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Hinter dem Schattenschirm Das neue Gesicht der Erde von Manfred Weinland Bad Earth - Nr. 16 Die ir...
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Manfred Weinland
Hinter dem Schattenschirm Das neue Gesicht der Erde von Manfred Weinland Bad Earth - Nr. 16 Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Die Gestrandeten geraten zwischen alle Fronten, schließen sich mit dem Außerirdischen Darnok zusammen und entkommen, als sie von Erinjij-Raumschiffen gejagt werden, nur mit knapper Not in den Aqua-Kubus. Dort finden sie ein rochenförmiges Raumschiff, das auf die ominösen Sieben Hirten zurückgeht und taufen es RUBIKON II. Kurz darauf gehen die beiden GenTecs Jarvis und Resnick an Bord verloren. Wenig später stößt das Rochenschiff auf die Schiffbrüchigen Cy und Algorian, Botschafter der Allianz CLARON. Sie berichten vom völkerbedrohenden Komplott der Jay'nac. Darnok erklärt sich bereit, die Botschafter mit seinem Karnut zur Zentralwelt der Allianz zu bringen. Beim Abschied übergibt er Cloud überraschend die Koordinaten des irdischen Sonnensystems, wo er sich auch wieder mit den Menschen treffen will. Aber als die RUBIKON II nach dramatischen Ereignissen in der Oortschen Wolke die Rendezvous-Koordinaten erreicht, gibt es von Darnok keine Spur. Das nervenaufreibende Warten auf den Keelon beginnt – mitten im Herzen des Erinjij-Reiches …
Prolog Ein unglaubliches Bild … Natürlich, er hatte davon gehört. Aber es zu sehen, sich mit eigenen Augen davon überzeugen zu können, dass es existierte … war noch einmal etwas völlig anderes. »Das also ist Crysral …« »Ja«, antwortete Algorian. »Das ist Crysral.« Es klang andächtig. Darnok ruhte in seinem Becken, das ihm Ruhestätte, Kommandostelle und Schutz in einem war. Soeben war das Karnut aus dem Zwischenraum ausgetreten, hatte die letzte Etappe der Hinreise abgeschlossen. Die Antimateriemeiler veränderten ihren Arbeitston, aus sattem Brummen wurde ein schwaches Wispern.
»Crysral«, wiederholte Darnok. »Sollte ich jemals Zweifel daran gehegt haben, dass dies eine bedeutsame Welt für die Allianz ist, so wären sie spätestens jetzt verflogen.« »Es ist die Welt des CLARON«, versicherte Algorian. »Das geistige und kulturelle Zentrum. Das Herz. Brächte man es zum Verstummen, würde das Band der Völker augenblicklich reißen.« Darnok hörte zu, ohne den Blick von dem Bildschirm zu wenden, den er an einer Innenwandseite des Karnuts geschaltet hatte – und über den auch Algorian und Cy das Wunder schauten. Das Wunder: Ein Planet, mehr als doppelt so groß wie Roogal, die zerstörte Heimatwelt des Keelon. Dennoch wiesen ihm die Instrumente eine vergleichbare Schwerkraft zu. Demnach war sein spezifisches Gewicht
Hinter dem Schattenschirm sehr viel geringer als das Roogals, seine Masse in etwa identisch, nur bei größerer Ausdehnung. Der Planet folgte einer stark elliptischen Bahn um einen Weißen Zwerg, der kaum Wärme spendete. Eine Atmosphäre besaß er nicht. All dies schien jedoch kein Kriterium gewesen zu sein, um ihn nicht zur Zentralwelt des CLARON zu machen. Und das Wunder … Nun, das sichtbare »Wunder«, das Damok bestaunte, war auch nicht auf der Planetenoberfläche zu finden – sondern darüber. Es war so Respekt einflößend, dass der Keelon sich unwillkürlich wünschte, Roogal hätte wenigstens einen dieser Verteidigungswälle besessen, von denen insgesamt sechs diesen Planeten hier wie die Schalen einer Ya-Frucht umgaben. Vielleicht hätte es sein Volk dann noch gegeben. Vielleicht wären an seiner statt die elenden Erinjij in ihrem Blut ersoffen. »Das eigentliche Zentrum CLARONs«, sagte Algorian, »wird nur für den erkennbar, dem es erlaubt ist, Crysral zu betreten. Der Planet ist in Kavernen aufgeteilt. Sechs riesige und zahllose kleine. Die sechs Hauptkavernen sind den Heimatwelten der Gründungsvölker nachempfunden. Dort herrschen die Umweltbedingungen, die ihre Abgesandten gewohnt sind. Und von ihnen aus führen Wege zum Mittelpunkt Crysrals, wo Versammlungen abgehalten werden. Wo alle politischen Beschlüsse der Allianz ihren Ausgang haben.« Cy gab einen Laut von sich, der wohl bewundernd gemeint war. »Was ihr sehen könnt«, fuhr Algorian fort, »sind die so genannten ›Schalen‹. Die äußere besteht aus Verbundraumern der Ceyniden.« Darnok zoomte eines der Raumschiffe heran. Es besaß die ungefähre Form eines flachen Rings, in den eine Kugel eingebettet war, die keine sichtbare Verbindung zu dem sie umgebenen Ring besaß. Keine Verstrebung, nichts. Dennoch gehörte beides zusammen, bildete eine Einheit. Über die Ku-
3 gelfläche verteilt waren Vorrichtungen zu sehen, die unschwer als Geschützaufbauten erkannt werden konnten. In der Ringscheibe schienen sich die Antriebsaggregate zu befinden. Der Bordrechner des Karnuts ermittelte eine Zahl, die nahe hunderttausend lag. Hunderttausend Schiffe allein dieses Typs bildeten die äußere Verteidigungsschale um Crysral, die Herzwelt der Allianz CLARON! »Verbundraumer?«, echote Darnok fragend. »Scheibe und Kugel sind im Ernstfall in der Lage, voneinander autark zu operieren«, erläuterte Algorian. Der Aorii schien in seinem Element. Genau wie das Pflanzenwesen Cy hatte Darnok auch ihm einen genau auf seine Bedürfnisse abgestimmten Sitz zur Verfügung gestellt. Die Nanostruktur des Karnuts hatte ihn ausgebildet. Aber der zerbrechlich anmutende Humanoide, der den Verlust seines Hassbruders Rofasch noch immer nicht verschmerzt hatte, stand lieber, statt sich zu setzen. Nervosität hatte ihn ergriffen. Wahrscheinlich, dachte Darnok, ist er der Einzige hier an Bord, der für sich selbst bereits die volle Tragweite dessen, was hinter ihm liegt, realisiert hat. Er selbst konnte nur ahnen, welche Bedeutung – vor allem aber welche Konsequenz – die Entdeckung hatte, die Algorian und Cy auf der Welt der Jay'nac gemacht hatten. Diese Anorganischen drohten damit, Krieg mit den aggressiv expandierenden Erinjij zu beginnen. Die Allianz wiederum fürchtete, dass sich ein solcher Feldzug der Anorganischen, wie berechtigt er auch sein mochte, am Ende gegen alles organische Leben innerhalb der Galaxis wenden konnte. Unter den Anorganischen gab es keine bekannte Allianz im Stile CLARONs – nichtsdestotrotz galten die Jay'nac als die mächtigsten Vertreter der Anorganischen, als ihre Stimme. Und nun hatte sich herausgestellt, dass
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hinter dieser Befürchtung mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit steckte. Das Botschaftsschiff, das bei den Jay'nac für eine Aufrechterhaltung des Friedens von Organischen und Anorganischen untereinander – die Erinjij ausgenommen – hatte werben wollen, war einem beispiellosen, von langer Hand vorbereiteten Komplott der Jay'nac auf die Schliche gekommen. Nach der Aufdeckung ihrer Pläne, die eine schleichende Unterwanderung CLARONs zum Ziel hatten, war das Botschaftsschiff von Einheiten der Jay'nac verfolgt, gestellt und vernichtet worden. Die einzigen Überlebenden waren Cy, ehemaliger Träger der Bewusstseinskopien der Allianz-Regenten, und Algorian, sein Lehrer und – Darnok glaubte dies bemerkt zu haben – sein Freund. Die RUBIKON hatte die Überlebenden aus denTrümmern ihres Schiffes geborgen. Und während das Rochenschiff selbst unter der Leitung der Menschen John Cloud und Scobee weiter zu deren heimatlichem Sonnensystem gereist waren, hatte sich Darnok dazu bereit erklärt, die beiden Überlebenden ins Herz der Allianz zu bringen. Sie sollten die Völker CLARONs vor der neuen, mehr als greifbaren Gefahr warnen. Vor den Jay'nac, die sich als mindestens ebenso gefährlich erwiesen hatten wie die Erinjij. Es ist also wahr, dachte Darnok. Die Befürchtungen der Allianz haben sich bestätigt. Für die Jay'nac ist das rücksichtslose Vorgehen der Erinjij ein willkommener Anlass, den Krieg anzuzetteln. Den offenen Krieg. Zuerst gegen die Eroberer vom Planeten Erde. Und dann – gegen alles Organische!
* »Die zweite Verteidigungsschale, von außen betrachtet, bilden die Steinschiffe der Laschkanen«, fuhr Algorian in seinem Exkurs fort. Darnok zoomte ein Beispiel der gerade
genannten Einheiten heran. »Steinschiffe …«, sagte er. »Sie sehen aus wie Asteroiden. Ich kann keinerlei Hinweis auf künstlichen Ursprung entdecken. Nicht einmal auf eine Bearbeitung des natürlich gewachsenen Felsens …« »Die Laschkanen sind Meister der Tarnung. Alles, was du siehst, ist Maske. Sobald sie fällt …« »Ja?« »Wünsche es dir nicht, es jemals zu erfahren. Ich kann dir aber versichern, dass diese ›Steine‹ äußerst wehrhaft sind. In ihrem Innern verbergen sich gewaltige Waffen … Aber etwas anderes: Du weißt, was wir auf der Reise hierher besprochen haben.« »Ich weiß es.« »Und?« »Ich habe eine Schicht Zeit um das Karnut gelegt, das es vor jeglicher mir bekannter Ortung schützt.« Algorian wirkte beruhigt. Cy hingegen sagte: »Dennoch wäre es ein Risiko, uns noch näher heranzubringen.« »Was ich bislang von der Allianz gehört und was ich auch sonst auf meinen Fahrten durch die Galaxis erfahren habe, weckt nicht gerade großes Vertrauen in die Lauterkeit CLARONs.« »CLARON ist ein politisches Bündnis von grundverschiedenen Völkern«, erwiderte Algorian. »Es hat seine Schattenseiten, aber Tatsache ist, dass es seit dem Zusammenschluss von Ceyniden, Laschkanen, Aorii, Rogh, Ovoanern und Neeg keinen Akt der Gewalt mehr unter diesen Völkern gegeben hat. Der Friede währt nun schon eine so lange Zeit wie niemals zuvor. Da du ein Keelon bist, ist dir bewusst, welches Nichtmitglied der Allianz ihn ins Wanken brachte – lange bevor wir von den dunklen Absichten der Jay'nac auch nur ahnten.« »Die Menschen«, sagte Darnok. »Die Erinjij«, bestätigte Algorian. »Sie haben mein Volk vernichtet, meine Heimat zerstört … Was weiß die Allianz darüber?« »Es blieb ihr nicht verborgen.«
Hinter dem Schattenschirm »Sie hatte keine Möglichkeiten, es zu verhindern?« »Die Allianz ahnte nichts von den Absichten der Erinjij. Roogal wurde von CLARON stets geachtet. Die Keelon machten nie einen Hehl daraus, dass sie keinem Bündnis angehören wollten. Ihre Sichtweise der Dinge unterschied sich grundlegend von der anderer Völker. Genau wie ihre Fähigkeiten. Letztlich waren sie es, die die Erinjij offenbar auf den Plan riefen. Die Menschen haben etwas in euch gesehen, mit dem sie entweder nicht umgehen konnten oder nicht umgehen wollten. Geschöpfe mit euren Talenten stellen eine Gefahr dar. Eine Gefahr zumindest für alle, die danach trachten, sich andere zu unterwerfen. Die Erinjij hätten die Keelon niemals unterwerfen können. Also brachten sie sie um.« Das, dachte Darnok, war eine ebenso nüchterne wie treffende Beurteilung der Geschehnisse. Er musste sich zwingen, nicht an den Moment zu denken, da er Zeuge des Untergangs seiner Welt geworden war. »Die dritte Schale«, sagte er, um auf andere Gedanken zu kommen. Er zoomte eines der Objekte, aus denen sie gebildet wurde, aus dem Ganzen heraus. »Welches Volk des CLARON steht dahinter?« »Meines«, antwortete Algorian ohne Umschweife. »Die Aorii. Wir bevorzugten schon immer die Vielfalt.« Tatsächlich erkannte Darnok, dass das Objekt, das er gewählt hatte, nicht beispielhaft für die anderen Objekte der dritten Schale war. Es erinnerte an einen ungeschliffenen Edelstein, seine Proportionen wirkten irgendwie … schief. Es war aus einem silbrigen Material, und die Oberfläche war komplett mit runenartigen Zeichen verziert. Darnok wählte ein beliebiges anderes Objekt – es sah aus wie eine gläserne Linse. Man vermochte nicht ins Innere zu schauen, aber es wirkte tatsächlich wie komplett aus milchigem Glas gegossen. »Die Aorii haben offenbar auch Sinn für Schönheit, scheint mir«, sagte er. »Ihre
5 Schiffe sehen nicht aus, als seien sie dafür gebaut, Waffen sprechen zu lassen.« »Das waren sie auch nicht – nicht, bevor die Erinjij erschienen. Aber es hat sich geändert. Vieles hat sich geändert.« »Die Zylinder?«, fragte Darnok. »Rogh«, erwiderte Algorian. »Die flachen Dreiecke?« »Ovoaner. Und die innerste Schale … Neeg. Sie sind das zahlenmäßig kleinste Mitgliedsvolk des Bundes. Aber ihre Balkenschiffe beinhalten ein Höchstmaß an Offensiv- und Defensivkraft. Sie bilden den letzten Wall um Crysral. Niemand kann sich vorstellen, dass es je dazu kommt, aber sollte auch er fallen, würde sich der Planet selbst vernichten, bevor er in die Hände einer feindlichen Macht geriete.« Darnok war erschüttert. Was er zunächst als Wunder betrachtet hatte – sechs »Schichten« unterschiedlichster Raumschiffe um einen atmosphärelosen Planeten gestaffelt –, erschien ihm bei genauerer Betrachtung wie eine Perversion. »Ihr seid sicher, dass wir so verfahren können, wie besprochen?« »Du hast uns gerettet. Wir schulden dir Dank«, erwiderte Algorian. »Aber ich fürchte, in Zeiten wie diesen kann niemand garantieren, dass die Allianz darunter dasselbe versteht wie wir.« Darnok wusste, dass der Aorii Recht hatte. Der Untergang seines Heimatplaneten hatte dem Keelon den letzten Rest von Naivität ausgetrieben. »Du warst mit Menschen zusammen«, sagte Algorian, während sich Cy wie stets zurückhielt. »Mit Erinjij. Das könnte gewissen Strömungen innerhalb der Allianz genügen, dich Verhörmethoden zu unterziehen, von denen du dir keine Vorstellung machst.« »Obwohl ich euch hierher gebracht habe, damit ihr CLARON vor den Jay'nac warnen könnt?« »Die Allianz hat jetzt zwei Feinde«, erwiderte Algorian. »Diese Entwicklung würde dich nicht schützen – im Gegenteil. Man könnte der Meinung sein, du verfügst über
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Erinjij-Informationen, deren Wert sich gar nicht abschätzen lässt.« »Zum Beispiel die galaktische Position ihrer Heimat.« »Zum Beispiel und ganz besonders das – ja«, antwortete Algorian. »Ich fürchte«, erwiderte Darnok, »damit hätten sie nicht einmal Unrecht.« »Ich weiß.«
* Der Abschied verlief ohne große Gesten. Dennoch spürte Darnok die tiefe Dankbarkeit beider Wesen. Und das, obwohl vor ihnen eine mindestens ebenso Ungewisse Zukunft lag, wie vor ihm selbst. Wie würde die Allianz auf die Nachricht vom Komplott der Anorganischen reagieren? Würde sie nun selbst zum Krieg rüsten? Womöglich sogar einen Präventivschlag gegen Jay'nac und Erinjij versuchen. Überhaupt: Was wusste man über mögliche Verbindungen dieser beiden Völker? War es denkbar, dass sie nicht nur ähnliche Ziele verfolgten, sondern schon längst – und von Anfang an – miteinander kooperierten? Darnok hatte nicht vergessen, was speziell die Erinjij ihm angetan hatten. Auf der Fahrt nach Crysral hatte er lange mit sich gehadert, doch nun, zum Abschied, rang er sich zu einem Geschenk durch, das weitreichende Folgen haben würde. Falls er es nicht rechtzeitig unschädlich machen würde. »Was ist das?«, fragte Algorian, als Darnok ihm den Speicher überreichte. »Du wirst es erfahren, sobald die Zeit um ist, die ich bestimmt habe.« Algorian überlegte kurz – und stellte keine weiteren Fragen. Kurz darauf sonderte Darnok genügend Substanz vom Karnut ab, um eine HightechBlase zu bilden, die Algorian und Cy ein ausreichend langes Überleben sichern würde – zumal er noch lange genug in der Nähe
bleiben würde, um auf sie Acht zu geben. Danach schleuste er sie aus und strahlte eine anonyme Benachrichtigung in Richtung Crysral ab. Die Reaktion erfolgte unverzüglich. Eines der Ceyniden-Schiffe löste sich aus dem äußeren Wall und nahm die Blase auf. Alles Weitere lag nun in Algorians Hand. Das Karnut beschleunigte und verließ das System des Weißen Zwergs. Tage befand es sich im Anflug auf die Rendezvous-Koordinaten, die Darnok mit John Cloud vereinbart hatte. Im Anflug auf das System der Erinjij. Die vielleicht mit den Jay'nac paktierten. Vielleicht. Die eines aber mit Sicherheit getan hatten. Die Keelon ausgerottet. Beinahe jedenfalls. Und der Letzte dieser aussterbenden Art wollte nun dafür sorgen, dass auch sie ihr verdientes Ende fanden. Er würde alles daran setzen, dies zu schaffen … Mit diesen Gedanken durchdrang Darnok das Feld aus Trümmern und Urmaterie, das dem System des Feindes vorgelagert war … eine Schale, die an die Wälle der Allianz um Crysral erinnerte, jedoch natürlichen Ursprungs war. Oortsche Wolke, hatte Cloud sie genannt. Das Karnut wollte sie durchdringen. Und zunächst verlief die Fahrt auch ohne Probleme. Doch dann … Es ging zu schnell, um zu reagieren. Das Verhängnis griff nach Darnok, obwohl sich das Karnut im Schutz eines schwachen Zeitfeldes bewegte, mit dessen Hilfe er die Wahrnehmung der überall verteilten Erinjij-Stationen täuschen wollte. Ein Versuch, der kläglich misslang. Ein Versuch, der die Katastrophe letztlich bewirkte. Ein Schlag, eine Erschütterung, als wäre das Karnut in voller Fahrt gegen eine unzerstörbare Wand geprallt, und dann – begann sich die Hülle des Schiffes aufzulösen.
Hinter dem Schattenschirm Darnok erblindete unter dem Ansturm des grellen Lichts. Er suchte Rettung im Einsatz seines Magoos … … und setzte sich damit vollends schachmatt. Sein letzter Gedanke, seine letzte Erkenntnis war, dass er nun nie erfahren würde, wie die Erinjij-Welt dieser Zeit aussah, in seiner Gegenwart. Bei seinem Ausflug in die Vergangenheit hatte er es versäumt, sie zu besuchen. Und nun … Dem blendenden Licht folgte Dunkelheit. Schwärze. Umfassende Lähmung und das Versagen sämtlicher Körperfunktionen …
1. Manchmal war es wie in ihrer Kindheit: Ein Raum. Kälte. Einsamkeit. Sporadische Besuche von Männern und Frauen, für die sie keinerlei Gefühle empfand – oder nur Abneigung und Wut. Das Haus, in dem sie aufgewachsen, in dem sie erzogen und ausgebildet worden war, glich in vielerlei Hinsicht dem Ort, an den es sie nun verschlagen hatte. Auch hier herrschten Kälte, Einsamkeit, Wut. Mitunter heillose Wut, die sich in diesem Fall nicht gegen eine Person richtete, sondern gegen ein Ding. Sie hatten es RUBIKON genannt … RUBIKON II – aber dieser Name, dachte Scobee, war auch schon das Einzige, was vorgaukelte, sich in einem für Menschen erbauten Raumschiff aufzuhalten. Die Wahrheit war – und Cloud mochte noch so vehement dagegen sprechen –, dass dieses im Aqua-Kubus der Vaaren gefundene Artefakt für Wesen gebaut worden war, die definitiv keine Menschen waren und über die sie noch immer so gut wie nichts wussten. Ein Begriff hing im Raum: die Sieben
7 Hirten. Ein Zusammenhang zwischen dem Schiff und diesen von den Vaaren wie Heilige oder Götter verehrten Geschöpfen mochte bestehen, bewiesen war er nicht. Obwohl es Hinweise gab, dass eine Verbindung existierte. Die Tafeln, die Darnok entziffert hatte beispielsweise. Sie hatten so ominöse Hinweise enthalten wie: »Stört ihre Ruhe nicht.« Oder den vaarischen Namen für das Rochenschiff: SESHA. Die eigentlichen Hinweise aber kamen aus einer Richtung, die mehr als befremdlich war: von John Cloud, der das Schiff als Erster betreten und den es als Einzigen ausdrücklich akzeptiert hatte. Bis heute wusste niemand, wie die künstliche Intelligenz des Artefakts – der Bordrechner, oder wie auch immer man die telepathisch mit Cloud kommunizierende Instanz bezeichnen wollte – ihre Auswahl traf. Wie sie entschied, wer befugt war, das von ihr vertretene Schiff zu kontrollieren. Ihre Wahl war auf John Cloud, den ehemaligen Commander der Marsmission gefallen … … eine Position, die auch Scobee zeitweilig inne gehabt hatte. Bis alle Befehlshierarchie hinfällig, sinnlos geworden war … Sie schüttelte den Kopf. Vergangenheit. Vor ihnen lag die Gegenwart – und sie war ein gigantisches Puzzle, dessen Gesamtbild ihnen, den in der Zukunft Gestrandeten, immer noch verborgen blieb. Sie hatten flüchtigen Kontakt mit Vertretern einer galaktischen Allianz gehabt, die sich CLARON nannte und in der Hauptsache aus sechs organischen Mitgliedsvölkern zusammensetzte. Organisch. Bis zur Begegnung mit Darnok, Cy und Algorian hatte sich Scobee nicht einmal in ihren kühnsten Vorstellungen träumen lassen, dass es eines Tages nötig werden könnte, zwischen organischem und anorganischem Leben zu unterscheiden. CLARON tat dies.
