“ „Du meinst, alles, was du für den Chemiker Max van Bonthomme tust.“ „Getan hast“, schränkte sie ein. Von da ab war über Bonthomme nichts mehr zu erfahren. Trotzig schwieg sie, als sei Urban überhaupt nicht mehr vo r handen, als sei er Luft für sie. Es sah aus, als habe er sie tödlich beleidigt, weil er ihr Sonderangebot ablehnte. Aber beleidigen wollte er sie auch wieder nicht. Er zeigte sich als Humanist. „Na schön“ , sagte Urban, „kommen wir zur Sache.“ Er ging ebenfalls ins Bad. Als er herauskam, hatte er nicht einmal ein Handtuch an. * Es war Mittag und für Paris nicht die Stunde der Liebe. Die hatte sich erst gegen fünf Uhr eingebürgert. Um so mehr hoffte Urban, daß für ihn jetzt die Stunde der Wahrheit anbräche. Die Dame hatte bekommen, wonach sie begehrte. Jetzt war er dran. „Zwanzigtausend Kilometer“, schä tzte er, gegen die verspie 113
gelte Decke ausrauchend, „bist du in diesen Tagen mindestens gejettet“ „Das reicht nicht“ „Stimmt, von Zürich nach Bangkok und zurück ist ja schon halb um die Erde. Dann kommt noch Südamerika hinzu, Schweden, Moskau. Was noch?“ „In Australien waren sie endgültig abgehängt, die Russen und die Amerikaner.“ Sie sprach so ruhig, daß er sich nur wundern konnte. „Du bist ein echtes Organisationstalent“ „Kein Problem. Ich habe früher In einem Reisebüro gearbei tet besitze ein hervorragendes Gedächtnis für Fahrpläne, kenne alle Visa- und Paßvorschriften, habe die Namen der guten Hotels der meisten Weltstädte im Kopf und Talent für Spra chen.“ „Und Liebe.“ „Danke“, sagte sie, „wenn man Glück hat im Leben, tut man am Ende immer nur das, was einem am meisten Spaß macht.“ „Dann müßte dir auch die Schauspielerei Spaß machen“, be merkte Urban. „Ich habe mich als Kind gerne verkleidet“, gestand sie, „aber auf diesem Gebiet bringe ich nicht mal soviel wie Marilyn Monroe.“ „Was du in Hongkong brachtest war völlig ausreichend. Es war so perfekt daß man den Mann auf dem Foto, ich meine diesen hüftgeschädigten Burschen, tatsächlich für Max van Bonthomme hielt.“ Nora hatte eine Pralinenschachtel geöffnet und leerte sie während des Gespräches mit sichtbarem Genuß. Zwischen ihren weißen Zähnen mußte ein Sahnetrüffel- und ein NougatKrokantstückchen nach dem anderen daran glauben. „Und ich fürchtete schon, die Show in Hongkong sei meine schlechteste Rolle gewesen.“ „Das Publikum entscheidet“, sagte Urban, „und nicht der 114
Darsteller. Selbst die Experten der CIA hielten Bonthomme für echt.“ Nora amüsierte sich köstlich darüber. „Max war in Hongkong gar nicht dabei.“ Urban ging geographisch sogar noch einige Schritte weiter. „Max war auch in Moskau und in Stockholm nicht dabei. Er war nirgendwo dabei.“ „Wie sollte er auch.“ Urban wußte, daß er jetzt vor der Tür stand und sie nur noch auf zustoßen hatte. „Wie kam es dazu?“ „Daß ich seine Sekretärin, vielmehr seine Reisebegleiterin wurde?“ „Nur das möchte ich noch wissen.“ „Ein völlig legaler Handel“, erklärte sie. „So legal wie ein Testament, das man vor Zeugen unterschreibt und beim Notar hinterlegt.“ „Ein Testament war es nicht.“ „Mehr ein Wunsch für den Fall, daß Max Probleme bekäme.“ Urban wollte es genau wissen. „Nora, du bist eine Frau, die auf gewissen Gebieten, wenn es keine allzu große Mühe verursacht und das Honorar im ange messenen Verhältnis zur Leistung steht, bereitwillig die Wü n sche von Männern erfüllt. Was Bonthomme von dir verlangte, war eine eher große Mühe.“ „Aber was tut man nicht alles für hunderttausend Franc“, er widerte sie, „plus Spesen.“ Urban versuchte jetzt mitten ins Ziel zu schießen. „Kam das Angebot Bonthommes posthum?“ Ihre Wimpern bewegten sich rasch. „Posthum, was ist das?“ „Nach dem Tode?“ Sie schob eine Cognacbohne in den Mund und nickte mehr mals. 115
