Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht
Hans-Joachim Heintze · Knut Ipsen Herausgeber
Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht 20 Jahre Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht – 60 Jahre Genfer Abkommen
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Herausgeber PD Dr. Hans-Joachim Heintze Professor Dr. Dr. h.c. mult. Knut Ipsen Ruhr-Universität Bochum Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) Universitätsstr. 150 44780 Bochum Deutschland
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ISBN 978-3-642-14675-6 e-ISBN 978-3-642-14676-3 DOI 10.1007/978-3-642-14676-3 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
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Am 17. und 18. September 2009 veranstaltete das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum eine wissenschaftliche Tagung zu Ehren zweier Jubiläen. Zum einen erinnerte das IFHV an den Abschluss der Genfer Abkommen vor 60 Jahren, dem Kernstück des heutigen humanitären Völkerrechts. Zum anderen konnte das IFHV auf seine Gründung vor 20 Jahren und damit auf zwei Jahrzehnte Forschung und Lehre auf dem Gebiet der Konfliktbewältigung und des humanitären Völkerrechts zurückblicken. Der vorliegende Band ist aus den Tagungsbeiträgen entstanden und will die wesentlichen Erkenntnisse des Symposiums einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.
60 Jahre Genfer Abkommen Neben der sechzigjährigen Wiederkehr der Unterzeichnung der vier Genfer Abkommen konnte im Jahr 2009 ein weiterer Jahrestag begangen werden. Am 24. Juni 1859, also vor 150 Jahren, kämpften in der Schlacht von Solferino in Norditalien die Truppen von Viktor Emanuel II., dem König von Piemont-Sardinien, zusammen mit den Soldaten von Napoleon III. gegen das Heer des österreichischen Kaisers Franz Joseph. Insgesamt standen sich über 300.000 Soldaten gegenüber. Die Schlacht war die blutigste seit Waterloo und das Leid der zahllosen Verwundeten war entsetzlich. Es gab keine ausreichende medizinische Versorgung; die Verwundeten wurden größtenteils zum Sterben auf dem Schlachtfeld zurückgelassen. Der Genfer Geschäftsmann Henry Dunant, der angereist war, um Napoleon III. zu treffen, wurde mit diesem Grauen unmittelbar konfrontiert. Gemeinsam mit der Bevölkerung des Ortes Castiglione bemühte er sich um die Versorgung der Verwundeten – über die Grenzen von Nationalität und Streitkräftezugehörigkeit hinweg. Dieses Erlebnis brachte ihn auf den Gedanken, dass in Friedenszeiten Hilfsgesellschaften gegründet werden sollten, die dann in Kriegszeiten verwundete Soldaten versorgen könnten. Er formulierte diese Idee in seinem Buch „Un mémoire de Solferino“. Es wurde nach seinem Erscheinen 1862 bald in zahlreiche europäischen Sprachen übersetzt und gab den Anstoß für die Rotkreuz-Bewegung, die schließlich auch zum
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Abschluss zwischenstaatlicher Verträge im Bereich des humanitären Völkerrechts führte. 1863 gründete Dunant und vier weitere Bürger in Genf ein Komitee, das spätere Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Auf Initiative des IKRK und der Schweizer Regierung kam es 1864 zum Abschluss der ersten Genfer Rotkreuz-Konvention. Dieses 1864 von zwölf Staaten unterzeichnete Abkommen begründete den völkervertraglichen Schutz verwundeter Soldaten im Felde. Die später überarbeitete Konvention bildete die Grundlage für das I. Genfer Abkommen von 1949. Nachdem 1929 eine Konvention zum Schutz von Kriegsgefangenen verabschiedet worden war und das IKRK bereits seit dem Ersten Weltkrieg Regelungen zum Schutz von Zivilpersonen gefordert hatte, wurden diese Bereiche gemeinsam mit Bestimmungen zum Schutz der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Seestreitkräfte 1949 zu den vier Genfer Abkommen zusammengeführt. Seit den Tagen Henry Dunants hat sich der Charakter bewaffneter Auseinandersetzungen allerdings entscheidend gewandelt. Damit änderten sich auch die Anforderungen an die rechtlichen Regelungen. Wenn Staaten neu auftretende Probleme durch den Abschluss völkerrechtlicher Verträge zu bewältigen suchen, wie dies in den Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen geschehen ist, müssen sie militärischen Notwendigkeiten und humanitären Zwecken Rechnung tragen. Ursprünglich waren das sogenannten Haager Recht, d. h. die Bestimmungen über Mittel und Methoden der Kampfführung, und das sogenannte Genfer Recht, also die Regelungen zum Schutz der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Verwundeten, Gegenstand getrennter Konventionen. Die Zusatzprotokolle I und II zu den Genfer Abkommen von 1977 enthalten sowohl Regelungen des Genfer wie auch des Haager Rechts. Beide Regelungsbereiche werden heutzutage zunehmend unter der Bezeichnung „humanitäres Völkerrecht“ zusammengefasst. Ausgangspunkt der Genfer Konventionen ist der Gedanke, dass bewaffnete Konflikte Auseinandersetzungen zwischen Staaten sind. Heutzutage sind derartige internationale bewaffnete Konflikte allerdings in der Minderzahl. In modernen bewaffneten Auseinandersetzungen ist nicht selten nur noch eine der Konfliktparteien ein Staat. Teilweise sind Staaten beteiligt, die keine handlungsfähige Regierung mehr haben und in Auflösung begriffen sind. Beteiligt an Kampfhandlungen sind ferner Personengruppen mit unterschiedlichen Organisationsstrukturen, die zudem häufig kein Interesse daran haben, sich an humanitäre Standards zu halten. Fraglich ist, ob die wenigen Bestimmungen, die vor allem die III. Genfer Konvention und das I. Zusatzprotokoll zu derartigen Personengruppen enthalten, die Probleme der heutigen bewaffneten Auseinandersetzungen adäquat erfassen. Diesem Fragenkomplex widmen sich die Beiträge des Tagungsbandes im Kapitel „60 Jahre Genfer Abkommen“. Einleitend skizziert dort Robin Geiß, Rechtsberater in der Rechtsabteilung des IKRK, „Das humanitäre Völkerrecht im Lichte aktueller Herausforderungen“. Dabei setzt er sich insbesondere mit dem Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts auseinander. Während er bei internationalen bewaffneten Konflikten weitgehend Konsens über die fortbestehende Anwendbarkeit der Genfer Abkommen feststellt, sieht er die Probleme vor allem bei den heute zahlenmäßig überwiegenden nicht-internationalen bewaffneten Konflikten. Hier zeigt er die Schwierigkeiten auf, das Vorliegen eines solchen Konflikts zu bestimmen
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und ihn von anderen Gewaltformen wie Kriminalität oder Terrorismus und deren Bekämpfung abzugrenzen. Unklarheiten beim anzuwendenden Regelwerk, mangelnde Regelungsdichte der zur Verfügung stehenden völkervertraglichen Normen und fehlende Anreize für ihre Einhaltung stellten weitere Herausforderungen dar. Auch bei den humanitären Standards für die Führung von Feindseligkeiten, die für internationale wie nicht-internationale bewaffnete Konflikte gleichermaßen gälten, sieht er Regulierungs- und Implementierungsdefizite. Stephan Hobe, Professor für Völkerrecht, Europarecht, europäisches und internationales Wirtschaftsrecht, beleuchtet in seinem Beitrag „Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der internationalen Ordnung und des Völkerrechts“ die Konflikte zwischen Staaten und nicht-staatlichen Gewaltakteuren. Er zeigt die Schwierigkeiten auf, die bei Einordnungsversuchen dieser Auseinandersetzungen anhand der Kriterien des herkömmlichen humanitären Völkerrechts bestehen. Er kommt zu dem Schluss, dass das bestehende humanitäre Völkerrecht deshalb keine adäquaten Antworten auf die Herausforderungen asymmetrischer Konflikte liefern kann, weil zwischen den Konfliktparteien keine Reziprozitätslage und damit auch keine Symmetrieerwartung besteht. Änderungsvorschlägen, wie etwa der Zuerkennung partieller Völkerrechtssubjektivität an Terrornetzwerke, erteilt er eine Absage und plädiert vielmehr für eine pragmatische Vorgehensweise durch modifizierende Auslegung des bestehenden humanitären Völkerrechts. Nach den Vorstellungen der UN-Charta von 1945 sollte das Gewaltverbot ein entscheidender Baustein der Friedenssicherung werden. Die Rolle des Gewaltverbotes im Lichte heutiger Konflikte erörtern aus jeweils unterschiedlicher Per spektive die Beiträge von Michael Bothe, em. Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht, sowie von Daniel-Erasmus Khan, Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht. In seinem Beitrag „Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Eindämmung des Krieges – eine unmögliche Aufgabe?“ diskutiert Michael Bothe Entstehung, Geltung und Rahmenbedingungen des Gewaltverbotes sowie staatliche Reaktionen auf das Verbot in verschiedenen militärischen Gewaltsituationen. Er beleuchtet kritisch internationale und nationale Mechanismen der Durchsetzung des Gewaltverbotes und zeigt deren Schwachstellen auf. Angesichts der politischen Agenda vieler Staaten, sich den Einsatz von militärischer Gewalt zu politischen Zielen vorzubehalten, warnt er eindringlich vor einer Aufweichung einer der großen kulturellen Errungenschaften des letzen Jahrhunderts. Daniel-Erasmus Khan hingegen fragt, ob „Mehr Symmetrie ohne Gewaltverbot?“ erreichbar sei. Er verdeutlicht die Staatenbezogenheit des Gewaltverbots der UN-Charta und fordert dazu auf, über die Abschaffung des Gewaltverbots in seiner heutigen Form nachzudenken. Angesichts der Vielfalt von Akteuren und Adressaten, durch die und gegenüber denen Gewalt ausgeübt werde, sei es notwendig, die staatenzentrierte Perspektive zu relativieren und zu einem mehr anthropozentrischen Verständnis der internationalen Ordnung zu kommen. Kirsten Schmalenbach, Professorin für Völker- und Europarecht, wendet sich in ihrem Aufsatz „Das moderne Recht der Okkupation – ein Instrument des Regimewechsels?“ dem Bereich des Post-Conflict Peace-Building zu. Sie fragt danach, welche Handlungsspielräume das Völkerrecht Besatzungsmächten nach
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Beendigung der Kampfhandlungen für Staats- und Verwaltungsreformen eröffnet und ob diese soweit gehen, einen Regimewechsel in die Wege leiten und institutionell absichern zu dürfen. Als Ergebnis ihrer Untersuchung stellt sie fest, dass das ius in occupatione bellica ergänzt durch Art. 64 des IV. Genfer Abkommens und im Lichte der internationalen Menschenrechte und Verwaltungsstandards interpretiert Möglichkeiten für die Initiierung eines Regimewechsels einräumt. Eine rechtliche Grenze ziehe dabei allerdings das Selbstbestimmungsrecht des Volkes. Hans-Joachim Heintze, Hochschuldozent für Völkerrecht am IFHV, geht in seinem Beitrag „Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts durch den Menschenrechtsschutz“ von dem Befund aus, dass Staaten den Herausforderungen der neuen und asymmetrischen Konfliktformen nicht durch eine Erweiterung des Regelwerks des humanitären Völkerrechts begegnen wollen, sondern es vorziehen, Lösungen im Einzelfall zu suchen. Er wendet sich daher dem im Vergleich zum humanitären Völkerrecht stärker kodifizierten und mit Durchsetzungsmechanismen ausgestatteten Menschenrechtsschutzsystem zu und prüft, ob der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten einen erhöhten Schutz bieten kann. Dazu unterzieht er das Verhältnis zwischen dem völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz und dem humanitären Völkerrecht einer umfänglichen Analyse. Er weist nach, dass beide Rechtskreise sich aufeinander zu bewegen und in bewaffneten Konflikten nebeneinander zur Anwendung kommen können. Er erwartet, dass die vergleichsweise kraftvoll ausgeprägten Durchsetzungsmechanismen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zukünftig stärker auch zur Durchsetzung von humanitären Standards genutzt werden können. Math Noortmann, Professor in International Relations and Public International Law, betrachtet in seinem Beitrag „Aufständische Gruppen und private Militärunternehmen – Theoretische und praktische Überlegungen zur Position bewaffneter nicht-staatlicher Akteure im humanitären Völkerrecht“ die Vielzahl der in gegenwärtigen bewaffneten Konflikten agierenden nicht-staatlichen Gruppierungen. Die Diskussionen um den genauen rechtlichen Status derartiger privater Akteure und ihrer möglichen (partiellen) Völkerrechtssubjektivität, um sie in das staatengeprägte Regelwerk des Völkerrechts einordnen zu können, hält er für zu kurz gegriffen. Er plädiert vielmehr für eine politisch orientierte Betrachtungsweise, die darauf abstellt, welche Rolle die betreffende Gruppierung im Konflikt und in den damit zusammenhängenden juristischen Prozessen spielt. In der Praxis sei jedenfalls ein Bedürfnis nach rechtsverbindlichen Absprachen zwischen an bewaffneten Auseinandersetzungen beteiligten nicht-staatlichen Akteuren und Staaten erkennbar. Rainer Hofmann, Professor für Öffentliches Recht mit Schwerpunkt im Völkerrecht, fragt in seiner Abhandlung „Durchsetzung von Ansprüchen von Kriegsopfern: Sind wir heute weiter als 1949?“ im Hinblick auf internationale bewaffnete Konflikte zum einen danach, ob im Jahr 1949 ein völkerrechtlicher Anspruch von Opfern auf Wiedergutmachung existierte und zum anderen, ob es einen solchen Anspruch heute gibt. Für die Situation in den Jahren unmittelbar nach dem II. Weltkrieg kommt er zu dem Ergebnis, dass weder das damals geltende Völkerrecht noch die relevante Staatenpraxis einen völkerrechtlichen Individualanspruch auf Wiedergutmachung anerkannten. Auch heutzutage lehne die ganz vorherrschende Meinung vor allem in
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der Staatenpraxis immer noch einen völkerrechtlichen Individualanspruch ab. Allerdings gebe es Tendenzen, Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 und Art. 91 des I. Zusatzprotokolls von 1977 heute so auszulegen, dass sie einen Individualanspruch bei Verletzung humanitären Völkerrechts gewährten. Eine solche dynamische Vertragsauslegung unterstützt der Referent vor allem mit dem Hinweis auf den heutzutage ausgebauten Schutz der Menschenrechte und das mittlerweile anerkannte Nebeneinander von Menschenrechten und Normen des humanitären Völkerrechts. Da selbst ein völkerrechtlicher Individualanspruch bei Klagen gegen den Verletzerstaat vor Gerichten eines anderen Staates an den Regeln der Staatenimmunität scheitern könne, plädiert er für Verfahren vor Gerichten des verantwortlichen Staates oder vor speziell eingerichteten internationalen Spruchkörpern. Rechtsanwalt Axel Hagedorn berichtet aus seiner Tätigkeit als Rechtsvertreter für die niederländische Stiftung „Mothers of Srebrenica“. Im Juni 2007 hatte seine Kanzlei Sammelklagen vor einem niederländischen Gericht gegen den niederländischen Staat und die Vereinten Nationen wegen Fehlverhaltens der niederländischen Blauhelme während des Massakers von Srebrenica im Juli 1995 eingereicht. In seinem Beitrag „Absolute Immunität der Vereinten Nationen? – Der Völkermord von Srebrenica als Lackmustest“ wendet er sich gegen die im Verfahren vorgetragene Ansicht, die Vereinten Nationen genössen absolute Immunität vor staatlichen Gerichten und zeichnet dabei die Argumentation der Klägerseite im Verfahren nach. Die Beteiligung an einem Völkermord könne erstens nie unter die funktionelle Immunität der Vereinten Nationen nach Art. 105 UN-Charta fallen. Zweitens müsse sich das Verbot des Völkermordes wegen seines Charakters als ius cogens gegenüber der Immunität einer internationalen Organisation durchsetzen. Da die Vereinten Nationen kein funktionierendes Rechtssystem besäßen, das in einem fairen Verfahren Rechtsschutz gewährleiste, müsste drittens ein staatliches Gericht den Vereinten Nationen die Berufung auf ihre Immunität versagen, da ansonsten die Machfülle der Vereinten Nationen keiner Kontrolle unterliege. Schließlich hätten die Vereinten Nationen viertens im Srebrenica-Verfahren auf ihre Immunität verzichten müssen, um weiterhin glaubwürdig für den Schutz der Menschenrechte eintreten zu können. Für Hans-Peter Kaul, Richter und Zweiter Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), sind das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht „zwei Seiten der gleichen Medaille“. In seinem Referat „Abstrafung der Täter – ein Instrument zur Prävention?“ fragt er, ob die Strafandrohung des Art. 8 des Römischen Statuts, der zahlreiche bislang staatengerichtete Verbote der Genfer Konventionen und der beiden Zusatzprotokolle in Verbotsnormen des modernen Völkerstrafrechts umwandelt, und deren Durchsetzung durch den IStGH zur Verbrechensprävention beitragen. Nach Erläuterung der durch das Römische Statut in mehrerer Hinsicht eingeschränkten Gerichtsbarkeit des IStGH wendet er sich der Prävention zu, einem der Zwecke des Völkerstrafrechts und der Arbeit des Gerichtshofs. Obwohl der IStGH eine strukturell schwache Institution sei und die präventive Wirkung eines Gerichts schwer gemessen werden könne, zeigt der Referent anhand konkreter Fälle, dass es durchaus Belege für eine präventive Wirkung der Tätigkeit des IStGH gebe. Darüber hinaus hebt er die integrative Wirkung und das identitätsstiftende Potenzial des Völkerstrafrechts für die internationale Gemeinschaft
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hervor. Abschließend mahnt er eine nachhaltige, politische und praktische Unterstützung durch die Vertragsstaaten vor allem bei der Festnahme und Überstellung der Täter an und fordert zu beharrlichem Eintreten für das Völkerstrafrecht auf.
20 Jahre IFHV Vor 20 Jahren gründete Knut Ipsen zusammen mit seinem ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter Horst Fischer das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) als selbständige wissenschaftliche Einrichtung der Ruhr-Universität Bochum. Die Forschungs- und Lehrtätigkeit des IFHV geht über die Genfer Abkommen und die in den gerade geschilderten Beiträgen angesprochenen Rechtsfragen allerdings weit hinaus, beschäftigt es sich doch mit Fragen internationaler Konflikte und ihrer Bewältigung aus umfassender, vor allem auch aus interdisziplinärer Sicht. So finden sich im Direktorium neben Vertretern des IFHV und Professoren der Juristischen Fakultät auch Professoren der Fakultät für Geowissenschaften, der Medizinischen Fakultät und der Fakultät für Sozialwissenschaft. Drei Beiträge des Tagungsbandes sind der Forschungs- und Lehrtätigkeit des IFHV gewidmet. Den Anfang macht der Gründer und langjährige Geschäftsführende Direktor des Instituts, Knut Ipsen, em. Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, mit seinem Beitrag „Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit“. Er legt die Anforderungen einer über eine bloße zwischendisziplinäre Kommunikation hinausgehenden Zusammenarbeit dar und betrachtet kritisch das diesbezügliche Potenzial der Rechtwissenschaft. Er macht deutlich, dass das bereits von Beginn an auf Interdisziplinarität ausgerichtete IFHV den Forschungsbedarf in den Kernbereichen seiner Institutsarbeit, zu denen vor allem die asymmetrischen bewaffneten Konflikte zwischen Staaten und nicht-staatlichen Konfliktparteien sowie die humanitäre Hilfe zählen, auch in Zukunft nur interdisziplinär bewältigen kann. Dabei plädiert er für eine langfristige institutionelle Verankerung des IFHV als selbständige wissenschaftliche Einrichtung. Der Mitbegründer und erste Geschäftsführer des IFHV, Horst Fischer, Professor für International Humanitarian Law, berichtet anschließend über das bislang umfangreichste Forschungsprojekt des Instituts, die Beteiligung an der sogenannten Gewohnheitsrechtsstudie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Unter dem Titel „Das ‚Harmonische Dreieck‘: Die organische Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis am IFHV von 1988–2008“ zeigt er die Wechselwirkungen zwischen Forschungsergebnissen und Lehrinhalten des Instituts mit der Praxis von Ministerien und Organisationen auf. Dabei geht er auch auf die aus diesem Zusammenwirken entstandenen Studiengänge des Instituts ein, den seit 1993 von der Europäischen Kommission geförderten europäischen und interdisziplinären Masterstudiengang zur humanitären Hilfe (NOHA), der 2003 das europäische Qualitätslabel „ERASMUS MUNDUS“ erhielt, und das Masterprogramm „Human
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Rights and Democratisation“, das vom Europäischen Menschenrechtsinstitut in Venedig unter der Verantwortung der Ruhr-Universität Bochum ausgerichtet wird. Die „Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht“ stellt Heike Spieker, Stellvertretende Bereichsleiterin im DRK-Generalsekretariat, vor, die in den ersten zwölf Jahren des Instituts dort selbst als Forscherin tätig war und dem IFHV weiter als Dozentin verbunden ist. Sie erläutert, dass das IFHV seit seiner Gründung einer der Kooperationspartner des Deutschen Roten Kreuzes bei dessen zwei Hauptaufgaben, der Verbreitung des humanitären Völkerrechts und der Rotkreuz-Grundsätze sowie der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts war. Anhand der Arbeitsbereiche Forschungsarbeiten, Publikationen, Tagungen und Fachberatung veranschaulicht sie die Zusammenarbeit und betont, dass das IFHV akademischen Anspruch mit Praxisrelevanz verbunden habe und ein wichtiger Partner und hochkarätiger Leistungsträger mit einer einzigartigen Kompetenz gewesen sei. Die Beiträge des Tagungsbandes erinnern einerseits daran, dass die Genfer Abkommen von 1949 eine wichtige Etappe auf dem Weg zu mehr Menschlichkeit bei bewaffneten Auseinandersetzungen markieren. Sie zeigen andererseits aber auch die enormen Herausforderungen auf, vor denen das humanitäre Völkerrecht angesichts neuartiger, häufig asymmetrischer Konfliktformen steht, und diskutieren mögliche Lösungen. Festzuhalten bleibt, dass die Welt seit dem Fall des Eisernen Vorhangs anders, aber nicht unbedingt friedlicher geworden ist. Der Bedarf nach der Erforschung neuer Wege zur Bewältigung neuartiger Konfliktformen bleibt hoch. Den damit zusammenhängenden juristischen und anderen Fragen wird sich das IFHV an der Ruhr-Universität Bochum auch weiterhin widmen. Bochum, im Mai 2010
Adelheid Puttler
Danksagung
Es ist den Herausgebern ein Bedürfnis, der Fritz-Thyssen-Stiftung für die großzügige finanzielle Unterstützung der wissenschaftlichen Tagung „Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht – 20 Jahre Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht und 60 Jahre Genfer Abkommen“ Dank zu sagen. Der Verein zur Förderung der Forschung und Lehre zum Friedenssicherungsrecht und Humanitären Völkerrecht e. V. hat freundlicherweise die Erstellung des vorliegenden Buches ermöglicht. Auch dafür bedanken wir uns. Die redaktionelle Bearbeitung übernahmen Dr. Jana Hertwig, LL.M. (Eur. Integration), wissenschaftliche Mitarbeiterin am IFHV, Johannes Norpoth, LL.M. (Maastricht), Rechtsreferendar, und Dilan Khoshnaw, studentischer Mitarbeiter am IFHV. Ihnen gebührt somit ebenfalls unser Dank. Bochum, im Mai 2010
Hans-Joachim Heintze/Knut Ipsen
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Inhalt
Teil I 20 Jahre IFHV Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit �������������������������������� 3 Knut Ipsen Das „Harmonische Dreieck“: Die organische Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis am IFHV von 1988–2008 ����������������������������� 15 Horst Fischer Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht ���������������������� 31 Heike Spieker Teil II 60 Jahre Genfer Abkommen Das humanitäre Völkerrecht im Lichte aktueller Herausforderungen������ 45 Robin Geiß Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der internationalen Ordnung und des Völkerrechts ����������������������������������������� 69 Stephan Hobe Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Eindämmung des Krieges – eine unmögliche Aufgabe? ������������������������������������������������������������ 87 Michael Bothe Mehr Symmetrie ohne Gewaltverbot? ���������������������������������������������������������� 99 Daniel-Erasmus Khan Das moderne Recht der Okkupation – ein Instrument des Regimewechsels? �������������������������������������������������������������������������������������� 113 Kirsten Schmalenbach
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Inhalt
Durchsetzung von Ansprüchen von Kriegsopfern – Sind wir heute weiter als 1949? ������������������������������������������������������������������������������������� 133 Rainer Hofmann Abstrafung der Täter – ein Instrument zur Prävention? ���������������������������� 153 Hans-Peter Kaul Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts durch den Menschenrechtsschutz ����������������������������������������������������������������������������� 163 Hans-Joachim Heintze Aufständische Gruppen und private Militärunternehmen – Theoretische und praktische Überlegungen zur Position bewaffneter nicht-staatlicher Akteure im humanitären Völkerrecht �������� 187 Math Noortmann Absolute Immunität der Vereinten Nationen? – Der Völkermord von Srebrenica als Lackmustest �������������������������������������������������������������������� 201 Axel Hagedorn
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Prof. Dr. Michael Bothe J. W. Goethe Universität, Fachbereich Rechtswissenschaft, Theodor Heuss Str. 6, 64625 Bensheim, Deutschland E-Mail: bothe-bensheim@t-online. Prof. Dr. Horst Fischer Professor für International Humanitarian Law an der Universität Leiden; Gründer und erster Geschäftsführer des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht Universität Leiden, Bömmerstr. 20, 44892 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected] Dr. Robin Geiß LL.M. (New York University), Rechtsberater in der Rechtsabteilung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf International Committee of the Red Cross, 19 avenue de la Paix, 1202 Geneva, Schweiz E-Mail:
[email protected] Dr. Axel Hagedorn Senior-Partner der niederländischen Großkanzlei Van Diepen Van der Kroef Advocaten; Vertretung der Stiftung der Hinterbliebenen des Völkermords von Srebrenica in dem laufenden Zivilverfahren gegen die Vereinten Nationen und den niederländischen Staat Van Diepen Van der Kroef Advocaten, Dijsselhofplantsoen 14-18, 1077 BL Amsterdam, Niederlande E-Mail:
[email protected] Dr. habil. Hans-Joachim Heintze Hochschuldozent für Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV), Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected]
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Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main; Rapporteur des Committee on Reparations for Victims of Armed Conflict der International Law Association Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Stephan Hobe Professor für Völkerrecht, Europarecht, europäisches und internationales Wirtschaftsrecht und Direktor des Instituts für Luft- und Weltraumrecht der Universität zu Köln Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, Deutschland E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Knut Ipsen em. Professor für Öffentliches Recht, insbes. Völkerrecht; Gründer und erster Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected] Dr. iur. h. c. Hans-Peter Kaul Richter und Zweiter Vizepräsident des Internationalen Strafgerichtshofs; von 1996 bis 2003 deutscher Verhandlungsführer für den IStGH; im Februar 2003 zum ersten deutschen Richter am IStGH gewählt International Criminal Court, Po Box 19519, 2500 CM, Den Haag, Niederlande E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität der Bundeswehr München, Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht Universität der Bundeswehr München, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Math Noortmann Privatdozent, Professor in International Relations and Public International Law, Oxford Brookes University; Chairperson of the Committee on Non-State Actors of the International Law Association Oxford Brookes University, Headington Campus, Gipsy lane, Oxford OX3 0BP, UK E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Adelheid Puttler LL.M. (University of Chicago), Professorin für Öffentliches Recht insbes. Europarecht, Völkerrecht und Internationales Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum; Mitglied des Direktoriums des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected]
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Kirsten Schmalenbach Professorin für Völker- und Europarecht und Vorstand des Instituts für Völkerrecht an der Paris-Lodron-Universität Salzburg Paris-Lodron-Universität Salzburg, Kapitelgasse 4-6, 5020 Salzburg, Österreich E-Mail:
[email protected] Dr. Heike Spieker stellv. Bereichsleiterin „Nationale Hilfsgesellschaft“ im DRK-Generalsekretariat; Lehrbeauftragte an der Ruhr-Universität Bochum, am University College Dublin, an der Università della Svizzera Italiana und an der Universität Witten-Herdecke Deutsches Rotes Kreuz, Carstennstr. 58, 12205 Berlin, Deutschland E-Mail:
[email protected]
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Teil I
20 Jahre IFHV
Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit Knut Ipsen
1 Einleitung Erlauben Sie mir, dass ich, bevor ich mich dem mir gestellten Thema zuwende, einige Worte einem unserer Gäste widme, und zwar Herrn Prof. Dr. Walter Poeggel von der Universität Leipzig. Hierfür gibt es durchaus einen Anlass, der mit dem gastgebenden Institut zusammenhängt: Die Gründungsphase dieses Instituts, auf dessen 20-jähriges Wirken wir heute zurückschauen, fiel in die Zeit, als mit dem Inkrafttreten des deutsch-deutschen Kulturabkommens wieder eine Zusammenarbeit von Völkerrechtlern der Bundesrepublik und der DDR nach 20jähriger Unterbrechung möglich wurde. 1966 hatte ich, damals wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Internationales Recht an der Universität Kiel, den Dozenten Dr. Poeggel auf einem Institutssymposium kennengelernt, das für zwei Jahrzehnte letztmalig Staats- und Völkerrechtler der beiden deutschen Staaten zur Erörterung der europäischen Sicherheit und der deutschen Frage, einschließlich denkbarer Modelle einer deutschen Wiedervereinigung, zusammenführte. Das 20 Jahre später endlich in Kraft getretene Kulturabkommen schaffte dann die Basis für eine immer strukturiertere Kooperation zwischen den Völkerrechtlern aus Bochum und Leipzig, so dass in den Anfängen des Bochumer Instituts nicht nur die interdisziplinäre, sondern auch die intersystemare Zusammenarbeit stand. Diese mündete in ein anspruchsvolles Vorhaben ein, nämlich in den Beschluss, gemeinsam ein deutsch-deutsches Völkerrechtslehrbuch zu verfassen. Aus Gründen der Authentizität entspricht der Beitrag weitgehend dem Vortrag von Knut Ipsen vom 17. September 2009 bei der wissenschaftlichen Tagung „60 Jahre Genfer Abkommen – eine Rechtsordnung vor neuen Herausforderungen, 20 Jahre IFHV – Forschungen auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts“ am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum.
K. Ipsen () Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV), Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
K. Ipsen
Unsere Leipziger Kollegen gehörten zum Teil dem DDR-Autorenkollektiv an, das den bekannten „Grundriß Völkerrecht“ erarbeitet hatte, die Bochumer Mannschaft hatte die Neubearbeitung des mir anvertrauten Völkerrechtslehrbuchs meines akademischen Lehrers Eberhard Menzel verfasst. Das nunmehr entstandene Bochum-Leipziger Autorenkollektiv hatte bis zum Herbst 1989 drei Kapitel (Vertragsrecht, Luftrecht, Seerecht) einhellig verabschiedet, als die sich anbahnende Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Wiedervereinigung unseres Volkes unser ambitiöses Projekt gegenstandslos werden ließ. Die Verbindung zum Leipziger Völkerrecht indessen blieb durch Dr. habil. Hans-Joachim Heintze erhalten, der – ein Schüler Walter Poeggels – eine der beiden Dauerstellen des Instituts innehat. Professor Poeggel wird in wenigen Wochen sein 80. Lebensjahr vollenden. Es ziemt sich nicht, ihm vorab zu gratulieren, dennoch sei dieses Datum dazu genutzt, daran zu erinnern, dass es zu Zeiten der deutschen Teilung selbst in so staatsnahen Disziplinen wie dem Völkerrecht möglich war, Dialogfähigkeit zu entwickeln und Bereitschaft zur Kooperation in der Schnittmenge des gemeinsamen wissenschaftlichen Interesses zu finden. Zwei Bände der Veröffentlichungsreihe dieses Instituts liefern übrigens ein bleibendes Zeugnis dieser Zeit der intersystemaren Kooperation. Doch nun von der intersystemaren Kooperation zu den Perspektiven interdisziplinärer Zusammenarbeit – und sehen Sie mir bitte nach, wenn ich mit einer kurzen autobiografischen Erläuterung meines Interesses an dieser Thematik beginne. Die erste umfangreichere Aufgabe, die mein verehrter Lehrer Eberhard Menzel mir vor über 40 Jahren übertrug, bestand in der Mitwirkung an einem von mehreren Disziplinen getragenen Projekt des damals gerade gegründeten Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) über chemische und biologische Kampfmittel, dessen Ergebnisse zu der bekannten mehrbändigen Publikation geführt haben. Diese Arbeit wiederum war der Anlass für meine Aufnahme in eine BC-Waffen-Studiengruppe der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), die – übrigens gerade vor 50 Jahren – von so herausragenden Gelehrten wie Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker gegründet worden war. Die Ergebnisse dieser Studiengruppe sind 1970 von Ernst Ulrich
H.-J. Heintze (Hrsg.), Von der Koexistenz zur Kooperation, Völkerrecht in der Periode der OstWest-Annäherung Ende der 80er Jahre, Bochumer Schriften zur Friedenssicherung und zum Humanitären Völkerrecht, Bd. 13, Berlin 1992; K. Ipsen/W. Poeggel (Hrsg.), Das Verhältnis des vereinigten Deutschlands zu den osteuropäischen Nachbarn – zu den historischen, völkerrechtlichen und politikwissenschaftlichen Aspekten der neuen Situation, Bochumer Schriften zur Friedenssicherung und zum Humanitären Völkerrecht, Bd. 21, Berlin 1993. On the Question of the Prohibition of the Development, Production and Possession of Chemical and Biological Weapons (Studie für SIPRI, S. 103, maschinenschriftl.), z. T. eingearbeitet in: SIPRI - Stockholm International Peace Research Institute, The Problem of Chemical and Biological Warfare: A Study of the Historical, Technical, Military, Legal and Political Aspects of CBW, and Possible Disarmament Measures, Vol. III: CBW and the Law of War (written by A. Boserup), Stockholm 1973.
Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit
von Weizsäcker als Mitautor und Herausgeber publiziert worden. Die VDW ging damals wie heute von dem Befund aus, dass die Probleme, die im Interesse der Erhaltung unserer Welt bewältigt werden müssen, zu einem beträchtlichen Teil nicht ihre Entsprechung in der disziplinären Gliederung der Wissenschaft finden. Dieser offenkundige Befund führte und führt bis heute immer wieder zu dem Appell zur interdisziplinären Zusammenarbeit. Wir sollten uns indessen eingestehen, dass dieser Anspruch – und dies galt auch für die beiden soeben erwähnten Projekte – vielfach nur unvollkommen dadurch eingelöst wird, dass die Ergebnisse der eigenen Disziplin zur Kenntnis gegeben und die Ergebnisse der fremden Disziplin zur Kenntnis genommen werden, ohne dass damit in jedem Falle ein Zugewinn an Erkenntnis erzielt wird. Dennoch ist Interdisziplinarität zu einem Zauberwort geworden, das Mitwirkungsinteresse ebenso wie finanzielle Ressourcen erschließt und Fortschritt verspricht. Universitäten, die bereits die so begehrte Aufnahme in die Exzellenzinitiative von Bund und Ländern erreicht haben, zählen in der Regel die interdisziplinäre Zusammenarbeit explizit zu ihren programmatischen Schwerpunkten. Parallel zu dieser Entwicklung geeigneter Strukturen und Methoden der Kooperation zwischen innovationsbereiten Disziplinen verläuft eine wissenschaftstheoretische Diskussion, die vorerst noch vornehmlich auf die disziplinübergreifenden gemeinsamen Nenner wissenschaftlichen Arbeitens gerichtet ist, die aber gerade damit die Eignung erlangt, für das Zusammenwirken konkreter Disziplinen Grundlegendes bereitzustellen. Vor diesem Hintergrund seien die Perspektiven interdisziplinärer Zusammenarbeit in fünf Abschnitten abgehandelt. Zunächst sei dazu eingeladen, über einige Mindesterfordernisse des Zusammenwirkens verschiedener Disziplinen nachzudenken, sofern einem solchen Zusammenwirken überhaupt die anspruchsvolle Eigenschaft der Interdisziplinarität zuerkannt werden soll. Sodann sollten wir Juristen uns einmal mit der eine gewisse Selbsterkenntnis fördernden Frage befassen, ob und wie weit wir zur interdisziplinären Arbeit fähig sind und worin gegebenenfalls unsere diesbezüglichen Defizite liegen. Anschließend sei der Blick auf die beiden völkerrechtlichen Teilgebiete gerichtet, die den Aufgabenbereich dieses Instituts ausmachen, wobei hier um der Anschaulichkeit willen der interdisziplinäre Forschungsbedarf in Bezug auf beispielhafte Problemkomplexe aufgegriffen werden soll. Danach ist ein kurzes Wort zu den geeigneten Forschungsstrukturen geboten. Schließlich sei eine Zusammenfassung in Thesen dargeboten, die lediglich als Anregung für weiteres Nachdenken und Gestalten gedacht sind.
K. Ipsen: BC-Waffen im Völkerrecht, in: E.U. v. Weizsäcker (Hrsg.), BC-Waffen und Friedenspolitik, 1970, S. 42 ff. Hierzu St. Albrecht et al. (Hrsg.), Wissenschaft – Verantwortung – Frieden: 50 Jahre VDW, Berlin 2009.
K. Ipsen
2 Mindesterfordernisse einer Interdisziplinarität als Ausrichtung und Gestaltung eines Forschungsprozesses Blenden wir einmal den inflationären Gebrauch der „Interdisziplinarität“ aus und besinnen uns auf die Zweckbestimmung, die eine Zusammenarbeit durch die Eigenschaft, „interdisziplinär“ zu sein oder sein zu wollen erlangt, dann muss als erstes nochmals betont werden, dass eine Zusammenarbeit zwischen zwei oder mehreren Disziplinen sich nicht in der bloßen Kenntnisnahme der Arbeit und der Ergebnisse der einen durch die andere Disziplin erschöpfen darf. Sie wäre in diesem Falle keine „Zusammenarbeit“, sie wäre allenfalls, wenn sie denn in einem formalen Verbund stattfindet, eine multidisziplinäre Veranstaltung. Derartiges kann eine Vorstufe zur interdisziplinären Zusammenarbeit sein, mehr aber auch nicht, denn der ständige und für die beteiligten Disziplinen förderliche Austausch im Verlauf eines Erkenntnisverfahrens fehlt hier. Die ständige und intensive, gut organisierte Kommunikation während eines für die Erzielung von Ergebnissen einschlägigen Erkenntnisprozesses ist einer, und zwar der erste, der gemeinsamen Nenner, die es disziplinenübergreifend festzuhalten gilt. Gestehen wir uns ein: Nimmt man beispielsweise die Rechtswissenschaft als eine herkömmlich in einer universitären Gliederungseinheit erfasste Disziplin, dann finden sich selbst innerhalb dieser Disziplin Teilgebiete, die zueinander in größerer Ferne stehen als zu außerhalb der Rechtswissenschaft angesiedelten Disziplinen. In einem bemerkenswerten Beitrag zu Theorie und Praxis der Interdisziplinarität in den Geistes- und Sozialwissenschaften ist zu Recht ausgeführt worden, dass das verstärkte Bemühen um interdisziplinäre Forschung namentlich in den letzten drei Jahrzehnten vor allem durch die verbreitet überholte institutionelle Gliederung der Wissenschaft verursacht worden ist, wie im vorigen bereits vermerkt. Die in den Universitäten und den selbstständigen Instituten zu verzeichnende Disziplinstruktur wirke sich – was eigentlich gar nicht ihr Zweck sein dürfte – vielfach im Sinne von Erkenntnisgrenzen aus, die dem wissenschaftlichen Fortschritt eher hinderlich sind. Ob die Interdisziplinarität eine indirekte Strategie darstellt, mittels der die verloren gegangene oder verloren geglaubte „Einheit der Wissenschaft“ wiederherzustellen oder zumindest zu ersetzen sein würde, wie einige ihrer Protagonisten meinen, wäre eines besonderen Diskurses wert, zu dem im Rahmen dieser knappen Ausführungen kein hinreichender Beitrag geleistet werden kann. Wir würden damit vollends auf die Ebene der Wissenschaftstheorie geraten. Was als zweiter Nenner interdisziplinärer Zusammenarbeit festzuhalten ist, ergibt sich aus dem Zweck der im vorigen vermerkten ständigen zwischendisziplinären Kommunikation während der Arbeit an einem disziplinübergreifenden Forschungsprojekt. In aller Regel wird schon von der Sachlogik her nicht eine Disziplin die andere in ihrer fachgebundenen Leistung ersetzen können. Eine Disziplin wird jedoch der anderen wertvolle, manchmal entscheidende Orientierung vermit
J. Feichtinger/H. Mitterbauer/K. Scherke, Interdisziplinarität – Transdisziplinarität. Zu Theorie und Praxis in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Newsletter MODERNE 7 (2004), S. 11 (12).
Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit
teln können, ob eine und wenn ja, welche Problemlage mit welchen Methoden und Mitteln anzugehen ist. Einer der fachübergreifend geachteten Analytiker interdisziplinärer Forschung spricht in diesem Zusammenhang zutreffend von „Orientierungswissen“, das Disziplinen wechselseitig verfügbar machen können. Solches Orientierungswissen kann zum einen helfen zu vermeiden, dass eine Disziplin auf der zentralen Bedeutung einer Problematik beharrt, die eine andere Disziplin bereits als von minderem Gewicht erachtet und deshalb in den peripheren Bereich ihres Erkenntnisinteresses verlagert hat. Angesichts der unausweichlichen und immer noch wachsenden Spezialisierung in der Wissenschaft kann über interdisziplinär vermitteltes Orientierungswissen zum anderen erreicht werden, dass auch bei dem hochspezialisierten Spitzenforscher eine breite Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf wissenschaftliche Entwicklungen erhalten bleibt und womöglich gefördert wird. Optimisten meinen sogar, dass solches Orientierungswissen das Gespür für erst in der Zukunft relevante, aber schon in der Gegenwart erkennbare Problementwicklungen schärft und dass interdisziplinäre Forschung deshalb in besonderem Maße geeignet ist, Ansätze für Problemlösungen zu entwerfen, die erst künftig dringlich sein werden. In jedem Falle – das darf festgestellt werden – übt das Orientierungswissen, dass im Verlauf einer ständigen Kommunikation im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprojekts vermittelt wird, eine wesentlich nachhaltigere Wirkung aus als gelegentliches selbstgesteuertes „Weiden in fremden Gärten“. Auf eine kurze, wenngleich etwas vergröbernde Formel gebracht: In der interdisziplinären Zusammenarbeit wird das Fachwissen der einen Disziplin zum Orientierungswissen der anderen Disziplin. Der dritte gemeinsame Nenner der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Disziplinen ist die Übernahme von Teilen des von der einen Disziplin bereitgestellten Orientierungswissens in das Fachwissen der anderen Disziplin. Dies wäre die weitestgehende gestaltende Wirkung eines interdisziplinär angelegten Erkenntnisprozesses, die schon mit punktuellen Korrekturen und Anpassungen beginnen kann. Eine solche Wirkung kann den Gegenstand der Forschung betreffen. Sie kann zur Kritik der angewendeten Methoden führen. Sie kann das erkenntnisleitende Interesse verändern. Sie kann schließlich Theorien verändern oder gar in Frage stellen, ja, zum Paradigmenwechsel führen. Ist ein solches Integrationsniveau zwischen verschiedenen Disziplinen erreicht, dann ist es vielleicht an der Zeit, über eine disziplinenübergreifende umfassende Konzeption nachzudenken, wie sie mancherseits bereits heute mit dem Begriff der „Transdisziplinarität“ belegt wird. Für den hier behandelten Zusammenhang genügt es indessen festzuhalten, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit stets ein Prozess ist und sein muss, in dem verschiedene Disziplinen erkenntnisleitende Ziele mittels ständiger Kommunikation und der wechselseitigen Bereitstellung von Orientierungswissen sowie der dadurch bewirkten Fortentwicklung des Fachwissens zu erreichen suchen.
Hierzu und zum Folgenden J. Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität?, in: J. Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität. Praxis – Herausforderung – Ideologie, Frankfurt/Main 1987, S. 154 (155 f.).
K. Ipsen
3 Eignung der Rechtswissenschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit? Wenden wir uns nun der Rechtswissenschaft und damit der Frage zu, wie weit diese Disziplin zur Interdisziplinarität fähig ist und woraus sich eventuelle Defizite einer entsprechenden Fähigkeit ergeben. Als ich vor Jahren mit einem angesehenen Kollegen meiner Disziplin, der zu der Zeit DFG-Gutachter war, dieses Thema erörterte, traf ich auf die kategorische Feststellung, dass seiner Erfahrung nach interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der Rechtswissenschaft und anderen Disziplinen nicht viel gebracht habe. Soweit das Erkenntnisinteresse rechtswissenschaftlicher Forschung in andere Disziplinen hineinreiche, hätten sich Teilgebiete dieser Disziplin wie beispielsweise die Rechtsphilosophie, die Rechtsgeschichte und die Rechtssoziologie herausgebildet. Der Umstand indessen, dass das zentrale Erkenntnisinteresse der Rechtswissenschaft auf die Rechtsnorm gerichtet sei, setze interdisziplinärer Kooperation Grenzen, die sachimmanent seien. Mit dieser Position wird ein uraltes Problem der exegetischen Hauptaufgabe der Rechtswissenschaft im Verhältnis zu anderen Disziplinen angesprochen. Man fühlt sich an die amüsante Schrift Immanuel Kants über den Streit der Fakultäten erinnert, wo es über die „Eigenthümlichkeit der Juristenfacultät“ heißt: „Der schriftgelehrte Jurist sucht die Gesetze (…) nicht in seiner Vernunft, sondern im Gesetzbuch. Den Beweis der Wahrheit und Rechtmäßigkeit derselben, ingleichen die Vertheidigung wider die dagegen gemachte Einwendung der Vernunft kann man billigerweise von ihm nicht fordern“. Kant hat übrigens nicht nur die Vernunftferne, sondern auch die Wirklichkeitsferne von Rechtswissenschaftlern kritisiert, wenn er in einem anderen Traktat die großen Völkerrechtler seiner Epoche wie Grotius, Pufendorf und Vattel als „lauter leidige Tröster“ bezeichnet. Die Normenfixierung rechtswissenschaftlicher Forschung – auch der Völkerrechtswissenschaft – wird von anderen Disziplinen nach wie vor kritisiert. So hat der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, dessen Werke zu den „neuen Kriegen“ wissenschaftliche Standards gesetzt haben, noch in jüngerer Zeit angeprangert, dass Völkerrechtler dazu neigen, „ihre Definitionsmacht zu überschätzen“. Hierfür – gestehen wir es uns ein – lassen sich sicherlich Beispiele anführen. Beispiele gibt es andererseits allerdings auch dafür, dass selbst innerhalb der Rechtswissenschaft durchaus einander nahe Teilgebiete die Erkenntnisse untereinander nicht einmal mehr als Orientierungswissen im vordem dargelegten Sinne nutzen. Wenn sogar das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem kontrovers diskutierten Urteil zum Luftsicherheitsgesetz eine innerstaatliche Gefahrenabwehrmaßnahme in einem „9/11-Szenario“ als Einsatz „nichtkriegerischer Art“ bei einem „nichtkriegerischen Luftzwischenfall“ kennzeichnet,10 dann belässt es den an einer Abgrenzung
Zit. nach der 1995 bei Könemann erschienenen sechsbändigen Toman-Ausgabe, S. 29. Ebd., Zum ewigen Frieden, S. 293. H. Münkler, Asymmetrie und Kriegsvölkerrecht. Die Lehren des Sommerkrieges 2006, in: Die Friedens-Warte 81 (2006), S. 59. 10 BVerfGE 115, 118 (153, 157).
Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit
Interessierten in Ungewissheit darüber, was denn unter Einsätzen kriegerischer Art und einem kriegerischen Luftzwischenfall zu verstehen ist. Angesichts dieses Fehlgebrauchs von Definitionsmacht nimmt es nicht Wunder, wenn auch der Bundesminister der Verteidigung noch vor wenigen Tagen im Fernsehen die Vermeidung des Wortes „Krieg“ für den bewaffneten Konflikt in Afghanistan damit begründete, dass man die Taliban nicht zu Kombattanten aufwerten möchte. Hier wurde die fatale Fehleinschätzung offenkundig, man könne durch schlichte Wortwahl den Völkerrechtsstatus der an den Kampfhandlungen Beteiligten bestimmen. Lediglich angemerkt sei, dass die daraufhin in der Presse veröffentlichte Kritik eines Völkerrechtskollegen, wonach in Afghanistan ein internationaler bewaffneter Konflikt stattfinde, den man auch als Bürgerkrieg bezeichnen könne, nicht frei von Delikatesse ist, denn in Afghanistan kämpft gegenwärtig die legale Staatsmacht, unterstützt von UN-mandatierten Staaten, gegen die Taliban als nicht-staatliche Konfliktpartei, also in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt im Sinne des ZP II11 zu den Genfer Abkommen12 (GA). Die aktuelle „Beschwichtigungssemantik“ des Verteidigungsministeriums, von der ein ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr gesprochen hat, ist ein treffliches Beispiel der von Münkler gerügten Überschätzung juristischer Definitionsmacht. Der Grund liegt in Folgendem: Eine Rechtsnorm, gleich, ob nationaler oder internationaler Provenienz, ist – abstrahiert von ihrer weltanschaulichen oder ansonsten ideologischen Zusatzlast – nichts anderes als ein Verhaltensmuster, ein Sollen, das dem Sein gegenübergestellt wird. Die Rechtswissenschaft ist primär darauf angelegt, mit ihrem methodischen Instrumentarium Inhalt und Grenzen solcher Verhaltensmuster sowie ihr Zusammenwirken zu ermitteln. Sie stellt das derart wissenschaftlich aufbereitete Verhaltensmuster der Wirklichkeit, dem Sein, gegenüber. Ist aber einer Disziplin die Aufgabe überantwortet, Verhaltensmuster zu konkretisieren, dann ist diese Aufgabe, wenn sie nach den Regeln der Kunst wahrgenommen wird, unausweichlich mit Definitionsmacht verbunden, zumal dann, wenn es sich wie bei Rechtsnormen um verbindliche Verhaltensmuster handelt. Doch gerade für den Rechtswissenschaftler scheint es bisweilen schwierig zu sein zu erkennen, wann sich die Wirklichkeit so intensiv verändert, dass die Lücke zwischen Sollen und Sein auch durch höchste Anstrengungen juristischer Hermeneutik nicht mehr überbrückbar ist. Dieses Phänomen taucht insbesondere dort auf, wo der Rechtswissenschaftler nicht an der vorhandenen Rechtsnorm ansetzen kann, sondern diese erst einmal auffinden muss, wie beispielsweise im Völkergewohnheitsrecht. Wie dessen objektives und subjektives Element – die allgemeine Übung und die entsprechende Rechtsüberzeugung der betroffenen Völkerrechtssubjekte – zum Teil 11
ZP II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht interna tionaler bewaffneter Konflikte, UNTS Vol. 1125, S. 609, BGBl. 1990 II, S. 1637. 12 Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II, S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II, S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II, S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II, S. 781.
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fern der Realität mit zweifelhaften Methoden und Mitteln begründet werden, öffnet dem Vorwurf einer Überschätzung juristischer Definitionsmacht geradezu Tür und Tor. So kann es auch nicht Wunder nehmen, dass ein solcher Vorwurf gerade von einem Politikwissenschaftler erhoben wird, der sich langjährig, umfangreich und gründlich mit dem Wandel des Krieges befasst hat. Der Völkerrechtswissenschaftler sollte solche Kritik zu einer Selbstprüfung zum Anlass nehmen, ob die der eigenen Disziplin verfügbaren Erkenntnisprozesse nicht doch der Ergänzung durch andere Disziplinen bedürfen. Dann wäre der erste Schritt zu einer sinnvollen interdisziplinären Zusammenarbeit getan.
4 Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit im Rahmen des IFHV Welche Perspektiven eröffnen sich vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen nun diesem Institut? Die Idee zu seiner Gründung und Ausrichtung wurde von meinem damaligen Mitarbeiter Horst Fischer und mir während einer zwölfstündigen Autofahrt vom masurischen Mrengowo (früher Sensburg) nach Bochum entwickelt, unter anderem angeregt durch die Teilnahme an einem Workshop der interdisziplinär angelegten Conference on Science and World Affairs (Pugwash), von der wir damals gerade zurückkehrten. Das völkerrechtliche Friedenssicherungsrecht und das humanitäre Völkerrecht unter dem Dach eines Instituts zusammenzufügen, war zunächst keine interdisziplinäre, sondern eher eine „intradisziplinäre“ Maßnahme, denn wir waren der Überzeugung, dass die herkömmliche, noch zum Teil in Lehrbüchern vertretene Trennung in Friedensvölkerrecht und Kriegsvölkerrecht durch die Wirklichkeit überholt war. Die Realität der Konflikte dieses Jahrhunderts – und sein erstes, nun zu Ende gehendes Jahrzehnt hat dies in aller Deutlichkeit klar gemacht – hat die Richtigkeit dieser Überzeugung unerwartet nachdrücklich bestätigt, denn die Eskalation zunächst zeitlich und örtlich punktueller Kontroversen zu Dauerkonflikten, die schließlich trotz aller Appelle mit Waffengewalt ausgetragen werden, verlangen das rechtsbasierte konfliktlösende oder zumindest konfiktbegrenzende multilaterale Eingreifen auf jeder Konfliktebene. Die seit einigen Jahren diskutierte „responsibility to protect“ setzt die gleichzeitige Anwendung von Friedenssicherungsrecht und humanitärem Völkerrecht in vielen Sachlagen geradezu voraus. Die Gegenwart und die absehbare Zukunft verlangen unausweichlich die Zusammenarbeit mehrerer Disziplinen in Bezug auf die asymmetrischen bewaffneten Konflikte zwischen Staaten und nicht-staatlichen Konfliktparteien. Forschungsbedarf besteht insbesondere in Bezug auf Problemkomplexe, vor denen die Definitionsmacht des Völkerrechtlers, wenn es sie denn geben sollte, als unzureichend erscheint. Richten wir einmal unseren Blick in diesem Zusammenhang auf den tragischen Bombeneinsatz vor 14 Tagen (04. September 2009) nahe Kunduz, bei dem nach Angaben der afghanischen Regierung die getöteten Menschen zu einem Drittel Zivilpersonen und zu zwei Dritteln Talibankämpfer waren. Diese Unterschei-
Perspektiven der interdisziplinären Zusammenarbeit
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dung ist ex post factum vorgenommen worden. Wer hätte sie denn vorher treffen können, als die Tanklaster gestoppt und entführt wurden, einer der Fahrer getötet worden war und aus den steckengebliebenen Tanklastern in dunkler Nacht Treibstoff abgelassen wurde? Kann der im internationalen bewaffneten Konflikt geltende Grundsatz der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Zivilpersonen im asymmetrischen Konflikt überhaupt seine Schutzwirkung entfalten, wo doch für afghanische Aufständische in dem rund zehnjährigen Kampf gegen die Sowjetunion ebenso wie für die Taliban heute das Verschmelzen mit der Zivilbevölkerung die seit jeher bekannte Strategie von Guerilleros war? Wir haben 1977 bei den Genfer Schlussverhandlungen über das ZP I13 gegen manche Widerstände in die Präambel eine Garantie der Rechtsgleichheit aufgenommen, die besagt, dass die Genfer Abkommen und das ZP I „unter allen Umständen uneingeschränkt auf alle durch diese Übereinkünfte geschützten Personen anzuwenden sind, und zwar ohne jede nachteilige Unterscheidung.“ Eine vergleichbare Klausel wurde nicht in die Präambel des ZP II aufgenommen, und zwar in dem klaren Bewusstsein, dass eine Rechtsgleichheit – Herfried Münkler würde sagen: eine völkerrechtliche Symmetrie – im nichtinternationalen bewaffneten Konflikt weder in Bezug auf die unmittelbar an den Feindseligkeiten beteiligten Personen noch hinsichtlich der Methoden und Mittel der Kampfführung herzustellen ist. Schließlich verlangt der Umstand, dass der dem nicht-internationalen Konflikt oft vorgelagerte interne bewaffnete Konflikt auf der Ebene des Menschenrechtsschutzes in der Regel bereits Völkerrechtsrelevanz aufweist, andere Ansätze, als sie das humanitäre Völkerrecht bieten kann. Wie werden wir also mit den „neuen Kriegen“ fertig? Dieses Problem verlangt interdisziplinäre Lösungsansätze; juristische Auslegungskunst allein genügt ganz und gar nicht. Ein zweiter Problemkomplex, der in den Kernbereich des Interesses dieses Instituts fällt, ist die humanitäre Hilfe. Auf dem Gebiet der Lehre ist mit dem internationalen Universitätsverbund, der den NOHA-Studiengang trägt und dessen Schaffung das bleibende Verdienst von Horst Fischer ist, eine international bedeutende und anerkannte Leistung erbracht worden. Das nächste große Forschungsprojekt, so nehme ich an, wird sich auf diesen Problemkomplex beziehen, der eine Fülle von Ansätzen bietet.
5 Adäquate Organisation der interdisziplinären Zusammenarbeit? An dieser Universität findet gegenwärtig ein Disput darüber statt, ob die in der Vergangenheit gerade für interdisziplinäre Lehre und Forschung geschaffenen zentralen wissenschaftlichen Einrichtungen noch die zweckmäßige Organisationsform für interdisziplinäre Forschung darstellen. Persistente Forschungsstrukturen, so wird gesagt, würden irgendwann ihre Innovationskraft verlieren, deshalb seien Forscher13
ZP I zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, UNTS Vol. 1125, S. 3, BGBl. 1990 II, S. 1551.
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gruppen vorzuziehen, die sich projektbezogen und nur für die Projektdauer bildeten. Dies mag sicherlich für manche naturwissenschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen gelten, die bereits von ihren Forschungsgegenständen her eine beträchtliche Nähe zueinander haben. Für Geistes- und Gesellschaftswissenschaften gilt dies nur bedingt. Lassen Sie uns einen Blick auf die Erfahrungen unserer österreichischen Nachbarn werfen: Dort wurde vor fünf Jahren das erste interdisziplinäre geistes- und sozialwissenschaftliche Großprojekt in Österreich, ein Spezialforschungsbereich zum Thema „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ nach zehnjähriger Laufzeit beendet. Als wichtige Erfahrung wurde festgehalten, dass die maximale Beschäftigungsdauer junger Wissenschaftler von sechs Jahren wohl auf naturwissenschaftliche und technische Disziplinen zugeschnitten sei, der Situation in den Geistes- und Sozialwissenschaften jedoch nicht gerecht werde, denn bei den hier erforderlichen Fähigkeiten zur interdisziplinären Kommunikation handele es sich überwiegend um informelle, nicht einfach weiterzugebende Kenntnisse, die durch personelle Diskontinuität zum Teil verloren gingen. Doch ein weiteres kommt hinzu: Das Völkerrecht ist an deutschen Universitäten „nur“ Wahlfach, übrigens ein trauriger Beweis für provinzielles Beharrungsvermögen in der deutschen Rechtswissenschaft. Teilgebiete wie Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht in Kombination sind an einem einzelnen Lehrstuhl mit internationalem Lehrangebot und anspruchsvoller Forschung, die überhaupt die Voraussetzung zur Interdisziplinarität ist, nicht bis zu der Ebene entwickelt, wie es dieses Institut in Lehre und Forschung erreicht hat. So scheint mir die Aversion gegen zentrale wissenschaftliche Einrichtungen, wie sie gegenwärtig im Rektorat der Ruhr-Universität Bochum anzutreffen ist, zumindest für die von mir überschaubaren Disziplinen verfehlt. Eine Universität würde damit auf eine Institution verzichten, die von Instituten anderer Universitäten im In- und Ausland als Partnerin interdisziplinärer Zusammenarbeit geradezu gesucht wird.
6 Thesen zur Interdisziplinarität Lassen Sie mich meine Überlegungen abschließend in vier Thesen zusammenfassen: 1. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, die diese Kennzeichnung zu Recht beanspruchen darf, verlangt während des Erkenntnisprozesses eine wohlorganisierte ständige Kommunikation der Beteiligten, die sich auf den Forschungsgegenstand, das erkenntnisleitende Interesse und die Methoden erstrecken muss. Eine solche Zusammenarbeit stellt das Fachwissen der einen Disziplin der anderen Disziplin zunächst als Orientierungswissen bereit, wodurch Fachwissen erkenntnisfördernd verändert und ergänzt werden kann. 2. Rechtswissenschaft als Partnerin interdisziplinärer Zusammenarbeit wird von anderen Disziplinen bisweilen als schwierig empfunden, weil sie in Bezug auf die Rechtsnorm als verbindliches Verhaltensmuster eine hier und dort auch über-
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schätzte Definitionsmacht beansprucht. Doch gerade die Kooperation mit anderen Disziplinen kann der Rechtswissenschaft Orientierungswissen bereitstellen, das solche Überschätzungen vermeidet. 3. Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht hatte mit dieser Kennzeichnung bereits eine traditionelle intradisziplinäre Abgrenzung überwunden und war nach seinem Gründungskonzept schon auf interdisziplinäre Zusammenarbeit angelegt. Das gewandelte Kriegsbild und die sich gleichermaßen ändernden Bedingungen der humanitären Hilfe verursachen jetzt und in Zukunft einen Forschungsbedarf, der nur interdisziplinär bewältigt werden kann. 4. Konflikte und humanitäre Hilfe in Konflikten stellen Dauerproblemlagen dar, zu deren Bewältigung einschlägige Forschung ihren Beitrag ganz überwiegend nur in langfristig gesicherten institutionellen Strukturen und nicht vornehmlich in ad hoc-Gruppen leisten kann. Das bislang umfangreichste Forschungsprojekt dieses Instituts, über das anschließend beispielhaft berichtet wird, kam über das Zusammenwirken von drei Institutionen höchst unterschiedlicher Disziplinen zustande. Die langfristige institutionelle Verankerung ist eine unerlässliche Voraussetzung für interdisziplinäre Forschung in Bezug auf Dauerproblemlagen.
Das „Harmonische Dreieck“: Die organische Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis am IFHV von 1988–2008 Horst Fischer
Das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) hat als zentrale wissenschaftliche und interdisziplinäre Einrichtung Forschung und Lehre an der Ruhr-Universität Bochum 20 Jahre lang mit Projekten, Veranstaltungen und Publikationen bereichert. Absolventen des Instituts wirken in Universitäten, Ministerien, nationalen und internationalen Organisationen und Studenten wenden die Ausbildungsinhalte der IFHV-Masterprogramme in Krisenregionen der Welt an. Angesichts angestrebter Neuorientierung des Instituts stellt sich die Frage nach denjenigen Elementen, die das IFHV über zwei Dekaden in Europa und der Welt zu einem der führenden Akteure in Forschung, Lehre und Praxis humanitärer Aktionen werden ließ. Die folgenden Ausführungen stellen eines der wichtigsten Forschungsprojekte des Instituts – die sogenannte Gewohnheitsrechtsstudie – in den Kontext der Institutsentwicklung und identifiziert die organische Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis auf europäischer Ebene als Erfolgsvoraussetzung und Alleinstellungsmerkmal des IFHV sowie als Begründung für die Leuchtturmfunktion des IFHV als zentraler Einrichtung der Ruhr-Universität Bochum.
1 Mandat und Hintergrund der Gewohnheitsrechtsstudie Die internationale Genfer Rotkreuz-Konferenz, in der die globale Rotkreuzgemeinschaft und die Vertragsstaaten der Genfer Abkommen zur Diskussion des humanitären Rechts periodisch zusammenkommen, mandatierte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) auf ihrer Sitzung im Jahr 1995 mit der Erstellung einer Studie zu dem in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitär-völkerrecht
J.-M. Henckaerts/L. Doswald-Beck (Hrsg.), Customary International Humanitarian Law, Cambridge 2005, Volume I: Rules. H. Fischer () Universität Leiden, Bömmerstr. 20, 44892 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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lichen Gewohnheitsrecht. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes ist die Schweizer Organisation, die von der Staatengemeinschaft mandatiert in bewaffneten Konflikten den Konfliktopfern Hilfe leistet. Neben dieser und einer Vielzahl anderer Funktionen hat das IKRK die Entwicklung des humanitären Völkerrechts seit 1864 gefordert und gefördert. Die Resolution der Rotkreuzkonferenz verwies auf die Ergebnisse der sogenannten „War Victims“-Konferenz aus dem Jahre 1993. Die „War Victims“-Konferenz hatte das IKRK aufgefordert: „(…) to prepare, with the assistance of experts on IHL representing various geographical regions and different legal systems, and in consultation with experts from governments and international organizations, a report on customary rules of IHL applicable in international and non-international armed conflicts, and to circulate the report to States and competent international bodies.“ Das IKRK begann noch im Jahr 1995 mit der Arbeit, die Forscher aus allen Kontinenten, Ministerien, internationale Organisationen, Akteure in bewaffneten Konflikten und Opfer von Gewalt zur Frage nach dem allzeit, automatisch und ohne Vorbedingungen im bewaffneten Konflikt geltenden Recht zusammenbrachte. Zehn Jahre später erschienen bei Cambridge University Press drei Bände mit dem Titel „Customary International Humanitarian Law“. Der Band 1 erläutert auf 621 Seiten die im bewaffneten Konflikt anwendbaren Regeln, während die Bände 2 und 3 mit 4.410 Seiten mit dem Abdruck der Dokumente der Staatenpraxis den Nachweis der Regeln untermauern. Der Auftrag für die Studie war das unmittelbare Ergebnis der Kriege der frühen 1990er Jahre in Bosnien und Somalia und anderer Konflikte, in denen Vertragsrecht mangels Ratifikation der Vertragsstaaten keine Abwendung fand oder für Typen neuer innerstaatlicher Konflikte der gemeinsame Art. 3 der Genfer Abkommen von 1949 die einzige vertragliche Grundlage für den Schutz der Opfer blieb. Die Genfer Rotkreuzkonferenz hatte 1995 erkannt, dass für die Durchsetzung von Menschlichkeit in Konflikten des Somalia- und Bosnien-Typs eines – wie der damalige Präsident des IKRK Cornelio Sommaruga formulierte – neuen „contract of humanity“ bedurfte, damit die Regeln für den internationalen bewaffneten Konflikt auch in Bürgerkriegen Anwendung finden konnten. Sommaruga war klar, dass Staaten sich auf keine Verhandlungen mit dem Ziel eines neuen umfassenden multilateralen Vertrages einlassen würden und die Defizite des II. Zusatzprotokolls von
Meeting of the Intergovernmental Group of Experts for the Protection for War Victims, Genf, 23.-27. Januar 1995, Recommendation II, IRRC, No. 310, Januar-Februar 1996, S. 84. Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 vom über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781.
Das „Harmonische Dreieck“: Die organische Verknüpfung
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1977 zum effektiven Schutz von Opfern in Bürgerkriegen vertragsrechtlich nicht zu beseitigen waren. Das „Gewohnheitsrecht“ blieb somit die einzige Völkerrechtsquelle mit dem Potenzial, Kämpfenden aller Parteien die Grenzen ihres Handelns aufzuzeigen. Die Studie von 2005 ist mit den zusammengefassten Regeln nicht nur eine der wichtigsten Publikationen der jüngeren Geschichte zur Rechtsbildung und Rechtsanwendung im humanitären Völkerrecht. Sie ist auch ein Spiegel für die Genfer Abkommen und die Zusatzprotokolle, der hilft, die Inhalte der Regeln dieser Verträge und ihre Grenzen zu beleuchten. Sie ist darüber hinaus – heute vielfach vergessen – ein Teil des von Sommaruga geforderten neuen „Contract of Humanity“, der insbesondere die Opfer von Bürgerkriegen schützen soll. Heute gibt es keine Konfliktbewertung auf politischer Ebene oder eine Lehrveranstaltung zum humanitären Völkerrecht ohne Rückgriff auf die Gewohnheitsrechtsregeln. Soldaten lernen diese Regeln in der Dienstunterrichtung und Staaten sind gezwungen, ihre Einhaltung in Kriegen der Weltöffentlichkeit gegenüber nachzuweisen. Allein diese Praxis weist die wissenschaftliche und praktische politische Bedeutung der Regeln nach.
2 Die Beteiligung des IFHV an der Gewohnheitsrechtsstudie An diesem „Vertrag“ hat das IFHV inhaltlich und mit den agierenden Personen maßgeblichen Anteil. Dieser „Contract of Humanity“ machte nicht nur einen gewichtigen Teil der Forschungstätigkeit des Instituts aus. Die Dauer der Beteiligung, ihre Intensität und die Berücksichtigung der Bochumer Beiträge im Schlussdokument zeigen den Einfluss des IFHV auf das Gesamtprojekt und die Formulierung der gewohnheitsrechtlichen Regeln sowie ihres dokumentarischen Nachweises. Die Bedeutung des Projektes für das Institut geht aber weit über reine Forschungstätigkeit am humanitären Völkerrecht und die Befruchtung der Forschung auf anderen Feldern hinaus. Unter der Leitung von Prof. Dr. Horst Fischer waren Dr. Heike Spieker und Dr. Gregor Schotten als Forschungsteam zunächst mit der Sammlung und Darstellung der deutschen Praxis zum humanitären Völkerrecht betraut. Der deutsche Bericht, der mit Hilfe der verschiedenen Ministerien und des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) erstellt wurde, floss in die internationale Sammlung nationaler Berichte des Gesamtberichts ein. Prof. Dr. Horst Fischer war als Mitglied des 12-köpfigen Steering Committee für das Gesamtprojekt am Design, der Methodologie und der Kontrolle des Gesamtprojektes beteiligt. Darüber hinaus zeichnete er als einer der sechs Berichterstatter für den Teil 2 der Studie zu „Specially Protected Persons and Objects“ verantwort
Zusatzprotokoll II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte, UNTS Vol. 1125, S. 609, BGBl. 1990 II S. 1637.
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lich, der dem IKRK die Grundlagen der heutigen Regeln 25–45 vorschlug. Prof. Dr. Horst Fischer war darüber hinaus an der Begutachtung des IKRK-Endberichts zu Teil 3 der Studie über „Specific Methods and Means of Warfare“, den heutigen Regeln 46–69, beteiligt. Für nahezu eine Dekade waren Mitarbeiter des Instituts in unterschiedlicher Art und Weise und mit unterschiedlicher Intensität in das IKRK-Projekt eingebunden. Das IKRK nutzte die in Bochum vorhandene und über Jahre gepflegte Expertise des Institutspersonals und der vorhandenen Ressourcen. Es sollte nicht vergessen werden, dass Dr. Knut Dörmann, der jetzige Leiter der Rechtsabteilung des IKRK und wie alle anderen vorher genannten von Prof. Dr. Knut Ipsen promoviert, bei der Endfassung der Studie eine wichtige Rolle spielte. Die am IFHV identifizierten 20 gewohnheitsrechtlichen Regeln zum Schutze des medizinischen, religiösen Personals, des Personals der humanitären Hilfe und ihren Leistungen, der Peacekeeping Missions, der Journalisten, der geschützten Zonen, dem Kulturgut, Objekten mit besonders gefährlichen Stoffen und der Umwelt sind – wenn man so will – Kinder (Produkte) des IFHV, auch wenn das IKRK die vorgelegten Texte noch verändert hat. Diese Regeln reizen zu intensiverer kritischer Betrachtung aus der Sicht des verantwortlichen Autors. Hier sollen allerdings nur vier grundsätzliche Probleme und eine praktisch-politische Frage beschrieben werden.
2.1 Schlaglichter 2.1.1 Schlaglicht 1: Der Nachweis der Staatenpraxis Für das IFHV war damals von besonderer Bedeutung, in welcher Art und Weise das Steering Committee die Grundlagen des Nachweises der Staatenpraxis und der opinion iuris und damit das Fundament für die Studie formulieren würde. Mit Prof. George Abi Saab aus Genf, Prof. Francoise Hampson aus Essex, Prof. Ove Bring aus Uppsala, Prof. Ted Meron aus New York und Prof. Eric David aus Brüssel haben wir insbesondere abgewogen, ob Staaten, die nicht an bewaffneten Konflikten beteiligt waren, zur Gewohnheitsrechtbildung überhaupt beitragen können oder ob bloße Stellungnahmen, Politiken oder Schweigen als nicht relevant für den Nachweis der Staatenpraxis anzusehen ist. Wir sind den Stimmen im Schrifttum und später in den Treffen mit Regierungsvertretern nicht gefolgt, die „Nichtrelevanz“ dieses Verhaltens propagierten, sondern wir haben in langen Sitzungen in Genf nur zu diesem Punkt in abgewogener Art und Weise unter Ausarbeitung zusätzlicher relevanter Kriterien die Berücksichtigung dieser
Am Lehrstuhl des Autors an der Universität Leiden läuft dazu ein von der NWO finanziertes größeres Forschungsprojekt.
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Staatenpraxis und die Analyse ihrer Wertigkeit für die Gesamtstudie ermöglicht. Ein Ansatz, der im Schrifttum kritisiert, aber bisher nicht überzeugend widerlegt worden ist. 2.1.2 Schlaglicht 2: Das Verhältnis von Vertrags- und Gewohnheitsrecht Ein weiterer langwieriger Teil der Debatte im Steering Committee behandelte die Frage der Formulierung der Gewohnheitsrechtsregeln und die Identität/Ähnlichkeit oder rigorose Abweichung der Gewohnheitsrechtsregeln von den vertragsrechtlichen Vorschriften für den internationalen bewaffneten Konflikt und ihrem Wortlaut. Das Committee formulierte hier einen pragmatischen Zugang, in dem es im Wesentlichen und zunächst auf die spezifischen Elemente der Staatenpraxis – insoweit sie Texte, Textbestätigungen oder Abänderungen von Vertragstext enthielten – zurückgriff und diese in den Kontext von vertragsbestätigender oder gewohnheitsrechtsbildender Äußerung stellten. Schwieriger gestaltete sich die Formulierung angesichts des bloßen Verhaltens, also Aktivitäten von Staaten, denen keine schriftliche oder mündliche Äußerung zum Inhalt und Umfang der perzipierten oder angewendeten oder gewünschten gewohnheitsrechtlichen Regel folgte. Auch dieses auf Aktionen folgende Schweigen stellte das Committee in den Gesamtkontext spezifischer bewaffneter Konflikte oder humanitär-völkerrechtlicher Themen mit den Kommentaren anderer Staaten, vorheriger mündlicher oder schriftlicher Praxis des untersuchten Staates, Aktivitäten in internationalen Foren und andere den Gesamtkontext umreißende Elemente. 2.1.3 Schlaglicht 3: Die Bedeutung von Resolutionen internationaler Organisationen Auch heute noch bietet der dritte von uns damals diskutierte grundsätzliche Punkt Anlass zu Kontroversen über den Rahmen der zu berücksichtigenden Staatenpraxis bei dem Nachweis von Gewohnheitsrecht. Resolutionen internationaler Organisationen sind zwar vom Konsens der Mitgliedstaaten getragen, aber unterliegen speziellen Bedingungen des Einzelfalls – wie zum Beispiel dem Abstimmungsergebnis, Enthaltungen, Abwesenheit von Mitgliedstaaten – oder anderen relevanten Umfeldbedingungen wie zum Beispiel der des Mandats des Organs der Organisation, dessen Äußerung dokumentiert ist. Von besonderem Interesse waren natürlich die UN-Organe, aber auch das Europäische Parlament, dessen demokratische Legitimation nicht zu bezweifeln war, wohl aber seine politische Relevanz hinsichtlich der Politiken und Haltungen der Mitgliedstaaten. Wie auch im Falle des Schweigens von Staaten baut auch in diesem Fall die Studie auf einer Kontextualisierung der Umstände solcher Resolutionen auf, die eine Analyse von tatsächlichem, gefordertem oder zu erwartendem Verhalten der Staaten in anderen Zusammenhängen berücksichtigt.