8 CLARON hatte Kontakt zu einer intelligenten Spezies, die sich Jay'nac nannte und nicht der herkömmlichen Auffassung – zumindest nicht Scobees Betrachtungsweise – von Leben entsprach. Bei den Jay'nac handelte es sich um Wesen, deren Biologie auf Silizium basierte, nicht auf Kohlenstoff, wie bei den Menschen. Persönlich waren sie den Jay'nac noch niemals begegnet, aber sie hatte zwei ihrer Opfer getroffen: Cy und Algorian. Die beiden waren die einzigen Überlebenden eines von den Jay'nac angegriffenen und zerstörten Raumschiffs, das sich eigentlich um bleibenden Frieden mit den Anorganischen bemüht hatte. Stattdessen waren die Botschafter des CLARON einem unerhörten Komplott auf die Schliche gekommen. Die Jay'nac drohten nicht nur, in den offenen Krieg gegen die Menschen dieser Zeit – die Erinjij – zu treten. Sie beabsichtigten offenbar auch eine schleichende Unterwanderung von CLARON, indem sie versuchten, geklonte Doppelgänger der jetzigen Regenten in die Allianz einzuschleusen … und gegen die Originale auszutauschen. Dass dies den Tod der wahren Regenten bedeutet hätte, war ein beinahe nebensächliches Faktum, wenn man die Folgen bedachte, die eine solch heimliche Kontrolle des Bundes organischer Völker durch die intriganten Jay'nac mit sich gebracht hätten. Darnok jedenfalls hatte sich bereit erklärt, Cy und Algorian mit seinem Karnut zur Schlüsselwelt der Allianz zu bringen. Quasi als Abschiedgeschenk hatte er Scobee und Cloud die Koordinaten überlassen, die es ihnen ermöglichten, zum heimischen Sonnensystem zurückzukehren. Cloud hatte die Daten mit der KI der RUBIKON abgeglichen – und scheinbar mühelos hatte das Artefakt sie für sich übersetzt. Nachdem sich die Oortsche Wolke – die Wiege von Milliarden Kometen – beinahe als vorzeitige Endstation entpuppt hätte, war es ihnen schließlich doch noch gelungen, diesen von den Menschen kontrollierten »Wall« um das Sonnensystem zu durchbre-
Manfred Weinland chen. Seitdem kreuzte die RUBIKON mehr als vier Milliarden Kilometer von der Position entfernt, an der sich die Erde hätte drehen sollen. Aber die Erde – war verschwunden.
* »Sie kann nicht verschwunden sein!« »Du meinst, du wünschst dir, dass sie es nicht sein kann.« Der Mann, der sie über Lichtjahr- und Zeitabgründe hinweg begleitet hatte, war seit vielen Tagen der einzige Mensch überhaupt in ihrer Nähe. Nur sie und er waren geblieben, denn noch bevor Darnok gegangen war, hatten sie das Verschwinden von Resnick und Jarvis beklagen müssen. Zwei Klone wie sie, Scobee. Beinahe jedenfalls wie sie … Das Schicksal der Gefährten, die an Bord der neuen RUBIKON verschollen waren, war immer noch ungeklärt. Wenn es auch Anhaltspunkte dafür gab, dass sich ihre Spur in einem Raum voller Kapseln verlor, bei denen es sich um Transportmittel unbekannter Funktionsweise handeln konnte. Bewiesen war nichts. Resnick und Jarvis konnten ebenso gut – oder schlecht – längst tot sein. Oder irgendwo an Bord gefangen … Oder aus dem Schiff heraus entführt … Diese Ungewissheit war umso tragischer, seit feststand, dass die beiden an einem genetischen Defekt litten, der über kurz oder lang ihr Ende herbeiführen würde. Falls sie noch lebten. »Es macht keinen Sinn«, beharrte Scobee. Sie befanden sich in ihrer Kabine, die Cloud für sie erstellt hatte. Indem er seine Befehlsgewalt über die RUBIKON in einer Weise benutzt hatte, die Scobee fast eine Gänsehaut bescherte, wann immer sie daran dachte. Der Raum, in dem sie sich befanden, hatte so zuvor nicht existiert. Aber vom Kontrollsitz in der Zentrale aus hatte Cloud offenbar
Hinter dem Schattenschirm mit Akzeptanz der KI in die innere Struktur der zentralenahen Bereiche eingegriffen. Er hatte Wände versetzt und schlichtes Mobiliar geformt. Es war ihm sogar gelungen, ein Badezimmer zu erschaffen. Seither gab es Toiletten an Bord und etwas, das einer irdischen Dusche zumindest ähnelte. Aus dem »Brausekopf« an der Decke strömte jedenfalls wohl temperiertes Wasser. Wasser hatten sie sich also auf der RUBIKON erschließen können, Nahrung nicht. Was das anging, waren sie immer noch auf die Konzentratpakete angewiesen, die ihnen Darnok hinterlassen hatte. Und die irgendwann in den nächsten Tagen zur Neige gehen würden. Dies wäre kein Problem gewesen, wenn sich der Keelon zum vereinbarten Zeitpunkt am vereinbarten Treffpunkt nahe Pluto eingefunden hätte. Aber Darnok war nun schon seit zwei Tagen überfällig. Es gab nicht die geringste Spur von ihm, und nicht nur Scobee machte sich Vorwürfe, ihn mit den beiden Außerirdischen gehen gelassen zu haben. Sie hatten freundlich gewirkt – aber zugleich auch so fremdartig, dass es ebenso gut ihre erbittertsten Feinde sein könnten. »Was macht schon Sinn?«, erwiderte Cloud. »Dass wir von einem Wurmloch aufgesogen, von einem Keelon in die ferne Zukunft entführt wurden und uns seither mit den Untaten der Menschen dieses Zeitalters konfrontiert sehen?« »All dies glauben wir doch letztlich nur zu wissen, oder?«, meldete Scobee ihre Skepsis an, die in den vergangenen Tagen gehörig gewachsen war. »Wie meinst du das?« »Bei allem, was wir vermeintlich über die ach so brutal expandierende Menschheit wissen, verlassen wir uns doch bislang nur auf Dinge, die uns andere erzählen, oder? Nichtmenschen!« »Du meinst, nichts von dem, was Darnok, was Cy und Algorian über die Erinjij berichtet haben, müsse wahr sein? Das ist nicht dein Ernst!«
9 »Absolut«, erwiderte sie fest. »Wir haben die irdischen Schiffe gesehen. Sie haben selbst uns, die wir Menschen sind, unter Feuer genommen. Schon kurz nach unserer Wurmlochpassage.« »Es waren Schiffe, die aussahen, als seien sie von Menschenhand erbaut worden. Meinetwegen trugen sie sogar irdische Schriftzeichen auf ihren Außenhüllen. Aber wir haben bis heute keinen einzigen Menschen gesehen oder gesprochen, der beweisen würde, dass diese Fahrzeuge auch tatsächlich mit Menschen besetzt sind.« »Das ist eine mehr als fragwürdige These.« »Das sehe ich anders.« »Und was hat das mit der verschwundenen Erde zu tun? Seit unserer Ankunft scannen wir das System. Alle Planeten sind mühelos sowohl über das optische System als auch über die Fernortung zu ermitteln – selbst das, was aus Jupiter geworden ist, lässt sich erkennen. Als Verwerfung in der Raumzeit. Aber die Erde …« »Wenigstens der Mond müsste zu orten sein«, hieb Scobee in die gleiche Kerbe. »Aber Luna ist ebenso verschwunden wie der Planet, auf dem wir geboren wurden.« Er legte den Kopf schief. Obwohl er es vermeiden wollte, konnte sie mühelos in seinem Gesichtsausdruck lesen. Das Wort »geboren« hatte ihn gestört. Er unterscheidet also immer noch, dachte sie enttäuscht. Er sieht mich immer noch als ein Produkt, als ein in irgendwelchen Labors entstandenes Wesen. Das Wort »geboren« ist ihm suspekt – zumindest in Zusammenhang mit mir … Sie hoffte, dass sie sich täuschte. Aber sie wusste, dass Cloud Probleme mit Klonen hatte. Aus irgendeinem Grund konnte oder wollte er sie nicht akzeptieren. Hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Du hast ihm erst wieder neue Nahrung für Misstrauen geliefert. Deine Beichte ist nicht spurlos an ihm abgeprallt. Was erwartest du? »Ja, was erwarte ich?«, murmelte Scobee.
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»Bitte?« Cloud zog die Augenbrauen zusammen. »Nichts. Was können wir tun? Wir wollten zur Erde – auch wenn es die Erde einer uns fremden Zukunft ist. Aber alles, was wir geschafft haben, ist, ins Sonnensystem zurückzukehren. Das zweifellos komplett erschlossen ist. Von Menschen.« »Hast du einen gesehen?« Sie verneinte. »Aber wir empfangen ihre Sendungen. Der Äther ist voller Nachrichten!« »Von denen sich keine zur Erde zurückverfolgen lässt«, bekräftigte er noch einmal. »Machen wir uns also mit dem Gedanken vertraut, dass sie nicht mehr existiert. Es mag noch Menschen geben. Sie mögen das Sonnensystem besiedelt haben – aber es sind andere Menschen als wir es erwartet haben. Marsgeborene, Venusgeborene, Titangeborene … Wo immer ihr Zuhause in diesem System liegt, sie haben offenbar dasselbe verloren wie wir. Die echte Heimat. Dort, wo alles begann …«
* Scobee hatte ihren Gefährten noch nie so fatalistisch reden hören. »Ich glaube es trotzdem nicht«, sagte sie. »Erinnere dich: Als wir auf dem Mars waren, damals vor was weiß ich wie vielen Jahren, schleusten die Äskulap-Schiffe ein Heer von Sonden aus, hinter denen die Erde wie hinter einem Schattenfeld verschwand. Das war unser letzter Eindruck. Danach brach auch jede Funkverbindung ab. Aber zuvor waren die Äskulap-Schiffe auf ihr gelandet … Was machte das für einen Sinn, wenn das Schattenfeld ein Anzeichen von Vernichtung gewesen wäre? Sie wären doch niemals gelandet, um sich selbst mit ins Verderben zu reißen.« »Die Äskulap-Schiffe waren nicht mit Besatzungen bemannt, wie wir sie erwarten würden«, erinnerte Cloud. »In dem, das wir gekapert haben, befand sich doch nur ein einziges Wesen – eine Art Roboter. Zumin-
dest haben wir das damals geglaubt.« »Damals?« »Nun, nach allem, was wir über außerirdisches Leben in der Galaxis erfahren haben, könnte es sich ebenso gut um ein Lebewesen bis dahin unbekannter Ausprägung gehandelt haben. Um einen Jay'nac beispielsweise.« »Du meinst, die Jay'nac stecken hinter der Invasion, die 2041 stattgefunden hat?« »Ich halte es für nicht ausgeschlossen.« Sie dachte darüber nach. »Du meinst, sie könnten den Grund, den sie offiziell nennen, um gegen die Erinjij vorzugehen, selbst geschaffen haben?« »Es würde zu dem Komplott passen, das sie in diesem Augenblick gegen die Allianz der Organischen schmieden.« »Dann wären die Menschen ihre Opfer – oder Werkzeuge.« »Beides«, sagte er. »Sie könnten beides sein.« »Aber dann macht es noch weniger Sinn, dass die Erde nicht mehr existiert.« Er erhob sich von dem »Möbel«, das er aus dem Stahl des Schiffes geformt hatte. Eines von wenigen, die sich in der spartanisch eingerichteten Kabine befand. »Was hast du vor?« »Ich werde mir die Sache noch einmal vornehmen. Wieder und wieder«, entgegnete er und setzte sich in Bewegung. »Irgendwo da draußen gibt es eine Stecknadel. Ich werde den Heuhaufen so lange durchforsten, bis ich sie gefunden habe!« »Zwei«, erwiderte Scobee. Er blieb stehen. »Zwei?« »Halte bei der Gelegenheit auch Ausschau nach dem Mond. Wenn der noch da ist, ist es sicherlich auch die Erde …« Cloud zögerte kurz, dann nickte er. »Ja«, sagte er. »Wenn …« Zuversichtlich klang es nicht.
2. Wann immer Scobee die Karte aufrief, löste der Anblick des 3D-Modells ungläubi-
Hinter dem Schattenschirm ges Staunen in ihr aus. Der Sockel des Hologramms, das sich vor ihr aufblähte, war ein münzgroßer Gegenstand, den der Keelon ihnen vor seinem Weggang überlassen hatte. Das Speichermodul bestand aus einem unbekannten Kunststoff und war mit – gleichfalls unbekannten – Hieroglyphen verziert. Symbole, die in Wirklichkeit Schalter waren, über die der Inhalt des Moduls verfügbar gemacht werden konnte. Die »Münze« enthielt nicht nur ein Aufrissmodell der RUBIKON II, das Darnok mit Hilfe seiner Nanosonden erstellt hatte – noch bedeutender waren die Daten, die ihnen der Keelon bezüglich ihrer verlorenen Heimat hinterlassen hatte: die Koordinaten des irdischen Sonnensystems, das die RUBIKON mittlerweile, nach dem Durchbruch der Oortschen Wolke, erreicht hatte. Das Sonnensystem, dachte Scobee, aber nicht die Erde. Die Erde war ferner denn je, und die Zweifel, ob sie überhaupt noch existierte, wuchsen von Stunde zu Stunde. Alle Versuche, sie auf Höhe ihrer früheren Bahn ausfindig zu machen, waren bislang gescheitert. Da war – nichts! Zumindest scheinbar nichts. Selbst der Mond war verschwunden. »Ich beginne jetzt.« Johns Stimme drang aus dem winzigen Lautsprecher ihres Anzugkragens. Er war nicht nur der Einzige, den SESHA akzeptiert hatte. Er war vor allem der Einzige, dem das Schiff gehorchte. Seit er dessen Willen gebrochen hatte. »Viel Glück!« Sie widmete sich wieder dem Modell. Während Cloud eine weitere Schicht im »Sarkophag-Sitz« einlegte, einem von sieben Steuerplätzen innerhalb der Bordzentrale. Wenn er nicht gerade schlief, hielt er sich fast ununterbrochen dort auf und suchte nach Spuren Darnoks und der Erde. Und komplettierte den Wissensstand, den sie bislang über die Verhältnisse im Sonnensystem gewonnen hatten.
11 Es war vollständig erschlossen. Überall herrschte reger Schiffsverkehr. Auf den meisten Planeten und größeren Monden existierten Siedlungen oder Basen. Aber dieses Bild war nicht stimmig. Es erklärte nicht das Expansionsbestreben der Erinjij, der Menschen, die in der gesamten Milchstraße wegen ihrer brutalen Eroberungspolitik gefürchtet waren. Wofür annektierten sie ferne Welten? Wofür und für wen? Wo waren all die Menschen, denen es nach neuem Lebensraum verlangte? Es gab keine Erde, die bevölkerungstechnisch aus allen Nähten platzte. Es gab vielleicht überhaupt keine Erde mehr … Seit der Rückkehr an den Ort, an dem sie sich Antworten auf diese und andere Fragen erhofft hatten, waren die Rätsel noch größer geworden. »Danke«, antwortete Cloud auf ihre guten Wünsche und schaltete ab. Scobee sah förmlich vor sich, wie er sich auf einem der sieben Sitze niederließ, die dem Anschein nach für Humanoide gebaut worden waren, und wie sich die »Schale« um ihn schloss. Sie entzog ihn den Blicken anderer, sorgte aber dafür, dass er Teil des Schiffes wurde. In einem Ausmaß, das die Möglichkeiten und Pflichten eines Piloten oder Kommandanten weit überstieg. Cloud hatte es so beschrieben, dass er mit dem Schiff verschmolz. Dass sein Geist die verschiedenen Sektionen durchwanderte, mit der KI kommunizierte und … und … und … Für Scobee war und blieb das innige Verhältnis ihres Schicksalsgefährten mit dem Artefakt schwer vorstellbar und noch schwerer nachvollziehbar. Während er den Raum um die RUBIKON herum absuchte, beschäftigte sie selbst sich lieber mit der Karte. Darnok hatte das 3D-Modell so genannt, aber es war viel mehr. Vor allem aber behauptete es, dass die RUBIKON nicht einfach nur ein Raumschiff mit der überschaubaren Länge von rund 250 Metern, einer Breite von gut 300 Metern und einer maximalen Dicke von zirka 60 Metern war …
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Manfred Weinland
Sondern eine Stadt!, dachte die genetisch optimierte Frau.
* Es war der pure Aberwitz, denn glaubte man den Daten der Nanosonden, auf denen diese holografische Darstellung basierte, musste die RUBIKON in Wirklichkeit mindestens zehnmal so groß sein, wie sie immer angenommen hatten. Wie war das möglich? War es überhaupt möglich? Welche Nuss hatte Darnok ihnen da zum Knacken überlassen? Die »Münze« lag auf dem Boden von Scobees Kabine. Darüber hatte sich das dreidimensionale Modell eines Objektes entfaltet, das entfernt an einen irdischen Rochen erinnerte. Die Grundform war einem Manta sehr ähnlich, allerdings war vieles stilisiert und modifiziert. Es gab keine »Augen« oder dergleichen. Es gab nur glatten, dunklen Stahl unbekannter Legierung. Und ein ebenso unbekanntes Antriebssystem, das wahlweise unter- oder überlichtschnell war. Während der Reise zum Sonnensystem hatte Scobee die Sterne am Schiff vorbeiziehen sehen – mit unglaublicher Geschwindigkeit –, ohne dass sie dazu in ein anderes Kontinuum oder sonst wie geartetes Medium übergewechselt wären. Jedenfalls hatte dieser Übergang nicht merklich stattgefunden. Das Prinzip der Rochenbewegung war ihnen immer noch fremd. Auch Darnok hatte nichts zur Enträtselung beitragen können, obwohl er über ausreichende Erfahrung in ÜL-Antrieben verfügte. Scobees momentanes Interesse galt jedoch weniger dem Antrieb als vielmehr dem Aufbau des unmöglichen Schiffes, das innen um ein Beträchtliches größer zu sein schien, als es von außen erkennbar war. Die Karte war während des Ausfalls der Portale entstanden. Diese Transmitter ermöglichten es im Normalfall, fast ohne Zeit-
verlust von einem Ort innerhalb der RUBIKON zum anderen zu gelangen. Auf diese Weise war die wahre Größe des Schiffes zunächst auch nicht aufgefallen. Erst die Nanosonden, die Darnok durch das Ganglabyrinth geschickt hatte, brachten etwas Licht ins Dunkel des inneren Aufbaus. Das Resultat sah Scobee vor sich. Ein in weit über hundert Decks aufgeteiltes Gebilde, dessen einzelne Ebenen sich über eine Länge von mindestens zweieinhalb Kilometer und eine Breite von bis zu drei Kilometern erstreckten. Womit die RUBIKON das Prädikat Raumstadt eher verdient hätte als Raumschiff. Aber das war noch längst nicht alles. Eine erst kürzlich gemachte Entdeckung ermöglichte es Scobee, die RUBIKON über ihre gesamten Ausmaße zu durchwandern und zu erkunden, ohne auch nur einen einzigen Schritt vor ihre Kabine zu setzen. Darnok hatte ein paar nette Ergänzungen in seine Karte eingebaut. Typisch für den Keelon, dass er sie nicht erläutert, sondern sich darauf verlassen hatte, dass Scobee oder Cloud sie durch Zufall entdeckten. So war es dann auch geschehen. Vorsichtig tauchte Scobee, wie in den letzten Tagen schon oft geschehen, mit ihrem rechten Arm in das Hologramm ein und berührte mit der Spitze ihres ausgestreckten Zeigefingers eine bestimmte Stelle. Es gab keinen fühlbaren Widerstand, und doch … sobald der Finger zur Ruhe kam, registrierte das Hologramm, worauf Scobee zeigte. Und im selben Moment begann der Film abzulaufen.
* Es war, als würde sie selbst durch Gänge hasten. Sie machte den Flug der Nanosonde mit, als wäre sie ein mikroskopisch kleiner Passagier.
Hinter dem Schattenschirm Es war hell. Nur die Farbtöne des Lichts wechselten sich von Gangzone zu Gangzone ab. Und überall waren Durchlässe, türlose Rahmen, Abzweigungen. Die Geschwindigkeit der Sonde entsprach ungefähr der eines schnell gehenden Menschen. Das Sichtfeld umfasste 180 Grad. Scobee blickte in das Fenster, das sich innerhalb des Hologramms geöffnet hatte und genoss die Führung durch das rätselhafte Schiff, das zwar von den Vaaren bewacht worden war, aber nicht von ihnen erbaut zu sein schien. Zumindest nicht von den heute lebenden und den Aqua-Kubus beherrschenden Vaaren. Es besaß entfernte Ähnlichkeit mit den für den Einsatz »unter Wasser« ausgelegten Jadeschiffen, von denen Scobee bezweifelte, dass sie überhaupt imstande gewesen wären, im freien Weltraum zu manövrieren. Dabei war es aber eher so, dass die Jadeschiffe nach SESHAs Vorbild konstruiert worden waren – und nicht umgekehrt. Die Jadeschiffe wirkten wie eine vereinfachte Variante dieser Vorgabe. Wer hatte die RUBIKON einst im Zentrum des Kubus zurückgelassen und die Vaaren dazu veranlasst, das Artefakt durch eine Art Religion vor jeglichem Zugriff zu schützen? Waren die Sieben Hirten die Erbauer? Und wenn ja, welcher Spezies mochten sie angehört haben? An Bord der RUBIKON deutete nichts auf wasseratmende Geschöpfe hin, wie sonst allerorten im Kubus. Scobee dachte an die grob eingelassenen Züge auf der Oberfläche der Sarkophag-Schale, hinter der Cloud verschwand, sobald er sich mit der Schiffs-KI verband. Diese Mimik gehörte mit Sicherheit keinem Menschen, war aber auch nicht so fremdartig wie die Physiognomie eines Keelon, Aorii oder Aurigen. Immerhin gab es ein Gesicht. Aber dieses Gesicht strahlte so viel Fremdheit und Schrecken aus, dass Scobee hoffte, niemals einem lebenden Vertreter dieser Gattung zu begegnen. Weder hier an
13 Bord noch sonst wo in den Weiten des Alls. Bereich um Bereich des beliebig ausgewählten Ganges erforschte Scobee. Sie warf Blicke in Räume, in die auch die Sonde kurz gespäht hatte. Und auch wenn alle Eindrücke flüchtig blieben, halfen diese Ausflüge ihr doch, sich ein klareres Bild der RUBIKON zu verschaffen. Auch Cloud hatte diesen Weg des Erkundens ein-, zweimal beschritten, sich dann aber wieder auf die Möglichkeiten besonnen, welche sich aus der Verschmelzung mit der Schiffs-KI ergaben. Wenngleich er immer wieder das Gefühl hatte, dass ihm dabei Bereiche des Schiffes vorenthalten wurden. »Blinde Sektoren« nannte er sie. Und in einem dieser Blindsektoren bewegte sich Scobee gerade – und machte eine Entdeckung, die alles in Gefahr brachte. Alles. Nicht nur ihre eigene Zukunft – auch die John Clouds – auf diesem Schiff …
3. Das andere Schiff kam wie aus dem Nichts, war plötzlich da. So nah – scheinbar so nah –, dass Cloud einen Moment lang fürchtete, mit ihm zu kollidieren. Sie sehen uns, dachte Cloud. Sie starren zu uns herein. Es war nur eine kurze Anwandlung. Dann war der Erdraumer vorbei. Aus dem Schatten des Pluto kommend, jagte er mit irrwitziger Beschleunigung an der RUBIKON vorbei in Richtung auf den Kuiper-Gürtel und die Oortsche Wolke. »Beruhige dich«, wisperte das Schiff. »Es bestand keine Gefahr. Ihre Ortung kann uns nicht erfassen. Ich habe den Schmiegschirm modifiziert – unter Berücksichtigung der Erkenntnisse, die wir bei den zurückliegenden Angriffen gewonnen haben. Sämtliche Taststrahlen werden jetzt um uns herumgelenkt. Selbst optisch sind wir nicht mehr zu erfassen.« Wie die Erde, dachte Cloud.
