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Auf dem Banner der Chinesischen Volksarmee leuchtet neben dem goldenen Stern das Zeichen „Acht Eins“. Das ist der Tag ihrer Geburt. Am 1. August 1927 erhoben sich mehr als 30 000 Mann der regulären Armee gegen Tschiangkaischek, weil dieser sein Volk verriet und Zehntausende Kommunisten hinmetzeln ließ. Der Aufstand führte zur Bildung einer selbständigen Volksarmee. Dieses schlecht ausgerüstete und zahlenmäßig unterlegene Arbeiter- und Bauern-Heer hielt unter der klugen Führung Mao Tse-tungs sieben Jahre allen Angriffen der Tschiangkaischek-Truppen stand. Als aber im Jahre 1937 die Japaner das Land überfielen, verteidigte die Volksarmee zusammen mit den TschiangkaischekTruppen als Achte und neue Vierte Armee die Heimat. Dabei trug die Volksarmee nicht nur die Hauptlast des Krieges, sondern mußte sich selbst gegen einzelne schwere Angriffe der Tschiangkaischek-Truppen zur Wehr setzen. Im Jahre 1945 kapitulierten die Japaner. Nun rückte Tschiangkaischek, unterstützt von den amerikanischen Imperialisten, erneut mit grausamer Gewalt gegen die durch die Volksarmee befreiten Gebiete vor. Die großangelegten bewaffneten Angriffe wurden zurückgeschlagen – nach vier Jahren hatte die Volksarmee das gesamte chinesische Land, außer der Insel Taiwan, befreit. Ihr Sieg wurde durch die Gründung der Chinesischen Volksrepublik gekrönt. „Der Brief mit den Hahnenfedern“ führt uns in die von den Japanern besetzten Gebiete. Der junge Partisan Hai-wa, dessen Abenteuer hier erzählt wird, gehört zu den Lieblingshelden der chinesischen Jugend.
KLEINE JUGEND REIHE
HUA SCHAN
DER BRIEF MIT DEN HAHNENFEDERN
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1953
4. Jahrgang, Heft 9/1953 Russischer Titel: Письмо с петушиными пери Die Erzählung wurde von G. Gatow aus der chinesischen in die russische Sprache übersetzt. Der deutschen Bearbeitung liegt eine Übersetzung aus dem Russischen von Käthe Heinz zugrunde.
Der kleine Hirt In diesem Jahr war Hai-wa vierzehn Jahre alt geworden. Er wohnte in Lungmentsun, einem kleinen Dorf in den Bergen, und hütete die Schafe. Hai-wa tat dies schon viele Jahre. Zuerst hütete er die Tiere gemeinsam mit dem Vater. Aber dann hatte der Vater keine Zeit mehr dazu, denn die Japaner waren in das Land eingedrungen. Hai-was Vater warf sich das Gewehr über die Schulter und kämpfte gegen sie, er wurde Kundschafter in einer Partisanenabteilung. Auch Hai-wa kämpfte gegen die Japaner. Das war doch für einen chinesischen Jungen selbstverständlich, zumal wenn er noch Pioniergruppenleiter war. Jeden Morgen stieg Hai-wa mit seiner Lanze, an deren Spitze ein Büschel roter Hahnenfedern hing, hinauf in die Berge und paßte auf, ob sich unten im Tal die „Teufel“ rührten. Die „Teufel“, das waren die japanischen Eindringlinge. So hießen sie überall im chinesischen Volk, einen anderen Namen gab es für sie gar nicht. Der höchste von den Bergen rings um das Dorf war der Lungmenschan – zu deutsch „Drachentor“. Von dort aus hatte man den besten Überblick. Hai-wa kletterte schon am frühen Morgen mit seiner Herde hinauf. Die Schafe weideten, und Hai-wa beobachtete scharf, was unten im Tal vor sich ging. Sobald er etwas Verdächtiges bemerkte, mußte er es sofort der nächsten Verbindungsstelle durch das Signal „Die Teufel ha-
ben sich in Bewegung gesetzt“ bekanntgeben. Seit zwei Tagen fingen die Teufel, die eine Zeitlang Ruhe gegeben hatten, wieder an, durch die umliegenden Dörfer zu ziehen und zu plündern und zu rauben. Deshalb bezog Hai-wa, sobald er den Gipfel erreicht hatte, sofort seinen Beobachtungsposten. Er steckte die Peitsche in den Gürtel und kauerte sich unter einen verkrüppelten Zwergbaum. Es war ein ganz dürrer Baum, ohne jedes Laub. Ringsum grünte alles, das Getreide reifte auf den Feldern, die Berge waren dicht mit Gras bewachsen, aber dieser Baum stand nackt und kahl da. Nicht ein grüner Sproß wuchs heraus, und man war weder vor der Sonne noch vor dem Regen geschützt. Doch Hai-wa hockte den ganzen Tag lang gerade unter diesem Baum. Er beschirmte die Augen mit der Hand und schaute blinzelnd nach Osten. In dem Tal dort lagen die Japaner. Durch, das Tal floß ein winziges Flüßchen. Es blitzte wie eine kleine silberne Schlange, und den Augen tat es weh, länger darauf zu sehen. Hinter dem Flüßchen war die Eisenbahn. Entlang der Schienen lagen kleine Hügel. Als Hai-wa schärfer hinblickte, stellte er fest, daß diese Hügelchen verschieden groß waren. Das waren die Erdbunker, von denen der Vater erzählt hatte. Die Teufel hatten sie gebaut. Der Vater wußte auch, daß sich zehn Mann darin verstecken konnten, ja, sogar noch mehr. Hai-wa hatte lange so dagehockt. Plötzlich krachten wie Donnerschläge hinterm Westberg nacheinander zwei Geschützsalven. Die Entfernung dämpfte die Schüsse. Dort waren die Japaner und „säuberten“ die Dörfer. Das hieß: im Osten und im Westen – überall plünderten sie wieder. Aber unten im Tal blieb es ganz still. Auch nicht der geringste Laut war zu hören. Viele Stunden saß Hai-wa auf dem Gipfel des Lungmenschan. Langsam neigte sich die Sonne nach Westen. Hai-was Augen wurden müde.
Plötzlich kroch von einem der grauen Hügelchen ein schwarzer Punkt weg. Was war das? Hai-wa rieb sich die Augen. Der schwarze Punkt, nicht größer als eine Ameise, bewegte sich auf den Lungmenschan zu. Ha! Da kamen sie! Die Teufel krochen wieder aus ihren Höhlen! Da lief ja auch einer, und dort… Haiwa sprang rasch hinter den verdorrten Baum, umfaßte den Stamm mit beiden Händen und zog nur einmal kräftig – da neigte er sich zur Erde. Wie war das möglich? Sehr einfach. Der Baum hatte nämlich gar keine Wurzeln. Hai-wa selbst hatte ihn hier oben in die Erde gesteckt. Einen solchen Baum nannte man in den Dörfern „Hsiaohsischu“, das bedeutete Signalbaum. Stand der Signalbaum auf seinem Platz, waren die Dorfbewohner beruhigt; auch der Partisanenposten auf dem Westberg sah, daß von dieser Seite keine Gefahr drohte. Aber der Signalbaum brauchte nur umzufallen, und alle wußten: die Teufel klettern aus dem Tal in die Berge, um zu plündern. Der Brief Zur selben Zeit tauchte am Südabhang des Berges ein Mensch auf. Er klomm den Felsenpfad hinan. Der Mann trug ein Gewehr. Er kletterte immer höher und höher, ohne auch nur einmal vom Weg abzubiegen. Aus den Dörfern benutzte selten einmal jemand diesen Weg. Ist dieser Bewaffnete etwa ein Verräter? dachte Hai-wa. Aber er überlegte nicht lange. Flink knallte er mit der Peitsche. Einmal, noch einmal – die Schafe rannten ein Stück den Abhang hinunter. Sie drängten und stießen einander und verschwanden so tief im Gestrüpp, daß man sie nicht mehr sah. Auch Hai-wa war fort; wie Quecksilber war er zwischen den Steinen entschlüpft. Einen Augenblick lang tauchten seine Beine auf, aber schon waren sie wieder unter einem Strauch verschwunden. Hai-wa mußte beobachten, was dieser Bewaffnete
tat. Als der Mann mit dem Gewehr auf dem Gipfel angelangt war, rief er leise: „Hai-wa! He, Hai-wa!“ Hai-wa beschloß, nicht zu antworten. Da rief der Mann mit dem Gewehr lauter: „Hai-wa! He, Hai-wa!“ Da wußte Hai-wa auf einmal, wer ihn rief. Dieser Mann war kein Verräter. Es war sein Vater. „Ich bin hier!“ antwortete er. Hai-wa kroch unter dem Strauch hervor. Sein Haar steckte voll klebriger Blätter und Dornen. Hai-was Anblick machte den Vater zornig, „Was tust du hier?“ fragte er heftig. „Ein schöner Wachtposten bist du! Die Teufel können sich heraufschleichen, du aber kriechst ohne Sinn und Verstand hier herum!“ „Hab sie selber gesehen“, sagte Hai-wa ruhig. „Schau her!“ Und er zeigte mit der Hand auf den Signalbaum. „Wie kann er umfallen, wenn ich schlecht Wache stehe?“ „Weshalb hast du dich dann versteckt?“ Jetzt war die Reihe an Hai-wa, böse zu sein. „Weshalb ich mich versteckt habe?“ Er zog die Mundwinkel herab. „Wer konnte denn wissen, daß du es bist? Wenn es nun ein bewaffneter Feind gewesen wäre? Was dann? Sollte ich schreien?“ Aber der Vater hatte keine Zeit, zu streiten. Er hatte eine sehr eilige Sache zu erledigen; er kam gerade aus dem Tal. Vorsichtig zog er einen Brief aus der Brusttasche und sprach zu Hai-wa: „Schon gut, schwatze nicht unnütz! Lauf, was du kannst, nach Sanwangtsun. Gib dies dem Kompanieführer Dshang. Dem Genossen Dshang vom Stab…“ Aus der einen Ecke des gefalteten Briefes ragten drei Hahnenfedern heraus. Was bedeutete das? Hai-wa wußte es: solch ein Brief war sehr, sehr wichtig. Eine Feder – das war noch nichts Besonderes, das hieß soviel wie: Hauptsache, verlier ihn nicht, wie er hinkommt – ist deine Sache. Zwei Federn mahnten: der Brief ist sehr eilig und muß schnell zugestellt werden. Aber drei Federn – da darf dich nichts aufhalten, weder Nacht noch Feuer.