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2.1.4 Schlaglicht 4: Die Praxis von Non-State Armed Groups Die letzte der von mir zu erwähnenden Grundsatzfragen betrifft die Praxis von Gruppen als Konfliktparteien nicht-internationaler Konflikte, heute würde man sie als „Non-State Armed Groups“ bezeichnen. Hierzu gab es eine Zeit lang keinen Konsens über die Bedeutung dieses Verhaltens, aber die Absprache zwischen den Berichterstattern auf Wunsch des IKRK war, zunächst eine Sammlung der Praxis dieser Gruppierungen anzulegen und über ihre Bedeutung zu einem späteren Zeitpunkt im Laufe des Prozesses zu entscheiden. Letztendlich kann diese Praxis nach bisherigem in der Studie wiedergegebenem Verständnis keine „stand alone“-Praxis generieren. Sie kann aber sehr wohl zusätzliche Argumente für die Akzeptanz/ Nichtakzeptanz einer Regel beinhalten.
2.2 Kritische Aspekte des Bochumer Beitrages Zwischen den Berichterstattern und den Forschungsteams auf der einen Seite und den anderen Berichterstattern beziehungsweise den IKRK-Vertretern auf der anderen Seite gab es durchaus Differenzen über die Existenz von Regeln oder ihre Formulierung. Wir hatten vom Institut aus spezielle Debatten mit dem IKRK über zwei Punkte: Zum einen kritisierte das IKRK die von uns vorgeschlagenen Regeln über die humanitäre Hilfe als zu weitgehend. Andererseits hielten wir den Wunsch des IKRK, mehrere und striktere Regeln zum Schutz der Umwelt im bewaffneten Konflikt zu formulieren, als nicht durch die Staatenpraxis gedeckt. Während wir im ersten Fall insbesondere auf Staatenpraxis im Kontext internationaler Organisationen abstellten, fehlte dem Bochumer Team im Falle des Schutzes der Umwelt im bewaffneten Konflikt tatsächlich die Überzeugung für eine hinreichende und von allgemeiner Überzeugung getragene Staatenpraxis. Die vom IKRK behauptete Kongruenz zwischen den Verträgen und dem Gewohnheitsrecht für den Schutz der Umwelt im Frieden und den Schutz der Umwelt im bewaffneten Konflikt hielten wir für methodologisch und sachlich schwerlich vertretbar. In den zehn Jahren der Arbeit an dem Text sind einige der Aspekte dieser internen Kontroverse verschwunden. Der kundige Leser wird, wenn er den zweiten Band zum Verständnis der Regeln für die humanitäre Hilfe und dem Schutz der Umwelt im bewaffneten Konflikt betrachtet, diese Unterschiede in der Aufstellung und dem Nachweis der Staatenpraxis wiederfinden. Man kann kaum daran zweifeln, dass die genannten Aspekte zur humanitären Hilfe und den Menschenrechten zentrale Bestandteile des im bewaffneten Konflikt geltenden Völkerrechts sind. Die Gewohnheitsrechtsstudie hat – falls im Laufe der Zeit die Darstellung der Regeln die Akzeptanz der Staatengemeinschaft erfährt – den schwierigen Rechtsentwicklungsprozess für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt in mehrfacher Hinsicht beeinflusst. Es ist kaum vorstellbar, dass Staaten die Geltung der Grundsätze humanitären Verhaltens für den nichtinternationalen Konflikt in Frage stellen werden. Die Praxis der Staaten seit der
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Veröffentlichung zeigt viel Zustimmung für die Regeln, die Methodologie und den Prozess und wenig grundsätzliche Kritik. Allerdings ist die Zahl der spezifischen Stellungnahmen angesichts der Zahl der Staaten nach wie vor gering und würde nicht den Anforderungen an eine hinreichende globale Praxis genügen, die aus der unverbindlichen – im Kleide eines akademischen Werkes daherkommenden – Liste von Regeln einen autoritativen Katalog geltender Vorschriften für alle Typen bewaffneter Konflikte macht. Das IKRK hat seine Terminologie bei der Präsentation der Studie in den Regionen der Welt diesem Befund angepasst. Der forsche Stil der ersten Präsentationen ist einem eher zurückhaltenden Anbieten des Ergebnisses der Studie gewichen. Die Beteiligung des Instituts an der Studie ist von den Teilnehmern und den Organisatoren mehrfach und außerordentlich positiv gewürdigt worden. Die Bedeutung für die Positionierung des IFHV im internationalen akademischen Wettbewerb und zur Gewinnung neuer forschungsleitender Fragestellungen liegt auf der Hand. Auch in den nächsten Jahren werden die Inhalte der Studie, von denen, die am Prozess beteiligt waren oder ihn begleitet haben, mit dem Namen Bochum verknüpft.
3 Die spezielle Expertise des IFHV 3.1 Interdisziplinäre Forschung Die Diskussionen mit den anderen Berichterstattern und dem IKRK zu diesen Punkten beruhten nicht nur auf den Forschungsarbeiten, wie sie von Dr. Heike Spieker und Dr. Stefan Witteler zum Schutz der Umwelt vor Beginn der Gewohnheitsrechtsstudie vorgelegt worden waren. Das Institut hatte zu Beginn der 90er Jahre ein langjähriges interdisziplinäres Projekt zum Schutz der Umwelt in Bochum etabliert und mit Biologen Chemikern und Ökosystemforschern Aspekte des Schutzes der Umwelt im bewaffneten Konflikt aufgearbeitet und publiziert. Der Wissensgewinn dieser und anderer interdisziplinärer IFHV-Projekte war der Gruppe der Völkerrechtler in Genf nur schwer zu vermitteln. Ähnlich erging es den IFHV-Vertretern bei Fragen der humanitären Hilfe. Als das IKRK Prof. Dr. Horst Fischer für die Berichterstattung zur Studie kontaktierte, war man erstaunt, dass er nicht zum Teil der Studie über Mittel und Methoden der Kriegsführung arbeiten wollte, sondern die Fragen der humanitären Hilfe und den anderen bereits genannten Aspekten präferierte. Für den Schutz der Umwelt ist offensichtlich, dass das IFHV den durch im oben genannten Forschungsprojekt
H. Spieker, Völkergewohnheitsrechtlicher Schutz der natürlichen Umwelt im internationalen bewaffneten Konflikt. Waffenwirkung und Umwelt I, Berlin 1992; S. Witteler, Die Regelungen der neuen Verträge des humanitären Völkerrechts und des Rechts der Rüstungsbegrenzung mit direktem Umweltbezug. Waffenwirkung und Umwelt II, Berlin 1993. H. Spieker, Naturwissenschaftliche und völkerrechtliche Perspektiven für den Schutz der Umwelt im bewaffneten Konflikt, Waffenwirkung und Umwelt III, Berlin 1996.
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gewonnen Vorsprung in die internationale Diskussion einbringen wollte. Auch für die Wahl der humanitären Hilfe gab es einen – allerdings anders gearteten – Grund.
3.2 Die Wechselwirkung mit dem NOHA-Projekt Seit dem Jahre 1993 baute das Institut einen europäischen und interdisziplinären Masterstudiengang zur humanitären Hilfe auf. Mit Unterstützung der Europäischen Kommission, deutscher Hilfsorganisationen und Kollegen verschiedener Fakultäten der Ruhr-Universität Bochum, insbesondere Prof. Dr. Hans Joachim Trampisch von der Medizinischen Fakultät und unter Mitwirkung von Prof. Fidelis Selenka, ebenfalls Medizinische Fakultät, Prof. Dr. Heiner Dürr von der Geowissenschaftlichen Fakultät und Prof. Dr. Volker Nienhaus von der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, entstand ein neuartiges Modell der Kooperation über Fach-, Organisations- und Landesgrenzen hinweg für einen auf die Praxis der humanitären Hilfe orientierten Masterstudiengang (NOHA). Die bei dem Aufbau und der Praxis dieses Studiengangs gewonnenen Erkenntnisse wurden für die Beteiligung an der Gewohnheitsrechtsstudie nutzbar gemacht und umgekehrt dienten Diskussionen zur Gewohnheitsrechtsstudie in Genf als Gegenstand der Lehre und der Praxis der Absolventen, die über ihre Berichte aus dem Feld an uns zurückflossen. Dissertationen von Dr. Marco Kuhn oder später Dr. Gregor Schotten, beides Schüler von Prof. Dr. Knut Ipsen, haben Aspekte der Organisation und Durchsetzung humanitärer Hilfe thematisiert. Sowohl die Ergebnisse der Diskussionen in Genf als auch die Erfahrungen aus dem Studiengang konnten in der im NOHA-Programm angelegten Beratung der Europäischen Kommission genutzt werden. Das Wechselspiel von Lehre, Forschung und Praxis im Bereich der humanitären Hilfe hat den NOHA-Studiengang bereichert und damit zusammenhängende zusätzliche Projekte in Bochum und außerhalb ermöglicht.
3.3 IFHV-Publikationen Die Gewohnheitsrechtsstudie hat insoweit eine initiierende, begleitende und befruchtende Rolle für die laufenden und später begonnen Forschungs- und Lehraktivitäten des Instituts gehabt. Die substantielle Beteiligung am Prozess der Entwicklung der Studie hat das Institut darüber hinaus in der internationalen Völkerrechtwissenschaft und humanitären Organisationslandschaft in Europa weiter ver
M. Kuhn, Humanitäre Hilfe der Europäischen Gemeinschaft. Entwicklung, System und primärrechtlicher Rahmen, Berlin 2000; G. Schotten, Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen im Umfeld bewaffneter Konflikte - Zur Bindung des Sicherheitsrates an individualschützende Normen, Berlin 2007.
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ankert. Kollegen aus der ganzen Welt, die in Genf zur Diskussion der Entwürfe eingeladen waren, konnten sich von der Expertise des Instituts in den Vorlagen und den Diskussion überzeugen, und sie konnten manchmal auch vom IFHV lernen. Dazu ein Beispiel: Bei einer Sitzung in Genf im Jahre 1999 gab es eine Diskussion mit Prof. Ted Meron von der New York University über die völkerrechtliche Beurteilung von Angriffen während des Kosovo-Krieges. Zur Illustration wurde ihm das gerade erschiene BOFAX zum Thema eines speziellen Angriffs mitgebracht und ihm wurde die Nutzung dieses Mediums in Deutschland erläutert. Meron, der damals Chefredakteur des American Journal of International Law (AJIL) war, bat um Zusendung eines Satzes der BOFAXE aus den vergangenen Jahren nach New York. Einige Zeit später begann die Amerikanische Völkerrechtsvereinigung mit der Versendung der sogenannten „International Law in Brief“. Falls Ted Meron sich von den BOFAXEN inspirieren ließ, war das sicherlich eine der wenigen erfolgreichen Exporte, wenn auch in lokalem Gewand und verbessert, europäischer Verbreitungsarbeit in die USA. Ähnliche Wirkungen zeigten die neu etablierten und in Deutschland und in Europa bis dahin nicht existenten speziellen Publikationsreihen zum humanitären Völkerrecht und zur Friedenssicherung. Die Vierteljahresschrift „Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften“, die gemeinsam mit dem DRK herausgegeben wird, ist nun im 20. Erscheinungsjahr und in der von den Professoren Ipsen, Fischer und Wolf herausgegebenen Buchreihe „Bochumer Schriften zur Friedenssicherung“ sind mehr als 50 Bände erschienen. In der Buchreihe10 sind die wesentlichen Ergebnisse der IFHV-Forschungsprojekte dokumentiert. Die Buchreihe zeigt jedoch nicht abschließend die Forschungsarbeiten der Mitarbeiter und Mitglieder des Direktoriums auf.11 Die Vierteljahresschrift greift aktuelle Themen im Schnittbereich von Forschung und humanitärer Praxis auf.12
4 Forschung, Lehre und Praxis im harmonischen Dreieck Nicht nur die Verknüpfung der Gewohnheitsrechtsstudie mit dem NOHA-Programm zeigt die Fähigkeit des Instituts, Forschung, Lehre und Praxis in ein harmonisches Dreieck zu bringen. Die Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften hatte im Jahre 2000, als die IFHV-Beteiligung an der Formulierung
Siehe dazu http://www.ifhv.rub.de/2-research/2-bofaxe.html (am 31. Mai 2010 sowie alle weiteren Angaben in diesem Band). 10 http://www.ifhv.rub.de/2-research/2-bluebooks.html. 11 Siehe z.B. H.-J. Heintze, Do Non-State Actors Challenge International Humanitarian Law?, in: W. Heintschel von Heinegg/V. Epping (Hrsg.), International Humanitarian Law – Facing New Challenges, Symposium in Honour of Knut Ipsen, Berlin 2007, S. 163-170; H.-J. Heintze, Der „War on Terrorism“ und das Völkerrecht, in H. J. Gießmann/K. P. Tudyka (Hrsg.), Dem Frieden dienen. Zum Gedenken an Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz, Baden-Baden 2004, S. 318-331; H. J. Heintze, International Law and Democratic Constitutions: Reinstating Democracy in Haiti, Law and State 55 (1997), S. 27-50. 12 http://www.ifhv.rub.de/2-research/2-huvi.html.
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der Gewohnheitsrechtsstudie sich der letzten Phase näherte, das Institut um eine Studie zum Thema International Disaster Response Law (IDRL) gebeten. Diese von Prof. Dr. Horst Fischer erstellte und von der Föderation publizierte Studie ist zur Grundlage der Beurteilung des in Natur- und Industriekatastrophen anwendbaren nationalen Rechts und Völkerrechts geworden. IDRL ist ein offener Prozess seit 2001, der die Staatengemeinschaft zu diesen Rechtsfragen sensibilisiert hat. Wenn man so will, ist diese Studie für die Föderation eine Folge der NOHA-Aktivitäten und der Beteiligung an der Gewohnheitsrechtsstudie. Prof. Dr. Sven Peterke hat in der von Prof. Dr. Joachim Wolf betreuten Dissertation über die Föderation und ihren Rechtsstatus einige der in der Föderationsstudie aufgeworfenen Fragen weiterentwickelt.
4.1 Die Interdependenz im Dreieck Die IDRL-Studie hat im NOHA-Programm, in der die Hilfe bei Naturkatastrophen eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die in Kriegen, erheblichen Raum geschaffen für die praktischen Fragen der humanitären Hilfe von den Visa der beteiligten Helfer bis zum Ausfuhrzoll für die bei der Hilfe genutzten und wieder auszuführenden Transportmittel. In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die seit dem Golfkrieg 1991 gewachsene Aufmerksamkeit der deutschen Ministerien für das humanitäre Völkerrecht durch die Gewohnheitsrechtsstudie und die Kooperation mit dem Institut bei der Zusammenstellung der deutschen Staatenpraxis einen weiteren Schub erhielt, der schließlich auch in der Beteiligung von Prof. Dr. Horst Fischer an der Erstellung der Gesetzesvorlage für das am 30. Juni 2002 in Kraft getretene Völkerstrafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland mündete. Hier hat das IFHV in der Person von Prof. Dr. Horst Fischer den Abschnitt im Gesetzesentwurf über die Kriegsverbrechen verantwortet. Das ausgehende 20. Jahrhundert und die ersten Jahre des neuen Jahrzehnts waren für das Institut, ausgehend von der Arbeit an der Studie, mit parallelen und sich gegenseitig beeinflussenden Aktivitäten verbunden. Man kann behaupten, dass die Arbeit an der Gewohnheitsrechtsstudie, die Erstellung der IDRL-Grundlage und die Vorlagen für das Völkerstrafgesetzbuch ihre besondere Bedeutung nicht nur durch diese Parallelität und gegenseitige Befruchtung erhielten. Vielmehr hat die Kooperation mit den Organisationen und Institutionen der völkerrechtlichen und humanitär-völkerrechtlichen Praxis auf der einen Seite, die Einspeisung der gewonnenen Forschungs- und Verhandlungsergebnisse in die Lehre und die Anwendung der Lernergebnisse durch die Absolventen in der Praxis andererseits Forschung, Praxis und Lehre am IFHV in einem stabilen, exzellenten und harmonischen Dreieck im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz verankert. Die Gewohnheitsrechtstudie ist mit den geschilderten Inhalten und Wirkungen ein Beispiel, aber nicht das einzige. Auch andere Aspekte verdienen es, vor dem Hintergrund des postulierten Dreiecks erwähnt zu werden.
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Das NOHA-Programm ist keiner Eingebung zu verdanken, sondern einer vom Institut und der Europäischen Kommission in Gestalt der heutigen Generaldirektion ECHO gemeinsam erkannten Notwendigkeit der Professionalisierung der humanitären Hilfe und der Verknüpfung nationaler und organisationsspezifischer Hilfe mit den Politiken und Verfahren der EU zur Steuerung und Finanzierung humanitärer Hilfe. In der Grundanlage entspricht NOHA dem Gedanken des Dreiecks, in dem auch die forschungspolitische Komponente eine Vielzahl von Disziplinen wie die Medizin, die Ökonomie, Geowissenschaft und die Rechtswissenschaft einbezieht. NOHA hat die Forschung auf dem Feld humanitärer Hilfe befruchtet, auch wenn Projekte manchmal oder vielfach die Hilfe nur als ein Element eines breiteren Forschungsansatzes einbezogen haben.
4.2 Die Qualitätssicherung des Dreiecks Hervorzuheben ist, dass NOHA seit 1993 von der Europäischen Kommission maßgeblich gefördert wird und eines der ersten europäischen Lehrprogramme war, das 2003 das Qualitätslabel „ERASMUS MUNDUS“ in einem europaweiten und hoch kompetitiven Wettbewerb erhielt. Mehrfach betont und ausdrücklich von der EUKommission formuliert, ist NOHA ein Modell internationaler interdisziplinärer Ausbildung mit praktischen Bezügen und komplexer Struktur und Organisation. Das Ziel des Studienganges war die Professionalisierung des Berufsfeldes. Aber auch NOHA hat sich professionalisiert. Prof. Dr. Heiner Dürr insbesondere hat sich dabei herausragende Verdienste für das gesamte NOHA-Netzwerk erworben, indem er Standards für Transparenz, Planung und Umsetzung der Inhalte und Lehrmethoden entwickelte, die an allen NOHA-Universitäten akzeptiert und angewendet werden. Die direkte Verbindung zwischen Forschung und Lehre wurde durch ein weiteres von Dr. Hans-Joachim Heintze geleitetes Programm gewährleistet. Von der Europäischen Kommission gefördert, haben sich in der „Marie Curie Training Site“ des IFHV junge europäische Forscher mit den Themen der humanitären Aktionen beschäftigt und damit den Austausch zwischen Theorie und Praxis erweitert. Andere internationale Programme wie das von der Europäischen Kommission geförderte sogenannte PIBOES-Programm13 oder die Beteiligung an dem an der Universität Brasilia durchgeführten Diplomprogramm für brasilianische Bundesanwälte erbrachten zusätzliche Verknüpfungen zwischen Praxis und Forschung, die für alle Programme und Projekte nutzbare Ergebnisse zeigten. Ambitionierte Programme sind nicht umsonst zu haben und die Kosten verdienen Erwähnung aus einem besonderen Grund. Heute unterstützt die Europäische Kommission den NOHA-Studiengang mit 500.000 € im Jahr. NOHA ist am Puls der Zeit mit Direktkontakten zu ECHO und den jeweiligen Ratspräsidentschaften. 13
Eine Seminarreihe der Universitäten Pisa, Bochum und Essex mit Teilnehmern aus dem mittleren und im Felde tätigen Managementpersonal von Menschenrechtsorganisationen.
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NOHA ist inzwischen nicht mehr nur ein europäisches Programm. Es ist durch ERASMUS MUNDUS und durch die Stipendien für Nichteuropäer, die NOHA studieren können, ein globales Programm geworden, das den Anforderungen der Verbindung humanitärer Praxis in exzellenter Weise gerecht wird. Im Jahre 2009 ist das ERASMUS MUNDUS Label NOHA erneut für fünf Jahre verliehen worden. Allen, die daran mitgewirkt haben, insbesondere Dr. Markus Moke, gebührt Respekt und weitere Unterstützung, wenn man weiß, wie viele erfolgreiche Programme der ersten Runde nun in dieser zweiten Runde im Jahre 2009 durchgefallen sind.
4.3 Die Globalisierung des Dreiecks Das Institut hat ein zweites Masterprogramm, das sich in das beschriebene Dreieck von Forschung, Praxis und Lehre einordnet. Das sogenannte EMA-Programm beruht auf einer Idee von zehn Professoren – unter Ihnen Prof. Dr. Horst Fischer –, die 1996 Vertreter von 40 europäischen Universitäten zur Diskussion über ein neues europäisches Menschenrechtsmasterprogramm nach London eingeladen hatten. Als Prof. Dr. Horst Fischer, Dr. Heike Spieker und Dr. Hans-Joachim Heintze im Juli 1997 in einer Woche mit 40 Kollegen von zehn Universitäten in Venedig das Curriculum des „Human Rights and Democratisation“ Masters aus dem Boden stampften, konnte das IFHV nicht ahnen, welche Welle von Verantwortlichkeiten, Anforderungen, Bedarfen und Ergebnissen auf die Beteiligten zurollen würde. Nicht nur, dass seit 13 Jahren die Komponente humanitäres Völkerrecht und Völkerstrafrecht des Masterkurses von Prof. Fischer verantwortet und gestaltet wird. In den letzten 13 Jahren – mit Ausnahme von 15 Monaten – liegt die Verantwortung für das Europäische Menschenrechtsinstitut in Venedig (EIUC), das den Studiengang ausrichtet, bei der Ruhr-Universität Bochum, die Prof. Fischer seit 1996 als EIUCPräsident mit dem Auftrag und in Vertretung des Rektors der RUB wahrnimmt. Die Generaldirektion RELEX der Europäischen Kommission in Brüssel hat die politische Steuerung von EIUC, das im Jahre 2009 von 41 europäischen Universitäten, der Region Veneto, der Stadt Venedig und der Europäischen Kommission getragen wird. Auch EIUC ist nicht mehr nur europäisch. Durch die Vernetzung mit verschiedenen regionalen Menschenrechtsmasterprogrammen in Lateinamerika, Afrika und Asien, durch Partnerschaften mit der Columbia Universität in New York, den wichtigsten Universitäten in Moskau, Universitäten des arabischen Raumes, der chinesischen Akademie der Wissenschaften und zahlreicher internationalen Organisationen hat sich EIUC zu einer globalen Institution entwickelt. Menschenrechtliche Forschung, Lehre und Praxis werden im Kloster auf dem Lido, dem Sitz von EIUC, zusammengeführt. Lehrende aus der EU-Kommission, internationalen Organisationen und NGOs gehören mit den Professoren der beteiligten Universitäten zum Lehrkörper und stellen die praktische Komponente des Studienganges sicher. PhD-Seminare, Forschungspraktika und diplomatische Konferenzen vernetzten die
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Praxis der EU-Mitgliedstaaten mit den Forschungsschwerpunkten von EIUC, die mit ihren Ergebnissen Politik im Europäischen Parlament seit 2003 anreichern.14 In ähnlicher Art und Weise hat das regionale Menschenrechtsmasterprogramm auf dem Balkan gewirkt. In dieses Programm war und ist das IFHV in der Person von Dr. Hans-Joachim Heintze federführend eingebunden.
5 Eckpunkte des Dreiecks 5.1 Struktur und Unterstützung In einer abschließenden Bewertung sind es aber die Verknüpfungen im Dreieck, die stabilen „Eckpunkte“, die die besondere Bedeutung der Gewohnheitsrechtsstudie für den Entwicklungsprozess zentraler Aktivitäten des Instituts auszeichnen. Die Steuerung solcher Prozesse, die Forschung Praxis und Lehre in einem akademischen System verbinden, ist schwierig. Mut und Innovationsfähigkeit der Akteure ist gefragt, um das genannte Dreieck zu bilden und zusammenzuhalten. Eine der wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen für das IFHV war der Status als zentrale Einrichtung der Universität. Dieser vom Senat der Universität begründete Status bot eine mit Grundpersonal ausgestattete akademische Struktur, die einerseits Innovation ermöglichte und andererseits die üblichen an den Notwendigkeiten großer Universitätseinheiten orientierten Fakultätszwänge vermied. Die Leitung des Instituts mit den Geschäftsführenden Direktoren Prof. Dr. Knut Ipsen und Prof. Dr. Joachim Wolf und den Direktoren Prof. Dr. Hans Joachim Trampisch, Prof. Dr. Fidelis Selenka, Prof. Dr. Volker Nienhaus, Prof. Dr. Heiner Dürr, Prof. Dr. Adelheid Puttler, Prof. Ludger Pries und Prof. Dr. Stefan Wohnlich hat diese Eigenschaften genutzt, gepflegt und in Kooperation mit den Fakultäten der Mitglieder des Direktoriums umgesetzt. Die Universitätsspitze mit den Rektoren Prof. Dr. Wolfgang Maßberg, Prof. Dr. Manfred Bormann, Prof. Dr. Dietmar Petzina, Prof. Dr. Wolfgang Wagner und Prof. Dr. Elmar Weiler und den Kanzlern Dr. Bernhard Wiebel und Gerhard Möller hat in den 20 Jahren der Institutsarbeit die neuen Programme und Projekte aktiv unterstützt und die Freiräume mit Zielvereinbarungen geschaffen, die letztendlich den Erfolg von Projekten wie die Beteiligung an der Gewohnheitsrechtsstudie ermöglichten. Die Verwaltung der Ruhr-Universität Bochum hat in vielfältiger Weise grundlegende und begleitende Hilfe geliefert. Das Akademische Auslandsamt unter der Leitung von Petra Henseler, Monika Sprung und mit direkter Beteiligung von Manfred Nettekoven, dem Vertreter des RUB-Kanzlers, hat die IFHV- Masterprogramme abgesichert und die Akademie der Ruhr-Universität hat in der Person von 14
Siehe dazu u.a. H. Fischer/G. Ulrich/S. Lorient, Beyond Activism: The Impact of the Human Rights Activities of the European Parliament, EIUC Occasional Papers, Venedig 2007.
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Walter Dieckmann den Austausch von Wissenschaftlern im Rahmen der ERASMUS MUNDUS-Programme erleichtert. Die Universität hat mit dem IFHV gelernt, alle Möglichkeiten der Verbesserung der IFHV-Programme und -Projekte auszuloten. Als die Notwendigkeit bestand, im Rahmen der ERASMUS MUNDUS-Programme Arbeitsplätze für die Austauschstudenten zu garantieren, gelang es mit Hilfe der Universitätsbibliothek, unter der Leitung von Frau Dr. Erda Lapp, das sogenannte „Erasmus Mundus Centre“ aufzubauen, das in einmaliger Weise die verfügbaren Publikationen und elektronischen Medien den NOHA-Studenten in einem separaten Arbeitsbereich in der Zentralbibliothek anbietet. Das Zentrum wurde am 10. Januar 2005 von der damaligen Wissenschaftsministerin Hannelore Kraft und dem damaligen Rektor der RUB, Prof. Dr. Gerhard Wagner, eröffnet.
5.2 Partner Ohne verlässliche Partner hätte das beschriebene Dreieck nicht entstehen und funktionieren können. An erster Stelle sind das Deutsche Rote Kreuz15 mit seinen Präsidenten und Landesverbänden, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Föderation der Rotkreuz-Gesellschaften und deutsche Hilfsorganisationen zu nennen. Zum Roten Kreuz hatte das Institut von Beginn an ausgezeichnete, tiefgehende und vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen, die über 20 Jahre hinweg gehalten haben. Ehemalige Institutsmitarbeiter haben diese Kooperation gefördert. Insbesondere Dr. Heike Spieker hat den langjährigen Austausch gesichert. Toni Pfanner vom IKRK und Prof. Peter Walker von der Föderation der Rotkreuz-Gesellschaften gehören ebenfalls zu dieser Personengruppe. Bundes- und Landesministerien haben mit dem Institut auf vielfältigen Ebenen zusammengearbeitet. Die IFHV-Forschungsergebnisse sind damit direkt in die praktische Politik eingeflossen. Die gemeinsam mit dem Bundesministerium der Verteidigung seit 1991 durchgeführten Tagungen zum humanitären Völkerrecht sind ein besonderes Beispiel für diesen fruchtbaren Austausch zwischen der Wissenschaft und der Praxis, bei der die Rechtsberater der Streitkräfte, Rotkreuzkonventionsbeauftragte und Wissenschaftler Themen aktueller Konflikte gemeinsam erarbeiten und mit den Ergebnissen auch Lehrinhalte und Lehrmethoden am Institut beeinflusst haben. Die genannten europäischen Masterprogramme und damit zusammenhängende Forschungsvorhaben haben im Sinne des Gegenstromprinzips die Politiken der 15
Siehe dazu den ersten erfolgreichen Austausch zu aktuellen Konflikten: W. Voit (Hrsg.), Humanitäres Völkerrecht im Jugoslawienkonflikt - ausländische Flüchtlinge - andere Rotkreuz-Fragen. 36. Tagung der Justitiare und Konventionsbeauftragten des Deutschen Roten Kreuzes vom 10. bis 12. September 1992 in Homburg, Berlin 1993 und ders. (Hrsg.), Das humanitäre Völkerrecht im Golfkrieg und andere Rotkreuz-Fragen. 35. Tagung der Justitiare und Konventionsbeauftragten des Deutschen Roten Kreuzes vom 12. bis 14. September 1991 in Köln, Berlin 1992.
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europäischen Kommission in den verschiedenen zuständigen Generaldirektionen beeinflusst. Vorschläge des Europaparlaments zur Restrukturierung der europäischen Menschenrechts- und Demokratisierungspolitik waren das Ergebnis von Studien von NOHA oder EIUC. Auf internationaler und insbesondere europäischer Ebene ist eine Erfolgsvoraussetzung für die Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis die Bereitschaft von Verantwortungsträgern in den relevanten Institutionen, neue Wege der Förderung im politischen und finanziellen Sinne zu begehen und gegen Widerstände zu verantworten. Verantwortungsträger mit Weitblick und Engagement waren in diesem Sinne Edgar Thielmann und Rene Guth bei der Generaldirektion ECHO sowie Daniela Napoli und Rolf Timans bei der Generaldirektion RELEX der Europäischen Kommission. Auch die beste Förderung durch europäische Institutionen nützt nichts, wenn die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen Universitäten in Netzwerken und Institutionen nicht funktioniert. Aus der Vielzahl der Professoren, die den Bochumer Ansatz aufgenommen, mitentwickelt und substanziell gefördert haben, seien stellvertretend Prof. Julia Gonzales aus Deusto Bilbao und Prof. Antonio Papisca aus Padua genannt.
5.3 Europäische Budgetlinien Niemand kann bezweifeln, dass diese beiden Studiengänge, NOHA und EMA, Exzellenzleuchttürme in der europäischen, wenn nicht gar globalen Lehrlandschaft sind. Einer der Gründe dafür ist das genannte Dreieck, das sich auch in der Finanzierung der Programme niederschlägt. Nicht ohne Grund hat es Bochum als einzige europäische Universität mit Leitungsfunktion geschafft, die Förderung der Studiengänge aus Forschungs-, Lehr- und operativen Mitteln dauerhaft sicherzustellen. NOHA hat eine eigene Budgetlinie im Haushalt der Generaldirektion ECHO, der alle Kommissare zustimmen müssen. EIUC ist die einzige akademische europäische Institution, die im Menschenrechts- und Demokratieinstrument der EU, das von der Kommission vorgeschlagen und durch Rat und Parlament in eine Richtlinie gegossen wurde, bis 2013 gefördert wird.16
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Verordnung (EG) Nr. 1889 / 2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 zur Einführung eines Finanzierungsinstruments für die weltweite Förderung der Demokratie und der Menschenrechte.
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6 Fazit An der Beteiligung an der sogenannten Gewohnheitsrechtsstudie des IKRK lässt sich ablesen, in welcher erfolgreichen sich gegenseitig befruchtenden Art und Weise Forschung, Lehre und Praxis zwischen 1988 und 2008 am IFHV zusammengeführt worden sind. Andere, die These des harmonischen Dreiecks begründende Projekte können im Rahmen der vorgegebenen Zielsetzung dieses Beitrags nicht behandelt werden. Die Funktion und Bedeutung des IFHV in der deutschen und europäischen Forschungs- und Lehrlandschaft beruht im Wesentlichen auf der Expertise der Mitarbeiter und Direktoren, der Neuartigkeit einer Vielzahl von Institutsprojekten, dem genannten Austausch mit der Praxis und dem durch den Status als zentrale Einrichtung der Universität gebotenen Innovationsraum. Den Rektoren der Ruhr-Universität, der Verwaltung und allen Freunden des IFHV gebührt Hochachtung und Dank für die Hilfe, Zusammenarbeit und Zuwendung. Forschungen zum Friedenssicherungsrecht, den Menschenrechten, dem humanitären Völkerrecht und der humanitären Aktion, die das Institut zu einem der international anerkannten Forschungseinrichtungen in der Welt gemacht haben, exemplarisch dargestellt an der Gewohnheitsrechtsstudie, haben die Bedeutung dieser zentralen Einrichtung der RUB nachgewiesen. Es wäre zu wünschen, dass dieses Erbe in der Universität und im IFHV gepflegt und als einmalige Chance für die Entwicklung des harmonischen Dreiecks begriffen wird.
Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht Heike Spieker
1 Einleitende Bemerkungen Wenn man seit der Gründung des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) im Jahr 1988 – sozusagen seit den Anfängen – zunächst zwölf Jahre am Institut gearbeitet hat und anschließend seit dem Jahr 2000 nun seit mehr als neun Jahren im Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) beschäftigt ist, liegt es wahrscheinlich in der Tat nahe, etwas zur Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes mit dem IFHV der Ruhr-Universität Bochum zu sagen. Ich will jedoch nicht allein eine Rückschau halten, sondern einige Überlegungen etwas grundsätzlicherer Art mit Ihnen teilen. Conditio sine qua non dieser Zusammenarbeit zwischen DRK und IFHV war und ist die sogenannte Verbreitungsarbeit. „Verbreitung“ bezieht sich dabei sowohl auf die Kenntnisse des humanitären Völkerrechts als auch auf die Grundsätze und Ideale des Roten Kreuzes beziehungsweise Roten Halbmonds. Ziel ist es also zum einen, die Kenntnisse von dem in bewaffneten Konflikten anwendbaren internationalen Recht – „Kriegsrecht“ – zu vermehren. Zum anderen geht es um die Förderung der sogenannten Grundsätze des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds: die sieben Grundsätze der Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Neu
Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, entstanden aus dem Willen, den Verwundeten der Schlachtfelder unterschiedslos Hilfe zu leisten, bemüht sich in ihrer internationalen und nationalen Tätigkeit, menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern. Sie ist bestrebt, Leben und Gesundheit zu schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen. Sie fördert gegenseitiges Verständnis, Freundschaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter allen Völkern. Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung unterscheidet nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer Stellung oder politischer Überzeugung. Sie ist einzig bemüht, den Menschen nach dem Maß ihrer Not zu helfen und dabei den dringendsten Fällen den Vorrang zu geben. H. Spieker () Deutsches Rotes Kreuz, Carstennstr. 58, 12205 Berlin, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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tralität, Unabhängigkeit, Freiwilligkeit, Einheit und Universalität, die von der 20. Internationalen Rotkreuz-/Rothalbmond-Konferenz 1965 angenommen und durch die 25. Internationale Konferenz 1986 bestätigt wurden und die Grundlage für die Erfüllung der Aufgaben der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung (RK-/RH-Bewegung) bilden. Diese sieben Rotkreuz-Grundsätze nicht allein als Teil des Selbstverständnisses und des Leitbildes jeder Rotkreuz-/Rothalbmond-Organisation zu akzeptieren, sondern sie als „verbindliche Richtlinie“ in jeglichem Handeln in jedem Bereich, in dem eine Organisation des Roten Kreuzes oder Roten Halbmonds tätig ist, umzusetzen, ist das Wesen einer idealen Rotkreuz-Tätigkeit. Insbesondere eine Kooperation in der „Verbreitung der Kenntnisse des humanitären Völkerrechts“ hat das Verhältnis zwischen dem IFHV und dem DRK gekennzeichnet. Beide Institutionen haben zusammengearbeitet speziell in der Weitergabe von Informationen über die bestehende Rechtslage des humanitären Völkerrechts, im Herstellen einer gemeinsamen Auslegung, in der Förderung eines gemeinsamen Rechtsverständnisses und nicht zuletzt in der Verdeutlichung der humanitären Grundlagen und Beweggründe für die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts.
2 Verbreitung und Entwicklung des humanitären Völkerrechts als Aufgabe der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung 2.1 Die Adressaten der Verbreitungsverpflichtung Lassen Sie mich zunächst kurz den Fragen nachgehen, was die Verbreitungsarbeit ist und wer zu ihr verpflichtet ist.
Um sich das Vertrauen aller zu bewahren, enthält sich die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung der Teilnahme an Feindseligkeiten wie auch, zu jeder Zeit, an politischen, rassischen, religiösen oder ideologischen Auseinandersetzungen. Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist unabhängig. Wenn auch die nationalen Gesellschaften den Behörden bei ihrer Tätigkeit als Hilfsgesellschaften zur Seite stehen und den jeweiligen Landesgesetzen unterworfen sind, müssen sie dennoch eine Eigenständigkeit bewahren, die ihnen gestattet, jederzeit nach den Grundsätzen der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung zu handeln. Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung verkörpert freiwillige und uneigennützige Hilfe ohne jedes Gewinnstreben. In jedem Land kann es nur eine einzige Nationale Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaft geben. Sie muss allen offen stehen und ihre humanitäre Tätigkeit im ganzen Gebiet ausüben. Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist weltumfassend. In ihr haben alle nationalen Gesellschaften gleiche Rechte und die Pflicht, einander zu helfen.
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Die Kernverträge des humanitären Völkerrechts – die vier Genfer Abkommen (GA) von 1949 und speziell das I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen (ZP I) von 1977 – tragen der Tatsache Rechnung, dass die Festlegung von Rechten und Pflichten der Parteien eines bewaffneten Konflikts nicht ausreicht. Es ist darüber hinaus erforderlich, die Anwendung und Einhaltung der Verträge soweit wie möglich schon im Vertrag selbst sicherzustellen. Artikel 80 Abs. 1 ZP I gibt daher den an einem internationalen bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien auf, „unverzüglich alle notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen, „um ihre Verpflichtungen aus den Abkommen und diesem Protokoll zu erfüllen“, während sich die Konfliktparteien in Abs. 2 verpflichten, „die Einhaltung der Abkommen und dieses Protokolls zu gewährleisten und (…) deren Durchführung“ zu „überwachen“. Ergänzend verpflichten sich die Vertragsparteien des I. Zusatzprotokolls in Art. 83 Abs. 1, „in Friedenszeiten wie in Zeiten eines bewaffneten Konflikts die Abkommen und dieses Protokoll in ihren Ländern so weit wie möglich zu verbreiten, (…), so dass diese Übereinkünfte den Streitkräften und der Zivilbevölkerung bekannt werden.“ Nach Art. 84 ZP I „übermitteln“ die Vertragsparteien „einander so bald wie möglich (…) ihre amtlichen Übersetzungen dieses Protokolls sowie die Gesetze und sonstigen Vorschriften, die sie erlassen, um seine Anwendung zu gewährleisten“.10 Den Besonderheiten nicht internationaler bewaffneter Konflikte Rechnung tragend, ist die Formulierung der Verbreitungsverpflichtung in Art. 19 des II. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 197711 allgemeiner gefasst und umfasst nur die Verpflichtung zur Verbreitung „so weit wie möglich“. Nach Maßgabe des Völkergewohnheitsrechts haben alle Parteien eines bewaffneten Konflikts die Verpflichtung, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren und seine Respektierung durch ihm zurechenbare Organe sicherzustellen, ihren Streitkräften die Regelungen des humanitären Völkerrechts zur Verfügung zu stellen sowie die Streitkräfte und die Zivilbevölkerung über das humanitäre Völkerrecht zu unterrichten.12
Artikel 47 Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde vom 12. August 1949 (GA I); Art. 48 Genfer Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See vom 12. August 1949 (GA II); Art. 127 Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 12. August 1949 (GA III); Art. 144 Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 (GA IV); http://www.icrc.org/Web/Eng/siteeng0.nsf/htmlall/genevaconventions. Zu den deutschen Texten der Abkommen vgl. http://www.drk.de/voelkerrecht/index.html. Artikel 83 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 12. Dezember 1977 (ZP I); http:// www.icrc.org/Web/Eng/siteeng0.nsf/htmlall/genevaconventions. 10 Die parallelen Vorschriften der Genfer Abkommen finden sich in den Art. 45 / 46 / 129 / 146 (Ausführung der Abkommen); 47 / 48 / 127 / 144 (Verbreitung); 48 / 49 / 128 / 145 (amtliche Übersetzungen). 11 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II) vom 12. Dezember 1977 (ZP II); http:// www.icrc.org/Web/Eng/siteeng0.nsf/htmlall/genevaconventions. 12 J.-M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Volume I: Rules, Cambridge 2005, Rules 139, S. 141-143.
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Die in den soeben zitierten Vorschriften des humanitären Völkerrechts festgelegten Pflichten richten sich an die Parteien der humanitär-völkerrechtlichen Verträge – als Staaten – und insgesamt an die Parteien eines – internationalen oder nichtinternationalen – bewaffneten Konflikts. Die Statuten der Internationalen RK- und RH-Bewegung13 übertragen entsprechende Pflichten und Verantwortlichkeiten an die Komponenten14 der RK-/RH-Bewegung. Diese sogenannten „Statuten der Bewegung“ stellen allerdings kein reines Binnenrecht dar. Sie sind vielmehr im Rahmen der Internationalen Konferenz vom Roten Kreuz und Roten Halbmond zusammen mit den Vertragsstaaten der Genfer Abkommen15 beschlossen worden. Das heißt, die Staatengemeinschaft hat der RK-/RH-Bewegung aufgegeben, sowohl die Verbreitung als auch die Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts aktiv mitzugestalten, und die Bewegung hat diese Aufgabe angenommen.
2.2 Inhalt und Reichweite der Verbreitungsarbeit Diese Verantwortung hat zum Beispiel das Deutsche Rote Kreuz als die Nationale Rotkreuz-Gesellschaft Deutschlands angenommen, indem es die „Verbreitung der Kenntnisse des humanitären Völkerrechts sowie der Grundsätze und Ideale der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung“ in der Satzung als Satzungsaufgabe anerkennt. Die DRK-Satzung bestimmt die Verbreitungsarbeit als nicht nur auf dem „eigenen Hoheitsgebiet“, sondern weltweit zu erfüllende Kernaufgabe des Deutschen Roten Kreuzes.16 Seit dem 11. Dezember 2008 ist das DRK darüber hinaus nicht nur durch die Statuten der Bewegung und durch seine Satzung, sondern auch durch Gesetz zur Verbreitung des humanitären Völkerrechts rechtlich verpflichtet: § 3 des Gesetzes über das Deutsche Rote Kreuz17 listet die sich unmittelbar aus dem humanitären Völkerrecht ergebenden Aufgaben auf und weist in § 2 Abs. 1 Nr. 2 dem DRK „die Verbreitung von Kenntnissen über das humanitäre Völkerrecht sowie die Grundsätze und Ideale der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung und die Unterstützung der Bundesregierung hierbei“ als eigene, das heißt nicht lediglich 13
Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, angenommen von der 25. Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz 1986 (Statuten der Bewegung). 14 Die drei Komponenten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung sind das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften sowie die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. 15 Seit dem 2. August 2006 besitzen die Genfer Abkommen universelle Geltung, das heißt alle existierenden Staaten sind Vertragsstaaten der Genfer Abkommen. 16 § 2 Abs. 2 der DRK-Satzung vom 20.03.2009, am 12. November 2009 in Kraft getreten.; http:// www.drk.de/fileadmin/Ueber_uns/DRK-Bundessatzung_2009.pdf. 17 Gesetz über das Deutsche Rote Kreuz und andere freiwillige Hilfsgesellschaften im Sinne der Genfer Rotkreuz-Abkommen (DRK-Gesetz – DRKG), BGBl. 2008 I Nr. 56 S. 2346.
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abgeleitete Aufgabe zur Erfüllung zu.18 Dies stellt auch die Gesetzesbegründung der Bundesregierung ausdrücklich klar und ergänzt, dass das DRK „in Erfüllung dieser Aufgabe insbesondere ehrenamtliche Konventionsbeauftragte (Berater zum humanitären Völkerrecht) auf der Ebene des Bundes sowie der Landes- und Kreisverbände benannt“ hat19 – ein weltweit einzigartiges System.20 Die Verbreitung des humanitären Völkerrechts richtet sich Bezug nehmend auf den persönlichen Anwendungsbereich – in Anlehnung an den Unterscheidungsgrundsatz des humanitären Völkerrechts – sowohl an die Angehörigen der Streitkräfte als auch an die Zivilbevölkerung. Traditionelle Zielgruppen von Verbreitungsaktivitäten sind speziell die Mitglieder der Streitkräfte jeden militärischen Ranges und Gruppen nicht-staatlicher Kämpfer sowie die für die Entwicklung, Um- und Durchsetzung des humanitären Völkerrechts zuständigen Ministerien und sonstigen staatlichen Stellen, Rechtsanwender, Journalisten sowie die allgemeine Öffentlichkeit. Im Hinblick auf den sachlichen Anwendungsbereich der Verbreitungsverpflichtung ist eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten, Aktivitäten und Maßnahmen mit unterschiedlicher Zielrichtung unter dem Begriff der Verbreitung des humanitären Völkerrechts vereint. Unter Verzicht auf eine umfassende Darstellung der einzelnen Ausprägungen der Verbreitungsverpflichtung ist jedenfalls die Verbreitung und Förderung der Kenntnisse im humanitären Völkerrecht Bestandteil dieser Tätigkeiten, Aktivitäten und Maßnahmen. Diesem Ziel dient grundlegend zunächst die Übersetzung von Verträgen des humanitären Völkerrechts in die jeweiligen Muttersprachen der Adressaten und Zielgruppen. Eine damit im Zusammenhang stehende Herausforderung stellt derzeit die Übersetzung der vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) identifizierten 161 Regeln des Völkergewohnheitsrechts
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Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 der Statuten der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung gibt den nationalen Gesellschaften ausdrücklich auf, „hierzu (…) von sich aus Initiativen“ zu ergreifen. 19 Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Änderung der Vorschriften über das Deutsche Rote Kreuz; zu § 2 Abs. 1 Nr. 2. 20 Die Verbreitungsarbeit des Deutschen Roten Kreuzes ist durch sein weltweit einzigartiges System ehrenamtlicher Konventionsbeauftragter, das heißt Berater zum humanitären Völkerrecht geprägt. Die Funktion des Bundeskonventionsbeauftragten wird durch 19 Landeskonventionsbeauftragte und derzeit ca. 300 Kreis- und Bezirkskonventionsbeauftragte flankiert. Ihr Mandat ist es zum einen, die Verbandsgliederungen in Fragen des humanitären Völkerrechts zu beraten und zum anderen Kenntnisse im humanitären Völkerrecht und über Rotkreuz-Grundsätze in der allgemeinen Öffentlichkeit wie auch in speziellen Zielgruppen zu verbreiten. DRK-Landesverbände und -Generalsekretariat veranstalten eine Vielzahl von Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen zum humanitären Völkerrecht (vgl. dazu http://www.drk.de/voelkerrecht/index.html) und wirken in Veranstaltungen insbesondere von Universitäten und der Bundeswehr mit. Ergänzt wird diese Tätigkeit durch zahlreiche Publikationen. Diese schließen Unterrichtsmaterial zur Verwendung an Schulen mit ein. Neueren Datums sind „Mindeststandards Menschlichkeit. Grundlagen des humanitären Völkerrechts“ (2005) und „Entdecke das humanitäre Völkerrecht“ (2006); http://www. hvr-entdecken.info/Sites/lehren0.htm.
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im humanitären Völkerrecht21 dar. Diese Regeln sind zwar nicht den vertraglichen Regelungen des humanitären Völkerrechts nachgebildet, greifen jedoch vielfach auf deren Inhalte zurück. Dabei hat es inhaltlich eine große Bedeutung, ob eine Gewohnheitsrechtsregel im einzelnen Fall einer Vertragsvorschrift entspricht, in wesentlichen Teilen darauf zurückgeht oder gegebenenfalls entscheidende Unterschiede aufweist. Gerade diese Entsprechungen, Unterschiedlichkeiten und Abweichungen in einer Übersetzung aus dem authentischen englischen Originaltext ins Deutsche in der gebotenen Nuanciertheit herauszuarbeiten, stellt die Hohe Schule der Übersetzungstätigkeit dar. Eine Verbreitung und Förderung der Kenntnisse im humanitären Völkerrecht beinhaltet darüber hinaus, dass sowohl das Militär als auch die Zivilbevölkerung mit den Regeln des humanitären Völkerrechts „proaktiv“ vertraut gemacht werden. Vertragliche oder gewohnheitsrechtliche Regeln des humanitären Völkerrechts, die denjenigen, die sie beachten müssen, nicht bekannt sind oder die von ihnen nicht verstanden werden, werden in der Wirklichkeit eines bewaffneten Konflikts kaum Wirkung zeigen und das Verhalten derjenigen, die Adressaten dieser Ge- und Verbote sind, kaum tatsächlich beeinflussen.
2.3 Der Beitrag nationaler Rotkreuz- und RothalbmondGesellschaften zur Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts Jedoch nicht nur die Verbreitung des humanitären Völkerrechts ist das Mandat des DRK als nationaler Rotkreuz-Gesellschaft, sondern es hat auch eine Rolle in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts zu erfüllen. Die Verbreitung und Förderung der Kenntnisse im humanitären Völkerrecht ist ja kein Selbstzweck und kann bei einem bloßen Vertrautmachen mit den Regeln des humanitären Völkerrechts nicht stehen bleiben. Sie ist gerichtet auf eine Verbesserung der Beachtung des humanitären Völkerrechts. Ziel jeglicher Verbreitungsbemühungen ist es, eine Umsetzung der Regeln des humanitären Völkerrechts zu erleichtern, eine Durchsetzung seiner Bestimmungen gegebenenfalls zu ermöglichen und letztlich damit die Einhaltung des humanitären Völkerrechts in einem bewaffneten Konflikt wahrscheinlicher oder jedenfalls weniger unwahrscheinlich zu machen. Sie muss damit – auch – auf Prävention gerichtet sein. In der Zielvorstellung ist die Verbreitung und Förderung der Kenntnisse im humanitären Völkerrecht darauf gerichtet, die Rahmenbedingungen für eine weitergehende und umfassendere Umsetzung seiner Regelungen auf nationaler Ebene durch entsprechende Gesetzgebung und flankierende Verwaltungsmaßnahmen zu verbessern, etwa im Hinblick auf die Identifizierung, Kennzeichnung und den Schutz von 21 J.-M. Henckaerts/L. Doswald-Beck (Hrsg.), Customary International Humanitarian Law, Cambridge 2005, Volume I: Rules.
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besonders geschützten Personen(-gruppen), Objekten und Orten,22 die Einrichtung von Stellen mit besonderen, durch das humanitäre Völkerrecht übertragenen Funktionen23 sowie die Vorhaltung von geeigneten Strukturen, Verwaltungsvorgaben und Personal für die Erfüllung besonderer Aufgaben nach dem humanitären Völkerrecht.24 Ergänzend zu einer verbesserten Umsetzung bezieht sich die Verbreitung und Förderung der Kenntnisse im humanitären Völkerrecht auch auf eine Sanktionierung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht und ist letztlich darauf gerichtet, Verletzungen des Rechts vorzubeugen. Ein solches Verständnis muss umso mehr gelten, wenn eine Organisation wie die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung es sich zum Ziel setzt, „der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen, vor allem in Zeiten bewaffneter Konflikte“,25 dann kann keine ihrer Komponenten sich in der Verbreitungsarbeit darauf beschränken, den Inhalt des bestehenden humanitären Völkerrechts „in die Welt“ zu tragen. Wenn es der Bewegung ernst ist damit, ihre Grundsätze und Ideale Wirklichkeit werden zu lassen, dann kann sie sich nicht damit begnügen, den Bestand des humanitären Völkerrechts zu bewahren, zu verteidigen und bekannt zu machen. Vielmehr muss sie, wann immer und wo immer sie die Chance einer Möglichkeit dazu sieht, eine Fortentwicklung des Schutzes der Menschlichkeit in bewaffneten Auseinandersetzungen aktiv und „proaktiv“ betreiben. Aufgaben im Hinblick auf eine Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts werden den nationalen Gesellschaften ausdrücklich, wenn auch indirekt über die Zuständigkeiten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz übertragen: Die Einhaltung, die Weiterentwicklung und die Ratifikation der Genfer Abkommen, die Verbreitung der Grundsätze der Bewegung und die Verbreitung des humanitären Völkerrechts werden ausdrücklich als Bereiche identifiziert, in denen das IKRK auf der Basis gemeinsamer Interessen einvernehmlich mit nationalen Gesellschaften zusammen arbeitet.26 Sowohl die Verbreitungsaktivitäten nationaler Gesellschaften im Einzelnen als auch ihr jeweiliger Beitrag zu einer Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts sind unterschiedlich und tragen insbesondere nationalen Gegebenheiten und der jeweiligen Intensität einer Kooperation mit ihren jeweiligen Regierungen Rechnung.
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Vgl. nur die umfassenden Verpflichtungen zur Gewährleistung des Schutzes von Kulturgut nach dem Haager Abkommen vom 14. Mai 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (nebst dem Haager Protokoll vom 14. Mai 1954 über den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten und dem Zweiten Protokoll vom 26. März 1999 zum Haager Abkommen von 1954 für den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten), BGBl. II 1967, S. 1233 und Art. 53 ZP I, UNTS Vol. 1125, S. 3, BGBl. 1990 II S. 1551. 23 Beispielsweise die Einrichtung amtlicher Auskunftsbüros im Rahmen des Rotkreuz-Suchdienstes gem. Art. 122 GA III und Art. 136 GA IV. 24 Etwa die weitreichende Regelung des medizinischen und Sanitätspersonals sowie ihrer Einrichtungen. 25 Präambel der Statuten der Bewegung. 26 Art. 5 Abs. 4 lit. a) der Statuten der Bewegung.
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Das Deutsche Rote Kreuz etwa hat die Geschäftsführung des Deutschen Ko mitees zum humanitären Völkerrecht inne. Die Idee nationaler Komitees zum humanitären Völkerrecht geht zurück auf die Initiative der 26. Internationalen Kon ferenz, die im Jahr 1995 zur Gründung des Advisory Service des IKRK führte. Das Deutsche Komitee hat gleichzeitig die Doppelfunktion als satzungsgemäßer DRK-Fachausschuss „Humanitäres Völkerrecht“27 inne und bietet ein Diskussions-, Koordinierungs- und Beratungsforum für Vertreter der mit dem humanitären Völkerrecht befassten Bundesministerien,28 der führenden deutschen Wissenschaftler auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts und des Deutschen Roten Kreuzes. Inhaltliche Schwerpunkte der Arbeit des Deutschen Komitees ist die Umsetzung des humanitären Völkerrechts in das deutsche Rechts- und Verwaltungssystem, seine Verbreitung sowie Fortentwicklung. So hat das Deutsche Komitee sich seit dem Jahr 2000 insbesondere mit Fragen des Völkerstrafrechts und des Völkerstrafgesetzbuches,29 den Chancen für die Einrichtung eines Informations-Austausch-Systems zum humanitären Völkerrecht, Antipersonen-Landminen und anderen Waffen, die unterschiedslose Wirkungen hervorrufen können, sowie mit der Kleinwaffenthematik, dem Schutz von Kulturgütern in bewaffneten Konflikten und Fragen der Anwendung von Vorschriften des humanitären Völkerrechts durch Streitkräfte befasst. Das Deutsche Rote Kreuz ist darüber hinaus Mitglied der vom Auswärtigen Amt eingerichteten Gesprächskreise zu Kleinwaffen und zu Streumunition.
3 Die Zusammenarbeit des DRK mit dem IFHV Die soeben beschriebenen Aufgaben des Deutschen Roten Kreuzes der Verbreitung des humanitären Völkerrechts und der Rotkreuz-Grundsätze sowie der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts nimmt das DRK nicht allein wahr, auch nicht in Deutschland, sondern in Zusammenarbeit mit Partnern. Einer der wichtigsten Kooperationspartner ist seit seiner Gründung das IFHV gewesen. DRK und IFHV haben sowohl in der Verbreitungsarbeit als auch in Forschungsprojekten zusammengearbeitet, und diese Kooperation ist (erst) im Jahr 2002 mit einem „Memorandum of Understanding“ auf eine etwas formellere Grundlage gestellt worden.
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§ 17 Abs. 1 der Satzung des Deutschen Roten Kreuzes in der Fassung vom 12. November 1993. 28 Namentlich Auswärtiges Amt, Bundesministerium der Verteidigung, Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium des Innern. 29 Mehrere Mitglieder des Deutschen Komitees zum humanitären Völkerrecht haben die Vorbereitung des Völkerstrafgesetzbuches mitgeprägt. Der deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof Hans-Peter Kaul ist Mitglied des Deutschen Komitees.
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3.1 Forschungsarbeiten Bei den Forschungsarbeiten des IFHV, an denen das DRK in unterschiedlichen Formen beteiligt war, ging es beiden Kooperationspartnern stets darum, eine Forschung zu leisten, die nicht nur akademischen Interessen und wissenschaftlichem Anspruch gerecht wurde, sondern praxisrelevante und insbesondere in der Praxis verwertbare und grundsätzlich unmittelbar anwendbare Ergebnisse zu erarbeiten. Dies gilt zunächst in herausragender Weise für die Studie des IKRK zum Völkergewohnheitsrecht30 aus dem Jahr 2005, auf die Prof. Dr. Horst Fischer bereits umfassend eingegangen ist,31 wie auch für die von Prof. Dr. Wolff Heintschel von Heinegg vorgestellten32 und im sogenannten San Remo-Handbuch33 im Jahr 1994 niedergelegten Regeln zur Seekriegsführung. Darüber hinaus sind die am IFHV geleisteten Vorarbeiten unmittelbar in die Öffentlichkeitskampagne des Deutschen Jugendrotkreuzes zum Verbot und zur Zerstörung von Antipersonen-Landminen der Jahre 1996 bis 1999 eingeflossen. Letztes Beispiel einer derartigen Forschungstätigkeit am IFHV ist die in den Jahren 2001 bis 2003 erstellte Grundlagenstudie zu dem in Natur- und technischen Katastrophen anwendbaren internationalen Recht für Hilfsoperationen und -personal. Diese Grundlagenstudie der damals existierenden Rechtsvorschriften – und speziell der verbleibenden Regelungslücken – setzte sowohl an der staatlichen Praxis der internationalen Gemeinschaft als auch an den tatsächlichen und praktischen Bedürfnissen der in der humanitären Hilfe tätigen Organisationen im Allgemeinen und des Roten Kreuzes/Roten Halbmonds im Besonderen an. Sie war die Grundvoraussetzung für die von der Internationalen Föderation der RK- und RH-Gesellschaften erarbeiteten und von der Internationalen Rotkreuz-/Rothalbmond-Konferenz im Jahr 2007 angenommenen sogenannten IDRL-Richtlinien.34
3.2 Publikationen Im Bereich der Publikationen, die in Zusammenarbeit zwischen DRK und IFHV entstanden sind, steht die Zeitschrift „Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften“ (HuV-I) für sich. Sie ist nicht nur seit ihrer „Null-Nummer“ 1988 die einzige deutschsprachige Fachzeitschrift zum humanitären Völkerrecht, sondern eine international bekannte Institution geworden. 30
Vgl. a.a.O. (Fn. 21). Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 32 Vgl. ebenso seinen Beitrag in diesem Band. 33 Handbuch von San Remo über das in bewaffneten Konflikten auf See anwendbare Völkerrecht vom 12. Juni 1994 – San Remo Manual on International Law Applicable to Armed Conflicts at Sea, 12 June 1994; International Review of the Red Cross 309 (1995), S. 583-594. 34 Guidelines on the Domestic Facilitation and Regulation of International Disaster Relief and Initial Recovery Assistance, http://www.ifrc.org/what/disasters/idrl/resources/guidelines.asp. 31
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Die sogenannten „Bofaxe“, ein Faxservice zu aktuellen Einzelproblemen des humanitären Völkerrechts und des Rechts der Friedenssicherung, wurden im Jahr 1990 im Kontext des zweiten Golfkrieges ins Leben gerufen. Hier wurden auf einer DIN-A-4-Seite ein Sachverhalt der Staatenpraxis beschrieben, die enthaltene völkerrechtliche Fragestellung herausgearbeitet, eine juristische Analyse erstellt und Schlussfolgerungen zur juristischen Bewertung hergeleitet. Dieses Unterfangen beinhaltete eine enorm hohe Komplexität, deren Wertschätzung die Justitiare und Konventionsbeauftragten des DRK jedoch etwa im Jahr 1991 durch ihre Resolution mit der Forderung nach beträchtlicher und nachhaltiger Unterstützung von Seiten des DRK zum Ausdruck brachten. Die im Jahr 1994 am IFHV erarbeitete Schulunterrichtseinheit „Schutz und Hilfe für die Opfer der Kriege“ bereitete erstmals und bis zur Veröffentlichung der Unterrichtsreihe „Explore Humanitarian Law“ durch das IKRK im Jahr 2001 die Themen des in bewaffneten Konflikten anwendbaren internationalen Rechts und der Rotkreuz-Werte und -Grundsätze für den Unterricht an Schulen in schul- und schülergerechter Form auf. Für sie galt, wie für alle hier nur beispielhaft genannten Publikationen, dass die Verbindung von qualifizierter wissenschaftlicher Untersuchung mit sozial relevanter Darstellung unverzichtbar und Sinn der Forschung und Veröffentlichung war.
3.3 Tagungen Die 1990 bis 2006 durchgeführte Bad Teinacher und seither Bad Mergentheimer Tagung für Rechtsberater und Rechtslehrer der Bundeswehr und Konventionsbeauftragte des DRK werden vom DRK-Landesverband Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Verteidigung, dem DRK-Generalsekretariat und dem IFHV seit 1990 ausgerichtet. Sie ist eine weltweit einzigartige Tagung, die sich nicht nur jeweils mit aktuellen Fragen des humanitären Völkerrechts beschäftigt, sondern sich jeweils intensiv der Problematik der Anwendung dieser Rechtsmaterie in den praktischen Arbeitsfeldern der Rechtsberater und Rechtslehrer einerseits und der Konventionsbeauftragten andererseits widmet. War sie ursprünglich zur Fachdiskussion der konkreten Auswirkungen der Ratifikation des I. und II. Zusatzprotokolls von 1977 zu den Genfer Abkommen von 1949 durch die Bundesrepublik Deutschland ins Leben gerufen worden, so hat sie sich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus als Diskussionsforum und Erfahrungsaustausch etabliert. Die von einer Reihe von DRK-Landesverbänden in Zusammenarbeit mit zum Teil dem IFHV, zum Teil mit dem DRK-Generalsekretariat, ausgerichteten Tagungen für Rechtsreferendare sind in der Rückschau heute in einer enorm hohen Anzahl durchgeführt worden und haben eine beeindruckend hohe Anzahl an jungen Juristen in der Verbreitungsarbeit erreicht. Diese Bilanz wird ergänzt durch etliche gemeinsam veranstaltete Tagungen für Multiplikatoren, Landes- und Kreisgeschäftsführer und weitere Führungskräfte in den DRK-Landesverbänden.
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Schließlich ist die in vielen Jahren von DRK-Generalsekretariat und IFHV gemeinsam durchgeführte DRK-Sommerschule zum humanitären Völkerrecht ein Flagschiff der Verbreitungsarbeit des Deutschen Roten Kreuzes wie auch des Instituts geworden. Sie hat nicht nur eine große Anzahl junger Juristen und am humanitären Völkerrecht Interessierte erreicht, sondern hat auch zahlreiche deutsche und internationale Experten im humanitären Völkerrecht als Vortragende eingebunden.
3.4 Fachberatung Einen beachtlichen Teil seiner Arbeit hat das Institut in Fachberatungen zu Fragen des humanitären Völkerrechts investiert. Ergänzend zu einem institutionalisierten und kontinuierlichen Fachaustausch des Instituts mit der Rechtsabteilung des IKRK seit Institutsgründung 1988 und dem Advisory Service des IKRK seit dessen Einrichtung 1995 sowie der Einbringung von Expertise im Rahmen von Anhörungen des Deutschen Bundestages35 und Initiativen des IKRK zur Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts36 hat die aktive Mitgliedschaft von Mitarbeitern des Instituts im Deutschen Komitee zum humanitären Völkerrecht Fachwissen und -methodik aus dem Institut in die Rechtspolitik transferiert. Darüber hinaus haben Mitarbeiter des Instituts in den Jahren 1990 bis 1999 die Delegationen des Deutschen Roten Kreuzes zu den internationalen Konferenzen des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds in der Fachlichkeit des humanitären Völkerrechts verstärkt. Die Institution der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Konferenz ist das höchste beschlussfassende Organ der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. In seiner Zusammensetzung und Kompetenz weltweit einzigartig ist sie ein Organ, das die drei Komponenten der Bewegung mit allen Vertragsparteien der Genfer Abkommen auf einer Stufe gleichberechtigt zusammen bringt. Gleichzeitig gelang es auf der Internationalen Konferenz im Jahr 1995 erstmals, den Verlauf und die Ergebnisse der Konferenz über die gesamte Konferenzdauer hinweg zwischen Regierungs- und Rotkreuz-Experten in Genf und Bürgern, speziell Jugendlichen in Deutschland, online zu diskutieren. Die vielfachen Medienbeiträge aus dem IFHV in Presse, Rundfunk und Fernsehen befassten sich insbesondere mit völkerrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit dem zweiten Golfkrieg 1990/1991, Tschetschenien und dem 11. September 2001, mit der Errichtung der Internationalen Strafgerichtshöfe für das frühere Jugoslawien und für Ruanda, dem Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, der Problematik von Kindersoldaten, Völkerrechtsverletzungen im früheren Jugoslawien, in Guantánamo und Abu Ghraib, mit Anitpersonen-Landminen, der 35
So etwa zu Fragen des Schutzes der natürlichen Umwelt in bewaffneten Konflikten 1991 und 1992. 36 ICRC, Guidelines for Military Manuals and Instructions on the Protection of the Environment in Times of Armed Conflict, 1996, http://www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/htmlall/ 57jn38?opendocument.
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Verbesserung eines Schutzes von UN-Missionen, den bewaffneten Konflikten in Afghanistan und im Irak, dem Flüchtlingsrecht, mit der Zulässigkeit zielgerichteter Tötungen und dem Sicherheitszaun in den palästinensischen besetzten Gebieten. Hierbei legten Direktorium und Institutsleitung immer den größten Wert auf die Verbindung von völkerrechtlichen Beurteilungen, die den höchsten akademischen Ansprüchen genügen, mit den Verpflichtungen des DRK zu neutralem, unparteilichem und unabhängigem Handeln in politisch zum Teil brisanten Rahmenbedingungen.
4 Schlussbemerkungen Die Verbreitung und Förderung des humanitären Völkerrechts ist darauf gerichtet, eine Vielzahl von Adressaten und Zielgruppen – auf nationaler wie auf internationaler Ebene, als Adressat, von dem eine Umsetzungstätigkeit zu fordern ist, wie als ein Mitglied einer Konfliktpartei, von dem ein bestimmtes Verhalten erwartet wird, in Regierungsfunktionen wie als Teil der Zivilgesellschaft – mit seinen Verhaltensregeln vertraut zu machen. Dies geschieht durch eine Vielzahl von Tätigkeiten, Aktivitäten und Maßnahmen, von denen nur eine geringe Anzahl auch nur angedeutet werden konnte, wie auch durch eine Vielzahl von Akteuren. In der Erfüllung dieser Verbreitungsaufgabe war das IFHV ein wichtiger Partner und hochkarätiger Leistungsträger mit einer einzigartigen Kompetenz. Es hatte darin sowohl im humanitären Völkerrecht als auch in der Verbreitungsarbeit, auf deutscher als auch auf internationaler Ebene, eine Nische besetzt und ein Alleinstellungsmerkmal herausgearbeitet und, mit Fachkompetenz unterlegt, sein Profil stetig geschärft und verfestigt. In einem Umfeld, in dem der Wettbewerb der Akteure national und international nicht abgenommen hat, kann es nur gelten, darauf hin zu arbeiten, sich für ein solches Profil langsam wieder zu qualifizieren. Das für das Deutsche Rote Kreuz wichtigste Charakteristikum seiner Zusammenarbeit mit dem Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht ist es stets gewesen, dass sämtliche Mitarbeiter des IFHV in die Verbreitungstätigkeit eingebunden waren und in mehreren Fällen Völkerrechtler, die nicht dem IFHV angehörten, für eine nachhaltige Mitarbeit in der Verbreitungsarbeit gewonnen werden konnten. Auch hierfür wünsche ich dem Institut die dafür erforderliche Weisheit, Weitsicht und die sprichwörtliche „glückliche Hand“.
Teil II
60 Jahre Genfer Abkommen
Das humanitäre Völkerrecht im Lichte aktueller Herausforderungen Robin Geiß
1 Einleitung Das Jahr 2009 gibt wahrlich genug Anlass, über die Aktualität der Genfer Abkommen und des humanitären Völkerrechts allgemein nachzudenken. Es jähren sich nicht allein die Genfer Abkommen von 1949, das Jahr 2009 markiert auch den hundertfünfzigsten Jahrestag der Schlacht von Solferino (1859), Ausgangspunkt der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung und Anlass zur Annahme der ersten Genfer Konvention betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen im Jahr 1864. Gerade in jüngerer Zeit ist das humanitäre Völkerrecht mehr und mehr in den Mittelpunkt akademischer und öffentlicher Diskussionen gerückt. Erst kürzlich titelte der Spiegel: „Wann dürfen Deutsche (im Krieg) töten?“ – und ging damit einer genuin humanitär-völkerrechtlichen Fragestellung nach. Die verstärkte Aufmerksamkeit für das humanitäre Völkerrecht ist zu begrüßen. Die (weltweite) Verbreitung der Regeln dieses Rechtsgebietes ist in den Genfer Abkommen (GA) ausdrücklich vorgesehen und gehört seit jeher zu den Grundanliegen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Allerdings zeugen aktuelle Debatten des humanitären Völkerrechts zum Teil auch von Missverständnissen und falschen Erwartungshaltungen an diese Rechtsordnung. Vereinzelt ist auch die
Der Artikel reflektiert die Auffassungen des Autors und nicht notwendigerweise die Positionen des IKRK, für dessen Rechtsabteilung der Autor als Rechtsberater tätig ist.
H. Dunant, A Memory of Solferino, Geneva 1859. Genfer Konvention betreffend die Linderung des Loses der im Felddienst verwundeten Militärpersonen vom 22. August 1864, PreußGS 1865, S. 841. Der Spiegel, Wann Dürfen Deutsche Töten?, 30. November 2009, S. 28-35.
R. Geiß () International Committee of the Red Cross, 19 avenue de la Paix, 1202 Geneva, Schweiz E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Relevanz der Genfer Abkommen und ihrer Zusatzprotokolle in der heutigen Zeit in Frage gestellt worden. Vor diesem Hintergrund erscheint es angebracht, zwischen den aktuellen Herausforderungen einerseits und der grundlegenden Frage nach der Bedeutung der Genfer Abkommen andererseits zu unterscheiden. In bewaffneten Auseinandersetzungen, die eine bestimmte Gewaltschwelle überschreiten, gibt es zum Kompromiss von militärischer Notwendigkeit und Humanität als einzigem gemeinsamen Nenner, auf den sich Konfliktparteien gerade noch verständigen können, schlechterdings keine realistische Alternative. Insofern hat das humanitäre Völkerrecht, dem dieser Kompromiss zugrunde liegt, nichts von seiner Relevanz verloren. Wie dieser Balanceakt in der heutigen Zeit konkret auszugestalten ist, wird seit einigen Jahren zu Recht verstärkt diskutiert. Die strukturellen Veränderungen bewaffneter Konflikte verschieben die traditionelle Balance von militärischer Notwendigkeit und humanitären Erwägungen und machen zum Teil eine Anpassung der darauf aufbauenden Regelungen erforderlich. Diskussions- und Klärungsbedarf besteht vor allem auch im Hinblick auf die Frage, in welchen Situationen es in der heutigen Zeit überhaupt erforderlich und gerechtfertigt ist, auf diesen Kompromiss von militärischer Notwendigkeit und humanitären Erwägungen zurückzufallen, mit anderen Worten, wie der Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts gegenwärtig zu bestimmen und einzugrenzen ist. Im Lichte dieser Fragestellungen geht der folgende Beitrag den gegenwärtigen Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht im Kontext internationaler bewaffneter Konflikte (unter 2), nicht-internationaler bewaffneter Konflikt (unter 3) sowie speziell im Rahmen der Führung von Feindseligkeiten (unter 4) nach.
2 Internationale bewaffnete Konflikte Soweit es um internationale bewaffnete Konflikte geht, herrscht über die fortbestehende Relevanz der Genfer Abkommen im Grundsatz weitgehend Konsens. Auf diese Konfliktart ist das humanitäre Völkerrecht konzeptionell ausgerichtet. Und allen Bemühungen zur Durchsetzung von Art. 2 Ziff. 4 der Charta der Vereinten Nationen zum Trotz sind internationale bewaffnete Konflikte keinesfalls von der internationalen Bildfläche verschwunden. Im Gegenteil, allein in jüngerer Vergangenheit gab es internationale bewaffnete Konflikte zwischen Eritrea und Äthiopien
Siehe dazu L. Vierucci, Is the Geneva Convention on Prisoners of War Obsolete? The Views of the Counsel to the US President on the Application of International Law to the Afghan Conflict, in: Journal of International Criminal Justice 2 (2004), S. 866-871.