„Wenn posthum nach dem Tode bedeutet, dann erledigte ich das für Max meinetwegen auch posthum.“ „Er ist also tot“ „Was denn sonst“ „Er wollte aber für lebend gehalten werden.“ „Sieht so aus.“ „Kannst du mir erklären, warum?“ „Er war eben ein Spinner. Oder weißt du es besser? Eigent lich müßtest du es besser wissen.“ „Es gehörte zu einem Gesamtplan“, kombinierte Urban, „das heißt, eigentlich waren es zwei Pläne, die getrennt von einan der ablaufen sollten. Er entwickelte sie in der Annahme, daß er nicht schon eine Woche nach dem Lyoner Bankraub würde sterben müssen. Daß es so schnell gehen würde, das konnte er nicht vorhersehen, Plan zwei, nämlich der Auftrag, den du für ihn erledigt hast, sollte die Verfolger in die Irre führen.“ „Das ist mir zu hoch“, gestand Nora Fontaine. Ich öffnete den schweren Umschlag, den er mir übergeben hatte. Vereinba rungsgemäß brach ich das Siegel, als ich hörte, daß er, Edmond und Bonso tot seien. Es stand ja in der Zeitung.“ „Und woher“, faßte Urban nach, „wußtest du, daß Pierre Du nal, den du mit Edmond zusammenbrachtest und der in Port Say erschossen wurde, mit Max van Bonthomme identisch ist?“ „Ich sah sein Foto. Außerdem stand es im Begleitschreiben zu den posthumen Anweisungen.“ Sie merkte, daß Urban über die Sache inzwischen bedeutend mehr wußte als sie. Doch sie zeigte keine Neugier. Die letzten Zusammenhänge waren unwichtig für sie. „Noch einen Wunsch der Herr?“ fragte sie spöttisch. „Mag sein“, äußerte er, „daß es selten vorkommt daß einer mit dir in diesem Hollywoodbett liegt und geistreiche Gesprä che führt, aber ich bin bald fertig,“ „Laß dir Zeit“, sagte sie und legte sich wieder flach hin. „Bist du verfolgt worden? Fühltest du dich beobachtet?“ 116
„Eigentlich immer.“ „Hattest du den Eindruck, daß von dieser Richtung Gefahr ausgeht?“ „Ich bin nicht ängstlich.“ „Hast du dir Gesichter gemerkt?“ „Agenten haben keine Gesichter.“ Sie verbesserte sich: „Oder nur selten. Aber eines fiel mir auf. Dieser Herr mischte erst ab Hongkong mit. Ein kräftiger Typ, blond, rötliche Haut, als sei er immer abgehetzt, mit Sommersprossen.“ Urban versuchte diesen Burschen einzuordnen. Noch gelang ihm das nicht. „Ist es möglich, daß Dunal alias Bonthomme noch weitere Decknamen führte?“ „Dem traue ich alles zu“, äußerte Nora. „Wie war das mit seinem Gehfehler?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nichts davon bemerkt. Der war doch elastisch wie ein jun ger Affe. Der turnte mit seinen Jahren umher wie ein Junger.“ „Merkwürdig“, murmelte Urban. „Max van Bonthomme litt nachweislich an schwerer Arthritis des linken Hüftgelenkes.“ „Mein Pierre jedenfalls nicht.“ „Dann hat er sich operieren und ein künstliches Hüftgelenk einsetzen lassen. Hast du eine Narbe an ihm ent deckt?“ „Bin ich ein Narbensuchgerät?“ fauchte sie. „Außerdem ist es bei mir immer recht schummrig. Es sei denn, einer der He rren wünscht Studiobeleuchtung,’’ „Ich danke dir jedenfalls“, sagte Urban. „Ich mag zufriedene Menschen.“ „Vorausgesetztes handelt sich um Männer.“ Sie duschten noch gemeinsam. Unter der Massage der heißen Brause wurde Nora wieder recht anschmiegsam. Urban aber hatte den Kopf voll anderer Dinge, hauptsächlich voll ungelö ster Probleme. Je mehr Fragen beantwortet waren, desto mehr unbeantwortete taten sich auf. 117