Ein solcher Brief muß auf dem schnellsten Wege persönlich abgegeben werden, was immer einem auch zustoßen mochte. Die Hahnenfeder war ein verabredetes Zeichen. Alle Bauern in der Provinz Schanhsi kannten es. Hieß doch der Hahn im Chinesischen dji, aber dji hieß auch zugleich „Beeile dich!“ Während des Krieges mit den Japanern war diese Art der Mitteilung weit verbreitet. Kaum hatte Hai-wa den Brief mit den drei Hahnenfedern gesehen, als er seinen ganzen Ärger vergaß. „Gut, Vater“, sagte er, „ich gehe.“ Dann steckte er einen Finger in den Mund und tat einen kurzen, durchdringenden Pfiff: „Hui!“ und gleich danach einen langen: „Huuuiii!“ Als die Schafe das Pfeifen hörten, kamen sie mit Getrappel aus dem Gestrüpp hervorgesprungen und liefen zu ihm. Hai-wa zog die Peitsche aus dem Gürtel und übergab sie dem Vater. „Da!“ sagte er. „Die Schafe wirst du nach Hause treiben müssen.“ Aber der Vater nahm diesmal die Peitsche nicht „Geh rasch“, ermahnte er den Sohn. „Sei vorsichtig unterwegs. Wenn du auf die Teufel stößt, sagst du ihnen, daß du Hirte bist. Du sagst, du dienst bei einem Herrn unten im Tal.“ Als Hirt einen Brief zustellen, das war etwas Neues für Haiwa. Er hatte schon viele Male Briefe weggebracht, aber noch niemals hatte er dabei die Schafe vor sich hergetrieben. Im Ge-
genteil, er hatte sich nur mit seiner roten Lanze auf den Weg gemacht. Das war doch schließlich eine kriegerische Aufgabe! „Wann werde ich dann am Ziel sein?“ fragte er den Vater. „Mit den Schafen dauert es ja so lange!“ „Morgen früh muß der Brief dort sein! Verstehst du? Morgen früh! Verlier ihn nicht. Paß auf, die Teufel sind nicht weit. Beeil dich!“ Der Vater hatte recht. Während er sich mit dem Sohn unterhielt, kamen die Japaner immer näher auf den Berg zu. Rasch zog der Vater noch eine süße Kartoffel aus der Brusttasche und schob sie in Hai-was Tasche: „Iß sie unterwegs“, sagte er. „Und sei vorsichtig!“ Er nahm Hai-wa die rote Lanze ab und lief zum Waldrand. Noch einen Augenblick – und der Vater war hinter den Bäumen verschwunden. Der Fettschwanz des alten Merinoschafs Hai-wa dachte nicht mehr an die süße Kartoffel. Er überlegte nur, wie er die Schafe am schnellsten den steilen Felsenpfad hinabtreiben könnte. Vom Berg Lungmenschan bis zum Dorf Sanwangtsun waren es, wenn man auf der Straße blieb, 30 Li \ nicht weniger, aber auf dem Felsenpfad würden es kaum 20 sein. Hai-wa hatte schon mehrmals auf diesem Wege Briefe zum Stab gebracht und sich noch niemals, selbst nachts nicht, verirrt. Wenn er den steilen Pfad hinuntergeklettert war, hatte er ja den Westberg schon ganz nahe vor sich. Hoch oben auf seinem Gipfel stand ebenfalls ein Signalbaum. Deutlich sah Hai-wa, wie er sich von den Wolken abhob, die die untergehende Sonne zartrosa gefärbt hatte. Er stand dort, wie er stehen mußte. Er bewegte sich nicht. Als Hai-wa den Signalbaum sah, beruhigte er sich. Er knallte keck mit der Peitsche und jagte die Schafe vor sich her. Aber auf einmal fiel der Baum um. Nun war das Unglück da. Sie
mußten dort auch Teufel bemerkt haben! Da hatte er diesen mühsamen Weg fast bewältigt und wollte bald den nächsten Berg hinaufklettern – und nun diese Bescherung. Er lief mit seinem Brief dem Feind gerade in die Arme! Wo auf der Welt fand man einen solchen Dummkopf? Hai-wa jagte die Schafe hastig in eine Schlucht. Wenn er doch nur schon in dem kleinen Tal wäre! Erst als er die letzten zwei Krümmungen der Schlucht hinter sich hatte, sah Hai-wa das kleine Tal liegen. Aber was war das? Es wimmelte dort von Menschen. Einige liefen in Reih und Glied. Auch Pferde waren dabei. War das die Achte Armee? So sah es nicht aus. Ach, Hai-wa, reib dir die Augen! Siehst du denn nicht, daß die Pferde keine Lasten tragen? Es war nicht daran zu zweifeln, dort kamen die Teufel! Ganz gewiß gingen sie wieder auf Proviantraub aus. Was sollte er tun? Auf dem Lungmenschan waren die Teufel, auf dem Westberg waren die Teufel, und hierher, ins Tal, kamen sie auch schon. Weglaufen! dachte Hai-wa erst. Aber wohin hätte er laufen sollen? Die Schlucht war eng, rechts und links ragten steile Felsen empor. Mit den Schafen konnte man dort nicht hinaufklettern. Weitergehen? Aber da war doch der Brief mit den Hahnenfedern! Ein Brief, der unbedingt dem Stab der Partisanenabteilung zugestellt werden mußte. Sollte er es aufgeben? Nein, das ging auf keinen Fall! Der Brief war wichtig, sehr, sfehr wichtig. Wenn man ihn nicht bestellte, hielt man eine große Sache auf. Er mußte den Brief verstecken! Und ohne lange nachzudenken, kauerte sich Hai-wa hin und grub den Brief unter einem Stein am Weg ein. Da war er gut versteckt! Es war nichts mehr zu sehen. Hai-wa stand auf, schaute umher und holte plötzlich den Brief wieder hervor. Nein, das geht nicht, entschied er. Ringsum lagen soviel Steine – wenn er nachts zurückkam, wie sollte er dann den Brief wiederfinden?
Die Japaner näherten sich immer mehr dem Ausgang des Tales. Hai-wa hatte Eile, aber die Schafe nicht. Sie trotteten langsam dahin, trappelten mit den Hufen und schmiegten sich eng aneinander. Ihre dicken Fettschwänze hingen schwer herunter und verdeckten mehr als die Hälfte der Hinterbeine. Hai-wa schaute auf die vor Fett strotzenden Schwänze, und plötzlich schlug sein Herz schneller. Wieder überlegte er nicht lange. Zwei Sprünge, und er war mitten im Gewimmel der Herde. Da hatte er das alte Merinoschaf, das die Herde anführte, schon gefaßt. Hai-wa packte es fest am Rumpf und hob den Fettschwanz hoch. Unter dem Schwanz war das Merinoschaf sauber. Hai-wa griff in lange, weiche Wolle. Er streichelte dem Merinoschaf zärtlich den Rücken, dann drehte er, ohne daß es das Tier merkte, einige Wollfäden unter dem Fettschwanz zu einem strammen Faden zusammen und band daran den Brief mit den Hahnenfedern. Hai-wa atmete erleichtert auf. Dagegen wurde das Merinoschaf unruhig, der Brief unter seinem Schwanz schien es zu stören. Als Hai-wa es losließ, begann es heftig mit dem Schwanz zu wackeln und stob davon. Dabei warf es die Beine so komisch zur Seite, daß Hai-wa lachen mußte. Je schneller es lief, desto fester drückte sich der Schwanz gegen die Beine und verbarg dadurch völlig den Brief. Jetzt fürchtete Hai-wa nichts mehr. Er knallte absichtlich laut mit der Peitsche, um die Herde vorwärts zu treiben, und ging geradewegs auf die Japaner zu. Die vielen Schafe hätten sie beinahe überrannt. „Du stehen!“ riefen die Japaner, die einen solchen Angriff nicht erwartet hatten. Einer gab mit bellender Stimme ein Kommando, und mit einem Male richteten sich mehrere Gewehrläufe auf den Kopf des kleinen Hirten. Wenn ich stehenbleiben soll – gut, dann bleibe ich eben stehen, dachte Hai-wa und hielt gehorsam an. Auch die Schafe standen still. Der Kopf des einen stützte sich auf den Schwanz des anderen,
ein drittes rieb sich mit den Hörnern am Bauch des vierten. Sie umdrängten das alte Merinoschaf von allen Seiten. Die süße Kartoffel Ein Schwarzgekleideter lief auf Hai-wa zu, packte ihn im Genick wie einen jungen Hund und zerrte ihn zu einem gelbgrün Uniformierten. Dem in Gelbgrün hing ein krummer japanischer Säbel an der Seite. Er hatte eine Nase wie eine Knoblauchknolle, und unter dieser Nase sträubte sich ein kurzer Schnurrbart. Der Gelbgrüne glotzte Hai-wa an und brüllte: „Du Achte Armee, Kundschafter!“ Während er brüllte, verzogen sich seine dicken, dunklen Lippen und entblößten zwei große Goldzähne. Das sah schrecklich aus! Aber Hai-wa fürchtete sich kein bißchen. Er legte den Kopf zur Seite, verzog den Mund und stellte sich dumm. Dabei betrachtete er den Japaner vom Kopf bis zu den Füßen, als wollte er fragen: Was hast du gesagt? Ich habe nichts verstanden. Darauf hob der Schwarze das Gewehr, stieß den Jungen mit dem Kolben in den Rücken und ließ noch einen Faustschlag folgen. „Du Hundesohn, du Hammelschädel! Was fürchtest du dich, den Schnabel auf zutun?“ schrie er mit schiefem Munde. „Der große Herr hat dich gefragt: Bist du Kundschafter der Achten Armee? Partisan?“ Das ist also so ein Knecht der japanischen Offiziere! Ein richtiger Knecht! Daß er sich nicht schämte! Von Wegen „großer Herr“! Für uns ist er kein „großer Herr“, dachte der kleine Hai-wa. Er wollte gerade den Dolmetscher – Polizisten gewohnheitsmäßig „schwarzer Hund“ schimpfen, als er sich plötzlich an den Brief mit den Hahnenfedern erinnerte. Da unterließ er es lieber. „Nein“, sagte er mürrisch, „ich hüte Schafe.“ Als der Kurzbärtige diese Antwort hörte, zog er den Säbel mit der glänzenden Klinge aus der Scheide und setzte ihn dem Knaben mit
hinterhältigem Lächeln an die Kehle. „Nicht Wahrheit sagen – du sterben, sterben!“ rief der Japaner. Nun fing auch der „schwarze Hund“ noch an, auf Hai-wa einzuschreien, indem er den Kurzbärtigen nachahmte. Nachdem er Hai-wa zweimal mit dem Fuß in den Bauch gestoßen hatte, verzog er wieder den Mund und fauchte: „Wenn du lügst, erschlage ich dich wie einen Hund!“ „Ich sage doch, daß ich Schafe hüte“, beharrte Hai-wa auf seiner Behauptung. „Ich bin aus dem Dorf Hinterdshoudshuang. Weshalb schlägst du mich denn?“ Hai-wa fing plötzlich an zu weinen. Er hatte keine Ahnung, wie dieses Hinterdshoudshuang aussah, denn er war noch nie in seinem Leben dort gewesen. Er erinnerte sich nur, daß der Vater erzählt hatte, Hinterdshoudshuang sei nicht einfach ein Dorf wie andere, sondern ein ganz besonderes. Dort wäre die Behörde zur Aufrechterhaltung der japanischen Ordnung. Und dann hatte der Vater noch gesagt, daß dieses Dorf 5 Li von den japanischen Bunkern entfernt liege, mit denen sie Vorderdshoudshuang umgeben hatten. In diesem Hinterdshoudshuang gab es auch einige Jungen, die Schafe hüteten. Schließlich hatte es der Kurzbärtige satt, mit anzuhören, wie Hai-wa weinte. „Durchsuchen!“ befahl er kurz, und der schiefmäulige Polizist betastete sorgfältig jeden Flicken, faßte in jede Tasche und jede Falte. Sogar die zerrissenen Schuhe nahm er Hai-wa ab und untersuchte sie genau. Aber er fand nichts. Das einzige, was ihm in die Hände fiel, war die süße Kartoffel, die Hai-wa von seinem Vater bekommen hatte. Diese Kartoffel stammte aus dem Tal. Sie war rotbäckig und appetitlich gebacken. Der Polizist wollte sie sich ohne weiteres in den schiefen Mund stecken. „Was du essen?“ Der Kurzbärtige nahm ihm einfach die Kartoffel weg, beroch sie argwöhnisch und biß selbst hinein.