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(1998–2000), in Afghanistan (2001–2002), im Irak (2003–2004), im Libanon (2006) – wobei es hier bekanntermaßen verschiedene Qualifikationsansätze gab – und zuletzt in Georgien im August 2008. Als Folge des Klimawandels, der Ressourcenverknappung oder der Nuklearwaffenproliferation erscheinen weitere zwischenstaatliche Konflikte in der Zukunft durchaus möglich.10 In internationalen bewaffneten Konflikten einschließlich Besatzungssituationen spielen die Genfer Abkommen nach wie vor eine Schlüsselrolle für den Schutz der Kriegsopfer. Die Regelungen zum Schutz der Verwundeten und Kranken, die Vorschriften über die materiellen Haftbedingungen – sowohl für Kriegsgefangene als auch für internierte Zivilpersonen – haben unzählige Menschenleben geschützt.11 Auf diesen Regelungen basieren insbesondere auch die Arbeit und die humanitären Feldmissionen des IKRK.12 Allein im Irak-Konflikt hat das IKRK in Ausübung seiner Konventionsrechte im Zeitraum von April 2003 bis Mai 2004 über 6.000 Kriegsgefangene und mehr als 11.000 internierte Zivilisten besucht. Im Eritrea-ÄthiopienKonflikt hat das IKRK – ebenfalls im Zeitraum nur eines Jahres – im Jahr 2000 über 1.000 äthiopische Kriegsgefangene und 4.300 zivile Internierte besucht, konnte freies Geleit für 12.500 äthiopische Zivilisten erwirken und verteilte Hilfsgüter
A. de Guttry/H. Post/G. Venturini (Hrsg.), The 1998-2000 War between Eritrea and Ethiopia – An International Legal Perspective, The Hague 2009; F. Arbab, Grappling for Peace: The Border Conflict between Ethiopia and Eritrea, in: Strategic Studies 24 (2004), S. 162-193. M. Schmitt, The War in Afghanistan – A Legal Analysis, Naval War College 2009. R. Wolfrum, The Attack of September 11, 2001, the Wars against the Taliban and Iraq: Is There a Need to Reconsider International Law on the Recourse to Force and the Rules in Armed Conflict?, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law 7 (2003), S. 1-78. A. Zimmermann, The Second Lebanon War – Jus ad bellum, jus in bello and the Issue of Proportionality, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law 11 (2007), S. 99-141; C. Tomuschat, Der Sommerkrieg des Jahres 2006 im Nahen Osten – Eine Skizze, in: Die Friedenswarte 81 (2006), S. 179-190; C. Kreß, Völkerstrafrecht der dritten Generation gegen transnationale Gewalt Privater?, in: G. Hankel (Hrsg.), Die Macht und das Recht – Völkerrecht und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2008, S. 323, 353 f. O. Luchterhandt, Völkerrechtliche Aspekte des Georgien-Krieges, in: Archiv des Völkerrechts 46 (2008), S. 435-480. 10 Siehe etwa nur „Climate Change and its Possible Security Implications”, UN Doc. A/64/350 vom 11. September 2009; O. Thränert/C. Wagner, Atommacht Pakistan, Nukleare Risiken, regionale Konflikte und die dominante Rolle des Militärs, SWP-Studie 2009, Januar 2009, http://www. swp-berlin.org; siehe auch SWP-Forschungsschwerpunkt: Konkurrenz um knappe Ressourcen, http://www.swp-berlin.org; „A Global Problem: How to Avoid War Over Water“, New York Times v. 23. August 2006, abrufbar unter: http://www.nytimes.com/2006/08/23/opinion/23iht-edwatkins. 2570814.html; J. Bulloch/A. Darwish, Water Wars: Coming Conflicts in the Middle East, London 1993. 11 K. Dörmann, The Geneva Conventions Today, Address by Knut Dörmann, Head of the Legal Division, International Committee of the Red Cross, London, 9. Juli 2009, abrufbar unter: http://www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/htmlall/geneva-conventions-statement-090709?opendo cument. 12 F. Bugnion, Le Comité International de la Croix-Rouge et la protection des victimes de la guerre, Genf 1994.
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an mehr als 150.000 Personen.13 Selbst im kurzen Augustkonflikt in Georgien 2008 wurde dem IKRK Zugang zu Kriegsgefangenen auf Grundlage der Genfer Konventionen gewährt.14 Allerdings lassen sich die positiven Auswirkungen der Genfer Abkommen in Zahlen nur begrenzt ausdrücken. Die eigentliche Zielsetzung der Genfer Abkommen und ihrer Zusatzprotokolle besteht darin, einen humanitären Mindeststandard auch in Zeiten des Krieges aufrechtzuerhalten und eine Eskalation kriegerischer Gewalt, die über das Maß des militärisch Notwendigen hinausgeht, zu verhindern. So ließe sich kaum sagen, wie viele Hospitäler, medizinische Installationen und Personal, und damit indirekt auch Verletzte und Kranke, die Schutzembleme der Genfer Abkommen bis heute vor Angriffen bewahrt haben. Zwar ist das auf internationale bewaffnete Konflikte anwendbare Regelungswerk deutlich ausdifferenzierter als die Regelungen für nicht-internationale bewaffnete Konflikte; Klärungsbedarf besteht aber teilweise auch hinsichtlich dieser Rege lungen. Das Ausmaß, in dem sich bewaffnete Konflikte, die Art der Kriegsführung und die eingesetzte Technologie allein in den letzten 20, geschweige denn 60 Jahren entwickelt haben, ist kaum zu unterschätzen.15 Dies allerdings stellt keine ungewöhnliche oder fundamental neuartige Herausforderung an das humanitäre Völkerrecht dar. Der stete Wandel des Krieges verlangt seit jeher eine kontinuierliche Anpassung der rechtlichen Regelungen. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert galt es, neuartige Explosiv- und sogenannte Dum-Dum Geschosse rechtlich zu erfassen.16 In heutiger Zeit gilt es, die Anwendung von Streubomben,17 weißem Phosphor und abgereicherter Uranmunition18 sowie den Einsatz von Drohnen,19 automatisierten Waffensystemen20 und sogenannten „Computer Network Attacks“ (CNA) rechtlich zu erfassen.21 Diese Entwicklungen werfen insbesondere im Hinblick auf die Regelungen über die Führung von Feindseligkeiten zahlreiche komplexe Fragen auf. Da diese Regelungen mittlerweile gewohnheitsrechtlich weitgehend auch 13
Vgl. K. Dörmann, a.a.O. (Fn. 11). Ibid. 15 C. H. Gray, Postmodern War: The New Politics of Conflict, New York 1997. 16 R. Coupland/D. Loye, The 1899 Hague Declaration Concerning Expanding Bullets, in: International Review of the Red Cross 85 (2003), S. 135-142. 17 A. Breitegger, Preventing Human Suffering During and After Conflict? The Complementary Case for a Specific Convention on Cluster Munitions, in: Austrian Review of International and European Law 10 (2005), S. 3-40. 18 A. McDonald (Hrsg.), Depleted Uranium Weapons and International Law – A Precautionary Approach, Den Haag 2008. 19 J. M Beard, Law and War in the Virtual Area, in: American Journal of International Law 103 (2009), S. 409-445; J. Mayer, The Predator War, New Yorker, 26. Oktober 2009; D. Morgan, U.S. Targeted-Killings of Al Qaeda Suspects Rising, Reuters, 18. Januar 2006. 20 P. W. Singer, Wired for War – The Robotic Revolution and Conflict in the 21st Century, New York 2009; A. Krishnan, Killer Robots – Legality and Ethicality of Autonomous Weapons, Burlington 2009. 21 F. Dittmar, Angriffe auf Computernetzwerke – Ius ad bellum und ius in bello, Berlin 2005; M. Schmitt, Computer Network Attack – The Normative Software, in : Yearbook of International Humanitarian Law 4 (2001), S. 53-85. 14
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für nicht-internationale Konflikte gelten, wird auf diese Problematik weiter unten zurückzukommen sein. Nach dem testweisen Abschuss zweier ( jeweils eigener) Sa telliten durch die Vereinigten Staaten und China im Jahr 2008 erscheint es auch an der Zeit, über eine rechtliche Einhegung von Feindseligkeiten im Weltall jedenfalls nachzudenken.22 Beim UN Institute for Disarmament Research (UNIDIR) geht man derzeit davon aus, dass bereits bei einem Abschuss von weniger als 100 Satelliten die dadurch verursachten Trümmer eine Nutzung des Weltalls durch die Menschheit auf Jahrhunderte versperren könnten.23 Übersteigerter Optimismus im Hinblick auf eine baldige Regelung der Führung von Feindseligkeiten im Weltall wäre aber fehl am Platze. Bis heute ist es trotz zahlreicher Versuche noch nicht gelungen, spezielle bindende Regelungen für den Luftkrieg abzufassen. Zwar ist das im Jahr 2004 begonnene Projekt zur Ausarbeitung rechtlich unverbindlicher Leitlinien (sogenanntes „Manual“) zum Thema „International Humanitarian Law in Air and Missile Warfare“ mittlerweile abgeschlossen, doch es bleibt abzuwarten, ob das rechtlich nicht bindende „Manual“ in diesem sensiblen Bereich langfristig zu einer entscheidenden Klärung der Rechtslage wird beitragen können.24
3 Nicht-internationale bewaffnete Konflikte Bei der Mehrzahl der heutigen bewaffneten Konflikte handelt es sich allerdings bekanntermaßen nicht um internationale, sondern um nicht-internationale bewaffnete Konflikte. Beispielhaft zu nennen sind etwa die Konflikte in der Darfur-Region im Sudan, in Kolumbien, in Sri Lanka, im Osten der Demokratischen Republik Kongo, im heutigen Afghanistan, im Irak und in Somalia. Dabei ist das Spektrum der Konflikte, die dem Rechtsbegriff des nicht-internationalen bewaffneten Konfliktes subsumiert werden, sehr weit. Es umfasst traditionelle Bürgerkriege, in denen militärisch strukturierte Gruppen einen Regimewechsel und territoriale Kontrolle anstreben ebenso wie chaotische failed state-Szenarien, in denen primär ökonomische Erwägungen im Vordergrund stehen und die handelnden Akteure auf eine Legitimierung ihrer Vorgehensweise gegenüber der Zivilbevölkerung kaum angewiesen sind.25 Diskutiert wird darüber hinaus auch, inwieweit und in welchem geographischen und zeitlichen Umfang das Rechtsregime der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte im Zusammenhang mit der Bekämpfung transnational 22
UNIDIR, Security in Space – Conference Report 31 March–1 April 2008, January 2009; Space Security 2009: Moving Towards a Safer Space Environment, Conference Report 15–16 June 2009, September 2009. 23 M. Williams, Safeguarding Outer Space: On the Road to Debris Mitigation, in: Security in Space: The Next Generation, UNIDIR Conference Report 31 March–1 April 2008, S. 81-102, abrufbar unter: http://www.unidir.org/pdf/articles/pdf-art2818.pdf. 24 Program on Humanitarian Policy and Conflict Research, Harvard University, International Humanitarian Law in Air and Missile Warfare, abrufbar unter: http://www.hpcrresearch.org/projects/ amw.php. 25 R. Geiß, Failed States – Die normative Erfassung gescheiterter Staaten, Berlin 2005.
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operierender privater Gewaltakteure anwendbar ist.26 Bei dieser Diskussion geht es unter anderem um die Frage nach der Zulässigkeit und möglichen Rechtsgrundlagen gezielter Tötungen, sogenannter „targeted killings“. In Frage steht in diesem Zusammenhang auch, ob und unter welchen Voraussetzungen Personen, die als Sicherheitsrisiko eingestuft werden, ohne richterliche Vorführung oder strafrechtliches Verfahren längerfristig in Gewahrsam genommen werden können. Lässt sich dem humanitären Völkerrecht eine Rechtsgrundlage für die weltweite Festnahme solcher Personen – das heißt unabhängig davon, wo sie angetroffen werden – entnehmen? In einem ersten Schritt wird sich der Beitrag daher im Folgenden der Frage nach dem Anwendungsbereich des auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte anwendbaren Regelungsregimes des humanitären Völkerrechts widmen (unter 3.1). In einem zweiten Schritt (unter 3.2) wird der Blick auf eine – seit Jahren immer wieder betonte – Herausforderung gerichtet; namentlich wie insbesondere in nichtinternationalen Konflikten und seitens nicht-staatlicher Akteure eine bessere Einhaltung des humanitären Völkerrechts gewährleistet und durchgesetzt werden kann. Erst im November 2009 hat der Sicherheitsrat in seiner Resolution zur „Protection of civilians in armed conflict“ erneut betont, dass die Zivilbevölkerung in den bewaffneten Konflikten der Gegenwart hauptleidtragend bleibt und dass die große Mehrzahl der Opfer in modernen Konflikten Zivilpersonen sind.27 Im Hinblick auf andere, allgemeine Herausforderungen an das humanitär-völkerrechtliche Regime der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte sei lediglich angemerkt, dass ungeachtet zahlreicher gewohnheitsrechtlicher Entwicklungen die Regelungsdichte der auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte anwendbaren Regelungen in vielen wichtigen Bereichen – beispielhaft zu nennen sind etwa Vorschriften betreffend die materiellen Haftbedingungen oder die für die Ingewahrsamnahme von als Sicherheitsrisiko eingestuften Personen geltenden Verfahrensgarantien – nach wie vor hinter dem Regime der internationalen bewaffneten Konflikte zurückbleibt.28
3.1 Der Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts bei nicht-internationalen bewaffneten Konflikten Eine klare, universell anerkannte rechtliche Definition dessen, was unter einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zu verstehen ist, existiert nicht.29 Der 26
C. Kreß, a.a.O. (Fn. 8), S. 323, 353 f. UN Doc. S/RES/1894 v. 11. November 2009. 28 J. Pejic, Procedural Principles and Safeguards for Internment/Administrative Detention in Armed Conflict and Other Situations of Violence, in: International Review of the Red Cross 87 (2005), S. 375-391. 29 See International Committee of the Red Cross (ICRC), How is the Term „Armed Conflict” Defined in International Humanitarian Law?, Opinion Paper, March 2008, abrufbar unter http://www. icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/htmlall/armed-conflict-article-170308/$file/Opinion-paper-armedconflict.pdf.; vgl. auch International Law Association Committee on the Use of Force, Initial 27
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allen vier Genfer Abkommen gemeinsame Art. 3 und das Zusatzprotokoll II werfen gerade im Hinblick auf den Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts nach wie vor einige wichtige Fragen auf. Wie kann etwa ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt genauer von anderen Gewaltformen abgegrenzt werden, insbesondere von organisierter Kriminalität, terroristischen Aktivitäten und deren Bekämpfung?30 Wie verhält es sich, wenn sich ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt über die Grenzen eines Staates hinaus ausbreitet, entweder regional begrenzt als sogenannter „spill-over“-Konflikt oder auf globaler Ebene als sogenannter transnationaler bewaffneter Konflikt?31 Wie lassen sich Anfang und Ende eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts in langjährig schwelenden Gewaltsituationen mit sporadisch-eruptiven Ausbrüchen intensiver Gewalt bestimmen?32
3.1.1 Die Problematik der Unter- und Überqualifizierung Zum einen ergibt sich aus der Abwesenheit klar definierter Anwendbarkeitskriterien die Problematik der Unter- beziehungsweise Überqualifizierung.33 So kann das Bestehen eines bewaffneten Konflikts aus verschiedenen Gründen bestritten werden. Traditionell sind Staaten bei der Anerkennung eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts auf ihrem eigenen Staatsgebiet sehr zurückhaltend. Aus staatlicher Sicht kommt die Bejahung eines bewaffneten Konflikts auf eigenem Staatsgebiet häufig dem Eingeständnis eines gewissen Kontrollverlustes gleich. Zudem bestand in der Vergangenheit staatlicherseits stets die Befürchtung, dass eine solche Konfliktqualifikation zu einer faktischen beziehungsweise völkerrechtlichen Aufwertung der involvierten nicht-staatlichen Gruppen bis hin zur Zuerkennung eines völkerrechtlichen Status führen könnte. Wie die deutsche Haltung bezüglich der Situation in Afghanistan zeigt, besteht die Problematik der Unterqualifizierung auch im Falle von Konflikten, die nicht auf eigenem Staatsgebiet stattfinden.34 Der Fall Afghanistans zeigt aber auch, dass Staaten sich der Realität Report on the Meaning of Armed Conflict in International Law, 2008, http://www.ila-hq.org/en/ committees/index.cfm/cid/1022; M. E. O’Connell, Defining Armed Conflict, in: Journal of Conflict and Security Law 13 (2009), S. 393-400. 30 S. Vité, Typology of Armed Conflicts in International Humanitarian Law: Legal Concepts and Actual Situations, in: International Review of the Red Cross 91 (2009), S. 69-94. 31 R. Geiß, Armed Violence in Fragile States: Low-intensity Conflicts, Spill-over Conflicts, and Sporadic Law Enforcement Operations by Third Parties, in: International Review of the Red Cross 873 (2009), S. 127-142; R. Schondorf, Extra Territorial Armed Conflicts between States and Non-State Actors: Is There a Need for a New Legal Regime?, in: New York University Journal of International Law & Politics 37 (2004), S. 1-78. 32 A. Hironaka, Neverending Wars – The International Community, Weak States, and the Perpetuation of Civil War, Cambridge 2005. 33 M. Sassoli, The Implementation of International Humanitarian Law: Current and Inherent Challenges, in: Yearbook of International Humanitarian Law 10 (2007), S. 45, 50. 34 Siehe nur Der Spiegel, Wann Dürfen Deutsche Töten?, 30. November 2009, S. 28, 30.
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eines bewaffneten Konflikts nicht durch Wortspiele entziehen können und bestätigt damit einmal mehr den humanitär-völkerrechtlichen Ansatz, die Konfliktqualifikation allein von faktischen Kriterien, insbesondere von der Gewaltintensität und dem Organisationsgrad der involvierten bewaffneten Gruppen, abhängig zu machen. Hingegen spielen die subjektiven Einschätzungen einzelner Staaten – oder etwa auch der Wortlaut eines Bundestagsmandates – für die Qualifikation einer bestimmten Situation als bewaffneter Konflikt im Sinne des humanitären Völkerrechts keine Rolle. Umgekehrt – und dies scheint in der heutigen Zeit oftmals die bedeutsamere Konstellation zu sein – können Situationen fälschlicherweise oder verfrüht als bewaffnete Konflikte bezeichnet werden. Mit der Anwendung des humanitären Völkerrechts lassen sich zum Teil höhere Schutzstandards, wie sie sich vor allem bezüglich des Einsatzes militärischer Gewalt oder der Ingewahrsamnahme von Personen aus den Menschenrechten ergeben, verdrängen. Beispielsweise ist es auf der Grundlage des humanitär-völkerrechtlichen Unterscheidungsprinzips für den Einsatz potenziell letaler Waffengewalt nicht erforderlich, dass von einem Kämpfer als legitimem militärischem Ziel im Zeitpunkt des Angriffs eine aktuelle und konkrete Gefahr ausgeht. Ausreichend ist nach humanitärem Völkerrecht vielmehr eine generelle Zuordnung zur Gruppe der nichtgeschützten Personen. Diese Gruppe umfasst nach Maßgabe der IKRK-Studie zur direkten Teilnahme an den Feindseligkeiten im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt insbesondere all diejenigen, die als Mitglieder nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen eine kontinuierliche Kampffunktion („continuous combat function“) ausüben.35 Nach menschenrechtlichen Standards wäre ein solcher Angriff ohne eine aktuelle und konkrete Gefahr für höchste Rechtsgüter hingegen keinesfalls zu rechtfertigen.36 Mit anderen Worten: Das humanitäre Völkerrecht, dessen Schutzstandards konzeptionell auf die besondere Gewaltsituation bewaffneter Konflikte zugeschnitten sind und dementsprechend teilweise nur rudimentär ausgestaltet sein können,37 lässt sich instrumentalisieren, um rechtliche Handlungsspielräume im Hinblick auf die Anwendung militärischer Gewalt zu erweitern und strengere – insbesondere menschenrechtliche – Pflichten zu umgehen. Auch wenn die irreführende Terminologie des „globalen Krieges gegen den Terror“ mittlerweile offiziell aufgegeben wurde,38 die Problematik, das humanitäre Völkerrecht nicht auf Situationen anzuwenden, auf die es nicht zugeschnitten wurde, bleibt auch im Rahmen zukünftiger sogenannter „overseas contingency operations“ bestehen.
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N. Melzer, ICRC Interpretative Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, 2009, S. 16, abrufbar unter: http://www.icrc.org/Web/eng/ siteeng0.nsf/htmlall/direct-participation-report_res/$File/direct-participation-guidance-2009-icrc. pdf. 36 Siehe dazu N. Melzer, Targeted Killings in International Law, Oxford 2008. 37 J. McMahan, Killing in War, Oxford 2009. 38 „Global War on Terror is Given New Name”, Washington Post, 25. März 2009, http://www. washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2009/03/24/AR2009032402818.html.
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3.1.2 Die territorialen Grenzen des Anwendungsbereichs des auf nicht-internationale bewaffnete Konflikte anwendbaren humanitären Völkerrechts In diesem Zusammenhang und im Hinblick auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Ausübung militärischer Gewalt nach Maßgabe humanitär-völkerrechtlicher Standards geboten beziehungsweise gerechtfertigt ist, spielt auch die Frage nach den Grenzen der territorialen Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts eine bedeutende Rolle. Wie ist es rechtlich zu beurteilen, wenn in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt ein Kämpfer das unmittelbare Konfliktgebiet verlässt? Ist ein FARC-Kämpfer beim Einkauf im Supermarkt von Bogota als legitimes militärisches Ziel direkt angreifbar? Abgesehen davon, dass im Falle der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts etwa der Einsatz von Tränengas oder von bestimmten Geschossen mit Mannstoppwirkung, namentlich den sogenannten DumDum-Geschossen, gegen die betroffenen Personen verboten wäre.39 Selbst wenn ihr Einsatz sowohl zur Erreichung des Einsatzziels wie auch zum Schutze Unbeteiligter – etwa im Beispiel des Supermarktes – aus operationeller Sicht durchaus geboten wäre, erscheint es jedenfalls diskutabel, ob gegen Einzelpersonen fernab der Feindseligkeiten in einem Gebiet, in dem die Polizei vollumfänglich zur Erfüllung ihrer gefahrenabwehrrechtlichen Aufgaben in der Lage ist, nicht mit den normalen Mitteln des Polizeirechts vorzugehen sein sollte. De lege lata ist die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts allerdings keineswegs nur auf das eigentliche Konfliktgebiet beschränkt.40 Die Auffassung, dass in Afghanistan ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt zwar im Süden, nicht aber im Norden existiere, findet im geltenden Recht keine Grundlage und könnte allenfalls als Vorbote einer möglichen gewohnheitsrechtlichen Entwicklung einzustufen sein. Im Falle eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erstreckt sich die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts nach geltendem Recht auf das gesamte Staatsgebiet, selbst wenn aktuelle Kampfhandlungen im jeweiligen Zeitpunkt nur in bestimmten Gebieten stattfinden. Dies hat zur Folge, dass humanitäres Völkerrecht auch in den hier beschriebenen Situationen (Supermarkt) anwendbar bleibt und Personen, die als „Kämpfer“ zu qualifizieren sind, unabhängig davon, ob sie gegenwärtig eine konkrete Gefahr darstellen oder nicht, direkt angegriffen werden dürfen. Eine humanitär-völkerrechtliche Schranke im Hinblick auf den Grad der einzusetzenden Gewalt ergibt sich in diesen Konstellationen gemäß Kap. 9 der IKRK-
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D. Fleck, The Law of Non-international Armed Conflicts, in: ders. (Hrsg.), The Handbook of International Humanitarian Law, 2. Aufl., Oxford 2008, S. 618. 40 ICTY, Prosecutor v. Tadić, Interlocutory Appeal on Jurisdiction, Rn. 70: „[I]nternational humanitarian law continues to apply in the whole territory of the warring States or, in the case of internal conflicts, the whole territory under the control of a party [i.e. State or non-state], whether or not actual combat takes place there” (eigene Hervorhebung).
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Studie zur direkten Teilnahme an den Feindseligkeiten.41 Abgeleitet aus dem Prinzip der militärischen Notwendigkeit und seiner gewaltbegrenzenden Funktion,42 stipuliert Kap. 9 der IKRK-Studie die Rechtspflicht, dass die gegen legitime militärische Ziele eingesetzte militärische Gewalt dem Gebot der Erforderlichkeit genügen muss, und dass soweit zur Zielerreichung gleich geeignete mildere Mittel zur Verfügung stehen, diese eingesetzt werden müssen. Mit anderen Worten, soweit eine Gefangennahme (gefahrlos) möglich ist, darf ein feindlicher Kämpfer nicht getötet werden. Diese Einschränkung besteht nach Auffassung des IKRK wie auch des Autors bereits nach heute geltendem Recht. Diese Ansicht ist allerdings nicht unbestritten. Es wird nach wie vor die Auffassung vertreten, dass auch im Falle der Möglichkeit einer gefahrlosen Gefangennahme keine diesbezügliche Rechtspflicht bestehe, so dass auch gegenüber Personen die gefahrlos festgenommen wer den könnten, letale Gewalt legitim eingesetzt werden dürfte.43 In klassischen Gefechtsfeldsituationen wird der in Kap. 9 stipulierten Einschränkung kaum jemals Bedeutung zukommen. In derartigen Situationen ist die Ergreifung milderer Mittel, wie etwa einer Gefangennahme, regelmäßig schlichtweg unmöglich. In den hier beschriebenen Konstellationen, in denen Einzelpersonen in den ausschließlichen Kontrollbereich des Gegners geraten und in denen mildere Mittel potenziell zur Verfügung stehen, kommt der in Kap. 9 enthaltenen Beschränkung allerdings erhebliche Bedeutung zu. Die dargestellte Problematik der geographischen Anwendungsgrenzen des humanitären Völkerrechts spitzt sich weiter zu, wenn einzelne Kämpfer die Landesgrenze des Konfliktstaates überschreiten. Unterliegt beispielsweise ein afghanischer Kämpfer, der im Jemen angetroffen wird, dem humanitären Völkerrecht? Darf diese Person – die Zustimmung des Jemen für militärische Operationen eines Drittstaates auf jemenitischem Staatsgebiet vorausgesetzt – als legitimes militärisches Ziel gezielt angegriffen und getötet werden? Sind gezielte Tötungen von Terrorismusverdächtigen mittels sogenannter „Predator“-Drohnen, wie sie an unterschiedlichen Orten in der Welt praktiziert werden, zu rechtfertigen?44 Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 1 des II. Zusatzprotokolls steht einer derart ausgedehnten Lesart des territorialen Anwendungsbereichs nicht-internationaler bewaffneter Konflikte entgegen. Diese den Anwendungsbereich des ZP II eröffnende Vorschrift spricht ausdrücklich von Konflikten, „die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden“. Der Wortlaut des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Ab41
N. Melzer, ICRC Interpretative Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, S. 77 et seq., http://www.icrc.org/Web/eng/siteeng0.nsf/ htmlall/direct-participation-report_res/$File/direct-participation-guidance-2009-icrc.pdf. Kapitel 9 steht unter dem ausdrücklichen Vorbehalt weitergehender Einschränkungen aus anderen Rechtsbereichen, insbesondere den Menschenrechten. 42 R. Geiß, Military Necessity: A Fundamental ‘Principle’ Fallen into Oblivion, in: Proceedings of the 3rd Biennial Conference of the European Society of International Law (im Erscheinen). 43 Hays Parks, Part IX of the ICRC ‘Direct Participation in Hostilities’ Study: No Mandate, No Expertise, and Legally Incorrect“, (2010) 42 N.Y.U.J. Int’l L. & Pol. 815. 44 The Predator War, The New Yorker, 26. Oktober 2009. Der Spiegel, Wann Dürfen Deutsche Töten?, 30. November 2009, S. 28-35.
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kommen hingegen ist offener. Artikel 3 spricht von einem bewaffneten Konflikt, „der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht“. Auch vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift und angesichts der Tatsache, dass aufgrund der universellen Ratifikation der Genfer Abkommen weltweit jegliches Territorium als „Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien“ qualifiziert werden könnte, scheint der gemeinsame Art. 3 im Hinblick auf die territorialen Anwendungsgrenzen einer weiteren Interpretation möglicherweise zugänglich. Der US Supreme Court hat in der Hamdan-Entscheidung im Jahre 2006 bekanntlich eine umfassendere Lesart jedenfalls nicht ausgeschlossen.45 Lässt man eine solch weitgehende Lesart und Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts zu, wird damit auf der Ebene des ius in bello – Schranken auf der Ebene des ius ad bellum, namentlich das Gewalt- und Interventionsverbot, bleiben hiervon unberührt – der Weg geebnet, gegen entsprechende Personen im Jemen oder etwa auch in Hamburg, immerhin Ausgangspunkt der Angriffe vom 11. September 2001, mit militärischen Mitteln vorzugehen. Dabei ist auch zu bedenken, dass eine Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts nicht nur direkte Angriffe mit militärischen Mitteln gegen die betroffenen Personen gestatten würde, sondern darüber hinaus unbeteiligte jemenitische oder deutsche Staatsbürger dem humanitär-völkerrechtlichen Proportionalitätsprinzip, wonach sogenannte zivile „Kollateralschäden“ in Abwägung mit dem jeweils erstrebten militärischen Vorteil rechtfertigbar sein können,46 unterwerfen würde. Anzumerken ist allerdings, dass auch nach internationalen Menschenrechtsstandards die Inkaufnahme ziviler Begleitschäden nicht prinzipiell verboten ist.47 Der strenge Maßstab, wie ihn etwa das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auf nationaler Ebene in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz angelegt hat,48 geht über die Anforderungen internationaler menschenrechtlicher Standards hinaus.49 Problematisch ist auch, dass, obwohl willkürliche Verhaftungen nach gewohnheitsrechtlicher Regelung im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt verboten sind,50 dieses Verbot, insbesondere die Frage nach den einzuhaltenden Verfahrensgarantien bei der Ingewahrsamnahme von Personen, bislang nur rudimentär ausgestaltet ist.51 Diese Unklarheiten sind umso bedenklicher, wenn der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Abkommen zum Teil als Rechtsgrundlage für die Ingewahr45
US Supreme Court, Hamdan v. Rumsfeld, 548 U.S. 557, 633, 126 S.Ct. 2749, 2797 (2006). Art. 51 Abs. 5 lit. b) und 57 Abs. 2 lit. iii) des I. Zusatzprotokolls sowie Regel 14 der Gewohnheitsrechtsstudie des IKRK, siehe J. M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Vol. I: Rules, Cambridge 2005, S. 46. 47 W. Abresch, A Human Rights Law of Internal Armed Conflict – The European Court of Human Rights in Chechnya, in: European Journal of International Law 16 (2005), S. 741-767. 48 BVerfG, Urteil des Ersten Senats v. 15. Februar 2006, 1 BvR 357/05. 49 Siehe dazu A. Zimmermann/R. Geiß, Die Tötung unbeteiligter Zivilisten: Menschenunwürdig im Frieden - menschenwürdig im Krieg?, in: Der Staat 3 (2007), S. 377-393. 50 J. M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Vol. I: Rules, Cambridge 2005, Rule 99, S. 344. 51 J. Pejic, Procedural Principles and Safeguards for Internment/Administrative Detention in Armed Conflict and Other Situations of Violence, in: International Review of the Red Cross 87 (2005), S. 375-391. 46
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samnahme von Personen herangezogen und im Lichte der Hamdan-Rechtsprechung für weltweit anwendbar gehalten wird. So verstanden würde der gemeinsame Art. 3 als weltweit anwendbare carte blanche für die Ingewahrsamnahme von Personen, die in irgendeiner Form seitens der Exekutive als Sicherheitsrisiko eingestuft werden, zur Verfügung stehen. Eine solche Zweckbestimmung lässt sich weder dem Wortlaut noch der Entstehungsgeschichte des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen entnehmen. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es seit jeher, humanitäre Mindeststandards zu stipulieren und Handlungsspielräume von Konfliktparteien im gebotenen Maße zu begrenzen. Die Schaffung neuer, erweiterter Handlungsspielräume, die über das ansonsten geltende Recht hinausgehen, ist mit dem Sinn und Zweck des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen nicht zu vereinbaren. Allein der Umstand, dass die Möglichkeit einer weltweiten Festnahme von als Sicherheitsrisiko eingestuften Personen aus operationeller Sicht für eine effektivere Bekämpfung von global operierenden privaten Gewaltakteuren durchaus wünschenswert erscheinen mag, und dass man mittels des universell ratifizierten gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen ein solches Vorgehen unmittelbar bis in die letzten Winkel der Welt begründen könnte, genügt nicht, um den gemeinsamen Art. 3 in eine weltweit anwendbare Rechtsgrundlage für Freiheitsentziehungen umzufunktionieren, deren Rechtmäßigkeit und Aufrechterhaltung rechtlich kaum überprüfbar sind. Weiter verkompliziert wird die Diskussion über die geographischen Grenzen der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts noch dadurch, dass eine Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts nur dann eine Absenkung menschenrechtlicher Standards mit sich bringt, wenn die Menschenrechte überhaupt anwendbar sind.52 Bekanntlich gehen die Auffassungen der Staaten über die Kriterien für eine extraterritoriale Anwendbarkeit der Menschenrechte, etwa des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte53 (IPbpR), derzeit noch auseinander.54 Selbst die Rechtsprechung der regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe ist in dieser Frage weitgehend kasuistisch. Soweit eine extraterritoriale Anwendbarkeit der Menschenrechte abgelehnt wird, ließen sich rechtliche Regelungen zur Einhegung sowohl polizeilicher als auch militärischer Gewalt bei Einsätzen in Drittstaaten allein aus humanitärem Völkerrecht ableiten. Daraus folgt, dass obwohl eine Anwendung des humanitären Völkerrechts grundsätzlich eine Absenkung menschen52
Zur extraterritorialen Anwendbarkeit der Menschenrechte siehe nur etwa Human Rights Committee, General Comment No. 31 on Article 2 of the Covenant: The Nature of the General Legal Obligation Imposed on States Parties to the Covenant, Rn. 10, UN Doc. CCPR/C/74/CRP.4/Rev.6 (2004); Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 2004 I.C.J. (July 9), Rn. 108-111. 53 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, UNTS Vol. 999, S. 171, BGBl. 1973 II S. 1534. 54 C. Droege, The Interplay between International Humanitarian Law and International Human Rights Law in Situations of Armed Conflict, in: Israel Law Review, 40 (2007), S. 310, 326. Siehe auch Annex I: Territorial Scope of the Application of the Covenant, 2nd and 3rd Periodic Reports of the United States of America, Consideration of Reports Submitted by States Parties under Article 40 of the Covenant, UN Doc. CCPR/C/USA/3 v. 28. November 2005.
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rechtlicher Schutzstandards im Bereich der direkten Anwendung von Gewalt mit sich bringt, ein Rückgriff auf humanitäres Völkerrecht im konkreten Einzelfall, insbesondere in Konstellationen, in denen sich eine extraterritoriale Anwendbarkeit der Menschenrechte für den jeweils handelnden Staat nicht begründen lässt, den Schutz auch erhöhen kann. In einem solchen Fall führte die Anwendung humanitären Völkerrechts nicht zu einer Absenkung ohnehin geltender Menschenrechtsstandards, sondern vielmehr dazu, dass in der jeweiligen Situation überhaupt völkerrechtliche Regelungen zur Anwendung gelangen. Hinzu kommt noch, dass, soweit es um die rechtliche Einhegung des Verhaltens nicht-staatlicher Gruppen geht, das humanitäre Völkerrecht unbestrittenermaßen völkerrechtliche Pflichten auch für diese Akteure vorsieht – der gemeinsame Art. 3 der vier Genfer Abkommen richtet sich explizit an alle Parteien eines bewaffneten Konflikts, wohingegen menschenrechtliche Verpflichtungen nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen im Schrifttum zwar diskutiert und zum Teil auch bejaht, in der Praxis von den Staaten aber weitgehend abgelehnt werden.55 Mit anderen Worten, völkerrechtliche Pflichten nicht-staatlicher Gruppen lassen sich über die Anwendung des humanitären Völkerrechts deutlich einfacher begründen als im Falle der ausschließlichen Anwendbarkeit der Menschenrechte.56 Die hier angesprochenen Aspekte können somit zwar im Einzelfall den jeweiligen rechtlichen Schutzstandard beeinflussen, aufgrund ihres Einzelfallcharakters dürfen sie aber den Blick auf die allgemeinen Strukturunterschiede des humanitären Völkerrechts einerseits und der Menschenrechte andererseits, insbesondere im Kontext der direkten Anwendung von Gewalt, nicht verstellen. Die Notwendigkeit einer Eingrenzung des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts nach bestimmbaren Kriterien bleibt mithin bestehen. Die eigentliche Problematik in diesem Zusammenhang besteht darin, dass klare Kriterien für eine territoriale Eingrenzung nicht existieren und sich aus dem gegenwärtigen Regelungsregime möglicherweise auch nicht mit der erforderlichen Klarheit ableiten lassen. Der Wortlaut des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen jedenfalls scheint eine Interpretation sowohl in die eine wie auch in die andere Richtung, also hinsichtlich einer Begrenzung auf das Staatsgebiet eines Staates bis hin zu einer globalen Anwendbarkeit, zuzulassen. Angesichts der Strukturen moderner Konflikte und grenzüberschreitender privater Gewalt erscheint die allein auf einen Staat begrenzte Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts in zahlreichen Konstellationen heute teilweise als zu eng. Andererseits besteht die Gefahr, dass im Falle einer globalen Anwendung des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen dem Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts kaum 55
A. Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, Oxford 2006. S. Sivakumaran, Binding Armed Opposition Groups, in: International & Comparative Law Quarterly 55 (2006), S. 369-394; A. Cassese, The Status of Rebels under the 1977 Geneva Protocol on Non-International Armed Conflicts, in: International and Comparative Law Quarterly 30 (1981), S. 416, 423 f.; J. M. Henckaerts, Binding Armed Opposition Groups through Humanitarian Treaty Law and Customary Law, in: Proceedings of the Bruges Colloquium, Relevance of International Humanitarian Law to Non-State Actors 27 (2003), S. 127. 56
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noch Grenzen zu ziehen sind, und somit ein weitgehender und rechtlich derzeit nur begrenzt überprüfbarer Beurteilungsspielraum der Exekutive hinsichtlich der Frage, wo, wann und gegen welche Personen militärische Gewalt ausgeübt werden darf, eröffnet wird. Für die danach erforderliche Eingrenzung des humanitär-völkerrechtlichen Anwendungsbereichs wird es erforderlich sein, verstärkt zu diskutieren, unter welchen Voraussetzungen in der heutigen Zeit, in der viele Lebensbereiche menschenrechtlich erfasst sind, eine Anwendung des humanitären Völkerrechts beziehungsweise eine Ausübung militärischer Gewalt auf Grundlage humanitär-völkerrechtlicher Regeln gerechtfertigt ist.
3.1.3 Die Abgrenzung von Polizeieinsätzen zur Gefahrenabwehr und Kriminalitätsbekämpfung von militärischen Feindseligkeiten im Kontext eines bewaffneten Konflikts Losgelöst von der Frage nach den Grenzen der territorialen Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts dauert auch die Diskussion über praktikable Abgrenzungskriterien für eine inhaltliche Unterscheidung von Gefahrenabwehr, Kriminalitätsbekämpfung und generell menschenrechtsgebundenen Polizeiaktionen auf der einen Seite und dem Führen von Feindseligkeiten im Kontext eines bewaffneten Konflikts auf der anderen Seite gegenwärtig an. Beinahe inflationär ist in jüngerer Zeit von dem Paradigma der Rechtsdurchsetzung („paradigm of law enforcement“) und dem Paradigma der Feindseligkeiten („paradigm of hostilities“) zu hören und zu lesen. Dieses Begriffspaar hat viel zu einer klareren Unterscheidung und zu einem besseren Verständnis der unterschiedlichen Wertungsgrundlagen im Bereich von Polizeiaktionen und kriegerischen Militäraktionen beigetragen.57 Gleichzeitig spiegelt der Rückgriff auf diese klare begriffliche Differenzierung in der gegenwärtigen Diskussion oftmals Unterscheidungsmöglichkeiten vor, die in der Praxis, in der beide Bereiche in Ermangelung praktikabler Abgrenzungskriterien oft verschwimmen und zum Teil auch ganz gezielt vermischt werden, in dieser Form bislang nicht gegeben sind. Die Frage nach einer inhaltlichen Abgrenzung von polizeilicher Gefahrenabwehr oder repressiver Strafverfolgung auf der einen Seite und dem Führen von Feindseligkeiten zur militärischen Überwindung des Gegners auf der anderen Seite stellt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Sie lässt sich aber auch anhand eines anderen aktuellen Beispiels, der Pirateriebekämpfung im Golf von Aden, veranschaulichen. Bei den durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen autorisierten Anti-Piraterieoperationen auf See handelt es sich – jedenfalls in der gegenwärtigen Konstellation – nach richtiger Auffassung um Polizeiaktionen. Dies lässt sich schon deshalb so unproblematisch feststellen, da die Intensitätsschwelle des in der gegenwärtigen Konstellation im 57
N. Melzer, Targeted Killing in International Law, Oxford 2009, S. 85, 243.
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Golf von Aden allein in Betracht kommenden, nicht-internationalen bewaffneten Konflikts zur Zeit nicht erreicht ist.58 Abgesehen von diesen Erwägungen erscheint die Nichtanwendung des humanitären Völkerrechts auf Anti-Piraterieoperationen im Golf von Aden aber auch deshalb richtig und geboten, weil diese Operationen nicht darauf abzielen, die Piraten militärisch zu überwinden oder im militärischen Sinne zu besiegen. Die Sicherheitsratsresolutionen 1816, 1846, 1851 und 1897 lassen keinen Zweifel: ausdrücklich erklärtes Ziel der Operationen ist „the full eradication of piracy“ (1846) beziehungsweise „the rooting out of piracy“ (1851).59 Im Rahmen einer menschenrechtsgebundenen Kriminalitätsbekämpfung, die aus einem übergeordneten gesellschaftlichen Interesse heraus erfolgt, sind „full eradication of piracy“ und „rooting out of piracy“ legitime und plausible Ziele. Das humanitäre Völkerrecht hingegen gestattet allein die militärische Überwindung des Gegners und verbietet eine vollständige Vernichtung („full eradication“). Dies ist die Ausgangserwägung des Konzepts des limitierten Krieges als Gegensatz zum totalen Krieg und stellt eine wesentliche Errungenschaft des modernen humanitären Völkerrechts dar. Eine effektive Verbrechensbekämpfung kann sich aber nicht an der humanitär-völkerrechtlichen Unterscheidung von „zivil“ oder „militärisch“ und schon gar nicht an einer – wie auch immer gearteten – axiomatischen Gleichstellung der involvierten Parteien orientieren. Sie müsste diese notwendigerweise durchbrechen. Die Problematik besteht darin, dass es sich bei den hier genannten Erwägungen, insbesondere bei der strukturellen Unvereinbarkeit legitimer Rechtsdurchsetzungs- und strategischer Kriegsführungsziele, nicht um Aspekte handelt, die für die Frage der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts von Bedeutung sind. Bekanntermaßen beurteilt sich das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts, und mithin die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts, allein nach faktischen Kriterien. Humanitäres Völkerrecht ist auf Pirateriebekämpfungsaktionen im Golf von Aden nicht anwendbar, weil die faktischen Kriterien, namentlich die erforderliche Gewaltintensität und der notwendige Organisationsgrad der involvierten Gruppen, (derzeit) nicht erreicht sind; und nicht etwa weil das humanitäre Völkerrecht aus anderen Erwägungen auf diese Art von Operationen nicht passt. Andere Erwägungen, wie insbesondere die übergeordneten Ziele der Anwendung von Gewalt, spielen bei der Qualifikation bewaffneter Konflikte traditionell keine Rolle.60 58 R. Geiß/A. Petrig, UN-mandatierte Piraterie-Bekämpfung im Golf von Aden. Langfristige Lösungen müssen gefunden werden, in: Vereinte Nationen 58 (2010), S. 6. 59 UN Doc. S/RES/1846 v. 2. Dezember 2008, Präambel, Rn. 10; UN Doc. S/RES/1851 v. 16. Dezember 2008, Rn. 6. 60 M. Sassoli, Ius ad bellum and ius in bello – the Separation between the Legality of the Use of Force and Humanitarian Rules to be Respected in Warfare – Crucial or Outdated?, in: J. Pejic/M. Schmitt (Hrsg.), International Law and Armed Conflict: Exploring the Faultlines, Leiden 2007, S. 241-264.
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3.1.4 Wann und unter welchen Voraussetzungen wird ein dritter Akteur Partei eines bereits zwischen anderen Parteien stattfindenden bewaffneten Konflikts? Schließlich stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund multilateraler „Peacekeeping“- Einsätze in Konfliktgebieten in jüngerer Zeit immer häufiger die Frage, wann ein dritter Akteur (nachträglich) Partei eines bereits stattfindenden nichtinternationalen bewaffneten Konflikts wird.61 Zwar gibt es mittlerweile eine ganze Palette von indikativen Kriterien, mittels derer (erstmalig) die Existenz eines bewaffneten Konflikts nachgewiesen werden kann.62 Wann aber ein zunächst unbeteiligter Akteur Partei eines bereits zwischen anderen Akteuren stattfindenden bewaffneten Konflikts wird, scheint bislang kaum geklärt und dies, obwohl es sich hierbei geradezu um eine Standardproblematik handelt, die beispielsweise immer dann auftritt, wenn UN-mandatierte Missionen Aufgaben in einem Gebiet wahrnehmen, in dem ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt stattfindet. Beispielhaft zu nennen ist etwa die „Mission de l’Organisation des Nations Unies au Congo“ (MONUC) in der Demokratischen Republik Kongo.63 Potenziell betrifft diese Fragestellung auch mögliche Aktionen gegen Piraten auf somalischem Festland. Immerhin befindet sich die somalische Übergangsregierung derzeit in einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt mit verschiedenen bewaffneten somalischen Gruppen und dritte Staaten dürfen – Sicherheitsratsresolution 1851 verlangt dies ausdrücklich – nur mit dem Einverständnis dieser Regierung, die gleichzeitig Konfliktpartei ist, auf somalischem Festland tätig werden.64 Allerdings wird allein das Einverständnis der somalischen Übergangsregierung und eine Kooperation mit dieser Regierung bei der Verfolgung von Piraten auf somalischem Festland keine Eigenschaft als Konfliktpartei dritter Staaten im somalischen Bürgerkrieg begründen können. Selbst eine im Konflikt befindliche Regierung bleibt zu normalen Polizeiaktionen in der Lage und kann sich dabei von dritten Staaten unterstützen lassen.
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R. Geiß, Armed Violence in Fragile States: Low-intensity Conflicts, Spill-over Conflicts, and Sporadic Law Enforcement Operations by Third Parties, in: International Review of the Red Cross 91 (2009), S. 127, 139. 62 Siehe etwa ICTY, Prosecutor v. Furundzija, Case No. IT-95-17/1-T, Judgment (Trial Chamber), 10. Dezember 1998, Rn. 59; ICTY, Prosecutor v. Kunarac, Case Nos. IT-96-23-T and IT-9623/1-T, Judgment (Trial Chamber), 22. Februar 2001, Rn. 567–69; ICTY, Prosecutor v. Mucic et al. (Celebic´I Camp), Case No. IT-96-21, Judgment (Trial Chamber), 16. November 1998, Rn. 183–92; ICTY, Prosecutor v. Limaj, Case No. IT-03-66-T, Judgment (Trial Chamber), 30. November 2005, Rn. 94–134; ICTY, Prosecutor v. Haradinaj, Case No. IT-04-84-T, Judgment (Trial Chamber), 3. April 2008, Rn. 49, 60. 63 UN Doc. S/RES/1279 v. 30. November 1999; UN Doc. S/RES/1493 v. 28. Juli 2003; UN Doc. S/RES/1671 v. 25. April 2006; UN Doc. S/RES/1856 v. 22. Dezember 2008. 64 UN Doc. S/RES/1851 v. 16. Dezember 2008.
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3.2 Eine verbesserte Gewährleistung der Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts Eine weitere große Herausforderung insbesondere in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten besteht nach wie vor darin, die Einhaltung der humanitär-völkerrechtlichen Regelungen besser zu gewährleisten. Das IKRK hat – aus gegebenem Anlass – für das Jahr 2009 eine Studie über Relevanz und Effektivität der Genfer Abkommen in Auftrag gegeben, die die Meinung von betroffenen Bevölkerungsgruppen in Konfliktgebieten, namentlich in Afghanistan, Kolumbien, in der Demokratischen Republik Kongo, Georgien, Haiti, Libanon, Liberia und der Philippinen eingeholt und ausgewertet hat.65 Die Studie mit dem Titel „Our world, views from the field“ hat ergeben, dass die Ideen und Prinzipien der Genfer Konventionen gerade in Konfliktgebieten auf weite Zustimmung stoßen; sie hat aber auch die immer wiederkehrende Erkenntnis bestätigt, dass die Implementierung und Durchsetzung der Gebote der Genfer Abkommen nach wie vor aller Orten unzureichend ist. Seit jeher besteht im Rahmen nicht-internationaler bewaffneter Konflikte die Problematik, auch für nicht-staatliche Akteure Anreize zu schaffen, humanitär-völkerrechtliche Regelungen einzuhalten. Es ist immer wieder betont worden, dass eine Einbindung nicht-staatlicher Akteure in die Rechtsetzungsprozesse ebenso wie die Errichtung von Privilegien bis hin zu einem echten Kombattantenprivileg auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten den Anreiz zur Einhaltung der entsprechenden Regelungen erhöhen würde.66 Im Schrifttum werden die unterschiedlichsten Begründungsansätze vertreten, wie und warum die allein von Staaten ausgearbeiteten humanitär-völkerrechtlichen Regelungen auch für nicht-staatliche bewaffnete Gruppen bindend sein sollen.67 In der Praxis besteht oftmals das Problem, dass bewaffnete Gruppen Regelungen, an deren Ausarbeitung sie – anders als die Regierung beziehungsweise der Staat, den sie bekämpfen – in keiner Weise beteiligt waren, nur schwer akzeptieren. Aus diesem Grunde sieht das humanitäre Völkerrecht etwa die Möglichkeit der besonderen Vereinbarungen des gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Abkommen vor. Über unilaterale Verpflichtungserklärungen, die Aufnahme humanitär-völkerrechtlicher Regelungen in die „Codes of Conduct“ bewaffneter Gruppen oder in Waffenstillstandsvereinbarungen und Friedensverträge lassen sich mitunter ähnliche Effekte erreichen.68 Allerdings haben diese Mechanismen für sich genommen bislang nicht ausgereicht, eine angemessene Einhaltung 65
ICRC Survey: Our World. Views from the Field, abrufbar unter: http://www.icrc.org/web/eng/ siteeng0.nsf/htmlall/research-report-240609. 66 M. Sassoli, Transnational Armed Groups and International Humanitarian Law, Program on Humanitarian Policy and Conflict Research, Harvard University, Occasional Paper Series 6 (2006), abrufbar unter: http://www.hpcr.org/pdfs/OccasionalPaper6.pdf. 67 S. Sivakumaran, Binding Armed Opposition Groups, in: International & Comparative Law Quarterly 55 (2006), S. 369-394. 68 M. Mack/J. Pejic, Increasing Respect for IHL in Non-international Armed Conflicts, Geneva 2008, abrufbar unter: http://www.icrc.org/Web/Eng/siteeng0.nsf/htmlall/p0923/$FILE/ICRC_ 002_0923.pdf.
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der Regelungen des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten. Vorschläge im Schrifttum zu einer weitergehenden Einbindung nicht-staatlicher Akteure in humanitär-völkerrechtliche Rechtssetzungsprozesse, etwa auch die im Tadic-Urteil angedeutete Möglichkeit einer Berücksichtigung des Verhaltens bewaffneter Gruppen im Kontext gewohnheitsrechtlicher Entwicklungen, sind zwar theoretisch vielversprechend, dürften in der Praxis bis auf weiteres aber kaum durchzusetzen sein.69 Zwar geht das humanitäre Völkerrecht von einer humanitär-völkerrechtlichen Gleichstellung der kämpfenden Parteien aus. Gleichwohl, die Verhaltensweisen nicht-staatlicher Akteure im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt bleiben nach nationalem Recht strafbar. Ein Kombattantenprivileg wie im internationalen bewaffneten Konflikt ist für nicht-staatliche Gruppen nicht vorgesehen; Art. 6 Abs. 5 des II. Zusatzprotokolls enthält lediglich einen Appell und keine Pflicht zur Amnestierung humanitär-völkerrechtskonformen Verhaltens nicht-staatlicher Akteure. Diskussionen über eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts im Kontext der Bekämpfung des internationalen Terrorismus gehen teilweise einher mit Vorschlägen zu einer Kriminalisierung humanitär-völkerrechtskonformen Verhaltens nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Bei den Verhandlungen der „Draft Comprehensive Convention on International Terrorism“ beispielsweise wurde darüber diskutiert, Angriffe auf militärische Objekte seitens nicht-staatlicher Gruppen – eine nach humanitärem Völkerrecht legale Verhaltensweise – auch auf internationaler Ebene zu verbieten. Eine solche „Asymmetrisierung“ des Rechts stünde im Widerspruch zu geltendem humanitären Völkerrecht und hätte für die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts in traditionell gelagerten Bürgerkriegskonstellationen nachteilige Konsequenzen. Insofern stehen gegenwärtige Rechtsentwicklungen hinsichtlich der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte teilweise in einem gewissen Spannungsverhältnis zwischen „Symmetrisierungsbestrebungen“ des auf herkömmliche, traditionelle Bürgerkriege anwendbaren Rechts einerseits und „Asymmetrisierungstendenzen“ im Zusammenhang mit der teilweise propagierten Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Rechts der nichtinternationalen bewaffneten Konflikte auf transnationale asymmetrische Konflikte im Kontext der internationalen Terrorismusbekämpfung andererseits.
4 Regeln über die Führung von Feindseligkeiten Auf Grund gewohnheitsrechtlicher Entwicklungen haben sich die Regeln über die Führung von Feindseligkeiten im internationalen und im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt immer stärker angeglichen.70 Die folgenden Ausführungen betreffen daher beide Konfliktarten. 69
T. Meron, The Continuing Role of Custom in the Formation of IHL, in: American Journal of International Law 90 (1996), S. 238, 240. 70 J. M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Vol. I: Rules, Cambridge 2005. Siehe auch J. M. Henckaerts, The Conduct of Hostilities: Target Selection,
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4.1 Klassische Probleme im Lichte asymmetrischer Konflikte Im Bereich der Führung von Feindseligkeiten besteht seit jeher die Problematik, dass die Definition militärischer Objekte, wie sie in Art. 52 Abs. 2 des I. Zusatzprotokolls niedergelegt ist, und das in Art. 51 Abs. 5 lit. b) verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip zum Teil nur unzureichend klar ausgestaltet sind.71 Gleichzeitig besteht aber auch weitgehende Einigkeit, dass eine präzisere Definition sowohl der militärischen Objekte als auch des Verhältnismäßigkeitsprinzips derzeit realistischerweise kaum zu erreichen ist.72 Die asymmetrischen Strukturen moderner Konflikte, das Verschwimmen der Grenzen zwischen militärischen und zivilen Objekten sowie zwischen geschützten und nicht vor direkten Angriffen geschützten Personen, der potenzielle „dual use“-Charakter zahlreicher Objekte im Kontext moderner Konfliktführung und auch die Konfliktverlagerung in urbane Zentren („Urban Warfare“) haben diese Problematik weiter zugespitzt. Insofern erscheint eine weitere Konkretisierung der Definition militärischer und mithin direkt angreifbarer Objekte wie auch des humanitär-völkerrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips wünschenswert und geboten. Insbesondere Kampfhandlungen in dichtbesiedelten Gebieten und urbanen Zentren werfen darüber hinaus auch ganz grundsätzliche Fragen, etwa nach dem Einsatz hochexplosiver oder schwerer Waffen und der Inkaufnahme gewisser Risiken für eigene Truppen zur Schonung der unbeteiligten Zivilbevölkerung, auf. Zudem kommt in dichtbesiedelten Gebieten der Verpflichtung zur Ergreifung von Vorsichtsmaßnahmen und insbesondere der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Warnung eine „effektive“ Warnung im Sinne von Art. 57 Abs. 2 lit. c) des I. Zusatzprotokolls darstellt, besondere Bedeutung zu.
4.2 Schutz und Schutzverlust von Zivilpersonen Eine strukturelle Herausforderung ergibt sich aus der immer stärkeren Einbindung von Zivilpersonen in das Kampfgeschehen. Dieses Phänomen wird teilweise als „civilianization of armed conflict“ beschrieben.73 In modernen (asymmetrischen) Konfliktszenarien wird die Unterscheidung von geschützten Zivilpersonen und „Kämpfern“ zunehmend schwerer.74 Die Kampfhandlungen verlagern sich Proportionality and Precautionary Measures under International Humanitarian Law, in: The Netherlands Red Cross, Protecting Civilians in 21st-Century Warfare: Target Selection, Proportionality and Precautionary Measures in Law and Practice, 8. Dezember 2000, S. 11. 71 Y. Dinstein, The Conduct of Hostilities under the Law of International Armed Conflict, Cambridge 2004, S. 122. 72 Ibid. 73 A. Wenger/S. Mason, The Civilianization of Armed Conflict – Trends and Implications, in: International Review of the Red Cross 90 (2008), S. 835-852. 74 H. Münkler, Der Wandel des Krieges: Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006.
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in urbane Gebiete, Kämpfende sind nicht uniformiert, tragen ihre Waffen nicht offen und mischen sich zum Teil ganz gezielt unter die Zivilbevölkerung oder setzen Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde ein, um Angriffen eines militärisch überlegenen Gegners zu entgehen.75 Die Folge davon ist, dass einerseits Zivilisten immer größere Gefahr laufen, Opfer von Angriffen zu werden, andererseits aber auch die Angehörigen der Streitkräfte zunehmend Risiken ausgesetzt sind, da sie den militärischen Gegner nicht immer eindeutig identifizieren können. Die Auslagerung militärischer Aufgaben an private Akteure, namentlich an private Sicherheits- beziehungsweise Militärunternehmen sowie die Tatsache, dass moderne Kampfführung ein hoch komplexer Vorgang ist, der eine Vielzahl von Personen und Einrichtungen an verschiedenen Orten involviert, haben die Problematik einer immer stärkeren Einbindung von Zivilpersonen in das eigentliche Kampfgeschehen noch weiter verstärkt. Daraus resultieren schwierige Fragen betreffend die Unterscheidung von geschützten und nicht vor direkten Angriffen geschützten Personen, insbesondere auch die Frage, unter welchen Umständen und für wie lange geschützte Personen ihren Schutz ausnahmsweise verlieren können. Kristallisationspunkt dieser Problematik ist das Kriterium der „unmittelbaren Teilnahme an den Feindseligkeiten“.76 Nach diesem Kriterium beurteilt sich, ob und für welchen Zeitraum Zivilpersonen ihren Schutz vor direkten Angriffen verlieren. Das Problem ist, dass weder die Genfer Konventionen noch ihre Zusatzprotokolle ausdrücklich festlegen, was genau unter einer „unmittelbaren Teilnahme an den Feindseligkeiten“ zu verstehen ist. Aus diesem Grund hat sich das IKRK in einem sechsjährigen Expertenprozess, namentlich in Konsultation mit einer Gruppe von über 50 internationalen Rechtsexperten aus Militär-, akademischen sowie Regierungs- und Nichtregierungskreisen, der Klarifizierung dieses Kriteriums gewidmet. Das im Mai 2009 veröffentlichte Ergebnis dieses Prozesses ist eine Auslegungshilfe des IKRK – kein Konsensdokument –, die Aufschluss darüber gibt, wer im Kontext der Führung von Feindseligkeiten als Zivilist betrachtet wird, welches Verhalten als unmittelbare Teilnahme an den Feindseligkeiten gilt und welche besonderen Bestimmungen und Grundsätze dafür maßgeblich sind, dass der einem Zivilisten zustehende Schutz vor direkten Angriffen verloren geht. Ohne das bestehende Recht abzuändern, liefert die Auslegungshilfe des IKRK – die „Interpretative Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities“ – Empfehlungen darüber, wie das humanitäre Völkerrecht in Bezug auf den Begriff der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten in modernen bewaffneten Konflikten ausgelegt werden sollte.
75
R. Geiß, Asymmetric Conflict Structures, in: International Review of the Red Cross 88 (2006), S. 757, 764. 76 Siehe dazu Art. 51 Abs. 3 ZP I; 13 Abs. 3 ZP II; Siehe auch J. M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, Customary International Humanitarian Law, Vol. I: Rules, Cambridge 2005, Rule 6.
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4.3 Technologische Entwicklungen: Virtuelle Konfliktführung Neue technologische Entwicklungen und dadurch bedingte strukturelle Veränderungen der Kriegsführung fordern die etablierte Rechtsordnung heraus; sie können mitunter aber auch Chancen für eine verbesserte Gewährleistung humanitärer Standards in bewaffneten Konflikten mit sich bringen. Die technologische Entwicklung ferngesteuerter Waffensysteme, namentlich Drohnen, hat die Angriffsmöglichkeiten moderner Armeen erheblich erweitert. Verbunden mit einer territorialen Ausdehnung des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts kann sich daraus – wie oben dargelegt – eine bedenkliche Herabsetzung wichtiger Schutzstandards ergeben. Gleichzeitig ermöglicht die so genannte „Virtualisierung“ des modernen Schlachtfeldes, das heißt die Möglichkeit zur elektronischen Überwachung des Kampfgebietes in Echtzeit im Vorfeld, während und nach einem Angriff – aktuell eingesetzte Drohnen können bis zu 40 h ununterbrochene Videoüberwachung des Angriffszieles liefern –, Angriffe besser zu planen und Schäden für die Zivilbevölkerung weiter zu minimieren.77 In diesen Entwicklungen liegt somit auch erhebliches Potenzial für eine verbesserte Implementierung und Durchsetzung wichtiger humanitär-völkerrechtlicher Regelungen und Prinzipien. Der Einsatz von automatisierten Systemen – bei allen Bedenken und ethisch wie rechtlich noch wenig geklärten Fragen – kann Risiken für eigene Truppen weiter reduzieren und damit auch gegenüber dem militärischen Gegner ein behutsameres und insbesondere auf den Schutz unbeteiligter Zivilpersonen bedachtes Vorgehen ermöglichen. In diesem Zusammenhang ist bereits von einer unerwarteten „Revitalisierung von Schlüsselprinzipien des humanitären Völkerrechts“ gesprochen worden.78 Erweiterte technische Möglichkeiten und neuartige Informationsquellen führen insbesondere im Hinblick auf die vor einem Angriff zur Schonung der Zivilbevölkerung zu ergreifenden Vorsichtsmaßnahmen im Sinne von Art. 57 des I. Zusatzprotokolls zu erweiterten Pflichten. Artikel 57 des I. Zusatzprotokolls, wie auch entsprechende gewohnheitsrechtliche Regeln, verpflichten die Konfliktparteien hinsichtlich der unterschiedlichen Vorsichtsmaßnahmen darauf, „alles praktisch Mögliche“ zu tun.79 Die virtuelle Distanz vom eigentlichen Kampfgeschehen, namentlich die Distanz zwischen Entscheidungs- und Erfolgsort, ermöglicht es, verschiedene Informationen im Vorfeld eines Angriffs in einen Zusammenhang zu stellen, zu vergleichen und zu überprüfen, den Charakter potentieller Angriffsziele als legitime militärische Angriffsziele im Vorfeld eines Angriffes zu verifizieren sowie die Rechtmäßigkeit von Angriffen
77
J. M. Beard, Law and War in the Virtual Era, in: American Journal of International Law 103 (2009), S. 409, 410. 78 Ibid. 79 Im Hinblick auf die aus unterschiedlichen technischen Möglichkeiten resultierenden asymmetrischen Pflichten siehe Y. Sandoz/C. Swinarski/B. Zimmermann (Hrsg.), ICRC Commentary on the Additional Protocols of 8 June 1977 to the Geneva Conventions of 12 August 1949, Genf 1987, Rn. 2199.
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im Vorfeld genauer zu evaluieren.80 Es ist kein Zufall, dass der Einsatz von Rechtsexperten in modernen Konflikten, insbesondere auch im Rahmen des Führens von Feindseligkeiten, stetig zunimmt.81
5 Ergebnis Vor allem im Hinblick auf die internationale Bekämpfung von als kriminell eingestuften privaten Gewaltakteuren deuten sich verschiedene Entwicklungstrends an, ohne dass sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereits ein klares Ergebnis oder eine eindeutige Richtung absehen ließe. Einerseits lassen sich Tendenzen erkennen, zur Erfassung dieses transnationalen Phänomens den Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts auszuweiten, sei es über eine generelle Absenkung der Anwendungsschwelle des auf nicht-internationale Konflikte anwendbaren humanitären Völkerrechts ( Tadic) oder über eine Ausdehnung des territorialen Anwendungsbereichs des humanitären Regelungsregimes ( Hamdan). Eine solche Ausdehnung des Anwendungsbereichs müsste allerdings auf der Regelungsebene durch entsprechend erhöhte, dem erweiterten Anwendungsbereich angepasste Schutzstandards kompensiert werden. Die in Kap. 9 der IKRK-Studie stipulierte Rechtspflicht zur Gefangennahme anstelle eines uneingeschränkten Tötungsrechts entspricht geltendem Recht; sie könnte aber auch als Vorbote eines solchen Trends und als Gegenpol zu sich andeutenden Ausdehnungsbestrebungen verstanden werden. Vorstellbar erscheint aber auch eine gegensätzliche Entwicklung, namentlich eine stärkere Begrenzung des humanitären Völkerrechts auf seine klassischen Anwendungsbereiche, internationale bewaffnete Konflikte und rein innerstaatliche Bürgerkriege von hoher Gewaltintensität, in denen die Anwendung höherer rechtlicher Schutzstandards aufgrund der vorherrschenden Umstände schlechterdings ausgeschlossen ist. Ein solches „Zurückdrängen“ des Anwendungsbereichs des humanitären Völkerrechts könnte mit einer „Flexibilisierung“ menschenrechtlicher Vorschriften hin zu einer den spezifischen Umständen angepassten Herabsetzung gewisser menschenrechtlicher Schutzstandards einhergehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat diesen Weg in seiner Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem Konflikt in Tschetschenien bereits aufgezeigt.82 Schließlich ist im Schrifttum als Mittelweg und dritte Möglichkeit auch die Ausarbeitung eines ganz und gar neuartigen Regelungsregimes, das Elemente der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts miteinander verbindet, vorgeschlagen 80
A. P. V. Rogers, What is a Legitimate Military Target?, in: R. Burchill/N. D. White/J. Morris (Hrsg.), International Conflict and Security Law: Essays in Memory of Hilaire McCoubrey, Cambridge 2005, S. 160, 167. 81 S. Keeva, Lawyers in the War Room, in: American Bar Association Journal (1991), S. 52, 54 cited in Beard, S. 418 Fn. 48; D. Kennedy, Of War and Law, Princeton 2006, S. 33. 82 W. Abresch, A Human Rights Law of Internal Armed Conflict – The European Court of Human Rights in Chechnya, in: European Journal of International Law 16 (2005), S. 741-767.
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worden.83 Allerdings lassen sich zurzeit kaum Anhaltspunkte finden, die eine solche Entwicklung in nächster Zeit wahrscheinlich erscheinen lassen. Im Gegenteil, da das humanitäre Völkerrecht im Hinblick auf die Anwendung militärischer Gewalt die weitestgehenden Handlungsspielräume eröffnet, spricht einiges dafür, dass die Staatenpraxis auch weiterhin den Weg über das humanitäre Völkerrecht suchen wird. Unabhängig von dem Ausgang dieser sich andeutenden Entwicklungen zeigt sich, dass die gegenwärtige Debatte nicht primär auf die Frage nach der aktuellen Relevanz des humanitären Völkerrechts abzielt. Die eigentliche Frage lautet, wie verschiedene asymmetrische Gewaltsituationen der Gegenwart und transnational operierende private Gewaltakteure rechtlich adäquat erfasst werden können. Die vielleicht bedeutsamste Erkenntnis neun Jahre nach 9/11 ist, dass das Völkerrecht und vor allem die Grundwerte der Genfer Konventionen allen Angriffen zum Trotze standgehalten haben. Das Folterverbot ist nicht aufgeweicht worden und die, die es versucht haben, sind heute isoliert. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ ist jedenfalls symbolisch aus dem Sprachschatz internationaler Diplomatie gestrichen worden. Das Gefangenenlager in Guantánamo wird geschlossen und in Afghanistan hat ein Strategiewechsel stattgefunden, der auf der Einsicht des neuen ISAF-Kommandeurs McChrystal basiert, dass der Konflikt nur durch Überzeugung der afghanischen Bevölkerung und nicht durch die militärische Vernichtung des Feindes gewonnen werden kann.84 Gerade die letzten Jahre zeigen, dass die Genfer Abkommen ihren eigentlichen Zweck nach wie vor erfüllen und nicht an Bedeutung verloren haben. In Zeiten, in denen angesichts existenzieller oder als existenziell empfundener Bedrohungen die Versuchung groß ist, rechtliche Schutzstandards aufzugeben, erhalten die Genfer Abkommen einen unabänderlichen humanitären Mindeststandard aufrecht. Langfristig steht die strikte Einhaltung dieses Mindeststandards den Kriegszielen auch in modernen Konflikten keineswegs entgegen. Im Gegenteil, für die Überzeugung der lokalen Bevölkerung ist eine Einhaltung humanitär-völkerrechtlicher Mindeststandards eine Grundvoraussetzung.
83 F. Martin, Using International Human Rights Law for Establishing a Unified Use of Force Rule in the Law of Armed Conflict, in: Saskatchewan Law Review 64 (2001), S. 347 -396. 84 Der Spiegel, Generäle gegen Obama, 26. September 2009, S. 107-109.
Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der internationalen Ordnung und des Völkerrechts Stephan Hobe
1 Die Herausforderung Dass im Zeitalter der Globalisierung in Gestalt des transnationalen Terrorismus nicht-staatliche Gewalt in die internationalen Beziehungen zurückkehrt, gehört zu den großen Herausforderungen der Gegenwart. Raymond Aron, der bekannte französische Philosoph, hat das Phänomen der Asymmetrie auf die prägnante Formel gebracht, dass Partisanen, wenn sie nicht militärisch verlieren, den Krieg politisch gewinnen, während ihre Gegner, wenn sie keinen entscheidenden militärischen Sieg erringen, den Krieg politisch und militärisch verlieren. Das bedeutet, dass Konflikte zunehmend nicht mehr unter gleichartigen militärischen Gegnern ausgetragen werden. Herfried Münkler hat insofern von „asymmetrischen Konflikten“ gesprochen. In jenen Auseinandersetzungen stehen sich ungleiche Parteien bei auseinanderfallenden personellen wie materiellen Kapazitäten gegenüber. Und das rechtlich Entscheidendste ist, dass es zunehmend Konflikte zwischen Staaten und nicht-staatlichen Gewaltakteuren gibt, welche klassische zwischenstaatliche Konflikte verdrängen. Darüber soll nachfolgend gesprochen werden.
Es handelt sich um die modifizierte Version eines Vortrags, den der Verfasser am 16. April 2009 auf der Zweijahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht in München gehalten hat.
R. Aron, Frieden und Krieg – Eine Theorie der Staatenwelt, Frankfurt 1963, S. 48. Siehe dazu etwa H. Münkler, Die neuen Kriege, 2. Aufl., Reinbek 2005, S. 11. T. Pfanner, David gegen Goliath oder asymmetrische Kriegsführung, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 18 (2005), S. 165, 168; H. Münkler, a.a.O. (Fn. 2), S. 13 ff.; zu neuen Militärstrategien siehe H. Münkler, a.a.O. (Fn. 2), S. 175 f.; K. Ipsen, Bewaffnete Konflikte und Neutralität, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., München 2004, S. 1207 f., Rn. 10.
S. Hobe () Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Bereits beim Widerstand gegen Napoleon in Spanien zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es das Problem nicht-staatlicher Gewaltanwendung. Dennoch hat der Krieg gerade in den letzten Jahrzehnten seine Erscheinungsform besonders verändert. Jedenfalls ist der klassische Staatenkrieg nicht mehr die allein die Kriegsführung bestimmende Form. Es gibt heute zunehmend para-staatliche und private Akteure, lokale Warlords, Guerillagruppen, private Militärunternehmen und internationale Terrornetzwerke, die das kriegerische Geschehen bestimmen. Aber das humanitäre Völkerrecht ist in Gestalt des Haager Rechts Anfang des letzten Jahrhunderts und des Genfer Rechts der Genfer Abkommen in der UN-Ära nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Damit basiert es noch wesentlich auf der Vorstellung einer Symmetrieerwartung der staatlichen Kriegsakteure. Es war ja auch zunächst der bedeutendste zivilisatorische Erfolg, dass der moderne Territorialstaat sich zum Monopolisten der Kriegsführung herausbildete. Insofern reflektiert auch das moderne humanitäre Völkerrecht immer noch diese von einer Gegenseitigkeitserwartung gekennzeichnete Symmetrie der zwischenstaatlichen Konflikte und ihres Austrags. Die fortschreitende Entwicklung des Gewohnheitsrechts in den letzten Jahrzehnten hat dazu geführt, dass neben dem gemeinsamen Art. 3 der Genfer Abkommen etliche Regeln über Mittel und Methoden der Kampfführung in nicht-internationalen wie in internationalen bewaffneten Konflikten gleichermaßen gelten, vor allem für den Zivilistenschutz. Da aber immer noch Unterschiede zwischen regulären Streit
Vgl. J. L. Tone, Napoleon’s Uncongenial Sea: Guerrilla Warfare in Navarre during the Peninsular War, 1808-14, in: European History Quarterly 26 (1996), S. 355. H. Münkler, a.a.O. (Fn. 2), S. 7 f. Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781. Vgl. ZP II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht in ternationaler bewaffneter Konflikte vom 8. Juni 1977, UNTS 1125, S. 609, BGBl. II 1990 S. 1637; Protokoll IV über blindmachende Laserwaffen vom 13. Oktober 1995, BGBl. 1997 II S. 827; Protokoll über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes von Minen, Sprengfallen und anderen Vorrichtungen i.d.F. vom 3. Mai 1996 zu dem Übereinkommen vom 10. Oktober 1980 über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können, BGBl. 1999 II S. 293; Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antiperso nenminen und über deren Vernichtung vom 2.-4. Dezember 1997, UNTS 211 (1999), BGBl. 1998 II S. 778; Art. 3 des zweiten Protokolls zum Haager Abkommen von 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten vom 26. März 1999, BGBl. II 1967, S. 1233; VN-Waffenübereinkommen vom 12. Februar 2001, BGBl. II 2001, S. 240. Vgl. D. Fleck, Chapter 12. The Law of Non-International Armed Conflicts, in: ders. (Hrsg.), The Handbook of International Humanitarian Law, Oxford 2008, Rn. 1201-04, 1207-12; J.-M. Henckaerts/L. Doswald-Beck (Hrsg.), Customary International Humanitarian Law, Cambridge 2005; vgl. auch J.-M. Henckaerts, Study on Customary International Humanitarian Law: A Contribution to the Understanding and Respect for the Rule of Law in Armed Conflict, in: International Review of the Red Cross 87 (2005), S. 175-212.