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Manfred Weinland
Er nahm den Dialog mit der KI der RUBIKON wieder auf. Lautlos formten seine Lippen: »Immer noch kein Anzeichen von Darnok und dem Karnut?« »Nein.« »Nicht die kleinste Spur?« »Nichts.« Die Stimme des Schiffes durchströmte Cloud wie ein Hauch unendlicher Fremde. Er spürte, wie er sich innerlich verkrampfte. Er hatte gehofft, es würde sich ändern. Es würde besser, je häufiger er sich auf das Artefakt einließ. Aber dies erwies sich als Illusion. Das rochenförmige Gebilde, das sie im Zentrum einer Vakuumkugel mit einer Lichtsekunde Durchmesser entdeckt hatten, hatte ihn vorübergehend im Glauben bestärkt, er könne es beherrschen. Aber dem war nicht so. Es beherrschte ihn. Er hatte bislang noch nicht mit Scobee darüber gesprochen, aber jedes Mal, wenn er sich aus dem Sarkophag-Sitz löste, fühlte er sich regelrecht missbraucht. Als hätte ihn jemand oder etwas zu Taten genötigt, die er bei klarem Verstand und im Vollbesitz seines Willens niemals aus eigenem Antrieb begangen hätte. Was für ein Wahnsinn!, dachte er. Aber der wahre Irrsinn hatte schon viel früher begonnen. Mit Verlassen der Erde. Mit der Schwarzen Flut … und mit Jupiter, dem Planeten, der sich zuerst zu einem Schwarzen Loch verdichtet hatte und dann zum Tor, aus dem eine ganze Armada außerirdischer Raumschiffe gedrungen war. (siehe Bad Earth Band 1: »Armageddon«) Irgendwann löste er sich aus der Umklammerung des Sitzes. Der Panzer, der ihn körperlich von seiner Umgebung abschottete, verschwand. Vor ihm stand Scobee. Sie wirkte völlig aufgelöst. »Ich muss dir etwas zeigen!«, empfing sie ihn fast außer sich. »Du ahnst nicht, was …«
*
Er begleitete sie aus der Zentrale heraus. Im direkten Anschluss lagen die beiden Kabinen, die er ihren Bedürfnissen angepasst hatte – so weit es die von Cloud entdeckte Morphing-Fähigkeit des Stahls zugelassen hatte. Und die nach wie vor vorhandene Einflussnahme der Schiffs-KI. In Scobees Kabine erwartete ihn die aktivierte 3D-Simulation des RUBIKON-Inneren. Sie nahm etwa anderthalb Meter in der Breite und knapp über einen Meter in der Länge ein. »Was hast du entdeckt?«, fragte er die Frau mit dem schulterlangen, glatt fallenden, schwarz-violetten Haar. Scobee ging ohne Umschweife auf das holografische Modell zu und aktivierte die Filmsequenz, die eine der Nanosonden beim Kartographieren aufgezeichnet hatte. Wenig später begleitete auch Cloud deren Flug durch einen der zahlreichen Schiffskorridore. Ein Bereich innerhalb des Raumschiffs, der in der hinteren, unteren Hälfte lag. Cloud wusste nicht, warum er ausgerechnet in diesem Moment an die Cheopspyramide denken musste. Aber der Vergleich sollte sich als passend erweisen. »Achtung«, warnte Scobee vor. Dann endete die Eintönigkeit der Korridore jäh, und der Schläfer geriet ins Bild …
* Das Ganze dauerte nur einen Sekundenbruchteil – dann war die Sonde an der Nische vorbei, in der sich die Konturen eines Geschöpfes abzeichneten wie in Bernstein gegossen. Cloud stieß einen Pfiff aus, der ihm gar nicht bewusst wurde. »Kannst du das anhalten und noch mal zurückspulen?«, fragte er. »Bedaure. So weit bin ich noch nicht geübt im Umgang mit Keelon-Technik. Ich bin schon froh, dass ich es starten kann. Es hört
Hinter dem Schattenschirm jedes Mal von allein auf, wenn das Ende der Sequenz erreicht ist. Wenn du es noch mal sehen willst, müssen wir ganz von vorne starten.« Cloud schüttelte den Kopf. Trotz der Kürze der Wahrnehmung, hatte sich der Anblick förmlich in sein Gehirn gebrannt. Ein Humanoider. Über seine Größe ließ sich ohne Vergleichsmöglichkeit wenig sagen, aber er war nackt gewesen, haarlos, und seine Haut hatte fest gewirkt, fast wie gepanzert. Sein Schädel einschließlich dem Gesicht war knöchern … Cloud holte tief Luft. »Es ist also wahr«, murmelte er. »Wahr?«, echote Scobee. »Sie sind immer noch da. Die Herren der RUBIKON … Die Erbauer des Artefakts … Sie befinden sich an Bord, und wenn wir nicht gerade ein Grab gesehen haben, dann …« »Er – oder sie? Ich vermag keine eindeutigen, geschlechtsspezifischen Merkmale zu entdecken. Also … Es schläft nur, da bin ich mir sicher«, sagte Scobee. »Ich habe die Sequenz dreimal wiederholt. Einmal habe ich sogar eine Bewegung erkannt, glaube ich.« »Das Bild war erstaunlich scharf«, bestätigte Cloud. »Details sind durchaus erkennbar. Allerdings …« »Ja?« »… sollten wir unsere Erwartungen ein wenig herunterschrauben. Es wäre mehr als fantastisch, wenn sich die Hirten wirklich an Bord befänden, noch dazu lebend.« »Und schlafend.« »Wie auch immer.« Cloud trat einen Schritt vom Modell zurück. Er blickte Scobee ernst in die Augen. »Glaubst du, wir finden diesen Abschnitt, wenn wir uns an den Holoangaben orientieren?« »Ich hatte gehofft, dass du das fragst.« Er lächelte. »Und?« »Ich bin entschlossen, es zu versuchen.« Er schüttelte den Kopf. »Wir«, korrigierte er sie ruhig. »Wir werden es versuchen. Ich habe es satt, nach Dingen zu suchen, die ent-
15 weder nicht da oder unsichtbar sind … oder nach Außerirdischen, die sich verspäten.« Seine Verweise auf die Erde und auf Darnok waren unmissverständlich. »Sehen wir also zur Abwechslung mal nach etwas, das da ist – und nur darauf wartet, entdeckt zu werden.« »Oder … erweckt«, sagte Scobee. Erst in diesem Moment dämmerte es Cloud, dass dieser Fund mehr als einen Aspekt besaß. Einen möglichen Hirten zu finden, war eine Sache – ein solches Wesen von unabsehbarer Machtfülle eventuell sogar ins Bewusstsein zurückzuholen, eine völlig andere …
* »Handeln wir klug?«, murmelte Cloud. Scobee blieb stehen, blickte ihn verwirrt an. »Wir handeln. Ist das nicht auch schon ein gewisser Fortschritt gegenüber unserer ersten Phase?« »Erste Phase?« »Als wir Darnoks Willkür noch völlig ausgeliefert waren.« »Vielleicht. Aber …« »Hölle, John!«, stieß Scobee hervor. »Ich weiß auch, dass es ein Risiko bedeutet! Jeder verdammte Schritt auf diesem Kahn bedeutet ein Risiko. Aber nichts über ihn zu wissen – nicht, was wirklich unter der Oberfläche steckt –, wird auf Dauer mindestens ebenso gefährlich sein. Du fliegst dieses Ding, steuerst es im Verbund mit einer Rechnereinheit, über die wir letztlich ebenso wenig wissen wie über jedes andere Ding an Bord. Wir kennen nicht einmal die einstige Bedeutung dieses Schiffs. Es kann ein Kriegsschiff oder eine Arche sein. Vielleicht ist es auch die letzte Zuflucht einer zum Untergang verfluchten Zivilisation. Es kann alles sein. Die ganze Zeit sind wir davon ausgegangen, dass es verlassen ist. Jetzt haben wir ein Bild gesehen, das das Gegenteil aussagt. Aber nicht einmal das muss stimmen. Hier an Bord gab es schon andere Vorfälle,
16 die sich ohne ins Absurde abzuschweifen als Katz-und-Maus-Spiel interpretieren ließen. Ich gebe zu: Ich habe nicht dieses Urvertrauen in den Kahn, das dich offenbar auszeichnet. Ich misstraue jedem Quadratzoll hier. Dieses Ding will mich nicht. Es mag dich wollen, aber mich? Nein!« »Das bildest du dir ein.« »Ich wette, Darnok war froh, als er verschwinden konnte. Und vielleicht ist das ja auch der Grund, weshalb er nicht wie vereinbart erschienen ist.« »Du meinst, er will kein Wiedersehen?« »Wäre das so abwegig?« »Ja.« Er sagte es im Brustton der Überzeugung, die er auch empfand. Achselzuckend erwiderte sie: »Lass uns weitergehen.« Schweigend setzte sie ihren Weg fort. Die RUBIKON war zum einen getarnt, zum anderen nicht wehrlos, auch wenn Cloud den Kommandositz nicht belegte. Die KI wachte über die Umgebung des Rochenschiffs, registrierte jede Veränderung. Und wenn sie es für begründet hielt, würde sie Alarm schlagen. Würde sie? Wenn der entdeckte Humanoide tatsächlich ein Mitglied der einstigen Besatzung war und nur schlief, nicht tot war, warum hatte sie ihn dann nicht längst geweckt? Warum hatte sie das Schiff stattdessen in die Hände eines völlig fremden Menschen gelegt, den sie als autorisiert bewertete? Vielleicht werden wir es nie erfahren, dachte Cloud, weil wir vorher sterben. Aber tief im Innern glaubte er nicht daran. Er glaubte an Schicksal und den Sinn des Lebens. Wenn sie hätten sterben sollen, wäre dies schon viel früher geschehen! Er lachte über sich selbst. Die Philosophie, an die er sich klammerte, war mehr als dürftig. Zwei Stunden später und drei Decks tiefer erreichten sie die Stelle, die ihnen die Aufzeichnung der Nanosonde gezeigt hatte. Und diese Stelle war … leer.
Manfred Weinland
* »Wir müssen falsch gelaufen sein!«, behauptete Cloud. »Irgendwo ist uns ein Fehler passiert!« Niemals, dachte Scobee. Sie hatte sich den Weg exakt eingeprägt, und auf ihr Gedächtnis war Verlass. »Die einzige Möglichkeit, die ich sehe«, sagte sie, »ist, dass die Karte einen Fehler aufweist.« »Dann hätte Darnok gepfuscht.« Cloud stand vor der Nische, die genau wie jene aussah, die sie im Film entdeckt hatten. Nur gab es keinen bernsteinartigen Block darin, geschweige denn ein außerirdisches, entfernt menschenähnliches Wesen. »Und das halte ich für wenig wahrscheinlich«, fügte er hinzu. »Bei seiner Sorgfalt …« Scobee trat neben ihn, besah sich die vakante Nische ebenfalls. »Wenn es wenigstens irgendwo auf diesem Schiff auch nur die Andeutung von Staub gäbe, dann könnten wir sehen, ob hier eine staubfreie Stelle ist, die sich von der Umgebung unterscheidet.« Er begriff, worauf sie hinaus wollte. »Du hältst es für möglich, dass der Block mit dem Schläfer entfernt wurde?« »An Bord dieses Dings halte ich alles für möglich.« »Eines Tages wird es dir deine Äußerungen übel nehmen.« »Auf diesen Tag warte ich. Dann zeigt es endlich sein wahres Gesicht.« Cloud wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment geschah es. Scobee spürte einen Luftzug – zumindest meinte sie, ihn zu spüren –, und als sie sich umdrehte … »Bei allen Sternen!«, keuchte sie. Cloud folgte ihrem Blick – und erstarrte. »Das ist er!«, keuchte Scobee. »Das ist der Kerl aus dem Bernstein!« Er stand wenige Schritte von ihnen entfernt. Setzte sich dann in Bewegung und nä-
Hinter dem Schattenschirm herte sich. »Vorradjeskko«, sagte der Fremde.
* »Seid demütig«, wiederholte das Wesen. Die dünne braune Membran in seinem knöchernen Gesicht zitterte bei jedem Wort wie die Bespannung eines altmodischen Lautsprechers. »Demütig?« Cloud merkte kaum, wie ihm die Frage über die Lippen rann. Er registrierte nur, dass Scobees Kopf jäh herumruckte. Sie starrte ihn plötzlich ebenso erschreckt an, wie sie es gerade noch bei dem Außerirdischen getan hatte. Dieser überragte sie beide um etwa einen halben Meter. Sein Schädel war ebenfalls größer als der Kopf eines Menschen – fast doppelt so groß, dabei völlig haarlos und von der Form her irgendwie zu flach. Seine Haut war so dünn, dass man sie kaum erkennen konnte. Das, was Cloud im Bild von Darnoks Karte für besonders dicke Haut gehalten hatte, war schon die Knochenstruktur. Der Körper wirkte nicht mehr nackt. Stattdessen wurde er ungefähr ab der Körpermitte bis nach unten von einem ständigen Gewimmel aus das Umgebungslicht absorbierenden Teilchen bedeckt. Die Natur dieser Partikel blieb unergründlich. Sie huschten wie schwarze, beinlose Insekten über den Körper des Humanoiden. Vielleicht besaßen sie auch Gliedmaßen, doch die mussten so klein sein, dass sie unsichtbar blieben. Ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, dachte Cloud. »Was hast du gerade gesagt?«, fragte Scobee. »Ich wollte nur wissen, was er unter ›demütig‹ versteht.« Die Gestalt blieb einen knappen Meter von ihnen entfernt stehen. »Demütig? Du sagtest: Jeskko!« Er blickte sie verständnislos an. Nichts anderes hatte er gerade zu ihr gesagt.
17 Jeskko. Demütig. »Ich fürchte …« Ihre Augen weiteten sich, änderten spontan die Farbe. Aus dem üblichen Jadegrün wurde tiefes Schwarz. Cloud hatte das Gefühl, in zwei Löcher zu starren, deren Grund weit hinter den Beschränkungen von Scobees Schädel lag. Ihn fröstelte. Weniger der veränderten Augen wegen als vielmehr unter der Erkenntnis, was sie ihm gerade klarzumachen versuchte. Für einen Moment schien der Boden unter seinen Füßen aufzuweichen. Er machte einen instinktiven Schritt zur Seite, bis er sich wieder in der Gewalt hatte. »Du meinst: Du verstehst nicht, was er sagt?« »Ich höre nur eine Aneinanderreihung von hart akzentuierten Lauten … Die du auch gerade benutzt hast.« »Das ist verrückt.« »Das müsste wohl eher ich sagen …« Er ballte die Hände zu Fäusten und wandte sich dem Wesen zu. Dem Riesen. »Wer bist du?«, fragte Cloud. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Scobee abermals versteifte. Ich habe es wieder getan, dachte er. Ich spreche seine … Sprache. Zur Hölle, wie kann das sein? Und wieso merke ich es nicht einmal? Der Fremde wandte sich jetzt ausschließlich Cloud zu. Und obwohl er keine Augen darin erkennen konnte, wusste er, dass er von der ganzen Fläche dieses »Gesichts« angestarrt wurde. Es besaß Einbuchtungen und Erhebungen, die entfernt – sehr entfernt! – an einen Menschenschädel erinnerten, der komplett mit einer dünnen, knochenfarbenen Haut überzogen war. Die einzige farbliche Abweichung war ein fast kreisrunder, etwa untertellergroßer Fleck in der unteren Kopfhälfte, aus dem die Stimme des Wesens drang. Dieser Fleck wiederum sah aus wie ein über einen Resonanzkörper gespanntes Trommelfell. War es so? Und wenn ja, wie ernährte
18 sich ein solches, mundloses Geschöpf? Diese und andere Fragen schossen Cloud durch den Sinn, als der Fremde antwortete: »Ich bin Sobek.« Das war der Name eines der Hirten! Cloud war dennoch keineswegs so erstaunt, wie er es eigentlich hätte sein müssen. Was ist los mit mir? Vor uns steht eines der Wesen, die von den Vaaren vergöttert wurden, und ich … »Das glaube ich nicht.« In dem Moment, da er es sagte, wurde ihm bewusst, welche Gefahr er durch sein ihm selbst unverständliches Verhalten heraufbeschwor. Sekundenlang stand das Schweigen wie eine Wand zwischen ihnen. Endlich drang etwas aus der Membran des Wesens, das alles bedeuten konnte: Belustigung, Ärger, Unbekümmertheit … Cloud sah sich mit den Grenzen seines Verstehens konfrontiert. »Geht jetzt!«, sagte es. »Was sagt er?«, fragte Scobee. »Wir sollen gehen.« »Rede verständlich mit mir!« Er schloss kurz die Augen, konzentrierte sich, bemühte sich – und wiederholte den Satz. »Danke.« Scobee nickte ihm zu, signalisierte Verständnis für sein Problem. »Warum schickt er uns weg? Wäre das nicht die Gelegenheit, uns in ungezwungener Atmosphäre locker miteinander bekannt zu machen?« Er bewunderte sie für ihre Fähigkeit, in dieser Lage ironisch zu sein. »Er behauptet, Sobek zu sein.« »Sobek …« Scobees tätowierte Augenbrauen hoben sich und zogen sich im nächsten Moment über der Nasenwurzel zusammen. »Das ist derjenige der Hirten, auf dessen Sitz ich schon mal Platz genommen habe …« Obwohl sich Cloud an die Situation, die Scobee ansprach, schwach erinnerte, erschien es ihm nicht der Erwähnung wert. Nicht jetzt, nicht hier. »Du sagtest: ›Er behauptet …‹ Heißt das
Manfred Weinland …?« »Ja. Das heißt, dass ich ihm nicht glaube.« »Warum nicht?« »Darum!« Noch ehe Scobee, noch ehe »Sobek« reagieren konnte, warf sich Cloud einem plötzlichen Impuls folgend nach vorne gegen die Gestalt. Die Arme ausgestreckt, musste die Wucht ausreichen, den vermeintlichen Hirten entweder umzuwerfen oder … Cloud prallte gegen ein Hindernis, das keinen Millimeter nachgab. Aber erst an der Wand hinter »Sobek«, der weiterhin ungerührt dastand, unerschütterlich. »Eine Illusion«, stieß Scobee hervor. »Nur eine … Projektion … Ein Hologramm – oder irgendetwas in der Art …« »Dennoch werdet ihr gehen!«, sagte die Erscheinung in diesem Augenblick und zunächst nur für Cloud verständlich. »Ihr müsst, denn ich habe entschieden. Du hast deinen Zweck erfüllt. Ihr seid nicht länger willkommen!« Erst in diesem Moment dämmerte Cloud, dass der »Hirte« sie nicht einfach nur wieder den Weg zurückschicken wollte, den sie gekommen waren. Sie sollten nicht zurück in den zentralen Bereich der RUBIKON gehen, sondern … »O mein Gott …« Er rieb sich die Handgelenke, die den Aufprall gegen die Wand nicht schmerzlos weggesteckt hatten. »Tut es so weh?«, fragte Scobee. Sie dachte, sein Ausruf beziehe sich auf die Schmerzen. Sie war noch völlig ahnungslos. Langsam ging er zu ihr. Dabei umrundete er »Sobek«, obwohl dieser erwiesenermaßen nicht real vor ihnen stand. »Er sagt, wir müssen gehen.« Er fasste sie am Arm. »Komm!« »Aber …« Kopfschüttelnd unterbrach er sie. »Wenn ich ihn richtig verstanden habe, haben wir ein Problem. Eins, das unter Umständen unseren Tod bedeutet.«
Hinter dem Schattenschirm Sie sah ihn nur an. Und dann wiederholte er, was der Hirte gesagt hatte. »Wir sind hier nicht länger willkommen … Wenn ich das richtig verstehe, will man uns von Bord haben. Oder drastischer formuliert: uns rausschmeißen.«
4. »Dahinter kann nur diese verdammte KI stecken«, fauchte Scobee. »Du hast behauptet, du hättest sie unter Kontrolle. Das dürfte nun wohl hinfällig sein …« Cloud schwieg. Sein Blick glitt zu dem Pseudowesen, das sich nur eine Armlänge von ihnen entfernt manifestiert hatte. Es machte keinen Sinn, darauf loszugehen. Es war nicht real. Nicht in einem Maß jedenfalls, das es greifbar gemacht hätte. Was Cloud schmerzhaft zu spüren bekommen hatte … »Vielleicht hast du es missverstanden.« Er lachte unterdrückt. Dann schüttelte er den Kopf, wandte sich dem vorgeblichen Hirten zu. »Habe ich das? Habe ich dich missverstanden? Ist es kein Rauswurf?« Auch wenn es ihm nicht bewusst wurde, ging er davon aus, dass er auch jetzt wieder jene Sprache benutzte, die er niemals erlernt hatte. Die Sprache, deren bloßer Klang Scobee erneut neben ihm zusammenzucken ließ. Statt einer unmissverständlichen Antwort, sagte das Hologramm: »Kehrt zurück in die Zentrale.« »Was sagt er? Frag ihn, ob er nicht unsere Sprache benutzen kann. Er …« Sie verstummte, als die Erscheinung verschwand. Übergangslos. Das Hologramm war einfach weg – so wie er kurz vorher noch einfach da gewesen war. Ohne zu wissen warum, ging Cloud zu der Stelle, an der »Sobek« gestanden hatte. Was immer er dort zu finden erwartet hatte – es gab nichts. Keine Spur. »Was hat er gesagt?«, wiederholte Scobee ihre Frage. »Spann mich nicht auf die Folter! Wie hast du ihn dazu gebracht, zu verschwinden?«
19 Cloud drehte sich ihr zu. »Er ging von ganz allein«, sagte er. »Nachdem er uns aufgefordert hatte, in die Zentrale zurückzukehren.« »Dann war alles nur ein Irrtum. Du hattest ihn falsch verstanden. Wir …« »Davon hat er nichts gesagt. Ich glaube nicht, dass Grund zur Erleichterung besteht.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin sicher, ihn richtig verstanden zu haben. Lass uns gehen, wir sollten seiner Anweisung folgen!« »Sonst …?« »Ich weiß es nicht.« »Er ist ein Hologramm. Was kann er tun, wenn wir ihn einfach ignorieren?« Cloud lächelte bitter. »Uns umbringen?« »Wie?« »Wenn er mit der Schiffs-KI gekoppelt ist – beziehungsweise eine Manifestation von ihr ist, was ich stark vermute –, dürfte er etliche Möglichkeiten haben. Wenn er großzügig ist, dürfen wir uns unsere Todesart vielleicht sogar aussuchen. Wie wär's mit ersticken, erfrieren, verhungern, verdursten?« »Wir haben Vorräte. Wir haben Luft.« »Aber bestimmt nicht mehr sehr lange, wenn das Schiff es nicht will«, sagte Cloud. »Du hattest Recht, mein Gefühl hat mich getrogen. Die KI hat sich mir niemals wirklich untergeordnet. Ich habe mich maßlos überschätzt. Mich und meine Möglichkeiten …«
* Als sie in die Zentrale zurückkehrten, war es keine wirkliche Überraschung, dort »Sobek« anzutreffen. Er saß auf einem der sieben Kommandositze, ohne dass sich der Panzer um ihn geschlossen hätte. Die Reglosigkeit erinnerte an eine Skulptur, die der Phantasie eines kranken Künstlers entsprungen war. Aber es gab eine Überraschung. Im Raum, den die sieben Sitze umgaben, über dem Rund, das sie säumten, erhob sich etwas, das vorher nicht da gewesen war. Dort schwebte die RUBIKON.