13. Bei Hertz besorgte sich Urban einen Mietwagen. Auf dem Weg in die Normandie übernachtete er in St. Lo. Noch vor dem Abendessen sprach er mit München. „Was, zum Teufel, suchen Sie in der Normandie?“ schnarrte Oberst Sebastian. „Etwa rostige Kanonen am Strandabschnitt Omaha?“ „Ich folge van Bonthommes Spur“, erklärte Ur ban. „Wollen Sie damit sagen, daß Sie diesen Ganoven endlich haben?“ Was Urban im Zusammenhang mit dem Chemiker mißfiel, war, daß man ihn stets als Ganoven bezeichnete. „Der Mann tragt vielleicht die Züge eines Michael Kohl haas“, entgegnete er, „aber ein Ganove ist er nicht. Auch wenn er in die Rolle von Pierre Dunal schlüpfte.“ Der Oberst verstand jetzt überhaupt nichts mehr. „Dunal ist tot. Sie selbst waren Zeuge.“ „Dunal und van Bonthomme sind ein und dieselben Person.“ „Wie können Sie einem Toten dann in die Normandie fol gen?“ Urban versuchte es dem Alten in groben Zügen zu erklären. „Der Belgier van Bonthomme entwickelte ein Verfahren zur Gewinnung beliebig großer künstlicher Diamanten. Der De Queer-Konzern sah seine Geschäfte damit gefährdet und kaufte dem Erfinder die Patente ab. Natürlich gab Bonthomme sie nicht freiwillig her. Man wird starken Druck auf ihn ausgeübt haben. Bonthomme zog sich im besten Alter in den Ruhestand zurück. Doch was man ihm angetan hatte, konnte er nicht ve r winden. So beschloß er eines Tages, die zehn von ihm erzeug ten Dokumentationssteine zurückzuholen.“ „Sie immerhin jetzt dem Syndikat gehörten.“ „Geschäfte, Verträge, die unter psychischem Druck zustande kommen, sind rechtlich anfechtbar.“ „Warum ging er nicht den Weg über die Gerichte?“ 118
»De Queer hätte jedes Verfahren schon im Ansatz abgewürgt. Man hätte den Kläger durch einen Killer aus der eigenen Ab wehrorganisation beseitigen lassen“, befürchtete Urban. „Des halb heuerte Bonthomme ein paar Experten an, um den anderen Weg zu beschreiten. Den Weg des Diebstahls, der zwangsläu fig in die Öffentlichkeit führen mußte. Damit wollte er sein Ziel erreichen, ohne sich persönlich zu gefährden und sich den Repressalien des Syndikats auszusetzen. Er hoffte, der Dieb stahl der Steine aus der Lyoner Provinzbank würde genug Wirbel erzeugen und die Sache publik machen.“ „Was nicht ganz nach Wunsch verlief.“ „Wie man es nimmt“, meinte Urban. „Und um die Verfolger abzulenken, sah er die Fuchsjagd durch die Kontinente vor.“ „Was Nora Fontaine gegen gutes Honorar nahezu perfekt er ledigte. Leider war es vergebens. Max war zu diesem Zeitpunkt schon tot und hatte keinen Nutzen mehr davon.“ Der Alte hatte scharf mitgedacht. „Und was suchen Sie, jetzt in der Normandie, Nummer acht zehn?“ „Die Leiche Dunals wurde dorthin überführt“ „Warum ausgerechnet in die Normandie?“ „Die Überführung geht auf sein Testament, hinterlegt bei sei nem Notar in Tourlaville, zurück.“ „Das beantwortet meine Frage nicht“ „Van Bonthomme“, sagte Urban, „besaß ein Landgut an der Küste. Er bewohnte es unter dem Namen Bergman. Wenn man aus dem Anfangsbuchstaben von Bonthomme ein M macht, läßt sich Monthomme mit Bergman übersetzen.“ „Und woher wissen Sie das?“ „Zum Teil von Nora Fontaine.“ „Und die Fontaine, woher hat sie es?“ „Van Bonthomme bezahlte sie für das minutiös vorausge plante Reisequiz. Sein Notar scheint es ein wenig ferngesteuert zu haben. Er setzte sich mit der Fontaine in Verbindung. Von 119