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kräften und bewaffneten Aufständischen fortbestehen, geht das humanitäre Völkerrecht also immer noch von einer symmetrischen Grundkonstellation aus. Dennoch stellt sich die Frage, was gilt, wenn gerade diese Symmetriebasis in schwerwiegender Weise beeinträchtigt wird. Stehen wir, wie dies formuliert worden ist, am Ende des klassischen Staatenkrieges?10 Und welchen Stellenwert hat dann das humanitäre Völkerrecht noch? In der nachfolgenden Untersuchung sollen zunächst einige asymmetrische Konflikte skizziert und dann die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf den asymmetrischen Konflikt in besonders komplizierten Konfliktlagen herausdestilliert werden. Dies gibt Anlass zu der Frage, ob das humanitäre Völkerrecht noch adäquat ist, gegebenenfalls modifizierender Interpretation bedarf oder ob in umfassendere Reformüberlegungen einzusteigen ist.
2 Asymmetrische Konflikte und humanitäres Völkerrecht 2.1 Skizzen asymmetrischer Konflikte und deren Charakteristika Wie erwähnt, gab es bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts den spanischen Widerstand gegen Napoleon. Im Zweiten Weltkrieg wurde durch die sogenannte „Resistance“ ebenfalls versucht, bei gegebener Unterlegenheit mit den zur Verfügung stehenden Mitteln das Überraschungsmoment zu nutzen. Dabei kommt als Methode vor allem der Guerillakrieg in Betracht. Dies wurde im Tschetschenien-Krieg von 1999 gegen die russische Invasion deutlich. Zudem traten im Bürgerkrieg in Sierra Leone, einem Konflikt der Regierung gegen die Revolutionary United Front, unterstützt vom liberianischen Kriegsherrn und späteren Staatspräsidenten Charles Taylor, auf der Seite der Regierung etwa auch private Sicherheits- und Militärunternehmen auf. Die Anschläge auf die Zwillingstürme vom 11. September 2001 durch das Terrornetzwerk Al-Qaida stellen indes eine völlig neue Form des internationalen Terrorismus dar. Sie sind geradezu Symbol für eine besonders ausgeprägte Form asymmetrischer Kriegsführung, des David gegen Goliath. Zudem kommt es im Gefolge dieser terroristischen Anschläge zu transnationalen Verwicklungen in Afghanistan, wo die Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Verbündeten militärische und politische Aktivitäten gegen den Terrorismus konzentrieren.11
Vgl. D. Fleck, a.a.O. (Fn. 8), Sections 1213-15. H. Münkler, a.a.O. (Fn. 2), S. 9. 11 Die Komplexität des von den USA ausgerufenen „Krieges gegen den Terror“ wird auch im jüngsten Irak-Konflikt deutlich. Zunächst als Präventivkrieg wegen angeblicher Massenvernichtungswaffen begonnen, ist die kriegsführende „Koalition der Willigen“ jetzt vor die schwierige Situation des Wiederaufbaus des Irak gestellt. Der letzte Irakkrieg hatte mehrere Phasen: Während bei der Invasion durch die „Koalition der Willigen“ ein internationaler bewaffneter Konflikt vorlag, fand auch nach Ende der Kampfhandlungen das humanitäre Völkerrecht des internationalen Konflikts wegen der fremden Besatzung Anwendung. Spätestens (vorher streitig) seit der Über10
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Insofern kann man sagen, dass im asymmetrischen Konflikt die Waffengleichheit zwischen den kämpfenden staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren aufgelöst ist. Unterschiedliche Kriegsgegner verfolgen unterschiedliche Kriegsziele und setzen unterschiedliche Mittel und Methoden ein.12 Insofern kann man die Umkehrung des Verhältnisses von getöteten Kombattanten und Zivilisten vom 20. zum 21. Jahrhundert als kennzeichnend ansehen: Denn nur noch zehn Prozent der Konfliktopfer sind, einer Schätzung zufolge, Kombattanten und 90 % Zivilisten.13 Auch für die Entwicklung des humanitären Völkerrechts erwies sich als entscheidend, dass der moderne souveräne Staat zum Ende des 30-jährigen Krieges derjenige war, der sich mit der nun geschaffenen straffen Verwaltung und Söldnerheeren als einziger in der Lage sah, den neuen bürokratischen und finanziellen Herausforderungen gerecht und unter Beendigung des freien Söldnerwesens zum zentralen Akteur der Konfliktregulierung für die Zeit des sich entfaltenden klassischen und modernen Völkerrechts zu werden. Symptomatisch dafür ist die Regelanwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf den internationalen, also den zwischenstaatlichen bewaffneten Konflikt, wobei für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt noch immer eher unvollkommene Regeln bestehen. Trotz der Durchdringung des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts mit Vertrags- und Gewohnheitsrecht stimmt es nach wie vor, dass die Regeln für den internationalen bewaffneten Konflikt weit ausführlicher sind. Insofern kann man feststellen, dass das gesamte humanitäre Völkerrecht in besonderem Maße auf einer Reziprozitätsvorstellung beruht, wobei diese Gegenseitigkeitserwartung grundsätzlich nur bei symmetrischen zwischenstaatlichen Konfliktlagen Anwendung finden kann. Ausfluss dieses symmetrischen Grundansatzes ist etwa die Dichotomie von Kombattanten und Zivilisten, weil sich nur der Kombattant als legitimer Kämpfer erweist. Denn er ist Angehöriger der Streitkräfte und damit Angehöriger des Staates. Und darauf beruht das für das gesamte humanitäre Völkerrecht zentrale Unterscheidungsprinzip. Schließlich basieren die gewaltbegrenzenden Grundsätze der militärischen Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit wie etwa auch der Katalog verbotener Kriegsmittel zentral auf der Gegenseitigkeitserwartung. Besteht aber diese Gegenseitigkeitserwartung auch im asymmetrischen Konflikt? Insofern ist nachfolgend besonders pointiert die Frage nach der Funktionalität des humanitären Völkerrechts für asymmetrische bewaffnete Konflikte zu stellen.
nahme der frei gewählten irakischen Regierung lag kein internationaler bewaffneter Konflikt mehr vor, wohl aber ein nicht-internationaler nach dem „protracted armed violence“-Test. 12 T. Pfanner, a.a.O. (Fn. 3), S. 165; H. Münkler, Der klassische Staatenkrieg, in: ders., Der Wandel des Krieges, Weilerswist 2006, S. 65 ff. unterscheidet zudem in Asymmetrie der Stärke, etwa der Vereinigten Staaten von Amerika, und Asymmetrierung aus Schwäche, die etwa im spanischen Partisanenkrieg gegen die napoleonische Besetzung zwischen 1808 und 1813 in der Form des Kleinkrieges (Guerillakrieges) entwickelt wurde, wobei er eine Verbindungslinie zum antikolonialen Befreiungskrieg und der amerikanischen Niederlage im Vietnam-Krieg sieht. 13 M. Kaldor, New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era, 2. Aufl., Stanford 2006, S. 107.
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2.2 Passt das Regelwerk des humanitären Völkerrechts auf diese Konfliktlagen? 2.2.1 Was ist im asymmetrischen Konflikt ein bewaffneter Konflikt? Bereits die Frage des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts, die die Frage der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts hervorruft, wird mangels Legaldefinition deutlich erschwert. Man ist sich indes in der Praxis einig, dass eine gewisse Art der Gewaltanwendung stattfinden muss, wobei im internationalen bewaffneten Konflikt zur Annahme des gemeinsamen Art. 2 GA I–IV das Vorliegen einer gewis sen Intensität der Anwendung von bewaffneter Gewalt zwischen zwei Staaten oder ein Fall der Besetzung ausreicht. Für die verschiedenen Formen des bewaffneten Konflikts hat sich indes, anknüpfend an das Urteil des Jugoslawien-Tribunals im Tadić-Fall, die Auffassung durchgesetzt, dass „an armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States or protracted armed violence between governmental authorities and organized armed groups or between such groups within a State“.14 Das Vorliegen andauernder Gewalt (sogenannte „protracted armed violence“) wird also zur Voraussetzung gemacht, denn Staaten sind traditionell zögerlich bei der Anwendbarkeit der Regeln des humanitären Völkerrechts auf eigenem Staatsgebiet. Sie erkennen diese in der Regel erst dann an, wenn die interne politische Instabilität unleugbar geworden ist. Damit ist zwar die Einordnung des Angriffs von Al-Qaida auf die Zwillingstürme, die die Vereinigten Staaten von Amerika selbst als „legal black hole“ einstuften, teilweise streitig geblieben. Die überwiegende Auffassung prüft hier allerdings zutreffend das Vorliegen eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts und sieht „protracted armed violence“ angesichts der vereinzelten Anschläge als nicht erreicht an. Insofern ist die Anwendung des humanitären Völkerrechts in diesen Fällen durchaus problematisch. 2.2.2 Internationale/nicht-internationale bewaffnete Konflikte Zudem ist fraglich, ob nun – wie dies zu vermuten steht – in der Regel asymmetrische Konflikte auch nicht-internationale bewaffnete Konflikte sind. Man könnte durchaus dieser Auffassung sein, wenn man an den Prototyp des „Bürgerkriegs“ denkt. Hier gibt es ebenfalls sehr unterschiedliche Einordnungen. Betrachtet man den Afghanistan-Krieg als Reaktion auf die Angriffe von Al-Qaida, so werden die Maßnahmen der Alliierten unter Führung der Vereinigten Staaten als das Führen eines internationalen bewaffneten Konflikts gemäß dem gemeinsamen Art. 2 GA I– IV zu kennzeichnen sein, wobei hier die Koalitionstruppen auf der einen Seite und die Taliban als nicht anerkanntes de facto-Regime auf der anderen Seite standen. Zudem bereiten Terrorabwehrmaßnahmen, wie gezielte Tötungen (sogenannte „targeted killings“), wie etwa die Exekution des der Al-Qaida zugerechneten 14 ICTY, Appeals Chamber, Tadić, Jurisdiction, 2. Oktober 1995, para. 70; ähnlich das ICTR im Akayesu-Fall vom 2. September 1998, para. 625.
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Terroristen Al-Harethi im Jemen durch eine Drohne der Vereinigten Staaten von Amerika, außerordentliche Einordnungsprobleme. Denn sie müssen einerseits wohl als nicht gegen einen Staat gerichtete Aktion angesehen werden, so dass die Einordnung als internationaler bewaffneter Konflikt eher ausscheidet. Weil aber auch „protracted armed violence“ hier nicht ohne Weiteres gegeben ist, gibt es Autoren15, die für die Anwendung des gemeinsamen Art. 3 GA I–IV im Wege der modifizierenden Auslegung plädieren, weil diese Vorschrift einen gemeinsamen Minimumstandard enthalte und deshalb stets anwendbar sei. Bürgerkriege wie in Tschetschenien bereiten als typische nicht-internationale bewaffnete Konflikte zwar keine Einordnungsschwierigkeiten. Dies ist allerdings in den Fällen der Intervention eines Staates in die bürgerkriegsähnliche Situation eines anderen Staates, wie etwa 1979 durch die Sowjetunion in Afghanistan, durchaus der Fall. Hierzu werden nicht weniger als drei Auffassungen vertreten.16 Die erste Auffassung plädiert für das Vorliegen eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts. Die Gegenauffassung sieht das Eingreifen der Sowjetunion als Fall der Internationalisierung des Konflikts an. Dazwischen steht eine vermittelnde Auffassung, die je nach Konstellation die Regeln des internationalen und des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts Anwendung finden lassen möchte. Es hängt also zentral von den Konfliktbeteiligten ab, ob eine Konfliktform eher als international oder nicht-international zu bezeichnen ist, wobei der internationale bewaffnete Konflikt eher die Ausnahme denn die Regel ist. 2.2.3 Das Prinzip der Unterscheidung Zentral ist für das humanitäre Völkerrecht das Prinzip der Unterscheidung. Man kann sagen, dass das humanitäre Völkerrecht ein Recht der Distinktion ist, denn, um die Zivilisten schützen zu können, muss deutlich werden, wer Kämpfer und wer Zivilist ist. Kann man dies auch in asymmetrischen Konflikten? Hier stellen sich so schwierige Fragen wie etwa die der Zuordnung der Angehörigen von Al-Qaida. Grundsätzlich wird die Frage nach dem Kombattantenstatus im internationalen bewaffneten Konflikt gemäß Art. 4 GA III i. V. m. Artikel 43 f. ZP I entschieden. Artikel 4 A GA III kennt die beiden Fälle, den der Zugehörigkeit zu den Streitkräften (Nr. 1) und den der Zugehörigkeit zu einer Miliz (Nr. 2). Indes waren Angehörige der Al-Qaida weder ein Teil der Streitkräfte der de facto-Regierung Afghanistans (Art. 4 A Nr. 1 GA III)17 noch eine Miliz nach Art. 4 A Nr. 2 15
Nachweise bei S. Quenivet, Applicability of International Humanitarian Law to Situations of (Counter-) Terrorist Nature, in: S. Arnold/A. Hildebrand (Hrsg.), International Humanitarian Law and the 21st Century, Lausanne 2005, S. 25 ff. in Fn. 78. 16 Siehe die Schilderung des Meinungsspektrums bei J. Pejic, Status of Conflict, in: E. Wilmshurst/S. Breau, Perspectives on the ICRC Study on Customary International Humanitarian Law, Cambridge 2007, S. 89 ff. 17 Dazu umfassend R. Wolfrum/C. Philipp, The Status of the Taliban: Their Obligations and Rights under International Law, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law 6 (2002), S. 559 ff.
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GA III. Sie waren nichts anderes als Zivilpersonen im internationalen bewaffneten Konflikt. Zudem bereitet die Einordnung der kämpfenden Personen im nicht-internationa len Konflikt zusätzliche Probleme. Wenn man etwa die tschetschenischen Separatisten im Tschetschenien-Konflikt betrachtet, ist fraglich, ob diese als „Kämpfer“ eingeordnet werden können. Das Recht des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts kennt bekanntlich keine Kombattanten. Die Staaten sind nicht bereit, das am Kombattantenstatus hängende Kriegsgefangenen- und Kampfprivileg auch Aufständischen zu gewähren. Die Studie des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) zum Gewohnheitsrecht gibt gleichfalls zu, dass ein solcher Status nur im internationalen bewaffneten Konflikt existiert18 und benutzt eine Art „Kombattantenbegriff“ nur, um geschützte Zivilisten abzugrenzen. Andere benutzen dafür den Ausdruck „Kämpfer“. Eine darüber hinausgehende Auffassung will den Begriff „Kämpfer“ als Parallele zum Kombattanten in den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt einführen. Impliziert im Unterscheidungsprinzip19 seien „Kämpfer“ solche Personen, die zum administrativen Militärapparat einer Konfliktpartei gehörten.20 „Kämpfer“ wären nach diesem Ansatz legitime Angriffsziele und genössen keine Privilegien. Anders als ungeschützte Zivilpersonen könnten sie ihren Schutz nicht wiedererlangen, sobald sie aufhörten, direkt an den Feindseligkeiten teilzunehmen. Diese auf einen ausschließlich negativen Rechtsstatus hinauslaufende Auffassung hat indes nicht zu besonderem Zuspruch namentlich der Staatenpraxis geführt. Vielmehr können solche administrativ-organisierten kämpfenden Personen als unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmende Zivilisten eingeordnet werden, so dass die Kategorie des „Kämpfers“ nicht unmittelbar erforderlich erscheint.21 In jedem Fall kennt das humanitäre Völkerrecht die von den Vereinigten Staaten verwendete Einordnung bestimmter Kämpfer als „unlawful enemy combatant“22 18
J.-M. Henkaerts/L. Doswald-Beck, a.a.O. (Fn. 8), S. 11. M. Bothe kritisiert jedoch zutreffend die fehlende Stellungnahme zum Problem, dass das Kombattanten-Privileg im nicht-internationalen Konflikt nicht existiert, in: Customary International Humanitarian Law: Some Reflections on the ICRC Study, in: Yearbook of International Humanitarian Law 8 (2005), S. 143, 175. 19 M. Bothe, Töten und getötet werden – Kombattanten, Kämpfer und Zivilisten im bewaffneten Konflikt, in: FS J. Delbrück, Berlin 2005, S. 67, 72 ff. 20 M. Bothe, a.a.O. (Fn. 19), S. 79. 21 C. Schaller, Humanitäres Völkerrecht und nichtstaatliche Gewaltakteure, Berlin 2007, S. 29, „Die Konstruktion der Kategorie des Kämpfers ist jedoch umstritten, da sie sich nicht auf ein konkretes Verhalten, das heißt auf die unmittelbare Teilnahme stützt (…) Die Kritik hebt unter anderem darauf ab, dass den Staaten auf diesem Wege die Möglichkeit eröffnet würde, nach Belieben Terrorverdächtige und andere mutmaßlich gefährliche Personen als Kämpfer einzustufen und jederzeit (…) gezielt zu töten.“, a.a.O., S. 22. 22 Der von den Vereinigten Staaten gebrauchte Terminus „unlawful enemy combatant“ wurde schließlich durch den Begriff „enemy combatant“ ersetzt, unter dem solche Gefangene geführt wurden, die nicht in den Genfer Abkommen erfasst werden und die menschlich behandelt werden sollen, unter Vorbehalt militärischer Notwendigkeit. Ausführliche Diskussion bei J. Pejic, „Unlawful/Enemy Combatants”: Interpretations and Consequences, in: M. Schmitt/J. Pejic (Hrsg.), International Law and Armed Conflict: Exploring the Faultlines, Essays in Honour of Yoram
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nicht. Denn diese Einordnung sollte den entsprechend Kämpfenden die Privilegien des Kombattantenstatus als auch diejenigen des Zivilistenstatus vorenthalten, was aber der klaren Aussage der Genfer Abkommen widerspricht, die die beiden Status des Kombattanten und des Zivilisten kennt. Insofern ist verständlich, dass die Obama-Administration diese von der Bush-Administration vertretene Auffassung nicht weiter zu verfolgen scheint.
2.2.4 Kriegsgefangenenstatus Bekanntlich hatten die Vereinigten Staaten den in Guantánamo internierten Taliban-Angehörigen den Kriegsgefangenenstatus deshalb verweigert, weil sie gemäß Art. 4 A Nr. 2 des III. Genfer Abkommens die geforderten Merkmale, insbesondere die Achtung der Gesetze und Gebräuche des Krieges, durch ihr Bündnis mit Al-Qaida nicht erfüllt hätten.23 Indes sind die Taliban reguläre Streitkräfte Afghanistans gemäß Art. 4 A Nr. 1 des III. Genfer Abkommens.24 Von besonderer Relevanz ist insofern die Zweifelsregelung des Art. 5 Abs. 2 dieses Abkommens. Danach sollen umstrittene Statusfragen durch ein „zuständiges nationales Gericht“ geklärt werden. Die Vereinigten Staaten hatten diese Aufgabe zunächst von sogenannten Militärkommissionen erfüllen lassen wollen. In seiner Rechtsprechung hat der amerikanische Supreme Court seit Hamdi v. Rumsfeld aus dem Jahr 200425 einzelnen Gefangenen einen Anspruch auf gerichtliche Überprüfung des Rechtsstatus zuerkannt. Und in Hamdan v. Rumsfeld vom 29.6.200626 wurde dieser Anspruch auch auf das III. Genfer Abkommen gestützt. Bei allen nach wie vor im Einzelnen bestehenden Komplikationen zeichnet sich insofern eine gewisse Stärkung der justiziellen Kontrolle unter Bezugnahme auf die völkerrechtlichen Vorgaben des III. Genfer Abkommens in Verbindung mit dem US Uniform Code of Military Justice (UCMJ) ab.
Dinstein, Leiden 2007, S. 335, 343; siehe nun die Argumentation des amerikanischen Justizministeriums vor dem District Court von Columbia in Re Guantánamo Bay Detainee Litigation, abrufbar unter: www.usdoj.gov/opa/documents/memo-re-det-auth.pdf; Siehe auch FAZ vom 16. März 2009 zur Abkehr von der Bezeichnung des „unlawful enemy combatant“ durch die neue US-Administration. 23 Vgl. die Wiedergabe der diesbezüglichen Aussagen der US-amerikanischen Regierung, Decision Not to Regard Persons Detained in Afghanistan as POWs, in: American Journal of International Law 96 (2002), S. 475, 477 f. Zustimmend R. Wedgwood, Al Qaeda, Terrorism, and Military Commissions, in: American Journal of International Law 96 (2002), S. 328. Zum Status der Taliban vgl. D. Zechmeister, Die Erosion des humanitären Völkerrechts in den bewaffneten Konflikten der Gegenwart, Baden-Baden 2007, S. 167 ff.; R. Wolfrum/C. Philipp, a.a.O. (Fn. 17), passim. 24 D. Zechmeister, a.a.O. (Fn. 23), S. 169. 25 Entscheidung des US Supreme Court vom 28. Juni 2004, 542 U.S. 504 (2004). 26 Entscheidung des US Supreme Court vom 29. Juni 2006, 548 U.S. 557 (2006).
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2.2.5 Militärische Ziele Die unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten Da eines der Hauptanliegen des humanitären Völkerrechts der Schutz der Zivilisten und der zivil genutzten Gebäude ist, ist es für unsere Untersuchung zentral, wie im asymmetrischen Konflikt die im Einsatz befindlichen Zivilisten zu legitimen Zielen werden können. Der Schutzverlust ist im Gewohnheitsrecht und in den Art. 51 Abs. 3 ZP I und Art. 13 Abs. 3 ZP II verankert. Danach genießen Zivilisten Schutz, „sofern und solange sie nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen“. Das IKRK hat hierzu gemeinsam mit dem TMC Asser Institut von 2003 bis 2008 fünf Expertenrunden veranstaltet; das Ergebnis wurde unlängst veröffentlicht.27 Feindseligkeit und unmittelbare Teilnahme In Abwesenheit einer von der Staatenpraxis akzeptierten Definition werden in der Literatur unter „Feindseligkeiten“ und „unmittelbare Teilnahme“ in der Regel Kriegsakte herausgestellt, die als solche Schäden hervorrufen.28 Das israelische Oberste Gericht zieht einen funktionalen Ansatz vor, wonach Zivilisten Funktionen von Kombattanten ausfüllen müssten.29 „Sofern und solange“ Von entscheidender Bedeutung ist das zeitliche Element, kann der Zivilist doch nur, „sofern und solange“ er unmittelbar an Feindseligkeiten teilnimmt, seinen Schutz verlieren.30 Hierzu werden in der Literatur im Wesentlichen drei Ansätze vertreten. Der Einzelaktsansatz (sogenannte „specific acts approach“) legt den Verlustbeginn auf den Moment der konkreten Teilnahmehandlung fest.31 Der zweite Ansatz des sogenannten qualifizierten Abstandnehmens („affirmative disengagement approach“) verlangt zur Wiederaufnahme des Schutzes eine objektiv vom Gegner 27
International Committee of Red Cross, Interpretative Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law, Geneva Mai 2009. 28 D. von Devivere, Unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten, in: Kritische Justiz (2008), S. 24, 36; J.-M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, a.a.O. (Fn.18), S. 22. Für eine möglichst enge Kausalverbindung: N. Melzer, Targeted Killing under the International Normative Paradigms of Law Enforcement and Hostilities, Oxford 2008, S. 28. 29 Isreali Supreme Court, Entscheidung HCJ 769/02 vom 13. Dezember 2007, Public Committee Against Torture v. Israel, International Legal Materials 46 (2007), S. 375. Der Entscheidungstext ist auf der Seite des Gerichts abrufbar unter: http://elyon1.court.gov.il/Files_ENG/02/690/007/ a34/02007690.a34.pdf (am 16. März 2009). 30 Vgl. Art. 13 Abs. 3 des Zusatzprotokolls II für Zivilisten im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. 31 N. Melzer, Summary Report, Third Expert Meeting on the Notion of Direct Participation in Hostilities, 2005, http://www.icrc.org/Web/eng/siteengo.nsf/htmlall/participation-hostilities-ihl311205/$File/Direct_participation_in_hostilities_2005_eng.pdf, S. 59 Fn. 8.
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wahrnehmbare Loslösung.32 Der sogenannte Mitgliedschaftsansatz („membership approach“) knüpft den Verlust an die gesamte Dauer der Mitgliedschaft in einer Gruppierung.33 Im Ergebnis hat sich noch keine eindeutige Auffassung durchgesetzt, wiewohl in der IKRK-Interpretation dem Mitgliedschaftsansatz wohl die meisten Sympathien zukommen. Das Urteil des israelischen Obersten Gerichtshofs aus dem Jahre 2006 zur Frage der gezielten Tötungen durch Israel zeichnet sich durch starken Fallbezug aus, der zwischen dem qualifizierten Abstandnehmen und dem Mitgliedschaftsansatz schwankt.34 Der Mitgliedschaftsansatz will den Drehtüreffekt, also die Möglichkeit des schnellen Wechsels vom Kämpfenden zum Zivilisten und umgekehrt,35 für die Dauer der Mitgliedschaft suspendieren, aber er lehnt sich zu weitgehend an die Parallele für den Kombattanten an.36 Wenn allein die Mitgliedschaft bereits zu einer Bekämpfung führen sollte, könnte dies nämlich über die in Art. 51 Abs. 3 ZP I gemeinte unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten hinausgehen. Der Ansatz des qualifizierten Abstandnehmens hingegen, der auf die Reaktion beim Gegner abstellt,37 erweist sich als in der Praxis schwer handhabbar. Nicht jeder Zivilist mag aus Furcht vor Sanktionen sich öffentlich von seinen Vortaten distanzieren. Deshalb scheint der Einzelaktsansatz am ehesten geeignet, Handlungen im Sinne einer direkten Teilnahme zu bezeichnen. Gegen diesen Ansatz wird man den kritisierten „Drehtüreffekt“ nicht wirklich ins Feld führen können. Zutreffend wird nämlich betont, dass für die akute militärische Bedrohung es einen Unterschied mache, ob jemand aktiv in Kampfhandlungen verwickelt oder aber Zivilist im Schläferstatus sei. Gegen Schläfer müsse nicht mit militärischen Maßnahmen reagiert werden, sondern es reiche hier die administrative Internierung und Strafverfolgung.38 Private Militärunternehmen Private Militärunternehmen sind zunehmend in asymmetrischen Konflikten aktiv, wie etwa das Beispiel von Sierra Leone zeigt. Firmen sind in unterschiedlichen Bereichen wie Kommunikation, Logistik und Beratung, im bewaffneten Objekt- und 32
Beschreibung bei N. Melzer, ebd., S. 59 Fn. 9; kritisch D. von Devivere, a.a.O. (Fn. 28), S. 44. 33 D. von Devivere, a.a.O. (Fn. 28) S. 44, m.w.N. 34 Israeli Supreme Court, Entscheidung HCJ 769/02, a.a.O. (Fn. 29), Abs. 39. 35 Kritisch dazu M. Schmitt, „Direct Participation in Hostilities“ and 21st Century Armed Conflict, in: H. Fischer u.a. (Hrsg.), Krisensicherung und Humanitärer Schutz. FS Dieter Fleck, Berlin 2004, S. 505, 509 f. 36 S. Oeter, Das militärische Vorgehen gegenüber bewaffneten Widerstandskämpfern in besetzten Gebieten und internen Konflikten, in: A. Fischer-Lescano/H.-P. Gasser/T. Marauhn (Hrsg.), Frieden in Freiheit, Festschrift für Michael Bothe, Baden-Baden 2008, S. 503, 509. 37 Siehe D. von Devivere, a.a.O. (Fn. 28), S. 40. 38 So zutreffend S. Oeter, a.a.O. (Fn. 36), S. 509; Siehe auch Y. Sandoz/C. Swinarski/B. Zimmermann, Commentary on the Additional Protocols, Genf 1987, Rn. 1944.
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Personenschutz und sogar in militärischen Kampfeinsätzen aktiv.39 Sie sind in den seltensten Fällen Söldner nach Art. 47 ZP I und auch nicht in die Streitkräfte im Sinne echter Kombattanten gemäß Art. 4 A Nr. 1 und 3 GA III integriert. Erwägenswert ist eine Stellung nach Art. 4 A Nr. 4 und 5 GA III als Begleitpersonal der Streitkräfte. Dabei ist aus der Gegenüberstellung zum Art. 51 Abs. 3 ZP I gefolgert worden, dass die in Art. 4 A Nr. 4 angesprochenen Tätigkeiten nur solche unterhalb der Schwelle der unmittelbaren Teilnahme an Feindseligkeiten sein könnten, die für den Zivilisten ja regelmäßig gerade nicht den Kriegsgefangenstatus nach sich ziehe.40 Die meisten Angehörigen privater Militärunternehmen wären deshalb geschützte Zivilisten, die gemäß Art. 51 Abs. 3 ZP I bei unmittelbarer Teilnahme an den Feindseligkeiten nach den soeben beschriebenen Kriterien ihres Schutzstatus verlustig gehen können. Wegen der allgemein anerkannten wachsenden Bedeutung privater Militärunternehmen im bewaffneten Konflikt wurde ein von nunmehr 34 Staaten akzeptiertes, rechtlich unverbindliches Dokument von Montreux vom 17.9.2008 über „Gute Praktiken von Staaten im Umgang mit privaten Militärunternehmen“41 verfasst. Das Dokument empfiehlt nationale Regelungen, unter anderem die Notwendigkeit einer Erlaubnispflicht und die Regelung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der entsprechenden Regierungsoffiziellen. Der Deutsche Bundestag hat auf Initiative der Regierungsfraktionen in der abgelaufenen Legislaturperiode festgestellt, dass alles daran gesetzt werde, rechtlich verbindliche Regeln für das Agieren privater Militärunternehmen zu schaffen.42 Selbstmordattentate und menschliche Schutzschilde Auch Selbstmordattentate sind eine im asymmetrischen Konflikt oft eingesetzte Technik, womit die militärisch unterlegene Seite etwa in Afghanistan oder im Irak vorgeht. Werden solche Selbstmordattentate von Kombattanten durchgeführt, sind sie per se nicht völkerrechtswidrig.43 Sie sind aber dann unrechtmäßig, weil heimtückisch nach Art. 37 ZP I, wenn sie von Kombattanten ohne Uniform durchgeführt werden. 39
Siehe die Kategorisierung bei G. Kümmel, Die Privatisierung der Sicherheit, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 12 (2005), S. 146 ff. 40 So insbesondere E.-C. Gillard, Business Goes War: Private Military/Security Companies and International Humanitarian Law, in: International Review of the Red Cross 88 (2006), S. 525, 539. 41 Montreux Document on Pertinent International Legal Obligations and Good Practices for States Related to Operations of Private Military and Security Companies during Armed Conflict of 17 September 2008, in: UNGA Doc. A/63/467 und UNSC Doc. S/2008/636 vom 6. Oktober 2008. Außerdem wurde eine Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates verabschiedet, Recommendation 1858 (2009) vom 29. Januar 2009. 42 Antrag vom 12. November 2008, „Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen kontrollieren“, BT-Drs. 16/10846, leicht abgeändert durch Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses, BT-Drs. 16/12479 vom 26. März 2009. 43 Siehe M. Schmitt, Asymmetrical Warfare and International Humanitarian Law, in: V. Epping/ W. Heintschel v. Heinegg, (Hrsg.), International Humanitarian Law Facing New Challenges, FS K. Ipsen, Berlin 2006, S. 32 mit Verweis auf die japanischen Kamikaze-Flieger.
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Der häufigere Fall ist freilich, dass Zivilisten entsprechende Selbstmordattentate durchführen. Sie haben in diesem Falle direkt an den Feindseligkeiten teilgenommen und entsprechend Art. 51 Abs. 3 des ZP I ihren Schutz verloren, und können damit auch legitimes Ziel werden.44 Zudem kann auch das Handeln als menschliches Schutzschild unter dem Aspekt der Teilnahme an Feindseligkeiten betrachtet werden. Teilweise wird die Auffassung vertreten, das freiwillige Agieren als menschliches Schutzschild – nach humanitärem Völkerrecht durch Art. 51 Abs. 7, Abs. 8 ZP I verbotenes Verhalten – sei schon deshalb nicht als eine unmittelbare Teilnahme an Feindseligkeiten anzusehen, weil diese Handlungen kein direktes Risiko für die gegnerischen Kräfte darstellten.45 Indes übersieht diese Auffassung, dass mit den menschlichen Schutzschilden versucht wird, das militärische Objekt zu verteidigen. Seitens des Zivilisten kann deshalb kein Zweifel daran bestehen, dass er dieses Verhalten als direkte Teilnahme an Feindseligkeiten begreift.46 Solche Zivilisten werden damit zum legitimen Ziel, so dass sie sich im konfliktvölkerrechtlichen Sinne kaum noch als Schutzschild eignen.47 Gebäude Die urbanen Konflikte, die in gewisser Weise typisch sind für asymmetrische Konflikte, machen auch vor Gebäuden nicht halt. Hier ist interessant, dass zunehmend die gebrauchsmäßige gegenüber der widmungsmäßigen Zielbestimmung der Gebäude an Bedeutung gewinnt.48 Die Zweifelsvermutung des Art. 52 Abs. 3 ZP I zwingt denjenigen, der konkrete militärische Nutzung behauptet, diese konkrete Nutzung darzulegen und zu beweisen. Die Darlegungspflicht zeigt, dass die konkrete Benutzung gegenüber dem widmungsmäßigen Gebrauch immer noch als Ausnahme angesehen wird. Dies hat im jüngsten Gaza-Konflikt eine gewisse Rolle gespielt, wo Israel behauptete, die Zerstörung des Hauptquartiers des UN-Flüchtlingshilfswerks sei durch Beschuss daraus veranlasst gewesen.49
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Siehe zum Ganzen, Y. Dinstein, Ius in Bello Issues Arising in the Hostilities in Iraq in 2003, in: Israel Yearbook on Human Rights 34 (2004), S. 1, 4-5, 32; Siehe auch J. Haas, Voluntary Human Shields: Status and Protection under International Humanitarian Law, in: R. Arnold/P.-A. Hildbrand (Hrsg.), International Humanitarian Law and the 21st Century’s Conflicts: Changes and Challenges, Lausanne 2005, S. 191, 200. 45 Human Rights Watch, Briefing Paper, International Humanitarian Law Issues in a Potential War in Iraq, 2003, http://www.hrw.org/sites/default/files/reports/Iraq%20IHL%20formatted.pdf. 46 Ebenso M. Schmitt, a.a.O. (Fn. 43), S. 27, 28. 47 So zutreffend M. Schmitt, a.a.O. (Fn. 43), S. 28. 48 Unklar hierzu Y. Sandoz/C. Swinarski/B. Zimmermann, a.a.O. (Fn. 38), Rn. 2022. 49 Am 12. Februar 2009 nahm ein dreiköpfiger Ermittlungsausschuss seine Arbeit auf, der vom UN-Generalsekretär zur Aufklärung der Umstände von Sach- und Personenschaden an UN-Gebäuden und -Personal während des jüngsten Gaza-Konflikts beauftragt wurde, vgl. Pressemitteilung des Generalsekretärs vom 12. Februar 2009, Un Doc. SG/SM/12099.
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2.2.6 Erlaubte und unerlaubte Methoden Heimtücke Bei allen Selbstmordattentaten von nicht uniformierten Kombattanten liegt der Tatbestand des Einschleichens in das Vertrauen und damit der Tatbestand der Heimtücke gemäß Art. 37 Abs. 1 lit. c) ZP I vor.50 Heimtückische Methoden werden damit in der Regel vom asymmetrisch unterlegenen Gegner angewendet, weil versucht wird, aus der Schwäche trotzdem einen Vorteil zu ziehen. Insofern ist interessant und fraglich, ob diese Maßstäbe auch dann anzulegen sind, wenn die eigentlich überlegene staatliche Seite sich heimtückischer Methoden bedient. Diese Frage tauchte etwa auf, als in Kolumbien im Jahre 2008 die kolumbianisch-französische Politikerin Ingrid Betancourt und andere Gefangene mittels heimtückischer Methoden – unter anderem durch die falsche Verwendung des Rotkreuzzeichens – aus der Gefangenschaft der kolumbianischen Guerillaorganisation FARC befreit wurde. Dieses Ereignis zeigt, dass asymmetrische Konflikte staatliche Konfliktbeteiligte sogar zu begrenzten Regelverstößen nötigen können, um einem lange anhaltenden Unrechtszustand abzuhelfen.51 Militärische Notwendigkeit Die Grundsätze der militärischen Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit stehen zudem im asymmetrischen Konflikt unter Druck.52 Weil viele asymmetrisch unterlegene Gegner, zumal mit terroristischem Hintergrund, eher einen „ideellen“ denn militärischen Vorteil anstreben, besteht bereits eine Abwertung des Grundsatzes der militärischen Notwendigkeit. Zudem verschärft sich in asymmetrischen Konflikten das bekannte Problem sogenannter dualer Ziele. Im jüngsten Gaza-Konflikt Anfang 2009 dienten die bombardierten Liefertunnel zwischen Gaza und Ägypten einerseits angesichts der Blockade des Gaza-Streifens als zivile Nachschubwege, andererseits auch – was von Israel geltend gemacht wurde – als Nachschubwege für militärisches Material. Die militärische Notwendigkeit im Sinne eines eindeutigen militärischen Vorteils ist zu bejahen. Indes fehlte es an einer parallelen militärischen Infrastruktur, so dass die hauptsächliche duale Nutzung ziviler Objekte durch den asymmetrisch Schwachen vorbestimmt war. Dort, wo nur duale Ziele vorhanden sind, wird also 50
Zur völkergewohnheitsrechtlichen Verankerung des Grundsatzes siehe J.-M. Henckaerts/L. Doswald-Beck, a.a.O. (Fn. 18), S. 224. 51 J. Dehn, Permissible Perfidy, in: Journal of International Criminal Justice 6 (2008), S. 627, 639, spricht von einer nicht-strafbaren („non-criminal“) Verletzung des Heimtückeverbots. 52 Artikel 14 des Lieber Code lautet: „Military necessity, as understood by modern civilized nations, consists in the necessity of those measures which are indispensable for securing the ends of the war, and which are lawful according to the modern law and usages of war”, abgedruckt in: D. Schindler/J. Toman, The Laws of Armed Conflicts, Dordrecht 1988, S. 3-23.
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die zerstörungsbeschränkende Wirkung der militärischen Notwendigkeit in Frage gestellt, weshalb es nunmehr entscheidend auf die Verhältnismäßigkeit ankommt. Stellten die Liefertunnel aufgrund der Absperrung des Gazastreifens die einzig verbliebenen Warenversorgungswege dar, dann ist ihre Zerstörung als unverhältnismäßig zu bezeichnen, weil nämlich dann die Unterversorgung der Bevölkerung außer Verhältnis zu jedem erreichbaren militärischen Vorteil stand. Nur eine gleichzeitige Öffnung von Grenzübergängen hätte wohl diese Folgen für die Zivilbevölkerung beseitigt. Damit wird aber deutlich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sich als das operativ entscheidende Korrektiv für den Grundsatz der militärischen Notwendigkeit erweist. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Zudem kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine besonders hohe Bedeutung zu. Er ist indes ebenfalls in asymmetrischen Konfliktlagen nicht mehr unangefochten. Im Libanon-Konflikt im Jahr 2006 etwa zerstörte Israel in Siedlungsgebieten untergebrachte Raketenstellungen der Hisbollah im Libanon unter Inkaufnahme ziviler Opfer.53 Dabei war der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in seiner Wirkweise dadurch behindert, dass die Hisbollah durch Rechtsverstoß Zivilisten als Schutzschilde missbraucht hatte. Das humanitäre Völkerrecht unterstellt den Zivilistenschutz jedoch nicht der Reziprozität, so dass der Beschuss also unverhältnismäßig „in Beziehung zum militärischen Vorteil der Zerstörung“ war. Damit wurde eine Partei (Israel) zur Anwendung unverhältnismäßiger Methoden unter Inkaufnahme großer ziviler Verluste bei der Bombardierung von in Wohngegenden stationierten Geschützen genötigt. Die israelische Regierung berief sich dabei auf die systematische Verletzung des Unterscheidungsprinzips durch die Hisbollah. Mit anderen Worten rechtfertigte Israel sein unverhältnismäßiges unterschiedsloses Vorgehen gegen Zivilisten mit dem vorherigen Rechtsverstoß der Hisbollah, so dass im Ergebnis statt der Gewalt einschränkenden Wirkung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sogar eine Gewalteskalation zu konstatieren war. Daran zeigt sich, dass beide soeben behandelten Grundsätze im asymmetrischen Konflikt nicht zu der ihnen zugewiesenen Begrenzungsfunktion der Gewalt führen. Dafür sind vor allem sinkende Reziprozitätserwartungen symptomatisch. Wenn die Konfliktparteien den Eindruck haben, sie würden mit ihrer Beschränkung auf das militärisch Notwendige beziehungsweise Verhältnismäßige nicht ein ebensolches Verhalten auf der anderen Seite hervorrufen, sinkt sofort der eigene Anreiz, dies zu tun.
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Schilderung bei R. Geiß, Asymmetric Conflict Structures, in: International Review of the Red Cross 88 (2006), S. 757, 766; vgl. auch A. Zimmermann, „The Second Lebanon War: Jus ad Bellum, Jus in Bello and the Issue of Proportionality”, in: Max Planck Yearbook of United Nation Law 11 (2007), S. 99-141.
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2.3 Anwendbarkeit, modifizierende Interpretation, Notwendigkeit einer Reform 2.3.1 Zusammenfassung Insofern wird aus der vorstehenden Analyse deutlich, dass das bestehende humanitäre Völkerrecht in vielen Fällen nicht adäquat auf die Herausforderungen asymmetrischer Konflikte reagiert. Diese Schwäche basiert im Wesentlichen auf dem offenkundigen Nichtvorliegen einer Reziprozitätslage zwischen den Konfliktparteien. Dies gilt für die Frage der Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts auf asymmetrische Konflikte, die Unterscheidung zwischen internationalem und nichtinternationalem bewaffneten Konflikt, die Anwendung des Unterscheidungsprinzips, die Statusfrage für die Kriegsgefangenen sowie die Anwendbarkeit der Gewalt begrenzenden Prinzipien der militärischen Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit. Abschließend soll deshalb die Frage gestellt werden, welche rechtlichen Maßnahmen in dieser Situation vorzuschlagen sind. 2.3.2 Änderungsvorschläge Änderungsvorschläge zielen zum Teil54 darauf, Terrornetzwerken eine partielle Völkerrechtssubjektivität zuzuerkennen, um damit Symmetrie zu den Staaten herzustellen. Andererseits soll der Unterschied zwischen der Behandlung des internationalen und des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts durch einheitlichere Rechtsregeln eingeebnet werden.55 Auch wird zum Teil ein IV. Zusatzprotokoll angeregt, welches in klarstellender Funktion den Status privater Akteure nach Gefangennahme und den Zeitpunkt für deren Freilassung etc. klären soll.56 Solchen Vorschlägen wird allerdings mit einer gewissen Skepsis zu begegnen sein. Es spricht nichts dafür, dass die Einebnung der rechtlichen Behandlung nichtinternationaler von internationalen bewaffneten Konflikten eine entsprechende Unterstützung der Staatengemeinschaft bekommen würde. Dies hat etwa das Verhalten der Staaten bei der Verabschiedung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) noch im Jahre 1998 und auch die Rechtsprechung des International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) und des International Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR) in der Staatenpraxis gezeigt.57 Zudem ist daran zu erinnern, dass in der internationalen Gemeinschaft eine generelle Akzep54
L. Mammen, Völkerrechtliche Stellung von internationalen Terrororganisationen, Baden-Baden 2008, passim. 55 D. Zechmeister, a.a.O (Fn. 23), passim. 56 Siehe G. Rose, Updating International Humanitarian Law and the Laws of Armed Conflict for the Wars of the 21st Century, Defender, Australian Defence Association, Spring 2007, S. 21. 57 Skeptisch auch C. Schaller, a.a.O. (Fn. 21), S. 29.
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tanz einer Organisation, die wie Al-Qaida radikal selbst jede Einordnung in die Rechtsordnung verneint, als absolut unrealistisch anzusehen ist. Insofern wird eher pragmatisch vorzugehen sein, indem das bestehende humanitäre Völkerrecht im Wege modifizierender Auslegung den Konflikten angepasst wird. Dabei ist zunächst an die Vereinheitlichung der Anwendungskriterien der als entscheidend herausgestellten Norm des Art. 51 Abs. 3 ZP I zu denken. Das ist bislang in nur Grundorientierung liefernden Ansätzen vom Roten Kreuz und dem TMC Asser Institut versucht worden. Auf dem Weg, der hier mit der vereinheitlichenden Interpretation der Anwendungskriterien angefangen wurde, ist entsprechend energisch fortzuschreiten. Zudem ließe sich an die Erweiterung der lex lata auf private Militärunternehmen denken. In enger Anlehnung an die im Dokument von Montreux58 festgehaltenen Regeln könnte es angesichts der von der Staatengemeinschaft anerkannten wachsenden Bedeutung der privaten Militärunternehmen im bewaffneten Konflikt, wenn nicht zur Verabschiedung eines IV. Zusatzprotokolls, so doch jedenfalls zu einem „Code of Conduct“ kommen. Als Vorbild entsprechender nationaler Regelungen, die bislang nur Südafrika als Gesetz erlassen hat, 59 sollten als Mindestinhalte dieses „Code of Conduct“ eine staatliche Erlaubnispflicht, Grundpflichten nach humanitärem Völkerrecht und die strafrechtliche Verantwortlichkeit umfassen. Zudem könnte in enger Anlehnung an die bei Art. 51 Abs. 3 ZP I zu klärenden Probleme auch die legitime Zieleigenschaft der Angehörigen privater Militärunternehmen beziehungsweise die Möglichkeit der Einordnung als Begleitpersonal im Sinne des Art. 4 A Nr. 4 GA III zum Inhalt eines solchen „Code of Conduct“ gehören.60 Auch wäre eine Klarstellung – gegebenenfalls in einer Resolution der UN-Generalversammlung – zur im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt erforderlichen Gewaltschwelle gerade auch für die Fälle terroristischer Bedrohung begrüßenswert. Zur Stärkung der Durchsetzungsmechanismen könnte eine alte Institution des humanitären Völkerrechts wiederbelebt und gestärkt werden: die Internationale Ermittlungskommission. Hierbei handelt es sich um eine gemäß Art. 90 des ZP I eingerichtete Kommission, die die Einhaltung des Genfer Rechts gewährleisten soll und deren Zuständigkeit auch durch eine allgemeine Anerkennungserklärung begründet werden kann. Der Kommission sollte die ihr zugewiesene Funktion des „fact-finding“ im bewaffneten internationalen wie nicht-internationalen Konflikt beispielsweise auch aus eigener Initiative möglich sein.61 58
Vgl. Montreux Document, a.a.O. (Fn. 41), S. 7. Act on the Prohibition of Mercenary Activities and Regulation of Certain Activities in Country of Armed Conflict Act 2006, Government Gazette Nr 509 of 16 November 2007, N° 30477. 60 Für Ansätze der Befassung des Deutschen Bundestages mit diesen Problemen siehe etwa die Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der FDP, BT Drs. 15/5824 vom 24. Juni 2005 sowie Antrag der Fraktionen der CDU/CSU/SPD vom 12. November 2008, BT Drs. 16/10646. 61 Siehe hierzu die weiterführenden Vorschläge von F. Kalshoven, The International Humanitarian Fact-Finding Commission: A Sleeping Beauty?, in: Humanitäres Völkerrecht - Informations59
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Schließlich ist an die Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit zu denken. Von den Möglichkeiten nach Art. 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts als völkerrechtliches Verbrechen zur Anklage zu bringen, ist schon wegen der wichtigen Präzedenzwirkung solcher internationaler Rechtsprechung Gebrauch zu machen.62 Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Möglichkeit, der Anklagebehörde des IStGH entsprechende Fälle zur Prüfung zu überweisen. Die nationalen Gerichte etwa in Gestalt des US Supreme Court oder des Obersten Gerichts Israels haben bis jetzt schon zur Festigung bestimmter Grundsätze des humanitären Völkerrechts durch ihre Rechtsprechung beigetragen. Zudem wären kooperative Ansätze zur Stärkung des Bindungswillens für nichtstaatliche Gewaltakteure63 sowie Amnestien nach nationalem Recht für solche, die keine Kriegsverbrechen begangen haben, denkbar, wie dies Art. 6 Abs. 5 ZP II vorsieht.64 Schließlich sollte die flächendeckende Einführung des Weltrechtsprinzips in den nationalen Strafrechten zur internationalen Verfolgbarkeit von schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts führen.65
3 Perspektiven Das humanitäre Völkerrecht macht, wie gezeigt, derzeit eine auch für andere Bereiche des Völkerrechts kennzeichnende Entwicklung durch. Für das Zeitalter der Globalisierung typisch gibt es in zunehmendem Maße private Akteure, die, im transnationalen Rahmen handelnd, die Reichweite nationaler Normordnungen übersteigen.66 Völkerrechtlich relevant sind nicht mehr nur das Individuum als schriften 15 (2002), S. 213; L. Zegveld, in: Comment, Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 15 (2002), S. 216 ff. sowie J. Kleffer/L. Zegveld, Establishing an Individual Complaints Procedure for Violations of International Humanitarian Law, in: Yearbook of International Humanitarian Law 3 (2000), S. 384 ff. 62 Siehe etwa J. Wieczoreck, Unrechtmäßige Kombattanten und humanitäres Völkerrecht, Berlin 2005, S. 295; zur Möglichkeit individueller Klagen bei schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts: D. Zechmeister, a.a.O. (Fn. 23), S. 225. 63 M. Sassolì, Transnational Armed Groups and International Humanitarian Law, HPCR Occasional Papers, 2006, S. 1, 28. 64 M. Sassolì, a.a.O. (Fn. 63), S. 31. 65 In der US-Gesetzgebung ist die Zuständigkeit der US-Gerichte auf Angehörige der US-amerikanischen Streitkräfte und Staatsangehörige beschränkt. Zu möglichen Defiziten im deutschen Recht vgl. B. Kuschnik, Deutscher Sand im völkerstrafrechtlichen Getriebe? – eine Betrachtung des § 153f StPO im Lichte des in § 1 VStGB festgeschriebenen Weltrechtsprinzips, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 21 (2008), S. 230-237. 66 Siehe etwa S. Hobe, Die Zukunft des Völkerrechts im Zeitalter der Globalisierung, in: Archiv des Völkerrechts 37 (1999), S. 253 ff.; J. Delbrück, Structural Changes in the International System and its Legal Order, in: Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 11 (2001), S. 1 ff.
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Völkerrechtssubjekt, sondern auch multinationale Unternehmen und im Ausland Investierende sowie Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Nunmehr wird deutlich, dass auch der bewaffnete Konflikt eine gewisse „Privatisierungstendenz“ insofern durchmacht, als es zunehmend nicht mehr nur ausschließlich zwischenstaatliche Konflikte sind, die das internationale Geschehen bestimmen. Trifft die Prognose zu, dass in konsequenter Fortsetzung einer immer stärkeren Zurückdrängung des rein zwischenstaatlichen Konflikts, unter anderem durch das Handeln privater Militärunternehmen, die Bedeutung von staatlichen Armeen im Zeitalter der Globalisierung im bewaffneten Konflikt weiter abnehmen wird, dann stellt sich natürlich noch einmal in besonderer Schärfe die Frage nach der Zukunft des bestehenden humanitären Völkerrechts. Für den Augenblick fällt das Resümee dergestalt aus, dass eher einer interpretativen Weiterentwicklung des bestehenden humanitären Völkerrechts gegenüber umfassender Reform der Vorzug gegeben werden sollte. Doch wird dies angesichts der absehbaren Entwicklungstendenzen ausreichen? Oder liegt die Beantwortung dieser Fragen möglicherweise doch etwa in so radikalen Konsequenzen wie der einer Zuerkennung von partieller Völkerrechtssubjektivität etwa an Terrornetzwerke? Ich glaube, dass dies nicht der Fall ist, einfach weil es völlig illusionär ist, Terrornetzwerken, die international vollständig geächtet sind, weil sie sich beharrlich weigern, sich an der Elle des Rechts messen zu lassen, irgendeine Form von Völkerrechtssubjektivität zukommen zu lassen. Vielmehr ist der Ansatz, das internationale Weltpolizeirecht zu verstärken, deutlich zu bevorzugen. Das „Four Policemen“Konzept Franklin D. Roosevelts bei der Schaffung der UN-Charta hat die Vereinten Nationen entstehen lassen, die zur Sanktionierung von Friedensbrüchen in Form des Weltsicherheitsrats berufen sind. Dies sollte nun auch gegen extrem asymmetrisch handelnde Akteure fruchtbar gemacht werden. Wenn klar wird, dass die Verteidigung jedes Staates auch im Ausland stattfinden kann, indem etwa internationale – terroristische – Akteure bereits, bevor sie ihren eigentlichen Aktionsraum erreichen, bekämpft werden, spricht dies dafür, asymmetrische Konfliktstrukturen bereits an der Wurzel zu bekämpfen. Betrachtet man das Völkerrecht als den Versuch, seine Verletzung durch internationale Sanktionierung im Wesentlichen durch Weltpolizeiaktionen in Form des Weltsicherheitsrates durchzusetzen, so sollte dies auch bei so radikaler Herausforderung wie der asymmetrischen Herausforderung durch den internationalen Terrorismus moderner Prägung der Fall sein. Die Sanktionierung fängt im jeweiligen Heimatland an, wo entsprechende Akteure zu identifizieren sind. Kann diese Aufgabe bewältigt werden, ist zu erwarten, dass auch auf längere Sicht das humanitäre Völkerrecht seine bisher bewiesene Funktionalität im Wege der Anpassung des bestehenden Rechts an die extremen Herausforderungen asymmetrischer Konflikte wird erweisen können, um auch weiter, wie bisher, seine gewaltbegrenzende Funktion im bewaffneten Konflikt wahrzunehmen. Es kann und es sollte zudem seine besondere Anpassungsfähigkeit beweisen, wenn Probleme wie die Teilnahme von Zivilpersonen und das Handeln der privaten Militärunternehmen gelöst werden können.
Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Eindämmung des Krieges – eine unmögliche Aufgabe? Michael Bothe
1 Einführung Das Thema scheint das völkerrechtliche Gewaltverbot in Frage zu stellen. Gilt es oder gilt es nicht? Die Antwort ist offenbar ein klares „vielleicht“. Man kann die Frage formulieren, ob eine auf ein unmögliches Ergebnis gerichtete Norm auch nichtig ist. Weil sie diese Frage angesichts der allenthalben ausgeübten militärischen Gewalt bejahten, haben auch prominente Völkerrechtler das Gewaltverbot immer mal tot gesagt. Aber Totgesagte leben bekanntlich länger. Kann das Völkerrecht den Einsatz militärischer Gewalt verhindern? Offensichtlich nicht, oder jedenfalls nicht ausnahmslos. Aber dass eine Norm das durch sie delegitimierte Ergebnis ausnahmslos verhindert, ist nicht die Voraussetzung der Gültigkeit einer Norm. Darum gilt es, genauer hinzuschauen, ob und wie die (behauptete, bestrittene) Norm des Gewaltverbots eigentlich wirkt. Diese Analyse möchte ich in sechs Schritten durchführen: • • • • • •
Entstehung des völkerrechtlichen Gewaltverbots; Reaktionen der politischen Praxis auf das Gewaltverbot; Fortgeltung des Gewaltverbots; Rahmenbedingungen des Gewaltverbots; Mechanismen der Durchsetzung des Gewaltverbots – international; Mechanismen der Durchsetzung des Gewaltverbots – national.
Aus Gründen der Authentizität entspricht der Beitrag weitgehend dem Vortrag von Michael Bothe vom 18. September 2009 bei der wissenschaftlichen Tagung „60 Jahre Genfer Abkommen – eine Rechtsordnung vor neuen Herausforderungen, 20 Jahre IFHV – Forschungen auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts“ im Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht in Bochum M. Bothe () J. W. Goethe Universität, Fachbereich Rechtswissenschaft Theodor Heuss Str. 6, 64625 Bensheim, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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In einer Schlussfolgerung werden aufgrund dieser Analyse gegenwärtige Bedrohungen der Geltung und Wirksamkeit des Gewaltverbots benannt.
2 Entstehung des völkerrechtlichen Gewaltverbots In der Neuzeit verschwand die Lehre vom gerechten Krieg aus dem positiven Völkerrecht. Das Völkerrecht war hinsichtlich des Krieges, anders als für die sogenannten „measures short of war“, indifferent, das heißt, es enthielt kein rechtliches Unwerturteil mehr. Der Krieg war in der Tat eine rechtlich und gesellschaftlich akzeptierte Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Ein neues Kriegsverbot entstand erst als Reaktion auf die Leiden des Ersten Weltkriegs, die die öffentliche Meinung skandalisierten. Diese „colère publique“ (um im Anschluss an Luhmann einen Begriff der Rechtssoziologie zu verwenden) wurde Anstoß für eine Rechtsfortbildung. Durch den Briand-Kellogg-Pakt von 1928 verzichteten die Staaten auf den Krieg als Mittel der Politik. Wie tief diese politisch-ethische Umbewertung des Krieges im öffentlichen Bewusstsein verankert war, zeigt die Tatsache, dass der Pakt in kürzester Zeit praktisch von allen damaligen Staaten ratifiziert wurde. Das war auch die Grundlage dafür, dass das, was bis vor kurzem noch erlaubt war, nun zum Gegenstand eines strafrechtlichen Unwerturteils wurde, nämlich in der Strafverfolgung von Verbrechen gegen den Frieden durch die Internationalen Militärtribunale von Nürnberg und Tokyo. Der Zweite Weltkrieg verstärkte in der Tat diese „colère publique“ – und das schlägt sich in der Charta der Vereinten Nationen nieder. Sie will die Welt vor der „Geißel des Krieges“ bewahren. Auf der nationalen Ebene trifft das auch auf einige Nachkriegsverfassungen zu (französische Verfassung 1946, Präambel; italienische Verfassung 1947, Art. 11). Artikel 26 Grundgesetz (GG) ist gleichfalls Ausdruck dieser „colère publique“, und zwar einer deutschen „colère“ – die Bestimmung war kein alliierter Octroi. Ob das bei dem berühmten Art. 9 der japanischen Verfassung von 1946 genauso ist, ist unklar.
C. Bilfinger, Vollendete Tatsache und Völkerrecht, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 15 (1953/54), S. 453 ff., 463 ff.; B. Fassbender, Die Gegenwartskrise des völkerrechtlichen Gewaltverbots vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung, in: Europäische Grundrechte Zeitschrift 31 (2004), S. 241 ff.; R. Kolb, Ius Contra Bellum, Basel 2003, S. 19 ff. C. von Clausewitz, Vom Kriege, 1823, Neudruck 4. Aufl., München 2003, S. 44. Dazu A. Fischer-Lescano, Globalverfassung, Weilerswist 2005, S. 68 f. Artikel 6 Abs. 2 (a) der Charta des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg, 82 UNTS 279: „Crimes against peace: namely, planning, preparation, initiation or waging a war of aggression, or a war in violation of international treaties, agreements or assurances, or participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment of any of the foregoing.“ In Nürnberg wurden zwölf der 21 Angeklagten wegen Verbrechen gegen den Frieden verurteilt (nicht alle zum Tode), in Tokyo wegen desselben Vorwurfs sechs zum Tode. Nachweise bei M. Bothe, in: R. Dolzer/K. Vogel/K. Graßhoff (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 26, A.I.1 und I.2.
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3 Reaktionen der politischen Praxis auf das Gewaltverbot Die Reaktion der staatlichen Praxis auf diese völkerrechtliche Entwicklung war nun nicht etwa, dass kriegerische Gewalt unterblieb. Vielmehr entwickelt sich ein neues Phänomen: Der Einsatz militärischer Gewalt wird immer mehr von einer offiziell erklärten rechtlichen Rechtfertigung begleitet. Diese wird regelmäßige und notwendige Begleiterscheinung militärischer Gewalt. Ein frühes Beispiel ist die japanische Erklärung seiner massiven und blutigen Intervention in China in den 1930er Jahren als „China Incident“. Damit wird diese aus dem Kriegsverbot des Briand-KelloggPakts hinausdefiniert: kein Krieg und darum nicht verboten. Politik mit Semantik. Selbst Hitler hielt bei der Eröffnung des Zweiten Weltkriegs die Berufung auf Selbstverteidigung zumindest für nützlich: „Ab 5 Uhr wird zurück geschossen.“ Die UN-Charta versuchte die Rechtfertigungsstrategie, die mit dem Kriegsbegriff spielte, auszuschließen, indem sie das Kriegsverbot zum Gewaltverbot verallgemeinerte. Die publizierten Rechtfertigungsstrategien als Begleitmusik der Gewaltausübung sind bis heute geblieben und haben sich verstetigt. Man beruft sich auf Selbstverteidigung (Operation Enduring Freedom in Afghanistan, diverse Aktionen Israels gegen seine Nachbarn), auf ein Mandat des Sicherheitsrats (USA und Großbritannien im Irak), auf Einladung (die klassische sowjetische Rechtfertigungsstrategie seit der Annexion der baltischen Staaten, danach etwa USA in Grenada, jetzt Afghanistan10). Ob die Tatsachen, die da behauptet werden, immer der Wahrheit entsprechen und wieweit die jeweils eingesetzten rechtlichen Argumente professionellen Standards entsprechen, ist eine andere Frage. Das kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden.11 Es besteht jedenfalls offenbar ein politisches Bedürfnis nach rechtlicher Rechtfertigung von Gewalt. Dieses Bedürfnis ist genauso eine Tatsache wie die Gewalt selbst. Auf der anderen Seite bleiben solche Rechtfertigungen fast nie unwidersprochen. Es entsteht ein rechtlicher Diskurs der Legitimierung und Delegitimierung von militärischer Gewalt. In diesem Diskurs werden, das ist der wesentliche Punkt, die politischen Kosten militärischer Gewalt erhöht oder gemindert. Das geht zum Teil soweit, dass im Zusammenhang mit der Ausübung militärischer Gewalt regelrechte Informationskriege geführt werden.12
K. Bünger, China, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. I, Berlin 1960, S. 276 ff., 280. M. Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 8. Abschnitt, 4. Aufl., Berlin 2007, Rn. 19. In den vielen Fällen machte Israel ein Recht auf präventive Selbstverteidigung geltend. Eingehend M. Bothe, Der Irak-Krieg und das völkerrechtliche Gewaltverbot, in: Archiv des Völkerrechts 41 (2003), S. 255 ff. 10 M. Bothe, a.a.O. (Fn. 7), Rn. 23. 11 Vgl. dazu H.-J. Heintze, „Neue Kriege“ und ihre völkerrechtlichen Rechtfertigungen, in: ders./ A. Fath-Lihic (Hrsg.), Kriegsbegründungen, Berlin 2008, S. 59 ff. 12 Insbesondere der Irak-Krieg hat propagandistische Nebenkriegsschauplätze zur Folge gehabt, teilweise dokumentiert in K. Ambos/J. Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, Berlin 2004.
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4 Fortgeltung des Gewaltverbots Dieser Diskurs ist wichtig für die Geltung des Gewaltverbots. Ein Blick auf die einschlägige Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) belegt dies. Das Gericht hat in drei großen Entscheidungen zu Geltung und Tragweite des Gewaltverbots Stellung genommen: Nicaragua/USA 1986,13 Iran/USA (Platforms case) 200314 und DRC/Uganda 200515. In der ersten dieser Entscheidungen problematisiert der IGH die Geltung des Gewaltverbots. Diese Passage des Urteils ist berühmt, sie sei hier dennoch im Wortlaut in Erinnerung gerufen: „It is not to be expected that in the practice of States the application of the rules in question should have been perfect, in the sense that States should have refrained, with complete consistency, from the use of force or from intervention into each other’s internal affairs. The Court does not consider that, for a rule to be established as customary, the corresponding practice must be in absolutely rigorous conformity with the rule. In order to deduce the existence of customary rules, the Court deems it sufficient that the conduct of States should, in general, be consistent with such rules, and that instances of State conduct inconsistent with a given rule should generally have been treated as breaches of that rule, not as indications of the recognition of a new rule. If a State acts in a way prima facie incompatible with a recognized rule, but defends its conduct by appealing to exceptions or justifications contained within the rule itself, then whether or not the State’s conduct is in fact justifiable on that basis, the significance of that attitude is to confirm rather than to weaken the rule.“16 Der IGH misst, mit anderen Worten, den Erklärungen, die die Gewaltausübung begleiten, ganz entscheidende Bedeutung zu. Dieser Diskurs ist komplex. Er besteht nicht nur in den offiziellen Äußerungen der staatlichen Bürokratien, was man so Staatenpraxis nennt. Zu ihm gehört die Gerichtsbarkeit, vor allem, aber nicht allein der IGH selbst. Beteiligt ist aber auch das, was man die öffentliche Meinung nennt, nationale und internationale Organisationen der Zivilgesellschaft. Angesichts seiner Bedeutung ist die Erhaltung dieses Diskurses im Sinne einer Überzeugung von der Geltung und von der gesellschaftlichen Unverzichtbarkeit des Gewaltverbots sehr wesentlich. Darauf wird am Ende zurück zu kommen sein. Zur Wirksamkeit dieses Diskurses gehören aber auch gewisse Rahmenbedingungen, vor allem, dass seine Glaubwürdigkeit durch Mechanismen der Rechtsdurchsetzung unterfüttert wird.
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IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. USA) (Merits), 27. Juni 1986, I.C.J. Reports 1986, S. 14. 14 IGH, Oil Platforms (Iran v. USA)(Merits), 6. November 2003, I.C.J. Reports 1986, S. 161. 15 IGH, Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of Congo v. Uganda), 19. Dezember 2005. 16 IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. USA) (Merits), a.a.O. (Fn. 13), para. 186.
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5 Rahmenbedingungen des Gewaltverbots Die Durchsetzung des Völkerrechts erfolgt in einem Mehrebenen-System. Deshalb ist der Blick auf nationale und auf internationale Mechanismen zu werfen. Zunächst sollen letztere genauer betrachtet werden. Die UN-Charta geht davon aus, dass zum Funktionieren eines Gewaltverbots Rahmenbedingungen gehören: • Mechanismen des „peaceful change“; • Mechanismen der Konfliktverhütung und friedlichen Streitbeilegung; • ein System der kollektiven Sicherheit, das das Opfer rechtswidriger Gewaltanwendung schützt. Diese Rahmenbedingungen des Gewaltverbots sind in der Praxis seit 1945 nur sehr mühsam auf den Weg gebracht worden. Aus ihrem Nichtfunktionieren ist ja auch immer mal wieder auf Einschränkungen der Geltung des Gewaltverbots geschlossen worden. Die Situation hat sich aber insofern gebessert. „Peaceful change“: Die Technik der Lösung neuer Probleme durch Schaffen internationaler Regelungen hat sich enorm entwickelt. Im Rahmen der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen, aber auch neben diesen, hat sich eine Vielfalt von Institutionen gebildet, in denen ein Konsens zur Lösung internationaler Probleme gesucht und gefunden wird. Er wird in Regelwerken und neuen Institutionen umgesetzt.17 Allerdings ist es keineswegs so, dass dieser riesige Apparat wirklich alle konfliktträchtigen Probleme einer Lösung zuführt. Der Grundkonflikt des Gegensatzes zwischen Arm und Reich ist ungelöst. Der bescheidene Ansatz zu einer Umverteilung, nämlich eine Verpflichtung der Industriestaaten, 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen, blieb unerfüllt. Die UN-Millennium-Erklärung18 sucht die Erfüllung von Verpflichtungen, die dem Kampf gegen die Armut dienen, mit einer Art Erfüllungskontrolle zu verstärken. Deren Erfolg bleibt abzuwarten. Offenkundig stößt die Fähigkeit des Systems zu „peaceful change“ hier an ihre Grenzen. Auch der Streit um immer knapper werdende natürliche Ressourcen droht sich zu verschärfen.19 Konfliktverhütung: Sie ist schon in Art. 33 UN-Charta angelegt, wenn dort von Streitigkeiten die Rede ist, deren Fortdauer geeignet ist, die Wahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit zu gefährden. Diese Situation fordert eine Konfliktverhütung in einem relativ späten Stadium, aber jedenfalls bevor ein bewaffneter Konflikt unmittelbar droht. Auch die Aufgaben des Generalsekretärs nach Art. 99 UN-Charta umfassen die Konfliktverhütung in diesem Sinne, wenn er die Aufgabe hat, die Aufmerksamkeit des Sicherheitsrats auf solche Situationen zu len17
W. G. Grewe, Peaceful Change, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law 3 (1997), S. 971 ff. 18 UN Doc. A/RES/55/2 v. 8. September 2000. 19 I. Bannon/P. Collier, Natural Resources and Violent Conflict: Options and Actions, Washington, D.C., 2003.
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ken. Dennoch kann man mit der Etablierung der Konfliktverhütung in der internationalen Praxis nicht zufrieden sein. Das immer wieder geforderte Frühwarnsystem gibt es nicht. Im Rahmen des Sekretariats bestehen Bemühungen, Konfliktfrüherkennung systematisch zu unternehmen. Sie befinden sich aber, soweit ersichtlich, noch in den Anfängen.
6 Mechanismen der Durchsetzung des Gewaltverbots – international Friedliche Streitbeilegung und das System kollektiver Sicherheit sind einerseits Rahmenbedingungen des Gewaltverbots, andererseits können sie im konkreten Fall seiner Durchsetzung dienen. Friedliche Streitbeilegung ist eine Alternative zur gewaltsamen Interessendurchsetzung.20 In einem konkreten Fall können aber Verfahren der friedlichen Streitbeilegung, insbesondere Gerichtsbarkeit und Schiedsgerichtsbarkeit, auch der Durchsetzung des Gewaltverbots dienen. Das System kollektiver Sicherheit soll durch UN-Maßnahmen gegen Staaten, die den Frieden gefährden oder brechen, Frieden und Sicherheit schützen oder wieder herstellen und die Opfer schützen. In einem konkreten Fall können solche Maßnahmen auch der Durchsetzung des Gewaltverbots dienen. Ein wichtiges Verfahren der friedlichen Streitbeilegung ist der genannte Prozess vor Gerichten oder Schiedsgerichten. Die richterliche Streitbeilegung, in den 1960er und 1970er Jahren in einer tiefen Krise, blüht heute. Das gilt in gewissem Umfang auch für die Durchsetzung des Gewaltverbots, wie schon die drei zitierten Entscheidungen des IGH zeigen. Allerdings ist insoweit eine vorsichtige Betrachtung geboten. Beim ersten der drei genannten Fälle hat der IGH zwar eine Verletzung des Gewaltverbots durch die Vereinigten Staaten festgestellt; nach einem Regierungswechsel in Nicaragua wurde die Klage jedoch zurückgenommen, bevor über den Schadenersatz entschieden wurde. Im zweiten, dem Platforms case, hat der IGH nur in einem obiter dictum die Verletzung des Gewaltverbots festgestellt, nicht jedoch im Urteilstenor.21 Erst der Fall DRC/Uganda ist wirklich durchentschieden. Ein Versuch Jugoslawiens, die NATO-Angriffe während der Kosovo-Krise 1999 vor den IGH zu bringen, ist aus Zuständigkeitsgründen gescheitert.22 Große Konfliktkomplexe (Irak, Afghanistan, Nahost) sind 20
Siehe statt aller: W. Wengler, Das völkerrechtliche Gewaltverbot, Berlin 1967, S. 26, der die friedliche Streitbeilegung sogar als „stillschweigende Existenzberechtigung für das Gewaltverbot” bezeichnet. 21 Das lag an der besonderen Prozesskonstellation. Der IGH war nur für die Anwendung und Auslegung des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages zwischen USA und Iran zuständig. Dieser Vertrag war durch die an sich rechtswidrige Zerstörung der iranischen Anlagen nicht verletzt, da ein Handel, der durch diese Zerstörung hätte beeinträchtigt werden können, zum Zeitpunkt der Schädigungshandlung nicht bestand, para. 94-98 des Urteils. 22 Serbien-Montenegro klagte gegen die USA, Großbritannien, Spanien, Portugal, Niederlande, Italien, Deutschland, Frankreich, Kanada und Belgien. In den Verfahren auf Erlass einer einstwei-
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überhaupt nicht vor den IGH gebracht worden, der Jugoslawien-Konflikt zu Beginn der 1990er Jahre nicht wegen der Verletzung des Gewaltverbots, allerdings wegen des Völkermords.23 Gerade die Jugoslawien-Fälle weisen auf ein wesentliches Problem hin: Die Möglichkeiten des IGH zur Rechtsdurchsetzung gerade beim Gewaltverbot leiden am Zuständigkeitsproblem. In diesen Fällen ist er weitgehend auf die Zuständigkeit nach Maßgabe der Fakultativ-Klausel des Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut angewiesen. Das Netz dieser Erklärungen ist zu weitmaschig gewoben, auch aufgrund der Tatsache, dass nicht wenige Erklärungen (auch die der Bundesrepublik) durch Vorbehalte hinsichtlich militärischer Maßnahmen eingeschränkt sind.24 Da bleibt eine Agenda des Gewalteinsatzes, den staatliche Bürokratien lieber nicht rechtlich kontrolliert wissen möchten. Die Möglichkeiten der Durchsetzung des Gewaltverbots durch die internationale Gerichtsbarkeit bleiben lückenhaft. Zur kollektiven Sicherheit: Der Sicherheitsrat hat nach der UN-Charta eigentlich gut nutzbare Kompetenzen, dem Gewaltverbot Achtung zu verschaffen. Allein das Gesamtbild der diesbezüglichen Tätigkeit des Sicherheitsrats ist eher gemischt. Der Sicherheitsrat ist ein politisches Organ, keine Institution der Rechtsanwendung. In diesem politischen Organ, und mittels desselben, verfolgen die fünf ständigen Mitglieder, die „P5“, ihre eigene Agenda. Mit einer strikten Verpflichtung auf das Völkerrecht und mit der Durchsetzung des Völkerrechts hat das wenig zu tun. Der Sicherheitsrat hat nach dem Ende des Ost-Westkonflikts 1990 an Handlungsfähigkeit gewonnen.25 Das sogenannte „automatische Veto“ ist weggefallen.26 Aber eine Tatsache bleibt: Gegen die Interessen eines ständigen Ratsmitgliedes kann der Rat nicht entscheiden. Ein erheblicher Teil der militärischen Gewalt in den heutigen Konflikten wird aber von einem oder mehreren „P5“ und/oder guten Freunden derselben ausgeübt. Das schlägt sich in der Veto-Praxis der letzten knapp 20 Jahre
ligen Anordnung ging es um die Frage, ob der IGH prima facie zuständig war. Das verneinte er. Soweit die Zuständigkeit auf die Völkermord-Konvention gestützt war, hielt er das Vorliegen einer Verletzung für zu fernliegend, vgl. IGH, Legality of the Use of Force (Serbia and Montenegro v. Belgium), Beschluss vom 2. Juni 1999, para. 41. Soweit sie auf die Fakultativklausel gestützt war, stellt er darauf ab, dass die Erklärung Serbiens erst nach Beginn der Bomben-Kampagne abgegeben war, eine Rückwirkung ausdrücklich ausgeschlossen war und die Streitigkeit in Wahrheit vor dem Datum der Erklärung entstanden war, ebd. para. 29. Diese Entscheidung wurde im Wesentlichen in der endgültigen Entscheidung über die Zuständigkeit bestätigt, vgl. IGH, Legality of the Use of Force (Serbia and Montenegro v. Belgium), Urteil vom 15. Dezember 2004. 23 1993 verklagte Bosnien-Herzegowina Serbien-Montenegro wegen Verletzung der VölkermordKonvention, IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide ( Bosnia and Herzegowina v. Serbia and Montenegro), Urteil vom 26. Februar 2007. 24 M. Bothe/E. Klein, Bericht einer Studiengruppe zur Anerkennung der Gerichtsbarkeit des IGH gemäß Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 67 (2007), S. 825-841, 836 ff. 25 E. Klein, in: W. Graf Vitzthum, a.a.O. (Fn. 7), 4. Abschnitt, Rn. 8. 26 M. Bothe, a.a.O. (Fn 7), Rn. 35.