20 Eine RUBIKON, wie er sie selbst während seiner früheren Verschmelzungen mit dem Schiff nie gesehen hatte. Sie war verändert. Sobek kehrte dem dreidimensionalen Bild den Rücken zu. »Kommt!«, drang die dunkle Stimme aus der Kopf membran. »Setzt euch – rechts und links von mir!« »Und wenn nicht?« »Sterbt ihr.« »Du würdest uns eiskalt umbringen? Warum?« »Sei demütig. Ihr lebt schon länger, als ihr es erwarten durftet.« Cloud bezähmte sich mühsam. »Wir wurden von dir an Bord geholt. Wir sind nicht eingebrochen. Wir haben uns nicht …« »Sei demütig. Setzt euch! Ihr werdet sterben, wenn ihr nicht gehorcht. Ich habe die Macht. Bezweifelst du es? Soll ich es dir an ihr demonstrieren?« Für einen Moment stockte die Stimme, und obwohl es für Cloud nicht wirklich erkennbar war, gab es für ihn keinen Zweifel, dass das Holowesen seinen Blick in diesem Moment auf Scobee richtete – die allerdings völlig ahnungslos war. »Nein!«, beeilte sich Cloud zu sagen. »Dann seid demütig! Setzt euch! Ich warte nicht länger.« Cloud wusste, dass es sich um keine leere Drohung handelte. Er spürte es. »Komm!«, wandte er sich an die Frau, die weit und breit das einzig Menschliche war. »Wohin?« Er sagte es ihr. Und machte ihr deutlich, dass ihr Leben vom Gehorsam abhing. Von ihrer bedingungslosen Unterwerfung. Und ihrer Demut … Sie traten auf die Sitze zu, die herumschwangen, kaum dass Cloud und Scobee Platz genommen hatten. Sie drehten sich dem inneren Kreis zu, über dem das Modell des Schiffes schwebte. »Eine kleine Demonstration«, sagte Sobek. »Ihr sollt wissen, was ihr verliert.«
Manfred Weinland Mit diesen Worten zog er in die Schlacht.
* Es wurde immer unwirklicher. Scobee hielt den Atem an. Sie hatten die Zentrale betreten, hatten die Holofigur vorgefunden, wie sie auf einem der Sitze förmlich thronte. John hatte ihr den Willen dieses Wesens übersetzt. Und nun saß sie selbst auf einem der Sarkophag-Kommandoplätze des Rochenschiffes. Jäh drehte er sich mit ihr herum und rückte damit das dreidimensionale Bild der RUBIKON in ihr Blickfeld, das wie eine Säule den Kreis ausfüllte, den die insgesamt sieben Sitze bildeten. Auch dies war ein Hologramm. Es zeigte den äußeren Weltraum und darin eingebettet ein Gebilde, bei dem es sich nur um die RUBIKON handeln konnte – obwohl es ein ins Auge stechendes Detail gab, das sich von der Konstruktion unterschied, wie sie sie im Aqua-Kubus vorgefunden hatten. Dieser Rochen hatte einen Schwanz. Einen Schweif, dem Anschein nach aus demselben Material bestehend, wie der Rest des Schiffes. Dadurch wurde es beinahe doppelt so lang. Umwabert wurde der Fortsatz von energetischen Effekten, die entfernt an das erinnerten, was die Äskulap-Raumer umzüngelt hatte. Aber das war nur eine vage Ähnlichkeit. Diese Energieausbrüche leuchteten rot … Tief rot und düster, als blicke man ins Magmaherz eines Planeten. »Was hat das nun schon wieder zu bedeuten?«, rann es Scobee über die Lippen. Und Cloud, dessen Sitz ebenfalls herumgeschwungen war, antwortete: »Ich weiß es nicht. Sobek spricht von einer – Demonstration.« »Eine Demonstration?« Scobee riss ihren Blick von der RUBIKON los, sah erst zu Cloud, der ihr rechter Hand am nächsten saß, dann zu Sobek, der immer noch statuenhaft unbewegt neben Cloud thronte.
Hinter dem Schattenschirm Eine Furcht einflößende Erscheinung. Hatten so die Hirten ausgesehen? Oder projizierte die Schiffs-KI ein reines Phantasiebild? Daran glaubte Scobee nicht, keine Sekunde. Sie wartete auf Clouds Erwiderung. Doch schon vorher kam Bewegung in das eben noch statische Bild, das sich vor ihnen bis unter die hohe Decke schraubte. Der Weltraum, der die RUBIKON in dieser holografischen Säule umgab, wirkte so real, als hätte sich inmitten des Artefakts ein Loch auf getan. Pluto wurde sichtbar, auch sein Mond Charon, und dahinter sich bewegende Sterne, Lichtpunkte, die ein Muster bildeten, dabei größer wurden, näher kamen – und sich als Raumschiffe entpuppten. Kriegsschiffe der Erinjij …
* Die fliegende Festungen der Menschen traten aus dem Ortungsschatten des Pluto, und es war nicht zu erkennen, ob sie von dort im Orbit gelauert oder von seiner der RUBIKON abgewandten Oberfläche aufgestiegen waren. Cloud saß auf dem Platz, der ihm so vertraut geworden war, dem Platz von dem aus er in den vergangenen Tagen das Rochenschiff immer wieder gelenkt hatte. Gemeinsam mit der KI war es ihm sogar gelungen, es durch den Kometenwall der Oortschen Wolke zu manövrieren. Seither lag ein Laurinschirm um das Schiff, ein Tarnfeld, das es gegnerischen Sensoren unmöglich machte, ihre Position ausfindig zu machen. Wir sind auch optisch unsichtbar, dachte er. Sonst wären wir längst entdeckt worden. Dass die RUBIKON klar erkennbar im Hologramm prangte, machte ihn zunächst nicht misstrauisch, kam ihm nicht verdächtig vor. Doch dann eröffneten die Erdraumer warnungslos das Feuer. Hoch konzentrierte violettfarbene Strahl-
21 bahnen rasten im Hologramm auf die RUBIKON zu und schlugen in den Schmiegschirm ein. Offenbar lichtschnell und aus kürzester Distanz. Die Erschütterung lief wie ein Beben von immenser Stärke durch das Schiff. Cloud war überzeugt, aus dem Sitz geschleudert zu werden. Aber unsichtbare Kräfte hielten ihn fest. Er rutschte nicht einmal andeutungsweise in eine andere Position. Ebenso wenig Scobee. Ebenso wenig – der Hirte! Clouds Fingerspitzen waren plötzlich von Elektrizität umflort. Die Stimme der KI klang in ihm auf. »Notmanöver. Entfernen uns vom Planeten. Gehen auf Mindestdistanz. Kontinuumwaffe lädt.« Kontinuumwaffe? »Sobek!« Der Hirte reagierte nicht auf Clouds Zuruf. Machte es überhaupt Sinn, sich an ihn zu wenden? Wenn er tatsächlich nur eine Projektion der KI war …? In diesem Moment hätte Cloud geschworen, dass der Hirte mehr als nur ein perfektes Holgramm war. Aber er hätte nicht sagen können, woher er diese Überzeugung zog. Ihm blieb auch keine Zeit, nach Indizien für seine These zu suchen. Die RUBIKON, die ebenso wie die Erinjij-Schiffe und der gesamte sie umgebende Weltraum im Hologramm dargestellt wurde, vollführte ein aberwitziges Manöver. Sie nahm Fahrt auf und … Clouds Gedanken stockten, als würden sie dem Permafrost des Weltraums ausgesetzt. Er sah es, aber er war außerstande es zu glauben. Zu glauben, wie sich die RUBIKON bei diesem Radikalmanöver fortbewegte. Links von ihm keuchte Scobee. Er schaute nicht hin. Sein Blick schien an der Holodarstellung des Weltraums und der RUBIKON zu kleben. Der Rochen hatte nicht einfach nur Fahrt aufgenommen, um sich von seiner bisheri-
22 gen Position abzusetzen, er bewegte sich auch in sich. Bewegte seine Schwingen … Als würde er die Weiten des Aqua-Kubus durchpflügen, dachte Cloud. Als gleite er durch Wasser. Als böte ihm das Vakuum Widerstand. Es war ein ebenso majestätischer wie abstruser Anblick. Und gleichzeitig züngelte immer mehr rubinfarbenes Licht um den Schweif, den der Rochen nachzog. Blitze umzuckten zunächst nur ihn, dann stießen sie in immer rascherer Folge immer tiefer in den Raum vor. War das die Kontinuumwaffe, von der die KI gesprochen hatte? Und wenn ja, wie wirkte sie? Baute sie immer mehr Energie auf, um diese schließlich in einem ungeheuren Schlag gegen eines der feindlichen Schiffe zu schleudern? Feindliche Schiffe, dachte Cloud und war erschüttert über das eigene Denken. Es sind Menschen. Da drin sind Menschen! Aber diese Menschen jagten sie, seit er und Scobee in der Zukunft angelangt waren. Seit wir unseren Hilferuf aus dem Äskulap-Raumer abgesetzt und uns ebenfalls als Menschen zu erkennen gegeben haben, geisterte es durch sein Hirn.(siehe Bad Earth Band 2: »Phantomjagd«) Der Schmiegschirm wehrte die auftreffenden Schüsse so spielerisch leicht ab wie Regentropfen, die von einem Wachstuch perlen. Doch plötzlich raste von einem der Erdschiffe etwas Neues, Gewaltigeres heran. Es sah aus wie ein Kugelblitz, der im Heranflug Substanz verlor. Dennoch war noch genug übrig, als es zur Kollision mit der RUBIKON kam. Der Stoß schien das Schiff auseinander reißen zu wollen. Für Sekunden war nur flüssiges Rot innerhalb der Holosäule. Ein gefräßiges, vorzeitliches Glühen, das harte Schatten auf Scobees Gesicht zauberte, Poren und winzigste Furchen hervortreten ließ, als altere die in vitro Geborene binnen weniger Herzschläge um Jahre. Clouds Blick zuckte zu Sobek – und in seinem Bauch bildete sich ein harter Knoten.
Manfred Weinland Selbst die Illusion eines Wesens, selbst das Hologramm des Hirten erlangte im glutenden Licht der Erinjij-Waffe eine neue Qualität, enthüllte Feinheiten, die noch tiefere Beklemmung schürten als ohnehin schon. Endlich erlosch das Leuchten, und das normale All kehrte in die Zentrale zurück: ewige Nacht und Sterne und Planeten, die darin eingebettet waren wie Diamanten. »Plasmawaffe«, analysierte die KI kühl. »Schildbeanspruchung im unteren Toleranzbereich. Kritischer Moment, falls zehn dieser Projektile gleichzeitig auf Schirm treffen. Maßnahme zur Vermeidung eingeleitet. Mindestabstand zum nächsten Umläufer erreicht. Ladevorgang Kontinuumwaffe abgeschlossen. Kontinuumwaffe einsatzbereit.« »Dann«, meldete sich erstmals wieder Sobek zu Wort, und seine dunkle Stimme schien wie etwas Lebendiges in Cloud hineinzukriechen, »befehle ich die Aktivierung. Jetzt.« Cloud und Scobee wurden Zeugen eines Aktes beispielloser Lebensverachtung und Perversion …
* Der Pulk der Erdschiffe umfasste 13 Einheiten. Sie flogen T-Formation. Sieben Schiffe, hintereinander aufgereiht wie Perlen einer Kette – und am hintersten Punkt jeweils drei Raumer abzweigend. Nur das vorderste Schiff hatte bislang seine Waffen sprechen lassen, als gelte es, die Stärke des Gegners zu testen. Eine Taktik mit Folgen. Eine Taktik, die geradewegs ins Verderben führte. Die RUBIKON ließ dem Pulk keine Zeit, eine andere Variante auszutesten – oder sich einfach nur darauf zu besinnen, den Rochen unter das gleichzeitige Sperrfeuer aus 13 Raumern zu nehmen. Die RUBIKON gab ihre Passivität auf, die vom Gegner als Schwäche ausgelegt worden sein mochte. »John!«
Hinter dem Schattenschirm Cloud hörte Scobees Stimme, aber er war unfähig, auf sie einzugehen. Oder auch nur den Blick von dem unheimlichen, unheilvollen Glosen zu wenden, das sich plötzlich um die RUBIKON aufbaute, ohne dass Feindeinwirkung bestand. Der Rochen erzeugte das abseitige, das All durchströmende Leuchten selbst. Der Schweif, dessen Spitze sich wie ein Stachel ins umgebende All bohrte – als wäre es Fleisch. Als wäre es verwundbar … Es war verwundbar! Vergingen Sekunden, Minuten – oder nur ein Lidschlag? Cloud wusste es später nicht mehr zu sagen, aber Scobee würde behaupten: Sekunden. Zwei, drei Sekunden. Mehr habe das Spektakel nicht beansprucht. Der Akt, der sämtliche Schiffe des Feindes – der Menschen – aus diesem Universum bannte.
* Es sah aus wie die Art von Sprüngen, die sich nach der Kollision mit einem Fremdkörper auf einer Glasscheibe bilden. Nur war die Scheibe das luftleere All. Und die Sprünge waren Risse. Spinnwebenfeine Risse, die sich rasend schnell in klaffende Spalte verwandelten, die sich schließlich zu einem einzigen, gewaltigen Schlund vereinten. Einem alles verschlingenden Moloch. Einem Monstrum, das mit seinen unsichtbaren Gravitationsarmen, mit Tentakeln aus rotierender Anziehungskraft nach allem griff, an allem zerrte, was sich in seinem Einflussbereich befand. Auch an der RUBIKON! Doch die RUBIKON leistete erfolgreich Widerstand. Sie ächzte wie etwas Lebendiges, fauchte, heulte, wisperte und schüttelte sich … Aber sie veränderte nicht ihre Position. Es war, als hätte sie eine Million Anker ausgeworfen. Eine Million Anker, die verhinderten, dass mit ihr dasselbe geschah, was den
23 Erdschiffen passierte. Die hatten aufgehört zu feuern, weil sie alle Energie in ihre Antriebe leiteten. Weil sie verzweifelt aufboten, was sie an Schub nur aufbieten konnten, um der Falle zu entkommen. Das fremde Kontinuum leuchtete aus dem Riss nicht nur in die Zentrale der RUBIKON. Auch an Bord all der anderen Schiffe musste es sichtbar sein. Fahles, die Konturen auflösendes Licht, das weder Kälte noch Hitze ausstrahlte, nur absolut negierend war, das Leben verhöhnend, auf das es fiel. »Wir müssen das stoppen!«, presste Scobee hervor. Diesmal hörte er sie. Diesmal schnitt ihre Stimme förmlich in die ohrenbetäubende Lautlosigkeit, in der sich das Verderben außerhalb der RUBIKON-Hülle entfaltete. Sie hatte Recht. Clouds Finger tauchten in die Sensorfelder, über die er mit der KI verbunden war. Normalerweise. Er hatte gelernt, den Rochen auf diese Weise zu lenken und ihm seinen Willen aufzuzwingen. Aber das war vor Sobeks Erscheinen gewesen. Die KI reagierte auf keinen seiner Impulse, auf keinen seiner Rufe. Dröhnendes Gelächter hallte plötzlich durch den Raum, durchdrang die betäubende Stille und das grausame Licht. Sobek lachte. Seine knöcherne Miene blieb unbewegt, aber die Membran pumpte in gespenstischem Stakkato, als würde sie dem Puls des Lichts folgen, das aus dem Kontinuumriss zu ihnen drang. Näher und näher wurden die ErinjijSchiffe auf den Spalt zugezogen. Ihre Formation hatte sich aufgelöst. Antriebe spien nutzlose Energien in einen Raum, der sich vom normalen Kosmos abgespalten zu haben schien. In dem Bedingungen herrschten, wie vielleicht an keinem anderen Ort des Universums. Dieses Universums. Und all dies spielte sich innerhalb der Grenzen des Sonnensystems ab.
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Gewalten wurden entfesselt, die anmuteten, als könnten sie Planeten aus ihrer Bahn werfen. Und in einer apokalyptischen Vision sah Cloud brennende, aus ihren Jahrmilliarden alten Bahnen geschleuderte Welten in die Sonne stürzen … Dann war es vorbei. Das lautlose Tosen erstarb. Die Spitze des Schweifs erlosch. Und die Wunde, die sie in den Kosmos geschlagen hatte, heilte, schloss sich hinter dem letzten Körper, den der Spalt in sich aufgesogen hatte. Alles wurde ruhig, alles wurde still, als würden Raum und Zeit gefrieren, und statt Sobeks Lachen glaubte Cloud die Schreie der verlorenen Seelen zu hören, die ein Schicksal erlitten hatten wie noch kein Mensch vor ihnen.