„Groß gut! Groß gut! Auf die Bergen, ja?“ fragte er Hai-wa und zeigte auf die Kartoffel. Der Polizist war ärgerlich. „In den Bergen gibt’s die nicht!“ brummelte er mit seinem schiefen Mund. „Die wachsen dort nicht.“ „Aber mein Herr hat solche!“ fiel ihm Hai-wa ins Wort und wandte sich an den Kurzbärtigen. „In unserem Hinterdshoudshuang wachsen viele.“ Hai-wa sagte das dem Japaner so überzeugend, als ob er tatsächlich ein Schafhirte aus Dshoudshuang wäre. Als er die Kartoffel aufgegessen hatte, begann der Kurzbärtige wieder mit dem Verhör. Aber jetzt glotzte er nicht mehr so schrecklich, sondern zeigte nur noch die goldenen Zähne. „Du arbeite was?“ Diesmal verstand Hai-wa schon, wonach ihn der Japaner fragte. Er paßte sich seiner Ausdrucksweise an und antwortete: „Ehrliches Leben arbeite. Hammel hüten arbeite.“ „Dein Paß ehrliches Mensch?“ „Ich bin doch erst vierzehn Jahre alt“, rief Hai-wa verwundert aus und vergaß, den Japaner nachzuahmen. Woher sollte er einen Paß haben? „Wenn du nicht glaubst, geh nach Hinterdshoudshuang und frage!“ Der Kurzbärtige hatte aber keine Zeit, bis nach Hinterdshoudshuang zu gehen und zu fragen, ob Haiwa die Wahrheit sagte. Er mußte schnell weiterziehen, um zu rauben. Er sagte daher nur: „Deine Kartoffel bring viele, viele, mach Geschenk großer Herr! Du verstehen?“ „Verstehe, verstehe“, antwortete Hai-wa. „Wenn Sie zurückkommen, bringe ich Ihnen zwei Körbe voll.“ Und um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, zeigte er, wie er das Joch mit den Körben voll süßer Kartoffeln auf den Schultern tragen würde. Der Kurzbärtige lachte zufrieden, patschte Haiwa ein paarmal auf den Kopf und sagte laut: „Ehrliches Mensch! Ehrliches Mensch bei Kaiserliche Armee! Du geh! Weg sein frei.“ Hai-wa seufzte erleichtert auf, verneigte sich vor dem Kurzbärtigen und eilte zu seinen Scha-
fen. Hai-was Schafe Hai-wa ging rasch und trieb die Schafe zur Eile. „Hü, hü!“ rief er und ließ ihnen keine Sekunde Zeit zum Ausruhen. Die Peitsche pfiff. Am liebsten wäre er losgerannt, aber er wagte es nicht. Er sah sich nicht mehr um. „Halt!“ holte ihn plötzlich der heisere Schrei des Polizisten ein. „Halt!“ Hai-wa wandte den Kopf. Der Schiefmäulige und hinter ihm noch etwa zehn Polizisten holten ihn ein und liefen vorbei, um der Herde den Weg abzuschneiden. Hai-wa bekam einen Schreck. „Was macht ihr?“ fragte er die Polizisten bestürzt. „Was wir machen?“ Der Schiefmäulige blieb stehen und lachte. „Die Kaiserliche Armee hat noch nicht zu Abend gegessen. Deine Schafe reichen gerade ein paarmal zum Abendessen!“ Er riß Hai-wa die Peitsche aus der Hand, hieb auf die Schafe ein und trieb sie in die Schlucht zurück. „Das sind die Schafe meines Herrn!“ schrie Hai-wa und packte den Polizisten am Arm. „Ohne Schafe darf ich nicht zurückkommen!“ Die Polizisten achteten nicht darauf, was Hai-wa schrie. Was ging es sie an, ob dieser Hirtenknabe bestraft wurde oder nicht? Sie freuten sich über den Fang und lachten aus vollem Halse. Die „schwarzen Hunde“ jagten hinter den Schafen her und peitschten sie unbarmherzig mit den Riemen. „Ehrwürdiger Hauptmann! Erbarme dich!“ weinte Hai-wa. Wenn er nur die Peitsche wiederbekäme! Aber vorläufig glückte es ihm nur, sich am Arm des schiefmäuligen Polizisten festzuklammern. „Fort mit dir, du stinkendes Ei!“ schrie der Polizist und schüttelte Hai-wa ab. Er geriet in Wut und drohte dem Knaben mit dem Gewehr: „Laß mich in Ruhe, sonst gibt’s einen Knall – und du bist weg.“ Der Polizist begann wieder mit
der Peitsche auf die Schafe einzuschlagen. So eine Gemeinheit! dachte Hai-wa. Die Herde gehört ihm nicht, aber er jagt sie, als wäre sie sein Eigentum! Er warf sich auf die Erde und heulte. „Meine Schafe!“ schluchzte er laut. Es war nicht so leicht, die Schafe zu verlieren. Das Herz konnte einem wehtun! Und wenn einer gar noch wüßte, daß unter dem Schwanz des Merinoschafs ein Brief mit Hahnenfedern steckte… O weh, der Brief! Hai-wa fuhr der Schreck in die Glieder. Er fand in die Wirklichkeit zurück. Erst jetzt fing er an zu begreifen, in welche schwierige Lage er geraten war. Hai-wa, was hast du gemacht! Wie konntest du diesen wichtigen Brief nur aus der Hand lassen! Ein wichtiger Brief? Nein, nicht bloß ein wichtiger, sondern ein sehr, sehr wichtiger Brief! Auf den Brief warteten sie im Stab! Und du hast ihn nicht etwa irgendwo auf dem Weg verloren, nein, du hast ihn den Teufeln selbst in die Hände gespielt! Wo auf der Welt gab es noch so einen Unglücksmenschen wie Hai-wa! Doch plötzlich holte Hai-wa auf zu weinen, er hatte einen Entschluß gefaßt. Er legte sich auf den Bauch und kroch auf allen vieren den Teufeln nach. Hinter den großen Steinen am Weg versteckte er sich und hielt sich dicht hinter den Polizisten. Wenn doch der Brief herunterfallen würde, dachte Hai-wa immer. Dann würde er ihn heimlich aufheben, rasch in die Tasche stecken, unbemerkt zur Seite kriechen und schnurstracks nach Sanwangtsun laufen! Aber der Brief mit den Hahnenfedern lag nicht auf dem Weg. Schließlich konnte er ja nicht von selbst auf die Erde fallen, denn Hai-wa hatte ihn erst mit zwei Knoten festgebunden und dann noch mit einem dritten. Er hing ganz fest unter dem Fettschwanz. Hai-wa kroch vergeblich hinter den Polizisten her. Ganz vergeblich! Aber Hai-wa gab es nicht auf. Er mußte den Brief wieder in die Hände bekommen!
In dem Bergdörfchen Lange konnte Hai-wa nicht unentdeckt bleiben. Der Schiefmäulige sah ihn, als er sich umwandte, und fing gleich an zu schreien: „Hast du dich noch nicht weggeschert, du Wolfsfraß? Mach, daß du fortkommst! Wenn du dich nicht gleich davonmachst, werden wir dich erschlagen und auch aufessen!“ „Schon gut, laß ihn doch!“ sagte lachend ein anderer Polizist. „Armer Kerl! Wir werden den großen Herrn bitten, er soll ihm ein Almosen geben. Vielleicht wirft er ihm dann einen Knochen zum Abnagen hin! Ha-ha-ha!“ „Ha-ha-ha!“ lachten die übrigen Polizisten im Chor. Auch die Japaner fingen an zu schnattern: „Ha-ha-ha!“ Alle machten sich über Hai-wa lustig. Hai-wa stieg vor Zorn das Blut zu Kopf. Er geriet so in Wut, daß er an Tod oder Leben überhaupt nicht mehr dachte. Ganz unerwartet steckte er einen Finger in den Mund. „Hui!“ ertönte ein scharfer, kurzer Pfiff, dann ein langgedehnter: „H-u-u-i-i-i!“ Kaum hatten die Schafe das bekannte Pfeifen gehört, als sie umdrehten und hinter Hai-wa herliefen, ohne auf das Schreien der Polizisten zu hören. Versuchten die Polizisten von der linken Seite, die Schafe den Weg zurückzutreiben, so warfen sie sich nach rechts. Schlugen sie von rechts auf sie ein, rannten die Tiere wie besessen nach links. Und als die Polizisten von hinten in die Herde einfielen, da liefen die Schafe wie von Sinnen nach beiden Seiten des Weges. Dabei drehten sie ihre Köpfe immer zu Hai-wa, der ihnen vorauslief. Hai-wa wandte sich bald nach dieser, bald nach jener Seite. Dabei pfiff er wiederholt und stachelte so die Schafe auf. Sie strebten dem Ausgang der Schlucht zu. Das alte Merinoschaf folgte ihm dicht auf den Fersen, und dahinter drängten die übrigen Tiere. Aber hinter der Herde, über die ganze Schlucht verstreut, rannten die Polizisten. Hai-wa dachte nur das eine:
wenn bloß der Leithammel nicht zurückbleibt! Mögen die schwarzen Hunde alle anderen nehmen, dann lassen sie mich vielleicht in Ruhe! Aber Hai-wa hatte sich verrechnet. Unerwartet gaben die Polizisten die Verfolgung der Schafe auf und machten nur Jagd auf den Hirtenjungen. Natürlich konnte ihnen Hai-wa nicht davonlaufen, sie hatten ja viel längere Beine als er. Bald hatten sie ihn eingeholt. Der Schiefmäulige packte ihn und verabreichte ihm ein paar gehörige Ohrfeigen. „So, und nun los!“ zischte er, „hol deine Schafe her! Aber schnell!“ Die anderen Polizisten waren damit durchaus einverstanden. Sie hatten keine Lust mehr, hinter den Schafen herzulaufen und zu schwitzen. Von neuem klopfte Hai-was Herz. Nur hätte er selbst nicht recht sagen können, ob vor Freude oder vor Angst. Diesmal wird es vielleicht gelingen, dachte er im stillen, ich darf bei der Herde bleiben. Zu dem Polizisten aber sagte er: „Nein! Ich gehe nicht!“ Der Schiefmäulige bedachte ihn für seine Antwort noch einmal mit einer Maulschelle. Da gab sich Hai-wa den Anschein der Unterwürfigkeit und erklärte sich bereit, dem Befehl zu gehorchen. Er pfiff seine Schafe herbei und trottete mit ihnen hinter der japanischen Abteilung her. Der Kurzbärtige, dem der Säbel an der Seite baumelte, rief Hai-wa zu sich heran. „Du“, sagte er zu ihm und zeigte wieder seine Goldzähne. „Du führen großer Herr Weg, versteh?“ „Versteh“, antwortete Hai-wa höflich, obwohl er seine Gedanken ganz woanders hatte. Wir werden auf den Gipfel steigen, überlegte er. Inzwischen ist es dunkel, und da will ich mir den Brief schon wiederholen. Ich muß nur aufpassen, daß mich niemand beobachtet. Am Fuß des Berges beginnt der Wald. Dort werden die Teufel nach Beute suchen! Hai-wa war so mit der Ausmalung seines „Schlachtplans“ be-