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nieder (sie betrifft vor allem Israel27) oder darin, dass über bestimmte Situationen überhaupt nicht abgestimmt wird.28 Der Sicherheitsrat ist aber jedenfalls eines: ein Forum des Diskurses, der militärische Gewalt begleitet. Es gibt kaum eine Situation der Gewaltausübung, die dort nicht diskutiert wird. Ausnahmen bestätigen die Regel: Wenn die Diskussion überhaupt nicht in die politische Agenda eines der „P5“ passt und die Interessen anderer der „P5“ nicht wesentlich tangiert sind, kommt auch die Nichtbefassung vor.29 Mit anderen Worten: Wo der Sicherheitsrat eingreift oder nicht, wird nach Kriterien entschieden, die mit „rule of law“ und dem dazu gehörenden Gleichheitssatz wenig zu tun haben. Zudem liebt der Sicherheitsrat das rechtliche Halbdunkel. Er vermeidet „überflüssige“ rechtliche Debatten. In den letzten Jahrzehnten pflegt er wenigstens, anders als früher, klar zu sagen, ob er nach Kap. VII UN-Charta handelt. Dann zieht er es allerdings vor, eine Situation als „Friedensbedrohung“ zu bezeichnen, ohne einen rechtswidrig handelnden Verursacher zu benennen. Kaum wird einmal ein „Friedensbruch“ festgestellt,30 und bislang nur zweimal das Vorliegen eines Akts der Aggression.31 Unter dem Blickwinkel der Rechtsdurchsetzung gesehen ist all das eher unbefriedigend. Schließlich noch ein Wort zur Internationalen Strafgerichtsbarkeit: Das Schaffen eines neuen Tatbestands des „Verbrechens gegen den Frieden“ am Ende des Zweiten Weltkriegs32 war einer der großen Fortschritte zur Durchsetzung des Gewaltverbots. Allerdings konnte man über Jahrzehnte nicht sagen, ob dies ein wichtiger Präzedenzfall oder eine „Eintagsfliege“ war. Die vom Sicherheitsrat geschaffene neue internationale Strafgerichtsbarkeit (Jugoslawien, Ruanda) ist nicht für Verletzungen des Gewaltverbots zuständig. Erst das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs greift Nürnberg und Tokyo mit dem „Crime of Aggression“ wieder auf. Allerdings wird diese Bestimmung erst wirksam, wenn im Wege der 27
In der Zeit von 1990 bis 2009 sind 23 Resolutionen an einem Veto gescheitert, davon 13 an einem amerikanischen. Von diesen betrafen zwölf den Nahen Osten, Report of the Open-ended Working Group on the Question of Equitable Representation on and Increase in the Membership of the Security Council and other matters related to the Security Council, UN Doc. A/58/47 v. 1. Januar 2004, S. 13 ff. sowie die jährlichen Tätigkeitsübersichten des Sicherheitsrates. 28 In der Kosovo-Krise ist ein Resolutionsentwurf, der den NATO-Staaten eine Ermächtigung zum Eingreifen gegeben hätte, im Sicherheitsrat nie eingebracht worden, vgl. C. Greenwood, International Law and the NATO Intervention in Kosovo, in: International and Comparative Law Quarterly 49 (2000), S. 929. 29 Am 20. August 1998 bombardierten die USA eine Chemie-Fabrik im Sudan (die angeblich chemische Waffen herstellen sollte) als Reaktion auf die einige Tage zuvor erfolgten Angriffe auf die amerikanischen Botschaften in Daressalam und Nairobi. Der Sudan verlangte eine Debatte des Sicherheitsrats, die nie stattfand. 30 Nachweise der Praxis bei: J.A. Frowein/N. Krisch, Art. 39 Rn. 16, in: B. Simma (Hrsg.), Charter of the United Nations, 2. Aufl., München 2002. 31 J. A. Frowein/N. Krisch, a.a.O. (Fn. 30), Rn. 13. 32 Charta des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg (8. August 1945) und des Internationalen Militärgerichtshofs für den Fernen Osten (19. Januar 1946), abgedruckt in: Y. Dinstein/M. Tabory, War Crimes in International Law, Den Haag 1996, S. 379 ff. und S. 399 ff.
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Vertragsänderung eine Definition der Aggression eingefügt wird (Art. 5 Abs. 2 des IStGH-Statuts). An dieser wird gearbeitet. Das politische Problem besteht darin, dass auch Staaten, die an sich dem Gericht freundlich gesonnen sind, in der jüngeren Vergangenheit militärische Gewalt in Fällen eingesetzt haben, in denen das nicht über alle rechtlichen Zweifel erhaben war, und solches wohl auch in Zukunft nicht ausschließen wollen. Da gibt es eine Agenda einseitiger Gewaltausübung, die staatliche Bürokratien eher nicht strafrechtlichen Sanktionen unterstellt sehen möchten. Diese Agenda in einer Definition wasserdicht abzusichern, wäre wohl rechtstechnisch unmöglich und politisch für manche anderen Staaten inakzeptabel. Da bleibt nur die „Lösung“, sich entweder überhaupt nicht zu einigen oder eine Notbremse einzubauen, die man der öffentlichen Meinung als das notwendige kleinere Übel verkaufen kann. Wie unter diesem Gesichtspunkt der „Kompromiss“ zu sehen ist, der auf der Revisionskonferenz des römischen Statuts im Juni 2010 gefunden wurde, ist streitig. Da der Kompromiss zum Teil in einer Verschiebung des Problems besteht, bleibt die weitere Entwicklung abzuwarten.33 Internationale Mechanismen der Durchsetzung des Gewaltverbots: Ja, es gibt sie. Aber sie sind weit entfernt davon, lückenlos zu sein.
7 Mechanismen der Durchsetzung des Gewaltverbots – national Die geschilderten Defizite machen die zweite Ebene der Durchsetzung des Gewaltverbots, nämlich die nationale, umso wichtiger. Entscheidungsträger, die über Einsatz oder Nichteinsatz militärischer Gewalt entscheiden, sind in nationale Verfassungssysteme eingebunden. In dem Maße, in dem die nationale Verfassungsordnung diese Organe auf die Beachtung des Völkerrechts und insbesondere des Gewaltverbots verpflichtet und diese Verpflichtung auch praktisch durchsetzt (was zwei verschiedene Dinge sind!), besteht eine ganz entscheidende Möglichkeit der Durchsetzung des Gewaltverbots.34 Zum einen geht es bei den einschlägigen Verfassungsnormen um Gewaltenteilung, das heißt um Verfahrenskontrollen für den Einsatz militärischer Gewalt, insbesondere um parlamentarische Zustimmungsrechte. In dieser Form der Beschränkung militärischer Gewalt ist die Bundesrepublik führend und wird als vorbildlich empfunden.35 Eine Stärkung der Rechte des Parlaments bei Militäreinsätzen hat es aber auch in Ländern gegeben, in denen man so etwas lange nicht für möglich 33
Durch Resolution RC/Res.6 vom 11.6.2010 wurden in das Römische Statut Art. 8bis, 15bis und 15ter eingefügt, die einmal eine Definition der Aggression, zum andern Vorschriften über die Ausü bung der Jurisdiktion, ferner eine Ergänzung der „Elements of Crime“ sowie „Understandings“ enthalten. 34 M. Bothe/A. Fischer-Lescano, The Dimensions of Domestic Constitutional and Statutory Limits on the Use of Military Force, in: M. Bothe/M. E. O’Connell/N. Ronzitti (Hrsg.), Redefining Sovereignty. The Use of Force After the Cold War, Ardsley 2005, S. 195 ff. 35 M. Bothe/A. Fischer-Lescano, a.a.O. (Fn. 34), S. 204.
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gehalten hätte, etwa bei der jüngsten Verfassungsreform in Frankreich.36 Diese Form der Kontrolle ist wichtig, auch wenn sie in Europa meist in einem Kontext stattfindet, in dem die Regierung eine sichere parlamentarische Mehrheit besitzt. In den Vereinigten Staaten ist die Möglichkeit des Präsidenten, sich auf eine parlamentarische Mehrheit zu verlassen, wesentlich geringer. Die Frage, über welche Militäreinsätze der Präsident der Vereinigten Staaten in eigener Kompetenz entscheiden kann, und welche der Zustimmung des Kongresses bedürfen, ist immer noch rechtlich offen.37 Dennoch haben amerikanische Präsidenten, auch ohne Anerkennung einer entsprechenden Pflicht, vor Militäreinsätzen immer wieder um parlamentarische Zustimmung nachgesucht. Die parlamentarische Zustimmung vermittelt öffentliche Debatte und damit demokratisches Feedback, ohne dass die Regierung in einer Demokratie nicht auskommen möchte oder sollte. Vor überhöhten Erwartungen an diese Kontrolle sei allerdings gewarnt: Soweit ersichtlich hat es weder in der Bundesrepublik noch anderswo einen Fall gegeben, in dem eine von der Regierung gewollte Militäraktion mangels parlamentarischer Zustimmung unterblieben wäre. Neben dieser verfahrensmäßigen Schranke gibt es auch materielle innerstaatliche Grenzen militärischer Gewaltausübung. Das sind einmal Verfassungsnormen, die die innerstaatliche Geltung des Völkerrechts anordnen (in Deutschland Art. 25 GG), zum anderen Normen, die den Staat zu Frieden verpflichten, in Deutschland also Art. 26 GG, wie gesagt auch ein Ergebnis der mehrfach beschworenen colère publique. Die Frage ist, wie sich diese Verfassungsnormen praktisch auswirken. Da gibt es Probleme. Was die Bindung an das Völkerrecht angeht, aufgrund von Normen wie Art. 25 GG, so ist das erste Problem, inwieweit das völkerrechtliche Gewaltverbot als „selfexecuting“, das heißt als der unmittelbaren innerstaatlichen Anwendung fähig angesehen wird, was Voraussetzung seiner Anwendung durch die innerstaatlichen Gerichte ist. Zum anderen scheint es an wirklich geeigneten Verfahrenskonstellationen zu mangeln. Eine nennenswerte Gerichtspraxis, die mit der Begründung, eine Militäraktion sei ein Verstoß gegen das völkerrechtliche Gewaltverbot, einer Regierung Einhalt geboten hätte, gibt es nirgends. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat es für unzulässig angesehen, im Wege des Organstreits gegen eine Militäraktion zu klagen, der das Parlament zugestimmt hat – selbst wenn geltend gemacht wird, dass diese Zustimmung materiell verfassungs- und völkerrechtswidrig war.38 Ob gegen einen Zustimmungsbeschluss die abstrakte Normenkontrolle zulässig wäre, ist eine noch offene Frage.39 36
Artikel 35 der Verfassung in der Fassung der Loi constitutionnelle 2008-724 vom 23. Juli 2008. 37 Dies ist der Streit um die sog. War Powers Resolution, die Militäreinsätze ab einer bestimmten Schwelle der Zustimmung des Kongresses unterwirft, deren Verfassungsmäßigkeit aber bislang von keinem Präsidenten akzeptiert und nicht höchstrichterlich entschieden worden ist, M. Bothe/ A. Fischer-Lescano, a.a.O. (Fn. 34), S. 202 ff. 38 BVerfGE 100, 266. 39 In diesem Sinne C. Fischer/A. Fischer-Lescano, Enduring Freedom für Entsendebeschlüsse? Völker- und verfassungsrechtliche Probleme der deutschen Beteiligung an Maßnahmen gegen den
Das völkerrechtliche Gewaltverbot und die Eindämmung des Krieges
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Das Verfassungsgebot des Art. 26 GG geht dahin, die Vorbereitung eines Angriffskrieges und andere Handlungen, die das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören geeignet sind, unter Strafe zu stellen. Das Gesetz zur Erfüllung dieses Auftrags (§ 80 Strafgesetzbuch (StGB)) erging mit erheblicher Verspätung (1968) und bleibt zudem deutlich hinter dem Verfassungsgebot zurück. Die Strafnorm handelt nur vom Angriffskrieg, nicht von anderen Handlungen, und auch nur von einem Angriffskrieg, an dem die Bundesrepublik beteiligt sein würde. Das ist keine hinreichende Erfüllung des Verfassungsgebots.40 Bei der praktischen Anwendung der Strafnorm geht der Generalbundesanwalt noch weiter in der Verengung des Tatbestands. Bei einer Strafanzeige gegen die Mitglieder der Bundesregierung wegen der Unterstützung des Irakkrieges rechtfertigt er die Nichteinleitung eines Verfahrens mit einer rechtlichen Begründung, die den Tatbestand noch weiter einengt, mit dem deutlichen Ziel, das deutsche Strafrecht nicht mit Debatten über völkerrechtliche Streitfragen zu belasten.41 Es hat auch nicht an Versuchen gefehlt, Art. 26 GG wenigstens als Inzidentfrage in unterschiedlichen Zusammenhängen zu operationalisieren, etwa dadurch, dass geltend gemacht wird, bestimmte Grundrechtsbeschränkungen seien als Verstoß gegen Art. 26 GG unzulässig. Dem haben sich die Gerichte, insbesondere das BVerfG, weitgehend verweigert.42 Die innerstaatliche gerichtliche Durchsetzung des völkerrechtlichen Gewaltverbots ist keine Erfolgsgeschichte. Offenbar sehen es die Gerichte, nicht nur in Deutschland, nicht als ihre Aufgabe an, Regierungspolitik in einem zentralen außenpolitischen Bereich, nämlich der Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte, aus rechtlichen Gründen in Zweifel zu ziehen. Es bildet sich hier (wenn nicht rechtlich, so doch faktisch) so etwas wie ein justizfreier Hoheitsraum. Das gilt nicht nur in Staaten, wo das durch rechtliche Konstruktionen wie „acte de gouvernement“, „political question-Doktrin“ oder Bindung der Gerichte an Rechtsauskünfte der Exekutive legitimiert ist. Es ist auch in Staaten wie der Bundesrepublik zu beobachten, wo solche Konstruktionen eigentlich nicht gelten. Über die politische Bewertung dieser Art von „judicial self-restraint“ kann man streiten. Man kann ihn begrüßen und sagen, dass die Gerichte in der Tat bei diesen sicherheitspolitischen Entscheidungen nichts verloren hätten. Dies sei die Stunde der Exekutive und allenfalls des Parlaments. Sieht man das Phänomen freilich in dem größeren Zusammenhang der Diskurse, die das völkerrechtliche Gewaltverbot am Leben erhalten, so ist hier eine Schwachstelle für die Geltung des Gewaltverbots zu konstatieren, die es mit einem gewissen Misstrauen zu beobachten gilt. internationalen Terrorismus, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 85 (2002), S. 113 ff., 140 f. 40 M. Bothe, Art. 26, a.a.O. (Fn. 5), B.II.1; G. Frank, in: AK-GG, Art. 26 Rn. 25 f.; C. D. Classen, in: W. Joecks/K. Miebach, Münchener Kommentar zum StGB, § 80 Rn. 10. 41 Presseerklärung vom 21. März 2003, in: K. Ambos/J. Arnold (Hrsg.), Der Irak-Krieg und das Völkerrecht, 2004, S. 173 ff. 42 Nachweise bei M. Bothe, a.a.O. (Fn. 5), A.III.3; eine Ausnahme ist BVerwG v. 21. Juni 2005, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 29 (2006), S. 211.
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8 Eine wirkmächtige heimliche Agenda: die vorbehaltene Option der Gewaltausübung Fassen wir zusammen: An vielen Stellen zeigt sich eine wirkmächtige politische Agenda. Die Option des Einsatzes militärischer Gewalt zu politischen Zielen vorzubehalten, ist in vielen Staaten Regierungspolitik. Deshalb haben Regierungen Probleme mit einem klaren Verbot, dessen Einhaltung in einer Weise überwacht wird, die sie nicht mehr in der Hand haben. Die Gerichte sehen es nicht als ihre Aufgabe an, diese Regierungspolitik rechtlich zu hinterfragen. Diese Agenda ist von der Bush-Administration in den Vereinigten Staaten in ehrlicher Weise offen gelegt worden.43 Theorien einer weit vor der unmittelbaren Bedrohung einsetzen den Verteidigung werden verbunden mit militärischen Theorien der „revolution in military affairs“ (RMA), die die eigene technologische Überlegenheit als problemlos kriegsentscheidend darstellen und mit dem leichten Sieg den Krieg gesellschaftlich wieder akzeptabel machen.44 Eine solche Politik jagt einer dreifachen Illusion nach: Krieg ohne eigene Verluste, Sieg durch technische Überlegenheit (der sich bei modernen asymmetrischen Konflikten als kaum möglich erweist) und wirksame Lösung schwerer politischer und gesellschaftlicher Probleme mittels Gewalt. Solche Diskurse legen die Hand an die Wurzel des völkerrechtlichen Gewaltverbots. Sie sind der Beginn eines Diskurses, der den Krieg wieder zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln machen könnte. Wenn ein solcher Diskurs die Oberhand erhält, wird das rechtliche Argument zur Beliebigkeit verkommen und schließlich das völkerrechtliche Gewaltverbot wirklich obsolet werden. Dem gilt es entgegen zu wirken, auch mit dem rechtlichen Argument, für das es in der Weltpolitik immer noch ein weites Publikum gibt. So können die politischen Kosten rechtswidriger militärischer Gewalt hoch gehalten werden. Das völkerrechtliche Gewaltverbot ist eine der großen kulturellen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts, geboren aus Blut und Tränen. Wenn das nicht vergessen wird, dann lassen sich auch Mittel und Wege finden, diesem Verbot immer neu Achtung zu verschaffen. Eine unmögliche Aufgabe? Da kann man nur mit dem alten „Heimwerker“-Slogan antworten: „Geht nicht, gibt’s nicht!“
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National Security Strategy, abrufbar unter: http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.pdf. RMA ist ein militärisches Konzept, in dem durch den Einsatz modernster Technologie, insbesondere Informationstechnologie, siegentscheidende Vorteile gegenüber dem Gegner erzielt werden bei gleichzeitiger Minimierung der eigenen Verluste, knappe Erläuterung in: http://www. armscontrol.de/themen/rma.htm. 44
Mehr Symmetrie ohne Gewaltverbot? Daniel-Erasmus Khan
1 Symmetrie „Revisited“ Im Alten Testament lesen wir von einem ungleichen und inzwischen sprichwörtlichen Kampf: David gegen Goliath. Goliath war nicht nur von mächtigem Körperwuchs, er war auch – so wird berichtet – entsprechend den damaligen Usancen zum Kampf gerüstet: Eherner Helm und Panzer zur Verteidigung, Schwert, Lanze und Wurfspieß zum Angriff. Auch David wollte sich zunächst in dieser Art rüsten, stellte dann aber fest: „Ich kann so nicht gehen, ich bin’s nicht gewohnt“ und stattdessen – so berichtet die Bibel weiter – „nahm er seinen Stab in die Hand und wählte fünf glatte Steine aus dem Bach und tat sie in die Hirtentasche, die ihm als Köcher diente, und nahm die Schleuder in die Hand und ging dem Goliath entgegen.“ Goliath, ein wenig irritiert ob seines „lächerlichen“ Gegners, beschimpfte diesen aufs Ärgste. David konterte die Schmährede so: „Du kommst zu mir mit Schwert, Lanze und Spieß, ich aber komme zu dir im Namen des HERRN Zebaoth (…) den du verhöhnt hast (…) Heute wird dich der HERR in meine Hand geben.“ So kämpfte denn jeder – völlig legitim – mit den Mitteln, die ihm jeweils zur Verfügung standen und die er für erfolgversprechend ansah. Das Ergebnis ist bekannt – und hat sich so in den fol-
Der Vortragsstil ist ganz überwiegend beibehalten und das Manuskript im Wesentlichen nur durch einen bescheidenen Fußnotenapparat ergänzt worden.
1. Samuel 17, 39/40 (Luther-Bibel 1984). 1. Samuel 17, 45 (Luther-Bibel 1984).
D.-E. Khan () Universität der Bundeswehr München, Werner-Heisenberg-Weg 39, 85577 Neubiberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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genden Jahrtausenden vielfach wiederholt: Auch der Schwache kann eine gewaltsame Auseinandersetzung gewinnen. Er muss nur die richtige Taktik anwenden. Weder damals noch später ist dieser Kampf jemals als „unfair“ empfunden worden – außer vielleicht von Goliath selbst, hätte er hierzu noch die Gelegenheit gehabt. Ganz im Gegenteil: Im kollektiven Gedächtnis unseres Zivilisationskreises nimmt der mythische David nach wie vor einen Ehrenplatz in der Heldengalerie ein: David war Identifikationsfigur im Kampf der Florentiner Signoria gegen die Medici und die Rezeption des Mythos vom kleinen David stellte ein zentrales propagandistisches Element im niederländischen Befreiungskampf dar. David und Goliath erscheinen so praktisch als Synonym für das Begriffspaar „Gut“ und „Böse“. Einen modernen David, der im Namen Gottes in den Krieg zieht und sich hierbei sehr unkonventioneller Mittel bedient, würden wir heute wohl als fundamentalistischen Terroristen diffamieren. Wie kommt das? Es kommt daher – und das ist meine Grundthese – dass das Recht, ausgehend vom sukzessiven Aufbau des staatlichen Gewaltmonopols in der Frühen Neuzeit, eines sodann auch theoretisch abgesicherten und erst im 19. Jahrhundert seine Vollendung findenden Staats- und Staatengesellschaftsmodells, heute nach wie vor nur eine ganz bestimmte Art der gewaltsamen Auseinandersetzung zu akzeptieren bereit ist, diejenige nämlich zwischen als „souverän“ definierten Staaten. Abweichungen von dieser „Normkriegführung“ zu tolerieren waren die Akteure des „Europäischen Staatskörpers“ letztlich nicht bereit und die zu einer Weltstaatengesellschaft angewachsene Gruppe privilegierter Akteure tut sich damit bis heute sowohl politisch
Berühmte Beispiele aus jüngerer Zeit bei A. Arreguín-Toft, How the Weak Win Wars: A Theory of Asymmetric Conflict, Cambridge 2005: Russland im Kaukasus 1830-1859, S. 48 ff.; Großbritannien im Oranje Freistaat und in Transvaal 1899-1902, S. 72 ff.; Italien in Äthiopien 1935-1940, S. 109 ff.; USA in Vietnam 1965-1973, S. 144; die Sowjetunion in Afghanistan 1979-1989, S. 169 ff.; die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und auch bei einigen aktuell andauernden Konflikten (z.B. Afghanistan) besteht insoweit zumindest eine realistische Möglichkeit, dass der nach gängigen Maßstäben militärisch Unterlegene hochgerüsteten Militärmächten erfolgreich die Stirn wird bieten können. Einzelheiten bei S. A. Nitsche, David gegen Goliath. Die Geschichte der Geschichten einer Geschichte – Zur fächerübergreifenden Rezeption einer biblischen Story, Münster 1998, insbes. S. 222 ff. und S. 270 ff. Vgl. auch H. Münkler, Goliath und David, in: ders. (Hrsg.), Odysseus und Kassandra. Politik im Mythos, Frankfurt/Main 1990, S. 25. „Natürlich ist David derjenige, dem unsere Sympathien gelten, mit dem wir uns identifizieren (…)“, ein Befund, der auch in der abendländischen Kunst vielfachen und eindrücklichen Ausdruck gefunden hat (Einzelnachw., ebd., S. 26 ff.). Zu diesem Prozess einer substanziellen Herrschaftsverdichtung auf einem bestimmten Raum – vielfach mit dem Begriffspaar „territoriale Souveränität“ umschrieben – vgl. nur m. Nachw. zu den zahlreichen Streitfragen: B. Marquardt, Universalgeschichte des Staates, Münster 2009, S. 173 ff. Terminologie bei J. J. Moser, Grundzüge des jetzt üblichen Europäischen Völkerrechts in Friedenszeiten, 2. Aufl. 1777, S. 15. Gerade auf dem Gebiet „Krieg und Frieden“ kann man eben wohl noch nicht von einem Abschied von der klassischen Vorstellung der internationalen Ordnung als Staatengesellschaft (im Sinne von F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, 1963 unveränderter Nachdruck der 8. Aufl., Darmstadt 1935) und einem Übergang zu einer auch normativ relevanten Welt- oder
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als auch hinsichtlich der normativen Akzeptanz sehr schwer. Als Chiffre hierfür hat in jüngerer Zeit das Begriffspaar „symmetrischer“ und „asymmetrischer“ Krieg Popularität erlangt. Tatsächlich beruhen die Schwierigkeiten, denen das Genfer Recht bei der Begrenzung der Folgen organisierter Gewaltanwendung zunehmend begegnet, nicht zuletzt auf der Existenz eben dieses Gegensatzpaares beziehungsweise der diesem zugrundeliegenden juristischen Wertungen. Das altgriechische συμμετρία ( symmetria) bedeutet „Ebenmaß“. Ohne Zweifel, der Begriff der Symmetrie gilt als ästhetisches Prinzip – er ist im allgemeinen Sprachgebrauch positiv belegt. Ganz anders damit die „Asymmetrie“: Sie ist Synonym für etwas Störendes, Irritierendes, Unerfreuliches, sie widerstrebt unserem ästhetischen, aber eben auch juristischen Empfinden: Im Verbraucherschutz- und Familienrecht ebenso wie auch im Völkerrecht. Nun mag es in Naturwissenschaft, Kunst und Kultur für das Vorliegen von „Symmetrie“ durchaus präzise, ja in gewisser Weise „a-priorische“ Kriterien geben;10 in den Interaktionen zwischen Individuen und menschlichen Verbänden existieren solche Kriterien hingegen nicht.11 Die Annahme eines „symmetrischen“ Verhältnisses ist hier schlichtweg Definitionssache, eine Frage also der Konvention – der Übereinkunft. Auch beim Recht, einem zentralen Element menschengemachStaatengemeinschaft sprechen (hierzu umfassend A. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, München 2001). In Deutschland insbesondere durch H. Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek 2002. Das Phänomen der „Asymmetrie“ ist natürlich nicht neu, sondern begleitet das Kriegsgeschehen vielmehr seit seinen Anfängen und ist etwa bereits von Sun Tzu im 6. Jh. v. Chr. in bis heute wirkungskräftiger Weise konzeptionalisiert worden: „All warfare is based on deception. When confronted with an enemy one should offer the enemy a bait to lure him; feign disorder and strike him. When he concentrates, prepare against him; where he is strong, avoid him” (The Art of War – Übers. S. B. Griffith 1971), S. 66 f.; hierzu T. Bauer, Sun Tzu und die asymmetrische Kriegsführung von heute, in: S. Buciak (Hrsg.), Asymmetrische Konflikte im Spiegel der Zeit, Berlin 2008, S. 101 ff. Hier auch Beiträge zu vielen weiteren einschlägigen Szenarien von den Geusen (Bimböse, S. 220 ff.) bis zu den Tamil Tigers (Sadaune/Trinn, S. 490 ff.). Vgl. hierzu eingehend nur S. Hobe, Der asymmetrische Krieg als Herausforderung der internationalen Ordnung (in diesem Band S. 69) sowie aus der Völkerrechtspraxis die jüngst vom IKRK auf der Grundlage eines sechs Jahre langen Expertenprozesses erstellten und herausgegebenen, in Einzelheiten aber bis zum Schluss umstritten gebliebenen „Interpretive Guidance on the Notion of Direct Participation in Hostilities under International Humanitarian Law“ (May 2009), die eine gerade in asymmetrischen Konflikten besonders virulente und von normativen Grauzonen geprägte Frage thematisiert. 10 In Geometrie, Architektur aber auch Handwerkskunst etwa bezeichnet Symmetrie die Eigenschaft, dass ein Objekt durch bestimmte Umwandlungen auf sich selbst abgebildet werden kann, also unverändert erscheint (sog. „Achsensymmetrie“). In einem ähnlichen, nicht ganz so strengen Sinne wird der Begriff in der Musik verwendet (z.B. die den Fugen J. S. Bachs zugrundeliegenden Konstruktionsprinzipien) und auch in der Malerei gibt es vergleichbare Strukturprinzipien (z.B. „Goldener Schnitt“). 11 Eine Ethik der Reziprozität, wie sie etwa in verschiedenen Varianten quer durch die Kulturkreise in der „Goldenen Regel“ (hierzu umfassend J. Wattles, The Golden Rule, Oxford 1996) ihren Ausdruck gefunden hat, ist als solche immer nur moralisches Desiderat geblieben, auch wenn ihr Grundgedanke – gerade im Humanitären Völkerrecht – im Wege eines voluntativen (Legislativ-)aktes immer wieder Eingang in das positive Recht gefunden hat.
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ter Symmetrievorstellung, kommt es insoweit natürlich jeweils entscheidend auf die Bezugsgröße an: Gewalt schafft Leid – ohne Unterschied: Wäre es damit nicht naheliegend, als „symmetrisch“ jede gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Individuen oder organisierten Verbänden anzusehen, die menschliches Leid oder erhebliche Sachschäden zu verursachen geeignet ist – vorbehaltlich möglicherweise eines näher zu bestimmenden Schwellenwerts? Das geltende Recht geht einen anderen Weg – und man kann die Rechtslage vielleicht wie folgt prägnant zusammenfassen: Ein „symmetrischer“ Krieg ist ein solcher, den die Charta der Vereinten Nationen trotz grundsätzlicher Ablehnung der Gewalt in den internationalen Beziehungen als einen regelungswürdigen Tatbestand ansieht. Ein „asymmetrischer“ Krieg hingegen ist ein solcher, dessen Existenz die UN-Charta schlichtweg ignoriert: Was nicht sein darf, kann nicht sein – jedenfalls nicht als Gegenstand einer völkerrechtlichen ius ad bellum-Regelung. In die erste Kategorie fallen bekanntlich Kriege zwischen Staaten, in die zweite alle anderen. Nolens volens knüpft auch das Genfer Recht von 194912 an diese Dichotomie an – und wagt mit den „Mindeststandards“ des gemeinsamen Art. 3 der vier Abkommen nur einen eher „schüchternen“ Ausflug auf eigentlich verbotenes Terrain.13
2 Das UN-Gewaltverbot: Eine heile juristische Welt? Lassen Sie mich im Folgenden einen vielleicht etwas ungewöhnlichen, dekonstruktivistischen Blick auf die skizzierten rechtlichen Rahmenbedingungen für die Anwendung des humanitären Völkerrechts werfen: Wenn wir „Recht“ ganz allgemein als die verbindliche Lebensordnung einer Gemeinschaft definieren und „Unrecht“ als die Verwerfung eben dieser Lebensordnung,14 dann gehört auf der Ebene der internationalen Beziehungen die Durchsetzung staatlicher Interessen mit dem Mittel der Gewalt sicher in die letztere Kategorie: Sie ist „Un-Recht“. Und so sieht es auch die UN-Charta: Mit dem „ius cogens“-Label geadelt,15 ist die Gewalt in 12
Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 vom über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781. 13 Deutlich intensiviert worden ist dieser Blick mit dem 2. Zusatzprotokoll von 1977 (BGBl. 1990 II, 1637), das allerdings sowohl hinsichtlich seiner geographischen Akzeptanz als auch seiner inhaltlichen Dichte nach wie vor weit von den in „symmetrischen Kriegen“ geltenden normativen Standards entfernt ist. 14 Diese sehr allgemeine Begriffsbildung erschöpft die möglichen und kontroversen Bedeutungsgehalte des Begriffs „Recht“ natürlich nicht. Vgl. hierzu nur R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., München 2003, S. 3 ff. 15 Umfassend S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, Berlin 1992.
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den zwischenstaatlichen Beziehungen geächtet (Art. 2 Ziff. 4). Selbstverteidigung, individuell oder kollektiv, bleibt den Staaten aber gestattet (Art. 51) und der UNSicherheitsrat ist explizit dazu aufgerufen, die organisierte Staatengemeinschaft gegen staatliche Aggressionen16 untereinander zu mobilisieren (Kap. VII). Leben wir insoweit also in einer heilen juristischen Welt – oder zumindest in einer Welt, die auf dem besten Wege der vollständigen Genesung ist? Es bleibt ein ungutes Gefühl. So richtig zufrieden sind wir mit dem doch eigentlich sehr erfreulichen Befund des positiven Rechts nicht und – da möchte ich vielleicht etwas vorgreifen – unsere Unzufriedenheit scheint in jüngerer Zeit sogar noch zu wachsen. Warum ist das so? Die beiden klassischen Erklärungsversuche eines Juristen für unser etwas diffuses Gefühl der Unzufriedenheit würden (alternativ oder kumulativ) etwa wie folgt lauten: Erstens, das einschlägige Rechtsregime ist nach wie vor lückenhaft und bedarf einer weiteren Perfektionierung. Zweitens, normativer Anspruch und Lebenswirklichkeit korrespondieren einfach nicht, oder – vielleicht etwas technischer – die Verhaltenssteuerung der Akteure durch das Mittel des Rechts funktioniert im Fall des Gewaltverbotes nicht zufriedenstellend: Sollens- und Seinsordnung fallen hier in besonderem Maße auseinander.17 Diese beiden klassischen Diskussionstopoi – normative Defizite einerseits und Defizite in der Rechtswirklichkeit andererseits – möchte ich hier nicht weiter entfalten. Hierzu ist bereits viel gesagt und geschrieben worden.
3 Wozu (noch) Gewaltverbot? Worum es mir hier und heute vielmehr geht, ist eine Frage, die zumeist unausgesprochen bleibt, weil sie in ihrer beunruhigenden Grundsätzlichkeit so gar nicht in unser festgefahrenes juristisches, aber auch ideologisches Weltbild passt. Dieses völkerrechtliche Weltbild sieht die fundamentalen Prinzipien des Chartarechts gewissermaßen als die normative Krone der Völkerrechtsordnung an und die in den Vereinten Nationen organisierte Staatengemeinschaft als den Vollstrecker eben dieser Ordnung. Und – um im Bild zu bleiben – der „Koh-i-Noor“ dieser Ordnung ist eben das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, das Ausnahmen nur für die in der Charta explizit vorgesehenen Tatbestände zulässt (Selbstverteidigung oder bindender Sicherheitsratsbeschluss). Dieses klare und hierarchisch wohl geordnete normative und organisatorische Gebäude hat viele Anhänger, zu Recht gerade auch in Deutschland – was nach der zivilisatorischen Katastrophe durch und im Schatten 16 Konkretisierung dieses Begriffes im Anhang der GV-Res. 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974, UN Doc. A/RES/29/3314 vom 14. Dezember 1974 (sog. „Aggressionsdefinition“). 17 Diese Frage war auch zentraler Gegenstand einer inzwischen „klassischen“ Kontroverse zwischen T. Franck, Who Killed Article 2 (4)? or Changing Norms Governing the Use of Force by States, in: American Journal of International Law 74 (1970), S. 809 ff. und L. Henkin, The Reports of the Death of Article 2 (4) are Greatly Exaggerated, in: American Journal of International Law 65 (1971), S. 544 ff.
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eines durch dieses Land zu verantwortenden verbrecherischen Angriffskrieges auch kaum verwundert. Ich meine nun aber, dass es einen dritten und möglicherweise entscheidenden Grund für unser wachsendes Unbehagen bei der Beschäftigung mit dem einschlägigen Rechtsregime und seinen Konsequenzen gibt: Auch wenn wir uns das (noch) nicht eingestehen wollen, so spüren wir doch irgendwie instinktiv, dass das Gewaltverbot, so wie es an zentraler Stelle in der UN-Charta normiert und vom deutschen Recht18 sowie jüngst auch dem Völkerstrafrecht rezipiert worden ist,19 schlichtweg als solches nicht mehr zeitgemäß und damit reformbedürftig ist – zumindest in zentralen Teilen. Oder vielleicht noch ein wenig radikaler formuliert: Sollten wir das Gewaltverbot in seiner derzeitigen Form nicht vielleicht abschaffen? Ich bin mir bewusst, schon diese Frage allein stellt in gewisser Weise einen Tabubruch dar. Aber, seien Sie versichert, nichts liegt mir ferner als normativ ungezügelter Militärmacht das Wort zu reden. Ganz im Gegenteil. Betrachten wir das Gewaltverbot also einmal etwas genauer – vorurteilsfrei und ohne allen Ballast des intellektuellen und/oder ideologischen „mainstream“. Und wie bei jeder Norm müssen wir uns auch hier wohl zunächst einmal fragen: Wen oder was schützt diese Norm eigentlich? Mit gewissen Vorarbeiten in der Zwischenkriegszeit – ich denke da natürlich insbesondere an den sogenannten Briand-Kellogg-Pakt von 192820 – zieht das umfassende Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta von 1945 die normativen Konsequenzen aus den verbrecherischen Angriffskriegen Deutschlands, Japans und 18
Zu Art. 26 GG und § 80 StGB vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen vgl. nur C. Busse, Der Kosovo-Krieg vor deutschen Strafgerichten, in: Neue Zeitschrift für Strafrecht 20 (2000), S. 632; C. Björn, Der Begriff des Angriffskrieges und die Funktion seiner Strafbarkeit, Berlin 2005 und bereits F.-C. Schroeder, Der Schutz des äußeren Friedens im Strafrecht, in: Juristenzeitung 24 (1969), S. 41 ff. Strafbarkeitslücken bestehen insbes. insoweit, als § 80 StGB nur die Vorbereitung eines Angriffskrieges, an der die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, unter Strafe stellt, nicht aber die Beteiligung Deutschlands an bereits stattfinden Kampfhandlungen oder auch anderen „friedensstörenden Handlungen“ im Sinne des Art. 26 GG. 19 Vgl. Art. 5 lit. d) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (BGBl. 2000 II S. 1394, UNTS Bd. 2187 S. 3). Zur Diskussion um die noch ausstehende und für die Operationalität unabdingbare Konkretisierung dieses Verbrechenstatbestandes: S. Sayapin, Revisiting the Definition of the Crime of Aggression, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 22 (2009), S. 22 ff.; C. Kreß, The Crime of Aggression before the First Review of the ICC Statute, in: Leiden Journal of International Law 20 (2007), S. 851 ff.; A. Cassese, On some Problematical Aspects of the Crime of Aggression, in: Leiden Journal of International Law 20 (2007), S. 841 ff.; N. Weisbord, Prosecuting Aggression, in: Harvard International Law Journal 49 (2008), S. 1, 161-220; D. Zolo, Who is Afraid of Punishing Aggressors? On the Double-Track Approach to International Criminal Justice, in: Journal of International Criminal Justice 5 (2007), S. 799 ff. sowie umfassend O. Solera, Defining the Crime of Aggression, London 2007. Speziell zu den kontroversen Diskussionen auf der Konferenz von Rom M. Cherif Bassiouni, The Legislative History of the International Criminal Court, Vol. 1, Ardsley 2005, S. 155 ff. und A. Zimmermann, Article 5 Rn. 17 ff., in: O. Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal Court, 2. Aufl., München 2008, S. 17 ff. 20 Vertrag über die Ächtung des Krieges (Briand-Kellogg-Pakt) vom 27. August 1928, RGBl. 1929 II S. 97.
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ihrer Verbündeten. Dieser historische Vorgang bildet auch den unmittelbaren Auslöser für eine strafrechtliche Ächtung des Verbrechens der Aggression durch die Londoner Charter21 (als Grundlage der Nürnberger Prozesse) und das Kontrollratsgesetz Nr. 1022 (als Grundlage für die Verfahren vor den späteren Gerichten der Besatzungsmächte). Lassen Sie mich Ihnen an einem Zitat des amerikanischen Chefanklägers die ganz zentrale Bedeutung veranschaulichen, die der Tatbestand der Aggression für das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal – und übrigens in ganz gleicher Weise auch für das Tokyoter Tribunal – besaß: Ganz zu Beginn seiner berühmten Anklagerede vom 21. November 1945 umschrieb Robert Jackson das zentrale Anliegen des Verfahrens wie folgt: „Mit dieser gerichtlichen Untersuchung wollen (…) vier der mächtigen Nationen, unterstützt von weiteren siebzehn Nationen, praktisch das Völkerrecht nutzbar machen, der größten Drohung unserer Zeit entgegenzutreten: dem Angriffskrieg.“23 Ein wahrer Satz – aber aus heutiger Sicht eben auch ein überraschender und irgendwie irritierender Satz: Kein Wort von alldem was wir heute, vielleicht sogar in erster Linie, mit diesem Kriegsverbrecherprozess assoziieren: Auschwitz, die Ermordung zehntausender sowjetischer Kriegsgefangener und andere schwerste Verstöße gegen das Gebot einer humanitären Kriegsführung sowie all die anderen furchtbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Schatten des Krieges. Jacksons Botschaft ist klar: Ohne Angriffskrieg, also den Anschlag eines Staates auf die territoriale Souveränität eines anderen Staates, kein Nürnberg. Dem Angriffskrieg, dieser größten „Drohung unserer Zeit“, dem galt es mit härtesten Mitteln entgegenzutreten: Strafrechtlich mit Todesurteilen, normativ mit Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta, verstärkt durch das 1970 auch vom IGH bestätigte „ius cogens“-Label,24 und institutionell schließlich mit der geballten politischen und militärischen Macht des im Sicherheitsrat versammelten elitären Zirkels von Staaten. Warum nun aber diese so ganz besonders harsche Reaktion des Rechts und seiner Akteure auf eben gerade diese Form der Normübertretung?
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Charter of the International Military Tribunal (Statut für den Internationalen Militärgerichtshof) vom 8. August 1945 (dt. Übers. in: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Bd. I [Einführungsband], Nürnberg 1947, S. 10 ff.). 22 Kontrollratsgesetz Nr. 10 (Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben) vom 20. Dezember 1945. 23 Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, 1947, Bd. II (Verhandlungsniederschriften 14. November 1945 – 30. November 1945), S. 115. 24 Das Gewaltverbot des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta gehört unstreitig zu den zwingenden Normen des Völkerrechts im Sinne der Art. 53 und 64 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl. 1985 II S. 926 und UNTS 1155 S. 331 und Art. 26 des ILCEntwurfs zur Staatenverantwortlichkeit, Anlage der GV-Res. 56/83 vom 12. Dezember 2001. Auch der IGH hat in seinem Urteil vom 5. Februar 1970 im „Barcelona Traction Fall“ dem Verbot von Aggressionsakten als „obligations erga omnes“ eine besondere Rechtsqualität zuerkannt: IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company, Ltd (Belgium v. Spain), I.C.J. Reports 1970, S. 32, paras. 33/34.
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Es sei daran erinnert:25 „Unrecht ist die Verwerfung einer Lebensordnung“. Im Regelfall nun besteht das Unrecht im Bruch einzelner Regeln eben dieser Ordnung – hierauf kann die Rechtsgemeinschaft sodann in angemessener, das heißt vor allem verhältnismäßiger Weise, mit Sanktionen reagieren. Anders sah man das wohl bei der Anwendung militärischer Gewalt durch Staaten: Unter dem Eindruck moderner Kriegstechnologie und der gewaltigen, auf Erlangung der Weltherrschaft gerichteten Kriegsmaschinerie der Achsenmächte und ihres fernöstlichen Verbündeten Japan hatte man 1945 wohl zu Recht das Gefühl, dass es sich hier nicht lediglich um isolierte Regelverstöße handelte, sondern eben um eine qualitativ ganz andere Herausforderung, nämlich das radikale Infragestellen der Lebensordnung insgesamt.26 Auf einer ganz anderen, und hier nicht zu thematisierenden Ebene erleben wir Ähnliches derzeit wohl mit dem Phänomen des Terrorismus. Die Gretchenfrage lautet damit schlichtweg: Was war das eigentlich 1945 oder 1949 für eine „Lebensordnung“, die es mit Hilfe des Gewaltverbotes so kompromisslos zu verteidigen galt? Und hier dürfen wir uns wohl keinen Illusionen hingeben: Das Gewaltverbot, so wie es heute normativ ausgestaltet ist, war und ist eine Norm, die in erster Linie27 diejenigen schützen soll, die dieses Verbot geschaffen haben, nämlich die Staaten selbst. Das Gewaltverbot ist das Produkt – ja man könnte fast behaupten – die Krönung einer staatenzentrierten Völkerrechtskonzeption. Dieses Verbot sichert eine Fundamentalnorm der klassischen Völkerrechtsordnung ab, die mit Art. 2 Ziff. 1 auch an prominenter Stelle Eingang in die UN-Charta gefunden hat: „Die Organisation [der Vereinten Nationen] beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit ihrer Mitglieder.“ Dieses Wörtchen „beruhen“ weist zurück auf die frühneuzeitliche Gedankenwelt eines Jean Bodin, eines Hugo Grotius und eines Thomas Hobbes.28 Unmittelbar nach dem Grauen des 30-jährigen Krieges war der nach innen und außen starke souveräne Staat, der die Bedrohung durch marodierende Landsknechte 25
Vgl. bereits oben S. 102. Hier wähnte man sich 1945 angesichts der Bedrohung durch die Atombombe wohl zu Recht an einer ähnlichen Zeitenwende wie 1648, als die Verwüstungen des 30-jährigen Krieges drohten, das damalige Staatensystem insgesamt in Frage zu stellen und so die Errichtung einer normativen zwischenstaatlichen Ordnung unabdingbar erschien: „Demnach die im Heyligen Römischen Reiche von vielen Jahren hero entstandene Vnruhe / vnnd jnnerliche Kriege so weit einigerissen / daß sie nicht allein gantz Teutschland / sondern auch etliche angräntzende Königreiche / jnsonderheit aber Schweden vnd Franckreich dermassen eingeflochten / daß dannenhero ein langwieriger vnd hefftiger Krieg erwachsen (…)“ (Prämbel des Vertrags von Osnabrück). 27 Zwar mag die Skandalisierung, die Erschütterung über die durch den Ersten Weltkrieg verursachten menschlichen Leiden insoweit durchaus auch eine Rolle gespielt haben (worauf etwa M. Bothe, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin 2007, S. 642 zu Recht hinweist). Warum die normativen Ächtungsbemühungen sich dann aber exklusiv nur auf den zwischenstaatlichen Krieg beschränkten, lässt sich so nicht schlüssig erklären. 28 Vgl. hierzu R. A. Klein, Sovereign Equality Among States: The History of an Idea, Toronto 1974; H. Kelsen, The Principle of Sovereign Equality of States as a Basis for International Organization, in: Yale Law Journal 53 (1944), S. 207 ff.; B. Fassbender/A. Bleckmann, Article 2 (1) Rn. 3 ff., in: B. Simma (Hrsg.), The Charter of the United Nations. A Commentary, 2. Aufl., München 2002, S. 70 ff. 26
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beseitigte und der allgemeinen Anarchie ein Ende setzte, das Organisationsmodell der Zukunft: In dieser Perspektive war das „Non est potestas super terram quae comparetur ei“ – „Auf Erden ist ihm niemand zu gleichen“, wie Hobbes unter Anspielung auf den biblischen Leviathan29 sein Hauptwerk überschrieb,30 ein Segen: Der Staat als „[d]er sterbliche Gott, dem wir unter dem ewigen Gott allein Frieden und Schutz zu verdanken haben.“31 – so die unsterblichen Worte aus diesem Klassiker der politischen Philosophie. Philip Allot hat im Jahre 1990 in seinem berühmten Buch „Eunomia, New Order for a New World“ die letztlich auch heute noch gültige Ratio der Völkerrechtsordnung plastisch wie folgt charakterisiert. Diese Ordnung diene dazu, so schreibt er, „to enable State-societies to act as closed systems internally and to act as territoryowners in relation to each other“.32 Die Staatengemeinschaft ähnelt in dieser traditionellen Sicht also einer Art überdimensionierter Kleingartenkolonie – mit gewissen allgemeinverbindlichen Umgangsformen zwar – aber vor allem doch argwöhnisch und gut bewachten Schollen hinter Jägerzaun und möglichst blickdichter Hecke. Das Gewaltverbot ist als spezielle Ausprägung des völkerrechtlichen Interventionsverbotes das wichtigste Instrument zum Schutze dieser „territory-owner“ – die Opfer von Familiendramen hinter der Hecke sind ihm gleichgültig, ja man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass das Aggressionsverbot die Entstehung derartiger Dramen zumindest deutlich begünstigt. Stellen wir also ganz nüchtern fest und lassen uns insoweit keinesfalls von irgendwelchen Sentimentalitäten täuschen: Erstens: Das Gewaltverbot definiert seine Schutzobjekte, die Staaten, nicht nach irgendwelchen qualitativen Merkmalen, sondern schlichtweg auf der Grundlage ihrer Existenz: Souveräne Gleichheit – Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta – Wo ein Staat, da ein Gewaltverbot: Gewaltsamer Widerstand auch gegen Terrorregime ist, völkerrechtlich gesehen, prinzipiell illegitim. Zweitens: Vor fast genau drei Monaten, am 24. Juni 2009, hat sich zum 150. Mal die Schlacht von Solferino gejährt. Die Erinnerung an „die erschütternden Szenen“ der Tage von Solferino ließ den zufälligen Beobachter dieser Schlacht, den Genfer Geschäftsmann Henry Dunant, in den nächsten Jahren nicht los: „Wer könnte jemals die Todeskämpfe dieser schrecklichen Nacht beschreiben?“, so schreibt er in seinem berühmten Buch aus dem Jahre 1862 „Eine Erinnerung an Solferino“.33 Diesem 29
Altes Testament, Buch Hiob, 41. T. Hobbes, Leviathan, or the Matter, Forme, and Power of a Commonwealth, Ecclesiasticall and Civil, 1651. 31 T. Hobbes, Leviathan (17. Kapitel), Reclam Ausgabe Stuttgart 1970, S. 155 (Hervorhebungen vom Verfasser). 32 P. Allot, Eunomia, New Order for a New World, Oxford 1990, S. 324 (Hervorhebungen vom Verfasser). 33 H. Dunant, Un souvernir de Solferino, dt. Ausgabe, Basel 1863, S. 35 (eigene Übers.). Hierzu jüngst mit weiteren Nachweisen D. Khan, Eine Erinnerung an Solferino, in: Juristenzeitung 64 (2009), S. 621 ff. 30
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menschlichem Leid aber steht das Gewaltverbot letztlich gleichgültig gegenüber: Gegenstand des normativen Werturteils ist ja nicht etwa das organisierte Töten an sich. Aus der Sicht der Opfer aber, der Soldaten und der Zivilbevölkerung gleichermaßen, ist die Art der militärischen Auseinandersetzung, der sie ihr Leiden zu verdanken haben, herzlich egal. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang nur an die berühmten Ausführungen des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in seinem Nuklearwaffengutachten aus dem Jahre 1996: Nach der Bestätigung des „fundamental right of every State to survival“ schreibt der Gerichtshof, dass er „cannot reach a definitive conclusion as to the legality or illegality of the use of nuclear weapons by a State in an extreme circumstance of self-defence, in which its very survival would be at stake.“34 Was könnte die – ich meine in gewisser Weise anachronistische – Staatszentriertheit des heutigen Völkerrechts besser illustrieren als eben diese Feststellung: Millionen von Toten, großräumige Verwüstung und irreparable Umweltschädigungen können unter Umständen in Kauf genommen werden, um einer bloßen Organisationsstruktur das Überleben zu sichern, einer Organisationsstruktur (und das sei hier betont), die außer ihrer Existenz keine weiteren „materiellen“ Qualitäten aufweisen muss. Gibt es überhaupt noch irgendeine Rechtfertigung dafür, das uns traditionell so vertraute Staatensystem in dieser ganz besonderen und exklusiven Weise als normativ unantastbares Schutzgebiet zu behandeln? Zur Zeit von Bodin, Grotius und Hobbes, den theoretischen Vordenkern der modernen Staatenwelt, mag ein starker Staat ja auch aus der Sicht des Individuums durchaus das kleinere Übel gegenüber den existenziellen Gefährdungen durch innere und äußere Anarchie gewesen sein. Aber geht diese existenzielle Gefährdung heute nicht vielfach eben gerade von diesem Leviathan aus, dem sich das Individuum auf der Suche nach Frieden und Schutz anvertraut hat? Das Gewaltverbot schützt die Staatenwelt heute eben nicht mehr in erster Linie vor aggressiv-expansionistischen Staaten wie ehedem Deutschland und Japan, sondern garantiert vielmehr das staatliche Überleben von Staaten wie Nordkorea, Myanmar, Sudan. Verdienen diese Staaten wirklich diesen komfortablen Schutz der Völkerrechtsordnung für ihren Unterdrückungsapparat? Und ist es wirklich noch legitim, den militärischen Widerstand dagegen völkerrechtlich als „asymmetrisch“ zu diffamieren? Brauchen wir also vielleicht nicht doch eine „New Order for a New World“, auch soweit es um diese Zentralnorm des traditionellen Völkerrechts, eben das Gewaltverbot, geht – einer Norm, die wir ganz instinktiv und reflexartig für sakrosankt erklären? Betreiben wir damit nicht ein Geschäft, das gar nicht unseren ureigensten Interessen als Individuen dient, sondern allein dasjenige von Staaten ist, die bei einer „materiellen Aufladung“ ihrer Existenzberechtigung um ihr Überleben fürchten müssten? Vielleicht ist auch insoweit ein radikales Umdenken erforderlich … und es hat bereits begonnen.
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IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion vom 8 July 1996, I.C.J. Reports 1996, S. 226 ff., Rn. 96/97 (Hervorhebung vom Verfasser).
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4 Ethik und Macht Eine der zentralen Thesen des großen französischen Völkerrechtslehrers Georges Scelle lautet wie folgt: „Le droit est à la conjonction de l’éthique et du pouvoir.“ („Das Recht ist die Verbindung von Ethik und Macht “) und – so fährt er fort – wenn die Macht sich weigert, die ethischen Maximen in Normen zu überführen („traduire l’ethique en normes“), ja dann sei eine „Revolution“ mit dem Ziel einer Wiederherstellung der Übereinstimmung zwischen positivem Recht und sozialen Notwendigkeiten legitim („de rétablir l’adéquation entre l’ordonnancement máteriel et la nécessité sociale“)35 – Ubi societas, ibi ius. Und genau in diesem, vielleicht eher evolutionärem denn revolutionärem Prozess einer auch normativ neuen Gewichtung auf der Grundlage veränderter ethischmoralischer Wertungen befinden wir uns derzeit auch was die Konturen des Gewaltverbotes angeht – zu Recht, wie ich meine. Solche Veränderungsprozesse sind schmerzhaft, sie führen zu Friktionen und Rechtsunsicherheiten, vor allem dort, wo die Rechtsetzungsprozesse, wie im Völkerrecht, schwerfällig sind: Eine schlichte Änderung des Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta etwa in dem Sinne, dass alle Mitglieder nicht nur die Gewaltanwendung in ihren internationalen Beziehungen unterlassen, sondern gleiches auch im Verhältnis zu ihren Bürgern gelten soll (samt einer entsprechenden Anpassung der Sanktionsmechanismen), ist praktisch undenkbar. Da regulative Kraft letztlich immer auf Legitimität beruht, kann und darf sich das Völkerrecht aber dennoch auch auf diesem politisch höchst sensiblen Terrain auf Dauer einem Wandel nicht verweigern. Und letztlich sind auch alle „exegetischen“ Schwierigkeiten, die wir heute mit dem Gewaltverbot haben – und auf die ich hier nicht im einzelnen eingehen kann –, Ausdruck eben dieses real-existierenden Wandlungsprozesses: Weg von einem lediglich staaten- und hin zu einem mehr anthropozentrischen Verständnis des Gewaltverbotes. Für eine „symmetrischere Anwendung“ des humanitären Völkerrechts überall dort, wo Menschen durch Waffengewalt Leid angetan wird, ist dieser Prozess sicher begrüßenswert.
5 „Anthropozentrische“ Ausdeutung des Gewaltverbotes Bedenken wir – ohne dass ich das hier näher ausführen kann und möchte –, unsere heutige „Lebensordnung“, für deren Bewahrung das Völkerrecht Verantwortung trägt, besteht eben nicht mehr nur aus der Sicherstellung einer „Koexistenz indi35
Synthese bei R. J. Dupuy, Images de Georges Scelle, in: European Journal of International Law 1 (1990), S. 235 ff.; grundlegend entfaltet worden sind diese Gedanken bereits in: Précis de droit des gens vol. 1: Principes et systématique, 1932 – hierzu: N. Kasirer, A Reading of George Scelle’s Précis de droit des Gens, in: The Canadian Yearbook of International Law 24 (1986), S. 372 ff.; umfassende bibliographische Nachw. zu Scelle in: European Journal of International Law 1 (1990), S. 242.
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vidueller Staaten“. Zumindest auch – und in zunehmendem Maße – besteht diese „Lebensordnung“ vielmehr aus dem Bewusstsein einer menschenrechtlich und ökologisch begründeten Verantwortung für das Ganze: Die andauernden Diskussionen um humanitäre Interventionen bis hin zu einer „responsibility to protect“36, die den Bogen noch weiter – zu einer Interventionspflicht – schlägt, nimmt einen auch bereits in der Charta angelegten, aber – ganz anders als im Falle des Gewaltverbotes – dort eben nicht konsequent entfalteten Ansatz auf und versucht, diesen auch normativ operabel zu machen. Ein zweites Szenario für die normative Umbruchsituation, die letztlich auch am Aggressionsverbot nicht spurlos vorübergehen kann, ist die zunehmende Relevanz privater Akteure in internationalen Gewaltkontexten. Auch hier zeigt sich deutlich die Notwendigkeit einer Neujustierung der einschlägigen Regeln: Militärische Gewalt und die legitime Reaktion darauf wird rechtlich nach wie vor als eine exklusive Domäne staatlichen Handelns begriffen – faktisch ist sie dies allerspätestens seit dem 11. September nicht mehr – und faktisch war sie dies auch, in historischer Retrospektive, nur in einer ganz kurzen Epoche, derjenigen des souveränen Nationalstaates moderner Prägung. Staatszerfallserscheinungen in vielen Teilen der Welt, aber eben auch die zunehmende Übernahme staatlicher Aufgaben durch supranationale Akteure, haben diese Realitäten grundlegend geändert und zwingen zu immer neuen und immer fragwürdigeren juristischen Klimmzügen: Kann es wirklich richtig sein, Terroristen einerseits zwar (untechnisch) als Aggressor zu quali fizieren und gegen diese einen „war“ zu führen, sie andererseits aber nicht als Kriegspartei anzuerkennen. Ist ein Vorgehen gegen Al-Qaida – deren Kämpfer sich ja faktisch auf irgendeinem Staatsgebiet befinden müssen – wirklich nur über den Umweg einer Zurechnung zur Regierung eines Staates möglich oder stellt dies nicht 36
Eingeleitet worden ist diese Rechtsentwicklung durch einen Report der „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ vom Dezember 2001 „The Responsibility to Protect“ (http://www.iciss.ca/report2-en.asp). Aufgegriffen im Bericht „A More Secure World: Our Shared Responsibility“ des High-level Panels on Threats, Challenges, and Changes UN Doc. A/59/565 vom 2. Dezember 2004, hat die Schutzverantwortung eine weitere normative Festigung durch den Bericht des UN-Generalsekretärs vom September 2005 („In Larger Freedom“ http://www.un.org/ largerfreedom) sowie die UN Doc. A/58/2005 vom 24. Oktober 2005 („World Summit Outcome“ – erfahren. In seinem Bericht vom September 2005 hat der Generalsekretär die Essenz dieses Prinzips wie folgt zusammengefasst: „I urge Heads of State and Government to recommit themselves to supporting the rule of law, human rights and democracy — principles at the heart of the Charter of the United Nations and the Universal Declaration of Human Rights. To this end, they should: (a) (…) (b) Embrace the “responsibility to protect” as a basis for collective action against genocide, ethnic cleansing and crimes against humanity, and agree to act on this responsibility, recognizing that this responsibility lies first and foremost with each individual State, whose duty it is to protect its population, but that if national authorities are unwilling or unable to protect their citizens, then the responsibility shifts to the international community to use diplomatic, humanitarian and other methods to help protect civilian populations, and that if such methods appear insufficient the Security Council may out of necessity decide to take action under the Charter, including enforcement action, if so required (…)” Zum Ganzen: E. Luck, Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung – Auf dem Weg von einem Konzept zu einer Norm, in: Vereinte Nationen 2 (2008), S. 51ff.
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eine völlige unpassende juristische Zwangsjacke dar? Wie sieht es mit Autonomiebehörden unterhalb der Schwelle formeller Staatlichkeit aus (Gaza, Südossetien, vielleicht auch das Kosovo oder auch der etwas aus dem Blickpunkt geratene Südsudan) – und schließlich, wie schützt uns das Recht eigentlich vor dem Erstarken supranationaler Militär- und damit Aggressionspotenziale: Eine europäische Armee ohne europäischen Staat ist möglicherweise ante portas37 – im völlig rechtsfreien Raum, völkerrechtlich gesehen? Seins- und Sollensordnung sind zwar zwei theoretisch (und auch praktisch) durchaus zu unterscheidende Kategorien. Allerdings darf sich das Recht – also die „Sollensordnung“ – für ihre faktische Wirksamkeit auf Einsichten über die Beschaffenheit der Welt und der Veränderungen – also die „Seinsordnung“ – nicht verschließen: Recht ist nicht abstrakte, sondern (zumindest idealerweise) verwirklichte und wirksame Normenordnung. „Law in action“ aber bedeutet – nunmehr konkret bezogen auf das Gewaltverbot –, dass die einschlägigen Normen alle potenziell beteiligten Akteure, sei es in der Täter- als auch in der Opferrolle, gleichermaßen erfassen. Dies aber bedeutet praktisch den Abschied von der privilegierten Rolle der Staaten auch in diesem Normkomplex.
6 Ein Zwischenfazit Nach dieser vielleicht etwas unerwarteten „Dekonstruktion“ des Gewaltverbotes möchte ich nun doch zu einem einigermaßen versöhnlichen Abschluss kommen: Natürlich brauchen wir das Gewaltverbot. Aber wir sollten uns dennoch selbstkritisch fragen, ob dieses Verbot – so wie es heute konstruiert ist – wirklich noch die richtigen Antworten auf die vitalen Fragen der Gegenwart gibt. Hierzu gilt es wohl zunächst, die allzu staatenzentrierte Perspektive zumindest zu relativieren. Wir sollten beginnen, das Gewaltverbot als unteilbar zu begreifen: Gewalt zwischen Staaten, Gewalt zwischen Staaten und anderen Akteuren, aber auch Gewalt zwischen Staaten und seinen Bürgerinnen und Bürgern (vielleicht auch gegenüber der Umwelt) sollten als gleichermaßen illegitim begriffen werden – und hieraus eben auch normative Konsequenzen gezogen werden – auch und gerade für die Anwendung des humanitären Völkerrechts. David Kennedy hat in diesem Zusammenhang die auf den ersten Blick provozierende These aufgestellt, dass das System des Gewaltverbotes, so wie es heute in der Charta konstruiert ist, den Staaten letztlich mehr als Argumentationspool für die Legitimation der Anwendung von Gewalt dient, als dass es für die Verhinderung derselben geeignet sei: „Law as the Landscape for War“.38 Ein ganz neuer Blick auf das uns allen so sakrosankt erscheinende Aggressionsverbot – und ein durchaus beunruhigender Perspektivenwechsel. 37 38
Vgl. nur G. Höfer, Europäische Armee – Vision oder Utopie, Hamburg 2008. D. Kennedy, Of War and Law, Princeton 2006, insbes. S. 33 ff.
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Lassen Sie mich mit folgenden Thesen schließen: Erstens: Das staatenzentrierte Gewaltverbot muss überwunden werden, nicht nur im Angesicht neuer substaatlicher Akteure mit Gewaltanwendungspotenzial, sondern gleichermaßen auch solchen suprastaatlichen Charakters. Auf beide passt das im traditionellen Völkerrecht verharrende System des Gewaltverbotes der UNCharta nicht. Zweitens: Das geltende Gewaltverbot der UN-Charta begründet und zementiert Asymmetrie hinsichtlich der Anwendung des humanitären Völkerrechts. Diese Asymmetrie wirkt angesichts der Realitäten „neuartiger Kriege“ immer häufiger zu Lasten der Opfer kriegerischer Auseinandersetzungen. Drittens: Zur Beseitigung dieses Missstandes bedarf es weniger einer Änderung des ius in bello, als vielmehr einer solchen des ius ad bellum. Die faktisch bereits erfolgte Abkehr von einem staaten- zu einem mehr anthropozentrischen Verständnis der internationalen Ordnung muss auch insoweit normative Konsequenzen haben: Organisierte bewaffnete Auseinandersetzungen sind als solche als Übel – aber auch als Realität – anzuerkennen, deren Folgen, nämlich menschliches Leid, es mit Hilfe des humanitären Völkerrechts diskriminierungsfrei zu mildern gilt. Mein Freund und Lehrer, Bruno Simma, hat die Rolle der Staaten bei der Beachtung der Menschenrechte einmal beschrieben als eine Situation „[which] will always bear a similarity with foxes guarding the chicken“.39 Wir, die zumindest potenziell immer mehr von „nichtklassischem“ Krieg und Gewalt betroffenen Individuen, befinden uns insoweit nach wie vor in der Rolle der „chicken“ – und dies nicht nur als potenzielle (hoffentlich unschuldige!) Insassen eines neuen „Guantánamo“. Das aber sollten wir auf Dauer nicht hinnehmen.
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International Human Rights and General International Law: A Comparative Analysis, Collected Courses of the Academy of European Law IV (1993) Vol. 2, Florenz 1993, S. 168.
Das moderne Recht der Okkupation – ein Instrument des Regimewechsels? Kirsten Schmalenbach
1 Einleitung Auch wenn die Charta der Vereinten Nationen jenseits von Friedensliebe (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) und Kooperationsbereitschaft (Art. 2 Ziff. 5, Art. 56 UN-Charta) kein allzu scharf konturiertes Bild vom idealen Mitgliedstaat zeichnet, so ist die UN-Praxis im Bereich des Post-Conflict Peace-Building doch sehr klar: demo kratisch sollte der Mitgliedstaat sein, den Menschenrechten, einer verantwortungsvollen Regierungsführung und der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet, mit stabilen Institutionen und effektiver Herrschaftsgewalt, die den Mitgliedstaat in die Lage versetzen, seine internationalen Verpflichtungen zu erfüllen (vgl. Art. 4 UN-Charta). Staaten, die diesem UN-Ideal nicht entsprechen – und das sind einige –, dürfen freilich nicht mit Waffengewalt zur Reform gezwungen werden. Wenn aber Waffengewalt gegen ein Unrechtsregime – gerechtfertigt oder nicht – in einer militärischen Besetzung des Staates mündet, warum sollte das Völkerrecht die Besatzungsmächte daran hindern, im Lichte des UN-Ideals einen Regimewechsel zu initiieren und staatsorganisatorisch abzusichern? An dieser Stelle wird gerne auf die Erfahrungen in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg verwiesen: Historisch steht außer Frage, dass die alliierten Besatzungsmächte die Metamorphose vom aggressiven Unrechtsregime zur friedliebenden und prosperierenden Demokratie ein- und angeleitet haben, und zwar ohne Rücksicht auf die Vorschriften der Haager Landkriegsordnung (HLKO) zu den besetzten Gebieten (Art. 42 bis Art. 56 HLKO), dessen Anwendbarkeit sie ausdrücklich ausschlossen. Damals wie heu
Haager Landkriegsordnung, RGBl. 1910 II S. 107. Gutachten der Völkerrechtsabteilung des Heeresministeriums der Vereinigten Staaten zur Anwendbarkeit der Haager Landkriegsordnung und Genfer Konvention auf das besetzte Deutschland, in: Jahrbuch für Internationales Recht 1 (1956), S. 300 ff.; vgl. auch die Erklärung des US-Delegierten P. Jessup vor dem Sicherheitsrat am 6. Oktober 1948, in: American Journal of International Law 43 (1949), S. 92.
K. Schmalenbach () Paris-Lodron-Universität Salzburg, Kapitelgasse 4-6, 5020 Salzburg, Österreich E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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te erscheint das Haager ius in occupatione bellica zu spröde und konservativ, um Besatzungsmächten den notwendigen Handlungsspielraum für Staats- und Verwaltungsreformen zu gewähren. Artikel 43 HLKO verpflichtet die Besatzungsmacht, die besetzten Gebiete unter Beachtung der Landesgesetze zu verwalten, „soweit kein zwingendes Hindernis besteht“; Art. 64 des IV. Genfer Abkommens (GA) beschränkt das Gesetzgebungsrecht der Besatzungsmacht auf das „Unerlässliche“. Diese normativen Fesseln scheinen die Besatzungsmacht dazu zu verdammen, am Wiedererstarken des militärisch besiegten Unrechtsregimes durch die Bewahrung der Landesordnung mitzuwirken. Auf der anderen Seite lässt sich mit Fug und Recht zugunsten eines konservativen Rechts der besetzten Gebiete argumentieren, dass wohl nur die wenigsten militärischen Besetzungen das hehre Ziel verfolgen, die niedergerungenen Staaten zu den Werten der Vereinten Nationen zurückzuführen. Unter diesem Blickwinkel erscheint der jahrhundertealte Zweck des Art. 43 HLKO, die temporär verdrängte Staatsgewalt zu schützen, auch heute noch legitim. In diesem Spannungsverhältnis von egoistischen und gemeinwohlorientierten Besatzungszielen, von Selbstbestimmung und Fremdvorstellung, findet die Auslegung von Art. 43 HLKO und Art. 64 des GA IV statt. Die „Modernisierung“ der Normen erfolgt dabei vor allem durch ihre Integration in die internationale Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts, die durch die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht geprägt wird.
2 Artikel 43 der Haager Landkriegsordnung Artikel 43 HLKO verlangt von der Besatzungsmacht, unter dem Vorbehalt des Möglichen, Vorkehrungen zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der öf fentlichen Ordnung und des öffentlichen Lebens zu treffen. Die Maßnahmen sollen auf Basis der Landesgesetze ergriffen werden, soweit „kein zwingendes Hindernis besteht“ („sauf empêchement absolu“; „unless absolutely prevented“). Was genau unter einem „zwingenden Hindernis“ zu verstehen ist, lässt die Haager Landkriegsordnung offen. Im Rahmen einer historischen Interpretation des Art. 43 HLKO lohnt ein Blick auf seinen ideengeschichtlichen Vorläufer, die Brüsseler Deklaration von 1874. Die Deklaration, die nie den Status völkerrechtlicher Verbindlichkeit erlangte, war das Produkt einer europäischen Staatenkonferenz zur Kodifikation grundlegender Regeln des Krieges, initiiert vom russischen Zaren Alexander II.
Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781. D. M. Edelstein, Occupational Hazards: Success and Failure in Military Occupation, New York 2008, S. 14 f.; Y. Dinstein spricht von der Gefahr einer „hidden agenda“, in: The Israel Supreme Court and the Law of Occupation: Article 43 of the Hague Regulation, in: Israel Yearbook on Human Rights 25 (1996), S. 9. E. Benvenisti, The International Law of Occupation, Princeton 1993, S. 13. Brüsseler Deklaration, Martens, NRGT, 2. Serie, Vol. IV, S. 219-228.
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Während Art. 2 der Deklaration die Pflicht der Besatzungsmacht statuiert, die öffentliche Sicherheit und Ordnung so weit wie möglich wiederherzustellen, stellt Art. 3 heraus, dass die Landesgesetze der Friedenszeit von der Besatzungsmacht weder modifiziert, suspendiert oder ersetzt werden dürfen, es sei denn, diese Maßnahmen sind „notwendig“ („unless necessary“, „que s’il y a nécessité“). 25 Jahre später, auf der Haager Friedenskonferenz 1899 und der darauffolgenden im Jahr 1907, verlangten die politisch schwächeren europäischen Staaten, das heißt die potenziellen Okkupationsopfer, den Handlungsspielraum von Besatzungsmächten weiter einzuschränken. Der Initiative war kein großer Erfolg beschieden; die Grundaussage des Art. 3 der Brüsseler Deklaration wurde mit der „sauf empêchement absolu“-Formel des Art. 43 HLKO nicht wesentlich geändert: Die Änderung der lokalen Rechtslage verstößt dann nicht gegen Art. 43 HLKO, wenn die Änderung für die Besatzungsmacht zwingend notwendig ist. Ein zwingendes Hindernis kann freilich faktischer wie rechtlicher Natur sein, es kann auf vitalen Besatzungsinteressen beruhen oder aus rechtlich zugewiesenen Aufgaben erwachsen. Die normative Tragweite des Tatbestandsmerkmals der „zwingenden Notwendigkeit“ hängt also davon ab, ob man den Begriff ausschließlich an militärischen Erfordernissen ausrichtet, ihn für politische Kriegs- und Besatzungsziele öffnet oder ihn in einen breiteren aufgabenbezogenen Kontext stellt. Im Kontext einer Kodifizierung der Regeln des Landkrieges ist es naheliegend, dass die von Art. 43 HLKO thematisierte zwingende Notwendigkeit in erster Linie militärisch determiniert ist, also auf militärischen Notwendigkeitsüberlegungen basiert. Die nationalen Militärhandbücher streichen dementsprechend heraus, dass Eingriffe in die lokale Rechtsordnung erlaubt sind, wenn sie der physischen Sicherheit der Besatzungstruppen dienen, das Besatzungsregime in ihrem temporären Bestand absichern und eine ungestörte Aufgabenerfüllung ermöglichen.10 Die Besatzungsmacht ist daher zu Maßnahmen berechtigt, nationale Kriegsführungsgesetze und -institutionen zu beseitigen und der Formierung des politischen und bewaffneten Widerstands vorzubeugen, zum Beispiel durch Suspendierung lokaler Sicherheits-, Wehr(pflicht)- und Waffengesetze sowie zentraler politischer Freiheitsrechte (Ver
Artikel 3 der Brüsseler Deklaration vom 27. Oktober 1874: „With this objects [to restore and ensure, as far as possible, public order and safety] he shall maintain the laws within were in force in the country in time of peace, and shall not modify, suspend or replace them unless necessary”; wortgleich übernommen in Art. 44 des Oxford-Entwurfs „The Laws of War on Land“ vom 9. September 1880; als historische Fußnote sei bemerkt, dass Russland drei Jahre nach der Verabschiedung des Brüsseler Grundsatzes im Zuge des Balkankrieges 1877 als Besatzer Rumäniens tiefgreifende Eingriffe in die osmanische Rechtsordnung und Verwaltung vorgenommen hat; berichten G. Schmoller/H. Maier/A. Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts Bd. 1, Tübingen 1951, § 24a, S. 38. W. I. Hull, The Two Hague Conferences and Their Contributions of International Law, Boston 1908, S. 203 ff. Vgl. auch E. H. Schwenk, Legislative Power of the Military Occupant under Article 43, Hague Regulation, in: Yale Law Journal 54 (1945), S. 400. 10 Zum Beispiel Dt. Bundesministerium der Verteidigung, Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten – Handbuch, Bonn 1992, Rn. 547, 548.