ihm erfuhr sie, daß man Bonthommes Leiche in die Normandie überführen würde, um sie dort zu beerdigen.“ „Und Sie riefen den Notar an?“ „Der Maitre war sehr freundlich. Er beantwortete alle meine Fragen.“ Sebastian wurde jetzt ein wenig ungehalten. „Schön, dann beantworten Sie endlich auch meine Frage. Was, zum Teufel, suchen Sie in dieser windigen Gegend?“ „Wie lautet mein Auftrag, bitte?“ erkundigte sich Urban, „Das wissen wir beide, denke ich. Nichts wäre uns lieber, als zu dem B-Stein auch noch das Herstellungsverfahren zu ken nen. Aber der Erfinder ist tot. Er nahm es wohl mit ins Jenseits, und De Queer wird es nie herausrücken, vorausgesetzt, das Syndikat hat es überhaupt.“ „Das aber hätte ich gerne genauer gewußt“, äußerte Urban. „Es gibt da einen Burschen, rotgesichtig mit Sommersprossen, der einige Männer aus Ost und West auf dem Gewissen hat Wer soweit geht, der geht auch noch weiter.“ „Wohin? In die Normandie?“ Der Alte hatte die Frage selbst beantwortet. „Sehen Sie sich vor“, riet er seinem Agenten. „Die Küste ist mitunter steil und die Strömung, wenn die Ebbe einsetzt, be sonders stark. Sie zieht eine Leiche mühelos hinaus und läßt sie im Atlantik für immer und ewig verschwinden.“ „Ich kenne mich aus mit Gezeiten“, bemerkte Urban und hängte auf. Der Alte inspirierte ihn heute nicht. Der ständige Druck, den Sebastian ausübte, verlor allmählich seine Wirkung. Der Oberst hatte keine neuen Einfälle mehr, wie man seine Leute motivierte. Trotzdem machte Urban weiter, einfach; um weiterzuma chen.
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Durch Vermittlung von Bonthommes Anwalt in Tourlaville bekam Bob Urban die Besuchserlaubnis für die Leichenhalle in Cherbourg. Es wäre auch mit einem Trinkgeld gegangen. Der zuständige Beamte verlangte nicht einmal den Ausweis. In seinem steifen weißen Mantel ging er vor Urban her in die Kühlräume und deutete auf eine Zehnerreihe von abgedeckten Tischen. Die Laken zeigten deutlich die Konturen der darunter liegenden Leichen. Nur die Füße der Toten schauten heraus. Für gewöhnlich trugen sie an der großen Zehe Zettel, die wie Reisegepäckanhänger aussahen. Hier bevorzugte man eine andere Methode. Mit violettem Fettstift waren Name und Seri ennummer unten auf die Fußsohlen geschrieben. „Der dritte von links ist es“, rief der Leichenwärter. „Und wenn einer keine Füße mehr hat“, fragte Urbau, „wo hin kriegt er dann den Freigabestempel?“ „Platz findet sich immer.“ Der Beamte nahm das Leintuch weg. „Ist er das? Ich meine, hatten Sie persönlich das Vergnü gen, ihn zu kennen?“ „Ja, er ist es.“ Der Leichenwärter hatte das Tuch mit soviel Schwung ent fernt, daß Urban mehr als nur das Gesicht sehen konnte. „Er wurde seziert“, stellte er fest „Ohne Obduktion hätte der Staatsanwalt die Leiche nicht freigegeben.“ „Warum?“ fragte Urban. „Die Todesursache stand doch fest und wurde schon in Algerien kriminalpolizeilich bestätigt.“ „Darüber haben sich schon andere gewundert“, bemerkte der Beamte. Urban legte den Kopf ein wenig schräg. „Welche anderen?“ „Die sich auch für die Leiche interessierten. Was hat dieser Bursche bloß an sich?“ Urban wiederholte seine Frage, diesmal aber garniert mit ei ner Banknote. „Wer hat sich nach ihm erkundigt?“ 121
„Zuletzt ein Ausländer.“ Da Urban akzentfrei Französisch sprach, hielt man ihn allge mein für einen Einheimischen. „Amerikaner?“ „Eher Holländer“, meinte der Beamte. „Sah auch so aus, wie man sich bei uns einen niederländischen Fischersmann vor stellt. Knochig, blondes Haar, rosiges Gesicht mit Somme r sprossen.“ Urban machte noch einen Schein locker, denn schon versieg te die Quelle wieder. „Was wollte er alles wissen?“ Der Beamte kratzte sich am Ohr. „Das Ergebnis der Obduktion. Aber das bekommen wir offi ziell nicht mitgeteilt.“ „Was hörten Sie unter der Hand?