schäftigt, daß er gar nicht merkte, wie die Abteilung ein kleines Bergdörfchen erreichte. Die Japaner hielten an. Auch Hai-wa machte mit seinen Schafen halt. Das Dörfchen war sehr klein, es hatte höchstens sechs bis sieben Höfe. Alle Tore waren verschlossen. Doch das störte die Japaner wenig. Sie warfen sich dagegen, schlugen die Riegel entzwei, als gehörte ihnen alles, stürzten sich auf die Höfe und durchstöberten jeden Winkel. Im Nu war alles von unten nach oben gekehrt. Aber die Höfe waren leer. Nirgends sah man einen von den Einwohnern. Kein Herd hatte einen Kessel, keinen Kan bedeckte eine Bastmatte, in keiner Ecke stand einer der hohen Reistöpfe. Sowohl die Essenvorräte als auch der Hausrat waren beizeiten versteckt worden, die Dorfbewohner hatten sich in die Berge zurückgezogen. Nur auf der Tenne lag ein großer Haufen Stroh, und hier und da war Reisig verstreut. Da liefen die Japaner hin und steckten das Stroh in Brand. Aber das war ihnen noch zuwenig. Aus den Angeln gerissene Türen und Fensterrahmen flogen hinterher. Der ganze Berg wurde von dem großen Holzfeuer erhellt. In den Bergen im Westen flammte ebenfalls ein riesiges Feuer auf, und auch im Süden stiegen die Flammen zum Himmel. Als die Japaner sahen, daß überall die Feuer loderten, fingen sie an zu springen, die Arme zu schwingen, aus Leibeskräften zu lärmen und etwas Unverständliches zu schreien, das sich wie „Uu-u-u-a-a-a! Urru-ur-ru!“ anhörte. Und das erstaunlichste war – von überall her, wo die großen Feuer brannten, schallte dasselbe „U-u-u-a-a-a“ herüber. Es war, als ob die Westberge antworteten und die südlichen mit einstimmten. Dabei war daran eigentlich gar nichts Verwunderliches. So traten die Japaner in Verbindung miteinander, das waren ihre Signale. Vor Freude, daß sie von den Ihren Antwort bekamen,
schrien sie noch lauter, als wollten sie sich gleichsam mit denen, die dort drüben die Dörfer angezündet hatten, unterhalten: „He, seid ihr angekommen? Wir sind auch angelangt. Legt euch ruhig schlafen, morgen werden wir auf Beute ausziehen!“ Sie machten so viel Lärm, daß sie sogar Hai-wa vergaßen. Sie beachteten ihn gar nicht mehr. Jetzt ist es höchste Zeit, zu handeln, dachte Hai-wa. Ohne länger zu zögern, lief er zu dem alten Merinoschaf und umarmte es vorsichtig. Das alte Merinoschaf Kaum war es Hai-wa gelungen, das Tier beim Kopf zu fassen, als er den Kurzbärtigen auf japanisch „Hund!“ schimpfen hörte. Hai-wa sprang auf. Er drehte sich blitzschnell um, merkte aber, daß ihn der Kurzbärtige gar nicht gemeint hatte. Er stieß vielmehr seine Soldaten mit den Füßen und sagte im Befehlston: „Misso-misso!“ Gewiß verlangte der Kurzbärtige zu essen, denn kaum hatten die Japaner und die Polizisten dieses „Misso-misso“ vernommen, als sie sich auch schon auf die Schafe stürzten. Hai-wa ließ rasch das alte Merinoschaf los und sah die Japaner mißtrauisch an. Was hatten sie vor? Die Japaner würdigten Hai-wa keines Blickes. Ein Soldat ergriff ein Schaf am Bein, ein anderer zog ihm mit seinem Riemen eine Schlinge um den Hals, ein dritter holte mit dem breiten Seitengewehr aus, und schon war der Kopf des Tieres in zwei Hälften gespalten; das Blut strömte zur Erde. In diesem Augenblick kam der Schiefmäulige herbeigelaufen. Seine Blicke wanderten über die Herde, bis er das alte Merinoschaf erblickte und es bei den Hörnern packte. Hai-wa fing an zu zittern. Jetzt ist alles verloren! Meinen Brief mit den Hahnenfedern werden die Teufel jetzt ganz bestimmt finden! Aber natürlich sagte er das nicht laut. Seinen
Lippen entfuhr nur ein langgedehntes, erschrockenes „Ooh!“ Dem Schiefmäuligen wurde heiß, und er geriet in Schweiß. Er zog das Merinoschaf kräftig an den Hörnern und drehte ihm fast den Kopf um, aber es widersetzte sich hartnäckig. Es hielt den Kopf tief gesenkt, stemmte sich mit den Beinen fest auf die Erde und stand, als wäre es angenagelt. Der Schiefmäulige spannte alle seine Kräfte an, um das Merinoschaf von dem verwünschten Platz wegzuziehen, aber der Hammel rührte sich nicht. Dieser Zweikampf rief bei den Zuschauern Spott und Gelächter hervor. Das Gesicht des Schiefmäuligen wurde rot. „Was lacht ihr denn?“ rechtfertigte er sich. „Dieser Hammel hat gut seine 300 Pfund Fleisch. Das könnt ihr glauben! An ihm ist mehr dran als an den dreien zusammen, die ihr abgestochen habt. Es wäre gescheiter, ihr helft mir, als daß ihr herumsteht und lacht! Ist das Biest stark! Ich werde nicht allein mit ihm fertig.“ Aber keiner kam ihm zu Hilfe. Im Gegenteil, sie machten sich weiter über ihn lustig. „Wir bedanken uns für so einen alten zähen Hammel!“ Sie lachten. „Laß ihn doch übrig zur Zucht!“ Hai-wa hatte sich inzwischen etwas beruhigt und wagte jetzt auch etwas zu sagen: „Wer wird so einen alten Hammel im Sommer essen! Der stinkt ja! So ein Hammel kann doch gar nicht schmecken!“ Der Schiefmäulige glotzte Hai-wa an und trat dann aus Bosheit dem alten Merinoschaf in die Seite. „Behalt ihn!“ schrie er den Jungen wütend an. Er ließ das Merinoschaf los und schnappte sich ein Lämmchen. Diesmal regte sich Hai-wa nicht mehr auf. Er seufzte nur im stillen. Mochte der Polizist ruhig seinen Zorn an ihm auslassen, Hai-wa schwieg. Er konnte die Schafe ja doch nicht mehr retten. Wenn er nur endlich den Brief mit den Hahnenfedern hätte! Dann konnte er sich in der Nacht auf und davon machen. Inzwischen ging die Arbeit auf der Tenne weiter. Ein Soldat zog einem Schaf mit dem Messer
das Fell ab, ein anderer weidete es mit dem Säbel aus. Die Köpfe der Tiere rollten auf die Erde, Wohin man auch blickte, überall lagen Eingeweide umher. Hai-wa blieben jetzt nur noch etwa zwei Dutzend Schafe, und die waren alt. Sie drängten sich um Hai-wa und zitterten vor Schrecken. Hai-wa streichelte das alte Merinoschaf und hob ein wenig den Fettschwanz an. Er atmete auf. Der Brief mit den Hahnenfedern hing noch dort. Aber Hai-wa hatte kein Glück. Kaum schickte er sich an, den Brief loszubinden, als abermals der aufdringliche Polizist erschien. „Wo ist der Brunnen?“ herrschte er den Jungen an. Hai-wa breitete die Arme aus und machte ein erstauntes Gesicht. Dann zupfte er wie in Gedanken Wolle vom Rücken des Schafes und antwortete: „Wo soll ein Brunnen sein? Wenn es hier Wasser gäbe, wären die Leute doch im Dorf geblieben.“ In Wirklichkeit wußte Hai-wa, daß gleich hinter dem Dorf ein Brunnen war. Der Polizist schickte ihn nach einem Kessel, aber Hai-wa fand natürlich auch keinen Kessel. Ich bin neugierig, dachte er, wie sie Essen kochen wollen, wenn es kein Wasser und keinen Kessel gibt. Aber wer wüßte nicht, wie gierig die Teufel sind! Sie packten das blutige Hammelfleisch und warfen es einfach ins Feuer. Das Fleisch briet, zischte und verbreitete einen scharfen Brandgeruch. Die Soldaten verzogen das Gesicht. Hai-wa wurde traurig. Ach, meine Schafe! Wie habe ich euch aufgezogen und gehütet! Was für Prachtkerle seid ihr geworden! Ich konnte es kaum erwarten, daß auch die Lämmer groß wurden. Wer konnte ahnen, daß euch heute abend die Teufel erschlagen und ich das alles mit eigenen Augen sehen muß! Diese Teufel sind richtige Wölfe! Reißen die Schafe in Stücke und verschlingen sie. Der Schiefmäulige schmatzte laut mit den blutigen Lippen, richtete seine Blicke auf Hai-wa und sagte: „He, du Lump, komm her!
Kannst den Knochen haben, da!“ „Ich esse nichts!“ sagte Hai-wa kurz und kehrte sich ab. Er wollte mit seinem alten Freund, dem Merinoschaf, jetzt allein bleiben. „Du ißt nichts? Wie du willst! Aber mich führst du nicht hinters Licht. Denke ja nicht, daß du jetzt entwischen kannst, du Grünschnabel!“ Was sollte Hai-wa machen? Er drehte sich um und ging zur Tenne. Die Japaner, die dort lagerten, hatten schon alles aufgegessen. Die Teufel schlafen Die Teufel sorgten schon, daß sie nicht verhungerten! Als sie sich bis zum Platzen vollgegessen hatten, nahmen sie das übriggebliebene Fleisch und banden es sich an den Lederriemen. Satt und zufrieden dehnten sie sich und strichen sich die Bäuche. Schließlich ging einer nach dem anderen in die Fansen1 schlafen. Nur der Schiefmäulige blieb noch sitzen. „So, nun treib deine Schafe in die Hürde!“ befahl er Hai-wa und wischte sich die fettigen Lippen ab. Die Hürde befand sich hinter dem Dorf und war teilweise zerstört. Hai-wa trieb die Schafe hinein, schloß das Tor und sicherte es durch einen Stein. Dann nahm er einen Arm voll Stroh und warf es vor die Tür. „Was machst du da?“ fragte der Polizist erstaunt. „Ich will schlafen“, antwortete Hai-wa, hockte sich hin und breitete das Stroh gleichmäßig aus. „Marsch, in die Fanse! Du schläfst dort!“ Hai-wa brauste auf: „Und wer – wer wird bei den Schafen Wache halten? Im Gebirge gibt es Wölfe.“ „Wer, wer!“ äffte der Polizist Hai-wa nach. Doch dann fiel er plötzlich über ihn her. „Was bist du denn für einer, du Grünschnabel? Was fällt dir eigentlich ein, mir zu widersprechen? He? Weglaufen willst du! Nun aber los!“ Und er packte ihn am Kragen und zog ihn hinter sich her.