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sammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit) und Partizipationsrechte (Wahlrecht).11 Auch kann der gesetzgeberische Eingriff in die Vereins- und die Parteienlandschaft des besetzten Staates durch Verbote insbesondere bei einer kriegstreibenden Gesinnung auf militärische Notwendigkeit gestützt werden, so geschehen 1945 im Fall der deutschen NSDAP und 2003 im Fall der irakischen Baath-Partei.12 Staatliche Institutionen, deren Bestand grundsätzlich unter den Schutz des Art. 43 HLKO fällt,13 können somit von den Besatzungsmächten aus Sicherheitsgründen beseitigt oder neu strukturiert werden (zum Beispiel Geheimdienste). So naheliegend militärisch indizierte Eingriffe in die lokale Rechtsordnung des besetzten Staates sind, so auffällig ist doch, dass Art. 43 HLKO seine Eingriffsermächtigung gerade nicht auf „militärische“ Notwendigkeiten beschränkt. Ohne dem Wortlaut der Norm Gewalt anzutun, ließe sich also argumentieren, für die Besatzungsmacht könne sich die zwingende Notwendigkeit eines transformatorischen Eingriffs in die lokale Rechtsordnung aus ihren politischen Kriegs- und Besatzungszielen ergeben, zum Beispiel dem Ziel eines dauerhaften Regimewechsels im militärisch niedergerungenen Staat. So schnell ein Unrechtsregime mit militärischen Mitteln vertrieben werden kann, so langwierig und anspruchsvoll ist das Unterfangen, die rechtlichen Fundamente des Unrechtsregimes dauerhaft zu beseitigen und das Staatswesen im Lichte des UN-Ideals neu zu gestalten.14 Die Einleitung eines Regimewechsels kann nicht nur den Neuentwurf des Verwaltungssystems und der staatsorganisatorischen Verfasstheit des Staates erfordern, sondern auch die Umgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur des besetzten Staates. Rein historisch interpretiert verbietet Art. 43 HLKO derartig weitreichende Eingriffe in die lokale Rechtsordnung. Artikel 3 der Brüsseler Deklaration war gerade aus dem Gedanken entstanden, dass trotz der kriegerischen Besetzung das Band der Loyalität zwischen dem Volk und seinem Souverän fortbestehen bleibt. Platon de Waxel hielt es daher 1874 für völlig ausgeschlossen, dass Besatzungsmächte Änderungen der Verfassung vornehmen oder die Zivil- und Strafgesetze modifizieren dürfen.15 Auch wenn die Schutzzwecke des 19. Jahrhunderts, die vor allem 11
Für Nachweise siehe die Fundstellen in den Militärhandbüchern, z.B.: US Department of the Army Field Manual, FM 27-10: The Law of Land Warfare, Washington, D.C., 1956, S. 142, Rn. 370; US Basic Field Manual, Vol. VII: Military Law, Part 2, Rules of Land Warfare, Washington, D.C., 1934, S. 72, Rn. 288; UK Ministry of Defence, The Manual of the Law of Armed Conflict, Oxford 2004, S. 284, Rn. 11, 25.; Siehe auch die Entscheidung des israelischen Obersten Gerichtshofs zur Beschränkung der Pressefreiheit im Fall Al-Talia Weekly Magazine v. The Minister of Defence, in: Israel Yearbook on Human Rights 10 (1980), S. 333 ff. 12 Die CPA rechtfertigte ihr Entbaathifizierungsprogramm mit der Einschüchterungswirkung der Partei auf das irakische Volk, siehe Präambel zu CPA Order No. 1, abrufbar unter: http://www.cpairaq.org/regulations/20030516_CPAORD_1_De-Ba_athification_of_Iraqi_Society_.pdf. 13 E. Benvenisti, a.a.O. (Fn. 5), S. 19 f.; M. Sassòli, Legislation and Maintenance of Public Order and Civil Life by Occupying Powers, in: European Journal of International Law 16 (2005), S. 671. 14 R. N. Haass, Regime Change and its Limits, in: Foreign Affairs 84 (2005), S. 70. 15 P. de Waxel, L’Armée d’Invasion et la Population: leurs rapports pendant la guerre, Leipzig 1874, S. 108 ff.
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den politischen Interessen des temporär vertriebenen Souveräns dienten, heute keinen entscheidenden Einfluss auf die Interpretation des Art. 43 HLKO haben, so ist nicht zu übersehen, dass die alliierten Besatzungsmächte nach dem Zweiten Weltkrieg Art. 43 HLKO weiterhin sehr traditionell interpretierten; aufgrund der restriktiven Lesart des Art. 43 HLKO sahen sie sich dazu veranlasst, ihre politischen Transformationsbestrebungen in Deutschland und Japan außerhalb der Norm anzusiedeln.16 Vor allem ließen sich die alliierten Besatzungsmächte nicht von der deutschen Völkerrechtswissenschaft davon überzeugen, dass das Haager Recht eine Verwirklichung der Potsdamer Interventionsziele erlaube (sogenannte „Interventionsbesetzung“17). Unabhängig davon, ob die Konstruktion einer von Art. 43 HLKO gestützten Interventionsbesetzung im Jahr 1945 Überzeugungskraft hatte, wird man im UN-Zeitalter wohl vorsichtiger mit kriegszielindizierten Erlaubnistatbeständen umgehen müssen. So können unter der etablierten Herrschaft des allgemeinen Gewaltverbots (Art. 2 Ziff. 4 UN-Charta) allenfalls diejenigen Kriegsziele bei der Auslegung des Art. 43 HLKO berücksichtigt werden, die vom modernen ius ad bellum getragen werden: Angesichts des andauernden Streites um die Zulässigkeit humanitärer Interventionen und den eng gesteckten Grenzen des Selbstverteidigungsrechts (Art. 51 UN-Charta) wird man das Kriegsziel des Regimewechsels daher friktionsfrei nur im Kap. 7 der UN-Charta unterbringen können. Darüber hinaus wäre eine Interpretation des Art. 43 HLKO im Lichte unilateral erklärter Kriegsziele eine unzulässige rechtliche Vermischung von ius ad bellum und ius in occupatione bellica.18 Spätestens die Präambel des 1. Zusatzprotokolls lässt keinen Zweifel daran, dass die Bestimmungen der Genfer Abkommen unter allen Umständen einzuhalten sind, „und zwar ohne jede nachteilige Unterscheidung, die auf Art oder Ursprung des bewaffneten Konfliktes oder auf Beweggründen beruht, die von den am Konflikt beteiligten Parteien vertreten oder ihnen zugeschrieben werden.“19 Im Sinne einer kohärenten Interpretation des geltenden humanitären Völkerrechts ist das Trennungsgebot selbstredend auch im Rahmen der Haager Landkriegsordnung zu beachten, deren Normbestand desselben Schutzes vor einer kriegszielgeleiteten Aushöhlung bedarf wie die Genfer Abkommen.
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Gutachten der Völkerrechtsabteilung des Heeresministeriums der Vereinigten Staaten a.a.O. (Fn. 2), S. 300 ff.; vgl. auch P. Jessup, a.a.O. (Fn. 2), S. 92. 17 Siehe hierzu G. A. Zinn, Das staatsrechtliche Problem Deutschlands, in: Süddeutsche Juristenzeitung 2 (1947), S. 4 ff.; K. Geiler, Die gegenwärtige völkerrechtliche Lage Deutschlands, Bremen 1947, S. 18 ff.; P. Steiniger, id., S. 205; H. J. Schlochauer, Zur Frage eines Besatzungsstatuts für Deutschland, in: Archiv des Völkerrechts 1 (1948-1949), S. 204; G. Schmoller et al., a.a.O. (Fn. 7), § 6 S. 4 f. und S. 7; A. Steiniger, Das Besatzungsstatut, in: Neue Justiz 1 (1947), S. 206; G. Sauser-Hall, L’occupation de l’Allemagne par les Puissances Alliées, in: Schweizer Jahrbuch des internationalen Rechts 3 (1946), S. 36 ff. (Theorie von der Treuhand-Besetzung). 18 Vgl. T. Meron, The Humanization of Humanitarian Law, in: American Journal of International Law 94 (2000), S. 241. 19 Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 6. Juni 1977, BGBl. 1990 II, S. 1550, 5. Erwägungsgrund.
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Auch wenn das Kriegsziel „Regimewechsel“ vor Art. 43 HLKO kein Gehör findet, kann dessen dezidierte Aufgabenzuweisung dennoch einige Reformen im besetzten Staat erlauben, die auch einem dauerhaften Regimewechsel dienen: Die Besatzungsmacht hat für die Wiederherstellung und Wahrung der öffentlichen Ordnung („l’ordre public“) und des öffentlichen Lebens („la vie publique“) Sorge zu tragen. Unter der „öffentlichen Ordnung“ ist in erster Linie die Sicherheit der Bevölkerung zu verstehen. Im Fall Kongo v. Uganda konkretisiert der IGH Art. 43 HLKO dahingehend, dass die Sicherheitsfunktion der Besatzungsmacht die Pflicht umfasst: „to secure respect for the applicable rules of international human rights law and international humanitarian law, to protect the inhabitants of the occupied against acts of violence, and not to tolerate such violence by any third party.“20 Die Pflicht zur Wiederherstellung der Sicherheit der Bevölkerung wurde in der Besatzungspraxis durchaus extensiv interpretiert. So begründet die Coalition Provisional Authority (CPA) die Entbaathifizierung der irakischen Institutionen und der irakischen Gesellschaft u. a. mit der Bedrohung, die die Partei für die Bevölkerung darstellt.21 Im Kontext eines angestrebten Regimewechsels erweist sich zudem die besatzungsrechtliche Aufgabe, das öffentliche Leben („la vie publique“) sicherzustellen, als weitreichender Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in die lokale Rechtsordnung. Streng historisch interpretiert verpflichtet Art. 43 HLKO die Besatzungsmacht dazu, die Bevölkerung von den Folgen des kriegerischen Ausnahmezustandes wenig spüren zu lassen und ein alltägliches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles Lebensumfeld wiederherzustellen beziehungsweise es vor Erosion zu sichern.22 In der Aufgabenbeschreibung kommt der treuhändische Charakter der militärischen Besetzung zum Ausdruck, das heißt, die temporäre Verwaltung des besetzten Gebietes dient nicht nur militärischen Interessen, sondern steht auch im Dienste der Bedürfnisse der Bevölkerung.23 Gerade mit dieser Treuhandfunktion wurden transformatorische Maßnahmen wie die israelischen Militärerlässe im Gazastreifen24 und im Westjordanland25 gerechtfertigt. Der israelische Oberste Gerichtshof stellte sich erstmals 1971 in der Rechtssache Christian Society for the Holy Places auf den Standpunkt, „en vue de rétablir (…) la vie publi[que]“ und „en vue de (…) d’assurer (…) la vie publi[que]“ müssten als zwei getrennte Aufgabenbeschreibungen gelesen werden.26 20
IGH, Case Concerning Armed Activities on the Territory of the Congo (Democratic Republic of the Congo v. Uganda), 19. Dezember 2005, I.C.J. Reports (2005), S. 168, para. 178. 21 CPA Order No. 1, a.a.O. (Fn. 12); Vgl. J. Yoo, Iraqi Reconstruction and the Law of Occupation, in: U.C. Davis Journal of International Law & Policy 11 (2004), S. 7, 16 und 21. 22 Zur historischen Bedeutung der „vie publics“-Klausel E. H. Schwenk, a.a.O. (Fn. 9), S. 398; M. Sassòli, a.a.O. (Fn. 13), S. 663 ff. 23 A. Roberts, What is a Military Occupation, in: British Yearbook of International Law 55 (1984), S. 295. 24 Zwischen 1967 und 1992 wurden für den Gazastreifen – in dem ägyptisches Recht als lokale Rechtsordnung gilt – insgesamt 1.000 Militärgesetze erlassen. 25 Zwischen 1967 und 1992 wurden für das Westjordanland – in dem jordanisches Recht als lokale Rechtsordnung gilt – insgesamt 1.300 Militärgesetze erlassen. 26 Supreme Court, The Christian Society for the Holy Places v. The Minister of Defence et al., H.C. 337 / 71; auszugsweise in englischer Sprache abgedruckt in: Israel Yearbook of Human Rights 2 (1972), S. 354.
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So erlaube Art. 43 HLKO innovative Besatzungsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung dessen, was die Militärregierung als Notwendigkeit des öffentlichen Lebens betrachtet – vor allem mit Blick auf die sich ändernden wirtschaftlichen und sozialen Belange des Gebietes.27 Die Leitentscheidung, die in der späteren Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs noch ausgebaut wurde,28 qualifizierte schon 1971 die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete als ausgedehnt („prolonged occupation“)29 – eine Wertung, die von Art. 6 Abs. 3 des GA IV gedeckt wird. Die extensive Interpretation der Aufgaben von Besatzungsmächten durch den israelischen Obersten Gerichtshof, die in der Wissenschaft im Zuge der Irak-Besetzung dankbar aufgegriffen wurde,30 lässt die Trennungslinie zwischen Besatzungsmacht und Souverän bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Die Besatzungsmacht wird zum Treuhänder, der zum Wohl der Bevölkerung deren Interessen vertritt und anstelle des Souveräns – bzw. seiner Repräsentanten – dessen Aufgaben erfüllt. Artikel 43 HLKO geht dagegen von der Vermutung aus, dass das öffentliche Leben am besten auf Basis der lokalen und damit bekannten Gesetze und Institutionen zurückkehrt.31 Unabhängig davon, ob diese Vermutung empirisch zu belegen ist, beugt sie der Gefahr vor, dass das Gebiet während der Besetzung seine kulturelle Identität verliert und durch oktroyierte Rechtsharmonisierung faktisch einverleibt wird.32 Freilich kann die normative Vermutung zugunsten der lokalen Gesetze widerlegt werden, wenn zum Beispiel auf Basis der geltenden Wirtschaftsgesetze die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Alltagsgütern nicht sichergestellt werden kann.33 Und schließlich ist Art. 43 HLKO kein statisches Recht, das unter 27
Vgl. E. Playfair, Playing on Principles? Israel’s Justification for its Administrative Acts in the Occupied West Bank, in: dies. (Hrsg.), International Law and the Administration of Occupied Territories: Two Decades of Israeli Occupation of the West Bank and Gaza Strip, Oxford 1992, S. 208. 28 Siehe z.B. Teachers’ Housing Cooperative Society v. Military Commander of the Judea and Samaria Region, H.C. 393 / 82; für eine restriktivere Interpretation des Art. 43 vgl. Jerusalem District Electricity Company Inc. v. The Minister of Energy and Planning et al., H.C. 351 / 80, H.C. 764 / 80; zu diesen Entscheidungen vgl. E. Playfair, a.a.O. (Fn. 27), S. 209 ff. 29 E. Playfair, a.a.O. (Fn. 27), S. 209. 30 Eine undifferenzierte Interpretation des Art. 43 HLKO zugunsten von weitreichenden Transformationsrechten der Besatzungsmächte vertritt B. H. MacGurk, Revisiting the Law of Nationbuilding, in: Virginia Journal of International Law 45 (2005), S. 463 f.; A. George rechtfertigt sogar die Teilung des besetzten Gebietes mit Hinweis auf „la vie publique“, in: We had to Destroy the Country to Save it: On the Use of Partition to Restore Public Order During Occupation, in: Virginia Journal of International Law 48 (2007), S. 204 ff. 31 Siehe schon E. H. Feilchenfeld, The International Economic Law of Belligerent Occupation, Washington 1942, S. 89, Rn. 325. 32 E. Playfair, a.a.O. (Fn. 27), S. 214, 220; unter diesem Gesichtspunkt ist die Auffassung, Israel dürfe die Rechtslage in den besetzten Gebieten ändern, wenn dieselben Gesetze auch in Israel eingeführt werden, kaum vertretbar; die Auffassung wurde im frühen Werk von Y. Dinstein vertreten und vom Israel Supreme Court (per Judge Shamgar) im Abu Aila et al & Kandil-Fall aufgegriffen (H.C. 69 / 81 und 493 / 91); Y. Dinstein, Legislative Authority in the Administered Territories, in: Eyunai Mishpat 2 (1972), S. 511. 33 H.-G. Dederer, Aktuelle Herausforderungen für das Besatzungsrecht – Fragen aus Anlass der Besetzung des Iraks, in: D. Weingärtner (Hrsg.), Einsatz der Bundeswehr im Ausland, Baden-Baden 2006, S. 35, 39 f.; M. Sassòli weist darauf hin, dass Besatzungsmächte nicht verpflichtet sind,
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Ausblendung der Realität auf Kosten der Bevölkerung dem besetzten Gebiet Stagnation verordnet.34 Die Änderung der lokalen Gesetzeslage müsste sich aber gemäß Art. 43 HLKO als zwingend notwendig darstellen. Da Besatzungsmächte nicht immer wohlmeinende Treuhänder sind, bedarf die unbestimmte Aufgabenbeschreibung des Art. 43 HLKO, die Sicherstellung des öffentlichen Lebens, einer normativen Absicherung. Der Neuentwurf des öffentlichen Lebens im besetzten Staat ist in Anlehnung an den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz, dass kein Staat in rein interne Angelegenheiten eines anderen Staates intervenieren darf, nur dann erlaubt, wenn das Völkerrecht den Neuentwurf des öffentlichen Lebens zur besatzungsrechtlichen Aufgabe macht. Welche Eingriffe in die lokale Rechtsordnung durch eine internationale Aufgabenbeschreibung völkerrechtlich indiziert sind, ist – wie auch das völkerrechtliche Interventionsverbot – dem stetigen Rechtswandel ausgesetzt: Ein entscheidender Rechtswandel wurde 1949 durch das IV. Genfer Abkommen eingeleitet.
3 Artikel 64 des IV. Genfer Abkommens Art. 64 GA IV wird allgemein als eine Konkretisierung und Ergänzung des Art. 43 HLKO gewertet, die den Geist der alten Vorschrift wahrt (s. Art. 154 GA IV).35 Das vordringlichste Anliegen des Art. 64 GA IV ist die kontinuierliche Anwendung der lokalen Strafgesetze durch lokale Strafgerichte, die in Abs. 1 thematisiert wird. Mit Blick auf alle übrigen Landesgesetze und Landesinstitutionen stellt Abs. 2 in den Vordergrund, dass „die Besatzungsmacht die Bevölkerung des besetzten Gebietes Bestimmungen unterwerfen kann, die ihr unerlässlich [„indispensable“] erscheinen, um ihre Aufgaben zu erfüllen“. Die Aufgaben, die das Genfer Abkommen den Besatzungsmächten zuweist, sind vielfältig; es überrascht aber nicht, dass die Einleitung und Festigung eines Regimewechsels im besetzten Staat nicht dazu gehört. Immerhin verpflichtet Art. 64 GA IV die Besatzungsmacht zur „ordentlichen Verwaltung“ des besetzten Territoriums („l’administration régulière“). Was darunter genau zu verstehen ist, muss heute auf Basis internationaler „good governance“Standards beurteilt werden,36 wie sie beispielsweise in multidimensionalen UNmit allen Mitteln ihre Aufgaben zu erfüllen, sondern nur mit den vorhandenen, rechtmäßigen und verhältnismäßigen Mitteln, a.a.O. (Fn. 13), S. 664. 34 Vgl. R. Kolb, Ius in Bello: Le droit international des conflits armés, Basel/Genf/München 2003, S. 186; A. Pellet, The Destruction of Troy will not Take Place, in: Playfair, a.a.O. (Fn. 27), S. 203. 35 J. S. Pictet (Hrsg.), Commentary: The Fourth Geneva Convention, Genf 1958, Art. 64, S. 335. 36 World Bank, Governance and Development, 1992; Office of the High Commissioner for Human Rights, Human Rights Resolution 2000 / 64 vom 26. April 2000 und 2001 / 72 vom 25. April 2001; United Nations Millennium Declaration, UN Doc. A/Res/55 / 2 vom 18. September 2000; International Law Association (ILA) Resolution 3 / 2002: „New Delhi Declaration of Principles of International Law Relating To Sustainable Development”, in: ILA, Report of the Seventieth Conference, Neu-Dehli 2002.
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Missionen dem kriegsgeschädigten Staat vermittelt werden. Im Lichte einer modernen post-conflict state building-Interpretation erlaubt Art. 64 GA IV die Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für eine funktionsfähige, verantwortungsvolle und gesetzesgebundene lokale Verwaltung, der sich die Besatzungsmacht zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedient. Somit ergänzt die Genfer Aufgabe der „ordentlichen Verwaltung“ die Haager Aufgabe des „öffentlichen Lebens“ und öffnet die Tür für Reformmaßnahmen, die im Dienst des Rechtsstaatsprinzips, der Rechenschaftspflicht öffentlicher Entscheidungsträger sowie der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz ihrer exekutiven und legislativen Akte stehen. Maßnahmen zur Stärkung einer verantwortungsvollen Verwaltungs- und Regierungsführung, zum Beispiel korruptionsbekämpfende Maßnahmen, fallen gleichfalls bequem unter den Erlaubnistatbestand des Art. 64 Abs. 2 GA IV. Die aufgezählten Beispiele sind Reformen, die einem Regimewechsel ein dauerhaftes Fundament verleihen können. Das gilt umso mehr, als heute die „gute Verwaltung“ im Sinne des Art. 64 GA IV eine besondere menschenrechtliche Dimension aufweist.37
4 Einwirkung der internationalen Menschenrechte auf das moderne Recht der besetzten Gebiete Das IV. GA normiert in Art. 27 eine Reihe von unabdingbaren Basisrechten der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten, die freilich der Besatzungsmacht keine rechtliche Grundlage dafür bieten, dort einen demokratisch legitimierten Regimewechsel gesetzgeberisch und organisatorisch einzuleiten.38 Mehr Spielraum verspricht der Internationale Pakt für bürgerliche und politische Rechte39 (IPbpR), dessen territoriale Anwendbarkeit in besetzten Gebieten (Art. 2 Abs. 1 IPbpR) spätestens seit dem Mauergutachten40 des IGH, auch mit Blick auf entsprechende Aussagen des Menschenrechtsausschusses41, mehrheitlich akzeptiert wird.42 Durch die Notstandsklausel (Art. 4 IPbpR) stellt der IPbpR die kontinuierliche Beachtung unabdingbarer Menschenrechte im besetzten Gebiet sicher und trägt zugleich den militärischen Bedürfnissen in Zeiten des Notstandes – der auch ohne wesentlichen bewaffneten 37
Office of the High Commissioner for Human Rights, Human Rights Resolution 2000 / 64 vom 26. April 2000 und 2001 / 72 vom 25. April 2001. 38 G. H. Fox, Humanitarian Occupation, Cambridge 2008, S. 240. 39 Internationaler Pakt für bürgerliche und politische Rechte, UNTS Vol. 1999, S. 171, BGBl. 1973 II S. 1534. 40 IGH, Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, 9. Juli 2004, I.C.J. Reports (2004). 41 Siehe vor allem Human Rights Committee, General Comment Nr. 31 / 80 (Mai 2004), in: M. Nowak, CCPR Commentary, 2. Auflage, Kehl/Strasbourg/Arlington 2005, S. 1153. 42 M. Sassòli, a.a.O. (Fn. 13), S. 666; A. Roberts, Transformative Military Occupation: Applying the Laws of War and Human Rights, in: American Journal of International Law 100 (2006), S. 594.
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Widerstand als besetzungsimmanent vorauszusetzen ist43 – Rechnung. Der IGH hat sich dabei auf den Rechtsstandpunkt gestellt, dass die Besatzungsmacht trotz faktischer Notstandssituation an alle Bestimmungen des Paktes gebunden ist, die sie nicht nach Art. 4 Abs. 3 IPbpR ausdrücklich suspendiert. Der Menschenrechtsausschuss hat der förmlichen Notifikationspflicht nach Art. 4 Abs. 3 IPbpR bislang keine derart substanzielle Bedeutung beigemessen44 und in einigen Fällen sogar ex officio die Reduzierung der Menschenrechtsbindung auf notstandsfeste Rechte geprüft.45 Nicht minder innovativ legt der IGH die extraterritoriale Anwendbarkeit des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte46 (IPwskR) aus.47 Der Pakt enthält im Gegensatz zum IPbpR keine Klausel über die Reichweite seiner Anwendbarkeit und müsste daher gemäß Art. 29 der Wiener Vertragsrechtskonvention48 (WVRK) in seiner Wirkung auf das jeweilige Hoheitsgebiet der Vertragspartei begrenzt sein.49 Mit verhältnismäßig wenig Begründungsaufwand überwindet der IGH diese allgemeine Regel, indem er auf die extraterritorialen Bezüge des Art. 14 IPwskR verweist (unentgeltliche Grundschulpflicht). Auch der Aufforderung des Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Israel müsse ihm über die Verwirklichung der Paktrechte in den besetzten Gebieten berichten,50 wird entscheidende Bedeutung beigemessen.51 Die weitreichende Interpretation des IPwskR hat der IGH – das hebt das Urteil hervor – auf allgemeingültige Menschenrechtsüberlegungen gestützt.52 Abgesehen von der Angreifbarkeit des Mauergut-
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Vgl. M. Sassòli, a.a.O. (Fn. 13), S. 667. Landinello Silva v. Uruguay, Communication Nr. 34 / 78, S. 65, Rn. 8.3 (1984). 45 Weismann Lanza and Lanza Perdomo v. Uruguay, Comment Nr. R 2 / 8, Rn. 15 (1977); Torres Ramirez v. Uruguay, Communication Nr. R 1 / 4, Rn. 17 (1977). 46 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, UNTS Vol. 992, S. 3, BGBl. 1973 II S. 1570. 47 IGH, a.a.O. (Fn. 40), Rn. 112; so auch schon IGH, The Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons in Armed Conflicts, Advisory Opinion, 8. Juni 1996, I.C.J. Reports (1996), S. 226, Rn. 25. 48 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge, UNTS Vol. 1155, S. 331, BGBl. 1985 II S. 927. 49 M. J. Dennis, Application of Human Rights Treaties Extraterritorially in Times of Armed Conflict and Military Occupation, in: American Journal of International Law 99 (2005), S. 127. 50 ECOSOC, Consideration of Reports Submitted by State Parties under Articles 16 and 17 of the Covenant, „Israel”, UN Doc. E/C.12 / 1/Add. 90 vom 23. Mai 2003. 51 IGH, a.a.O. (Fn. 40), Rn. 112. 52 IGH, a.a.O. (Fn. 40), Rn. 138; im Rechtsstreit Kongo v. Uganda hatte der Kongo die Verletzung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte durch Uganda während der Besetzung der kongolesischen Provinz Ituri im Verfahren geltend gemacht, IGH, a.a.O. (Fn. 20), Rn. 25 (Nr. 2) und 181. Obwohl Uganda effektive Besatzungsherrschaft über das besetzte Gebiet ausgeübt hat, ging der IGH auf diesen Aspekt der Klage nicht ein, was freilich vor allem in dem Umstand begründet sein wird, dass der Kongo seine Klage in diesem Punkt nicht substantiiert hat, Rn. 217. 44
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achtens in diesem und anderen Punkten53 hat der progressive Ansatz des IGH entscheidend dazu beigetragen, dass heute die Bindung von Besatzungsmächten an die universellen Menschenrechtsverträge und an das humanitäre Völkerrecht in Praxis54 und Literatur55 nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt wird. Im Fall Kongo v. Uganda hat der IGH zudem seine Rechtsauffassung für den IPbpR bestätigt.56 Die Einwirkung der Menschenrechte auf die Pflichtenstellung einer Besatzungsmacht führt in erster Linie zu einem strengeren Rechtmäßigkeitsmaßstab für das militärische Handeln der Besatzungsorgane. Zudem muss die Besatzungsgesetzgebung die Menschenrechtskonformität des Verwaltungshandelns im Rahmen des Art. 43 HLKO i. V. m. Art. 64 GA IV sicherstellen (Art. 2 Abs. 2 IPbpR). Aus der menschenrechtlichen Verpflichtung folgt also, dass die Besatzungsmacht an der Anwendung menschenrechtswidriger lokaler Gesetze „zwingend gehindert“ ist (Art. 43 HLKO). Zugleich darf sie die lokale Rechtslage für die Zeit der Besetzung menschenrechtskonform ausgestalten, um ihren Verpflichtungen aus den Menschenrechtspakten nachzukommen (Art. 64 Abs. 2 GA IV). Was sich aus humanitärer Sicht durchaus vielversprechend anhört, ist im Lichte des Art. 64 GA IV nicht unproblematisch. Ohne Notstandsnotifikation hätte die extraterritoriale Anwendung des IPbpR beispielsweise zur Folge, dass die Besatzungsmacht die lokalen Familien- und Ehegesetze ändern muss, um diese für die Zeit ihrer faktischen Militärherrschaft den Standards des Art. 23 IPbpR anzupassen. Ein derartiger Eingriff in die Zivilrechtsordnung widerspricht aber den Normzwecken des Art. 64 GA IV i. V. m. Art. 43 HLKO, das heißt, dem Schutz der Rechtsordnung, mit der die Bevölkerung vertraut ist, und der kulturellen Identität des Landes.57 53
Kritisch auch M. Craven, The Violence of Dispossession: Extra-Territoriality and Economic, Social, and Cultural Rights, in: M. A. Baderin/R. Mac Corquodale (Hrsg.), Economic, Social and Cultural Rights in Action, Oxford 2007, S. 78. 54 Das UK Military Manual, a.a.O. (Fn. 11), Rn. 11.19, ist eines der wenigen Militärhandbücher, die direkt auf die Anwendbarkeit der Menschenrechte in den besetzten Gebieten Bezug nehmen; für die Praxis der UN siehe den Bericht der UN-Menschenrechtskommission zur Menschenrechtssituation im besetzten Kuwait, UN Doc. E/CN.4 / 1992 / 26 vom 16. Januar 1992, Rn. 12; Report of the Secretary General, Respect for Human Rights in Armed Conflict, UN Doc. A/7720 vom 20. November 1969, S. 12; für die gegenteilige Rechtsauffassung der USA siehe ihre Stellungnahme vor der Inter-Amerikanischen Menschenrechtskommission im Fall Salas v. United States, Case 10.573, C.H.R. 312, 317. 55 T. Ruys/St. Verhoeven, DRC v. Uganda: The Applicability of International Humanitarian Law and Human Rights Law in Occupied Territories, in: R. Arnold/N. Quénivet (Hrsg.), International Humanitarian Law and Human Rights Law: Towards a New Merger in International Law, Boston 2008, S. 177; A. Roberts, a.a.O. (Fn. 42), S. 599 mit kritischen Anmerkungen; F. Coomans/M. T. Kamminga, Comparative Introductory Comments on the Extraterritorial Application of Human Rights Treaties, in: dies. (Hrsg.), Extraterritorial Application of Human Rights Treaties, Antwerpen 2004, S. 1, 3; für die gegenteilige Auffassung vgl. Y. Dinstein, Human Rights in Armed Conflict, in: T. Meron (Hrsg.), Human Rights in International Law, Oxford 1985, S. 350 ff. 56 IGH, a.a.O. (Fn. 20), Rn. 216. 57 G. v. Glahn, The Occupation of Enemy Territory: A Commentary on the Law and Practice of Belligerent Occupation, Minneapolis 1957, S. 99 erachtete die Zivilgesetze als besetzungsrechtlich „immun“.
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5 Verfassungsoktroy Ein zentrales Mittel für die Sicherstellung eines dauerhaften Regimewechsels ist zweifelsohne die Verfassungsgebung beziehungsweise -änderung, zum Beispiel um Machtkonzentration im Staat vorzubeugen, demokratische Prozesse zu stärken oder verfassungsgerichtliche Kontrollmechanismen einzuführen. Grundsätzlich hat die Besatzungsmacht die lokale Verfassung als Teil der Rechtsordnung gemäß Art. 64 GA IV i. V. m. Art. 43 HLKO zu beachten, wenn nicht das menschenrechtsdurchwirkte ius in occupatione bellica das Gegenteil gebietet. Einige wenige Militärhandbücher spiegeln diesen restriktiven Ansatz wider und gebieten der besatzungsrechtlichen Gesetzgebungsgewalt Grenzen. So besagt das kanadische Military Manual: „Generally speaking, the occupant is not entitled to alter the existing form of government, to upset the constitution and domestic laws of the occupied territory, or to set aside the rights of the inhabitants.“58 Diese Vorschrift entspricht der internationalen Rechtslage, auch wenn die überwiegende Zahl der militärischen Handbücher keine derartige Bestimmung aufweist.59 Eine völkerrechtswidrige Annexion ist zweifelsohne jeder Versuch der Besatzungsmacht, unmittelbare, verfassungsgebende Gewalt auszuüben und so als „pouvoir constituant originaire“ in Erscheinung zu treten.60 Aber auch Änderungen der lokalen Verfassung, die ausschließlich der konstitutionellen Neuordnung der lokalen Staatsgewalt im Lichte der Besatzungsvorgaben dienen, verletzen das ius in occupatione bellica. Die Verfassungsgebung gehört nicht zu den Aufgaben, die von Art. 43 HLKO und Art. 64 GA IV gedeckt sind. Vor allem dienen verbindliche Vorgaben von Verfassungsinhalten nicht der Wiederherstellung des öffentlichen Lebens unter der Besatzungsherrschaft, wie sie Art. 43 HLKO normiert, sondern der Neujustierung der Staatsstrukturen nach dem Ende der Besetzung. Transformatorische Eingriffe in die lokale Verfassung können auch nicht auf Grundlage von menschenrechtlichen Verpflichtungen der Besatzungsmacht gerechtfertigt werden.61 Die Einführung föderaler Strukturen in die Verfassung, wie sie beispielsweise die USA in der neuen irakischen Verfassung indirekt bewirkt haben,62 kann seitens der Besatzungsmacht nicht mit dem Schutz von Min58
Canada National Defence, Joint Doctrine Manual, Law of Armed Conflict, 2001, Rn. 1205. J. S. Pictet, a.a.O. (Fn. 35), Art. 47, S. 273. 60 Zur Grundwanderung zwischen Annexion und Transformatorischer Okkupation s. A. Roberts, a.a.O. (Fn. 42), S. 582 f. 61 Das aber befürchtet G. H. Fox, Humanitarian Occupation, Cambridge 2008, S. 246. 62 Eine substantielle Einflussnahme der Vereinigten Staaten erfolgte erst nach Abschluss der Arbeit des Verfassungsausschusses (und nach dem formellen Ende der Besatzungszeit), als der Verfassungsentwurf in die Hände eines informellen Gremiums aus einflussreichen irakischen Politikern überging, dem sog. Leadership Council. Da auf Drängen der USA keine arabischen Nationalisten, und somit keine Sunniten, im Gremium vertreten waren, konnten sich die kurdischen und schiitischen Repräsentanten ohne Opposition auf eine betont föderale Bundesstaatlichkeit einigen. In diesem Sinne haben die USA direkten Einfluss auf die Föderalismusklausel des Art. 116 der neuen irakischen Verfassung genommen, die eine weitreichende staatsorganisatorische Verände59
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derheiten gerechtfertigt werden (Art. 27 IPbpR).63 Auch kann aus Art. 25 IPbpR nicht abgeleitet werden, dass die Besatzungsmacht verpflichtet ist, dem besetzten und damit fremden Staat eine demokratische Regierungsform zu verordnen, um so die demokratische Legitimation der neu geschaffenen staatlichen Institutionen zu gewährleisten.
6 Wahlen im besetzten Gebiet Besatzungsmächte mit Regimewechsel-Agenda können auf vielfältige Weise auf die Wahlen einwirken, die zur Neuetablierung der gesetzlichen Gewalt im besetzten Staat abgehalten werden. Einfluss auf das Wahlergebnis haben zum Beispiel gesetzgeberische Eingriffe in den Wahlkampf, die Parteienlandschaft und das tradierte Wahlsystem. Allerdings wird sich die Besatzungsmacht nicht ohne weiteres auf das ius in occupatione bellica stützen können, um das Abhalten von Wahlen und die damit einhergehenden gesetzgeberischen Maßnahmen zu rechtfertigen. Artikel 43 HLKO nimmt die Besatzungsmacht in die Pflicht, so weit wie möglich das öffentliche Leben („la vie publique“) wiederherzustellen und somit der Bevölkerung das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld zu ermöglichen, das den menschlichen Alltag ausmacht.64 Die Wiederherstellung des öffentlichen politischen Lebens ist von Art. 43 HLKO dagegen nicht erfasst. Ganz im Gegenteil: Wie bereits dargestellt, kann die Besatzungsmacht politische und freiheitliche Rechte suspendieren.65 Die Aussetzung der politischen Partizipationsrechte der Bevölkerung ist mit Blick auf militärische Notwendigkeiten im Rahmen einer Besetzung immer eine „angemessene“ und damit zulässige Beschränkung des Art. 25 IPbpR. Darüber hinaus ist Normadressat des Art. 25 lit. b) IPbpR die gesetzliche Staatsgewalt selbst, welche ihre Handlungsfähigkeit spätestens nach Beendigung der Besatzung wieder erlangt. Soweit diese schon während der Besetzung partiell ihre originäre hoheitliche Tätigkeit wieder aufnimmt und autonom auf Basis der Landesverfassung tätig wird, muss die Besatzungsmacht nach Maßgabe ihrer eigenen menschenrechtlichen Verpflichtungen die Menschenrechtskonformität der wieder erstarkten gesetzlichen rung zur zentralistischen Struktur des Iraks unter Saddam Hussein darstellt, A. S. Deeks/M. D. Burton, Iraq’s Constitution: A Drafting History, in: Cornell International Law Journal 40 (2007), S. 1, 75. 63 Vgl. Y. Dinstein, Legislation Unter Article 43 of the Hague Regulations: Belligerent Occupation and Peacebuilding, HPCR Occasional Paper Series Fall 2004, S. 10, abrufbar unter http://www. hpcrresearch.org/publications/ops.php. 64 E. H. Schwenk, a.a.O. (Fn. 9), S. 398; M. Sassòli, a.a.O. (Fn. 13), S. 663 ff.; siehe für eine sehr weitreichende Interpretation der „vie publics”-Klausel B. H. McGurk, Revisiting the Law of Nation Building: Iraq in Transition, in: Virginia Journal of International Law 45 (2005), S. 463 f. 65 Israel hat in der ersten Phase der Besetzung der palästinensischen Gebiete die lokalen Wahlen zu Bürgermeistern und Gemeinderäten bis 1972, also insgesamt fünf Jahre, suspendiert, vgl. E. R. Cohen, Human Rights in the Israeli-occupied Territories, Manchester 1986, S. 194.
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Gewalt – auch mit Blick auf die Wahlgesetze – entweder durch völkerrechtliche Abrede66 oder durch die Besatzungsordnung sicherstellen. Anders zu bewerten ist die Sachlage wohl bei Vorliegen einer sogenannten „überlangen Besetzung“, in der eine dauerhafte Aussetzung der politischen Partizipationsrechte unangemessen sein kann. Hier lässt sich im Zusammenspiel mit Art. 25 IPbpR die besatzungsrechtliche Pflicht aus Art. 43 HLKO ableiten, die Wiederherstellung des „öffentlichen Lebens“ auf das „politische“ öffentliche Leben zu erstrecken, zum Beispiel auf gemeindlicher Ebene. Hat sich die lokale Regierung im Zuge der militärischen Besetzung aufgelöst, wie es beispielsweise im Irak 2003 der Fall war, ist die Besatzungsmacht völkerrechtlich grundsätzlich nicht gehindert, Wahlen zur Etablierung einer neuen Staatsgewalt zu organisieren, zumindest wenn diese das Attribut fair und frei verdienen. Freilich ließe sich an dieser Stelle einwenden, dass Wahlen unter den Bedingungen einer militärischen Fremdherrschaft per se nicht frei und unverfälscht sein können. In einer Analyse der Plebiszitpraxis nach dem Ersten Weltkrieg stellt Sarah Wambaugh fest, dass es in dieser Zeit international anerkannter Standard war, Abstimmungsgebiete durch den Abzug der Truppen von Staaten, die unmittelbar am Ausgang interessiert waren, vor dem Urnengang zu „neutralisieren“.67 Die Vereinten Nationen und der Commonwealth lehnten 1984 eine Beobachtung der Wahlen in Grenada wegen der Anwesenheit der US-Interventionstruppen ab.68 Die Organization of American States (OAS) störte sich dagegen nicht an der Truppenpräsenz und schickte Wahlbeobachter. Die Freiheit der Wahl zu den deutschen Landestagen 1946 bis 1948 wurde ebenfalls nie in Frage gestellt, trotz fortdauernder militärischer Besetzung.69 Aus dieser Praxis lässt sich folgern, dass die Freiheit einer Wahl unter Besatzungsherrschaft nicht pauschal verneint werden kann. Anzumerken ist allerdings, dass Änderungen der lokalen Wahlbestimmungen durch die Besatzungsmacht, beispielsweise die Einführung eines Mehrheits- anstelle des gesetzlich vorgesehenen Verhältniswahlrechts, nicht auf Art. 25 IPbpR gestützt werden können und somit von Art. 43 HLKO verboten sind. Dagegen ist die Beseitigung des tradierten Einparteiensystems, das Art. 25 IPbpR historisch betrachtet nicht verbietet,70 heute durchaus zu rechtfertigen. Die Freiheit, sich zu Parteien zusammenzuschließen, wird in Art. 22 IPbpR ausgesprochen und rechtfertigt im Rahmen des Art. 43 HLKO die 66
Siehe beispielsweise die menschenrechtlichen Regelungen in den Osloer Verträgen, u.a. Art. XIX Israeli-Palestinian Interim Agreement on the West Bank and the Gaza Strip, 28. September 1995, International Legal Materials 36 (1997), S. 551. 67 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War, Vol. 1, Washington 1933, S. 444. 68 Y. Beigbeder, International Monitoring of Plebiscites, Referenda and National Elections, Dordrecht 1994, S. 265. 69 Siehe z.B. die Diskussion im britischen Zonenbeirat zu den Wahlen 1946, in: W. Vogel/C. Weizs (Hrsg.), Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 1976, S. 598 ff. 70 B. R. Roth, Governmental Illegitimacy in International Law, Oxford 1999, S. 331, 335; G. H. Fox, The Right to Political Participation in International Law, in: ders./B. R. Roth, (Hrsg.), Democratic Governance and International Law, Cambridge 2000, S. 48, 56; M. Nowak, a.a.O. (Fn. 41), Art. 25, Rn. 20.
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Einführung eines pluralistischen Parteiensystems. Die lokalen Partei(verbots)gesetze müssen den Test des Art. 22 Abs. 2 IPbpR bestehen, der die Einschränkungen der Vereinigungsfreiheit unter den Vorbehalt der demokratischen Notwendigkeit stellt. Die Einwirkung der Besatzungsmacht in die Parteienlandschaft durch die Änderung der lokalen Partei- und Vereinsgesetze kann darüber hinaus – wie bereits dargestellt – im Kontext des Art. 43 HLKO mit Sicherheitsbelangen begründet werden. Die politischen Institutionen des Staates, ihre Zusammensetzung, ihre Rechenschaftspflichten und ihre organisatorischen Verknüpfungen sind verfassungsrechtliche Themen der Staatsorganisation. Sie sind dem transformatorischen Zugriff der Besatzungsmacht aus den dargestellten Gründen nach Art. 43 HLKO grundsätzlich entzogen. Bei einer eklatant defizitären staatsorganisatorischen Verfasstheit des besetzten Staates, welche auch nicht durch Abhaltung von Wahlen bereinigt werden kann, kann die Initiierung des Verfassungsgebungsprozesses durch die Besatzungsmacht allerdings geboten sein, um dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes zur Geltung zu verhelfen.
7 Selbstbestimmungsrecht des Volkes Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes – sei es nun gegen fremde Dominanz (externes Selbstbestimmungsrecht71) oder innerstaatliche Repräsentationsmängel (internes Selbstbestimmungsrecht72) gerichtet – ist mit vielen rechtlichen Unsicherheiten behaftet,73 zumal der progressive akademische Diskurs einer zurückhaltenden internationalen Praxis gegenüber steht. Gleichwohl ist das Selbstbestimmungsrecht, wie es in Art. 1 des IPbpR und des IPwskR Ausdruck findet, ein rechtlicher Anspruch, mit dem die Besatzungsmacht konfrontiert ist.74 Das ius in occupatione bellica geht von zwei Annahmen aus: Zum einen wird die Staatsgewalt des besetzten Gebietes lediglich temporär durch die faktische Besatzungsgewalt verdrängt,75 zum anderen stellt die Besetzung nicht die souveräne 71
Art. 1 Abs. 4 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen; UN GA Res. 38 / 16 „Universal Realiziation of the Right of People to Self-determination” vom 22. November 1983. 72 A. Cassese, Self-determination of Peoples: A Legal Reappraisal, Cambridge 1995, S. 102; A. Rosas, Internal Self-Determination, in: C. Tomuschat (Hrsg.), Developments in International Law: Modern Law of Self-Determination, Dordrecht 1993, S. 230. 73 Die Unterscheidung zwischen externem und internem Selbstbestimmungsrecht geht auf A. Cassese zurück, id., S. 101; einen guten Überblick über den Diskussionsstand gewährt F. L. Kirgis, The Degrees of Self-Determination in the United Nations Era, in: American Journal of International Law 88 (1994), S. 304 ff. 74 Siehe z.B. GA Res. 58 / 161 v. 22. Dezember 2003, Rn. 2: „bekundet ihre entschiedene Zurückweisung fremder militärischer Intervention, Aggression und Besetzung, da diese in bestimmten Teilen der Welt zur Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und anderer Menschenrechte geführt haben“. Umstritten ist, ob und welche Facette des Rechts auf Selbstbestimmung ius cogens-Charakter besitzt. 75 E. Benvenisti, a.a.O. (Fn. 5), S. 6.
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Staatlichkeit des besetzten Staates in Frage.76 Die de jure-Souveränität verbleibt also beim besetzten Staat, auch wenn de facto die Staatsgewalt von der Besatzungsmacht verdrängt ist.77 Das von der Besatzungsmacht beherrschte Volk ist also in erster Linie ein Staatsvolk, das sein internes Selbstbestimmungsrecht im Sinne des Art. 1 IPbpR bereits ausgeübt hat. Damit rückt in den internationalen Beziehungen das Prinzip der souveränen Gleichheit in den Vordergrund, aus dem sich eine fundamentale Rechtsposition des souveränen Staates ableitet,78 nämlich das Verbot der Intervention in die internen, vom internationalen Recht nicht erfassten Angelegenheiten. Im besetzten Staat – der seine souveränen Rechte mangels Handlungsfähigkeit faktisch nicht mehr ausüben kann – wird dieses Prinzip durch Art. 43 HLKO und Art. 64 GA IV ( lex specialis) durch das Verbot der Einmischung in die lokale Rechtsordnung geschützt, außer der Eingriff ist im Lichte der vielfältigen, international zugewiesenen Aufgaben der Besatzungsmacht unerlässlich. In dieser Rechtsposition des besetzten Staates gegen die Besatzungsmacht kommt das ausgeübte Selbstbestimmungsrecht des Staatsvolkes zum Ausdruck.79 Aus diesem Blickwinkel heraus ist das Selbstbestimmungsrecht ein rechtliches Argument gegen eine Aushöhlung des Haager und Genfer Schutzes der lokalen Rechtsordnung zugunsten eines extensiven transformatorischen Besatzungsrechts.80 So wie also das Recht des Volkes auf Selbstbestimmung den Anspruch des besetzten Staates auf Nichtintervention in die lokale Rechtsordnung unterstützen kann, so kann sich das Selbstbestimmungsrecht des Volkes auch gegen den besetzten Staat wenden. Hat die verdrängte lokale Staatsgewalt vor der militärischen Niederlage ihre Repräsentationsfunktion in eklatanter Weise missachtet, beispielsweise durch die gewaltsame Unterdrückung einer ethnischen Gruppe oder des gesamten Staats76
Nach der sog. Debellatio-Doktrin sollten die völlige militärische Niederwerfung und die damit einhergehende staatliche Desintegration zum Staatenuntergang führen; dieses Schicksal wurde nach der Vorstellung von H. Kelsen, The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, in: American Journal of International Law 39 (1945), S. 519, M. Virally, L’Administration internationale de L’Allemagne, Paris 1948, S. 22, A. V. Freemans, War Crimes by Enemy Nationals Administering Justice in Occupied Territories, in: American Journal of International Law 41 (1947), S. 605, als Folge der bedingungslosen Kapitulation dem Deutschen Reich zuteil; Art. 43 HLKO, der die Besatzer auf die Beachtung der Landesgesetze des besetzten Staates verweist, und die internationale Praxis spiegeln die Debellatio-Doktrin nicht wider. 77 A. Pellet, a.a.O. (Fn. 34), S. 175. 78 J. L. Brierly, The Law of Nations: An Introduction to the International Law of Peace, Oxford 1963, S. 47: Souveränität ist ein Bündel von Ansprüchen in den zwischenstaatlichen Beziehungen. 79 J. Summers, Peoples and International Law: How Nationalism and Self-Determination Shape a Contemporary Law of Nations, Boston, MA, 2007, S. 329 ff.; das Zusammenspiel von Selbstbestimmungsrecht und souveräner Gleichheit kommt anschaulich in der Resolution der Generalversammlung zur Besetzung Afghanistans durch sowjetische Truppen zum Ausdruck, UN Doc. A/ RES/ES-6 / 2 vom 14. Januar 1980: „Reaffirming the inalienable rights of all peoples to determine there own future and to choose there own government free from outside interference (…) Appeals to all States to respect the sovereignty, territorial integrity, political independence and non-aligned character of Afghanistan (…)”. 80 So auch K. Parameswaran, Besatzungsrecht im Wandel: aktuelle Herausforderungen des Rechts der militärischen Besetzung, Baden-Baden 2008, S. 68.
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volkes, dann rückt das Selbstbestimmungsrecht des Volkes wieder in das Zentrum besatzungsrechtlicher Überlegungen, das auf internationaler Ebene nicht mehr vom Prinzip der souveränen Gleichheit überlagert wird.81 Freilich besteht immer die Gefahr, dass die Besatzungsmacht missbräuchlich die Illegitimität der militärisch vertriebenen Regierung behauptet, um eine neue willfährige Herrschaft unter dem Deckmantel des Selbstbestimmungsrechts etablieren zu können. Folgt man Brad Roth, so hat die Legitimität einer Regierung im Völkerrecht den Charakter einer widerlegbaren Vermutung.82 Die internationale Staatenpraxis liefert bisher nur wenige klare Hinweise darauf, wann diese Vermutung der Legitimität tatsächlich durchbrochen wird.83 Insbesondere faschistische, (quasi-)koloniale und rassistische Regime84 sowie Militärregime, die sich gegen eine demokratisch gewählte Regierung an die Macht geputscht haben,85 wurden von der internationalen Gemeinschaft als „illegitim“ gebrandmarkt. Gleiches gilt für Regierungen, die systematisch die fundamentalsten Menschenrechte verletzen, beispielsweise durch Massenvertreibungen oder staatlich verordneten Genozid.86 Wenn dagegen die militärisch besiegte lokale Regierung das Staatsvolk repräsentiert hat, weil sie im Idealfall aus freien und fairen Wahlen hervorgegangen ist, dann ist das Organisieren von Neuwahlen zur Neukonstituierung der lokalen Staatsgewalt ein völkerrechtswidriger Eingriff der Besatzungsmacht in die lokale Rechtsordnung und deren Institutionen. Die Schranken der Art. 43 HLKO und Art. 64 GA IV spiegeln hier das externe Selbstbestimmungsrecht des besetzten Volkes gegenüber der Besatzungsmacht wider.87 Das ius in occupatione bellica steht im Dienste des Rechts des Volkes, frei – das heißt ohne Besatzungszwang88 – über seinen politischen Status und die Gestaltung sei81
F. L. Kirgis, a.a.O. (Fn. 73), S. 308. B. R. Roth, a.a.O. (Fn. 70), S. 430. 83 Zur britischen Praxis der Nichtanerkennung von Regierungen vgl. die Erklärung des UK Foreign Secretary, Lord Carrington vom 28. April 1980, in: House of Lords Debates, Bd. 408 Columns 1121 f. 84 Für den Fall Südafrika vgl. beispielsweise die Stellungnahme des Britischen Delegierten im Third Committee der UN-Generalversammlung, 12. Oktober 1984, in: British Yearbook of International Law 55 (1984), S. 431 ff. 85 So z.B. in den Fällen Haiti, UN Doc. S/RES/940 (1994) vom 31. Juli 1994, und Honduras, UN Doc. A/RES/63 / 301 vom 29. Juni 2009. 86 J. R. Crawford, The Creation of States in International Law, Oxford 2006, S. 149. 87 Vgl. das sechste Prinzip der Declaration on Principles of International Law Concerning Friendly Relations and Cooperation among States in Accordance with the Charter of the United Nations, UN Doc. A/RES/25 / 2625 vom 24. Oktober 1970, Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten, Absatz 2 „Die souveräne Gleichheit umfasst folgende Bestandteile (…) e) jeder Staat hat das Recht, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln“. 88 Die „Rechtswidrigkeit“ einer Besatzung im Lichte des Selbstbestimmungsrechts wird von einigen internationalen Dokumenten hervorgehoben, z.B. Art. 16 Abs. 1 der Charter of Economic Rights and Duties of States, UN Doc. A/RES/29 / 3281 vom 12. Dezember 1974; UN Doc. A/ RES/3171 vom 17. Dezember 1973; K. Parameswaran weist zu Recht darauf hin, dass der prima facie-Widerspruch zwischen Selbstbestimmungsrecht und Besetzung eine Frage des ius ad bellum ist, K. Parameswaran, a.a.O. (Fn. 80), S. 67. 82
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ner wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung zu entscheiden (Art. 1 IPbpR).89 In dem hier interessierenden Kontext des Regimewechsels im besetzten Staat lässt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht des fremdbeherrschten Volkes ableiten, dass die lokale Rechtsordnung und die darauf basierenden Institutionen grundsätzlich von der neuen Staatsgewalt zu entwerfen sind, die sich das Volk in freier Entscheidung gibt.90 Daher widerspricht ein Verfassungsoktroy, mit dem die künftige gesetzliche Staatsgewalt auf Dauer vordefiniert wird, nicht nur Art. 43 HLKO und Art. 64 GA IV (Kap. E), er verletzt auch das Selbstbestimmungsrecht des Volkes.91 Im Ergebnis wird der besatzungsrechtliche Schutz der lokalen Rechtsordnung also vom internen und externen Selbstbestimmungsrecht des besetzten Volkes dahingehend bestätigt, dass die Änderung der politischen und rechtlichen Beziehungen zwischen dem Volk und seiner Regierung nicht durch ein unilaterales Diktat der Besatzungsmacht zu bewerkstelligen ist, sondern durch die Repräsentanten des Volkes.92 Dennoch ist es der Besatzungsmacht nicht verboten, den Verfassungsgebungsprozess einzuleiten und eigene Vorstellungen in den Diskurs einzubringen. Die Mittel, die die Besatzungsmacht zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen zur Hand hat, sind naturgemäß sehr zwingend, insbesondere wenn der Abbruch des Verfassungsgebungsprozesses im Raum steht. Das Ansinnen der Besatzungsmacht, den von ihr gewollten Regimewechsel in einer neuen Verfassung festzuschreiben, und das gegenläufige Bedürfnis der wiedererstarkten Staatsgewalt, frei die Verfassung zu gestalten, haben im deutschen Verfassungsgebungsprozess 1949 zu einer weitgehend konsensualen Annäherung der Positionen geführt. Abgesehen von den Druckmitteln in der Hand der Besatzungsmacht unterscheiden sich deren faktische Einwirkungen auf Verfassungsinhalte und -verfahren nicht von den Einflüssen anderer externer Akteure, zum Beispiel der Vereinten Nationen („constitutional engineering“). Im Lichte des sehr grobmaschigen Selbstbestimmungsrechts ist entscheidend, dass die Verfassung mit all ihren Spuren externer Einwirkungen durch einen „freien und unverfälschten Willensakt des betroffenen Volkes“93 bestätigt wird. Dieser Wille kann sich auf unterschiedliche Weise manifestieren, wie das Beispiel des Grundgesetzes veranschaulicht. Ob die Verfassung aufgrund der Einflussnahme der Besatzungsmacht unter einem Legitimitätsdefizit leidet, was der irakischen Ver89
E. Benvenisti, a.a.O. (Fn. 5), S. 183. Vgl. G. H. Fox, a.a.O. (Fn. 61), S. 208; J. L. Cohen, The Role of International Law in PostConflict Constitution-Making: Toward a „Jus Post Bellum” for „Interim Occupations”, in: New York Law School Journal on Human Rights 51 (2006 / 07), S. 522. 91 S. Wheatley, The Security Council, Democratic Legitimacy and Regime Change in Iraq, in: European Journal of International Law 17 (2006), S. 540 f. mit Verweis auf GA-Resolution, UN Doc. A/RES/34 / 22, vom 14. November 1979 (Besetzung Kambodschas durch Vietnam) Rn. 10: „Resolves that the people of Kampuchea to chose democratically their own government, without outside interference, subversion or coercion”; zur Besetzung Grenadas durch die USA siehe UN Doc. A/RES/38 / 7, vom 2. November 1983, Rn. 5. 92 J. L. Cohen, a.a.O. (Fn. 90), S. 525. 93 IGH, West Sahara, Advisory Opinion vom 16. Oktober 1975, I.C.J. Reports (1975), S. 35, Rn. 55. 90
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fassung vorgeworfen wird,94 ist eine Frage, die sich einer Beurteilung auf Basis des Selbstbestimmungsrechts entzieht.95
8 Conclusio Die Verhaltenspflichten von Besatzungsmächten nehmen noch heute ihren Ausgangspunkt in Art. 43 HLKO, einer Norm, die im 19. Jahrhundert zum Schutz des niedergerungenen Souveräns entwickelt wurde, und deshalb im 20./21. Jahrhundert gerne als unzeitgemäß zur Seite gelegt wird. Die Untersuchung hat gezeigt, dass der Stab zu voreilig über die Norm gebrochen wird: Das ius in occupatione bellica ist sehr wohl in der Lage, moderne Schutzzwecke zu absorbieren, die das 21. Jahrhundert mit seinen globalen Herausforderungen und seiner fortschreitenden Verrechtlichung diktiert. Im Lichte der internationalen Menschenrechte und Verwaltungsstandards interpretiert, eröffnet Art. 43 HLKO i. V. m. Art. 64 GA IV Handlungsspielräume für die rechtliche und institutionelle Einleitung eines Regimewechsels im kriegsgeschädigten Staat. Zugleich ziehen die Normen der Fremdeinwirkung Grenzen zum Schutz der kulturellen Identität des Volkes und seines ausgeübten beziehungsweise neu auszuübenden Selbstbestimmungsrechts. Tiefgreifende Änderungen politischer, institutioneller und rechtlicher Strukturen sollen nicht durch Besatzungsmächte herbeigeführt werden, sondern durch das betroffene Volk beziehungsweise seine Repräsentanten bewirkt und getragen werden. Auch wenn eine Sicherheitsratsermächtigung zum Staatenaufbau den externen Akteuren – das heißt auch und vor allem Besatzungsmächten – mehr Handlungsspielräume gewähren kann als vom ius in occupatione bellica vorgesehen, bleibt das Selbstbestimmungsrecht des Volkes die rechtliche Grenze der Fremdeinwirkung.96 Um zu verhindern, dass diese Grenze diskret auf dem Altar wohlmeinender Regimewechsel-Ambitionen geopfert wird, ist es angemessen, dass Besatzungsmächte ihre Maßnahmen nicht bloß mit einem pauschalen Verweis auf die Gebräuche des Krieges oder auf Sicherheitsratsresolutionen versehen, wie es die gepflogene Praxis des CPA im Irak war. Vielmehr sollten alle transformatorischen Maßnahmen im Lichte des anwendbaren internationalen Rechts explizit begründet und gerechtfertigt werden. Das trägt zur Rechtssicherheit bei und fördert, was vor allem nötig ist: das lokale Bewusstsein für die Legitimität der Fremdeinwirkung. 94
A. Arato, Post-Sovereign Constitution-Making and its Pathology in Iraq, in: New York Law School Journal on Human Rights 51 (2006 / 2007), S. 547 ff. 95 P. Dann/Z. Al-Ali, The Internationalized „Pouvoir Constituant”: Constitution-Making Under External Influence in Iraq, Sudan and East Timor, in: Max Planck United Nations Yearbook 10 (2006), S. 423, 451, 454 ff. 96 Siehe hierzu K. Schmalenbach, Wiederherstellung von Staatlichkeit nach militärischen Konflikten: Mögliche Funktionen von Besatzungsmächten, Internationalen Organisationen und dritten Staaten, in: Moderne Konfliktformen: Humanitäres Völkerrecht und privatrechtliche Folgen. Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heidelberg, im Erscheinen 2010.
Durchsetzung von Ansprüchen von Kriegsopfern – Sind wir heute weiter als 1949? Rainer Hofmann
1 Einführung Die Frage, ob Kriegsopfer einen individuellen Anspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, haben, ist von erheblicher Aktualität und Relevanz, gerade auch für Deutschland: Urteile griechischer und italienischer Gerichte, in denen Opfern – oder ihren Erben – von Kriegsverbrechen deutscher Streitkräfte während des Zweiten Weltkriegs solche individuellen Schadenersatzansprüche zugesprochen wurden, haben zu beachtlichen Belastungen der jeweiligen bilateralen Beziehungen geführt. Die Weigerung der italienischen Corte di Cassazione, die Berufung Deutschlands auf die völkerrechtlichen Regeln der Staatenimmunität anzuerkennen, hat sogar zur Einleitung eines Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) geführt – ein Vorgang, der zwischen an sich „befreundeten“ Staaten, die zudem Mitglieder von NATO und EU sind, durchaus ungewöhnlich ist. Gleichzeitig sind vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Verfassungsbeschwerden von Opfern – oder ihren Erben – eines Luftangriffs der NATO auf die Brücke von Varvarin während der bewaffneten Intervention in Serbien im Jahre 1999 anhängig, bei denen es unter anderem auch darum geht, ob das gegenwärtige Völ
Vgl. vor allem das Urteil des Landgerichts Levadia ( Distomo) vom 30. Oktober 1997; vgl. hierzu I. Bantekas, International Decisions: Prefecture of Voiotia v Federal Republic of Germany, in: American Journal of International Law 92 (1998), S. 765-768. Vgl. vor allem das Urteil der Corte di cassazione vom 13. Januar 2009 im Fall Ricciarini und Pietrelli ( Civitella), in: Rivista di diritto internazionale 92 (2009), S. 618. Ständige Rechtsprechung der italienischen Corte di cassazione seit ihrem Urteil vom 11. März 2004 im Fall Ferrini, in: Rivista di diritto internazionale 87 (2004), S. 539. ICJ, Case concerning Jurisdictional Immunities of the State (Federal Republic of Germany v Italy). R. Hofmann () Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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kerrecht einen Individualanspruch auf Schadenersatz von Opfern von Verletzungen des während bewaffneter Konflikte anwendbaren Rechts umfasst. Diese Frage war auch Gegenstand einer von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 21. März 2006 angenommenen Resolution zu den „Basic Principles and Guidelines on the Right to a Remedy and Reparation for Victims of Gross Violations of Human Rights and International Humanitarian Law“ (Basic Principles); gegenwärtig beschäftigt sich etwa das Committee on Reparation for Victims of Armed Conflict der International Law Association (ILA) mit dieser Problematik. Schließlich hat die Bundesregierung den Opfern – und ihren Erben – des Luftangriffs von NATOFlugzeugen auf von Angehörigen der Taliban bei Kundus in Afghanistan entführten Tanklastwagen – allerdings ohne Anerkennung einer entsprechenden Rechtspflicht – offenbar Schadenersatz zugesagt. Gegenstand dieses Beitrags ist allein die Frage, ob es grundsätzlich einen völkerrechtlichen Anspruch solcher Opfer im Jahre 1949 gab und, falls nicht, ob es ihn heute gibt. Nicht behandelt wird die Frage, ob es einen solchen Anspruch nach deutschem Amtshaftungsrecht gibt; dies war von den deutschen Gerichten in ständiger Rechtsprechung für die Zeit des Zweiten Weltkriegs verneint, im Verfahren um die Opfer des Angriffs auf die Brücke von Varvarin vom OLG Köln jedoch bejaht worden. Der Beitrag befasst sich auch nur mit möglichen Ansprüchen von Opfern solcher Rechtsverletzungen während internationaler bewaffneter Konflikte; dies entspricht auch der ganz überwiegenden gegenwärtigen Diskussion, obwohl es sicherlich weit mehr Opfer in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten, wie etwa in Afghanistan, gibt: Dies beruht darauf, dass vor allem die Frage einer möglichen Haftung von non-state actors und ihrer Durchsetzung weitgehend ungeklärt ist.10 Ferner wird auch nicht auf die heftig umstrittene Frage eingegangen, ob jede Verletzung des in internationalen bewaffneten Konflikten anwendbaren Rechts, was heute grundsätzlich – ungeachtet vieler ungeklärter Fragen im Einzelnen – die Regeln des humanitären Völkerrechts wie die Menschenrechte umfasst,11 einen solchen Anspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, auslösen kann – oder nur besonders schwere Verletzungen, vielleicht
Vgl. hierzu Urteil des Landgerichts Bonn vom 10. Dezember 2003, in: Neue Juristische Wochenschrift 57 (2004), S. 525; Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 28. Juli 2005, in: Neue Juristische Wochenschrift 58 (2005), S. 2860; Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. November 2006, BGHZ 169, 348. UN Doc. A/RES/60/147, 21. März 2006. Vgl. zuletzt den Bericht des Committee für die Konferenz in Rio de Janeiro 2008, zugänglich unter http://www.ila-hq.org/en/committees/index.cfm/cid/1018. Vgl. die Berichte in FAZ.NET und Sueddeutsche.de vom 9. Dezember 2009. Vgl. Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 28. Juli 2005, a.a.O. (Fn. 5). 10 Vgl. etwa R. Hofmann, Reparations for Victims of War and Non-State Actors, in: South African Yearbook of International Law 32 (2007), S. 291-311. 11 Seit dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs im Nuklearwaffen-Fall wird dies kaum mehr bestritten, IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion vom 8. Juni 1996, I.C.J. Reports (1996), S. 226, para. 25.
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auch nur von ganz zentralen Normen, also etwa „grave breaches of core norms“.12 Schließlich wird auch nicht untersucht, ob unter bestimmten Umständen selbst Opfer von rechtmäßigen militärischen Handlungen, also die Fälle, in denen der Tod oder die Verletzungen von Menschen als „Kollateralschäden“ klassifiziert werden, einen Anspruch auf Wiedergutmachung haben.13 Es geht also – dies sei nochmals unterstrichen – allein um die Frage, ob es im Jahre 1949 einen völkerrechtlichen Anspruch von Opfern von Verletzungen des während eines internationalen bewaffneten Konflikts anwendbaren Rechts gab und, falls nicht, ob es ihn heute gibt. Warum könnte es einen solchen Anspruch heute – im Unterschied zur Lage im Jahre 1949 – geben? Insofern sind drei Umstände zu berücksichtigen: Zum einen ist heute die partielle Völkerrechtssubjektivität des Individuums, im Unterschied zur unmittelbaren Nachkriegszeit, allgemein anerkannt. Dies gilt jedenfalls für den Bereich der Menschenrechte.14 Zum anderen finden sich zumindest in den regionalen Menschenrechtsinstrumenten auch Normen, die Opfern von Menschenrechtsverletzungen grundsätzlich einen völkervertraglichen Schadenersatzanspruch einräumen.15 Zum Dritten ließe sich mit guten Gründen argumentieren, dass dem Individuum auch für den Bereich des humanitären Völkerrechts partielle Völkerrechtssubjektivität zukommt; unter dem Aspekt eines „Gleichlaufs“ von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten drängt sich dann der Gedanke auf, nicht nur für Verletzungen von menschenrechtlichen Normen einen völkerrechtlichen Individualanspruch auf Schadenersatz anzuerkennen, sondern – zumindest de lege ferenda – auch für Opfer von Verletzungen des in internationalen bewaffneten Konflikten anwendbaren Rechts, also neben der Menschenrechte auch des humanitären Völkerrechts. Denn es erscheint schwer nachvollziehbar, dass in einer Situation eines internationalen bewaffneten Konfliktes Personen, denen gegenüber Menschenrechtsverletzungen geschahen, einen Anspruch auf Schadenersatz haben, während diejenigen Personen, die Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts wurden, keinen solchen Anspruch haben sollen.16
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Vgl. etwa M. Stohl/D. Carelton/G. Lopez/S. Samuels, State Violation of Human Rights: Issues and Problems of Measurement, in: Human Rights Quarterly 8 (1986), S. 592-606. 13 Vgl. hierzu etwa Y. Ronen, Avoid or Compensate? Liability for Incidental Injury to Civilians Inflicted During Armed Conflict, in: Vanderbilt Journal of Transnational Law 42 (2009), S. 181-226. 14 Vgl. nur K. J. Partsch, Individuals in International Law, in: R. Bernhardt, Encyclopedia of Public International Law, Vol. II (1995), S. 957-962. 15 Vgl. Art. 41 EMRK, Art. 63 AMRK und Art. 27 des Protokolls zur Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der Völker; vgl. hierzu etwa R. Hofmann, Can Victims of Human Rights Violations Claim Damages, in: T. Giegerich, A Wiser Century? Judicial Dispute Settlement, Disarmament and the Laws of War 100 Years after the Second Hague Peace Conference, Berlin 2009, S. 323-333. 16 So die Situation im vom House of Lords am 13. Juni 2007 entschiedenen Fall Al-Skeini, [2007] United Kingdom House of Lords 26.
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2 Die Situation im Jahre 1949 Zur Feststellung der Situation im Jahre 1949 ist zum einen das seinerzeit geltende Vertragsrecht heranzuziehen. Daneben ist die einschlägige Staatenpraxis zu berücksichtigen.17
2.1 Vertragsrecht Von den im Jahre 1949, also vor Inkrafttreten der vier Genfer Rotkreuz-Konventionen, geltenden völkervertraglichen Regelungen ist vor allem Art. 3 des IV. Haager Abkommens aus dem Jahre 1907 von Bedeutung. Daneben können sich Rückschlüsse auf das damalige Verständnis aus den Bestimmungen der nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg geschlossenen Friedensverträge der Jahre 1919 und 1947 ergeben; auch der mit Japan geschlossene Friedensvertrag von San Francisco soll herangezogen werden, da er zwar aus dem Jahre 1951 stammt, aber doch den Geist jener Jahre verkörpert. 2.1.1 Artikel 3 IV. Haager Abkommen Nach Art. 3 des IV. Haager Abkommens betreffend die Gesetze und Gebräuche des Krieges vom 18. Oktober 190718 ist eine „Kriegspartei, welche die Bestimmungen der bezeichneten Ordnung [gemeint ist die dem Abkommen beigefügte Haager Landkriegsordnung] verletzen sollte, (…) gegebenen Falles zum Schadenersatze verpflichtet.“ Auch wenn die Bestimmung letztlich sicher auch darauf abzielte, die Lage von Opfern rechtswidriger Kriegsführung zu verbessern,19 wurde sie für lange Zeit nicht dahin verstanden, dass sie den Opfern von Verletzungen des Kriegsrechts beziehungsweise humanitären Völkerrechts einen Individualanspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, zubilligte; in einer Zeit, in welcher der Mensch keinerlei Völkerrechtssubjektivität besaß, galt diese Bestimmung als Ver-
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Vgl. zum Folgenden etwa R. Hofmann, Victims of Violations of International Humanitarian Law: Do They Have an Individual Right to Reparation under International Law?, in: P. M. Dupuy/B. Fassbender/M. Shaw/K. P. Sommermann (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. Common Values in International Law. Festschrift für Christian Tomuschat, Kehl 2006, S. 341-359, 346 ff. 18 RGBl. 1910 S.107. 19 Vgl. etwa E. C. Gillard, Reparations for Violations of International Humanitarian Law, in: International Review of the Red Cross 85 (2003), S. 529-553, 536; F. Kalshoven, State Responsibility for Warlike Acts of the Armed Forces: From Article 3 of the Hague Convention IV of 1907 to Article 91 of Additional Protocol I and Beyond, in: International and Comparative Law Quarterly 40 (1991), S. 827-858, 830.