“ „Der Mann starb durch einen Kopfschuß. Hatte aber vorher schon ’ne kaputte Leber. Keine Säuferleber, wenn Sie das meinen. Es muß sich um eine Infektion gehandelt haben. Wenn man davon ausgeht, daß er außerdem ’ne Hüftgelenkoperation hatte, war er noch in ziemlich gutem Zustand. Das heißt, wie neu war er nicht, aber wer ist schon wie neu mit diesen Jah ren.“ „Darf man rauchen?“ fragte Urban. Der Gestank peinigte sei nen empfindlichen Geruchssinn. „Nein“, sagte der Aufseher. Urban bohrte weiter. „Und wer hat sich noch für ihn interessiert?“ „Einer von der Sûrete, glaube ich.“ „Auch die Presse?“ „Von der Zeitung schaut immer mal einer herein. Genau kann ich das nicht sagen. Wir machen hier umschichtig Dienst.“ Der Wärter deckte den Toten wieder ab. „Wann wird er beerdigt?“ „In diesen Tagen. Ich glaube, er kriegt eine Feuerbestattung.“ 122
Urban bedankte sich, ging dann schnell und inhalierte draußen den würzigen Duft einer MC. * Um den allerletzten Punkt abzuhaken, fuhr Urban an der Küste entlang nach Quettehou, wo Bergmans Landgut lag. Sobald man durch Quetthou war, führte die Straße an jenem Strandabschnitt entlang, wo am 6. Juni 1944 die Amerikaner gelandet waren. Hoch oben standen noch die Geschützbunker von Cap Hoc. Urban fiel die Geschichte ein, die man über sie erzählte. Die Alliierten hatten mit allen Tricks versucht, die beherr schenden Batterien auszuschalten. Die Deutschen aber hatten einen noch besseren Trick angewendet Sie hatten die Sturm kommandos gegen Attrappen anrennen lassen und die Stellun gen weiter nach hinten verlegt. Genützt hatte es wenig. Inner halb einer Woche waren sie von Bomben und Flammenwerfern ausgeräuchert worden. Aber trickreich war der Krieg und trick reich war das Leben. Man brauchte sich nur Bergmans Tricks anzusehen. Auch ihm hatte es am Ende wenig genutzt. Die Übermacht des Syndikats gegen Bergman war so groß gewesen wie die Übermacht der Alliierten den Deutschen gegenüber. Vorfrühling erfüllte die Küste. Die Wiesen wurden grün. Hier und dort sah man einen blühenden Mandelbaum. Der Wind war lau, die Sicht fast unbegrenzt. An der Kreuzung, die ihm Bergmans Notar genannt hatte, bog Urban ab. Nach einem halben Kilometer auf der geteerten Privatstraße fiel der Blick auf eine lange graue Mauer, hinter der Pappeln standen. Die Straße führte mit Abstand darum herum und von Norden her auf die Toreinfahrt. Die Villa hinter dem kunstvollen Gittertor war nicht gerade ein Versailles, aber doch ein recht romantisches Landschlöß chen. 123
Das Tor war nur angelehnt Urban stieg gar nicht aus. Mit der Citroënstoßstange versetzte er dem rechten Torflügel einen Kick. Der Flügel schwang auf. Ehe er vom Puffer zurückprall te, war Urban durch. Der Gärtner oder der alte Mann vom Dienst, der in solchen Fällen meist aufzutauchen pflegte, war nirgendwo zu sehen. Da Urban seinem Besuch einen offiziellen Charakter geben wollte, parkte er den CX zwischen dem Blumenrondell und der Freitreppe, schlug die Autotür mit Knall zu und klopfte oben gegen die Glasscheiben. Allein schon dadurch öffnete sich die Tür. Mit einem Blick erkannte Urban, daß lange vor ihm andere die Ernte eingefahren hatten. Oder zumindest es versucht hat ten. Im Speisezimmer stand kein Einrichtungsgegenstand so, wie es sich gehörte. Stühle und Sofas waren umgestürzt, der schwe re Ausziehtisch ebenso wie die Anrichte und die Vitrine recht unsachgemäß zerlegt worden. Die Teppiche waren aufgerollt, die Bilder abgehängt. Sogar das Innere des hohen Kachelofens hatte man ausgeräumt. Überall, wohin Urban kam, in der Bibliothek, im Jagdzim mer, in der Halle, in der Küche und oben in den Schlaf-, Badeund