5. Sie wurden Zeuge, wie sich der Schweif der RUBIKON zurückbildete, wie er immer kürzer wurde – und schließlich ganz verschwunden war. Cloud war sicher, dass er jederzeit neu entstehen konnte. Wann immer die KI oder »Sobek« dies befahlen. Er wusste immer noch nicht, ob der vermeintliche Hirte nur eine Erfindung der Schiffs-KI war – oder ob eine autarke Stelle an Bord ihn erzeugte. Was Darnoks Sonde aufnahm, diesen Schläfer im Block, kann kein simples Hologramm gewesen und damit nicht mit dem hier …. er blickte neben sich, … identisch sein. Welchen Sinn sollte das haben? Aber wenn dieser Sobek nicht identisch mit dem in der Aufnahme festgehaltenen ist – wo ist dieser dann geblieben? Hat man ihn weggeschafft, als wir uns näherten? Macht das Sinn? Er konnte nicht länger darüber nachdenken. Der Schock des gerade Erlebten wirkte in ihm nach. Die RUBIKON hatte soeben dreizehn irdische Schlachtschiffe in den Untergang ge-
schleudert – dreizehn irdische Besatzungen! Und wenn Clouds insgeheimer Verdacht zutraf, dann war dieses Manöver von Sobek oder der KI provoziert worden. Die RUBIKON hatte den bislang fehlerlos arbeitenden Tarnschirm einfach abgeschaltet und so das Interesse des Gegners erst auf sich gelenkt. Hatte ihn dann von Pluto weggelotst, um eine Waffe einzusetzen, die – diesen Eindruck hatte Cloud zumindest gewonnen – selbst einen Planeten hätte zerstören können. »Hast du das gesehen?« Die Frage war von einem hörbaren Luftholen begleitet. Scobee war mindestens ebenso erschüttert wie Cloud selbst. Er nickte. Dann wandte er sich an das Holowesen. »Das war kaltblütiger Mord.« Sobek machte nicht einmal den Versuch, den Vorwurf zu widerlegen. »Ich weiß«, sagte er ruhig. »Du wusstest um die Wirkung dieser Waffe. Hast du sie tatsächlich nur zum Einsatz gebracht, um uns zu beeindrucken?« Er konnte – nein, das war falsch – er wollte es immer noch nicht glauben. »Ich gebe zu, das war nicht die vordergründige Intension.« »Sondern?« »Es war nötig, sich nach all der Zeit ein Bild von der Unversehrtheit, von der vollen Einsatzbereitschaft SESHAs zu machen.« Cloud war sich bewusst, dass Scobee keine Silbe ihres Wortwechsels verstand. Er warf ihr einen schnellen, sie um Geduld bittenden Blick zu. Dann widmete er sich wieder dem Ungeheuer. Nichts anderes war es. Ein Monstrum. Ob von der KI oder welcher Instanz auch immer generiert. »In welcher Beziehung stehst du zu den Hirten?«, fragte er. »Du selbst bist bestenfalls ein Abbild von Sobek. Existiert der reale Sobek noch? Hier an Bord? Warum zeigt er sich nicht selbst?« Das Holowesen ging nicht darauf ein. Einmal mehr demonstrierte es, dass es – es
Hinter dem Schattenschirm allein – den Informationsfluss bestimmte. Aus den Augenwinkeln nahm Cloud Bewegung wahr, und als er in die Bildsäule blickte, bemerkte er, dass die RUBIKON beschleunigte. In ähnlicher Weise wie vorhin. Sie schwamm in einem Medium, das gar nicht da war. Majestätisch hoben und senkten sich die Schwingen des Rochens. »Du hast während deiner Verschmelzungen nicht mehr als einen Bruchteil von SESHAs Möglichkeiten und Geheimnissen erfahren«, erklärte das Holowesen, als erriete – oder lese? – es seine Gedanken. »Dieses Defizit an Wissen wird dir niemand mehr nehmen. Du hast deinen Zweck erfüllt. Du wirst jetzt gehen!« »Zweck?«, begehrte er auf. »Welchen Zweck?« Ohne dass er etwas dazu beitrug, schwenkten die Sitze gleichzeitig wieder um 180 Grad herum, zeigten jetzt wieder in den offenen Raum der Zentrale. Unsichtbare Fesseln fielen von Cloud ab. Neben ihm erhob sich Scobee und demonstrierte, dass es ihr ebenso erging. Cloud stemmte sich aus dem Sitz, und das Gefühl, zum letzten Mal in seinem Leben darin Platz genommen zu haben, überkam ihn mit der Eindringlichkeit eines Déjà-vu. Als er sich umwandte, sah er, dass Sobeks Sitz leer war. »Wo ist er hin?« Auch Scobee hatte das Verschwinden bemerkt. Cloud zuckte mit den Achseln. »Was hat er gesagt?« Fast hätte er wieder einfach nur die Schultern gehoben. Aber ihm war klar, dass Scobee schon viel zu viel Geduld bewiesen hatte. »Er hat noch einmal bekräftigt, dass wir nicht länger an Bord geduldet werden.« Ihr Blick schien zu flackern. »Das bedeutet was? Dass wir kaltblütig beseitigt werden? Wie die Menschen, die gerade vor unseren Augen gestorben sind?« Was sollte er darauf antworten? Ein leiser Gedanke keimte in ihm. Er brachte ihn fast
25 nicht über die Lippen, weil es ihm vorkam, als würde er die Augen vor der Wahrheit verschließen wollen. Dennoch sagte er: »Vielleicht wurden wir getäuscht.« »Was meinst du?« »Denk an ›Sobek‹. Denk an die Möglichkeiten, die uns das Schiff andauernd demonstriert. Es wäre sicherlich keine Schwierigkeit für SESHA, uns eine Art Trickfilm zu offerieren, der uns glauben machen soll, sie sei ein Überraumschiff und die Menschen nur Kanonenfutter für sie …« »DU IRRST!«, dröhnte eine Stimme durch die Zentrale. Sturmgewaltig. Aus allen Richtungen zugleich. Eine Stimme, die auch Scobee zu verstehen schien, denn sie sagte: »Da hast du deine Antwort. Nichts anderes wollte ich auch gerade sagen – nur etwas leiser.« Er starrte sie an. Es war bewundernswert, wie sie sich hielt. Dass sie auch jetzt nicht ihren Humor verlor, grenzte allerdings fast an ein Wunder. »GEHT JETZT! GEHT, BEVOR ICH ES MIR ANDERS ÜBERLEGE UND EUCH EXEKUTIERE!« Cloud und Scobee tauschten Blicke. Cloud ignorierte die Gänsehaut, die ihm über die Kopfhaut kroch. »Wir können nirgendwo hin«, sagte Scobee. »Dies ist ein Raumschiff mitten im All. Wie wäre es mit einer etwas großzügigeren Frist? Sobald Darnok eintrifft …« »IHR WÜRDET VERGEBLICH WARTEN.« Cloud hatte das Gefühl, einen Stich mitten ins Herz zu erhalten. »Warum?«, fragte er. »Was meinst du damit?« »ES GAB SPUREN. BEREITS AN DEM ORT, DEN IHR DIE OORTSCHE WOLKE NENNT.« »Spuren?« »DAS KARNUT IST DORT EXPLODIERT. SCHON VOR UNSEREM EINTREFFEN.« »Das ist eine Lüge!«, rief Scobee. »ICH HATTE GELEGENHEIT, DAS
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KLEINE RAUMSCHIFF INTENSIV ZU ANALYSIEREN, ALS ES AN BORD WAR. DAS MUSTER IST IDENTISCH MIT DEM, WAS ICH AUS DEN SPUREN REKONSTRUIERT HABE.« »Dann ist es wahr …«, flüsterte Scobee. »Darnok ist tot. Er hat es nicht geschafft, den Wall zu durchbrechen …« Cloud suchte nach tröstenden Worten. Nach einem Zipfel von Hoffnung, nach Argumenten, die Behauptung der KI zu widerlegen. Die KI aber sagte: »DIES IST DIE LETZTE AUFFORDERUNG. GEHT!« In diesem Moment war er sicher, Darnok bald wiederzusehen. Falls es ein gemeinsames Jenseits für Keelon und Menschen gab …
* »Wir werden es nicht tun!«, beschloss Scobee. »Was?« »Gehorchen.« »Dann sterben wir.« »Wer sagt das? Vielleicht ist es nur ein verdammter Test.« »Ein Test?« »Ja, eine Prüfung … was weiß ich.« »Es wird uns umbringen. Es blufft nicht.« »Ich könnte mich tot stellen. Winterschlaf. Geh du allein. Vielleicht schaffe ich es, die beknackte KI auszutricksen und zur Räson zu bringen. Wir können das Schiff nicht einfach aufgeben. Wir sind nur noch einen Katzensprung von der Erde entfernt. Was macht das für einen Sinn? Und was macht es für einen Unterschied, ob wir hier sterben – oder dort, wo das verdammte Ding uns hinverfrachtet?« Scobee schüttelte angriffslustig den Kopf. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Cloud ihr zu verstehen gegeben, dass die Wildheit ihr gut zu Gesicht stand. Sie wirkte geradezu atemberaubend attraktiv. »Hat es sich dazu geäußert?«, fragte sie. »Zu was?«
»Wohin wir gehen sollen? Vielleicht ein netter kleiner Weltraumspaziergang mit offenem Anzug?« Er verstand sie. Er verstand sie nur zu gut. Aber er hatte »Sobek« sprechen hören. Er hatte die KI aus verborgenen Lautsprechern regelrecht brüllen hören. Es gab keine andere Möglichkeit: Wenn sie nicht sterben wollten, hier und jetzt, mussten sie tun, was immer das Schiff von ihnen verlangte. »Nein«, sagte er. »Aber vergiss die Winterschlafidee. Im Kubus herrschten andere Bedingungen als hier. Die Vaaren mögen es euch abgekauft haben, dir und Resnick, dass ihr tot seid. Aber hier …? Du musst bedenken: Das Schiff hört mit. Manchmal denke ich, es liest unsere Gedanken.« »Bis vor kurzem warst du noch Feuer und Flamme für dieses Ding.« »Niemand konnte diese Entwicklung voraussehen. Es ist fast, als sollten wir dafür gestraft werden, dass wir es gewagt haben, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen. Erst unser Ausflug zu der Stelle, die uns Darnoks Karte offenbart hat, hat zur Konfrontation mit der KI geführt.« »Dann wäre also ich an allem Schuld.« »Niemand hat Schuld.« Cloud schüttelte den Kopf. »Es ist wie es ist. Momentan bleibt uns nichts außer zu gehorchen.« »Und wenn es uns umbringt?« »Es bringt uns garantiert um, wenn wir uns widersetzen. Befolgen wir seine Anweisungen, haben wir wenigstens noch den Hauch einer Chance.« Sie war immer noch dagegen. Ihr Gesichtsausdruck war ein einziger Protest. Aber ihr Widerstand schmolz, das spürte er. »Was uns zur Frage aller Fragen zurückführt: wohin? Wohin gehen wir?« »Ich führe euch«, sagte Sobek. Das Holowesen stand unvermittelt vor einem der Ausgänge. Für einen Moment glaubte Cloud, Scobee wolle sich auf das Trugbild stürzen. Aber dann entspannte sie sich. Offenbar hatte sie sich die Sinnlosigkeit klargemacht und in Erinnerung gerufen, wie es Cloud bei einem
Hinter dem Schattenschirm ähnlichen Versuch ergangen war. »Okay«, sagte sie und nickte Cloud zu. »Ich weiß, ich werde es bereuen. Aber tun wir, was es von uns will. Sehen wir uns an, welche Art von ›würdigem Abgang‹ ihm für uns vorschwebt …« Schulter an Schulter setzten sie und Cloud sich in Bewegung, folgten dem Hirten wie zwei Schafe, die sehenden Auges zur Schlachtbank geführt wurden.
6. Sie kannten den Raum. Hier waren Resnick und Jarvis verschwunden – falls das Ergebnis von Darnoks Fährtensuche stimmte. Hier waren auch Cloud und Scobee beinahe einer Kraft zum Opfer gefallen, der sie kaum hatten widerstehen können. Und selbst Darnok, aus dem hoch entwickelten, von den Menschen vernichteten Volk der Keelon hervorgegangen, hatte hier auf einer seiner Erkundungen seine Grenzen aufgezeigt bekommen. Der Raum, in den Sobek sie führte, war voller Kapseln, Hülsen, deren Bedeutung noch immer nicht restlos geklärt war. Darnok hielt sie für Transportmittel, da zwei von ihnen fehlten, eine seit die beiden GenTecs verschwunden waren, und eine seit … Cloud blieb abrupt stehen und stieß Scobee mit dem Ellbogen an. Härter als gewollt, so verblüfft war er. Aber die Frau an seiner Seite konnte es wegstecken. Sie war ihm physisch weit überlegen. In ihren Genen war vieles verankert, wovon ein Normalgeborener nur träumen konnte. Worum Cloud sie aber nicht beneidete. »Sieh dir das an!«, raunte er ihr zu. Und sie sah die Kapseln, die sich zu beiden Seiten des Raumes in ununterbrochener Kette erstreckten. Es gab keine einzige Lücke. »Ja«, sagte Scobee. »Sie sind wieder da.«
*
27 Cloud machte drei Schritte tiefer in den Raum und auf das Holowesen zu, das vor genau der Kapsel inne hielt, die als Erste verschwunden war. Die Zweite hatte versucht, Cloud und Scobee an sich zu ziehen … und möglicherweise war bis vor kurzem sogar noch eine Dritte dort gewesen, die, an der beinahe Damok gescheitert wäre.(siehe Bad Earth Band 13: »Das Komplott der Jay'nac«) »Sobek!« Diesmal merkte Cloud, wie er in das fremde Idiom wechselte, das zwar die KI, nicht aber Scobee beherrschte. Worum handelte es sich? Um die Sprache der Hirten, von denen sie annahmen, dass sie die Erbauer des Artefakts waren? Und wieso beherrschte er sie? Unwillkürlich musste er an die Protoreste denken, die in ihm kreisten. Hatten sie etwas mit seiner neu entdeckten Fähigkeit zu tun? Der von Damok transplantierte Sprachchip konnte es nicht sein, über den verfügte auch Scobee. »Sei demütig!« Cloud schüttelte den Kopf. Mehr und mehr betrachtete er das Holowesen als Manifestation der Schiffs-KI – womit er sich selbst beruhigte. Denn die Vorstellung, die Projektion eines Hirten könnte von einem Hirten selbst gesteuert werden, der sich irgendwo in den Tiefen der RUBIKON verborgen hielt, war noch unerträglicher. »Du hast hier alles unter Kontrolle, alles im Blick«, sagte Cloud, »oder?« »Was soll diese Frage? Sei …« »Dann weißt du auch, was aus unseren beiden Gefährten geworden ist, aus Resnick und Jarvis!«, fiel ihm Cloud ins Wort – um im nächsten Moment auf die Kapsel zu deuten, die die frühere Lücke ausfüllte. »Sind sie … da drin? Und falls dem so ist, wo waren sie die ganze Zeit? Leben sie noch?« Scobee war ihm gefolgt, stellte sich mit verschränkten Armen neben ihn. Sobek indes, die Schiffs-KI, ließ sich zu keiner Antwort herab. In der Kapsel, auf die Cloud gezeigt hatte, entstand ein Spalt, ohne dass einer von ihnen sie berührt hätte. Offenbar ließ sich der Me-
28 chanismus auch fernsteuern. Ein Blickwechsel mit Scobee zeigte Cloud, dass sie so gut wie er wusste und sich vergegenwärtigte, was das bedeutete. Noch war der Sog schwach, ein laues Lüftchen, aber das würde sich schnell ändern … »So will es uns also loswerden!«, sagte Scobee gepresst. »Einmal sind wir der Kapsel entkommen, doch jetzt …« Jetzt sind wir ihr ausgeliefert, vollendete Cloud im Stillen den Satz. Die Anziehung wurde stärker. Das Holowesen ragte davon völlig unbeeindruckt neben der Kapsel auf. »Geht jetzt!«, sagte es. »Ergebt euch in euer Schicksal!« »Das wie lautet?«, keuchte Cloud, der bereits Mühe hatte, sich gegen den Einfluss zu stemmen, der aus der Öffnung der Kapsel nach ihm griff. Cloud sah sich noch einmal im Raum um, versuchte, jedes Detail für sich zu speichern. Doch schließlich gab er dem Druck nach und leistete keinen Widerstand mehr. An Sobek vorbei glitt er, ohne einen Fuß vor den anderen setzen zu müssen, ins Kapselinnere. Als er den Kopf wandte, stand Scobee immer noch da. Was ihm nicht geringe Sorge bereitete. Würde sie entgegen alle Vernunft doch noch versuchen, sich dem Willen des Schiffes zu widersetzen? Cloud zweifelte keine Sekunde, dass dies ihren sicheren Tod bedeutet hätte. »Komm!«, rief er. »Komm endlich!« Er hörte die eigene Stimme nicht, kam sich vor wie ein Fisch, dessen Maul sich auf dem Trockenen öffnete und schloss, ohne dass der geringste Laut hervordrang. Schluckte der Sog auch jeden Schall? Oder war dies eine Eigenschaft der Kapsel, in die er bereits eingetaucht war? Sobek geriet aus seinem Blickfeld, dann auch Scobee. Cloud starrte auf den Spalt und fürchtete den Moment, in dem er begann, sich zu schließen. Er hatte kaum Augen für das eigentliche, in grelle Helligkeit gebadete Innere.
Manfred Weinland Als er schon nicht mehr damit rechnete, tauchte ein Schatten mit menschlicher Kontur in der Öffnung auf. Im nächsten Moment erlosch die Lichtflut, und Scobee war bei ihm. Sekundenlang sprach niemand ein Wort. Schließlich sagte Cloud gefasster, als er es selbst von sich erwartet hätte: »Ich bin froh, dass du keine Dummheiten gemacht hast.« »Wie hätten die auch aussehen können?«, erwiderte sie, während sie sich umwandte, der Stelle zu, durch die sie gekommen war und wo sich der Durchlass inzwischen lückenlos geschlossen hatte. Noch in der Bewegung, hielt sie inne wie erstarrt. Cloud folgte ihrem Blick und las dasselbe wie sie. Auf eine Wandstelle war etwas in zittriger, dunkelroter Handschrift geschrieben: G.T. »Blut«, sagte Scobee. »Die Initialen sind mit Blut auf die Wand geschmiert!« Cloud war überzeugt, dass dies stimmte. Sein Blick ging weiter. Er sah fremdartige, kristallartige Strukturen. Doch da war nichts, was eindeutigen Aufschluss über den Zweck der Kapsel gab. »Erkennst du seine Handschrift?«, fragte Cloud. »Könnte G.T. das geschrieben haben?« »Wer sonst?« »Ich frage, weil ich mir den Kopf darüber zerbreche, warum wir eigentlich davon ausgehen, dieses Ding hier müsste ein Transportmittel sein.« »Vielleicht dient es dem Zweck der Beseitigung, ohne dass es dazu überhaupt das Schiff verlassen muss.« »Der Beseitigung?« Scobees Tonfall war anzuhören, dass sie verstand, was er meinte. »Unliebsamer Passagiere«, sagte Cloud dennoch. »Kann sein, dass wir einen verdammten Fehler gemacht haben. Kann sein, dass das hier bereits der Ort ist, an dem es uns an den Kragen gehen soll …« Er biss sich auf die Lippe. Sein Blick flackerte. Er erwartete jeden Augenblick, et-
Hinter dem Schattenschirm was Tödliches aus den Wänden hervorbrechen zu sehen. Doch schon zwei, drei Minuten später öffnete sich die Kapsel wieder. »Offenbar hat man es sich anders überlegt«, sagte Scobee. Sie mussten ihre eigenen Kräfte bemühen, sich in Bewegung setzen. Nicht der Anflug eines anders gepolten Sogs trug sie hinaus. Sie traten vor die Kapsel und begriffen, dass sie die RUBIKON längst verlassen hatten. Vor ihnen lag eine völlig andere Welt.
* »Wie kann das sein? Wir waren doch höchstens …« Cloud brachte Scobee zum Schweigen, indem er nach ihrem Arm fasste und fragte: »Was siehst du? Sag mir, was du siehst!« Um sie herum herrschte Dunkelheit, nur in unmittelbarer Kapselnähe aufgehellt durch das Licht, das aus ihr hervorbrach. Aber das Wenige, was Cloud sah, genügte ihm schon, um zu wissen, dass sie sich nicht mehr auf der RUBIKON befanden. Was er nicht wusste, nicht einmal ahnte, war, wo sie nun stattdessen waren. Die Luft roch modrig, als wäre lange nicht gelüftet worden. Eine lähmende Stille lag über der Umgebung. Kein Laut drang zu ihnen vor. Im nächsten Moment, noch ehe Scobee antwortete, wurde es völlig finster um sie herum. Der Kapseldurchlass schloss sich. Cloud spürte einen Luftzug »Nein!«, stieß Scobee hervor. »Verdammt!« »Was ist?« Sie hatte auf Infrarotsicht umgeschaltet und war klar im Vorteil. »Die Kapsel ist gerade ohne uns abgerauscht.« »Abgerauscht?« »Verschwunden. Wie auch immer du es nennen magst. Aber …« Er fühlte sich hilflos, wie einzementiert von der Schwärze. »Aber?« »Da ist noch eine Zweite …« Noch eine Zweite? War ihnen Sobek ge-
29 folgt? Er ist ein Hologramm!, rief sich Cloud in Erinnerung – und musste sich eingestehen, dass er die Erscheinung tief im Herzen und wider alle Vernunft für sich selbst realer verbucht hatte, als sie es gewesen war. »Sie öffnet sich«, sagte Scobee. Das herausströmende Licht half Cloud sich dorthin zu orientieren, wo die andere Kapsel stand. Etwa zehn Schritte entfernt, schräg links von ihm. Tatsächlich floss etwas aus ihr hervor – eine silbrige, formlose, schillernde Masse, die sich außerhalb der Kapsel in viele kleine Kügelchen aufspaltete – und nach allen Seiten davonstob. »Das gefällt mir nicht«, sagte Scobee. »Greift es uns an?«, fragte Cloud, dessen Sicht die Kügelchen schon wieder entrückt waren. Der Spalt auch dieser Kapsel schloss sich. Es wurde wieder stockfinster. »Nein«, sagte Scobee, die sich neben ihm bewegte. Stammte der neuerliche Luftzug von ihr oder von der Kapsel. »Sie ist verschwunden wie unsere«, hielt ihn Scobee auf dem Laufenden. »Ich wünschte, wir wären ein wenig besser vorbereitet. Ich beneide dich um deine …« Das Wort Augen verschluckte er. Plötzlich wurde es hell. Ringsum flammte Licht auf. Und wenig später war der Bahnhof fast schattenlos ausgeleuchtet …
* Der Bahnhof? Die Assoziation war einfach da, bedurfte keines Nachdenkens. Natürlich ist es kein Bahnhof im irdischen Sinn, überdachte Cloud seinen Gedanken selbst. Aber er erfüllt offenbar eine vergleichbare Funktion. Tat er das? Wo lag der Ort, an dem sie der Hülse entstiegen waren? War es nicht möglich, dass sie sich immer noch an Bord des Rochen-
30 schiffs befanden – nur an einer bislang unerforschten Stelle? War es nicht denkbar, dass sie mit einer groß angelegten Farce konfrontiert wurden? Spielte die KI der RUBIKON mit ihnen? Künstliche Intelligenz schloss »Kreativität« nicht aus, nicht einmal einen eigenen Charakter. War die KI des Artefakts also mehr als pures Programm, das in den engen Bahnen seiner Programmierung dachte und handelte? Besaß es … Persönlichkeit? Und war das Holowesen, das es auf Cloud und Scobee losgelassen hatte, nur ein Instrument, um ihre Reaktion auf eine veränderte Lage zu testen? Der Testgedanke war schon einmal zur Sprache gekommen. Aber Cloud glaubte nicht daran. Nicht mehr. Die Luft, die Temperatur, die Schwerkraft … Es gab keine erkennbaren Unterschiede zu vorher, aber nicht einmal das musste etwas zu bedeuten haben. »Jetzt siehst du es selbst.« Scobee trat zu ihm und lächelte zaghaft. Trotz ihrer Ungewissen Lage schien sie weder Mut noch Hoffnung verloren zu haben. Im Gegenteil, Cloud hatte fast den Eindruck als blühe sie auf, nachdem sich die primäre Befürchtung, von »Sobek« in den Tod geführt zu werden, als falsch herausgestellt hatte. »Was glaubst du, wo wir sind?«, fragte er. Schulterzucken. »Keine Ahnung. Ich habe nicht den leisesten Schimmer.« »Immer noch an Bord?« »Eher nicht.« »Obwohl es so schnell gegangen ist?« »So lange wir nichts über die Fortbewegungsart wissen, der sich die Kapseln bedienen, sagt das absolut nichts aus. Nach allem bisher Erlebten können wir ebenso gut Kilometer zurückgelegt haben wie Lichtjahre.« Dieser Meinung schloss sich Cloud an. »So kommen wir nicht weiter. Hast du besser erkennen können, was das war? Ich meine das, was der anderen Kapsel entwichen ist.« »Nein. Es entfernte sich blitzartig und war
Manfred Weinland verschwunden. Ich konnte nicht sehen, wohin.« Cloud schaute sich um. Der Ort, an dem sie sich befanden, war verlassen. Die Wände waren von erloschenen Monitoren bedeckt. Davor gab es terminalähnliche Konsolen. All das erinnerte entfernt an die RUBIKON, was nur logisch war, wenn es sich dabei um eine Art »Gegenstation« handelte. Der Raum maß etwa 25 mal 25 Meter und war gut sieben, acht Meter hoch. Das bedeutete, die Kapseln hatten die Decke fast berührt. Weder in den umliegenden Wänden noch in Boden oder Decke gab es eine Öffnung, von der man hätte annehmen können, dass sie genügte, um größere Körper passieren zu lassen. Aber genau so sah es auch auf der RUBIKON aus. Auch dort schienen sich die Gebilde durch feste Wände zu bewegen. Cloud und Scobee konnten das nicht. »Wir müssen zusehen, dass wir hier rauskommen«, sagte Scobee. »Vielleicht treffen wir sogar auf G.T. und Resnick.« Nebeneinander gingen sie auf eine der Wände zu – und bereits bei ihrer Annäherung bildete sich eine Türöffnung. Dahinter lag ein schwach erhellter Gang. »Man könnte fast meinen, wir würden erwartet«, sagte Cloud. »Nehmen wir die Einladung an?« »Haben wir denn eine Wahl?«, fragte Scobee.
Zwischenspiel Erde Nigel Forge atmete tief ein und wieder aus. Er war umgeben von Blau. Vor ihm stand das Zuchthirn, das zeitverlustfrei Daten aus dem Großraum Pluto empfing. Ein Modul übersetzte sie in Sprache, ein anderes speicherte sie ab, leitete eine Kopie zum Master und eine ans Archiv. Nigel Forge war nur ein winziges Rädchen im Getriebe. Er war nicht für die eingehenden Nachrichten zuständig, sondern ein-
Hinter dem Schattenschirm zig und allein für das Befinden des Hirns. Vor Jahren, als er diese Aufgabe übernommen hatte, hatte er die Fabrik besuchen dürfen, in der Klumpen wie der vor ihm schwimmende hergestellt wurden. Es war einer der nachhaltigsten Momente seines Lebens geworden – er hatte sich fast übergeben müssen. Ein nacktes, bloß gelegtes Gehirn sah an sich schon nicht sonderlich appetitlich aus. Die einzelnen Phasen des Klonverfahrens waren es umso weniger. Auf einer Station der damaligen Führung hatte er einen der Organklumpen, die aufgrund von Fehlerhaftigkeit ausgemustert worden waren, sogar berühren müssen. Der Ekel verfolgte ihn bis heute. Manchmal war es für ihn selbst nicht begreiflich, dass er diese Verantwortung dennoch zugewiesen bekommen hatte. Er war überzeugt, dass man seine Abscheu bemerkt hatte. Aber offenbar hatten die, die darüber entschieden, objektiver als er selbst vorausgesehen, dass er diese Gefühle im späteren Umgang mit einem fertigen, mängelfreien Zuchthirn unterdrücken konnte oder sogar abbauen würde. Das war geschehen. Inzwischen galt er als einer der besten Pfleger überhaupt. Er fand mühelos Zugang zur hochsensiblen Psyche eines jeden organischen Kommunikators. Dies ging so weit, dass er Sympathien für die Klumpen entwickelte, für die er zuständig war. Umso schmerzhafter traf es ihn jedes Mal, wenn eines der Hirne der Belastungen nicht mehr länger stand hielt und kollabierte. Es wurde dann sofort ausgetauscht, und obwohl Forge es nie nach außen hin zeigte, verarbeitete er diese Verluste keineswegs so problemlos, wie man es von ihm erwartete. Die Zuchthirne waren auf eine einzige Funktion abgestimmt: Sie besaßen einen ausgeprägten telepathischen Sektor und waren nicht nur erdweit im Dauereinsatz, sondern auf allen von Menschen besiedelten Welten sowie auf jedem interstellar operierenden Raumschiff.