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ankerung der traditionellen Regel, dass solche Ansprüche nur zwischen Staaten, und zwar eben als genuin staatliche Ansprüche, geltend gemacht werden konnten.20 2.1.2 Friedensverträge von 1919 und 1947 Alle nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Friedensverträge verpflichteten die besiegten Staaten zur Leistung von Reparationen. In Übereinstimmung mit dem damals völlig einhelligen Verständnis des Völkerrechts war unbestritten, dass die einschlägigen Bestimmungen entsprechende Ansprüche der (siegreichen) Staaten auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, begründeten – und keine Ansprüche der geschädigten Opfer.21 Dies war die allgemeine Auffassung, ungeachtet der Regelung in Art. 297 lit. e) des Versailler Friedensvertrags, nach der US-amerikanische Staatsangehörige Ansprüche gegen Deutschland wegen angeblicher Verletzungen des Kriegsrechts vor gemischte Schiedskommissionen bringen konnten. Während unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit den KriegsverbrecherProzessen in Nürnberg und Tokyo erste Strukturen völkerstrafrechtlicher Verantwortung von Individuen für Kriegsverbrechen, also Verletzungen des Kriegsrechts, geschaffen wurden, änderte sich nichts an der herkömmlichen Haltung bezüglich möglicher Individualansprüche auf Schadenersatz der Opfer solcher Kriegsverbrechen: Keiner der im Jahre 1947 mit den ehemaligen Verbündeten der Achsen-Mächte geschlossenen Friedensverträge sah solche Individualansprüche vor; vielmehr wurden etwa 95 % aller solcher Ansprüche durch Globalentschädigungsabkommen mit den Heimatstaaten der Opfer geregelt. Diese erhielten Gelder, die sie nach eigenem Ermessen unter den Opfern verteilten, wobei sicherlich nie der Anspruch bestand, volle Entschädigung für jeglichen erlittenen Schaden zu leisten.22
2.2 Staatenpraxis Von besonderem Interesse ist naturgemäß die Staatenpraxis in Bezug auf Deutschland und Japan als den beiden wichtigsten Achsen-Mächten. Zwar datiert die einschlägige Staatenpraxis nicht aus den Jahren unmittelbar nach 1945, sondern vor 20
Vgl. nur K. Strupp, Das internationale Landkriegsrecht, Frankfurt/Main 1914, S. 29; vgl. auch R. Provost, International Human Rights and Humanitarian Law, Cambridge 2002, S. 45. 21 Vgl. etwa R. Dolzer, The Settlement of War-related Claims: Does International Law Recognize a Victim’s Private Right of Action?, in: Berkeley Journal of International Law 20 (2002), S. 296-341, 310; E. C. Gillard, a.a.O. (Fn. 19), S. 533; W. Heintschel von Heinegg, Entschädigung für Verletzungen des humanitären Völkerrechts, in: W. Heintschel von Heinegg/S. Kadelbach/B. Heß et al. (Hrsg.), Entschädigung nach bewaffneten Konflikten. Die Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung (Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bd. 40), Heidelberg 2003, S. 1-61, 23. 22 Vgl. nur R. B. Lillich/B. Weston, International Claims: Their Settlement by Lump-Sum Agreements, Part I: The Commentary, Charlottesville 1975, S. 11.
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allem aus den 1950er und teils auch noch aus den 1960er Jahren, doch ist sie deshalb relevant, weil sie letztlich die 1949 eindeutig vorherrschende Auffassung widerspiegelt. Im Rahmen dieses Beitrags kann nun sicherlich nicht die äußerst komplexe Struktur der Deutschland unmittelbar nach 1945 auferlegten Maßnahmen oder die Inhalte der mit der Bundesrepublik Deutschland beziehungsweise der Deutschen Demokratischen Republik nach 1949 geschlossenen Verträge wiedergegeben werden.23 Unterstrichen sei jedenfalls, dass alle bundesdeutschen Regierungen durchgängig der Auffassung waren, dass das während des Zweiten Weltkriegs anwendbare Völkerrecht den Opfern von Verletzungen des damals anwendbaren Kriegsrechts keine Individualansprüche auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, einräumte. Nach dieser Auffassung beruhte jegliche Rechtspflicht auf Zahlung von Schadenersatz an Opfer von Deutschland zurechenbaren Verletzungen des Kriegsrechts entweder auf einem entsprechenden völkerrechtlichen Vertrag oder nationalen Rechtsakt. Die bundesdeutschen Regierungen vertraten auch durchgängig die Auffassung, dass es keine völkerrechtliche Pflicht zum Abschluss solcher Verträge oder zum Erlass solcher nationalen Rechtsakte gebe, sondern nur eine moralische Verpflichtung Deutschlands, durch den Abschluss solcher Verträge und die Verabschiedung entsprechender Gesetze die rechtlichen Grundlagen für eine jedenfalls teilweise Wiedergutmachung der ausländischen Staatsangehörigen entstandenen und Deutschland zurechenbaren Schäden zu schaffen. Diese Auffassung wurde auch von deutschen Gerichten geteilt. Im Unterschied zu Deutschland hat Japan, und zwar im Jahre 1951 in San Francisco, einen förmlichen Friedensvertrag geschlossen.24 Dieser enthält Bestimmungen zu allen üblicherweise in einem solchen Vertrag geregelten Fragen wie die künftige Zugehörigkeit bestimmter Gebiete, die zu schaffende politische Ordnung Japans sowie finanzielle und wirtschaftliche Fragen. Anerkannt wurde auch die grundsätzliche Verpflichtung Japans, den von ihm während des Zweiten Weltkriegs angegriffenen Staaten Reparationen zu leisten, deren genaue Festsetzung aber auszuhandelnden bilateralen Verträgen überlassen wurde. Die meisten Staaten, so etwa die USA und die Republic of China (Taiwan), verzichteten auf entsprechende Ansprüche; die tatsächlich abgeschlossenen Verträge sahen verhältnismäßig geringe Reparationszahlungen vor. Fast alle dieser Verträge enthielten Klauseln, welche die Geltendmachung von Individualansprüchen gegen Japan ausschlossen. Insgesamt zeigt die Friedensregelung mit Japan die typischen Elemente eines zwischenstaatlichen Ausgleichs mit Globalentschädigungsabkommen, welche die Zahlung von Geldern an einen Staat vorsehen, der über diese nach eigenem Ermessen verfügt – und dies bei gleichzeitigem Ausschluss der Möglichkeit, Individualansprüche geltend machen zu können. Offene Fragen betrafen mögliche Ansprüche von Staatsangehörigen der Republik Korea und der Volksrepublik China: Während das 1965 zwischen Japan und Korea geschlossene 23
Vgl. etwa R. Dolzer, a.a.O. (Fn. 21), S. 313 ff.; R. Hofmann, Compensation for Victims of War – German Practice after 1949 and Current Developments, in: Kokusaiho Gaiko Zassi (The Japanese Journal of International Law and Diplomacy) 105 (2006), S. 29-47. 24 Vgl. nur R. Dolzer, a.a.O. (Fn. 21), S. 311 ff.; R. Hofmann, a.a.O. (Fn. 17), S. 349.
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Abkommen bestimmt, dass mit der Erfüllung des Vertrages alle gegenseitigen Ansprüche der beiden Staaten und ihrer Staatsangehörigen vollständig und endgültig geregelt seien, enthält das 1972 von den Regierungen der Volksrepublik China und Japan unterzeichnete Joint Communiqué eine allgemeine Verzichtsregelung, aber keine konkrete Bestimmung zu möglichen Individualansprüchen.
2.3 Ergebnis Als Ergebnis lässt sich zusammenfassen, dass in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg weder das damals geltende Völkerrecht noch die relevante Staatenpraxis Individualansprüche der Opfer von Verletzungen des seinerzeit geltenden Kriegsrechts anerkannten.
3 Die Situation im Jahre 2009 Auch für die Darstellung der aktuellen Situation empfiehlt sich eine Unterscheidung zwischen der Lage nach Vertragsrecht, das heißt dem vorherrschenden Verständnis der einschlägigen völkervertraglichen Regelungen, und der Praxis ausgewählter Staaten.
3.1 Vertragsrecht Insofern ist neben Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 und Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen die einschlägige Praxis der United Nations Compensation Commission (UNCC) und der Eritrea-Ethiopia Claims Commission (EECC) zu untersuchen. Schließlich besitzt auch Art. 75 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zumindest potenzielle Bedeutung. 3.1.1 Artikel 3 des IV. Haager Abkommens von 1907, die Genfer Rotkreuz-Abkommen von 1949 und Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls von 1977 Als Reaktion auf die so zahlreichen Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs wurde das Recht der bewaffneten Konflikte auf eine völlig neue Grundlage gestellt: Der Schutz des Menschen als potenzielles Opfer von Kriegshandlungen rückte in den Vordergrund, was sich auch in dem Terminus „Humanitäres Völkerrecht“ widerspiegelt. Neben das Haager Recht von 1907, das auch weiterhin,
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einschließlich des für die hier zu behandelnde Fragestellung so wichtigen Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907, in Kraft blieb, traten die vier Genfer RotkreuzAbkommen von 1949. Bezüglich Reparationen brachten sie aber nichts Neues; eine ausdrückliche Bestimmung zum Problem der Wiedergutmachung, einschließlich der Leistung von Schadenersatz, findet sich nicht.25 Eine solche Bestimmung kam erst 1977 mit Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls, der fast wortgleich mit Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 ist. Das Erste Zusatzprotokoll trat 1979 in Kraft, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Anwendung des in seinem Art. 91 niedergelegten Grundsatzes nicht von diesem Inkrafttreten aufgrund entsprechender Ratifikationen abhing, da es nur geltendes Völkergewohnheitsrecht positiv-rechtlich verankert.26 Sicherlich dient Art. 91 der Stärkung von Individualrechten; andererseits finden sich keinerlei Hinweise, dass er einzelnen Opfern ein völkerrechtliches Recht zur Durchsetzung eines Individualanspruchs auf Schadenersatz gegenüber dem für die fragliche Rechtsverletzung verantwortlichen Staat einräumen sollte.27 Insbesondere der Umstand, dass Art. 91 auf der Genfer Konferenz im Jahre 1977 ohne große Diskussion als eine (weitere) bloße vertragliche Verankerung einer völkergewohnheitsrechtlichen Regel angenommen wurde, unterstützt die Auffassung, dass seinerzeit keinerlei Absicht bestand, neues Recht zu schaffen. Vielmehr wurde Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls seinerzeit wie auch Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 nicht so verstanden, dass hierdurch ein völkerrechtlicher Individualanspruch auf Schadenersatz geschaffen werde. Im Lichte der in der Einführung angesprochenen Entwicklungen ließe sich sicherlich vertreten, dass es möglich sei, Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 und Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls von 1977 heute anders auszulegen, das heißt, in ihnen Normen zu sehen, die einen solchen Individualanspruch gewähren. Dies war etwa die noch näher28 darzulegende Auffassung des erstinstanzlichen griechischen Gerichts im Distomo-Fall oder die Meinung der International Commission of Inquiry on Darfur, die ausführte, dass Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 ursprünglich zwar kein solches Recht gewährt habe, dies inzwischen aber tue, da die Entstehung des Systems der Menschenrechte das Recht der Staatenverantwortlichkeit grundsätzlich geändert habe.29 Auch sei darauf hingewiesen, dass die 25
Allerdings gibt es eine indirekte Anerkennung der Pflicht zum Schadensausgleich; vgl. hierzu Art. 51 des ersten Abkommens, Art. 52 des zweiten Abkommens, Art. 131 des dritten Abkommens und Art. 148 des vierten Abkommens. 26 Vgl. statt aller W. Heintschel von Heinegg, a.a.O. (Fn. 21), S. 59. 27 Vgl. nur C. Tomuschat, Reparations for Victims of Grave Human Rights Violations, in: Tulane Journal of International and Comparative Law 10 (2002), S. 157-184, 179; L. Zegveld, Remedies for Victims of Violations of International Humanitarian Law, in: International Review of the Red Cross 85 (2003), S. 497-527, 507. 28 Vgl. nachfolgend unter 3.2.1. 29 Report of International Commission of Inquiry on Darfur to the United Nations Secretary General pursuant to Security Council Resolution 1564, vom 25. Januar 2005, para. 593 f., zugänglich unter http://www.un.org/News/dh/sudan/com_inq_darfur.pdf; vgl. hierzu A. Fischer-Lescano, Subjektivierung völkerrechtlicher Sekundärregeln. Die Individualrechte auf Entschädigung und
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Generalversammlung der Vereinten Nationen durch die Annahme der Resolution zu den eingangs erwähnten Basic Principles der Ansicht des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, aus dieser Bestimmung ergebe sich ein Recht auf ein effektives Rechtsmittel („effective remedy“) für Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts, gefolgt ist. Schließlich sei erwähnt, dass eine Reihe von Stimmen aus der Literatur die Ansicht vertreten, Art. 3 des IV. Haager Abkommens könne und solle so interpretiert werden, dass er in solchen Fällen einen Individualanspruch auf Schadenersatz begründe.30 3.1.2 Rechtsgrundlagen und Praxis internationaler ad hoc-Claims Commissions Die Anrufung internationaler Claims Commissions war und ist zumeist erfolgversprechender als der Weg vor nationale Gerichte. In jüngerer Zeit sind solche mit der United Nations Compensation Commission (UNCC) und der EECC eingerichtet worden, die besondere Aufmerksamkeit verdienen.31 Die aufgrund der Sicherheitsratsresolution 687 (1991) eingesetzte UNCC verfügt über das Mandat, über Individualansprüche für Schäden zu entscheiden, die durch die rechtswidrige Invasion und Besetzung Kuwaits durch den Irak entstanden. Es muss also nicht nachgewiesen werden, dass die Schäden durch Verletzungen des ius in bello verursacht wurden; vielmehr handelt es sich um Ansprüche wegen des Verstoßes gegen das Gewaltverbot, des ius contra bellum.32 Eine Ausnahme besteht jedoch für Ansprüche von Angehörigen der Streitkräfte der Alliierten: Wenn ihre Rechte als Kriegsgefangene verletzt wurden, können sie Schadenersatz von der UNCC erhalten.33 Gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des am 12. Dezember 2000 zwischen Äthiopien und Eritrea geschlossenen Abkommens34 haben Individuen einen Anspruch auf Wiedergutmachung für die Schäden, die ihnen aufgrund von Verletzungen des humanitären Völkerrechts während des bewaffneten Konfliktes zwischen den beiden Staaten entstanden. Auch wenn der Einzelne nicht Partei eines Verfahrens vor der EECC sein kann, ist er doch Inhaber des Anspruchs: Staaten machen also keine eigenen Ansprüche geltend, sondern solche ihrer Staatsangehörigen.35 effektiven Rechtsschutz bei Verletzungen des Völkerrechts, in: Archiv des Völkerrechts 45 (2007), S. 299-381, 323 ff. und C. Tomuschat, Darfur – Compensation for the Victims, in: Journal of International Criminal Justice 3 (2005), S. 579-589. 30 Vgl. etwa F. Kalshoven, a.a.O. (Fn. 19), S. 250. 31 Vgl. zum folgenden R. Hofmann, a.a.O. (Fn. 17), S. 351 f. 32 Vgl. nur W. Heintschel von Heinegg, a.a.O. (Fn. 21), S. 24. 33 Decision N° 11 of the Governing Council, UN Doc. S/AC.26/1992/11 vom 26. Juni 1992. 34 International Legal Materials 40 (2001), S. 260 ff. 35 Ständige Praxis der EECC seit ihrem Partial Award vom 17. Dezember 2004, wo es in para. 19 heißt: „ (…) the claim remains the property of the individual and (…) any eventual recovery of damages should accrue to that person”, in: International Legal Materials 44 (2005), S. 601 ff.;
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Es lässt sich also festhalten, dass unter beiden Institutionen grundsätzlich Individualansprüche auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, für Verletzungen des humanitären Völkerrechts bestehen. Allerdings können sie von den Einzelnen als den Trägern dieser Ansprüche nicht selbst geltend gemacht werden; dies können nur die beteiligten Staaten tun. 3.1.3 Artikel 75 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs Opfer schwerwiegender Verletzungen des humanitären Völkerrechts können gemäß Art. 75 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs Schadenersatz erlangen. Eine vergleichbare Regelung fehlt in den Statuten der Kriegsverbrechertribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda: Nach Rule 106 der Rules of Procedure and Evidence beider Tribunale müssen sich Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts an nationale Gerichte oder sonstige Einrichtungen wenden.36 Nach Art. 75 des Römischen Statuts muss der Internationale Strafgerichtshof Prinzipien bezüglich der Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, von Schäden festlegen, die Einzelne aufgrund von strafbaren Handlungen erlitten haben, die in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen. Auf dieser Grundlage kann der Gerichtshof, auf Antrag oder proprio motu, die Höhe des entstandenen Schadens bestimmen. Nach Art. 79 des Römischen Statuts ist ein Fonds zugunsten der Opfer und ihrer Familie zu schaffen, der unter anderem aus dem Vermögen der Täter gespeist werden soll.37 Nachdem nun die ersten Anklagen zugelassen wurden, wird es wohl auch bald erste Aufschlüsse geben, wie der Gerichtshof in diesem Zusammenhang verfahren wird. 3.1.4 Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis lässt sich wohl festhalten, dass es, im Unterschied zur Lage im Jahre 1949, heute Stimmen gibt, die Art. 3 des IV. Haager Abkommens so auslegen, dass er einen Individualanspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, für Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts begründet. Solche Ansprüche sind auch in den Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit von UNCC und EECC anerkannt; gleiches gilt für Art. 75 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Dies bedeutet aber wohl nicht, dass ein solcher Anspruch heute wirklich anerkannt ist; allenfalls lässt sich eine entsprechende Tendenz feststellen. vgl. J. R. Weeramantry, Civilian Claims (Eritrea v. Ethiopia), in: American Journal of International Law 101 (2007), S. 616-627. 36 Vgl. hierzu R. Hofmann, a.a.O. (Fn. 17), S. 355. 37 C. Ferstman, The Reparation Regime of the International Criminal Court: Practical Considerations, in: Leiden Journal of International Law 15 (2002), S. 667-686.
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3.2 Staatenpraxis Insofern ist vor allem auf die jüngere Praxis in Deutschland und Japan einzugehen; daneben sollen auch einschlägige Gerichtsurteile aus Griechenland, Italien, den USA, Frankreich und den Niederlanden berichtet werden. Dabei empfiehlt es sich, nach den Anspruchsarten zu gliedern, das heißt, nach der Art der Rechtsverstöße, für die Schadenersatz gesucht wird. Dabei handelt es sich um Ansprüche von Opfern von Kriegsverbrechen, ehemaligen Zwangsarbeitern und von Opfern von Zwangsprostitution. 3.2.1 Klagen von Opfern von Kriegsverbrechen Bekanntestes Beispiel dieser Kategorie ist wohl der Distomo-Fall. Im Rahmen dieser Darstellung kann das in prozeduraler Hinsicht äußerst komplizierte Schicksal dieses Falles nicht im Detail nachgezeichnet werden.38 Wichtig ist, dass das erstinstanzliche Gericht einen Individualanspruch der Opfer des von deutschen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg verübten Kriegsverbrechens in Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 verankert sah. In seiner Entscheidung vom 4. Mai 2000 bestätigte der Areopag das Urteil, ohne auf diese Bestimmung einzugehen, und fügte hinzu, dass sich Deutschland nicht auf die Regeln der Staatenimmunität berufen könne, da dies gegenüber Ansprüchen auf Schadenersatz aus im Forumstaat begangenen Delikten völkergewohnheitsrechtlich ausgeschlossen sei.39 Die Kläger versuchten dann, das Urteil in Griechenland gegen deutsches Vermögen zu vollstrecken; sie scheiterten damit aber, da der griechische Justizminister die hierzu erforderliche Zustimmung verweigerte. Rechtsmittel gegen diese Entscheidung blieben erfolglos; der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte eine entsprechende Individualbeschwerde für unzulässig.40 In einem gleichgelagerten Fall entschied das griechische Oberste Sondergericht am 17. September 2002, dass griechische Gerichte keine Kompetenz hätten, über Ansprüche von Opfern aus Handlungen während der deutschen Besatzung zu entscheiden, da sich Deutschland insofern auf die Regeln der Staatenimmunität berufen könne.41 In einem nächsten Schritt versuchten die Kläger, das Urteil vor deutschen Gerichten zu vollstrecken. Am 26. Juni 2003 entschied der Bundesgerichtshof, dass es sich bei den fraglichen Handlungen um acta de jure imperii handelte, für welche die Regeln der Staatenimmunität gelten. Das Gericht erkannte zwar an, dass es 38
Vgl. nur R. Hofmann, a.a.O. (Fn. 17), S. 352 f. Vgl. hierzu M. Gavounelli/I. Bantekas, International Decisions: Prefecture of Voiotia v Federal Republic of Germany (Areios Pagos), in: American Journal of International Law 95 (2001), S. 198-204. 40 EGMR, Kalogeropoulos v Greece, 12. Dezember 2002, RJD 2002-XII. 41 Vgl. hierzu A. Gattini, To what Extent are State Immunity and Non-Justiciability Major Hurdles to Individuals‘ Claims for War Damages, in: Journal of International Criminal Justice 1 (2003), S. 348-367. 39
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Tendenzen zur Beschränkung der Staatenimmunität gebe, war aber der Auffassung, dass diese noch nicht den Rang von Gewohnheitsrecht erworben hätten; das griechische Urteil sei daher in Deutschland nicht vollstreckbar. Weiter prüfte es, ob die Kläger ihren Anspruch auf Völkerrecht oder deutsches Recht stützen konnten. Dabei führte es zunächst aus, dass solche Individualansprüche, sollten sie entstanden sein, nicht notwendig wegen der verschiedenen Nachkriegsregelungen zwischen Deutschland und Griechenland entfallen seien, war aber letztlich der Auffassung, dass sich aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907, so wie es zur Zeit des Zweiten Weltkriegs anwendbar war, keine Individualansprüche auf Schadenersatz ableiten ließen. Seinerzeit seien aus Verletzungen des Kriegsrechts ausschließlich zwischenstaatliche Ansprüche entstanden. Auch aus deutschem Amtshaftungsrecht lasse sich kein solcher Anspruch ableiten, da dieses jedenfalls nach dem hier entscheidenden Verständnis der 1940er Jahre auf Kriegshandlungen nicht anwendbar war.42 Dieses Urteil wurde mit Entscheidung vom 15. Februar 2006 vom Bundesverfassungsgericht voll bestätigt.43 Über die beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hiergegen erhobene Individualbeschwerde ist noch nicht entschieden ( Sfountouris v Federal Republic of Germany). Nachdem die Kläger mit ihren Vollstreckungsversuchen in Griechenland und Deutschland gescheitert waren, wandten sie sich an italienische Gerichte und erreichten, mit Urteil der Corte di Cassazione vom 29. Mai 2008 ( Distomo), eine Vollstreckbarerklärung; allerdings bezieht sich diese Erklärung nur auf die Kostenentscheidung des griechischen Gerichts. Entscheidend war, dass sich Deutschland nach Ansicht der Richter der Corte di Cassazione nicht auf die Regeln der Staatenimmunität berufen könne, da die in Rede stehenden Handlungen Kriegsverbrechen darstellten.44 In einem vergleichbaren Fall, der ein Massaker deutscher Streitkräfte im Dorf Kalavrita betraf, entschied der Europäische Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV mit Urteil vom 15. Februar 2007, dass Handlungen der Streitkräfte eines Staates acta iure imperii darstellen. Daher fielen die Schadenersatzklagen der Opfer des Massakers nicht in den Anwendungsbereich des Brüsseler Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ).45 In einem Fall betreffend Ansprüche italienischer Opfer eines von deutschen Einheiten verübten Kriegsverbrechens in Civitella ( Ricciarini und Pietrelli) bestätigte die Corte di Cassazione mit Entscheidung vom 9. Januar 200946 ihre schon in anderen Urteilen geäußerte Auffassung, dass italienische Gerichte zuständig wären, über Schadenersatzklagen der Opfer deutscher Kriegsverbrechen zu urteilen. 42
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 26. Juni 2003, in: Neue Juristische Wochenschrift 56 (2003), S. 3488. 43 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2006, in: Neue Juristische Wochenschrift 59 (2006), S. 2542. 44 Corte di Cassazione, in: Rivista di diritto internazionale 92 (2009) S. 594. 45 EuGH, Lechouritou v Germany, Rs. C-292/05, Urteil vom 15.2.2007, Slg. I-1519. 46 Corte di Cassazione, in: Rivista di diritto internazionale 92 (2009) S. 618.
Durchsetzung von Ansprüchen von Kriegsopfern – Sind wir heute weiter als 1949?
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Die Klagen waren im Zusammenhang mit einem Strafverfahren gegen die für das Kriegsverbrechen verantwortlichen deutschen Offiziere erhoben worden. Im Rahmen eines nach dem italienischen Recht in solchen Fällen möglichen zivilrechtlichen Adhäsionsverfahren können zivilrechtliche Schadenersatzansprüche nicht nur gegen die unmittelbar verantwortlichen natürlichen Personen, sondern auch gegen jede andere Partei erhoben werden, denen das Verhalten der eigentlichen Täter zugerechnet werden kann – in diesem Fall Deutschland. Die Corte di Cassazione bestätigte insbesondere die Entscheidung der vorinstanzlichen Militärgerichte, dass sich Deutschland nicht auf den 1947 mit Italien geschlossenen Friedensvertrag berufen konnte, in dem Italien auf alle eigenen Ansprüche und die seiner Staatsangehörigen verzichtet hatte; als Begründung war angeführt worden, dass Deutschland nicht Partei dieses Friedensvertrags ist. Es bestätigte auch die Argumentation der Militärgerichte, dass der deutsch-italienische Vertrag vom 2. Juni 1961 über die Regelung gewisser vermögensrechtlicher, wirtschaftlicher und finanzieller Fragen, in dem Italien auf eigene Ansprüche und solcher seiner Staatsangehörigen gegen Deutschland verzichtet hatte, nicht einschlägig sei, da die jetzt zu beurteilenden Ansprüche seinerzeit noch nicht geltend gemacht worden waren. Diese Entscheidung ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie die erste ist, in welcher die italienischen Gerichte nicht nur über die Frage urteilten, ob sich Deutschland vor italienischen Gerichten auf die Regeln der Staatenimmunität berufen könne, sondern eine materiell-rechtliche Verpflichtung Deutschlands als responsabile civile für Kriegsverbrechen annahmen. Betont sei jedoch, dass es sich insofern um einen Anspruch aufgrund italienischen Rechts und nicht aus dem Völkerrecht handelt.47 Schließlich ist noch auf die Schadenersatzansprüche chinesischer Opfer japanischer Kriegsverbrechen, insbesondere der berüchtigten Unit 731, einzugehen.48 Im August 2002 hatte das Landgericht Tokyo entsprechende Ansprüche mit der Begründung zurückgewiesen, zum einen seien Ansprüche gegen Japan durch völkerrechtliche Verträge abschließend geregelt; außerdem begründe das Völkerrecht keinen Schadenersatzanspruch wegen Kriegsverbrechen zugunsten von Personen gegen den verantwortlichen Staat. Dieses Urteil wurde vom Oberlandesgericht Tokyo mit Urteil vom 18. Juli 2005 und schließlich vom Obersten Gericht am 9. Mai 2007 bestätigt. Im Unterschied zu diesen Urteilen, die sämtlich Handlungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs betrafen, geht es bei dem Verfahren zur Brücke von Varvarin um Opfer eines NATO-Luftangriffs während der bewaffneten Intervention in Serbien im Frühjahr 1999.49 Mit Urteil vom 2. November 2006 wies der Bundesgerichtshof50 47
Vgl. hierzu C. Focarelli, Federal Republic of Germany v Giovanni Mantelli and Others (Case Note), in: American Journal of International Law 103 (2009), S. 122-131; A. Paech, Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, in: Archiv des Völkerrechts 47 (2009), S. 36-92; A. Ciampi, The Italian Court of Cassation Asserts Civil Jurisdiction over Germany in a Criminal Case Relating to the Second World War, in: Journal of International Criminal Justice 7 (2009), S. 597-615. 48 Vgl. hierzu R. Hofmann, a.a.O. (Fn. 17), S. 355. 49 Ibid., S. 344. 50 BGHZ 169, 348.
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die Revision gegen das der Klage gleichfalls nicht stattgebende Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 28. Juli 200551 zurück. Dabei argumentierte er, dass sich, ungeachtet zwischenzeitlicher Rechtsentwicklungen auf völkerrechtlicher Ebene, aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 kein unmittelbarer individueller Entschädigungsanspruch ergebe. Dies gelte auch für Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls von 1977. Auch hätten sich gewisse Tendenzen, ein solches Recht anzuerkennen, noch nicht zu einer gewohnheitsrechtlichen Regel verdichtet. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ist noch beim Bundesverfassungsgericht anhängig. Bekanntlich kam es im Juli 1995 in Srebrenica zum schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs: Rund 8.000 Bosniaken männlichen Geschlechts wurden von serbischen Milizen ermordet, nachdem sich die eigentlich zum Schutz der Zivilbevölkerung in Srebrenica im Rahmen eines UN-Mandats stationierten niederländischen Soldaten ihrer Aufgabe entzogen hatten. Hinterbliebene der Opfer reichten im Sommer 2007 vor dem Landgericht Den Haag Schadenersatzklagen sowohl gegen die Vereinten Nationen als auch gegen die Niederlande ein. Mit Urteil vom 10. Juli 2008 wies das Gericht die Klage gegen die Vereinten Nationen mit der Begründung ab, diese genössen vor niederländischen Gerichten Immunität. Mit Urteil vom 10. September 2008 wurde auch die Klage gegen die Niederlande abgewiesen, da das (Nicht-)Handeln der niederländischen Soldaten den Vereinten Nationen und nicht den Niederlanden zuzurechnen sei.52 Schließlich sei noch auf das Urteil des U.S. Court of Appeals (4th Circuit) vom 16. Juni 1992 im Fall Goldstar hingewiesen, in dem die Kläger Schadenersatz wegen Plünderungen von Geschäften im Zusammenhang mit der amerikanischen Invasion in Panama gefordert hatten. Das Gericht erklärte eher lapidar, dass Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 nicht „self-executing“ sei.53 3.2.2 Klagen von Zwangsarbeitern Ehemalige Zwangsarbeiter aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs haben wiederholt Klagen gegen Deutschland und Japan vor nationalen Gerichten, sowohl dieser beiden Staaten als auch in den USA, Italien und Frankreich erhoben. Deutsche Gerichte haben sich mehrfach mit Schadenersatzklagen italienischer Zwangsarbeiter beschäftigt. In seiner Entscheidung vom 13. Mai 1996 kam das Bundesverfassungsgericht54 zum Schluss, dass das traditionelle Verständnis vom 51
Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 28. Juli 2005, in: Neue Juristische Wochenschrift 58 (2005), S. 2860. 52 District Court of The Hague, Nuhanović v. The Netherlands, Urteil vom 10. September 2008 (265615 / HA ZA 06-1671). 53 U.S. Court of Appeals, 4th Circuit 1992, Goldstar (Panama) S.A. v. U.S., 16. Juni 1992, 967 F.2d 965. 54 Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 13. Mai 1996, in: Neue Juristische Wochenschrift 49 (1996), S. 2717.
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Völkerrecht als einer rein zwischenstaatlichen Rechtsordnung dem Einzelnen nicht die Eigenschaft eines Völkerrechtssubjekts zuwies und daher auch nur indirekten Schutz im Wege der Ausübung diplomatischen Schutzes bot. Dieser Grundsatz habe auch bezüglich der Verletzung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht während des Zweiten Weltkriegs gegolten. Staaten seien daher völkerrechtlich nicht verpflichtet, aber selbstverständlich auch nicht gehindert, nationale Gesetzgebung mit dem Ziel zu erlassen, im Zusammenhang mit Kriegsereignissen erlittene Schäden, einschließlich Zwangsarbeit, auszugleichen. In seinem Beschluss zu den italienischen Militärinternierten vom 28. Juni 2004 bestätigte das Bundesverfassungsgericht55 diesen Grundsatz: Nach dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten am 8. September 1943 nahm die Wehrmacht rund 600.000 italienische Soldaten fest. Unter Verstoß gegen das geltende Völkerrecht, nämlich das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1929, wurde ihnen der Status als Kriegsgefangene verwehrt; sie wurden als sogenannte Militärinternierte eingestuft und mussten Zwangsarbeit leisten. Nach dem Krieg wurden sie jedoch in Italien wie Deutschland als Kriegsgefangene behandelt und hatten als solche keinen Anspruch auf Entschädigung als Zwangsarbeiter. Das Bundesverfassungsgericht erkannte zwar an, dass Individuen im humanitären Völkerrecht Rechte genießen, betonte jedoch, dass das Völkerrecht keinen Individualanspruch auf Schadenersatz wegen der Verletzung einer zwischen zwei Staaten bestehenden vertraglichen Verpflichtung kenne. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte auch seine frühere Rechtsprechung, wonach sich aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens kein solcher Anspruch ergebe. In Japan wurden mehrere Schadenersatzklagen ehemaliger Kriegsgefangener wegen ihrer Heranziehung zu Zwangsarbeit abgewiesen. Die Gerichte waren durchgängig der Auffassung, dass die von den Klägern herangezogenen Bestimmungen, namentlich Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907, keine Individualansprüche auf Schadenersatz begründen.56 Chinesische Zwangsarbeiter verklagten japanische Unternehmen vor japanischen Gerichten auf Schadenersatz wegen Verstoß gegen einschlägige Regeln des japanischen Rechts. Mit seinem grundlegenden Urteil vom 27. April 2007 entschied das Oberste Gericht,57 dass das erwähnte japanisch-chinesische Joint Communiqué des Jahres 1972 einen umfassenden gegenseitigen Verzicht aller Ansprüche, auch solcher von Einzelpersonen, bewirkt habe. Die Vorinstanz, das Oberlandesgericht Hiroshima, hatte mit Urteil vom 9. Juli 2004 noch entschieden, dass auf japanischem Recht beruhende Individualansprüche chinesischer Staatsangehöriger nicht durch einen Vertrag zwischen China und Japan beseitigt werden könnten. 55
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 28. Juni 2004, in: Neue Juristische Wochenschrift 57 (2004), S. 3257. 56 Vgl. z.B. das Urteil des Oberlandesgerichts Tokyo im Former Dutch Prisoners of War Case vom 11. Oktober 2001, bestätigt vom Obersten Gericht mit Urteil vom 30. März 2004. 57 Oberstes Gericht, Urteil vom 27. April 2007, Nishimatsu Construction Case; vgl. hierzu M. Asada/T. Ryan, Post-war Reparation between Japan and China and Individual Claims, in: Zeitschrift für Japanisches Recht 14 (2009), S. 257-284, 259 ff.
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In den USA wurden Klagen gegen Deutschland sowie gegen deutsche und japanische Unternehmen erhoben, die während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. Bezüglich der Klagen gegen Deutschland entschied der Court of Appeals for the District of Columbia mit Urteil vom 1. Juli 1994, dass sich Deutschland auf die Regeln der Staatenimmunität berufen könne.58 Die Klagen gegen deutsche Unternehmen führten letztlich im Jahre 2000 zur Verabschiedung des Gesetzes zur Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die auf einer ex gratia-Grundlage die Zahlung von Schadenersatz an ehemalige Zwangsarbeiter organisierte.59 Im Gegenzug erließ die amerikanische Regierung ein „Statement of Interest“, in dem sie den amerikanischen Gerichten riet, Schadenersatzklagen einzelner Zwangsarbeiter nicht zuzulassen. Die Klagen gegen japanische Unternehmen waren in einer etwa 25.000 Einzelklagen bündelnden Sammelklage vereint worden. Am 21. September 2000 wies der U.S. District Court for Northern California die Klage mit der Begründung zurück, durch den Friedensvertrag von San Francisco seien alle Ansprüche, auch solche gegen Unternehmen, erledigt worden.60 Nachdem sie vergeblich versucht hatten, eine Verurteilung Deutschlands vor deutschen Gerichten zu erreichen, wandten sich ehemalige italienische Zwangsarbeiter an italienische Gerichte. Im bekannten Ferrini-Urteil vom 11. März 200461 entschied die Corte di Cassazione, in einem auf Zuständigkeitsfragen beschränkten Vorabentscheidungsverfahren, dass sich Deutschland nicht auf die Regeln der Staatenimmunität berufen könne, da die fraglichen Handlungen so schwerwiegende Verletzungen von Freiheit und Würde der betroffenen Menschen darstellten, dass sie als internationale Verbrechen anzusehen seien. Allerdings wurde Deutschland im Ausgangsverfahren wegen Verjährung des Anspruchs nicht verurteilt. In einer Reihe von Beschlüssen vom 29. Mai 200862 bestätigt die Corte di Cassazione ihre Auffassung bezüglich der Frage der Staatenimmunität. Allerdings sei betont, dass alle diese Beschlüsse nur diese Frage der Staatenimmunität betrafen, nicht aber das Problem, ob die Kläger einen völkerrechtlichen Anspruch auf Schadenersatz haben. Im Gegensatz hierzu hat die französische Cour de Cassation mit Urteil vom 2. Juni 200463 eine Klage eines ehemaligen französischen Zwangsarbeiters gegen Deutschland unter Anwendung der herkömmlichen Regeln der Staatenimmunität zurückgewiesen: Die Verpflichtung französischer Staatsangehöriger zu Zwangs58
U.S. Court of Appeals for the District of Columbia Circuit, Hugo Princz v Federal Republic of Germany, Urteil vom 1. Juli 1994, 26 F.3d 1166, in: International Legal Materials 33 (1994), S. 1483. 59 Vgl. hierzu R. Bank, The New Programs for Payments to Victims of National Socialist Injustice, in: German Yearbook of International Law 44 (2001), S. 306-352. 60 U.S. District Court for Northern California, In Re World War II Era Japanese Forced Labor Litigation, Urteil vom 21. September 2000, 114 F.Supp. 2nd 939 (N.D.Cal.2000). 61 Corte di Cassazione, in: Rivista di diritto internazionale 87 (2004), S. 539. 62 Vgl. etwa das Urteil des Corte di Cassazione im Fall Maietta, in: Rivista di diritto internazionale 91 (2008), S. 896. 63 Cour de Cassation, Gimenez-Exposito c République Fédérale d’Allemagne, in: Revue critique de droit international privé 94 (2005), S. 79.
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arbeit in Deutschland sei eine unter die Staatenimmunität fallende Handlung gewesen. 3.2.3 Klagen von Zwangsprostituierten Die japanische Regierung sah sich wiederholt Klagen ehemaliger Zwangsprostituierter gegenüber. Alle diese auf eine Verletzung von Art. 3 des IV. Haager Abkommens gestützten Ansprüche drangen letztlich nicht durch.64 In vielen weiteren Fällen wurden die Klagen mit der Begründung abgewiesen, dass Japan und der betreffende Heimatstaat Abkommen geschlossen hatten, in denen auf alle gegenseitigen Ansprüche verzichtet worden war.65 Dies wurde vom Obersten Gericht schließlich mit Urteil vom 27. April 2007 bestätigt.66 Gestützt auf den Aliens Torts Claims Act verklagten Zwangsprostituierte Japan auch vor US-amerikanischen Gerichten. Mit Urteil vom 4. Oktober 2001 wies der District Court for the District of Columbia die Klage unter Hinweis auf die Immunität Japans ab. Zur Begründung führte er an, die Einführung der nur eingeschränkten Staatenimmunität durch den Foreign Sovereign Immunities Act im Jahre 1952 habe keine Rückwirkung gehabt und sei daher auf Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs nicht anwendbar. Der Court of Appeals bestätigte dies mit Urteil vom 27. Juni 2003.67 Nachdem zwischenzeitlich der Supreme Court entschieden hatte, dass der Foreign Sovereign Immunities Act Rückwirkung entfalte, wurde der Fall an den Court of Appeals zurückverwiesen. Am 28. Juni 2005 wies dieser die Klage wiederum ab; er war der Auffassung, dass die Kläger ihm eine nicht-justiziable politische Frage, nämlich ob die betroffenen Regierungen durch Verträge mit Japan auf alle Ansprüche, auch von Individuen verzichtet hatten, unterbreitet hätten.68 Am 21. Februar 2006 verweigerte der Supreme Court einen „writ of certiorari“, womit der Fall rechtlich abgeschlossen war. 3.2.4 Zwischenergebnis Die vorstehende Analyse einschlägiger Urteile macht deutlich, dass es schwierig ist zu behaupten, während des Zweiten Weltkriegs begangene Verstöße gegen das 64
Vgl. vor allem das Urteil des Obersten Gerichts vom 29. November 2004 im Korean Families of the Pacific War Victims Case. 65 Vgl. die Urteile des Obersten Gerichts vom 25. Dezember 2003 im Philippine Comfort Women Case und vom 25. Februar 2005 im Taiwanese Former Comfort Women Case. 66 Urteil im Fall Chinese Comfort Women Case, vgl. hierzu M. Asada/T. Ryan, a.a.O. (Fn. 57), S. 259 ff. 67 Court of Appeals, Urteil vom 27. Juni 2003, Hwang Geum Joo et al. v Japan, 332 F.3d 679 (D.C.Cir.2003). 68 Court of Appeals, Urteil vom 28. Juni 2005, Hwang Geum Joo et al. v Japan, 413 F.3d 45 (D.C.Cir.2005).
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damalige Kriegsvölkerrecht begründeten heute einen Individualanspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz. Auffällig ist vor allem, dass – mit Ausnahme des erstinstanzlichen Urteils im Distomo-Fall – alle Gerichte darin übereinstimmten, dass Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 kein solches Recht begründete. Wie die Urteile zur Brücke von Varvarin und im Fall Goldstar zeigen, scheint sich insofern auch noch keine Änderung abzuzeichnen. Schließlich sei noch betont, dass in sehr vielen Fällen die Gerichte gar nicht zu der Frage vordrangen, ob die Kläger überhaupt einen Anspruch hatten, da sie damit entweder aus Gründen der Staatenimmunität oder wegen Wegfalls der Ansprüche durch zwischenzeitlichen Verzicht durch zwischenstaatliche Abkommen nicht gehört werden konnten.
4 Würdigung und Überlegungen de lege ferenda Insgesamt lässt sich also feststellen, dass die immer noch ganz vorherrschende Auffassung, vor allem in der Staatenpraxis, einen völkerrechtlichen Individualanspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, für Verletzungen des während eines internationalen bewaffneten Konflikts anwendbaren Rechts ablehnt. Dies gilt, nicht weiter überraschend, für die Zeit des Zweiten Weltkriegs, aber auch für die (bisher wenigen) aktuellen Fälle. Letztlich – und das ist die eher ernüchternde Antwort auf die in diesem Beitrag zu erörternde Frage – sind wir bezüglich der Durchsetzung von Rechten von Kriegsopfern noch nicht wesentlich weiter als 1949. Wie schon in der Einleitung angedeutet, gibt es aber sehr gute Gründe, diese Lage zu überdenken, da sie nicht die seit 1945 erfolgte Entwicklung des Völkerrechts bezüglich der Rechtsstellung des Menschen widerspiegelt.69 Es in der Tat schwer verständlich, warum – jedenfalls bei Anwendung eines regionalen Menschenrechtsinstruments – das Opfer einen völkervertraglichen Anspruch auf Schadenersatz gegen den verantwortlichen Staat hat, nicht aber wegen Verletzungen des humanitären Völkerrechts. Dies gilt umso mehr, als die traditionelle Ansicht vom Grundsatz der gegenseitigen Ausschließlichkeit von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht heute nicht mehr vertreten wird. Als Lösung dieser unbefriedigenden Situation bietet sich eine entsprechende Auslegung von Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907 und des Art. 91 des Ersten Zusatzprotokolls an. Eine solche Auslegung ist fraglos möglich: In systematischer Sicht würde sie das Problem der unterschiedlichen Rechtsfolgen von Verletzungen von Menschenrechten einerseits und Regeln des humanitären Völkerrechts andererseits sinnvoll lösen und führte in beiden Bereichen dazu, dass zu den schon bestehenden Primärrechten auch Sekundärrechte träten; unter teleologischen Gesichtspunkten würde ein solches prozedurales Recht die Rechtsstellung des Individuums weiter stärken; auch wäre eine solche Auslegung völlig vereinbar mit den Prinzipien der dynamischen Vertragsauslegung, die nicht nur für Menschenrechts69
Vgl. zum Folgenden etwa R. Hofmann, a.a.O. (Fn. 15), S. 329.
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verträge, sondern auch für das humanitäre Völkerrecht gelten sollte. Im Ergebnis sollte also ein völkerrechtlicher Individualanspruch auf Wiedergutmachung, einschließlich Schadenersatz, für Verletzungen des in einem internationalen Konflikt anwendbaren Rechts anerkannt werden; dieser Anspruch sollte neben mögliche Ansprüche aus nationalem Recht, namentlich dem Amtshaftungsrecht, treten. In diesem Zusammenhang wäre auch über die Frage nachzudenken, ob sich aus dem Völkerrecht eine staatliche Verpflichtung ableiten lässt, solch nationales Haftungsrecht vorzusehen. Betont sei aber auch, dass die Anerkennung eines solchen völkerrechtlichen Individualanspruchs nicht notwendig dazu führt, dass die Opfer ihre Klagen gegen den verantwortlichen Staat vor allen möglichen Gerichten erheben können sollen. Es bestehen immer noch sehr gewichtige Gründe, sowohl rechtlicher wie rechtspolitischer Natur, die Regeln der Staatenimmunität auch weiterhin anzuwenden – auch bezüglich Verletzungen von Normen im Range von ius cogens: Ungeachtet einiger Entwicklungen der letzten Jahre erscheint es immer noch sehr schwierig zu argumentieren, dass es eine völkergewohnheitsrechtliche Norm gibt, die es erlaubt, Staaten wegen Verletzungen völkerrechtlicher Normen, selbst solcher im Range von ius cogens, vor fremden Gerichten zu verklagen, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, sich auf die Regeln der Staatenimmunität zu berufen. Daher sollten solche Klagen auch in Zukunft vor den Gerichten des verantwortlichen Staates und, das erscheint als die vorzugswürdige Lösung, vor internationalen Spruchkörpern erhoben werden können, insbesondere vor „mass claims commissions“, die speziell zur Aufarbeitung des jeweiligen Konflikts eingesetzt werden.
Abstrafung der Täter – ein Instrument zur Prävention? Hans-Peter Kaul
1 Einleitung Lassen Sie mich mit einer Beobachtung beginnen, die einfach klingt, aber doch von erheblicher Tragweite ist: Heute, im Jahre 2009, können das humanitäre Völkerrecht und das moderne Völkerstrafrecht durchaus als „zwei Seiten derselben Medaille“ betrachtet werden. Aus der Rechtsordnung des humanitären Völkerrechts ist – sozusagen als Schwester – die des Völkerstrafrechts erwachsen. Dieser Vertrag, das Römische Statut, der Gründungsvertrag des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), hat zu dieser Entwicklung ganz entscheidend beigetragen. Warum, was ist damit gemeint? Es ist bedeutsam, sich Folgendes vor Augen zu führen: Erstens: Durch Art. 8 des Römischen Statuts, Kriegsverbrechen, wurden 50 Verbote insbesondere der Genfer Konventionen und der beiden Zusatzproto-
Aus Gründen der Authentizität entspricht der vorliegende Beitrag weitgehend dem Vortrag von Richter Hans-Peter Kaul vom 18. September 2009 bei der wissenschaftlichen Tagung „60 Jahre Genfer Abkommen – eine Rechtsordnung vor neuen Herausforderungen, 20 Jahre IFHV – Forschungen auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts“ im Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht in Bochum.
Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, International Legal Materials 37 (1998), S. 1002, BGBl. 2000 II 1394. Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 vom über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781. H.-P. Kaul () International Criminal Court, Po Box 19519, 2500 CM, Den Haag, Niederlande E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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H.-P. Kaul
kolle – bis dahin primär eine Sache der Staatenverantwortlichkeit – in genuine Verbotsnormen des modernen Völkerstrafrechts gewandelt, welche die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Täter begründen. Zweitens: Wie dies für echte Strafrechtsnormen typisch und üblich ist, können die in Art. 8 erfassten Kriegsverbrechen nunmehr bei Verstößen mit angemessenen Strafen geahndet werden, bis hin zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe. Dies bedeutet offenbar eine beträchtliche Stärkung der zugrundeliegenden Normen des humanitären Völkerrechts. Es ist bezeichnend, dass schon bei der Gründungskonferenz für den Strafgerichtshof 1998 in Rom formuliert wurde, durch Art. 8 zu Kriegsverbrechen bekomme das humanitäre Völkerrecht endlich „(…) Zähne, damit es bei Verletzungen mit Strafen zubeißen kann.“ Was ist nun die Folge, wenn Normen des humanitären Völkerrechts zu Normen des Völkerstrafrechts erhoben und durch eine Instanz zur effektiven Durchsetzung dieser Normen institutionalisiert werden? Kann die Abstrafung der Täter, oder die reine Strafandrohung, als Instrument zur Prävention dienen? Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, möchte ich mich jedoch – und das ist mir wichtig – für die freundliche Einladung zu dieser bedeutsamen Tagung bedanken. Die Position, die das Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht wie auch besonders Prof. Ipsen in Deutschland weiterhin innehaben, ist mir sehr wohl bewusst. Es ist auch eine besondere Freude, Sie, Herr Ipsen, hier in Bochum wiederzusehen. Vielleicht ist nicht allen bekannt, dass Prof. Ipsen eines der vier Mitglieder der nationalen Gruppe gemäß Art. 5 IGH-Statut war, die mich 2002 einstimmig als Richterkandidat für den Strafgerichtshof nominiert hat. Auch hierfür möchte ich mich heute noch einmal bedanken. Bei meinem Referat möchte ich auf vier Fragenkreise eingehen: • Erstens und nochmals: Was ist das Regime der Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs und welche Fälle sind derzeit anhängig? Wenn wir über Abstrafung der Täter und Prävention reden, dann müssen wir auch wissen, welche Institution dies leisten soll. • Zweitens: Wie ist die Rolle des Strafgerichtshofs bei der Verbrechensprävention zu bewerten? Gibt es bereits konkrete Anzeichen für ein solches Potenzial? Welche Faktoren begrenzen die Möglichkeiten des Gerichts, Verbrechen zu verhüten? • Drittens: Kann man das Präventionspotenzial des Strafgerichtshofs auf eine Weise verstehen, die über die direkte Abschreckungswirkung hinausgeht? • Viertens und letztens: Was sind die Perspektiven?
ZP I zu den Genfer Abkommen vom 8. Juni 1977, UNTS Vol. 1125, S. 3, BGBl. 1990 II, S. 1551; ZP II zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte, UNTS Vol. 1125, S. 609, BGBl. 1990 II S. 1637.
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2 Grundprinzipien Vor allem im Hinblick auf die soeben erwähnten Fragenkreise ist es wichtig, noch einmal die begrenzte Reichweite des Jurisdiktions- und Zulässigkeitssystems des Strafgerichtshofs zu unterstreichen und sich die damit verbundenen Konsequenzen klar vor Augen zu führen. Ganz wichtig – ich betone dies immer wieder – ist zunächst Folgendes: Der Internationale Strafgerichtshof ist keine globale Superinstanz für alle schweren Verbrechen jeglicher Art. Die Reichweite des Römischen Statuts ist kompromisshaft begrenzt. Entscheidendes Funktionsprinzip des Römischen Statuts ist das sogenannte System der Komplementarität. Demnach sind Verfahren vor dem Strafgerichtshof nur dann zulässig, wenn kein Staat, der Gerichtsbarkeit über eine Sache hat, willens oder in der Lage ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben. Die Gerichtsbarkeit des Strafgerichtshofs ist auch in anderer Hinsicht begrenzt. Ratione materiae ist der Gerichtshof laut Art. 5 Abs. 1 des Römischen Statuts nur für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression zuständig. Über das Aggressionsverbrechen wird unser Gericht jedoch erst dann Gerichtsbarkeit ausüben können, wenn eine entsprechende Definition gefunden und das Verhältnis zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen geklärt ist. Ratione temporis ist der Gerichtshof ausschließlich für Verbrechen zuständig, die nach dem Inkrafttreten des Römischen Statuts – also nach dem 1. Juli 2002 – begangen wurden. Auch die Zuständigkeit hinsichtlich des betroffenen Personenkreises – ratione personae – ist stark eingeschränkt. Sie ist in der Tat nur in drei Fällen eröffnet. Erstens, wenn die jeweiligen Verbrechen auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates begangen wurden. Zweitens, wenn sie durch eine Person verübt wurden, die Staatsangehörige eines Vertragsstaates ist. Drittens, wenn eine Situation durch den Sicherheitsrat an den Gerichtshof überwiesen wurde (wie durch Sicherheitsrat-Entschließung 1593 zu Darfur/Sudan). Dabei ist zu betonen, dass der Gerichtshof bei der Ausübung seiner Funktionen vollkommen, zu 100 %, von wirksamer strafrechtlicher Zusammenarbeit der Vertragsstaaten abhängig ist. Schließlich möchte ich einen knappen Überblick über die Fälle geben, die aktuell vor unserem Gericht anhängig sind. Von einem Fall sprechen wir dann, wenn eine konkrete Gerichtsakte existiert, das heißt, wenn gegen eine bestimmte, namentlich bekannte Person ein Haftbefehl beziehungsweise eine Ladung beantragt oder von den Richtern erlassen wird. Wenn Sie diesen Ansatz akzeptieren, dann ist der Gerichtshof derzeit mit 14 Fällen befasst. Dies betrifft: 1. Vier hochrangige Beschuldigte aus dem Sudan: der derzeit noch amtierende Präsident Omar Hassan Ahmad al-Bashir, der ehemalige Minister für humanitäre Angelegenheiten Ahmad Muhammad Harun und der „Janjaweed“-Führer Ali
Resolution 1593 des UN-Sicherheitsrats vom 31. März 2005, UN Doc. S/RES/1593.
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Muhammad Al Abd-Al-Rahman, gegen die Haftbefehle erlassen worden sind. Gegen den „United Resistance Front“-Führer Bahr Idriss Abu Garda wurde am 7. Mai 2009 eine Ladung erlassen, aufgrund derer er am 18. Mai 2009 freiwillig vor Gericht erschien. 2. Vier Beschuldigte aus der Demokratischen Republik Kongo: Thomas Lubanga Dyilo, Germain Katanga und Mathieu Ngodjolo Chui sowie Bosco Ntaganda. Lubanga, Katanga und Chui befinden sich bereits im Gewahrsam des Gerichts. Gegen Lubanga läuft seit Januar 2009 das Hauptverfahren, vor allem wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten. Das Verfahren gegen Katanga und Chui wird am 24. November 2009 eröffnet werden. 3. Vier Führer der sogenannten „Lord’s Resistance Army“ aus Uganda, gegen die bereits 2005 Haftbefehle erlassen worden sind. Dabei ist jedoch nicht erfreulich, dass diese Haftbefehle noch nicht vollstreckt sind. 4. Jean-Pierre Bemba Gombo, der frühere Vizepräsident der Demokratischen Republik Kongo, gegen den die Vorverfahrenskammer II – meine eigene Kammer – bereits die Anklage bestätigt hat und der ebenfalls bei uns einsitzt. Auf dieser Grundlage möchte ich nun einige Bemerkungen bezüglich des Präventionspotenzials des Gerichts machen.
3 Der Internationale Strafgerichtshof und die Frage der Prävention Wie Sie wissen, ist Prävention in den meisten nationalen Rechtssystemen als Strafzweck im Rahmen der relativen Straftheorie anerkannt. Während nach dem Konzept der Spezialprävention die Strafe präventiv auf den individuellen Täter einwirken soll, wird der Strafe zudem ein generalpräventiver Zweck zuerkannt. Diesem Ansatz zufolge dient die Strafandrohung dem Ziel, der Allgemeinheit gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass sich das Recht zum Schutz der Rechtsgüter durchsetzt und dass diejenigen, die sich über die strafrechtlichen Verbote hinwegsetzen, klare Rechtsfolgen zu erwarten haben. Die Theorie der Generalprävention umfasst eine negative und eine positive Dimension. Im negativen Sinne soll die Strafe potenzielle Täter von Straftaten abschrecken (auch Abschreckungsgeneralprävention genannt). Im positiven Sinne soll die Strafe auf das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit einwirken und somit deren Rechtstreue erhalten und stärken (auch Integrationsgeneralprävention genannt). Die Verhütung von Straftaten ist auch im Bereich des Völkerstrafrechts als Strafzweck unumstritten. So hat schon das internationale Jugoslawien-Tribunal im Erdemović-Urteil vom 29. November 1996 die Abschreckung als wichtigsten Straf
C. Möller, Völkerstrafrecht und Internationaler Strafgerichtshof - kriminologische, straftheoretische und rechtspolitische Aspekte, Münster 2003, S. 462 ff. A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch-Kommentar, 27. Aufl., München 2006, S. 718.
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zweck neben dem der Vergeltung erklärt. Nachfolgende Urteile sind dieser Bewertung im Grundsatz gefolgt. Im Celebiči-Urteil bestätigte das Gericht ausdrücklich: „Abschreckung ist der wichtigste Strafzweck des Humanitären Völkerrechts“, das heißt negative Generalprävention. Die Prävention von schweren internationalen Verbrechen war auch ein wesentliches Motiv für die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs. Verankert ist dieses Ziel im dritten Absatz der Präambel des Römischen Statuts: „entschlossen, der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen und so zur Verhütung solcher Verbrechen beizutragen.“ Damit steht außer Zweifel, dass die Prävention von Verbrechen – vor allem in ihrer negativ-generalpräventiven Dimension – als Zweck des Völkerstrafrechts und des Gerichts angestrebt wird. Aber wie verhält es sich mit diesem Ziel in der Praxis? Zunächst möchte ich daran erinnern, dass man die tatsächliche Präventions- und Abschreckungswirkung von Gerichten im Allgemeinen und auch des Internationalen Strafgerichtshofs nicht überschätzen darf: Auch im nationalen Rahmen ist es ja erstens so, dass die Existenz von Polizei, Staatsanwälten und Gerichten zu allem entschlossene Gewalttäter nicht davon abhält, immer wieder schwere Verbrechen zu begehen. Die Position des Strafgerichtshofs ist dadurch erschwert, dass es sich um eine strukturell schwache Institution handelt, die mit einer Reihe von systemimmanenten Beschränkungen leben muss. Antonio Cassese, der frühere Präsident des Jugoslawientribunals, bezeichnete das Tribunal einmal äußerst treffend als einen „Giganten ohne Arme und Beine“ („a giant without arms and legs“). Diese Aussage trifft auch auf den Internationalen Strafgerichtshof zu.10 Das Gericht hat keine eigene Polizei, keine Soldaten, keinerlei Exekutivbefugnisse auf den Territorien von Vertragsstaaten. Besonders in der entscheidenden Frage von Festnahmen und Überstellungen ist das Gericht zu 100 % von der Unterstützung durch die Vertragsstaaten abhängig. Im Gegensatz zu nationalen Strafverfahren müssen Ermittlungen regelmäßig in weit entfernten, schwer zugänglichen, unsicheren Regionen – etwa in der Demokratischen Republik Kongo, in Uganda, in der Zentralafrikanischen Republik – durchgeführt werden. Dieser Notwendigkeit steht in der Realität jedoch eine geradezu paradoxe Beschränkung personeller und finanzieller Ressourcen gegenüber. Straftheoretikern zufolge hängt die abschreckende Wirkung des Völkerstrafrechts unmittelbar von der Rechtssicherheit der völkerrechtlichen Aufarbeitung von
ICTY, Urteil vom 29. November 1996, IT-96-22-T, Pros. v. Drazen Erdemović, S. 29 Abs. 64 („In the light of this review of international and national precedents relating to crimes against humanity or crimes of the same nature, the Trial Chamber deems most important the concepts of deterrence and retribution.“), zitiert in: C. Möller, a.a.O. (Fn. 5), S. 488 ff. ICTY, Urteil vom 16. November 1998, IT-96-21-T, Pros. v. Zejnil Delalić et al., S. 422 Abs. 1234, zitiert in: C. Möller, a.a.O. (Fn. 5). C. Möller, a.a.O. (Fn. 5), S. 497. 10 R. Schweiger, Der Beitrag des Internationalen Strafgerichtshofes zur Stärkung nationaler Institutionen – Überlegungen anhand der ersten Ermittlungen in Afrika, in: Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien 9 (2005), S. 78.
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Makroverbrechen ab.11 Wenn die fraglichen Verbrechen dagegen nur selten oder fast nie geahndet werden, nehmen die Effekte der Prävention entsprechend ab. Schließlich ist die präventive Wirkung eines Gerichts nur schwer mess- und nachweisbar. Empirische Untersuchungen bezüglich der Präventionswirkungen internationaler Gerichte gibt es (noch) nicht. Auf gewisse Weise kann ja gerade das Ausbleiben von Völkerstraftaten und Verbrechensopfern als Erfolg einer derartigen Wirkung betrachtet werden. Dies ist offenbar kaum messbar. Es handelt sich um den gleichen Mechanismus wie beim humanitären Völkerrecht, bei dem ja auch nicht feststellbar ist, welche Verstöße durch seine Existenz wie durch die Achtung vor diesem Recht vermieden wurden. Darüber hinaus muss unserem jungen Gericht noch mehr Zeit eingeräumt werden, sein Potenzial unter Beweis zu stellen. Es gibt daher keine verlässlichen Daten für eine Abschreckungswirkung des Gerichts. Dennoch ist es möglich, auf einige konkrete Belege einer möglichen Vorbeugungswirkung hinzuweisen. Zentralafrikanische Republik: Die Veröffentlichung der Pressemitteilung im Frühjahr 2003 über das Aktivwerden des Internationalen Strafgerichtshofs war – wie immer wieder berichtet wurde – ein Schlüsselfaktor bei der Entscheidung der kongolesischen Invasoren, das Land mit ihren Truppen zu verlassen. Elfenbeinküste: Der Nachrichtendienst der Vereinten Nationen berichtete am 17. November 2004, dass einen Tag nachdem der damalige UN-Sonderberater Juan E. Méndez12 geäußert hatte, dass die Situation in die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs falle, in Rundfunk und Fernsehen regelrechte Friedensappelle zu vernehmen waren.13 Uganda14: Als 2005 die Haftbefehle gegen Joseph Kony und seine vier „Commander“ veröffentlicht wurden, hörte fast augenblicklich der Zulauf zu seiner gewalttätigen „Lord’s Resistance Army“ auf; in der Folge zerfiel diese Gruppe und löste sich fast vollständig auf. Kolumbien: Chefankläger Luis Moreno Ocampo hat bereits mehrfach erklärt, dass Intensität und Zahl der Verbrechen in Kolumbien rückgängig seien, seit man dort
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D. Nitsche, Der Internationale Strafgerichtshof ICC und der Frieden - eine vergleichende Analyse der Befriedungsfunktion internationaler Straftribunale, Augsburg 2006, S. 72 f. 12 Es ist bemerkenswert, dass der damalige Sonderberater in der Zwischenzeit als „Special Adviser on Crime Prevention” der Anklagebehörde ernannt worden ist. Siehe die Pressemitteilung ICC-OTP-20090619-PR425 vom 19. Juni 2009, näher einsehbar unter: http://www.icc-cpi.int/menus/icc/press%20and%20media/press%20releases/press%20releases%20(2009)/pr425. 13 Parliamentarians for Global Action, A Deterrent International Criminal Court-The Ultimate Objective (2006), unter: http://www.pgaction.org/uploadedfiles/deterrent%20paper%20rev%20T okyo.pdf. 14 Siehe hierzu auch R. Müller, Haager Abschreckung, in: FAZ v. 18. September 2009, S. 10. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass in diesem Beitrag, am gleichen Tage wie der Vortrag in Bochum, ebenfalls die Situationen in Uganda, Sudan und Kolumbien als Beispiele für die positiven Auswirkungen der Tätigkeit des IStGH genannt wurden.
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wisse, dass die Anklagebehörde des Strafgerichtshofs die dortigen Verbrechen fortlaufend prüfe. Sudan: Nachdem 2007 die ersten Haftbefehle gegen zwei sudanesische Verdächtige erlassen worden waren, war dort ebenfalls – nach glaubhaften Angaben von UN-Beobachtern – ein Rückgang der Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Darfur festzustellen. Kindersoldaten: Am 5. Februar 2009 schrieb die französische Zeitung „Le Monde“, dass die Zahl der Kindersoldaten in Afrika rückläufig sei. In dem Beitrag heißt es, dass das Verfahren gegen Thomas Lubanga (hauptsächlich wegen des Kriegsverbrechens des Einsatzes von Kindersoldaten angeklagt) vermutlich bei dieser Entwicklung mitursächlich sei. Dies sei „eine nachdrückliche Botschaft“ an alle „Warlords“, dass sie für den Einsatz von Kindersoldaten bestraft werden könnten.
4 Sekundäre Wirkungen des Völkerstrafrechts: ein integrationsbildendes Potenzial? Während ich mich bis jetzt hauptsächlich auf die direkte Präventivwirkung – das heißt sozusagen auf die Abschreckungswirkung – des Gerichts bezogen habe, möchte ich das Problem nun von einer anderen Perspektive angehen. Wie bereits erwähnt, hat die generalpräventive Funktion der Strafandrohung auch eine positive Dimension oder eine „integrative“ Komponente. Es stellt sich nun die Frage, ob sich dieser Ansatz auch auf das Völkerstrafrecht übertragen lässt. Konkret heißt das: Kann die Institutionalisierung der internationalen Strafgerichtsbarkeit auf Dauer zu einem Wandel von Haltungen, Wertvorstellungen und Praktiken in der internationalen Politik führen? Ein Wandel, der sich in der Praxis durch zunehmende Anerkennung des Völkerstrafrechts ausdrückt, wie sie das Römische Statut anstrebt? Zu diesen Fragen hat kürzlich einer meiner Mitarbeiter in der Präsidentschaft, David Koller, übrigens ein junger Amerikaner, einen beachtlichen Beitrag mit dem Titel „The Faith of the International Criminal Lawyer“15 – also etwa „Der Glaube des Völkerstrafrechtlers“ veröffentlicht. Ich möchte einige seiner wesentlichen Überlegungen kurz referieren. Herr Koller ist der Ansicht, dass Völkerstrafrecht über ein identitätsstiftendes Potenzial verfügt. Das Völkerstrafrecht könne somit zur Schaffung einer gemeinsamen globalen Identität, und schließlich zu einer wirklichen internationalen Gemeinschaft beitragen. Diese wiederum fördere einen Wandel von Haltungen, Wertvorstellungen und Praktiken in der internationalen Politik. Der Prozess, wie rechtliche Entwicklungen zur Identitätsbildung beitragen, ist sicherlich komplex. Erlauben Sie mir trotzdem, drei Wege zu nennen, wie eine Rechtsordnung die Schaffung einer wirklichen internationalen Identität beeinflussen kann. 15
D. Koller, The Faith of the International Criminal Lawyer, in: New York University Journal of International Law and Politics 40 (2008), S. 1019 ff.
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Zuerst und vor allem: Das Völkerstrafrecht trägt zum Aufbau einer Gemeinschaft bei, die sich dadurch auszeichnet, dass sie die Notwendigkeit erkennt, auf Völkerverbrechen angemessen zu reagieren. Das betrifft die zunehmende Überzeugung, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und massenhafte Kriegsverbrechen Gegenstand allgemeinen moralischen Interesses, allgemeiner Ablehnung sind. Diese weithin geteilte Überzeugung kam zunächst, in einer begrenzten Form, im Nürnberger Recht zum Ausdruck. In den Vereinten Nationen gab es umfassende Bemühungen, das Nürnberger Erbe zu institutionalisieren. Mit der Zeit wurde die Überzeugung, dass Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und massenhafte Kriegsverbrechen die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren,16 kontinuierlich gestärkt. Jüngste Versuche, universelle Gerichtsbarkeit über diese Verbrechen auszuüben, sind auf ihre Weise eine Bestätigung dieser universellen moralischen Haltung. Zweitens: Völkerstrafrecht verfügt über die Kapazität, Opfer in die internationale Gemeinschaft zu reintegrieren. Gerichtsverfahren sind ein Weg, die Gemeinschaft neu zu definieren, um das Opfer in diese Gemeinschaft aufzunehmen. Auf diese Weise ist Völkerstrafrecht ein Weg, eine Gemeinschaft zwischen den Verbrechensopfern und Befürwortern solcher Gerichte zu schaffen und somit eine internationale Wertegemeinschaft zu fördern. Drittens: Eine Rechtsordnung wie das Völkerstrafrecht hilft bei der Entwicklung unserer Identität sowohl als Individuen wie auch als Gesellschaften, die an Rechtsstaatlichkeit und an die Notwendigkeit der „rule of law“ glauben. Sie ist ein Ausdruck der Überzeugung, dass wir auf solche schweren Verbrechen auf juristischem Wege reagieren können und müssen. So verdeutlicht auch ein Verfahren gegen einen ehemaligen Staatschef oder hochrangigen Militär, wie es durch Art. 27 des Römischen Statuts („Unerheblichkeit der amtlichen Eigenschaft“) gewährleistet ist, dass auch machtvolle politische Akteure für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden können. Indem die neue Ordnung keine Ausnahmen zulässt und das Prinzip der „Gleichheit vor dem Recht, gleiches Recht für alle“ bekräftigt, wird ihre Geltungskraft gestärkt. Zusammengenommen können diese Faktoren – im Idealfall – eine Identität der internationalen Gemeinschaft begründen, die mit Überzeugung an die Aussicht und Versprechen des Völkerstrafrechts glaubt. In diesem Sinne dürfen wir hoffen, dass der Nutzen und Wert des modernen Völkerstrafrechts nicht nur in seiner Vergeltungs- und Abschreckungsfunktion liegt, sondern auch in seiner Wirkung auf Haltungen, Wertvorstellungen und Praktiken der immer enger verflochtenen internationalen Gemeinschaft.
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Siehe hierzu den Wortlaut des Römischen Statuts, Präambel Abs. 4 sowie Art. 5 Abs. 1.
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5 Perspektiven und Ausblick Ich komme zum Schluss. Das moderne Völkerstrafrecht wie auch der Internationale Strafgerichtshof sind neuartige Versuche, die universelle Geltung der Menschenrechte zu stärken. Realistischerweise muss man zugleich sehen, dass sie kontinuierlich im Spannungsfeld des anscheinend ewigen Kampfes zwischen brutaler Macht einerseits und dem Streben nach mehr „rule of law“ andererseits stehen. Sogenannte Realpolitik, Zynismus, Geringschätzung des Rechts sowie Rückschläge und Enttäuschungen werden – so muss man vermuten – auch in Zukunft das humanitäre Völkerrecht wie auch das Völkerstrafrecht immer wieder in Frage stellen. Darüber hinaus hängt die erhoffte Präventionswirkung des Strafgerichtshofs von vielen anderen Faktoren ab. Vor allem braucht das Gericht nachhaltige, politische und praktische Unterstützung durch hoffentlich bald noch mehr als die derzeit 113 Vertragsstaaten. Dies betrifft insbesondere die zentrale, ja entscheidende Frage der Unterstützung bei Festnahme und Überstellung von mutmaßlichen Tätern nach Den Haag. Erlauben Sie mir zu wiederholen, was ich zum ersten Mal in einem Interview am 9. Dezember 2008 gesagt und seither schon mehrfach öffentlich bekräftigt habe: „Die Staaten wollten nicht, dass der Internationale Strafgerichtshof eigene Festnahmebefugnisse hat. Folglich müssen sie für unser Gericht Sondereinsatzkräfte für Festnahmen bilden oder nationale Strukturen zur Verfügung stellen. Eine Strafjustiz, bei der über längere Zeit die Haftbefehle gegen die Verdächtigen schwerster Verbrechen nicht vollstreckt werden, kann sonst zum Papiertiger werden.“ Im Grunde ist die Sache einfach: ohne Festnahmen keine Strafverfahren. Ohne Strafverfahren keine Prävention, keine Abschreckung. Lassen Sie mich abschließend auch heute eine Mahnung aussprechen, die ich schon viele Male vorgetragen habe: Im Verhältnis zu den Problemen und gewaltsamen Krisen dieser Welt wird der Gerichtshof immer klein und schwach sein, eher ein Symbol. Schon aus Kosten- und Kapazitätsgründen wird das Gericht immer nur einige wenige, exemplarische Strafverfahren durchführen können. Aber: das Streben nach mehr internationaler Gerechtigkeit, Schutz der Menschenrechte auch durch internationale Strafgerichtsbarkeit haben heute erheblich bessere Chancen auf Fortschritt und Verwirklichung als im vergangenen Jahrhundert. Die rechtlichen Standards und Strafverbote des Römischen Statuts sind – das ist für einen Beobachter wie mich klar erkennbar – bereits wirksam und werden zunehmend anerkannt. Die erwähnten Beispiele zeigen, dass das Gericht durchaus über ein präventives Potenzial verfügt. Daher geht es vor allem darum, Kurs zu halten, trotz aller Schwierigkeiten und Probleme. Wie die Rotkreuzbewegung seit dem 19. Jahrhundert bei ihrem Eintreten für das humanitäre Völkerrecht Kurs gehalten hat, so müssen wir auch bei dem Eintreten für das Völkerstrafrecht Kurs halten, unbeirrt und mit langem Atem. Wenn man aber bedenkt, dass der Strafgerichtshof noch 1996 eine bloße Utopie war, wenn man bedenkt, was seither erreicht wurde, dann wird deutlich: Unsere Arbeit ist keineswegs aussichtslos. Ich danke Ihnen.
Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts durch den Menschenrechtsschutz Hans-Joachim Heintze
Typischerweise erfolgt die progressive Kodifikation des humanitären Völkerrechts durch diplomatische Konferenzen von Experten, die durch die Schweizer Regierung und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) einberufen wurden. Im Gegensatz zur allgemeinen Kodifikation im Rahmen der Vereinten Nationen (UN) erlaubt diese Vorgehensweise die Ausarbeitung von hoch spezialisierten Regelungen wie den Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen (GA) von 1977. Gleichwohl ist die Bereitschaft der Staatengemeinschaft zur Fortentwicklung dieses Rechtskörpers offensichtlich gering ausgeprägt, obwohl die „neuen“ oder „asymmetrischen“ Kriege eine ganze Reihe neuer Fragen aufwerfen. Scheinbar ziehen es die Staaten vor, auf diese Herausforderungen von Fall zu Fall zu reagieren und sich nicht durch neue generelle Regelungen zu binden. Vor diesem Hintergrund sind die an einer Fortentwicklung unzureichender Regelungen interessierten Staaten gezwungen, andere als die traditionellen Wege der Kodifikation des humanitären Völkerrechts einzuschlagen. Hierzu bietet sich vor allem der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz an, der in den letzten Jahrzehnten eine beispiellose Fortentwicklung und internationale Verrechtlichung erfahren hat. Zudem verfügt der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz über vergleichsweise
A. Watts, Codification and Progressive Development of International Law, in: Encyclopedia of Public International Law 2010 (online-Ausgabe), abrufbar unter http://www.mpepil.com. BGBl. 1999 II, S. 1550 und BGBl. 1990 II, S. 1637. Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781. H.-J. Heintze () Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV), Ruhr-Universität Bochum, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum, Deutschland E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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kraftvolle Durchsetzungsmechanismen in der Form von Menschenrechtsgerichtshöfen und vertraglichen Implementierungsmechanismen. Daher ist zu hinterfragen, in welchem Verhältnis die beiden Rechtskörper des humanitären Völkerrechts und des Menschenrechtsschutzes zueinander stehen und wie die Menschenrechte genutzt werden können, um Zivilisten im bewaffneten Konflikt einen über die Genfer Abkommen hinausgehenden Schutz zu gewähren.