Gästezimmern, sah es ebenso aus. Enttäuscht ging Urban wieder nach unten. Die Bibliothek hatte seinen Vorgängern am meisten Mühe bereitet. Zwar gab es nicht sehr viele Bücher, aber tausend waren es gewiß. Sie lagen auf einem Haufen. Man hatte sie einfach aufgeschlagen, durchgeblättert und weggeworfen. Links an der Tapete befand sich ein quadratmetergroßer Brand fleck. Der alte Safe war heiß geöffnet worden. Ob mit oder ohne Ergebnis, wer wußte das. Nicht einmal vor dem Porzellankamin hatte der Durchsucher halt gemacht. Unter weggebrochenen Simsteilen schaute der Backsteinkörper des Kamins heraus. 124
Urban räumte einen brokatbezogenen Sessel frei und setzte sich, um das Chaos auf sich wirken zu lassen. Er konnte sich denken, was man gesucht hatte. Automatisch stieß er eine MC aus der blaugoldenen Packung. Aber noch ehe er das Streichholz anreiben konnte, kam links an seinem Ohr vorbei ein Arm hervor, dessen Hand ein Feuer zeug hielt. Die Hand war blond beflaumt mit Sommersprossen. Die Flamme zuckte. Urban nahm das Angebot an und überlegte fieberhaft, wie er den Killer überspielen könne. Er sah keine Chance. Die Tatsache, daß ihm der Mann mit links Feuer gab, ließ darauf schließen, was er mit der Rechten vorhatte. Die Rechte war bei den meisten Killern die Schuß hand. Kaum hatte Urban es gedacht, fühlte er schon den Lauf einer Waffe im Nacken. „Jeder geht früher oder später in meine Falle“,, sagte der Bur sche mit dem südafrikanischen Akzent. „Auch der Größte.“ „Falle?“ erwiderte Urban. „Es war keine Falle. Es war doch logisch, daß ich aufkreuzen würde. Für mich ist das so wichtig wie für euch.“ „Das wußte ich. Also wartete ich. Und du kamst.“ Noch nahm Urban es locker. „Schön, jetzt bin ich da. Was nun?“ „Genickschuß, was sonst.“ Urban rauchte äußerlich ruhig. „Du übertreibst mit deinen Mitteln, Killer“, sagte er. „Daß du in Malaga aufgeräumt hast, ist noch zu verstehen. Aber es war schlechte Arbeit. Deine weggeworfene Zigarettenpackung half uns, dich zu identifizieren. Inzwischen wissen wir, wer dahin tersteckt, nämlich das De Queer-Syndikat. Wenn du auch mich noch kaltmachst und ein paar CIA-Leute oder andere, die sich an dem Fall noch beteiligen, dann kriegt De Queer echten Är ger. De Queer ist mächtig, aber die vereinigten Geheimdienste sind mächtiger als De Queer.“ 125
„Erzähl keine Märchen“, erwiderte der Killer. „Tote Zeugen sind wie entlaufene Pferde. Sie sind nicht mehr zu verwenden. Ich würde jeden umlegen, der diesen Dunstkreis betritt, und am Ende werde ich diese überschlaue Nutte in Paris auslöschen.“ „Und dann setzt du dich zur Ruhe“, spottete Urban. Er mach te einen neuen Zug aus der Zigarette. „Aber gefunden hast du nichts, Killer.“ „Wer sagt dir das?“ „So, wie es hier aussieht“ „Wer sagt dir, daß ich das war?“ „Du suchst die Aufzeichnungen über das BonthommeVerfahren. Du warst im Schauhaus, und jetzt bist du hier. Ich bin ebenfalls hier, und andere werden mir folgen. Daß ich hier bin, ist übrigens der Sûrete und auch dem französischen SDE CE bekannt.“ „Bis die antreten, bist du tot“ „Dann mußt du dich beeilen, Killer.“ „Werde ich auch.“ „Wegzukommen, meine ich“, ergänzte Urban und schaute auf die Uhr. „Es geht um Minuten.“ Doch der Killer fiel nicht darauf herein. „Du bluffst doch nur. Dafür bist du berühmt.“ „Ich rechne lediglich“, erwiderte Urban. „Du hast nicht ge funden, was du suchtest. Du mußt es aber finden, oder es war alles umsonst. Und das kostet Zeit. Nicht gerade angenehm, mit einer Leiche überrascht zu werden.“ „Du redest Unsinn.“ „Natürlich scharrst du hier wie ein Hund. Schon in Cher bourg hast du deine idiotischen Fragen gestellt. Unter anderem nach den Ergebnissen der Obduktion.“ „Bergman konnte ja eine Kapsel mit der Patentschrift ve r schluckt haben. Wenn du das meinst“ „Nun, in der Leber blieb sie jedenfalls nicht hängen. Stimmt’s?“ „Durch die geht nichts mehr durch“, erklärte der südafrikani 126