31 Forge war nur einer von vielen Pflegern, und ihm unterstanden knapp drei Dutzend Hirne, die er hegte und pflegte. Und zu denen er Verbindungen aufbaute, die es ihm im dienstfreien Alltag erschwerten – nein, regelrecht unmöglich machten –, Beziehungen zu echten Menschen aufzubauen. Er war ein Einzelgänger. Er war eine Scheinehe (für ihn war es Schein, für sie unglücklicherweise nicht) mit einer Frau eingegangen und hatte auf ihr Drängen hin sogar ein Kind gezeugt. Er hatte alles getan, um nicht aufzufallen. Aber er litt unter dem Gespinst von Lügen, das er um sich herum aufgebaut hatte, nur um in Ruhe gelassen zu werden. Erreicht hatte er das Gegenteil. Ruhe? Er litt, wenn er bei seinen Gehirnen war, und er litt noch mehr, wenn er ihnen fern sein musste, wenn Rafter, sein Stellvertreter und Kollege die Schicht übernahm … Ich bin ein unglücklicher Mensch, dachte Forge. Wie lange will ich das noch durchhalten? Es war einer der Standardgedanken, die ihn jeden Tag verfolgten. Aber heute war es anders. Heute rückte er in den Hintergrund. Die aktuellen Geschehnisse degradierten sein eigenes Leiden, seine Zerrissenheit, zu etwas wenig Bedeutungsvollem angesichts dessen, was draußen, abseits der Erde geschah. Geschehen war. Die eingehenden Meldungen überschlugen sich. Der Sprachvokoder des Gehirns arbeitete pausenlos, und Nigel Forge war noch nie so bewusst geworden wie in diesem Moment, dass er ein Geheimnisträger war. Nichts von dem, was er jemals aus dem Techno-Mund der Zuchthirne hörte, erreichte die Außenwelt. Es sollte Pfleger gegeben haben, die sich nicht an dieses Verbot, nicht an diese dringlichste aller Regeln gehalten hatten. Aber sie waren von heute auf morgen wie ein defektes Hirn ausgemustert worden. Man hatte sie nicht nur von ihrer Aufgabe entho-
32 ben, sondern auch aus ihrem sozialen Umfeld beseitigt. Forge versuchte, nicht daran zu denken. Es war keine angenehme Vorstellung, aus Vorsatz oder einfach nur Unbedachtheit selbst einmal in eine Lage zu geraten, die ihn aus der mühevoll aufrechterhaltenen Normalität seines Alltags herausgerissen hätte. Es gab viele Gerüchte über das weitere Schicksal ehemaliger Pfleger … Forge schüttelte den Kopf, um diese unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Dafür drangen nun wieder die Berichte vom Rand des Sonnensystems auf ihn ein. »… verschwunden«, klang es aus dem Sprachvokoder. »Alle dreizehn Schiffe gelten als zerstört. Das beobachtete Phänomen wird zurzeit noch analysiert. Spezialeinheiten sind unterwegs zu den Koordinaten, wo es zur Kontinuumverletzung kam. Im ganzen Sonnensystem herrscht höchste Alarmstufe. Nach dem fremden Schiff wird gefahndet. Es scheint identisch mit dem zu sein, das bereits in der Oortschen Wolke für Aufruhr gesorgt hat. Momentan ist es von sämtlichen Tasterschirmen verschwunden. Aber …« Forge spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er wusste, wie einzigartig dieser Vorfall war. Es ging nicht nur um dreizehn verlorene Schiffe, dreizehn wahrscheinlich ums Leben gekommene Besatzungen … Was ihn – und mit Sicherheit auch die Master – sehr viel stärker beunruhigte, war die Tatsache, dass überhaupt ein fremdes, nicht identifiziertes Raumschiff ins Sonnensystem gelangt war. Eigentlich sollte das ein Ding der Unmöglichkeit sein. Forge war beunruhigt. Aber auch – was das anging – voller Vertrauen. Niemand, der sich in die geschützte Sphäre der Menschen, ins versteckte Herz ihres expandierenden Großreichs wagte, würde lange genug existieren, um die geheimen
Manfred Weinland Koordinaten weiterverbreiten zu können! Forge holte noch einmal tief Atem und merkte, dass er schwitzte. Schwitzte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Sein Herz hämmerte, und der kalte Schweiß lief ihm hinter dem Ohr hinab bis in den hohen Kragen seines Hemdes, das sofort den Tragekomfort erhöhte und das Internklima zu regulieren versuchte. Aber Forges Nervosität erwies sich als stärker. Und wenn nicht?, dachte er. Von klein auf wurde ihnen eingetrichtert, dass keine andere Spezies der Milchstraße die Lage des Sonnensystems kannte. Sämtliche Flottenbewegungen fanden über das Jupiter-Portal statt. Und außer den Menschen beherrschte niemand den Wurmlochtransfer. Als zusätzliche Sicherung existierte der Wall, zu dem die Oortsche Wolke ausgebaut worden war. Aber genau dort schien die Schwachstelle zu liegen. Das fremde Schiff war dort zum ersten Mal aufgefallen, hatte aber nicht gestoppt werden können. Es muss über eine fast perfekte Tarntechnologie verfügen, dachte Forge, obwohl er absoluter Laie auf diesem Gebiet war. Er schüttelte den Kopf, gab sich einen Ruck. Ich sollte mich nicht darum kümmern. Ich sollte meine Arbeit erledigen, nur meine Arbeit. Aber er konnte nicht verhindern, dass er weiter zuhörte, dass er die eingehenden Meldungen mit einem »Heißhunger« verfolgte und in sich aufnahm wie kaum eine Nachricht in den zurückliegenden Jahren. Er spürte, dass etwas in Gang gekommen war, das eine Gefahr darstellte. Eine Gefahr, die nicht unbedingt fern der Erde, an der äußersten Grenze des Sonnensystems bleiben musste. Vielleicht kommt es zu uns, dachte er. Vielleicht ist es bereits da. Hätte ein Master seine Gedanken erfahren, hätte das weitreichende Folgen gehabt, davon war er überzeugt.
Hinter dem Schattenschirm Dennoch konnte er nichts dagegen tun. Während er die Nahrungszufuhr der Gehirne kontrollierte, dachte er an seine Frau – und an die 150 Millionen(Dies ist kein Druckfehler. Anm. der Redaktion) anderen Menschen auf der Erde. Niemand, machte er sich bewusst, niemand von denen da draußen ahnte in diesem Moment auch nur, welche Bedrohung aufgetaucht war. Nur die Master-Ebene war zum gegenwärtigen Zeitpunkt informiert. Und er. Als er seine Schicht beendete, wollte er den Turm verlassen und zu seiner Wohnung fahren. Aber auf dem Weg zu seinem Gleiter wurde er aufgehalten. Zwei Männer versperrten ihm den Weg und führten ihn in einen Bereich des Turms, in dem er noch niemals zuvor gewesen war. Wo er einem Wesen begegnete, das er noch niemals zuvor gesehen hatte – auch wenn jeder von ihnen sprach. »Wir haben ein Problem«, sagte der Master. Forge war kaum in der Lage zu sprechen. Er war fast ohnmächtig vor Entsetzen. »W-womit?« »Mit dir.« An diesem Abend kehrte Nigel Forge nicht nach Hause zurück. Und auch nicht an den Tagen danach …
7. Es war nicht wirklich hell, aber es genügte. Immerhin war Cloud in der Lage, sich zurechtzufinden; Scobee ohnehin. Das matte Licht strömte aus der Decke, aus ihrer ganzen Fläche. Einzelne Leuchtkörper waren nicht zu erkennen. Der Korridor, in den sie traten, war nur kurz, etwa fünf oder sechs Meter lang. Zu beiden Seiten gab es jeweils zwei offene Türen. Am Ende des Ganges war eine Wand. Oder etwas, das wie eine Wand aussah. Cloud schloss nicht aus, dass es eine Möglichkeit gab, sie zu öffnen. Aber sein vorran-
33 giges Interesse galt zunächst den Türen und den Räumen dahinter. »Totenstill«, sagte Scobee. Sie ging langsam neben ihm. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fast katzenartig. Schönheit, Kraft und Eleganz vereinten sich in ihr – und Klugheit. Die perfekte Frau, spöttelte Cloud. Doch noch während er es dachte, wurde ihm bewusst, wie viel Wahrheit darin steckte. In den letzten Tagen hatte sie ihm einiges aus ihrer Vergangenheit eröffnet, was ihn im ersten Moment regelrecht geschockt hatte. Sie hatte von Cronenberg erzählt – und den NCIA-Chef dabei als das personifizierte Böse geschildert, der einen Regierungsumsturz vorbereitet hatte. Das Schockierende war dabei weniger die Rolle gewesen, die sie in Cronenbergs Plänen eingenommen hatte, als vielmehr ihr Verhältnis zu ihm. Ihre Eröffnung, mit ihm über Jahre liiert gewesen zu sein, machte ihm auch jetzt noch zu schaffen – zu seiner eigenen Verwunderung mehr als die Dinge, die sie ihm in diesem Gespräch noch offenbart hatte. Was ist sie für mich? Ein Freund, ein Schicksalsgefährte – oder eine attraktive Frau, für die ich bereit wäre mehr zu empfinden als nur …? Ihre Stimme lenkte ihn ab. Sie war jetzt laut und drängend. »John! John, träumst du? Geht es dir gut? Hast du Probleme?« Er merkte, dass er stehen geblieben war, und wusste, worauf sie anspielte. Aber die Gespenster, die Splitter fremder Bewusstseine, die ihm auf der Erde nebst dem Wissen mehrerer Koryphäen auf unterschiedlichsten Wissensgebieten eingepflanzt worden waren, schwiegen seit geraumer Zeit. Seit er sich – es klang verrückt, aber genau so war es passiert – auf sie eingelassen hatte. Seit er sie akzeptiert hatte, verfolgten sie ihn nicht mehr wie Wachträume, von denen er in den unmöglichsten Situationen überrumpelt wurde. Sie waren noch immer in ihm, aber sie schwiegen. Sie waren ein Teil von ihm – wie auch er von ihnen.
34 Er war ein Allrounder. Die beiden anderen Astronauten, die in vergleichbarer Weise »aufgerüstet« worden waren und die Marsmission begleitet hatten – Seymor und Darcy –, lebten nicht mehr. Seymor war von seinen »Gespenstern« in den Wahnsinn getrieben worden und hatte Selbstmord begangen. Darcy war nach Betreten des Äskulap-Raumers, der sie vom Mars entführt hatte, von einer Art »Steinwesen« oder Roboter umgebracht worden. Im Gegenzug hatten die GenTecs Darcys Mörder ausgeschaltet … Cloud hatte sich seither mehr als einmal gefragt, ob es sich dabei um einen so genannten Anorganischen gehandelt haben könnte. Keinen hochwertigen Roboter, sondern eine andere Form von Leben als sie es von der Erde her kannten. Dies wiederum hätte bedeutet, dass Anorganische die Erde im Jahr 2041 angeflogen und erobert hätten. War es so? Aber wie hatte die Erde sich ihrer erwehren können? Wir wissen nicht, ob ihnen das gelungen ist. Sie wussten gar nichts. Zwar hatten sie kurz davor gestanden, es vielleicht zu erfahren, aber dann hatte sich Sobek entschlossen, sie hinauszuwerfen, und jetzt – waren sie hier und mussten herausfinden, wo dieses Hier lag. Auf welcher von zahllosen möglichen Welten der Milchstraße, auf denen sich diese Station befand – die aber ebenso gut im freien Raum liegen konnte, in irgendeinem Orbit oder zwischen den Sternen dahindriftend … Alles war möglich, aber eines schien sicher: Sie waren der Erde wieder weit entrückt. Und vielleicht hatten sie damit ihre letzte Chance vertan, sie überhaupt jemals wiederzusehen. Immer gesetzt den Fall, dass sie überhaupt noch existierte, wofür es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den kleinsten Beweis gab …
Manfred Weinland »Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er Scobee, obwohl nichts in Ordnung war. Nichts. Wo, zur Hölle, sind wir gelandet? Gab es wirklich eine Chance, hier auf Resnick und Jarvis zu treffen? Oder nur noch auf Resnick? War Jarvis tot? Sein Blut an der Kapselwand, diese zwei simplen Buchstaben, wollten Cloud nicht aus dem Kopf gehen. »Dann komm weiter!«, drängte Scobee. Zum ersten Mal, seit sie die Kapsel verlassen hatten, spürte er, dass auch sie wesentlich angeschlagener war, als sie nach außen hin zu vermitteln versuchte. Er unterdrückte das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen – sie einfach nur kurz in den Arm zu nehmen. »Ich wünschte, wir hätten eine Waffe. Irgendetwas, mit dem wir uns notfalls zur Wehr setzen könnten«, sagte er, während er sich an ihr vorbei durch die erste der beiden Türen zu ihrer Rechten schob. »Das haben wir«, antwortete sie zu seiner Verblüffung und schob die Erklärung sofort hinterher: »Immerhin hast du mich.« Das Lächeln tat gut.
* Der Raum, in den sie traten, war voller Geschichten. Geschichten, die sie zwar nicht auf Anhieb verstanden. Aber den offenkundigen Unterschied zum sterilen, detailarmen Bahnhof, wo sie der Kapsel entstiegen waren – und wo alles klinisch sauber und nichtssagend gewesen war – registrierten sie auf Anhieb. Wände, Decke und Boden waren voller Bilder. Malereien. So fremdartig, dass das Auge im ersten Moment gar keinen Ruhepunkt fand, um zu begreifen, was hier dargestellt und für die Nachwelt festgehalten worden war. Aber wenn es sich erst einmal daran gewöhnt hatte … »Sie können nicht schlecht gewesen sein«, flüsterte Scobee unvermittelt. Dass sie ihre Stimme senkte, entsprach
Hinter dem Schattenschirm auch Clouds eigenem Empfinden, dass hier laute Worte nicht angebracht waren. Der Raum an sich war, wie schon der Bereich, in dem sie angekommen waren, fast leer. Es gab nichts, was an Mobiliar erinnerte, nur in der Mitte erhob sich ein Quader von etwa anderthalb Meter Kantenlänge. Das Material, aus dem er geschaffen war, unterschied sich vom Baustoff der übrigen Umgebung. Es war kein Metall, sondern Stein, tippte Cloud. Eine Art Marmor. Vollkommen glatt, opalartig durchmustert. »Ich komme mir vor wie in einem Andachtsraum«, sagte er, ebenfalls leise, verhalten. Ihre Stimmen schienen von den Oberflächen des Raumes aufgesogen zu werden. Es gab nicht den geringsten Hall, wie sonst in fast leeren Räumen üblich. »Ob die Station den Hirten gehörte?« »Dem Volk, dem sie angehörten – bestimmt«, erwiderte Cloud. »Alles andere würde keinen Sinn ergeben, oder?« »Ich weiß es nicht …« Sie verstummte, obwohl Cloud den Eindruck hatte, dass sie noch mehr sagen wollte. Doch dann wies sie auf eine Wandstelle. »Sieht das nicht aus wie …?« Er folgte ihrem ausgestreckten Arm, musste sich aber erst auf das Bild einstellen, ehe sein Gehirn Details herauszulösen und zu erkennen vermochte. Der oder die unbekannten Künstler hatten einen in dieser Form noch nie gesehenen Hang dazu, jedes Detail ins andere überzuleiten, miteinander zu verschmelzen … Aber schließlich entdeckte er doch die Gestalt, die Scobee schon vor ihm isoliert hatte. »Sieht aus wie Sobek.« Er nickte. »Wie das Hologramm, das uns der RUBIKON verwiesen hat.« »Wie ein Hirte also«, unterstrich sie. Die Ähnlichkeit konnte kein Zufall sein. Sie hatten also hier gelebt. Aber die eigentliche Frage, wo dieses Hier lag, war immer noch unbeantwortet. Scobee trat zu dem altarartigen Stein und berührte ihn. Sie strich mit beiden Händen
35 über seine vielfarbige Oberfläche, die im schwachen Licht kaum zur Geltung kam. Aber die Berührung löste etwas aus. Von einem Atemzug zum nächsten veränderte sich nicht nur der Stein, sondern der ganze Raum. »Grundgütiger, was …?«, entfuhr es Cloud – als sich um sie herum Galaxien formten und zu drehen begannen. Die Wände schienen zurückzuweichen. Die Farben des Altarsteins explodierten, brachen gleißend nach allen Seiten und durchfluteten selbst Scobee, ließen ihren Körper fast durchscheinend wirken. Als Cloud an sich herabblickte, entdeckte er ein ähnliches Phänomen auch an sich. Wie ein Geist schwebte er plötzlich mitten im Weltraum. Natürlich war es nur ein Trick, eine Simulation, aber sie war so grandios detailfreudig, dass es ebenso gut hätte echt sein können. Aber dann wäre ich jetzt tot, genau wie Scob, dachte er. »Was hast du getan?« Seine Stimme schien das ganze Universum auszufüllen. Scobee drehte sich zu ihm um. »Ich weiß es nicht. Sagt man Kindern nicht immer, sie sollen nicht anfassen, was ihnen nicht gehört? Ich wünschte, ich hätte mich darauf früher besonnen …« »Ich glaube nicht, dass uns Gefahr droht«, sagte er. »Du hoffst, dass uns keine droht«, korrigierte sie ihn. Er schwieg und ließ das veränderte, jetzt lebendig und dreidimensional gewordene »Gemälde« auf sich wirken. Von irgendwoher drangen Töne, keine Musik im vertrauten Sinn, aber spürbar im Einklang mit den Bildern stehend. Gesänge des Alls. Natürliche Geräusche, für menschliche Sinne normalerweise ohne technische Hilfen nicht wahrnehmbar, hier aber hörbar gemacht. Cloud fühlte sich unbehaglich und tief berührt in einem. Er wünschte sich weit, weit
36 fort – und konnte sich zugleich der Anziehungskraft dieses Ortes nicht entziehen. Beschäftigten Scobee ähnlich widerstreitende Gefühle? »Da!«, rief sie. »Ist das unsere … Milchstraße?« Die Spiralgalaxie hing genau über dem Altar und bildete, auch was ihre Größe anging, offenbar das Zentrum der Darstellung. Darüber hinaus gab es jedoch noch etliche andere Sterneninseln. »Wunderschön«, hörte sich Cloud sagen. Ihm wurde gar nicht bewusst, dass sein Blick zwischen Scobee und der imposant über dem Quader schwebenden Galaxie hin und her pendelte. Und dass diese Aussage auf beides zutraf … »Die lokale Gruppe«, sagte Scobee, von Sternenlicht durchwoben. »Wenn mich nicht alles täuscht, ist das die komplette lokale Gruppe.« Sie hatte Recht. Cloud erkannte es nun ebenfalls. Neben der heimatlichen Milchstraße waren auch die sie unkreisenden Magellanschen Wolken, die Nachbargalaxie Andromeda und M 31, eine Spiralgalaxie wie die Milchstraße, identifizierbar. Es gab noch eine Anzahl anderer, kleinerer Sternballungen, die allesamt zu der von Scobee erwähnten lokalen Gruppe zählten, die einen ungefähren Raum von fünf Millionen Lichtjahren umspannte. Weiter reichte der hier gezeigte Ausschnitt des Kosmos nicht. Und von den gezeigten Galaxien waren die Milchstraße und die Große Magellansche Wolke die einzigen Gebilde mit Markierungen. »Siehst du das?«, fragte Cloud. »Was meinst du?« »Einer der Seitenarme unserer Milchstraße ist mit einem rötlichen Schleier hinterlegt. Wenn mich nicht alles täuscht, ist es der Orionarm, in dem sich auch unsere Sonne befindet.« »Woran erkennst du das?«, fragte Scobee. Ich weiß es, weil … Himmel, ich weiß es
Manfred Weinland einfach! Es erschütterte ihn selbst, dass er nicht sagen konnte, woher er seine Überzeugung nahm. Der Maßstab war so klein, dass Einzelsterne kaum auszumachen waren, geschweige denn vertraute Sternbilder, anhand derer sich eine Orientierung hätte ableiten lassen. »Eine Vermutung«, schwächte er ab. »Aber die Große Magellansche Wolke ist ebenso eingefärbt – von den anderen Sternhaufen keiner.« »Und das bedeutet deiner Meinung nach?« »Auf jeden Fall eins: beide Gebiete hatten eine besondere Bedeutung für die Stationserbauer.« »Die Hirten.« »Die Hirten, du sagst es.« Scobee zog ihre Hände vom Stein zurück – und sofort erlosch das Planetarium. Sie legte ihre Hände darauf … und es entstand neu. »Gehen wir weiter?« »Du wärst für Museumsbesuche absolut ungeeignet«, hielt sie ihm vor. »Warum?« »Du hast nicht die notwendige Geduld und Muße, dich auf Werke einzulassen.« Er legte den Kopf schief. »Vielleicht liegt es daran«, sagte er, »dass wir in Kürze ein Problem bekommen werden, das ich nach Möglichkeit vermeiden möchte. Wir haben es schon einmal durchgemacht. Es ist nicht unbedingt erstrebenswert.« »Wovon redest du?« »Von Verdursten und Verhungern. Momentan dürfen wir wenigstens atmen – aber auf Dauer ist mir das zu wenig. Sobek hätte uns wenigstens etwas Proviant einpacken können.« »Er scheint nicht wirklich um unser Wohl besorgt gewesen zu sein.« »Nein. Und falls doch, hat er es meisterlich verborgen.« Sie verließen den Raum, traten auf den Gang hinaus und wählten als Nächstes die offene Tür auf der anderen Seite.
Hinter dem Schattenschirm Wo etwas auf sie wartete, womit sie weder in dieser Form noch zu diesem Zeitpunkt gerechnet hätten. Menschen!