Nachdem der Polizist Hai-wa in eine Fanse gezerrt hatte, stieß er ihn in die hintere Ecke. Der ganze Boden der Hütte war mit Stroh bedeckt. Die Japaner und die Polizisten schliefen schon. Aber auch im Schlaf ließen sie die Gewehre nicht aus den Händen. Hai-wa war von allen Seiten von Soldaten umgeben. Es verging eine geraume Zeit. Alle schliefen fest, einige schnarchten. Nur der Posten, der in der offenen Tür saß, hielt die Augen offen. Hai-wa konnte nicht einschlafen. Sicher werden die Teufel morgen wieder Schafe abstechen, dachte er. Wenn du nachts nicht wegläufst, mußt du damit rechnen, daß der Brief mit den Hahnenfedern in ihre Hände fällt. Die Teufel werden dich dann ausfragen – da kannst du gleich mit dem Leben abschließen. Hai-wa, Hai-wa, was hast du gemacht? Wie konnte das geschehen? Nicht einmal einen Brief kannst du bestellen! Hai-wa glaubte keinen Ausweg mehr zu finden. Er öffnete ein wenig die Augen, sah sich vorsichtig um und warf wie zufällig einen Blick auf die offene Tür. Der Mond war im abnehmenden Viertel, er kam gerade hinter den Bergen heraufgezogen. Hai-wa wußte: wenn der abnehmende Mond an dieser Stelle erschien, war gerade Mitternacht. Es war also spät. Aber der Posten saß noch immer mit ausgestreckten Beinen an der Tür und wachte. Er rührte sich nicht. Hai-wa schloß wieder die Augen und spitzte die Ohren. An den verschiedenen Lauten erkannte er genau, was um ihn herum geschah. Hinter der Wand schnarchte es, da schliefen die Japaner. Hai-wa hob den Kopf und horchte. Plötzlich durchschnitt ein lauter Ruf die Stille. „Wer da?“ Also stand auf der Straße auch ein Posten. „Nach den Pferden sehen!“ antwortete eine andere Stimme. Darauf wurde es draußen wieder still, anscheinend hatte sich die Wache beruhigt. Hai-wa horchte weiter. Er konnte nur mit Mühe seine Aufregung beherrschen. Eine Wache in der Tür,
Wachen im Dorf, da versuch mal einer wegzulaufen! In diesem Augenblick kam von irgendwoher ein Hahnenschrei: „Kikeriki!“ Nun krähte sogar schon der erste Hahn! Es verging wieder eine Weile, da klang aus einer anderen Richtung der zweite Hahnenschrei: „Kikeriki!“ Ach, du liebe Zeit! Die Hähne krähten schon zum zweitenmal! Wenn man bis zum dritten Hahnenschrei wartete, war es hell. Das ist zu spät, entschied Hai-wa und setzte sich rasch auf. Der Posten an der Tür lehnte zusammengesunken an der Wand, den Kopf auf die Brust gesenkt. Die Hände hielten das Gewehr umklammert. Er war in tiefen Schlaf gesunken. Hai-wa sah sich um. Die Japaner lagen durcheinander wie die Hammel: der Kopf des einen ruhte auf den Beinen des anderen, der sie dem nächsten seelenruhig in den Bauch stemmte. Der Schiefmäulige schlief mit ausgebreiteten Armen, als wollte er nach Hai-wa greifen. Aber Hai-wa stand auf. Vorsichtig zog er erst das linke Bein hoch, schob mit der Fußspitze leicht die Hand des Schiefmäuligen beiseite und machte auf diese Weise ein kleines Stück Boden frei. Das gleiche wiederholte er mit dem rechten Bein. Mit der Fußspitze schob er irgendeine Hand beiseite und stellte seinen Fuß auf die frei gewordene Stelle. Als Hai-wa den dritten Schritt tun wollte, wälzte sich der Kurzbärtige auf die andere Seite, bewegte im Schlaf Arme und Beine – aber er schnarchte weiter. Hai-wa schaute auf die Türöffnung. Der Himmel begann schon im Osten hell zu werden. Plötzlich hörte der Kurzbärtige auf zu schnarchen, seine Nase verzog sich immer mehr, und „hatschi!“ erklang ein ohrenbetäubendes Niesen, dem noch eins folgte. Er nieste so heftig, daß der ganze Körper bebte. O Schreck! Gleich wird er Hai-wa sehen… Aber der Kurzbärtige machte die Augen nicht auf. Er rieb sich nur die Nase, drehte sich dann auf die andere Seite und schnarchte wieder aus Leibeskräften. Er hatte sich sehr günstig gedreht,
vor Hai-wa lag der Weg frei. Erleichtert atmete er auf, als wäre ihm ein schwerer Stein vom Herzen gefallen.
Und mit einemmal war ihm so leicht zumute, daß er ohne jede
Mühe über einen anderen Japaner hinwegstieg. Einen Augenblick noch, und er war an der Tür. Der Posten schlief noch immer, den Kopf auf die Brust gesenkt. Er dachte nicht an Haiwa… Vorsichtig stieg der Junge über die ausgestreckten Beine, und schon stand er auf der Dorfstraße. „Wer da?“ erklang plötzlich der Ruf der Wache vom anderen Ende der Straße. „Nach den Pferden sehen!“ antwortete Hai-wa barsch und wunderte sich selbst, wie gut das herauskam. Der Posten schien mit der Antwort zufrieden. Hai-wa ging kühn zu den Pferden hinein, als habe er tatsächlich den Auftrag, nach ihnen zu sehen. Aber kaum hatte er die Hürde betreten, als er sich schon über eine halb eingestürzte Mauer schwang, die ihn von den Schafen trennte. Als sie Hai-wa gewahrten, fingen die Tiere an zu blöken und mit ihren kalten Nasen an seine Hände zu stoßen. Seitdem sie hier waren, hatte man ihnen noch nichts zu fressen gegeben. Sie waren hungrig. Aber Hai-wa interessierte im Augenblick nur das alte Merinoschaf. Er umarmte seinen Hals, an dem ein Glöckchen hing, und zog dann unter dem Fettschwanz den Brief mit den Hahnenfedern hervor. Die Glocke schlug leise an, und bei diesem Klang wurde Hai-wa wieder traurig. Ach, ihr lieben Schafe. Sechs Jahre bin ich hinter euch hergegangen, sechs Jahre habe ich euch gehütet/ Da krähten die Hähne zum dritten Mal. Die weiße japanische Flagge mit dem blutroten Kreis in der Mitte, die die Soldaten auf dem Dach einer Fanse gehißt hatten und die eben noch grau und formlos schien, war jetzt deutlich zu erkennen. Mit klopfendem Herzen steckte Hai-wa den Brief mit den Hahnenfedern in seine Tasche. Dann krempelte er rasch seine langen Hosen hoch, damit er beim Laufen nicht hängenblieb, sah sich nach allen Seiten um und rannte zu dem Gebirgspaß, der hinter dem Dorf lag.
Die weiße Flagge Nicht weit vom Paß, an einer Wegkreuzung, stand ein kleiner Felsen. Hai-wa lief, so rasch er konnte, auf ihn zu. Gleich war er da. Nur ein paar Meter fehlten noch. Doch plötzlich hielten seine Beine wie von selber an: vorn schrie jemand. Hai-wa spitzte die Ohren. War er gemeint? Er kniff die Augen zusammen und schaute scharf nach vorn… Daß er das nicht früher gesehen hatte! Oben auf dem Paß wehte eine weiße Flagge. Ein Mann stand dort und schwenkte sie hin und her. „Au-u urru-urru-u-u!“ rief der Mann mit der Flagge. Er rief dasselbe, was gestern abend die Japaner gerufen hatten, nur nicht so laut. Die Stimme kam Hai-wa bekannt vor. Natürlich, das war einer von den Teufeln, derselbe, der gestern das Holzfeuer angezündet hatte. Aber was tat er jetzt? Der Mann hörte plötzlich auf zu schreien und die Flagge zu schwenken – hob etwas auf und zielte damit gerade auf Hai-wa. Er legte das Gewehr an. Hai-wa überlegte, was er machen sollte. Er zog sein Hemd aus, es war ja auch weiß, winkte damit und ahmte in allem den Japaner nach: bald hielt er es über den Kopf, bald schwenkte er es zur Seite. Der Japaner ließ das Gewehr sinken und hob von neuem die Flagge. Er rief dabei: „U-ru-ru-u-u-!“, als ob er sagen wollte: Gut, daß du einer von den Unsern bist. Entschuldige bitte, ich habe mich geirrt. Ich dachte, du wärst ein Kundschafter der Achten Armee. Jetzt weiß ich, wer du bist. Geh ruhig weiter! So ging das Unheil noch einmal vorüber. Hai-wa winkte weiter mit dem Hemd, wandte sich ab und ging langsam auf den Felsen zu. Aber kaum hatte er ihn hinter sich, als er nur so davonjagte. Der Wind pfiff ihm um die Ohren. Weit, weit weg krähten fröhlich die Hähne, im Wald waren die Vögel erwacht und sangen und jubilierten. Und Hai-wa? Hai-wa war jetzt fröhlicher als die Hähne und Vögel. Er flog wie der Wind, immer vorwärts, als ob ihm Flügel gewachsen wären. Er lief
den Berg hinunter, durcheilte die Schlucht und kletterte ohne Rast den gegenüberliegenden Berg hinan. Als er auf dem Gipfel angelangt war, fiel er hin wie ein Stein. Sein Atem ging schwer. Jetzt würde er langsamer laufen, er brauchte ja nicht mehr auszureißen, denn die Feinde konnten ihn nicht mehr einholen. Vor ihm lag der Berg Sanwangmao, und wenn er den überschritten hatte, war er in Sanwangtsun. Hai-wa dachte an den Brief. Wieviel Unheil hatte er ihm gebracht! Aber jetzt war er gleich am Ziel. Es drängte ihn, von neuem den Brief zu betrachten und ihn an sich zu drücken wie die kleinen Lämmchen. Doch plötzlich durchfuhr ihn ein eisiger Schreck: Wo war denn der Brief? Der Brief war ja nicht mehr da! Hai-wa durchsuchte immer und immer wieder seine Tasche: der Brief war weg. Er zog das Hemd aus und durchsuchte jede Falte. Es war vergeblich. Er drehte den Stein um, auf dem er eben gesessen hatte, suchte den ganzen Platz ringsum ab, aber auch da war der Brief nicht. Nirgends war der Brief mit den Hahnenfedern, und niemals würde ihn Hai-wa wiederfinden, soviel er auch suchte. Hai-wa wurde blaß. Ach, Hai-wa! Wie konntest du so schlecht aufpassen? Wo hast du denn nur den Brief verloren? Hai-wa rief sich alles genau ins Gedächtnis zurück: Er hatte den Brief in die Tasche gesteckt… Die Tasche war ganz, da war auch nicht der kleinste Riß. Wie hatte er da herausfallen können? Hai-wa konnte sich nicht besinnen, wie und wo er den Brief verloren hatte. Zum langen Nachdenken blieb auch keine Zeit mehr. Langsam stieg er wieder den Berg hinab, denselben Weg, den er soeben hinaufgerannt war. Hai-was Augen suchten den Brief auf dem Weg, sie suchten ihn im Tal – sie suchten ihn am Fuß des Berges – und fanden ihn nicht. Nirgends leuchtete auch nur eine einzige Hahnenfeder. Sein Herz zog sich zusammen vor Schmerz. Er war so