sche Killer, „die haben wir ihm systematisch zerstört. Seit Jahren schon versuchten wir ihn zu vergiften. Mal auf die eine, mal auf die andere Art. Wir befürchteten, daß er eines Tages zu einer üblen Pestbeule werden würde, dieser van Bonthomme.“ „Ein zäher Bursche, wirklich!“ „Auf präparierte Austern und auf Hepatitiserreger im Steak reagierte er nur mit ein bißchen Leberentzündung. Aber die Russen haben ihn ja erledigt“ „Zu spät.“ „Nichts ist zu spät.“ „Die Fach- und die Sensationspresse ist voll von der Bonthomme-Story. De Queer will nur nicht einsehen, daß er verloren hat. Seit die Existenz der Steine bekannt ist, läßt sich die Geschichte nicht mehr zurückdrehen.“ „Aber das Verfahren ist unbekannt. Wir haben es auch nicht. Daß Bergman es für sich behielt, war ein Teil des Abkom mens.“ „Dann sucht mal schön weiter.“ „Zuerst du, dann die Arbeit.“ Es hörte sich an, als wolle der Killer Ernst machen. Doch mit einem Mal löste sich die Waffe von Urbans Nacken, als würde der Killer abgelenkt. Urban nützte die Gelegenheit. Er gab Druck auf die Füße. Der Druck teilte sich seinem Rücken mit. Der Sessel kippte nach hinten, der Killer sprang beiseite, und schon hatte ihn Urban bei den Füßen. Er zog sie ihm einfach vom Boden. Der schwere Killer stürzte der Länge nach hin. Die Waffe schlug aufs Parkett auf, doch er erwischte sie mit der Linken. Der Schuß löste sich und fuhr in den Dek kenstuck. Im Nu war Urban über ihm und verpaßte ihm einen brettharten Hieb mit der Handkante. Aber der Südafrikaner war wie ein Tier. Er bäumte sich auf und griff an. In dem Moment als er mit der Waffe auf Urban einschlug, hörten sie beide den Befehl. „Halt! Halt er gehört mir. Halt oder ihr seid beide erledigt!’’ 127
Eine Waffe wurde durchgeladen, dem blechernen Geräusch nach eine Maschinenpistole. Nur MPis gaben so scheppernde Laute von sich. Urban stand auf, nahm die Zigarette vom Ascher, holte einen letzten Zug aus ihr und musterte dann den dritten Mann am Schauplatz. Seine Herkunft war unschwer zu erraten. Der Einheitshaar schnitt, das Hemdmuster, der zu breite Binder verrieten es. „Er gehört mir“, wiederholte der KGB-Agent. „Er muß büßen für Malaga.“ Dabei entsicherte er die Waffe, der Hebel knackte, der Lauf der Waffe richtete sich auf den Killer am Boden. „Geh mir aus dem Weg, Urbanski!“ schrie der Russe. „Auf einen mehr oder we niger kommt es nicht mehr an. Geh weg, wenn dir dein Leben etwas wert ist“ Urban warf die Kippe in den Kamin. Da fielen die ersten Schüsse. Hart hackte die Kalaschnikow los. Urban wußte, daß er nichts tun konnte, also ging er. Draußen in der Halle hörte Urban nach dem Verstummen der Maschinenpistole noch einen letzten Schuß fallen. Er klang anders. Noch einmal machte er kehrt und warf einen Blick in die Bi bliothek. Auch der Russe lag am Boden. Schon nahe dem Tode mußte ihn der Südafrikaner noch er wischt haben. * Bevor Urban wegfuhr, um von irgendeiner Telefonzentrale aus die. Sûrete anzurufen, vollendete er die angefangene Arbeit des Südafrikaners. Ohne Zeitdruck durchsuchte er alle Ecken des weiträumigen Hauses, die ein erfindungsreicher Mensch zur Aufbewahrung von Wertsachen benutzen mochte. Er hatte so wenig Erfolg wie der Mann von De Queer.