* Im Moment ihres Eintretens wurde das Licht automatisch heller und enthüllte den Inhalt des Raumes bis in den entferntesten Winkel. Cloud blieb stehen wie gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Scobee stieß fast mit ihm zusammen. »Heh!« Bevor sie zu weiterem Protest ansetzen konnte, erfasste ihr Blick, weshalb Clouds Bewegung ins Stocken geraten war. Der Raum war voller Behälter – und voller Menschen. Die Ähnlichkeit der durchscheinenden Särge mit den Stasetanks, in denen Cloud an Bord der ersten RUBIKON weite Strecken der Reise zum Mars zurückgelegt hatte, war unverkennbar. Hier wie dort ruhten Menschen in den Konstruktionen. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sahen aus wie schlafend. Schweigend gingen Scobee und Cloud tiefer in den Raum. Ihre Schritte verursachten lautere Geräusch als erwartet. Als wäre der Metallboden unter ihnen hauchdünn, und es wäre ein gewaltiger Resonanzkörper darunter, der den Schall verstärkte. Tatsächlich hatte Scobee das Gefühl, über eine hauchdünne Eisschicht zu laufen, die jeden Moment unter ihr wegbrechen konnte. Allzu schmerzhaft war die Erinnerung an ihre toten »Kinder«; an all die GenTec-Kopien, die aus ihrer Vorlage geklont worden waren und mit an Bord der ersten RUBIKON gegangen waren … Wo sie im Zuge der Schwarzen Flut im Staseschlaf liegend ums Leben gekommen waren. Sie hatte den Verlust bis heute nicht verkraftet. Es waren ihre Ebenbilder gewesen. Sie hatten nicht ihre Erinnerungen und prä-
37 genden Erlebnisse besessen, aber die Anlage war identisch gewesen. Sie waren mindestens wie Geschwister für sie gewesen, hatten in identischen Bahnen gedacht und gefühlt und nie die Chance erhalten, ein normales Leben zu führen. Erst im Nachhinein war ihr bewusst geworden, wofür sie sich hergegeben und wozu sie gezwungen worden war. Verflucht seist du, Reuben Cronenberg, verflucht! Sie hatte sich innerlich längst von ihm losgesagt, aber in Momenten wie diesen – in Momenten, da die Erinnerungen in ihr hochgespült wurden – lief ihr eigener Werdegang manchmal wie im Zeitraffer vor ihrem geistigen Auge ab. Sie hasste sich für vieles, was in den zwanzig Jahren ihres Lebens geschehen war. Sie hatte sich entschieden, nur noch nach vorn zu blicken, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Aber nun zeigte sich, dass es leichter war, den Vorsatz zu fassen, als ihn allen Widrigkeiten zum Trotz auch in jeder Lebenslage zu realisieren. »Sie haben Menschen umgebracht, entführt – was weiß ich nicht alles!«, platzte es aus Cloud hervor. »Himmel! Wir waren nicht die Ersten, die mit ihnen in Berührung kamen! Sieh dir das nur an …« Sie verstand, was er meinte. Es waren Menschen. Aber Menschen, die lange vor ihnen gelebt hatten. Ihrer Kleidung nach Chinesen der HanDynastie. Implantiertes Wissen in Cloud erkannte es anhand der Kleidung, die sie trugen …
* Sie waren nicht nackt, sondern vollständig bekleidet in die transparenten Blöcke »eingeschweißt« worden. »Sie schlafen nicht, sie sind tot«, behauptete Scobee. »Sie wurden hier zur Schau gestellt, mehr nicht.« »Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht? Hast du eine bessere Idee?« Er trat an einen der Blöcke heran.
38 Aus der Nähe schienen sie Bernstein noch ähnlicher zu sein. Das durchsichtige Material hatte einen Goldschimmer. Jeder Block ruhte auf einem knöchelhohen Metallsockel, an dem sich Zeichen und Erhebungen befanden. Cloud spürte, wie ihm die Kehle eng wurde, als er die Symbole zu lesen verstand. Ich beherrsche diese Schrift? Wenn ich das Scobee sage, wird sie mich endgültig wie ein wunderliches Tier betrachten. Er hatte ihr schon häufiger Anlass dazu gegeben. Die vorübergehende Akzeptanz, die ihm die RUBIKON II entgegengebracht hatte, war nur ein Beispiel dafür. Die Rollen hatten sich radikal verändert. Früher hatte er sie als Exotin betrachtet – ein Klon, dem er nicht allzu viel Menschlichkeit hatte zubilligen wollen. Es war ein Verhalten gewesen, das aus Vorurteilen und Unwissenheit resultiert hatte. Und nun war es so, dass sie ihm den Spiegel vorhielt, wie er sich damals ihr gegenüber verhalten hatte. Nur dass sie noch nicht so weit gegangen war, tatsächliche Distanz zu ihm aufzubauen. Sie hätte allen Grund dazu gehabt, ihn unheimlich zu finden, ihm mit Misstrauen zu begegnen. Stattdessen bemühte sie sich mehr als er selbst, keine neuen Gräben aufzureißen. Cloud empfand ein diffuses Schuldgefühl, das ihn daran hinderte, von sich aus offener auf sie zuzugehen. Momente wie diese – Momente, da er einmal mehr erkannte, dass er sich selbst fremd geworden war – trugen nicht dazu bei, solche Klüfte zu überbrücken. Er gab sich einen Ruck. »Sie sind nicht tot«, behauptete er. »Zumindest waren sie es nicht, als sie eingefroren wurden. Definitiv nicht.« »Was heißt das?«, fragte Scobee. »Woran erkennst du das? Willst du sagen, sie schlafen nur? Sie leben?« »Ich weiß es nicht. Diese Station ist allem Anschein nach verlassen. Und wenn sie so alt sind, wie ihr Äußeres vorgaukelt – meh-
Manfred Weinland rere hundert Jahre selbst zu unserer Zeit –, dann kann es natürlich sein, dass sie inzwischen tot sind. Aber damals, als sie in diese Blöcke hineingepackt wurden, lebten sie noch – und es geschah definitiv nicht, um sie auf diese Weise umzubringen.« »Sondern?« »Zu konservieren.« »Lebendig?« »Du tust, als wäre dir Stase ein völlig neuer Begriff.« »Das hier ist etwas anderes als Stase.« »Mag sein, aber es erfüllt denselben Zweck.« »Sagt wer?« »Sagt die Schrift auf den Sockeln.« Sie sah ihn mit großen Augen an, setzte zu einer Bemerkung an – unterdrückte sie dann aber. »Ich weiß, was du sagen willst, und es belastet mich bestimmt ebenso wie dich, dass ich …« Sie schüttelte den Kopf, trat auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir Leid. Ich weiß, dass du am allerwenigsten etwas dafür kannst. Irgendetwas steckt in dir. Es kann … muss aber nicht mit den Protoresten aus dem Kubus zu tun haben. Aber egal, was es ist: Machen wir das Beste draus!« »Und das wäre?« Die Berührung war ihm alles andere als unangenehm. Sie zog ihre Hand zurück. »Lies vor! Lies mir alles vor. Ich will alles wissen, was auch du weißt. Was steht da?« »Es sind lediglich Anweisungen, die die Konservierung betreffen.« »Soll das heißen …?« Cloud nickte. »Es ist eine Anleitung, wie man Lebewesen einschläfert …«, sein Blick blieb an dem vollbärtigen Mann haften, der sich in dem Block befand, vor dem sie standen, »… und wieder unbeschadet aufweckt.«
* »Ist das dein Ernst?«
Hinter dem Schattenschirm »Würde ich über so etwas Scherze machen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nicht.« Er warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. »Was mich wundert«, sagte er, »ist, dass sich hier ausschließlich Chinesen befinden.« Er machte eine ausholende Bewegung. »Es gibt nur Angehörige dieses einen Kulturkreises und offenbar auch einer einzigen Epoche.« »Du verstehst etwas davon? Ich meine, dass es Chinesen sind, sehe ich selbst, aber die Kleidung, der Schmuck … Ich wüsste nicht …« »Han-Dynastie«, sagte er. »Etwa 200 vor Christi bis 10 nach Christi. Eine verdammt lange Zeit …« »Irrtum ausgeschlossen?« »Bei all dem, was wir seit Wochen erleben, sind Irrtümer nie auszuschließen.« Sie nickte. »Falls du Recht hast, sind nicht nur sie, sondern ist auch diese Station uralt.« »Vielleicht ein Anhaltspunkt, seit wann die RUBIKON in der Vakuumkugel steckte.« »Ein erster Hinweis vielleicht …« »Ich möchte es tun«, sagte Cloud unvermittelt, nachdem er vor dem Block in die Hocke gegangen war und seine Augen fast auf Höhe des Schläfers gebracht hatte. »Was möchtest du tun?«, fragte sie. »Versuchen, ihn aufzuwecken.«
8. Einen Moment lang war sie baff. »Wenn ich nicht wüsste, dass du gerade noch erklärt hast, nicht zu Scherzen aufgelegt zu sein …« »Was riskieren wir schon dabei?« »Sein Leben? Falls er noch lebt?« Sie nickte zu dem Mann unbestimmbaren Alters hinab. Er sah aus wie ein Mittvierziger der Zeit, der sie entstammten. Aber auf seine Epoche übertragen, konnte es ebenso gut ein früh gealterter, an Jahren tatsächlich aber noch junger Mensch sein.
39 »Er hat keine Chance, je wiederbelebt zu werden, wenn wir es nicht tun«, hielt Cloud dagegen. »Oder bist du anderer Meinung als ich, dass dieser Ort seit langer, langer Zeit verlassen und aufgegeben ist?« »Nein, aber es kann sich ändern.« »Was heißt das?« »Wir haben damit, dass wir uns SESHA angeeignet haben, etwas ins Rollen gebracht, was möglicherweise nicht ohne Folgen bleibt. Schwer wiegende Folgen.« »Pure Spekulation«, wehrte Cloud ab, obwohl er tief in sich wusste, dass sie Recht hatte. Seit sie dem Holowesen begegnet waren, nistete die dumpfe Furcht in ihm, mit der Entführung der RUBIKON aus dem Aqua-Kubus etwas in Gang gesetzt zu haben, über dessen Folgen sie sich auch jetzt noch nicht klar waren. Nur darüber, dass es nicht folgenlos bleiben würde. Eine der Konsequenzen hatten sie bereits begriffen: Der Kubus hatte sich in ein Amok laufendes Gebilde verwandelt, das bereits dabei war, Königin Lovrenas Drohung in die Tat umzusetzen. Ein erster bewohnter Planet war dem zum Opfer gefallen, und wenn man es nüchtern betrachtete, waren sie – er, Scobee, Resnick, Jarvis und Darnok – daran nicht unschuldig. »Das glaubst du selbst nicht«, warf Scobee ihm vor. »Nein.« Cloud schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Zweck, den Kopf in den Sand zu stecken. Aber wir haben die RUBIKON verloren, nur du und ich sind noch von unserer ehemaligen Crew übrig – und alles, was uns jetzt noch bleibt, nachdem wir von Bord verwiesen wurden, ist, unser Überleben zu sichern. Dazu müssen wir Wissen anhäufen, wo immer sich die Möglichkeit dazu ergibt. Also auch hier.« »Was könnte ein Chinese aus der HanDynastie uns verraten, was uns hier und jetzt weiterhilft? Selbst wenn er erwachen würde, selbst wenn wir ihn verstünden – was beim Wandel der chinesischen Sprache und ihren unzähligen Dialekten fast aussichtslos ist.«
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Manfred Weinland
Sie beide beherrschten das GeschäftsChinesisch. Sadakos Reich war, so sehr es sich in ihrer Zeit auch abgeschottet hatte, ein beträchtlicher Macht- und Wirtschaftsfaktor gewesen. Gleichzeitig aber stimmte, was Scobee sagte: Die zur Han-Dynastie geläufige Verkehrssprache unterschied sich zweifellos beträchtlich von dem Idiom, den sie während ihrer Schulzeit und Ausbildung erlernt hatten. Moderne traf auf finsterste Antike. Es konnte nicht gut gehen. »Er könnte uns verraten, warum er und die anderen hier konserviert wurden – mit welcher genauen Absicht und von wem. Vielleicht erfahren wir von ihm erstmals Näheres über die Spezies der Hirten. Woher sie kommen, was sie beabsichtigen. Und wo diese Station hier liegt.« »Das ist reines Wunschdenken.« »Mag sein. Aber ich versuche es trotzdem«, sagte er und widmete sich der Sockelapparatur …
* Der Block öffnete sich nicht einfach, er schmolz. Er löste sich auf wie bernsteinfarbenes Eis unter tropischer Sonne. Die schwindende Substanz verflüchtigte sich einfach – zumindest wurde nicht erkennbar, wohin sie verschwand. Schließlich lag der bärtige Asiate, dessen Haar zu einem Zopf geflochten war, nur noch auf der Oberfläche des Sockels, die ebenfalls bernsteinfarben aussah. Bis das Licht erlosch, das ihr die Färbung verliehen hatte. Danach war sie dunkel, anthrazitfarben wie die übrige Umgebung. Cloud wartete noch ein paar Momente, dann bat er Scobee: »Sieh ihn dir bitte an. Du bist in medizinischen Belangen geschulter.« »Versuch's einfach mit Puls-Fühlen. Das kriegst du hin.« Er hatte sie in den Prozess einbeziehen wollen, aber offenbar lehnte sie das ab.
Er beugte sich vor und presste Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand gegen die Halsschlagader des freigelegten Mannes. Das Fleisch war wider Erwarten warm, hatte normale Temperatur. Die Suche nach dem Puls gestaltete sich etwas langwieriger als diese Erkenntnis. Cloud dachte schon, er würde gar nicht mehr fündig, als er das schwache Klopfen unter den Fingerkuppen verspürte. »Er lebt«, sagte er im Aufrichten. »Wenn du mir nicht glaubst …« »Ich glaube dir. Aber das ändert nichts an dem, was ich gesagt habe.« Die Lider des Mannes begannen zu zittern. Erkennbare Atemzüge hoben und senkten jetzt seinen Brustkorb. Schneller als erwartet öffnete er die Augen, die sich erst mit den Lichtverhältnissen anfreunden mussten. Er blinzelte. Dann weiteten sich seine Augen, als er Cloud und Scobee entdeckte, und er versuchte, sich aufzurichten. Ein paar Zentimeter schaffte er, dann zwang ihn die Schwäche wieder nach unten. Sein Atem ging plötzlich rasselnd. Seine blasse Gesichtshaut färbte sich bläulich, die Pupillen wurden noch größer. »Verdammt – habe ich's nicht gesagt?« Scobee gab ihre Zurückhaltung auf und kniete sich rasch neben dem Asiaten hin. Routiniert tastete sie seinen Puls und rief dann, ohne aufzusehen: »Wir verlieren ihn!« Cloud wollte es nicht wahrhaben. »Ich habe mich genau an die im Sockel eingravierten Abläufe gehalten. Ich …« »Du musst keinen Fehler gemacht haben. Trotzdem läuft es schief. Die Apparatur ist uralt. Sie kann einen Defekt haben. Oder es liegt daran, dass keine begleitenden Maßnahmen eingeleitet wurden. Medikamentenverabreichung … Du weißt, was du für Probleme hattest, aus einer nur einmonatigen Stase zurückzukommen. Ohne die Medikamente …« Während sie sprach, hatte sie den Chinesen in die stabile Seitenlage gedreht, aber es fruchtete nicht. Sein Zittern mündete in kon-
Hinter dem Schattenschirm vulsivische Zuckungen, die spasmische Ausmaße annahmen. Plötzlich richtete er sich unter Aufbietung aller ihm verbliebenen Kräfte doch noch ruckartig auf. Er stieß einen unmenschlichen Schrei aus – einen Laut, in dem so viel Entsetzen mitschwang, dass es Cloud eiskalt über den Rücken lief. Was habe ich getan? Im nächsten Moment sackte der Mann in sich zusammen, verstummte und atmete mit einem Seufzer aus. Scobee erhob sich. »Er ist tot«, sagte sie. Und dann wurden sie und Cloud Zeuge, wie der Körper des ehemaligen Schläfers fleckig wurde, die Haut trocken, fahl und spröde. Verwesungsgestank füllte den Raum. Und der Körper des Menschen, der gerade noch geatmet hatte, zerfiel in gespenstischem Tempo wie altes, brüchiges Pergament zu Staub.
* »Es wäre unverantwortlich, es ein zweites Mal zu versuchen!« Cloud blickte Scobee an, suchte nach Vorwurf in ihrem Gesicht, fand aber nichts dergleichen. Das rechnete er ihr hoch an. Zugleich ging er selbst hart mit sich ins Gericht. Wenn er auf sie gehört hätte und sich nicht stur über ihre Einwände hinweggesetzt hätte, wäre der Mann noch am Leben. Was für ein Leben?, hielt eine leise Stimme in ihm dagegen. Vielleicht hast du ihn erlöst. Vielleicht solltest du alle erlösen. Er misstraute der Stimme, die ihm Zuspruch gab. Nein, noch einmal würde er keine der Apparaturen in Gang setzen. »Was hältst du von dem Gedanken«, wandte er sich an Scobee, »dass uns die KI vielleicht einen letzten Streich gespielt hat?« »Wenn du dich etwas genauer ausdrücken könntest …« Er überlegte, setzte an – und entschied dann, seinen Verdacht für sich zu behalten. Es war noch zu früh. »Später«, sagte er. »Sehen wir uns erst weiter um und suchen nach einem Aus-
41 gang.« »Und wenn hinter diesem Ausgang Weltraum liegt?« »Dann sterben wir.« »Ach?« Sie schüttelte den Kopf. »Du entwickelst Züge, John, die mir nicht gefallen. Wollten wir nicht ursprünglich überleben?« »Nach Möglichkeit schon.« »Dann denk dir was anderes aus. Öffne keine einzige Tür mehr, ohne dir sicher zu sein, dass dahinter noch Luft zum Atmen ist. Versprichst du mir das?« »Du entwickelst ebenfalls Züge, die mir nicht gefallen. Wo ist meine alte Scob geblieben? Glaubst du ernsthaft, hier steht an jeder Tür eine Beschreibung, was uns dahinter erwartet? Wo ist deine Risikobereitschaft?« Scobee nagte an ihrer Unterlippe. »Okay, gehen wir.« Sie verließen den Raum, blieben auf der Schwelle aber wie auf ein geheimes Kommando noch einmal stehen und blickten über die Schulter – so als wollten sie das Bild der Blöcke mit Menschen die vor über zweitausend Jahren gelebt haben mussten, noch einmal in sich aufnehmen und wirken lassen. Schließlich wandten sie sich dem Korridor und der nächsten Tür zu. Plötzlich hörten sie ein Geräusch, das sie noch einmal in den gerade verlassenen Raum zurückkehren ließ. »O nein!«, stöhnte Scobee. »Wie kann …?« Clouds Stimme versagte. Sämtliche Blöcke im Raum hatten wie in einer unseligen Kettenreaktion zu schmelzen begonnen – die darin eingegossenen Körper wurden freigelegt. Cloud stürzte zum nächstliegenden Sockel und versuchte, den Prozess aufzuhalten. Aber die Sensoren reagierten nicht auf seine Eingriffe. Wenige Minuten später waren alle Schläfer erwacht.
* Cloud zählte insgesamt 27 Opfer. Sie alle
42 erwachten nur, um Minuten später wie brüchige, Jahrtausende alte Mumien zu Staub zu zerfallen. Sie alle atmeten im einen Augenblick und waren im nächsten tot. Scobee und er konnten nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, wie sie starben. »Wie konnte es dazu kommen?« Scobee schüttelte sich. Sie war hierhin und dorthin geeilt, er selbst hatte nach diesem und nach jenem Erwachenden geschaut – Frauen und Kinder waren darunter, nicht nur Männer. Aber es blieb überall wirkungslos. Der Tod war nicht aufzuhalten. Eine Weile war der Raum von Schreien erfüllt, dann nur noch von rasselndem Atem. Am Ende war einzig die Stille geblieben … »Ich weiß es nicht«, antwortete Cloud. »Vielleicht waren sie miteinander gekoppelt. Dann war es meine Schuld. Ich hätte nie …« In diesem Moment bemerkte Cloud die Bewegung. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes. In einer Ecke. Ein fliehender Schatten. Ein huschender Schemen … »Da!« Cloud rannte ohne zu überlegen los. Scobee rief ihm etwas nach, aber er hörte es kaum. Der Raum war etwa dreißig Meter tief. Und noch bevor Cloud die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, schien sich die komplette gegenüberliegende Wand aufzublähen und sich ihm entgegenzuwölben. Es sah unheimlich aus. So unheimlich, dass er stoppte und wartete, bis Scobee zu ihm aufgeschlossen hatte. In dieser kurzen Zeit löste sich die Struktur von der Wand, die nicht wirklicher Bestandteil von ihr war. Mimikry, schoss es Cloud durch den Sinn. Was immer es ist, es kann sich perfekt seiner Umgebung anpassen wie ein Chamäleon. Es … Mit einem schmatzenden Geräusch löste
Manfred Weinland sich auch noch der Rest von der Wandoberfläche, floss aber nicht wie erwartet zu Boden, sondern richtete sich auf und bildete eine neue Form aus. Die eines Humanoiden. Größer als Cloud, größer als Scobee … etwa zweieinhalb Meter hoch. »Lass uns verschwinden!«, raunte Scobee Cloud zu und packte ihn am Arm. Er wehrte sich nicht. Und während das Wesen auf sie zukam – mit stampfendem Schritt, der den Boden erbeben ließ –, drehten sie sich um und rannten auf den Ausgang zu. »Hölle, was ist das? Wo kommt es her?«, keuchte Cloud. Sie passierten die Tür. Der Gang bot keine Rettung. Drei von vier Türen hatten sie probiert, in einen der dahinter liegenden Räume zurückzukehren, war nicht ratsam. Und der Bahnhof? Nein, dachte Cloud, während sich das Wesen näherte. Die vierte Tür. Die Kapseln sind weg. Der Bahnhof ist eine Sackgasse. Wenn die vierte Tür nicht nach draußen führt, sind wir erledigt. Scobee schien zum selben Schluss gelangt zu sein. Sie protestierte nicht einmal ansatzweise, als Cloud auf Tür Nummer vier zurannte. Hinter ihnen trat der Koloss auf den Gang – und plötzlich wurde es still. So still, dass Cloud und Scobee inne hielten und zurückschauten. In diesem Moment stampfte das Geschöpf abermals auf. Die Erschütterung lief wie eine Schockwelle durch seinen eigenen Körper und ließ ihn in unzählige Teilchen zerspringen, die zu Boden regneten und quirlig quecksilbrig auf die beiden Menschen zukugelten. In diesem Moment begriffen sie es beide. »Es ist das Ding, das aus der zweiten Kapsel geströmt ist …« Cloud verschleppte das Tempo nicht länger, sondern rannte, wie er noch nie gerannt war. Kurz darauf warf er sich durch die offene Tür – hinter der völlige Dunkelheit gähnte.