traurig, daß er nicht einmal den Kopf heben mochte. Den Brief mußte er finden! Obwohl er schon ganz von Kräften und noch außer Atem war, machte er sich an den letzten Aufstieg. Da war der Paß! Hai-wa kletterte auf den Felsen hinauf. Gleich war er oben. Vor seinen Augen lag das Bergdorf. Aber was war das dort? Lag da nicht der Brief mit den Hahnenfedern? Es war kein Irrtum möglich. Nicht weit von dem Felsen, auf demselben Platz, wo Hai-wa mit dem Hemd gewinkt hatte, lag der Brief mit den Hahnenfedern. Die Sonne schien darauf, und unter ihren Strahlen glänzten die Federn wie rotes Gold. Haiwa hielt den Atem an, er wagte nicht, sich zu rühren. Aber dann brachte er doch den Mut auf und kletterte schnell hinunter. Ein Sprung – und der Brief war wieder in seiner Hand. Wie froh war Hai-wa darüber. Er blickte ins Dorf hinunter. Auf der Tenne des Bergdörfchens wimmelte es von Soldaten. Die Japaner traten mit aufgepflanzten Bajonetten an, sie sammelten sich zu einem neuen Raubzug. Von neuem festgenommen Hai-wa kauerte sich hastig nieder und verbarg den Brief in der Tasche. Er wollte gerade wieder umkehren und weglaufen, als er plötzlich hörte, wie ihn jemand rief. Er wandte den Kopf zur Seite und sah, daß der Schiefmäulige vom Paß her gelaufen kam. „Warte, du Hund, ausreißen wolltest du!“ rief der Polizist noch im Laufen. „Erschlagen werde ich dich, du Deserteur!“ Jetzt konnte Hai-wa nicht mehr entfliehen. Der Schiefmäulige versperrte ihm den Weg. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu ergeben, „Wer ist ein Deserteur?“ Hai-wa tat erstaunt. „Ich habe die Schafe gesucht.“ Hai-wa sah den Polizisten an, als habe er wirklich niemals
daran gedacht, wegzulaufen. Aber es war nicht so leicht, ihn zu täuschen. „Was für Schafe hast du gesucht? Wer hat dich geheißen, sie zu suchen? Und weshalb suchst du plötzlich hier die Schafe?“ schrie er vor Zorn und stieß den Jungen vorwärts. Hai-wa verneigte sich tief und sagte: „Das Tor war umgefallen, und zwei Schafe fehlten…“ „Warum hast du mir das nicht gesagt und bist allein fortgelaufen?“ „Sie haben noch geschlafen, und ich hatte Angst, daß die Schafe zu weit laufen. Wie hätte ich den Hauptmann wecken können? So bin ich losgelaufen.“ „Alles dummes Zeug!“ schrie der Polizist wieder los. „Wo sind denn die Schafe? Was für Schafe? Glaubst du, ich weiß nicht, daß du fortlaufen wolltest? Du Deserteur!“ Der Polizist stieß Hai-wa wieder heftig mit dem Kolben in den Rücken, als ob der Junge nicht ein lebendiger Mensch, sondern aus Holz wäre. Aber da Hai-wa nicht aus Holz war, tat es ihm sehr weh, und er fing an zu weinen: „Wieso bin ich denn ein Deserteur? Wenn ich wirklich hätte weglaufen wollen, warum bin ich dann zurückgekommen?“ Der Polizist hatte diese Antwort nicht erwartet und schwieg verdutzt. Hai-wa nutzte seine Überraschung aus und ging zum Angriff über: „Sie können mich erschlagen. Erschlagen Sie mich doch! Ich laufe nicht weg. Die Schafe gehören nicht mir, sondern meinem Herrn. Die man geschlachtet hat, auf die kann ich nicht mehr aufpassen. Aber ein paar sind weggelaufen, und ich habe sie überall gesucht, aber nirgends konnte ich sie finden. Mein Herr wird mich nicht wieder nehmen. Was soll ich nur ^machen? Erschlagen Sie mich lieber!“ Während Hai-wa sprach, rannen ihm die Tränen übers Gesicht, und je länger er sprach, desto schlimmer wurde ihm selber zumute. Er setzte
sich auf die Erde und weinte bitterlich. Bald bedeckte er das Gesicht mit den Händen, bald faßte er sich an den Bauch, bald griff er wie zufällig an die Tasche. Mehr als alles befürchtete er ja, den Brief noch einmal zu verlieren. Du mein Brief, sagte er in Gedanken zu ihm, um eins bitte ich dich: laß dich nicht sehen! Wenn du auch nur versuchen solltest, dem schwarzen Hund zuzuflüstern, daß ich dich habe, bist du in meinen Augen nichts mehr wert! Während Hai-wa unter der Bewachung des Polizisten weiterging, fiel ihm plötzlich auf, daß der Schiefmäulige ihm diesmal ja gar nicht die Taschen durchsucht hatte. Sollte er den Polizisten mit seinen Tränen davon abgelenkt haben? Für die Japaner war es höchste Zeit, aufzubrechen, aber sie hatten keinen Führer. Der Polizist überlegte kurz, dann packte er Hai-wa am Kragen und sagte: „Du wirst schon nicht verrekken, wenn dich dein Herr nicht mehr nimmt! Laß uns schneller gehen. Du wirst den großen Herrn führen. Aber wenn du noch einmal heulst, verprügle ich dich!“ Hai-wa verstummte augenblicklich. Er sah den Polizisten an und sagte schlau; „Herr Polizist, bitte den großen Herrn, daß er sich meiner erbarme. Er hört auf dich. Sag ihm, daß er mich als Soldaten behalten soll. Ich denke nicht daran, wegzulaufen.“ „So einer wie du will Soldat werden?“ brummte der Polizist. „Das könnte dir so passen. Eine Ohrfeige kannst du kriegen!“ „Guter Herr Polizist, rette mich, ich bitte dich! Sage meinem Herrn, daß er mich nicht wegjagen soll!“ Aber der Polizist dachte gar nicht daran, sich mit solchen Nichtigkeiten zu befassen. Er zerrte Hai-wa ins Dorf und führte ihn an die Hürde, in der die Schafe waren. In diesem Augenblick kamen noch andere Polizisten herbei. Als sie den Schiefmäuligen sahen, schrien sie durcheinander: „Was suchst du hier? Wo war dieser Hundesohn hingelaufen? Geh sofort zum großen Herrn! Er braucht einen Führer.“
Der Schiefmäulige wollte gerade etwas erwidern, als von der Tenne her ein Signal erklang. Die Trompete rief. Alle mußten sich aufstellen. Die Polizisten warfen rasch die Gewehre über und liefen hin. „Nun los!“ drängte der Schiefmäulige. „Nimm deine Schafe und mach dich auf! Und wenn es dir wieder einfallen sollte, auszureißen, dann paß auf, du Satansbrut!“ Er stülpte hastig die Mütze auf den Kopf, drohte Hai-wa mit der Faust und lief ebenfalls zur Tenne. Hai-wa blieb allein. Sein erster Gedanke war, zu fliehen! Aber im Augenblick sah er keine Möglichkeit mehr. Erst mußte er wieder den Brief verslecken, dann konnte er einen bestimmten Plan fassen. Er wußte ja nicht, ob ihn der Kurzbärtige noch einmal durchsuchen ließ! Hai-wa zog flink den Brief mit den Hahnenfedern aus der Tasche und band ihn wieder unter dem Fettschwanz des alten Merinoschafes fest. Dann trieb er die Schafe aus der Umzäunung und zog mit ihnen zum Sammelplatz der Japaner. Die Abteilung war schon mit aufgepflanztem Bajonett angetreten. Aller Augen waren auf Hai-wa gerichtet. Der Schiefmäulige stand steif wie ein Telegraphenmast vor dem Kurzbärtigen. Dieser wiegte sich auf seinen krummen Beinen, stützte sich mit der Hand auf den Säbel und schimpfte. Als Hai-wa auftauchte, reckte er den Hals und betrachtete sich den Jungen. Hai-wa wich zurück, weil er fürchtete, wieder geschlagen zu werden. Der Berg Sanwangmao Aber der Kurzbärtige dachte nicht daran, Hai-wa zu schlagen. Er fragte ihn nur kurz: „Du den Weg Sanwangtsun führen. Rasch-rasch!“ Hai-wa klopfte das Herz zum Zerspringen. Dort waren die Partisanen. „Versteh“, beeilte er sich zu antworten. „Da dieser Weg…“
Der Kurzbärtige gab mit dem Säbel ein Kommando, und die Abteilung setzte sich in Bewegung. Hai-wa, der die Schafe antrieb, wurde von ihnen in die Zange genommen: vorn gingen die Polizisten, hinter ihm die Japaner, und danach kamen die Pferde mit den Wagen. Wenn ihr doch endlich eure Strafe bekämt, dachte Hai-wa. Kompanieführer Dshang, Genosse Dshang, wenn du doch diese Teufel angreifen würdest! Sonst ist es um den Brief geschehen. Der Kurzbärtige war unausstehlich. Er wußte nichts Besseres zu tun, als dauernd um Hai-wa herumzutänzeln. Bald kam er von der einen Seite, bald von der anderen. Keinen Augenblick ließ er den Jungen in Ruhe. Mal zeigte er auf diesen Hügel, mal fragte er nach jenem Weg ins Gebirge und verlangte immerzu: „Schnell, schnell! Laufen schnell, schnell!“ Er befahl Hai-wa, seine Schafe mit der Peitsche anzutreiben. Die Schafe kamen in Trab, warfen die Beine, hoben eins nach dem anderen die Schwänze und bestreuten den Weg mit großen schwarzen Bohnen. Hai-wa wurde unruhig. Du, mein alter Freund, wandte er sich in Gedanken an das Merinoschaf, laß es dir nicht auch einfallen! Sonst ist das Unglück da. Aber das Merinoschaf ahnte nichts von Hai-was Aufregung. Da, gleich würde es auch seinen Fettschwanz heben. Und alle würden den Brief mit den Hahnenfedern sehen. Hai-wa hob einen Brocken trockenen Lehm vom Boden auf und warf ihn genau auf den Fettschwanz des alten Merinoschafs. Der Lehmbrocken zerstob in gelben Staub. Das Merinoschaf erschrak, warf die Hinterbeine hoch und stürmte nach vorn, alle seine „Wünsche“ vergessend. Aber Hai-wa gab sich damit noch nicht zufrieden. Er streckte den Arm aus und ließ die Peitsche scharf herniedersausen. Ununterbrochen knallte er mit der Peitsche und schrie aus voller Kehle: „Hei, daß euch die Wölfe fressen! Hei!“ Die Schafe
hasteten vorwärts, so schnell, daß man nicht einmal mehr sah, wie sie die Beine warfen. Der Kurzbärtige freute sich, als er Hai-was Eifer sah: „Viel, viel gut! Schnell! Schnell!“ Und Hai-wa knallte noch eifriger mit der Peitsche und warf ab und zu einen Lehmklumpen auf die Tiere. Armes altes Merinoschaf, wie schnell es über den Berg setzte! Als dieser Berg hinter ihnen lag, hörte die Peitsche plötzlich auf zu knallen. Auch die Schafe verlangsamten ihren Lauf. Die Abteilung näherte sich dem Berg Sanwangmao. Den Berg hinauf zog sich ein schmaler Weg. Er führte durch eine Schlucht. Nur selten wurde dieser Weg begangen, stellenweise war er mit dichtem Gras und Kletterpflanzen bewachsen. Daneben zogen sich mit Felsbrocken übersäte Pfade hin, an denen rechts und links das Gesträuch niedergetrampelt war. Hai-wa kniff die Augen zusammen. Auf dem Gipfel des Sanwangmao stand ein niedriger Baum. Das war der Signalbaum des Dorfes Sanwangtsun. Auf ihn gaben die Kinder dieses Dorfes acht. Ja, das waren tüchtige Kerle, die Sanwangtsuner! Die Japaner waren kaum in die Schlucht eingedrungen, als Hai-wa sah, wie der Signalbaum langsam umfiel. In der Abteilung des Kompanieführers Dshang wußte man also schon jetzt, daß die Japaner kamen! Noch ahnten die Japaner nichts. Seelenruhig ließen sie sich in der Schlucht zur Rast nieder. Der Kurzbärtige setzte sich auf die Erde und fing an zu rauchen. Seine Soldaten kauten das vom vergangenen Tag übriggebliebene Hammelfleisch. Nur die Polizisten durften nicht rauchen und essen; sie gingen weiter und bahnten der japanischen Abteilung den Weg auf den Berg. Auch Hai-wa ruhte nicht aus. Er jagte die Schafe auf eine kleine Lichtung. Dort stand dichtes Gras, und sie lag ziemlich weit vom Rastplatz der Japaner entfernt. Du mußt dich jetzt nicht so nah bei ihnen halten, dachte Hai-wa. Sonst hält dich der Kompanieführer Dshang auch für einen Feind, und du