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Unter den vielen Papieren in Bergmans Schreibtisch entdeck te er schließlich einen braunen Umschlag. Der Killer hatte den Inhalt herausgenommen, überflogen, aber nicht mehr zurückgesteckt. An seiner Flüchtigkeit mochte es gelegen haben, daß er das Wichtigste übersehen hatte. Hinten am allerletzten Blatt klemmte ein Stück Röntgenfilm. Urban hielt ihn ans Licht. Das Röntgen-Negativ zeigte ein Gelenk mit einem Knochen und im Knochen eine dunkle läng liche Verfärbung, wie bei krebsartig verändertem Knochen mark. Ein Facharzt konnte das gewiß beurteilen. Aber vielleicht brauchte man gar keinen Arzt dazu. Urban nahm den Film, verließ das Haus, das Landgut, die Normandie und wenige Stunden später auch Frankreich. 14. Als sie auf dem Dorffriedhof von St.-Vaast-la-Houque Bonthonunes Urne beisetzten, schien die Sonne. Ein Tag wie gemalt. Blauer Himmel, leichter Wind strich von See her. „Das gibt es nicht“, sagte Oberst Sebastian neben Urban hin ter dem großen Ginsterbusch stehend. „auf Friedhöfen hat es gefälligst zu regnen.“ Sie sahen den erbärmlichen Trauerzug naher kommen. Ein schließlich dem Pfarrer, dem Totengräber und dem Mann, der die Urne trug, waren es ganze fünf Personen. Der alte Guts verwalter und die Haushälterin folgten der Urne als Leidtra gende. „Warum“, fragte Sebastian, „haben Sie mich eigentlich hierhergeschleift?“ Urban schaute auf die Uhr, die er zusätzlich zu seiner Rolex am rechten Handgelenk trug. „Dachte, Sie mögen keine Digitaluhren“, bemerkte der Oberst und bog einen Zweig beiseite, um der Urnenbestattung besser folgen zu können. 129
„Das ist keine Uhr, Meister.“ „Was dann?“ „Eine Art hochempfindlicher Geigerzähler.“ „Und was geigt er Ihnen?“ höhnte der Alte. „Er zeigt Radioaktivität an“, erklärte Urban. „Hier, auf dem Friedhof?“ „An der Urne“, flüsterte Urban. „Ich habe, um einen heimli chen Austausch zu verhindern, den Boden mit einem Anstrich versehen.“ „Und das Ergebnis? Wurde sie ausgetaucht?“ Urban deutete auf das Display des Geigerzählers. Die von roten Leuchtdioden gebildeten Zahlen schwirrten nur so über die Skala. „Es ist die echte Urne.“ „Und wozu dieser technische Firlefanz? Urne ist Urne, Asche ist Asche.“ „Bergmans Asche ist von besonderer Art“ „Davon haben Sie mir nichts erzählt.“ Urban holte das Versäumte nach. „Ich sah es auf dem Röntgenfoto. Bei der Obduktion fand man nichts, denn die Kapsel steckte im künstlichen Hüftge lenkknochen.“ Sebastian staunte nicht schlecht. „Kapsel? Welche?“ „Eine Titankapsel mit der Patentschrift“ Der Oberst reagierte viel zu laut: „Und wer die hat, kann die B-Steine, das Auge des Adlers, nachbauen?“ „Unschwer.“ „Verglühte die Kapsel denn nicht bei der Einäscherung?“ „Titan hielt die Hitze schon aus.“ „Und das Ding ist mit in der Urne?“ „Man kippt die Asche, die durch den Rost fällt, in eine Blechbüchse. Die Kapsel war in der Asche, also ist sie jetzt auch in der Urne.“ 130
Drüben wurde ein Brett abgehoben. Die Urne fiel in das Loch darunter, etwas Erde kam darüber und das Brett wieder darauf. Der Pfarrer sprach noch ein paar Worte. Schluß der Vorstel lung. Die Leidtragenden legten Blumen nieder. Dann gingen sie alle. Sebastian tupfte sich den Schweiß ab. „Die Patentschrift liegt also in der Urne. Ist das sicher?“ „Absolut.“ „Und wer weiß das?“ „Sie und ich.“ „Dann hätten wir ja jederzeit Zugriff.“ „Das wäre Grabschändung.“ Der Alte nickte. „Mag stimmen. Aber notfalls würde ich auch das auf meine Kappe nehmen.“ „Am Besten wir vergessen es“, schlug Urban vor. Die zwei Geheimdienstmänner, der alte und der junge, blick ten sich an. „Vorerst“, schränkte Sebastian ein. „Aber eines muß man Ih nen lassen, Nummer achtzehn. Erstklassige Arbeit! Sagenhafte, ganz sagenhaft gute Arbeit“ Urban ließ sich nichts anmerken, aber für eine halbe Stunde war er mächtig stolz. ENDE
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