Hinter dem Schattenschirm Als Scobee ihm folgte, rief sie: »Gibt es eine Möglichkeit, diesen Durchgang zu verschließen? Denk nach!« Cloud bemühte sich herauszufinden, was dieser neuerliche Ort an Überraschungen für sie bereit hielt. »Negativ«, antwortete er. »Ich weiß nicht, was du erwartest. Ich war hier auch noch nie und …« »In dir steckt mehr, als du dir selbst zutraust«, entgegnete Scobee und zerrte ihn tiefer in den Raum. Im Gegensatz zu ihm konnte sie im Dunkeln sehen. Clouds Blick hing am beleuchteten Türviereck. Er erwartete jeden Moment, die aufgesplittete Substanz des Wesens durch die Tür quellen zu sehen. »Was erkennst du?«, wandte er sich an Scobee. »Ich weiß es nicht. Eine Art Fahrzeug.« »Eine Kapsel?« »Nein, völlig anders. Es erinnert mehr an ein rundum geschlossenes Vehikel von der ungefähren Form eines Jeeps …« Cloud versuchte, dieser Beschreibung etwas abzugewinnen – vergeblich. »Wie weit?« »Wir sind gleich da.« In diesem Augenblick schwappte die amorphe Masse in den Raum. »Wir schaffen es nicht!«, stieß Cloud hervor. »Verdammt, am liebsten würde ich diesem verdammten Hirten den Hals umdrehen!« Er wusste, dass er niemals mehr in die Verlegenheit kommen würde, diesen Drang auszuleben. Jetzt wusste er, dass Sobek sie nicht nur der RUBIKON verwiesen hatte, sondern ihnen auch noch »etwas« nachgeschickt hatte, um ihnen ein für alle Mal den Rückweg abzuschneiden. Um uns zu beseitigen. War es so? Er fand keine andere Erklärung. »Verdammt«, keuchte Scobee, ohne stehen zu bleiben. Sie zog ihn weiter ins Dunkel hinein. Der Boden war eben, doch zum Glück lagen nirgends Hindernisse. »Es hat
43 uns gleich! Schneller! Wir müssen …« Etwas berührte Clouds Bein. Er schlug einen Haken, der aber nicht mehr als ein taumelnder Seitwärtsschritt wurde, da Scobee nicht daran dachte, seinen Arm loszulassen. Sie rannte plötzlich so schnell, dass er das Gefühl hatte, hinter ihr hergezogen zu werden, wie von einem fahrenden Auto. Plötzlich wurde er regelrecht durch die Luft gewirbelt. Scobee sprang und riss ihn mit. Gemeinsam landeten sie, Cloud wusste nicht, worauf. Er hörte ein patschendes Geräusch, dann ein Fauchen. Da wurde es hell. Im selben Moment, als draußen etwas gegen das Gehäuse klatschte, in das sie sich geflüchtet hatten. Die Hülle dröhnte ohrenbetäubend. »Wo sind wir?« Cloud sah sich um. »In dem Fahrzeug. Zumindest denke ich, es handelt sich um ein solches.« »Wie hast du es schließen können?« »Da ist ein Symbol neben der Tür. Ich habe einfach draufgehauen und die Tür glitt zu.« Cloud las das Zeichen und konnte es kaum fassen, dass Scobee instinktiv das einzig Richtige getan hatte. Draußen schlug das fremde Wesen erneut gegen die Wandung, die wie eine Glocke zu dröhnen begann. Cloud hatte das Gefühl, dass etwas aus ihm hervorzubrechen versuchte. Für ein paar Herzschläge schien sein Körper zu klein geworden zu sein für das, was in ihm steckte. Er sah die Umgebung mit anderen Augen – und handelte.
* Es war beinahe wie beim ersten Erwachen auf der RUBIKON II – als er intuitiv Bedeutung und Handhabung des dortigen Artefakts erkannte. Hier handelte es sich ebenfalls um ein Artefakt, um das Relikt eines möglicherweise ausgestorbenen Volkes – der Hirten.
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Das Fahrzeug, in das Scobee ihn gelotst hatte, war Cloud plötzlich vertraut wie der Sarkophag-Sitz an Bord der RUBIKON. Ein planetengebundes Fahrzeug, wisperte es in seinem Hirn. Im nächsten Moment saß er im Steuersitz. Stakkatoartig hämmerte und patschte es draußen gegen die Hülle. Warum weiß ich, was das hier ist … aber nicht, was uns verfolgt? Der Gedanke war flüchtiger als Gas. Im nächsten Moment versenkte sich Clouds Geist in die Steuerinstrumente des Warrikk. »Halt dich fest!«, rief er Scobee zu. Er aktivierte das Triebwerk und startete durch.
* Scobee spürte, wie die mühsam zwischen ihr und Cloud gewachsene Vertrautheit zerbröckelte wie morsches Holz. Von einem Moment zum anderen war er ihr wieder so fremd wie damals beim Start der Marsmission. Sie fand keine Bindung mehr zu ihm, litt unter der fast abstoßenden Fremdheit, die er ausströmte, während er hinter der Steuersensorik des Fahrzeugs saß und es beschleunigte. Sie hielt sich nicht fest, es war nicht nötig. Im Innern des Fahrzeugs wurden Andruckabsorber aktiv, die nicht einmal einen Hauch von zusätzlicher Gravitation ins Innere durchkommen ließen. Jäh endete das Schlagen gegen die Hülle. Es wurde still bis auf das sanfte Summen unbekannter Aggregate. Mit dem Start hatte sich das Cockpit verändert. Es gewährte plötzlich freie Sicht nach draußen. Noch bevor Cloud die Scheinwerfer aktivierte, hatte sie bereits erkannt, wo sie sich befanden. Unter Wasser. Klamm und knöchern legte sich die Sorge um ihr Herz. Nicht!, dachte sie. Bitte nicht noch einmal!
Sie fürchtete zu wissen, wohin die Kapsel sie getragen hatte. Draußen fiel die Station hinter ihnen zurück. Die Station, die nicht im freien All trieb, nicht auf der Oberfläche einer fremden Welt errichtet war, sondern umgeben war von Wasser, so weit das Auge reichte. Der Kubus, dachte Scobee. Wir sind wieder dort gelandet, von wo wir eben erst entkommen waren! Ein Gedanke, der auch Cloud beschlich, ihn aber nicht daran hinderte, das Fahrzeug immer weiter im schrägen Winkel nach oben von der Station der Hirten weg zu lenken. »John? John!« Er reagierte nicht auf ihre Rufe. Minuten vergingen. Plötzlich durchstieß das flache Gefährt die Wasseroberfläche. Und Scobee traute ihren Augen nicht, als sie die Landmasse sah, der sie entgegenrasten. Nicht der Kubus. Dem Himmel sei Dank, nicht der Kubus. Aber – wo sind wir dann?
* Draußen herrschte vollkommenes Dunkel. Nur wo die Scheinwerfer hinreichten, wurde die Umgebung aufgehellt. Der Himmel war vollkommen schwarz. »Was sagen die Instrumente?«, fragte Scobee. »Du verstehst sie doch? Du kannst sie doch lesen?« »Ja.« »Und?« »Atembare Atmosphäre«, fing er an herunterzuleiern. »1 g Schwerkraft. Mildes Klima. Erdwerte. Für Menschen wie geschaffen.« »Dann lass uns aussteigen.« »Wir wissen nicht, was uns erwartet. Es könnte gefährlich werden. Luft zum Atmen ist nicht alles.« »Dann bleib du hier, und ich sehe mich zuerst alleine um.« Er maß sie mit einem prüfenden Blick.
Hinter dem Schattenschirm »Nein, wir bleiben zusammen. Ich komme mit.« Er öffnete die Luke. Sie hatten eine enorme Strecke unter Wasser zurückgelegt. Die Station der Hirten befand sich in mehreren tausend Metern Tiefe auf dem Grund eines unbekannten Ozeans. »Gibt es Ausrüstung an Bord, Waffen, mit denen wir uns versorgen könnten?«, erkundigte sich Scobee. »Ich weiß es nicht.« »Nein?« »Du tust, als würde es mir Spaß machen«, fauchte er. »Dabei bin ich selbst wohl am unglücklichsten darüber, dass ich Dinge weiß und tue, die ich normalerweise nicht wissen und schon gar nicht können dürfte.« »Ich mache dir keinen Vorwurf. Aller Voraussicht nach hast du uns gerettet …« »… und Dutzende andere umgebracht.« Er senkte den Blick. Sanfter Wind trug eine salzige Brise von draußen herein. Und Geräusche. »Du konntest nicht wissen, was geschehen würde. Und jetzt hör auf, dich selbst zu bemitleiden. Finden wir heraus, was uns da draußen erwartet. Vielleicht gibt es Möglichkeiten, den Planeten zu verlassen. Vielleicht ist er bewohnt …« Ihr Blick schweifte durch das Cockpit und blieb an einer Wand hängen. Sie ging darauf zu, tastete sie ab – und wich zur Seite, als Cloud neben sie trat und wie selbstverständlich die Verkleidung öffnete. Dahinter waren Faustwaffen unbekannter Bauart, aber wie für die Hände eines Menschen gemacht. Oder für die eines Hirten. Cloud nahm eine an sich und reichte Scobee eine zweite. »Das dürfte reichen. Es muss reichen.« Gemeinsam verließen sie das Fahrzeug, dessen Außenscheinwerfer nach wie vor aktiviert waren und breit gefächert eine Strecke von etwa fünfzig Metern Länge und dreißig Meter Breite erhellten. Vor ihnen lag sandiger Boden bar jeder Vegetation. Aber jenseits der Lichtinsel türmten sich Silhouetten, die wie Bäume
45 aussahen. Ein Wald. Als sie sich etwa fünf Schritte von ihrem Fahrzeug entfernt hatten, geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatten: Hinter ihnen entstand Bewegung. Scobee bemerkte es zuerst, alarmierte Cloud durch einen Ruf. Beide wirbelten herum. Sie sahen gerade noch im Widerschein, wie sich etwas von der Außenhülle löste, förmlich davon abplatzte, herabregnete … und sich im Sand zu neuer, kompakterer Form vereinigte. Diese neue Form schlängelte sich blitzschnell auf die offene Luke zu. Scobee feuerte die ihr unbekannte Waffe ab. Ein Strahl schlug in den Sand und verflüssigte ihn unter Gluthitze. Doch die Stelle war bereits leer gewesen. Das amorphe Wesen verschwand im Innern des Fahrzeugs, und im nächsten Moment schon schloss sich die Luke. Scobee wollte die Waffe auf das Fahrzeug richten, aber Cloud schlug ihr den Arm nach unten. »Nicht! Du würdest es vernichten!« »Vielleicht will ich das ja? Dann können wir wenigstens sicher sein, dass es auch dieses Biest hinweggerafft hat!« »Nein. Wenn es uns hätte angreifen oder töten wollen, wäre ihm das ohne Zweifel gelungen, als wir ausgestiegen sind. Wir haben nicht mit ihm gerechnet, und nun …« Er verstummte. Summend erhob sich das Fahrzeug der Hirten vom sandigen Boden, beschleunigte und raste Richtung Ozean. Die Scheinwerfer erloschen. Das Geräusch entfernte sich. »Ich hätte es tun sollen.« Scobee fluchte. »Jetzt haben wir auch kein Fahrzeug mehr. Was haben wir deiner Meinung nach gewonnen?« Bevor er antworten konnte, näherte sich ein stetig anschwellendes Geräusch. »Es kommt zurück!« Scobee starrte mit ihrer Restlicht- und Infrarotsicht in die Dunkelheit hinaus. Cloud blieb skeptisch. Er legte den Kopf weit in den Nacken. Das Geräusch kam von
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hoch oben am Himmel, und der Gleiter war eben viel tiefer geflogen. »Klingt wie Donnergrollen …« Auch Scobee spähte jetzt nach oben. Im nächsten Moment stöhnte sie geblendet auf. »Was, zum Teuf el, ist das?« Auch Cloud wurde überrascht, aber seine weniger empfindlichen Augen bewältigten die Umstellung schneller. Am sternenlosen, pechschwarzen Himmel hatte sich ein Fenster geöffnet. Ein Fenster, durch das sie ein All voller Sterne sahen, die im nächsten Moment von einem gewaltigen Körper verdeckt wurden, der ihnen mit flammenden Triebwerken entgegensank. Hinter dem Raumschiff schloss sich die Lücke sofort wieder. Cloud und Scobee wechselten minutenlang kein einziges Wort. Aber sie wussten nun beide, wohin die Kapsel sie getragen hatte. Kein Zweifel, sie waren dort, wohin sie von Anfang an gewollt hatten. Auf einer fremden, hinter Finsternis verborgenen Welt namens – Erde …
Epilog Er erwachte. Die Angst hatte sich wie eine dünne Schicht aus schmutzigem Eis um seinen Körper gelegt und durchdrang auch jede Zelle. Sämtliche Augen waren geschlossen – mehr noch: verschlossen. Es war, als wäre eine schnell härtende Masse darüber gegossen worden. Und für lange Momente bezweifelte Darnok, sie jemals wieder aus eigener Kraft öffnen zu können. »Lockert das Eindämmungsfeld«, sagte eine Stimme, »aber nur leicht.« Der Keelon fühlte sich innerlich wie ausgehöhlt. Schwächeperioden waren ihm nicht fremd, und gerade die Phasen, in denen sein Magoo fast ausgebrannt gewesen war von den unglaublichen Anstrengungen einer Zeitreise, waren unvergesslich. Aber hier und jetzt war es anders.
Hier und jetzt war es, als existierte sein Magoo gar nicht mehr. Als wäre es aus ihm herausgerissen, herausoperiert worden. Amputiert. Er fühlte sich amputiert. Dieselbe Stimme wie zuvor erklang. »Die vorbereitete Injektion …« Darnok spürte einen Einstich. Wärme folgte. Hitze. Feuer! Ich brenne. Ich verbrenne! Sein nächster Gedanke war: Wo bin ich? Wieso bin ich nicht tot? Das Karnut hatte sich aufgelöst. Und mit ihm hätte er selbst sterben müssen – war es nicht so? Seltsamerweise hatte die Aussicht auf den unausweichlichen Tod ihn weit weniger erschreckt, als es nun die Aussicht auf ein unerwartetes Weiterleben tat. Was war dort draußen in der Oortschen Wolke geschehen? Und befand er sich immer noch dort? Hatte ihn ein fremdes Schiff geborgen und gerettet? An eine Bergung, wie auch immer sie sich ereignet haben mochte, war er bereit zu glauben. Aber an eine Rettung …? Die Stimme, die er gehört hatte, war ihm fremd. Sie gehörte nicht John Cloud, sie gehörte nicht GT-Scobee – und auch nicht Resnick oder Jarvis, die von wo auch immer zurückgekehrt sein konnten. Er öffnete die Augen. Sämtliche Augen, die über seinen schwarzen Leib verteilt waren. Ein Ruck durchlief ihn, und er sprengte mit seinem Willen die Fesseln, die ihn immer noch behinderten, wenigstens so weit, dass er die Häute vor den Augen heben konnte. Das Licht war im ersten Moment hell und blendend. Doch nur wenige Atemzüge später hatte er sich daran gewöhnt, und ihm fiel auf, dass er die ihn umgebende Luft zwar atmen konnte, sie sich in ihrer Zusammensetzung aber dennoch von der gewohnten unterschied.
Hinter dem Schattenschirm
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Zusätze von Edelgasen, die sonst gar nicht oder nur in winzigen Spuren vorkamen? »Wenn du mich verstehst, sag ein Wort!« Darnoks Blicke suchten die Gestalt, zu der die Stimme gehörte. Er fand sie – und andere. Die letzten Zweifel wichen. Erinjij! Darnok verharrte schweigend und regungslos. Mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er den Menschen nicht verstanden hatte, weil Technik ihm ihre Sprache übersetzte, sondern weil sie sich seiner Sprache bedienten. Nahezu perfekt. Sie müssen mich also identifiziert haben. Und sie müssen mein Volk sehr genau studiert haben, bevor sie es auslöschten. Aber ergab das Sinn? Warum sollte eine Spezies, die eine andere ausrottete, deren Sprache erlernen? Darnok wusste, dass er nur dann eine Chance hatte, es zu erfahren, wenn in den Dialog einwilligte. »Ich verstehe«, tönte es aus dem verborgenen Organ unter seinem Bauchfell. »Wie ist dein Name?« »Darnok.« Der Erinjij lachte. »Ist mein Fahrzeug zerstört?«, fragte der Keelon. Der Mann, der bislang als Einziger von insgesamt fünf Personen, die Darnok zählte, gesprochen hatte, ging nicht auf die Frage ein. Stattdessen sagte er: »Du bist nicht der Erste, den wir gefangen haben.«
Nicht der Erste? Unwillkürlich dachte Darnok an die RUBIKON. Bezog sich die Aussage auf sie? »Ich verstehe nicht.« »Das wirst du, das wirst du – bald. Es gibt jemanden, der dich kennen lernen will.« »Wer?« »Das wirst du erfahren, wenn er es wünscht.« Darnok sah sich um. Der Raum war voller Technik und voller seltsamer, unangenehmer Gerüche. »Wo bin ich?«, fragte er. Die vorübergehende Hitze, die ihn durchströmt hatte, war restlos verflogen. Da war wieder das Eis. Dreckiges, anekelndes Eis, das ihn wie eine zweite Haut umgab. »Wo?« Der Erinjij sah ihn an, als würde ihn die Frage mehr als alles andere erstaunen. »Du bist auf der Erde«, sagte er dann und wies in einen fernen, düsteren Winkel des Raumes, wo sich ein weiterer Gefangener befand, den Darnok erst jetzt bemerkte. Eine Gestalt, die ähnlich aussah, wie er selbst. Eine Gestalt, deren Anblick sein Blut zum Kochen brachte. Nein, dachte er, unmöglich! »Lisee …?« ENDE
ENDE
Die neue Menschheit von Manfred Weinland und Susan Schwartz Zwar haben John Cloud und GT-Scobee die RUBIKON II verloren. Aber wider Erwarten sind sie doch noch auf der Erde gelandet. Doch wo auf der Erde sind Cloud und Scobee? Und welche Erde erwartet sie bei ihrem weiteren Vorstoß?
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Manfred Weinland Infoblock "Glossar":
Aqua-Kubus – Ein legendenumwobener Ort: ein gigantischer Würfel, dessen Kantenlänge eine Lichtstunde beträgt. Er ist vollständig mit Wasser gefüllt und treibt durchs All. In seinem Innern »schwimmen« ganze Planeten. Die herrschende Spezies sind die Vaaren, die über psionische Kräfte verfügen und den Kubus in ihren Jadeschiffen bereisen. Der Kubus wird von den Bewohnern selbst Tovah'Zara genannt. CLARON – Name einer Allianz organischer raumfahrender Völker der Milchstraße. Das Kürzel setzt sich aus den Initialen der führenden Rassen zusammen: Ceyniden, Laschkanen, Aorii, Rogh, Ovoaner und Neeg. Darnok – Ein molluskenartiges Wesen, das entfernt an einen riesigen Herzmuskel erinnert. Darnok entstammt dem Volk der Keelon, die von den Menschen – den Erinjij – ausgerottet wurden. Wahrscheinlich weil sie eine Bedrohung in ihnen sahen. Die Keelon waren die so genannten »Architekten der Zeit«, konnten mittels ihres »Magoos« in die Vergangenheit springen. Allerdings unterlagen ihre Ausflüge großen Tabus. Es gab einen Kodex, der Zeitparadoxa ausschließen sollte. Auch Darnok beherrscht das »Magoo«. Ohne ihn und sein kleines Raumfahrzeug, das Karnut, wären John Cloud und die GenTecs mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Wirren der Erdinvasion umgekommen. Erinjij – Sinngemäß: »Geißel der Galaxis«. Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gegeben haben, die vom irdischen Sonnensystem aus ihren Vorstoß in die Weiten des Alls via Wurmloch-Verbindungen forcieren. Die galaktische Position der Erde ist den anderen Rassen dabei bis heute unbekannt. Sie kennen nur Basen der Erinjij, die in der Nähe von Wurmlöchern zu Festungen ausgebaut wurden. In Heft 2 erfolgte ein Angriff auf eine solche Brückenstation durch das Volk der Barschieri. GenTecs – Genetisch optimierte, aus einer Matrix geklonte Menschen – ursprünglich zur Aufklärung des Marsrätsels entwickelt. Jay'nac – Das dominierende Volk der Anorganischen. Es steht kurz davor, in Krieg gegen die Erinjij zu treten. Die Allianz CLARON will dies verhindern, bietet Gespräche an. Sie fürchtet, dass ein unlöschbarer Brand entsteht, sobald die Jay'nac gegen die Menschen vorgehen. Wobei CLARON am meisten fürchtet, dass die Jay'nac siegreich aus dieser Schlacht hervorgehen … und sich als Nächstes gegen die Allianz stellen könnten. NCIA – Im Jahr 2041 die Nachfolgeorganisation der heutigen CIA. Leiter ist Reuben Cronenberg, der seinerzeit auch Kopf einer gegen die amerikanische Regierung gerichteten Verschwörung war. Seine Komplizen dabei unter anderem: Professor Xander Hays, der Leiter des streng geheimen Klon- und Telepathenprojekts, sowie … Matrix Scobee, die sich inzwischen aber von diesen Plänen losgesagt hat. Protomaterie – Neben den Vaaren leben auch die Luuren im Aqua-Kubus; sie sind eine Art
»Gesundheitspolizei«, sie sammeln alles tote Organische ein und bereiten es zu einer Art Urstoff auf, auch Protomaterie genannt. Die speziellen geistigen Fähigkeiten der Luuren ermöglichen es, aus diesem Stoff alles herzustellen, was in Tovah'Zara gebraucht wird – auch hochwertige »Technik« wie etwa die Jadeschiffe. RUBIKON I – Irdisches Raumschiff, mit dem im Jahr 2041 die zweite bemannte Mission zum Mars aufbrach – mit John Cloud als Commander. Im Zuge der Erdinvasion wurde auch die auf dem roten Planeten gelandete RUBIKON vernichtet. RUBIKON II – auch SESHA – rochenförmiges Raumschiff, das im Zentrum des Aqua-Kubus versteckt war. Artefakt einer unbekannten, in Verbindung mit dem beherrschenden Volk des Kubus stehenden Spezies. Die Vaaren assoziieren SESHA mit den so genannten Sieben Hirten ihrer Mythologie, ohne dass klar wird, was oder wen genau man sich darunter vorzustellen hat. Antrieb, Bewaffnung und sonstiges Innenleben sind bislang kaum erforscht. Das Schiff akzeptiert aber John Cloud als neuen Kommandanten. Spore Auri – Heimat des Aurigen Cy, eines Pflanzenwesens, das vom Bund CLARON, einer Allianz organischer Spezies, auserwählt wird, die Bewusstseinskopien sämtlicher CLARON-Regenten in sich aufzunehmen – wozu nur es dank besonderer Physis befähigt ist – und als Botschafter des Friedens zu den anorganischen Jay'nac zu reisen. Die Spore Auri treibt in einem Gasring, der die Heimatsonne Cys ähnlich umkränzt wie wir es von den Ringen des Saturn kennen. Dass in dieser Zone Leben möglich ist, scheint auf Artefakte zurückzuführen zu sein, die unregelmäßig innerhalb des Rings verteilt sind. Eines dieser Artefakte war nur dazu da, die Aurigen mit Nahrung zu versorgen. Als es zerstört wurde, starben alle Bewohner der Spore – bis auf Cy. Er wird von den »Suchern« der Allianz gerettet und mit sechs Fremdbewusstseinen »geimpft« – derer er von den Jay'nac aber wieder beraubt wird.