kommst für nichts und wieder nichts um. Auf dem Berg war noch alles still, kein Schuß war zu hören. Die Polizisten kletterten immer weiter hinauf. Sie hatten schon etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt. Das war aber merkwürdig! Der Signalbaum war doch schon so lange gefallen. Hai-wa dachte noch darüber nach, als in der Mitte des Berges plötzlich eine starke Explosion krachte und die Stelle in dichten schwarzen Rauch hüllte. Die Polizisten waren auf eine Mine gestoßen. Einige sprangen erschrocken aus dem schwarzen Qualm heraus und suchten hinter Felsbrocken Deckung. Aber wer konnte wissen, wo die andern Minen lagen!’ „Wumm!“ flog ein Steinbrocken in die Luft, „Wumm, wumm!“ platzte eine der ausgelegten Minen nach der anderen. „Umm! Umm!“ schallte das Echo in den Bergen. Die gellenden Schmerzensschreie der Polizisten erfüllten die Schlucht. Sie klammerten sich an den Steinen fest, einer konnte sich aber nicht halten und rollte einen steilen Hang hinab. Nur dem Schiefmäuligen gelang es, aufzustehen und den Berg hinunterzulaufen. Er hinkte etwas und hielt den Kopf mit beiden Händen. So lief er zu dem japanischen Offizier: „Ach, großer Herr! Die Bombe hat mir den Kopf zerrissen!“ Der Kurzbärtige wandte sich ab. Er sah den Kopf des Polizisten nicht einmal an und sorgte auch nicht für Verbandszeug. Er rief Hai-wa zu sich heran und wies mit dem Finger auf den Felspfad: „Du vorwärts, du Weg! Kaiserliche Armee hinten gehen. Verstehen? Schnell, schnell!“ Auf dem Schafspfad Hai-was Augen wurden rund vor Schreck. Er schob die Unterlippe vor, neigte den Kopf zur Seite und sah den Schiefmäuligen an, als wollte er fragen: Was sagte der Kurzbärtige? Ich
verstehe ihn nicht. Der Schiefmäulige saß auf der Erde und verband sich den Kopf mit einem Streifen Stoff, den er sich vom Hosenbein abgerissen hatte. Erst durch Hai-was Blick schien er richtig zu sich zu kommen. „Der große Herr hat dir befohlen, mit den Schafen voranzugehen, damit du als erster den Berg hinaufsteigst.“ „O weh!“ rief Hai-wa aus. „Ich hab solche Angst, hab solche Angst vor den Minen! Ich…“ „Satansbrut!“ schrie der Kurzbärtige wütend und griff nach dem Säbel: „Rasch, rasch, führe Weg!“ Auch der Schiefmäulige wurde zornig: „Du hündische Ausgeburt! Du willst nicht vorangehen? Du willst wohl, daß ich auf eine Mine trete?“ Hai-wa sah den Kurzbärtigen an, in dessen Händen der Säbel blitzte. Von allen Seiten waren die Gewehrmündungen auf ihn gerichtet. Er seufzte schwer, nahm die Peitsche und trieb die Schafe an. Da, wo die erste Mine explodiert war, lagen verwundete Polizisten. Sie hatten sich notdürftig verbunden. Hai-was Unruhe stieg. Die Minen vom Stab konnten auch ihm gefährlich werden! Je mehr er nachdachte, desto schwerer wurde ihm ums Herz und desto langsamer ging er. Aber die Soldaten riefen von hinten: „Weiter, weiter! Mach schnell!“ Sie hielten sich jedoch immer in angemessener Entfernung von Hai-wa. Offenbar fürchteten sie sich, dicht hinter ihm zu gehen. Hai-wa bog um einen Felsbrocken, ließ einen zweiten hinter sich. Ein kleines Gehölz lag vor ihm. Die Schafe machten davor halt und fingen an zu blöken, als wollten sie fragen: Herr, auf welchem Pfad sollen wir weitergehen? Denn hier gabelten sich die Wege, der Fußweg und der Pfad für die Schafe führten nach verschiedenen Seiten. Hai-wa schaute zurück: die Abteilung war noch nicht zu sehen, ein Felsen verdeckte die Sicht. Er nahm an, daß auf dem Schafspfad keine Minen lagen, und lenkte ohne langes Beden-
ken die Herde dorthin. Die Schafe drangen tiefer in das Gehölz ein, aber sehr bald mündete der Weg auf eine Lichtung. In diesem Augenblick hörte Hai-wa von unten einen durchdringenden Schrei. Der Schiefmäulige rief. „Zurück!“ schrie er. „Wir müssen links gehen!“ „Nein!“ antwortete Hai-wa. „Ich bin hier schon gegangen. Hier ist es näher!“ „Werden auch die Pferde durchkommen?“ „Sie kommen durch! Der Weg ist gut!“ rief Hai-wa zurück und schlug auf die Schafe ein, als ob er tatsächlich auf ebenem Weg ging. Aber der Pfad schlängelte sich bald zwischen Felsbrocken hin, bald stieg er steil einen Hang hinan, bald verlor er sich in dichtem Gestrüpp. Die Japaner blieben weit, weit hinter Haiwa zurück. „Halt!“ ertönte wieder von unten der Ruf des Polizisten. „Halt! Stehenbleiben! Die Pferde können nicht weiter.“ Hai-wa hielt gehorsam an und schaute nach unten. Die Pferde rotteten sich am letzten Steilhang zusammen. Vor ihnen lag ein Abgrund. Hai-wa reckte den Hals und rief aus voller Kehle: „Geht um den Abgrund herum, dann ist der Weg wieder eben! Die Pferde müßt ihr antreiben, mit der Knute antreiben!“ Und die Japaner befolgten seinen Rat. Ein Soldat schlug seinem Pferd wütend mit dem Riemen auf die Kruppe, ein anderer zog es am Zaum und riß dem Tier fast das Maul auseinander. Hü-hü! Die Pferde liefen weiter. Aber je höher Hai-wa kletterte, desto schmaler wurde der Pfad und um so schwieriger der Aufstieg. Die Japaner liefen ein paar Meter und hielten wieder an. Aber Hai-wa hatte es eilig und rannte schneller und schneller. Immer lauter knallte seine Peitsche. Die gehorsamen Schafe wirbelten mit den Hufen den Staub auf und kletterten hinter dem Merinoschaf her. Hai-wa blickte zurück – der halbe Weg war schon geschafft.
Jetzt rief der Kurzbärtige: „Nicht schnell! Führe Weg nicht schnell!“ Hai-wa rannte noch schneller, als hätte er den Zuruf des Japaners nicht gehört. „Halt!“ rief da der Schiefmäulige mit so schrecklicher Stimme, daß in Hai-wa die Angst hochkroch. „Halt! Noch einen Schritt, und ich schieße!“ Aber Hai-wa hielt nicht an. Im Gegenteil, er knallte immer heftiger mit der Peitsche und lief, was er konnte. Da eröffneten die Japaner das Feuer. „Hui-huuiii!“ flogen die Patronen an Hai-wa vorbei. „Peng-peng-peng“, schlugen sie dicht neben ihm ein Hai-was Peitsche knallte ohne Unterlaß. Ein Felsvorsprung, noch einer, dann kam Gesträuch, dichtes Gestrüpp. Hai-wa lief rasch, aber die Schafe waren noch schneller als er. Ihre weißen Rücken verschwanden zwischen den grünen Büschen und tauchten wieder auf dem steinigen Pfad auf. „Hui-peng, hui-peng!“ Die Schüsse kamen näher, wurden lauter, folgten dichter. Hai-wa lief nicht mehr, er fiel ins Gras, öffnete den Mund und schrie keuchend: „Die Teufel kommen, die Teuf-e-el!“ Hai-wa wird verwundet Von der Höhe her krachte plötzlich eine Salve; eine zweite folgte. Hai-wa wußte: das waren die Seinen. Das gab den Beinen neue Kräfte. Er erhob sich und versuchte weiterzuklettern. Er klammerte sich an einem Felsbrocken fest, aber plötzlich ließen die Finger los. Vor Schmerz fiel Hai-wa ins Gras. Da sprang gleich ein Soldat hinter einem Felsen hervor, packte Hai-wa und trug ihn über den Gipfel auf die andere Seite. „Es ist ein kleiner Hirte“, rief er jemand zu. „Er ist verwundet. Die Japaner haben auf ihn geschossen.“ Ein zweiter Soldat eilte hinzu. Er hatte eine Maschinenpistole in der Hand, hockte sich
vor Hai-wa und rief aus: „Aber das ist doch Hai-wa aus Lungmentsun! Der Junge, der uns immer die Nachrichten bringt. Wie ist er denn den Japanern in die Hände gefallen?“ Hai-wa schlug langsam die Augen auf, und plötzlich stürzten ihm die Tränen hervor. War das nicht der Genosse Dshang? Ja, das war der Kompanieführer vom Partisanenstab. Gleich würde Genosse Dshang sagen: „Ein Pioniergruppenleiter und weint?“ Hai-wa versuchte sich die Tränen abzuwischen, aber er konnte die Hand nicht heben, die schmerzende Wunde ließ es nicht zu. Er öffnete nur den Mund und sagte leise: „Das Merinoschaf – das alte Merinoschaf, ein Brief mit Hahnenfedern…“ „Was für ein Merinoschaf?“ fragte Kompanieführer Dshang verwundert – er verband Hai-was Wunde. „Wo ist der Brief?“ „Das alte Merinoschaf, der Leithammel. Der Brief ist unter dem Fettschwanz, nein, der Fettschwanz ist unter dem Brief, nein, der Brief…“ Hai-wa verwirrte sich immer mehr. In seinem Kopf drehte sich alles, so daß er sich schließlich auf nichts mehr besann und nichts mehr wußte. Er erfuhr auch nicht mehr, daß die Partisanen die Japaner zurückwarfen, und wußte auch nicht, was weiter mit ihm geschah. Als er wieder zur Besinnung kam, fühlte Hai-wa nur, daß er auf einem Kan lag. Ihm war wohlig warm. Er ruhte nämlich auf einer weichen, mit hellroten Blumen bestickten Filzmatte. Durchs Fenster fielen die Sonnenstrahlen auf sein Lager, und ringsherum war alles so schön, daß er es gar nicht fassen konnte. Auf dem Kan standen eine Menge Schachteln und Büchsen, Kistchen, Pakete. Und all die hellroten und grünen Dinger waren mit leckeren Süßigkeiten gefüllt, mit Gebäck oder Früchten. Hai-wa schaute verwundert um sich. Neben ihm saß der Kompanieführer Dshang und lächelte. „Ist dir jetzt besser?“ fragte er leise. „Tut es noch weh?“
Aber Hai-wa dachte gar nicht an die Schmerzen. „Woher ist das alles?“ fragte er. „Wem gehören diese Sachen?“ „Dir“, antwortete der Kompanieführer. Diese Antwort begriff Hai-wa nur langsam. In seinem ganzen Leben hatte er noch nichts dergleichen besessen; er hatte überhaupt noch niemals so schöne Dinge gesehen. „Nein“, antwortete er überzeugt, „das sind nicht meine Sachen.“ Der Kompanieführer Dshang lachte laut: „Wie denn, Hai-wa, hast du schon vergessen, daß du mir gestern einen Brief mit drei Hahnenfedern gebracht hast? Eine Nachricht von deinem Vater? In diesem Brief stand, daß alle Teufel aus den Bunkern in die Berge steigen, um zu plündern. Keine Japaner blieben in den Bunkern bei Vorderdshoundshuang zurück, sondern nur einige schwarze Hunde. Der Vater bat uns, eine Abteilung auszuschicken und die feindlichen Bunker anzugreifen. Da sind wir gleich gestern abend aufgebrochen. Wir sind die ganze Nacht marschiert, um nicht zu spät zu kommen. Unsere Abteilung griff vom Weg aus an, und die Partisanengruppe deines Vaters schlug im Rücken des Feindes los, von der Dorfseite her. Alle Bunker sind genommen! Wenn du den Brief nicht zur rechten Zeit überbracht hättest, wie konnten wir dann diesen Sieg erringen?“ Und der Kompanieführer streichelte mit seiner rauhen Hand freundlich Hai-was Kopf. Dann fuhr er fort: „Du bist ein echter kleiner Soldat der Achten Armee, Hai-wa, unser kleiner Held! Alle diese Sachen gehören dir. Sie sind ein Geschenk vom Stab.“ Hai-was Gesicht strahlte vor Glück. „Habt ihr auch Gewehre erobert?“ fragte er. Da stand der Kompanieführer Dshang auf und zeigte mit der Hand in die Ecke: „Siehst du das da?“ In der Ecke lag ein ganzer Haufen Schnellfeuergewehre, ganz neue, mit Öl eingefettete japanische Gewehre, Typ 1938. Haiwa freute sich.
„Ich will auch nicht länger hier herumliegen. Gib mir ein Gewehr!“ Als Hai-wa die Hand danach ausstrecken wollte, schrie er plötzlich leise auf. Mit der Wunde in der Schulter, die ihm die Japaner beigebracht hatten, mußte er, ob er wollte oder nicht, noch ein Weilchen rechnen. 1945
Liebe junge Freunde! Wir danken Euch allen für die vielen Einsendungen zu unserem 2. Preisausschreiben. Der weitaus größte Teil der Lösungen war lichtig, der Täter war der HEIZER KRAUSE. Peter Eggert aus Löbau hat uns dazu ein gut gelungenes Gedicht eingesandt: Herr Krause, leugnen Sie doch nichtl Ich sag’ es Ihnen ins Gesicht: Ihr böses Treiben äst erkannt! Sie streuten den gemeinen Sand. Die Lüge von dem Arzt ist klar, weil keine Untersuchung war und jeder an der Türe liest, daß mittwochs keine Sprechzeit ist. Hat das Ihr Kumpel nicht gesehn? Dann wär’ das alles nicht geschehn. – Er förderte die Schuftigkeit durch mangelhafte Wachsamkeit. – Wenn jeder wacht und faßt mit an erfüllen wir den Fünfjahrplan! Da auch diesmal viel mehr richtige Lösungen eingingen, als Preise ausgesetzt waren, konnten wir leider nicht alle mit einem Preis bedenken, die den Täter fanden, so gern wir auch jedem eine Freude bereitet hätten. Wir mußten eine Auslosung vornehmen und sind deshalb mit den richtigen Lösungen hinaus in die Wuhlheide gefahren, in den Pionierpark „Ernst Thälmann“. Einige Pioniere des dortigen Ferienlagers haben mit verbundenen Augen die Preise gezogen. Es hat ihnen sehr viel Spaß gemacht, und sie waren ebenso gespannt wie wir, wer zu den glücklichen Preisträgern gehören wird. Ihre Namen wollen wir Euch gleich mitteilen: Den Hauptgewinn – 1 Fahrrad – erhielt diesmal
Ludgard Widrat, Papendorf (Kreis Rostock), Ziegelei 1 je einen Trainingsanzug gewannen Jürgen Koch, .Schleiz (Thür.), Gerbergasse 20 J. Poesch, Drochow (Kreis Senftenberg), Annahütter Straße 2 je einen Fotoapparat Ingeborg Hoffmann, Forst (Lausitz), Bahnhofstraße 49 Wilfried Beutler, Bernau, Tuchmacherstraße 12 Wertvolle Buchpreise wurden gezogen für: Horst Vulfe, Cottbus, Grenzstraße 2 Karin Chrustmann, Hönow bei Berlin, Mehrower Straße 14 Günther Anders, Rostode, Joseph-Haydn-Straße 24 Helga Söhnel, Seifhennersdorf (NL), Bahnhofstraße 1 Jürgen Nebel, Karl-Marx-Stadt, Kanzlerstraße 45, II Claus-Peter Hörig, Merseburg (Saale), Jahnstraße 20 Wolfgang Schuffenhauer, Mildenau (Erzgeb.) Nr. 10b Wolfgang Wurtz, Berlin N 54, Wühelm-Pieck-Straße 102 Claus Bargende, Kemberg (Kreis Wittenberg), Mühlstraße 2 Gerhard Welz, Rohlingen I a. See (Kreis Eisleben), Siedlung Sickstraße 13 Brigitte Nuck, Kroppenstedt (Kreis Staßfurt), Marktplatz 4 Paul Hauff, Berlin NO 55, Marienburger Straße 34 Reinhard Franke, Grünhain (Kreis Schwarzenberg/Erzgeb.) Nr. 141 Dieter Lommer, Plauen (Vogtland), Nach Waldesruh 71 H. P. Rapphahn, Saßnitz, Hermann-Bebert-Straße 9, Gartenhaus Irmela Seibt, Burgstädt, Chemnitzer Straße 35 Manfred Oerlel, Gera (Thür.), Georg-Büchner-Straße 33 Helmut Kuhnke, Beeskow (Spree), Bahnhofstraße 26 Klaus Nowitzke, Dannenwalde (Kreis Kyritz) Gerfried Koletzki, Berlin-Pankow, Görschstraße 40 Je 12 verschiedene Hefte der „Kleinen Jugendreihe“ erhielten:
H. Geipel, Griesbach bei Schneeberg über Aue (Erzgeb.), Grund 12 Holger Eckert, Wildau (Kreis Königswusterhausen), Karl-Marx-Straße 117 Kurt Krieger, Kistritz Nr. 2 (Kreis Hohenmölsen) Gerd Klimoschewski, Gerswalde (Kreis Templin) Siegfried Weber, Eckartsberg 4 b bei Zittau (Sachs.) Horst Skole, Niederlehme (Kreis Königswusterhausen), Bergring 9 Eberhard Böttcher, Merseburg, Friedenstal 43 (Stadtrandsiedlung) Hans-Joachim Smago, Egsdorf Nr. 7 bei Luckau Lothar Bobert, Potsdam, Leninallee 44 Margot Borch, Berlin N 58, DunckerslraBe 7 Wolfgang Rexzeh, Berlin N 113, Widiprtstraße 69 Christa Gürtler, Dresden N 23, Oschatzer Straße 3 Gerhard Möbes, Magdeburg Südost, Geraer Straße 14 Heidelin Mettner, Caputh bei Potsdam, Schwielowseestraße 40 Udo Oettel, Ellefeld (Vogtl.), GabelsbergerstraEe 8 Horst Fleischmann, Saalfeld, Franz-Scliubert-Straße 1 Jürgen Schulz, Karl-Marx-Stadt 24, Annabergei Straße 439 Hans Schneider, Frankenberg (Sachs.), Rudolf-BreitscheidStraße 18 Jobst Dieter Hayner, Sonneberg (Thür.), Lohaustiaße 12 Helga Skoczowsky, Dresden N 23, Leipziger Straße 99 Gertrud Strozyk, Langendamm (Kreis Ribnitz-Damgarten) Rudolf Gröger, Aken (Elbe), Barstraße 48 Heinz Wenzien, Tangermünde, Heerener Straße 11 Hubert Kramm, Berka (Werra), Postschließfach 1 a (Kreis Eisenach) Wolf-Dieter Gebhardt, Halberstadt (Harz), Ringstraße 14 Sehr viel Freude haben uns die vielen Briefe bereitet, die Ihr uns geschickt habt, sowie die netten Gedichte und Zeichnungen. Eure Briefe haben wir aufmerksam gelesen und allen, die sich mit besonderen Fragen und Bitten an uns wandten, geant-
wortet. Einige Leser waren enttäuscht, daß das Preisausschreiben so leicht war. Wir haben diesmal auch an unsere jüngsten Leser gedacht, denen die Auflösung nicht immer leicht gefallen ist. Aber wir würden uns freuen, wenn Ihr schreibt, wie Ihr Euch das nächste Preisausschreiben denkt. Mehrmals wurde die Bitte ausgesprochen, wieder einmal eine Liste aller bisher erschienenen Hefte der Jugendreihe zu veröffentlichen. Sie wird im nächsten Heft abgedruckt. Zum Schluß wollen wir Euch nochmals herzlich für die große Beteiligung danken. Schreibt uns auch weiterhin! Teilt uns mit, welche Erzählungen Ihr am liebsten lest oder welche Euch weniger gefallen haben. Wir freuen uns immer über Eure Briefe und beschäftigen uns eingehend mit Euren Wünschen und Anregungen. Mit freundschaftlichem Gruß! Redaktion Jugendreihe
Im nächsten Monat erscheint: DER ERSCHROCKENE BLITZ Ihr denkt wohl, ein Blitz kann gar nicht erschrecken? Habt ihr eine Ahnung! Unser Blitz, von dem in der Erzählung die Rede ist, erschrickt so sehr, daß er gleich Reißaus nimmt. Dieses Heft enthält noch zwei weitere lustige Geschichten. In der einen wird eine ganz merkwürdige Entdeckung gemacht, deren Ursache nur einem sehr schüchternen jungen Burschen bekannt ist, und in der anderen lernen wir einen Erfinder kennen, der durchaus Schriftsteller werden will. Stellt euch das nicht so leicht vor! Unserem tüchtigen Erfinder passieren dabei allerhand komische Sachen. Doch mehr verraten wir euch nicht. Ihr werdet alles im nächsten Heft erfahren. Viel Spaß beim Lesen!