1 Einheit der Rechtskreise des Friedens- und Kriegsrechts Das klassische Völkerrecht kannte eine klare Trennung von Friedens- und Kriegsvölkerrecht. Je nach Zustand der internationalen Beziehungen fand entweder der Rechtskörper des Friedens- oder des Kriegsrechts Anwendung. Das Kriegsrecht kam nach der Ausrufung des Kriegszustandes zur Anwendung. Zum Kriege konnte ein Herrscher oder ein Staat dann schreiten, wenn es galt, Herrschaftsansprüche oder nationale Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen. Dabei waren lediglich die Normen des Kriegsrechts einzuhalten, die anfänglich (ungeschriebene) Regeln der Ritterlichkeit waren und mit der Schaffung immer neuer und stärkerer Waffensysteme modernisiert und kodifiziert wurden. Mit dem Ende des Krieges endete auch die Geltung des Kriegsrechts und folglich kam dann wieder das Friedensrecht zur Anwendung. Kriegs- und Friedensrecht waren nahezu komplett voneinander abgegrenzt. Auch der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz, der mit der Charta der Vereinten Nationen aufkam, wurde anfänglich ausschließlich als Teil des Friedensrechts angesehen. Intellektuell und praktisch wurde diese Herangehensweise bei der nahezu zeitgleichen Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahre 1948 und der Genfer Abkommen von 1949 demonstriert, bei der man einander nicht zur Kenntnis nahm. Kolb führt dafür eine Reihe von überzeugenden Gründen an. So wurde seinerzeit das humanitäre Völkerrecht schlechterdings als militärisches Recht verstanden, und die Herausbildung der beiden Rechtsgebiete verlief völlig unabhängig voneinander. Waren die Menschenrechte ein Ausfluss des Gedankenguts der Aufklärung, so repräsentierte das Kriegsrecht eher das politische Interesse an einer technischen Regelung der Kampfhandlungen. Auch die Verfechter der beiden Rechtsordnungen hatten wenig gemein, denn die die Menschenrechte fördernden Vereinten Nationen waren hoch politisiert, während das IKRK seine Neutralität in den Vordergrund stellte. Zudem wollten sich die Vereinten Nationen
H.-J. Heintze, „Neue Kriege“ und ihre völkerrechtlichen Rechtfertigungen, in: ders./A. FathLihic (Hrsg.), Kriegsbegründungen, Berlin 2008, S. 59. B. G. Ramcharan, 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, in: Vereinte Nationen 56 (2008), S. 201 ff. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, GAOR, III, Resolutions (UN-Doc. A/810), S. 71.
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auch deshalb nicht mit einem Recht der bewaffneten Konflikte befassen, weil dies so ausgesehen hätte, als ob sie kein Vertrauen in ihre eigenen Kriegsverhütungsmechanismen haben. Somit kann es nicht verwundern, dass die Vereinten Nationen wenig Sympathie für das Kriegsrecht hatten und das Thema auch nicht auf die Tagesordnung der International Law Commission (ILC) setzten. Diese ideologische und institutionelle Trennung fand ihre Widerspiegelung im Kreis der Völkerrechtler, denn die Anhänger der Separationstheorie lehnten die Anwendung von Menschenrechtsnormen während bewaffneter Konflikte mit dem Argument ab, es handle sich um zwei unterschiedliche Bereiche, die nicht gleichzeitig Anwendung finden könnten. Sie akzeptierten die von Bluntschli schon 1872 vorgebrachte Auffassung nicht, wonach die Kriegseröffnung die Rechtsordnung nicht aufhebe: „Im Gegenteil, wir erkennen an, dass es natürliche Menschenrechte gibt, die im Krieg wie im Frieden zu beachten sind (…)“.10 Gleichwohl sieht selbst die Haager Landkriegsordnung von 1907 die Vertragsparteien „von dem Wunsche beseelt“, im äußersten Falle des Krieges „den Interessen der Menschlichkeit“ zu dienen.11 Unabhängig von den Bedenken der Anhänger der Separationstheorie kam es im Rahmen der umfassenden Kodifizierung der Menschenrechte zwischen 1950 und 1990 zu einer Überwindung der strikten Trennung zwischen den beiden Rechtskreisen.12 Sie ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es in diesem Zeitraum zu einem erfreulichen Rückgang der klassischen zwischenstaatlichen Kriege und einem bedauerlichen Anwachsen der nicht-internationalen bewaffneten Konflikte kam.13 Somit stellte sich die Frage verschärft, welche Rechtsordnung in solchen Auseinandersetzungen anzuwenden ist. Sie konnte nur mit der Zusammenführung beider Rechtskreise beantwortet werden. Folglich kann die Rechtslage in heutigen bewaffneten Konflikten nur noch unter Heranziehung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte beurteilt werden, so wie es Kälin bezüglich des Krieges zwischen Irak und Kuwait tat.14 Diese Herangehensweise wird durch die Nuclear Weapons Advisory Opinion des Internationalen Gerichtshofs (IGH) bestätigt. In diesem Gutachten weist das Gericht ausdrücklich die Auffassung zurück, der
R. Kolb, The Relationship Between International Humanitarian Law and Human Rights Law: A Brief History of the 1948 Universal Declaration of Human Rights and the 1949 Geneva Convention, in: International Review of the Red Cross 324 (1998), S. 409 ff. R. Kolb, Human Rights and Humanitarian Law, in: Encyclopedia of Public International Law 2010 (online-Ausgabe), abrufbar unter: http://www.mpepil.com. Vgl. die Nachweise bei O. Kimminich, Schutz der Menschen in bewaffneten Konflikten, München 1979, S. 28. 10 J. C. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten, Leipzig 1872, § 529. 11 RGBl. 1910, S. 107. 12 M. Bothe, The Historical Evolution of International Humanitarian Law, International Human Rights Law, Refugee Law and International Criminal Law, in: H. Fischer et al. (Hrsg.), Krisensicherung und Humanitärer Schutz, Berlin 2004, S. 37 ff. 13 C. Droege, Elective Affinities? Human Rights and Humanitarian Law, in: International Review of the Red Cross 871 (2008), S. 502. 14 W. Kälin, Human Rights in Times of Occupation: The Case of Kuwait, Bern 1994, S. 79 f.
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Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte15 (IPbpR) komme nur in Friedenszeiten zur Anwendung.16 Für die kumulative Anwendung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte spricht auch der Umstand, dass internationale Strafgerichte wie das Jugoslawien-Tribunal (ICTY) Menschenrechtsverträge und Entscheidungen internationaler Gerichte bei ihrer Rechtsprechung heranziehen.17 Für die Positionen des IGH und des ICTY spricht auch der Wortlaut der einschlägigen Menschenrechtsverträge. Sie enthalten ausdrückliche Bezugnahmen auf die Rechtslage in Zeiten bewaffneter Konflikte. So gestattet Art. 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention18 (EMRK) im Falle der Bedrohung des Lebens einer Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand, „von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abzuweichen“. Es dürfen in dem Maße Rechte eingeschränkt werden, wie dies die Lage unbedingt erfordert. Von einigen, ausdrücklich aufgezählten Rechten (unter anderem Recht auf Leben, Folterverbot, Glaubensfreiheit) darf allerdings nicht abgewichen werden, was impliziert, dass die nicht-derogierbaren Menschenrechte unter allen Bedingungen zu respektieren sind. Auch ein weiteres regionales Menschenrechtsinstrument, die Amerikanische Konvention über Menschenrechte vom 22. November 196919 listet in Art. 27 nicht-derogierbare Rechte auf, die im Falle eines Krieges nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Das Rechtsinstitut der nicht-derogierbaren Rechte ist auch in universellen Menschenrechtsverträgen verankert. In Art. 4 des IPbpR ist eine Notstandsklausel festgeschrieben, die denen der regionalen Instrumente ähnelt. Die menschenrechtlichen Verträge belegen, dass die Menschenrechte Teil der Rechtsordnung des bewaffneten Konflikts sind. Angesichts dieser Pflichtenlage der Staaten und in Auswertung der ersten Weltmenschenrechtskonferenz von Teheran 1968 folgert Cerna bereits 1989, das humanitäre Völkerrecht sei „transformed into a branch of human rights law and termed ‚human rights in armed conflicts‘“.20 Damit wurde durch die menschenrechtliche Kodifikation die traditionelle Grenze zwischen dem Friedens- und Kriegsrecht permeabel. Für die Durchlässigkeit spricht weiterhin der Umstand, dass der den vier GA gemeinsame Art. 3 eine Liste der unter allen Umständen einzuhaltenden Rechte enthält, die weitgehend deckungsgleich mit den nicht-derogierbaren Menschenrechten sind. Dieser Umstand war der Ausgangspunkt für die von Wissenschaftlern erarbeitete „Turku Declaration“21, die 15
BGBl. 1993 II, S. 1553. IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, 8. Juni 1996, I.C.J. Reports 1996, 226, para. 26. 17 C. Kamardi, Die Ausformung einer Prozessordnung sui generis durch das ICTY unter Berücksichtigung des Fair-Trial-Prinzips, Berlin 2009, S. 148 ff. 18 BGBl. 1952 II, S. 686. 19 OAS Treaty Series No. 36. 20 C. M. Cerna, Human Rights in Armed Conflict: Implementation of International Humanitarian Law Norms by Regional Intergovernmental Human Rights Bodies, in: F. Kalshoven/Y. Sandoz (Hrsg.), Implementation of International Humanitarian Law, Geneva 1989, S. 39. 21 Declaration of Minimum Humanitarian Standards, vom 2. Dezember 1990, in: UN Doc. E/ CN.4/Sub.2/1991/55. 16
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dazu auffordert, rechtliche Grauzonen im Grenzbereich zwischen Friedens- und Kriegsrecht durch die kumulative Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht zu füllen, und dadurch einen Minimalstandard zu garantieren.22
2 Auswirkungen der Kodifikation der Menschenrechte auf das humanitäre Völkerrecht Das 1989 verabschiedete Übereinkommen über die Rechte des Kindes23 (ÜRK) unterstreicht die Überlappung der Geltungsbereiche des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes und des humanitären Völkerrechts. Artikel 38 Abs. 1 ÜRK verpflichtet die Vertragsstaaten, die für sie verbindlichen Regeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts, die für das Kind Bedeutung haben, zu beachten und für deren Beachtung zu sorgen. Damit enthält ein Vertrag des Friedensrechts Festlegungen für das Verhalten in Kriegszeiten. Die Regelungen sind jedoch noch weit detaillierter. In den folgenden Absätzen werden Standards des Art. 77 ZP I über die Rekrutierung und die direkte Teilnahme von Kindern an Kampfhandlungen wiederholt. Diese Standards aus dem Jahre 1977 lassen die Rekrutierung und die direkte Teilnahme von Kindern ab einem Alter von 15 Jahren zu. Dass dieser zweifellos unbefriedigende Standard in dem ÜRK von 1989 wiederholt wird, spricht einerseits gegen eine progressive Kodifikation des Völkerrechts und anderseits gegen das Ziel dieser Konvention, das gemäß Art. 3 das Wohl („best interest“) des Kindes (nach Art. 1 eine Person bis zum 18. Lebensjahr) sein soll. Es dient aber ganz gewiss nicht dem Wohl eines Kindes von 15 Jahren, als Soldat direkt an Kampfhandlungen teilzunehmen. Dieser Widerspruch wurde in der Literatur vielfach kritisiert und hinterfragt, warum in dem neueren Vertrag, der immerhin eine Dekade nach der Verabschiedung der Zusatzprotokolle zu den GA und einer beachtlichen progressiven Kodifizierung des Individualschutzes ausgearbeitet wurde, kein über Art. 77 ZP I hinausgehender Schutz festgeschrieben wurde.24 Dieser Mangel ist umso gravierender als von den Gegnern der Verbesserung des diesbezüglichen Kinderschutzes (insbesondere USA, Iran und Irak) seinerzeit keine schlüssige juristische Begründung vorgebracht wurde. So meinten die USA, dass weder die Generalversammlung noch die Menschenrechtskommission als angemessene Foren zur Revision des bestehenden humanitären Völkerrechts angesehen werden könnten.25 22
Vgl. A. Rossas/T. Meron, Combatting Lawlessness in Grey Zone Conflicts Through Minimum Humanitarian Standards, in: American Journal of International Law 89 (1995), S. 215 ff. 23 BGBl. 1992 II, S. 121. 24 H.-J. Heintze, Die völkerrechtliche Stellung des Kindes im bewaffneten Konflikt – Verfestigung eines unbefriedigenden Standards durch die neue UN-Kinderkonvention, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 4 (1991), S. 92-98. 25 UN Doc. E/CN.4/1989/SR.55/Add.1, S. 6.
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Die amerikanische Argumentation liegt auf der Linie der traditionellen Trennung des Friedens- und Kriegsrechts, vermag aber nicht zu überzeugen. Schließlich ging es beim ÜRK um die Ausarbeitung eines neuen eigenständigen Vertrages, dessen Ziel nicht die Revision des humanitären Völkerrechts war. Vielmehr sollten für die Mitgliedstaaten über den generellen Standard hinausgehende Pflichten festgelegt werden. Dies ist vertragsrechtlich durchaus möglich. Problematisch wäre nur die Vereinbarung eines niedrigeren Standards gewesen. Insofern ging die amerikanische Argumentation ins Leere. Dass die USA späterhin ihre (unhaltbare) Position verließen, wird daran deutlich, dass sie im Jahre 2002 das Fakultativprotokoll zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten unterschrieben. Dieses im Jahre 2000 mit der Resolution 54/263 der UN-Generalversammlung verabschiedete Protokoll verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle durchführbaren Maßnahmen zu ergreifen, damit Kinder unter 18 Jahren nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen können. Es trat am 12. Februar 2002 in Kraft und ist bislang (Anfang 2010) von 131 Staaten ratifiziert worden.26 Zumindest für diese Staaten gilt nunmehr ein höherer Standard als der des humanitären Völkerrechts.27 Damit wurde durch ein Instrument des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes eine progressive Weiterentwicklung auch des humanitären Völkerrechts erreicht, denn wenn sich bereits mehr als zwei Drittel der Staatengemeinschaft zu dem höheren Standard des Kinderschutzes im bewaffneten Konflikt bekennt, kann dies nicht ohne Einfluss auf die Herausbildung auch neuen Völkergewohnheitsrechts bleiben. So wird in der Literatur angesichts der breiten Akzeptanz des Fakultativprotokolls zutreffend von einer „Tendenz hin zu einem Konsens von 18 Jahren als allgemein gültiges Mindestalter“ gesprochen.28 Bestärkt wird diese Auffassung durch die 1990 erarbeitete Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohl des Kindes29, die die direkte Teilnahme an Feindseligkeiten von unter 18-Jährigen ebenso verbietet wie deren Rekrutierung. Das Beispiel der Rechte des Kindes im bewaffneten Konflikt zeigt nicht nur die Überlappung von Friedens- und Kriegsrecht, sondern ist auch ein anschaulicher Beleg dafür, dass man bei der Ermittlung der Pflichtenlage eines Staates im Falle eines bewaffneten Konflikts nicht umhinkommt, den völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz in Betracht zu ziehen.30 Allein dieser Umstand rechtfertigt es, von einer Konvergenz beider Rechtskörper zu sprechen. 26
BGBl. 1992 II, S. 121. Diesen Aspekt übersieht M. Happold, The Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the Involvement of Children in Armed Conflict, in: H. Fischer, Yearbook of International Humanitarian Law 3 (2000), The Hague 2002, S. 242 f. bei der Einschätzung der Bedeutung dieses Protokolls. 28 S. Liebig, Das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten, in: S. von Schorlemer (Hrsg.), Die Vereinten Nationen und die Entwicklung der Rechte des Kindes, Aachen 2004, S. 185. 29 Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohl des Kindes, OAU Doc. CAB/LEG/24.9/49 vom 11. Juli 1990. 30 Dies erfolgt in der Literatur auch regelmäßig, so z.B. C. Hamilton, Child Protection in Complex Emergencies, in: C. W. Greenbaum et al. (Hrsg.), Protection of Children During Armed Political Conflicts: A Multidisciplinary Perspective, Antwerpen 2006, S. 270 ff. 27
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3 Fälle der Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht Trotz einer weitgehenden Einigkeit bezüglich der Berücksichtigung der Menschenrechte in bewaffneten Konflikten stellt sich jedoch die Frage nach der praktischen Anwendung der beiden Rechtskreise. Dafür gibt es verschiedene Theorien. Die zurückhaltendste ist wohl die der Komplementarität, wonach die Rechtskörper der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts nicht identisch sind, sondern einander ergänzen und letztlich unterschiedlich bleiben.31 Folglich kommen die Menschenrechte dann in bewaffneten Konflikten zur Anwendung, wenn sich Lücken in den Regelungen des humanitären Völkerrechts auftun. Die Menschenrechte werden somit im Sinne der Marten’schen Klausel angewendet, indem immer dann, wenn das humanitäre Völkerrecht einen Sachverhalt nicht regelt, eine Person unter dem Schutz der Prinzipien der Humanität und der Forderungen des öffentlichen Gewissens verbleibt.32 Demgegenüber geht die immer mehr an Akzeptanz gewinnende Konvergenztheorie33 über die bloße Komplementarität hinaus und zielt auf den größtmöglichen effektiven Schutz der menschlichen Person durch die kumulative Anwendung der beiden Rechtskörper ab, so dass von einem einheitlichen Komplex der Menschenrechte unter verschiedenen institutionellen Dächern gesprochen werden kann.34 Ein Blick in die Staatenpraxis belegt die tatsächliche Relevanz. Kälin weist die kumulative Anwendung unter den Bedingungen des Besatzungsregimes in Kuwait 1990/91, die „feasible and meaningful“ gewesen sei, nach.35 Auch während der US-Besatzungsherrschaft im Irak 2003 forderten die Vereinten Nationen von den Besatzern und den Irakern mit der Resolution 1483 (2003), die Verpflichtungen nach dem Völkerrecht, insbesondere nach den Genfer Abkommen, voll einzuhalten (§ 5), und verpflichteten den Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für den Irak, auf die Förderung des Schutzes der Menschenrechte hinzuwirken (§ 8 lit. g)). Eine solche Pflichtenlage bezüglich eines Besatzungsgebietes erfordert geradezu die kumulative Anwendung von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten.
31
So spricht sich Gasser gegen ein „advocating a merger of the two bodies of international law” aus. H.-P. Gasser, International Humanitarian Law and Human Rights Law in Non-International Armed Conflict: Joint Venture or Mutual Exclusion?, in: German Yearbook of International Law 45 (2002), S. 162. 32 H.-J. Heintze, Terrorism and Asymmetric Conflicts – A Role for the Martens Clause?, in: T. Giegerich (Hrsg.), A Wiser Century?, Berlin 2009, S. 429 ff. 33 Zumindest die Unterkommission der Menschenrechtskommission spricht in ihrer Resolution 1989/26 ebenfalls von Konvergenz. 34 T. Meron, Human Rights in Internal Strife: Their International Protection, Cambridge 1987, S. 28. 35 W. Kälin (Hrsg.), a.a.O., (Fn. 14), S. 27.
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Dies wurde in der Literatur anhand anderer Besatzungssituationen bereits analysiert, wobei drei Aspekte Unterstreichung erfuhren: 1. Die Interpretation der Rechte und Pflichten muss auf beide Rechtsgebiete zurückgreifen, da es beispielsweise nicht möglich ist, den menschenrechtlichen Begriff der „unmenschlichen Behandlung“ in einem Gefangenenlager anders auszulegen, als auf die Bestimmungen des GA III zurückzugreifen, denn dort erfährt er eine spezifische Bedeutung. Andererseits könne man der Forderung des § 1 lit. c) des gemeinsamen Art. 3 der vier GA nach der Berücksichtigung der „von den zivilisierten Völkern als unerlässlich erachteten Rechtsgarantien“ in einem Strafverfahren nicht erfüllen, ohne die menschenrechtlichen Instrumente anzuwenden. 2. Die Menschenrechte verstärken die Regelungen des humanitären Völkerrechts durch exaktere Ausformulierungen der Pflichten. So sind die Verpflichtungen aus Art. 55 f. GA IV über das Gesundheitswesen im Lichte des im UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte36 enthaltenen Rechts auf Gesundheit anzuwenden. Bei der Abgrenzung der als Kriegsführungsmethode angewendeten und durch das humanitäre Völkerrecht verbotenen Vergewaltigung von der Folter muss zwangsläufig auf die menschenrechtlichen Bestimmungen des Übereinkommens gegen Folter37 zurückgegriffen werden.38 3. Das humanitäre Völkerrecht effektiviert die Menschenrechte, indem beispielsweise die Verpflichtungen bezüglich verschwundener Personen konkretisiert werden. Obwohl das „Verschwindenlassen“ zweifelsfrei eine schwere Menschenrechtsverletzung darstellt, ist das einschlägige Recht bezüglich der Pflichten des Staates in solch einem Fall nur sehr unterentwickelt. Demgegenüber ist die Besatzungsmacht nach den GA III und IV verpflichtet, Informationen über inhaftierte Personen und mögliche Todesursachen zu erteilen, inhaftierte Personen, die noch leben, freizulassen und nach solchen zu suchen, deren Schicksal unbekannt ist.39 Für eine kumulative Anwendung aller individualschützenden Normen zumindest hinsichtlich der Zivilisten spricht sich auch der UN-Generalsekretär in seinem Bericht an den Sicherheitsrat „On the Protection of Civilians in Armed Conflict“ aus. Er empfiehlt gleichermaßen die Ratifikation der einschlägigen Instrumente des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte und des Flüchtlingsrechts, da es sich hierbei um „essential tools for the legal protection of civilians in armed conflicts“ handele.40
36
BGBl. 1973 II, S. 1569. BGBl. 1990 II, S. 246. 38 Vgl. D. Blatt, Recognizing Rape as a Method of Torture, in: New York University Review of Law and Social Change 19 (1994), S. 821 ff. 39 W. Kälin, a.a.O. (Fn. 14), S. 27 f. 40 Report of the Secretary-General to the Security Council on the Protection of Civilians in Armed Conflict, UN Doc. S/1999/957 vom 8. September 1999, para. 36. 37
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Aus praktischer Sicht ist die Hinwendung zum völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz sicher auch eine Folge des vermehrten Auftretens innerstaatlicher Konflikte, die sich angesichts der geringen Regelungsdichte des humanitären Völkerrechts in diesem Bereich vielfach in einer humanitärvölkerrechtlichen Grauzone abspielten.41 Auf die praktische Bedeutung für die Konfliktparteien wies Fleck überzeugend hin.42
4 Der lex specialis-Einwand Die kumulative Anwendung von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht wirft zwangsläufig die Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis auf. Der IGH musste sie in der Nuclear Weapons Advisory Opinion43 beantworten, weil die Befürworter der Illegalität der Anwendung von Atomwaffen argumentiert hatten, dass die Anwendung dieser Waffen das Recht auf Leben, wie es im Art. 6 IPbpR verankert ist, verletze.44 Gemäß Art. 6 IPbpR darf niemand „willkürlich seines Lebens beraubt werden“. Der IGH stellt in seinem Gutachten fest, dass es sich bei Art. 6 um ein nicht-derogierbares Recht handelt, welches folglich auch im bewaffneten Konflikt gilt. Auch während der Feindseligkeiten ist es somit untersagt, jemanden „willkürlich“ seines Lebens zu berauben. Gleichwohl erkennt der IGH den Vorrang des humanitären Völkerrechts im Kriege an und bezeichnet es als lex specialis. Das Begriffselement „willkürlich“ ist demzufolge nach dem humanitären Völkerrecht zu definieren. Ein Kombattant, der im Rahmen rechtmäßiger Schädigungshandlungen während eines bewaffneten Konflikts einen gegnerischen Kombattanten tötet, wird dafür strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen. Dies entspricht dem ius in bello.45 Auf diese Besonderheiten des Menschenrechtsschutzes unter Kriegsbedingungen weist Art. 15 Abs. 2 EMRK ausdrücklich hin. Es heißt dort, dass Todesfälle in Folge rechtmäßiger Kriegshandlungen nicht als Verletzung des in Art. 3 EMRK verankerten Rechts auf Leben anzusehen sind. Bei der Bewertung des IGH-Gutachtens in der Literatur ist vor allem die Klarstellung begrüßt worden, dass die für die Friedenszeit entwickelten Normen nicht „in an unqualified manner“ auf die Durchführung von Kampfhandlungen angewen41
Vgl. T. Meron, The Humanization of Humanitarian Law, in: American Journal of International Law 94 (2000), S. 244. 42 D. Fleck, Humanitarian Protection against Non-State Actors, in: J. A. Frowein et. al. (Hrsg.), Verhandeln für den Frieden, Liber Amicorum Tono Eitel, Berlin 2003, S. 78 ff. 43 IGH, Legality of the Threat or Use of Nuclear Weapons, Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1996, 226. 44 So hatten Malaysia, die Salomon Inseln und Ägypten argumentiert. Nachweis bei C. J. Greenwood, Jus bellum and jus in bello in the Nuclear Weapons Advisory Opinion, in: L. Bisson de Chazournes/P. Sands (Hrsg.), The International Court of Justice and Nuclear Weapons, Cambridge 1999, S. 253. 45 C. J. Greenwood, a.a.O. (Fn 44), S. 253.
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det werden könnten. Vielmehr müssten die Menschenrechte auf sensible Weise in die Struktur des humanitären Völkerrechts eingefügt werden.46 Auch Greenwood fordert, die lex specialis-Regel nicht insofern misszuverstehen „as applying to the general relationship between the two branches of international law as such, but rather relation to specific rules in specific circumstances.“47 Damit wird der Vorrang des humanitären Völkerrechts unter Konfliktbedingungen unterstrichen. Zu bemerken bleibt aber, dass die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit entsprechend den Vorgaben des Art. 4 IPbpR (beziehungsweise analoger regionaler Verträge) fortgelten und folglich von Bedeutung sind. Deshalb unterstützt der IGH in seinem Gutachten auch die Notwendigkeit, humanitäres Völkerrecht und Menschenrechtsschutz als Einheit zu sehen und zu harmonisieren. Freilich muss man sich bei einer solchen Betrachtungsweise mit dem lex specialis derogat legis generalis-Einwand auseinandersetzen. Auf ihm insistiert Heintschel von Heinegg und will folglich aus rechtsdogmatischen und praktischen Gründen im bewaffneten Konflikt ausschließlich das humanitäre Völkerrecht anwenden, letztendlich weil „it would not make much sense to complicate the situation by demanding (…) to the obligations provided for by human rights instruments.“48 Es ist nicht ganz verständlich, warum die Anwendung von Menschenrechtsinstrumenten die Situation komplizieren soll, denn letztlich eröffnet selbst die sowohl völkervertraglich als auch völkergewohnheitsrechtlich akzeptierte Marten’sche Klausel49 die Möglichkeit, die Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts nicht als abschließende Regelung zum Schutz des Menschen anzusehen. Somit können sie durch die Normen des Menschenrechtsschutzes ergänzt werden.50 Auch Art. 72 ZP I zeugt von der „Offenheit des Kriegsvölkerrechts“,51 denn dort heißt es bezüglich der Behandlung von Personen, die sich in der Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei befinden: „Die Bestimmungen dieses Abschnitts ergänzen (…) die sonstigen anwendbaren Regeln des Völkerrechts über den Schutz grundlegender Menschenrechte in einem internationalen bewaffneten Konflikt.“
46
M. J. Matheson, The Opinions of the International Court of Justice on the Threat or Use of Nuclear Weapons, in: American Journal of International Law 91 (1997), S. 423. 47 C. J. Greenwood, Scope of Application of Humanitarian Law, in: D. Fleck (Hrsg.), The Handbook of International Humanitarian Law, 2.Aufl., Oxford 2008, S. 75, Rn. 256. 48 W. Heintschel von Heinegg, The Rule of Law in Conflict and Post Conflict Situations: Factors in War to Peace Transitions, in: Harvard Journal of Law and Public Policy 27 (2004) S. 869. 49 H. Strebel, Martens’ Clause, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. 3, Amsterdam 1997, S. 327 ff. 50 Vgl. H. B. Reimann, Menschenrechtsstandards in bewaffneten Konflikten, in: C. Swinarski (Hrsg.), Studies and Essays on International Humanitarian Law and Red Cross Principles in Honour of Jean Pictet, Geneva/The Hague 1984, S. 773. 51 S. Vöneky, Die Fortgeltung des Umweltvölkerrechts in internationalen bewaffneten Konflikten, Berlin 2001, S. 286 f.
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5 Durchsetzungsmechanismen des Menschenrechtsschutzes In der Literatur wird zutreffend darauf hingewiesen, dass der Menschenrechtschutz mit dem humanitären Völkerrecht nicht nur eine gemeinsame Philosophie teilt, sondern auch herangezogen werden kann, um die Defizite des humanitären Völkerrechts wettzumachen.52 Zu den großen Schwächen des humanitären Völkerrechts gehören sicher die unterentwickelten Durchsetzungsmechanismen, die als wenig effektiv bezeichnet werden müssen. Immer wieder gab es deshalb Versuche des IKRK und von Wissenschaftlern, die Durchsetzungsmechanismen der UN-Menschenrechtsverträge, von Rüstungskontroll- und Umweltverträgen als Vorbilder für ähnliche Verfahren bezüglich des humanitären Völkerrechts heranzuziehen und den Staaten schmackhaft zu machen. Im Zentrum stehen dabei Staatenberichtsverfahren.53 Das ganz Erstaunliche an diesen Vorschlägen ist, dass sich die Wissenschaftler für neue Berichtsverfahren aussprechen und damit der Inflation solcher Mechanismen das Wort reden. Das vermag vor allem deshalb nicht zu überzeugen, weil es bereits heute schwer fällt, angesichts der schieren Anzahl solcher Berichtsverfahren im Menschenrechtsbereich auf universaler Ebene einen inhaltlichen Überblick zu bewahren und endlosen Wiederholungen auszuweichen, ganz zu schweigen von dem Umstand, dass viele Staaten aufgrund mangelnder Ressourcen kaum dazu in der Lage sind, ihre periodischen Berichte fristgemäß einzureichen. So schuldet Gambia dem Menschenrechtsausschuss seit 22 Jahren seinen zweiten Bericht; die Berichte von 49 Staaten sind bereits seit fünf Jahren überfällig.54 17 Staaten haben schon länger als zehn Jahre keinen Bericht beim Antidiskriminierungsausschuss eingereicht.55 Angesichts dieses Dilemmas ist der UN-Generalsekretär beauftragt worden, Methoden zur Straffung der Staatenberichtsverfahren („streamlining“) zu erarbeiten. Im Frühjahr 2003 fand ein Brainstorming statt, in dessen Mittelpunkt die Straffung und Zusammenlegung der Berichtsverfahren stand.56 Auch in seinem Bericht „In Larger Freedom“ vom März 2005 sprach sich der Generalsekretär erneut für ein
52
J. Gardam, The Contribution of the International Court of Justice to International Humanitarian Law, in: Leiden Journal of International Law 14 (2001), S. 353. 53 Vgl. K. Drewicki, The Possible Shape of a Reporting System for International Humanitarian Law: Topics to be Addressed, in: M. Bothe (Hrsg.), Towards a Better Implementation of International Humanitarian Law, Berlin 2001, S. 73 ff. 54 Report of the Human Rights Committee, Vol. I (88th – 90th session), UN Doc. A/62/40, para. 70 ff. 55 Report of the Committee on the Elimination of Racial Discrimination (70th – 71st session), UN Doc. A/62/18, para. 502. 56 Report of the Brainstorming Meeting held in Malbun, Liechtenstein, UN Doc. HRI/ICM/2003/4 vom 10. Juni 2003.
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„unified system“ des Staatenberichtsverfahrens aus.57 Umgesetzt sind diese vernünftigen Forderungen bislang nicht. Im Lichte der Schwächen des existierenden Systems erscheint der Vorschlag zur Schaffung neuer Berichtsverfahren wenig sinnvoll. Vielmehr muss es heute darum gehen, existierende Verfahren mehrfach zu nutzen. Eine solche Mehrfachnutzung erscheint wegen der Überlappung zwischen Menschenrechtsschutz und humanitärem Völkerrecht möglich und sinnvoll.58 Die im Folgenden in Ausschnitten dargelegte Praxis belegt dies.
5.1 Berichtspflicht bei öffentlichem Notstand Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass es gerade unter den Bedingungen eines Krieges oder anderen öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, besonders häufig zu schweren Menschenrechtsverletzungen bis hin zu massenhaften Tötungen kommt.59 Daher ist die Kontrolle der Einhaltung der Menschenrechte in diesen Situationen besonders wichtig. Dieser Herausforderung wird der IPbpR dadurch gerecht, dass die den Notstand ausrufenden Vertragsstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 verpflichtet sind, den UN-Generalsekretär zu informieren, welche menschenrechtlichen Verpflichtungen außer Kraft gesetzt wurden und welche Gründe dafür sprachen. Der Menschenrechtsausschuss kann dann die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Notstandssituation prüfen und gegebenenfalls auch Sonderberichte anfordern.60 Bereits 1981 verabschiedete der Ausschuss eine „Allgemeine Erklärung“ zur Interpretation der Pflichtenlage aus Art. 4, in der er die außerordentliche und temporäre Natur des Notstandsrechts unterstrich und die Staaten aufforderte, über jede Erklärung des Notstands unverzüglich zu berichten und die Einhaltung notstandsfester Rechte zu garantieren.61 Gefordert wird, dass Menschenrechte nur in dem Umfang außer Kraft gesetzt werden dürfen, den die Lage unbedingt erfordert. Damit stellt der IPbpR auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ab, der auch zu den Prinzipien des humanitären Völkerrechts gehört. 57
Report of the Secretary-General – In Larger Freedom: Towards Development, Security and Human Rights for All, UN Doc. A/58/2005 vom 21. März 2005. 58 F. J. Hampson, The Relationship Between International Humanitarian Law and Human Rights Law from the Perspective of a Human Rights Treaty Body, in: International Review of the Red Cross 871 (2008), S. 549 ff. 59 V. Gowlland-Debbas, The Right to Life and Genocide: The Court and the International Public Policy, in: L. Bisson de Chazournes/P. Sands (Hrsg.), The International Court of Justice and Nuclear Weapons, Cambridge 1999, S. 324. 60 Dies geschah im Falle der Auflösung des früheren Jugoslawiens. Vgl. dazu H.-J. Heintze, Notstandsfeste Menschenrechte und bewaffneter Konflikt, Anmerkungen zum Sonderbericht der Föderativen Republik Jugoslawien an den Menschenrechtsausschuss, in: Humanitäres Völkerrecht - Informationsschriften 6 (1993), S. 134. 61 M. Nowak, CCPR-Commentary, Kehl 1993, S. 81.
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Die Regelung auf regionaler Ebene weicht von der universalen ab. Keine Berichts-, wohl aber eine Informationspflicht kennt die EMRK. Gemäß Art. 15 Abs. 3 muss der Generalsekretär des Europarates über die Notstandsmaßnahmen informiert werden. Wegen der Möglichkeit einer Staatenbeschwerde ist diese Verpflichtung ernst zu nehmen; die Erklärungen werden durch den Europarat veröffentlicht. Diesem Modell ist Art. 27 Abs. 3 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention nachgebildet. Auch hier besteht demzufolge lediglich eine Informationspflicht gegenüber dem Generalsekretär der OAS. Mit der Berichts- beziehungsweise Informationspflicht steht ein Mechanismus zur Verfügung, mit dem sich die Einhaltung sowohl menschenrechtlicher als auch humanitärvölkerrechtlicher Verpflichtungen (soweit sich beide Rechtskörper überschneiden) überprüfen lässt. Dass dem so ist, macht der Bericht des Menschenrechtsausschusses an die UN-Generalversammlung deutlich: „When faced with situations of armed conflicts, both external and internal, which affect State Parties to the Covenant, the Committee will necessarily examine whether these parties are complying with all their obligations under the Covenant.“62 Der Vorteil des Verfahrens ist vor allem darin zu sehen, dass sich die Vertragsstaaten hinsichtlich der Derogation von Menschenrechten rechtfertigen müssen. Der Nachteil liegt darin, dass sich der Menschenrechtsausschuss angesichts der Überlastung mit den periodischen Berichten kaum mit den Notifizierungen von Notstandsmaßnahmen befassen kann. Es sind hier also keine neuen Verfahren, sondern arbeitsorganisatorische Maßnahmen notwendig, um die Überwachung zu effektivieren.
5.2 Individualbeschwerdeverfahren 5.2.1 Universelle Ebene Auf der universellen Ebene gibt es kein Individualbeschwerdeverfahren, das Opfern von Verletzungen des humanitären Völkerrechts offen stehen würde. Aber menschenrechtliche Verfahren können diesen Mangel zumindest teilweise überwinden. So gestatteten Anfang 2010 insgesamt 113 der 165 Staaten, die nicht nur den IPbpR, sondern auch das dazugehörige Fakultativprotokoll63 ratifiziert haben, Opfern von Menschenrechtsverletzungen nach der Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs eine Mitteilung an den Menschenrechtsausschuss einzureichen. In diesem Verfahren wird geprüft, ob der/die Beschwerdeführer(in) in seinen/ihren Menschenrechten verletzt wurde. Die Prüfung beschränkt sich gemäß Art. 1 des Fakultativprotokolls auf die „Verletzung eines in dem Pakt niedergelegten Rechts“, das heißt, das humanitäre Völkerrecht wird nicht direkt angewendet. Dieses Verfahren ist insofern nützlich, als es in Notstandssituationen zu besonders vielen und 62 63
Report of the Human Rights Committee, Vol. I, UN Doc. A/57/40, para. 29. BGBl. 1992 II, S. 1246.
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schweren Menschenrechtsverletzungen kommt.64 Daher ist die internationale Kontrolle besonders wichtig. Hinzu kommt, dass in dem menschenrechtlichen Verfahren auch geprüft wird, ob die Einschränkung der Rechte der beschwerdeführenden Person im Einklang mit den Erfordernissen des Art. 4 stehen.65 Das Verfahren endet nicht mit einem Urteil,66 sondern einer Stellungnahme des Ausschusses, weshalb man es als relativ „weich“ ansehen muss. Durch die Öffentlichkeit des Verfahrens wird jedoch Druck („public blame“-Effekt) auf den betroffenen Staat ausgeübt. Dieser Druck ist bei den Verfahren nach regionalen Menschenrechtsverträgen noch stärker, da es sich hierbei um gerichtsförmige Prozeduren handelt. Besondere Hervorhebung verdient, dass es in diesen individuellen Beschwerdeverfahren bereits zur kumulativen direkten Anwendung von humanitärem Völkerrecht kam. Das ist möglich, weil die Notstandsmaßnahmen gemäß Art. 15 Abs. 1 EMRK „nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei“ stehen dürfen. Artikel 27 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ist ähnlich formuliert. Ein Blick in die Praxis zeigt die Vor- und Nachteile. 5.2.2 Regionale Ebene Amerikanische Menschenrechtskonvention Anfänglich war streitig, ob die amerikanischen Menschenrechtsorgane überhaupt humanitäres Völkerrecht zur Entscheidungsfindung heranziehen dürfen. Im Fall Disabled Peoples’ International et al. v. United States vor der Inter-American Commission on Human Rights hatte die US-Regierung 1987 bezüglich der Intervention in Grenada, bei der auch 16 Insassen einer psychiatrischen Klinik verletzt worden waren, argumentiert, die Kommission sei nicht das zuständige Organ. Sie könne sich nicht mit der Anwendung des GA IV befassen, weil ihr Mandat auf die „examination of the enjoyment or deprivation of the rights set forth in the American Declaration of Rights and Duties of Man“ beschränkt sei.67 Diese Position der USA wurde seinerzeit in der Literatur kritisiert, weil die Prinzipien des humanitären Völkerrechts sehr wohl auf eine Militäroperation anwendbar seien.68 Die spätere Praxis bestätigt dies. Zu verweisen ist insbesondere auf das Gutachten der Inter-American Commission on Human Rights im Tablada-Fall. Hier ging es um einen Angriff von 42 bewaffneten Personen auf die La Tablada-Kaserne der argenti64
Folglich gibt es zahlreiche Entscheidungen von Individualbeschwerden, die aber oft erst nach der Beendigung des Notstands durch eine neue Regierung gefällt wurden. Vgl. dazu A.-L. Svensson-McCarthy, The International Law of Human Rights and States of Exception, The Hague 1998, S. 392 ff. mit vielen Nachweisen. 65 Report of the Human Rights Committee, Vol. I, UN Doc. A/57/40, para. 31. 66 R. Wolfrum, The Reporting System under International Human Rights Agreements – From Collection of Information to Compliance Assistance, in: M. Bothe (Hrsg.), a.a.O. (Fn. 53), S. 25. 67 http://www.wcl.american.edu/pub/humright/digest/Inter-American/english/annual/1986_87/ app9213.html. 68 Vgl. D. Weisbrodt/B. Andrus, The Right to Life During Armed Conflict: Disabled Peoples’ International v. United States, in: Harvard International Law Journal 29 (1988), S. 59.
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nischen Streitkräfte am 30. Oktober 1997. Während der 30-stündigen Kämpfe wurden 29 der Angreifer und einige Soldaten getötet. Überlebende Angreifer wandten sich mit einer Beschwerde an die Kommission, in der sie Argentinien Verletzungen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und des humanitären Völkerrechts vorwarfen. Die Kommission prüfte daraufhin, ob sie das humanitäre Völkerrecht direkt anwenden könne und bejahte dies schließlich. Der Entscheidung wurde in der Literatur große Bedeutung beigemessen, weil damit bestätigt wurde, dass ein Organ des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes humanitäres Völkerrecht bezüglich eines Vertragsstaates eines Menschenrechtsvertrages direkt anwenden kann.69 Die Kommission begründete die Anwendung des humanitären Völkerrechts damit, dass sie nur so Situationen bewaffneter Konflikte gerecht werden könne. Obwohl die Amerikanische Menschenrechtskonvention formell in Zeiten bewaffneter Konflikte anwendbar sei, enthalte sie keine Regelungen hinsichtlich der Mittel und Methoden der Kriegsführung. Um aber ermitteln zu können, was eine (verbotene) willkürliche Beraubung des Lebens unter den Bedingungen eines Krieges sei, müsse die Kommission auf das humanitäre Völkerrecht zurückgreifen.70 Diese Argumentation der Kommission ist zutreffend, denn allein mit den menschenrechtlichen Bestimmungen der Amerikanischen Menschenrechtskonvention ließe sich nicht ermitteln, welche Personen rechtmäßig an Feindseligkeiten teilnehmen dürften und auch Schädigungshandlungen ausführen könnten. Gleichwohl findet sich in der Konvention keine Bestimmung, die den Rückgriff auf das humanitäre Völkerrecht fordert. Die Kommission begründete ihr Vorgehen daher mit 1. der Überlappung in den Geltungsbereichen von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht: die Staaten seien gemäß der Menschenrechtskonvention ohnehin dazu verpflichtet, den Maßstäben des gemeinsamen Art. 3 GA I–IV zu entsprechen; 2. Artikel 29 lit. b), der keine Auslegung gestatte, wonach der Genuss oder die Ausübung von Rechten, die in einem anderen den Staat bindenden Übereinkommen garantiert sind, eingeschränkt werden dürfe; 3. Artikel 25, wonach jedermann einen Anspruch auf geeignete Rechtsmittel gegen die Verletzung seiner Grundrechte habe; 4. Artikel 27, wonach die Derogation von Verpflichtungen aus der Konvention nicht übrigen völkerrechtlichen Verpflichtungen entgegenstehen dürfe; 5. dem Gutachten des Inter-Amerikanischen Menschenrechtsgerichtshofes, wonach die Kommission auch andere Verträge, die nicht innerhalb des inter-amerikanischen Systems entstanden sind, heranziehen könne.71
69
L. Zegveld, The Inter-American Commission on Human Rights and International Humanitarian Law: A Comment on the Tablada Case, in: International Review of the Red Cross 324 (1998), S. 505. 70 „(…) the Commission must necessarily look to and apply definitional standards and relevant rules of humanitarian law as sources of authoritative guidance in its resolution of this and other kinds of claims alleging violations of the American Convention in combat situations”. Case 11.137. Inter. Am. C.H.R., No. 55/97, para. 161 (1997). 71 Inter-Am.Ct.H.R., Advisory Opinion OC-1/82 vom 24. September 1982.
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Die Begründungen sind stichhaltig. Die Kommission hat somit das humanitäre Völkerrecht direkt angewandt und nicht nur als Auslegungshilfe herangezogen. Der Inter-Amerikanische Gerichtshof folgte in seiner Entscheidung im Los Palmeras-Fall72 nicht der Auffassung der Kommission, dass er kompetent sei, das humanitäre Völkerrecht und insbesondere den gemeinsamen Art. 3 GA I–IV direkt anzuwenden. Der Gerichtshof räumte lediglich ein, er könne die GA dann heranziehen, wenn es um die Interpretation der Menschenrechtskonvention gehe. Folglich argumentierte er im Los Palmeras-Fall, bei dem es um die Hinrichtung von sechs unbewaffneten Zivilisten durch die kolumbianische Polizei ging, die Konvention „has only given the Court competence to determine whether the acts and norms of States are compatible with the Convention itself, and not with the 1949 Geneva Conventions.“73 Kleffner und Zegveld sehen in dieser Entscheidung einen Beleg dafür, wie problematisch die Behauptung der Kommission ist, sie könne humanitäres Völkerrecht direkt anwenden. Da dies letztlich höchst fraglich sei, leiten sie daraus die Notwendigkeit her, ein eigenes Beschwerdeverfahren für Verletzungen des humanitären Völkerrechts zu schaffen.74 So wünschenswert ein solches Verfahren auch ist, die Realisierungsmöglichkeiten sind für die absehbare Zukunft höchst gering. Folglich muss die Wissenschaft weiter darauf dringen, dass die Organe des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes auf dem Weg voranschreiten, der mit der Tablada-Entscheidung eingeschlagen wurde, um damit dem humanitären Völkerrecht größere Geltung zu verschaffen.75 Im Bamaca-Velasquez-Fall76 kam der Inter-Amerikanische Gerichtshof demge genüber zu einer grundsätzlich anderen Entscheidung, was die Kritik von Kleffner/Zegveld am Los Palmeras-Urteil relativiert. Im Bamaca-Velasquez-Fall ging es um einen Guerilla-Kämpfer, der während einer Schlacht in die Hände des Militärs Guatemalas fiel, von diesem gefoltert und ermordet wurde. Hier wurde die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts bejaht, da sowohl Guatemala als auch die Kommission zugestimmt hatten, dass das humanitäre Völkerrecht angewendet und der gemeinsame Art. 3 GA I–IV zur Interpretation der Pflichten nach der Amerikanischen Konvention herangezogen werden könne. Das Gericht argumentierte, dass Art. 29 der Konvention gestatte, bei der Auslegung auf andere Verträge, denen Guatemala angehört, zurückzugreifen, um eine unzulässige Einschränkung von Menschenrechten zu vermeiden. Ausdrücklich folgerte es, die unbestrittene 72
Inter-Am.Ct.H.R. (Ser.C), No. 67 (2000) vom 4. Februar 2000. Ebd., para. 33. 74 J. K. Kleffner/L. Zegveld, Establishing an Individual Complaints Procedure for Violations of International Humanitarian Law, in: H. Fischer (Hrsg.), Yearbook of International Humanitarian Law 3 (2000), Den Haag 2002, S. 388. 75 Zu hinterfragen ist allerdings, ob nicht heute schon Ansprüche aus der Verletzung humanitären Völkerrechts auf zivilrechtlichem Wege geltend gemacht werden können. Vgl. B. Graefrath, Schadenersatzansprüche wegen Verletzung humanitären Völkerrechts, in: Humanitäres Völkerrecht Informationsschriften 14 (2001), S. 110 ff. 76 Inter-Am. Ct.H.R. (Ser.C) No. 70 (2000), Urteil vom 25. November 2000. 73
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Existenz eines internen bewaffneten Konflikts bedeute „instead of exoneration the State from its obligations to respect and guarantee human rights, this fact obliged it to act in accordance with such obligations.“77 Dieses Urteil bestätigt die direkte Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts durch Menschenrechtsgerichtshöfe und führte in der Literatur zu einer weiteren Schlussfolgerung: der durch das humanitäre Völkerrecht bestätigten Notwendigkeit, die Verantwortlichen für derartige Verbrechen zu bestrafen.78 Europäische Menschenrechtskonvention Da gemäß Art. 15 EMRK Derogationen von Konventionsverpflichtungen nur in Übereinstimmung mit sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgenommen werden dürfen, sind die Verpflichtungen aus den GA zu berücksichtigen.79 In der Tat hat der EGMR im Nordirland-Fall80 geprüft, ob die Derogationen mit den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen des betroffenen Vertragsstaates übereinstimmten. Untersucht wurde konkret, ob die britische Gesetzgebung in Nordirland den GA entsprach. Allerdings wurde die Prüfung nicht vertieft, da von irischer Seite keine weiteren Details vorgelegt wurden.81 Das Beispiel macht deutlich, dass die Heranziehung des humanitären Völkerrechts grundsätzlich möglich ist. Allerdings zeigt die Praxis, dass die Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention zögern, hier klare Positionen zu beziehen. Frowein machte dies anhand der ersten Staatenbeschwerde Cyprus v. Turkey deutlich, als die Europäische Menschenrechtskommission zwar die Anwendung des GA III bezüglich der Kriegsgefangenen von 1974 bejahte, zugleich aber die Prüfung, ob es zu Verletzungen von Art. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) gekommen sei, für nicht notwendig hielt.82 Diese Unentschlossenheit ist durchgängig zu beobachten.83 In Loizidou v. Turkey wendete der EGMR humanitäres Völkerrecht nicht an, obwohl es um Rechtsverletzungen ging, die aus einer militärischen Besetzung resultieren: Die zypriotische Beschwerdeführerin konnte ihre Grundstücke in Nordzypern nach der türkischen Invasion von 1974 nicht mehr nutzen. 1989 reichte sie 77
Ebd., para. 207. Vgl. R. J. Wilson/J. Perlin, The Inter-American Human Rights System: Actvities from Late 2000 Through October 2002, in: American University International Law Review 18 (2002), S. 670 f. 79 Vgl. J. Künzli, Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte, Berlin 2001, S. 110. 80 Vgl. D. J. Harris/M. O’Boyle/C. Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, London 1995, S. 489 ff. 81 Stattdessen wurde eine Verletzung von Art. 4 CCPR behauptet. Vgl. Brannigan and McBride v. UK, Eur.Ct.H.R. Series A 258-B, 26. Mai 1993, paras. 67-73. 82 J. A. Frowein, The Relationship Between Human Rights Regimes and Regimes of Belligerent Occupation, in: Israel Yearbook of Human Rights 28 (1999), Den Haag 1999, S. 10 f. 83 A. Reidy, The Approach of the European Commission and Court of Human Rights to International Humanitarian Law, in: International Review of the Red Cross 324 (1998), S. 519. 78
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eine Beschwerde ein, wonach die fortdauernde Verweigerung des Zutritts zu ihrem Grundeigentum eine Verletzung des Rechts auf friedliche Nutzung ihres Eigentums nach Art. 1 des 1. ZP zur EMRK darstelle. Letztlich gab ihr der EGMR Recht und erließ am 28. Juli 1998 das Leistungsurteil.84 Im Zentrum des Falles stand die Frage, wer in Nordzypern Hoheitsgewalt ausübt. Die Türkei brachte vor, dass sie nicht der zutreffende Beschwerdegegner sei. Vielmehr sei dies die „Turkish Republic of Northern Cyprus“ (TRNC), die als ein unabhängiger Staat für ihre Handlungen selbst zuständig sei. In seiner Prüfung kam der EGMR zu dem Schluss, dass der in Art. 1 EMRK verwandte Begriff der Jurisdiktion nicht auf das eigene Staatsgebiet begrenzt sei. Vielmehr gehe es um die Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt, die wiederum Auswirkungen innerhalb oder außerhalb des eigenen Staatsgebiets haben könne. So könne ein Staat durch militärische Maßnahmen effektive Kontrolle über ein Gebiet außerhalb seines eigenen Staatsgebietes ausüben, wobei es unerheblich sei, ob diese Kontrolle durch eigene Streitkräfte oder eine untergeordnete lokale Verwaltung durchgeführt wird. Da die Beschwerdeführerin wegen der Besetzung durch türkische Truppen über ihr Eigentum nicht mehr verfügen könne, fielen diese Vorgänge unter die Jurisdiktion der Türkei im Sinne von Art. 1 EMRK. Gleichwohl umging der EGMR die Feststellung, dass es sich bei der TRNC um besetztes Gebiet handle. Dies hinderte das Gericht allerdings nicht daran, auf die Resolution S/550/1984 des UN-Sicherheitsrates zu verweisen, in der ausdrücklich vom „occupied part of the Republic of Cyprus“ gesprochen wird. Diese Widersprüchlichkeit blieb nicht ohne Kommentierung. In einer dissenting opinion wandte Richter Pettiti ein, dass die gesamten Umstände der türkischen Intervention in Zypern nicht hinreichend geklärt seien. Das betreffe die Probleme der Okkupation und Annexion, die auch die Anwendung des humanitären Völkerrechts notwendig mache.85 Der Argumentation ist zu folgen. Das gesamte Urteil leidet unter dem Umstand, dass den komplizierten Statusfragen ausgewichen wurde. Deshalb zog sich der EGMR auf die Position zurück, der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz sei ein „matter of international concern“. Man müsse deshalb eine pragmatische Klärung („effet utile“) herbeiführen.86 Gleichwohl ist zu fragen, ob dieses Ergebnis nicht auch mit einer Berufung auf das humanitäre Völkerrecht erreicht worden wäre. Schließlich ist auch das humanitäre Völkerrecht „a matter of international concern“. Die Anwendung des IV. GA hätte das Ergebnis des EGMR untermauert, denn bei Nordzypern handelt es sich um besetztes Gebiet und Loizidou ist entgegen Art. 49 aus dem besetzten Gebiet vertrieben worden, ohne dass dafür Sicherheitsinteressen oder eine militärische Notwendigkeit vorgelegen hätten. Dies widerspricht zudem der Pflicht, das Eigentum von Zivilpersonen im besetzten Gebiet zu respek84
A. Husheer, Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Türkei für Menschenrechtsverletzungen in Nordzypern, in: Zeitschrift für Europarechtliche Studien 1 (1998), S. 389. 85 Loizidou v. Turkey, App. 15318/89, Eur.Ct. H. R., Urteil vom 18. Dezember 1996, dissenting opinion Judge Pettiti. 86 So die überzeugende Argumentation von A. Husheer, a.a.O. (Fn. 84).
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tieren. Es ist unverständlich, weshalb sich der Gerichtshof dieses Arguments nicht bediente. Nach der Konstruktion der GA sind die Parteien eines bewaffneten Konflikts an ihre Verpflichtungen auch außerhalb des eigenen Territoriums gebunden. Im Lichte der Entscheidung Loizidou v. Turkey kann die Jurisdiktion eines Staates auch außerhalb des staatlichen Territoriums ausgeübt werden. Umso erstaunlicher ist es unter diesen Umständen, dass sich der EGMR in Bankovic v. Belgium87 nicht zu einer weiten Auslegung des Begriffs Jurisdiktion entschließen konnte. Hier hatten die Verwandten von vier Bürgern der Föderativen Republik Jugoslawien, die durch die NATO-Angriffe auf die Rundfunkstation von Belgrad getötet wurden, geklagt. Sie sahen in dem Angriff eine Verletzung des Rechts auf Leben, der freien Meinungsäußerung und des Rechts auf effektive Rechtsmittel. Sie begründeten ihre Klage weiterhin mit Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht, das sie für anwendbar hielten, weil die NATO-Staaten einerseits Vertragsstaaten der GA seien und die relevanten Bestimmungen des ZP I andererseits bereits den Charakter von Völkergewohnheitsrecht hätten. Der Gerichtshof ging auf die humanitär-völkerrechtliche Argumentation nicht ein. Vielmehr beschränkte er sich darauf, hier keine weite Auslegung des Begriffs „Jurisdiktion“ vorzunehmen. Die Klage wurde für unzulässig erklärt. Im Vergleich zum Loizidou-Fall muss dieses Ergebnis überraschen und wurde in der Literatur auch vielfach kritisiert.88 Die militärischen Operationen in den Kurdengebieten der Türkei haben zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung und großen materiellen Schäden geführt. Eine ganze Reihe solcher Fälle wurde vor die Straßburger Menschenrechtsorgane gebracht. Dabei zeigten sich einerseits die Grenzen einer internationalen Gerichtsbarkeit, die auf die Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges und die Wiedergutmachung individueller Rechtsverletzung angelegt ist.89 Diese Verfahren sind insofern nicht geeignet, wirksam gegen massenhafte und grobe Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.90 Gleichwohl haben massenhafte Menschenrechtsverletzungen eine individuelle Dimension. In Ergi v. Turkey91 ging es um die zufällige Tötung einer unbeteiligten Frau bei einer militärischen Operation. Bei der Analyse des Sachverhalts hatte die Kommission festgestellt, dass die Planung und Durchführung einer solchen Operation „(…) not only in the context of the apparent targets of an operation but, particularly where the use of force is envisaged in the vicinity of the civilian population, 87 Bankovic v. Belgium, App. 52207/99, Eur.Ct.H.R. Grand Chamber, Beschluss vom 12. Dezember 2001. 88 So T. Richter, Bankovic, in: J. Menzel et al. (Hrsg.), Völkerrechtsprechung, Tübingen 2005, S. 489. 89 Vgl. A. Reidy/F. Hampson/K. Boyle, Gross Violations of Human Rights: Invoking the European Convention on Human Rights in the Case of Turkey, in: Netherlands Quarterly of Human Rights 15 (1997), S. 161 ff. 90 H.-J. Heintze, Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs als Politikersatz?, in: J. Hasse et al. (Hrsg.), Menschenrechte, Baden-Baden 2002, S. 442 ff. 91 Ergi v. Turkey, 66/1997/850/1057, Eur.Ct.H.R., Urteil vom 28. Juli 1998.
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with regard to the avoidance of incidental loss of life and injury to others“ erfolgen muss.92 Gemessen an diesen Forderungen erschien der Kommission die Planung der infrage stehenden Operation nicht hinreichend sorgfältig gewesen, um Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden und zu verhindern, dass sich der Konflikt in dem Ort ausdehnt. Der EGMR argumentierte in seinem Urteil mit der Verantwortung des Staates für das Versäumnis, „to take all feasible precaution in the choice of means and methods of a security operation mounted against an opposing group with a view to avoiding or, at least, minimising incidental loss of civilian life“.93 Der Gerichtshof greift damit auf den Wortlaut des humanitären Völkerrechts zurück, um den Umfang menschenrechtlicher Verpflichtungen zu analysieren. Dies zeigt einerseits die kumulative Anwendung der beiden Rechtskörper. Andererseits bestätigt sich hier aber auch die Feststellung des IGH, dass das humanitäre Völkerrecht das lex specialis ist, nämlich das in bewaffneten Konflikten verbindliche Recht, das darauf ausgelegt ist, die Abwicklung der Feindseligkeiten zu regeln. Mit anderen Worten: So wie der IGH bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Atomwaffen nicht umhin kam, die Übereinstimmung dieser Waffensysteme mit den Menschenrechten und dem humanitären Völkerrecht zu prüfen, so muss auch der EGMR auf das humanitäre Völkerrecht zurückgreifen, wenn er sich mit Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten befasst. Im Ergi-Fall greift der EGMR indirekt auf das humanitäre Völkerrecht zurück, indem er sich dazu äußert, was ein rechtmäßiges Angriffsziel ist, ob ein rechtmäßiger Angriff verhältnismäßig ist und ob das vorhersehbare Risiko bezüglich ziviler Opfer unverhältnismäßig gegenüber dem militärischen Vorteil ist.94 Allein schon die Aufzählung dieser Prüfungspunkte macht deutlich, dass die Berücksichtigung des humanitären Völkerrechts von grundlegender Bedeutung für die Durchsetzung der Menschenrechte sein kann. In Gülec v. Turkey95 ging es um die Schüsse, die von einem Schützenpanzerwagen auf gewaltsam protestierende Demonstranten abgegeben wurden und die den Sohn des Beschwerdeführers tödlich verletzt hatten. Der Gerichtshof prüfte, ob die staatliche Gewaltanwendung unter Art. 2 Abs. 2 lit. c) EMRK zulässig gewesen war. Als Kriterium legte er zugrunde, dass die Gewaltanwendung hinsichtlich des Ziels und der Mittel verhältnismäßig sein müsse. Eine solche Abwägung habe bei den Sicherheitskräften offensichtlich nicht stattgefunden, denn diese nutzten Gefechtsfeldwaffen. Mit der für die Bekämpfung von Demonstrationen notwendigen Ausrüstung (Wasserwerfer, Schutzschilder, Gummigeschosse oder Tränengas) waren sie nicht ausgestattet. Dies sei umso verwerflicher gewesen, als die Provinz Sirnak 92
Ergi v. Turkey, App. 23818/94, Eur.Com. H.R., Report vom 20. Mai 1997, para. 145. Ergi v. Turkey, 66/1997/850/1057, Eur.Ct.H.R., Urteil vom 28. Juli 1998. 94 Alle diese Forderungen erhebt Art. 57 Abs. 2 lit. a) ii): „Wer einen Angriff plant oder beschließt, (…) hat bei der Wahl der Angriffsmittel und -methoden alle praktisch möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Verluste unter der Zivilbevölkerung, der Verwundung von Zivilpersonen und die Beschädigung ziviler Objekte, die dadurch verursacht werden könnten, zu vermeiden und in jedem Fall auf ein Mindestmaß zu beschränken.“. 95 Gülec v. Turkey, 54/1997/838/1044, E.Ct.H.R., Urteil vom 27. Juli 1998. 93
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in einem Gebiet liegt, wo ohnehin der Notstand ausgerufen worden war und Unruhen erwartet werden konnten. Für die Behauptung, unter den Demonstrierenden hätten sich Terroristen befunden, konnte die Regierung keine Beweise beibringen. Die massive Anwendung von bewaffneter Gewalt, die den Tod Gülec’ verursachte, sei nicht im Sinne von Art. 2 EMRK absolut notwendig gewesen, so dass die Türkei wegen der Verletzung der EMRK verurteilt wurde. Die Argumentation des Gerichts weist wiederum zahlreiche Parallelen zum humanitären Völkerrecht auf. Dies beginnt damit, dass in dem fraglichen Gebiet bereits der Notstand ausgerufen war und Unruhen jederzeit zu erwarten waren. Allein diese beiden Umstände implizieren, dass die Normen des humanitären Völkerrechts angewendet werden konnten. Dafür spricht auch, dass die mangelnde Ausbildung, Ausrüstung und die unzureichenden „rules of engagement“ der Streitkräfte getadelt wurden. Schließlich spricht das Gericht auch davon, dass in der Südost-Türkei schon zahlreiche Menschenleben wegen der dortigen „security situation“ zu beklagen waren. Gleichwohl entbinden die häufigen „violent armed clashes“ den Staat nicht von der Beachtung von Art. 2 EMRK.
5.3 Schlussfolgerungen Die angesprochenen Fälle belegen, dass es in der Praxis der Straßburger Menschenrechtsorgane erhebliche Überschneidungen mit dem humanitären Völkerrecht gibt. Dies betrifft insbesondere die Rechte, die im gemeinsamen Art. 3 der GA I–IV aufgelistet sind und die in Art. 15 EMRK als notstandsfeste Menschenrechte charakterisiert wurden. Hervorhebung verdient insbesondere der Umstand, dass unter Notstands- und Kriegsbedingungen vielfach die Anwendung bewaffneter Gewalt (im Sinne von Art. 2 Abs. 2 lit. c) EMRK) als zulässig angesehen wird. Diese Gewalt darf durch die Staaten zur Unterdrückung des Aufruhrs oder von Aufständen angewendet werden und schließt auch die Berechtigung zur Tötung von Teilnehmern an diesen Taten ein. Wenn man einmal davon absieht, dass der Artikel „unglücklich formuliert“96 ist, so bleibt doch die Frage offen, in welchem Umfang und unter welchen Umständen Gewalt zur Anwendung gebracht werden darf. Die dargestellten Fälle zeigen, dass hier enge Grenzen gezogen sind, die allerdings im Menschenrechtsschutz nicht so klar umschrieben sind wie im humanitären Völkerrecht. Bei der Ermittlung der konkreten Dimension der Gewaltanwendung würden sich die Straßburger Organe leichter tun, wenn sie auf die Kriterien des humanitären Völkerrechts, insbesondere auf den Verhältnismäßigkeits- und Unterscheidungsgrundsatz und die dazu im Völkerstrafrecht entwickelten Standards zurückgreifen würden. Es sind auch Situationen unter den Bedingungen eines bewaffneten Konflikts denkbar, 96
Zweifellos ist diese Klausel des Artikels „unglücklich formuliert“ (so J. A. Frowein/W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, Kehl 1996, S. 34, Rn. 10). Gleichwohl ändert diese auf Verhältnismäßigkeit angelegte Konstruktion nichts an der Parallele zum humanitären Völkerrecht.
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in denen menschenrechtliche Instrumente keinerlei Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Gewaltanwendung bereit halten. Hier muss zwangsläufig auf das humanitäre Völkerrecht zurückgegriffen werden. Daher ist Laursen zuzustimmen, wenn er dem EGMR zumindest ein begrenztes „potential for the future application of international humanitarian law“ bescheinigt.97 Dass es gegen die direkte Anwendung von humanitärem Völkerrecht keine rechtstheoretischen Einwände gibt, zeigt der Engel-Fall, in dem sich der EGMR explizit auf das humanitäre Völkerrecht bezogen hat.98 Dabei ging es um die Ungleichbehandlung verschiedener militärischer Ränge bei Disziplinarstrafen. In der Literatur wurde diese Bezugnahme auf Art. 88 GA I begrüßt, weil dieser Vertrag „so well accepted“ sei.99 Angesichts dieser Entscheidung erscheint es offensichtlich, dass den EGMR bislang lediglich politische Gründe davon abgehalten haben, humanitäres Völkerrecht anzuwenden.
6 Überwindung bestehender Lücken In der Schaffung der internationalen Strafgerichtsbarkeit sieht Karl den entscheidenden Schritt der Entwicklung des humanitären Völkerrechts zum „Weltrecht“.100 Unabhängig davon, ob man diese weitgehende Einschätzung teilt, bleibt doch der Umstand zu konstatieren, dass es mit der Schaffung der bekannten ad hoc-Tribunale und des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) möglich geworden ist, unter bestimmten Bedingungen völkerrechtliche Verbrechen, die sich sowohl auf das humanitäre Völkerrecht wie auch auf schwerste Menschenrechtsverletzungen beziehen, abzustrafen. Damit wird insofern eine schwerwiegende Lücke gefüllt als durch Menschenrechtsgerichtshöfe zwar den Opfern von Menschenrechtsverletzungen Entschädigung oder Wiedergutmachung zugesprochen werden können, die Frage nach dem Schicksal der Verantwortlichen für die Verletzung aber offen gelassen wird. Da mit der Eröffnung eines Weges zur Durchsetzung des internationalen Strafanspruchs die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Täter nicht straffrei101 bleiben, kann von einer generalpräventiven Wirkung ausgegangen werden. Selbst wenn man wie Bothe die generalpräventive Wirkung für eine Mystifikation hält und folglich be97
A. Laursen, Nato, the War over Kosovo, and the ICTY Investigation, in: American University International Law Review 17 (2002), S. 804. 98 Engel v. The Netherlands, 5370/72, E.Ct.H.R., Urteil vom 23. November 1976. 99 So J. G. Merrills, The Development of International Law by the European Court of Human Rights, New York 1993, S. 225. 100 W. Karl, Das Humanitäre Völkerrecht auf dem Weg vom Zwischenstaats- zum Weltrecht, in: W. Benedek (Hrsg.), Development and Developing International and European Law: Essays in Honour of Konrad Ginther, Frankfurt/M. 1999, S. 589. 101 M. Griffin, Ending the Impunity of Perpetrators of Human Rights Atrocities: A Major Challenge for International Law in the 21st Century, in: International Review of the Red Cross 838 (2000), S. 369 ff.
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zweifelt – er verweist zur Begründung seiner Zweifel darauf, dass die Verbrechen von Srebrenica nach der Einrichtung des ICTY geschehen sind102 –, so bleibt doch der Umstand zu konstatieren, dass das Strafrecht Bestandteil einer rechtlichen Bewusstseinsbildung ist und gerade in Post-Konflikt-Gesellschaften Wesentliches zur Schaffung von Rechtsfrieden und gesellschaftlichem Frieden beitragen kann. Wie Mundis an den Beispielen Sierra Leone, Kambodscha, Ost-Timor und Kosovo herausarbeitet, ist die Wiederherstellung der Rule of Law – zu der gerade auch das Strafrecht gehört – ein Umstand von größter Bedeutung für einen Neuanfang und dient zudem auch der Durchsetzung, und zwar in der Form des „enforcement“, des humanitären Völkerrechts.103 Die Anklage des kongolesischen Milizenführers Thomas Lubanga Dyilo wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten104 vor dem Internationalen Strafgerichtshof kann als eindrucksvoller Beleg dafür angesehen werden, dass Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte mittlerweile auch auf internationaler Ebene geahndet werden können. Da sich das Völkerstrafrecht auf völkerrechtliche Verbrechen – also gleichwohl auf das humanitäre Völkerrecht wie auf den Menschenrechtsschutz – bezieht, kann darin ein weiterer Beleg für das Zusammengehen der beiden Rechtskörper gesehen werden. Zugleich wird mit der internationalen Strafgerichtsbarkeit eine zweite Lücke geschlossen, die auf eine dogmatische Schwäche des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zurückzuführen ist. Dieser geht nämlich davon aus, dass Menschenrechtsverletzungen von Staaten ausgehen. Die für bewaffnete Konflikte typische Situation der Rechtsverletzung durch nicht-staatliche Akteure und Widerstandsgruppen blieben damit außerhalb des Geltungsbereiches. Diese Lücke wird nunmehr durch die internationale Strafgerichtsbarkeit geschlossen. Ungeklärt bleibt freilich die Frage, inwieweit sich Opfer von Verletzungen des humanitären Völkerrechts mit Wiedergutmachungsansprüchen an kriegsführende Parteien wenden können. Im Varvarin-Fall vor dem Bonner Landgericht war dies durch eine Gruppe jugoslawischer Staatsangehöriger erfolglos versucht worden. Das Gericht bestritt, dass Individuen gegenüber Staaten Schadenersatzforderungen wegen der Verletzung des humanitären Völkerrechts gegenüber Staaten vor einem nationalen Gericht erheben können. Diese Feststellung weicht grundsätzlich von den Regelungen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes ab, weshalb menschenrechtliche Mechanismen zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts nur noch interessanter erscheinen. Freilich ist das letzte Wort noch nicht gesprochen: Da die Kläger von Varvarin in die Revision gegangen sind, kann noch keine 102 M. Bothe, Neue und alte Konzepte der Durchsetzung des Humanitären Völkerrechts, in: V. Epping/H. Fischer/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Brücken bauen und begehen, Festschrift für Knut Ipsen, München 2000, S. 26. 103 D. A. Mundis, New Mechanisms for the Enforcement of International Humanitarian Law, in: American Journal of International Law 95 (2001), S. 934 ff. 104 Vgl. UN Human Rights Council, Annual report of the Special Representative of the SecretaryGeneral for Children and Armed Conflict, Radhika Coomaraswamy, UN Doc. A/HRC/12/49 vom 30. Juli 2009, para. 10.
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abschließende Bewertung vorgenommen werden, ob der Weg über Schadenersatzklagen erfolgversprechend ist.105
7 Schlussbemerkung Die Untersuchung belegt, dass es eine Konvergenz von Menschenrechtsschutz und humanitärem Völkerrecht gibt. Beide Rechtsmassen können in bewaffneten Konflikten zur Anwendung kommen, um einen größtmöglichen Schutz der Menschlichkeit im Sinne der Marten’schen Klausel zu erreichen. Die bedeutendste praktische Konsequenz dieses Umstandes liegt in den Möglichkeiten zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts. Da dessen Durchsetzungsmechanismen unzureichend und die Ausarbeitung von Staatenberichts- beziehungsweise Individualbeschwerdeverfahren für das humanitäre Völkerrecht nicht zu erwarten sind, kommt den existierenden menschenrechtlichen Verfahren eine zunehmende praktische Bedeutung zu, wie erste (zaghafte) Entscheidungen, in denen humanitäres Völkerrecht angewendet wurde, zeigen. Dies ist ein deutlicher Beleg für die praktischen (und nützlichen) Konsequenzen der Konvergenz von Menschenrechten und humanitärem Völkerrecht.106 Mehr noch, die Kodifikation und Durchsetzungsmechanismen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes können zur Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts herangezogen werden.
105
R. Hofmann, Can Victims of Human Rights Violations Claim Damages?, in: T. Giegerich, A Wiser Century?, Berlin 2009, S. 329 (mit weiteren Nachweisen). 106 B. Schäfer, Zum Verhältnis Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht, in: Studien zu Grund- und Menschenrechten No. 13, Potsdam 2006, S. 10 ff.
Aufständische Gruppen und private Militärunternehmen – Theoretische und praktische Überlegungen zur Position bewaffneter nicht-staatlicher Akteure im humanitären Völkerrecht Math Noortmann
1 Einleitung „Es ist ziemlich klar, dass die Nicht-Respektierung des humanitären Völkerrechts durch nicht-staatliche Akteure ein großes Problem ist“, meinte der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Kellenberger in einem Interview anlässlich des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Genfer Konventionen. Der Journalist Bradley Simon resümiert einen Teil von Kellenbergers Stellungnahme wie folgt: „Da sich heute die meisten Konflikte nicht mehr zwischen Staaten, sondern innerstaatlich abspielten, und viele der Kämpfe nicht von Regierungen, sondern von Rebellengruppen ausgingen, müssten die Konventionen und Abkommen den neuen Gegebenheiten angepasst werden.“ Das ist aber leichter gesagt, als getan. Das Problem bezieht sich heutzutage aber nicht nur ausschließlich auf aufständische Gruppen, sondern auch auf sogenannte private Militärunternehmen (PMUs; „private military companies“/PMCs). Die
S. Bradley, Genfer Konventionen neuen Entwicklungen anpassen, unter: http://www.swissinfo.ch/ger/Specials/Von_Solferino_zum_Roten_Kreuz/Hintergrund/Genfer_Konventionen_neuen_Entwicklungen_anpassen.html?cid=144400. Ibid. Das bekannteste Beispiel ist bislang immer noch das sogenannte „Nisoor Square Massacre“, wo Angestellte der amerikanischen Firma Blackwater 17 irakische Bürger erschossen. Am 31. Dezember 2009 hat ein Richter des US District Court for the District of Columbia die Anklage gegen fünf Blackwater-Mitarbeiter wegen Voreingenommenheit der Anklage verworfen (siehe: USA v. Paul A. Slough et al., United States District Court for the District of Columbia, Criminal Action No.: 08-0360 (RMU), unter: https://ecf.dcd.uscourts.gov/cgi-bin/show_public_doc?2008cr0360217 (am 13. Januar 2010). In der Literatur wird häufig unterschieden zwischen PMUs und privaten Sicherheitsunternehmen (PSUs; „private security companies“/PSCs), was hier jedoch nicht gemacht wird. Man siehe zu der Problematik der PMUs/PSUs insbesondere: S. Chesterman/C. Lehnardt (Hrsg.), From Mercenaries to Market: The Rise and Regulation of Private Military ComM. Noortmann () Oxford Brookes University, Headington Campus, Gipsy Lane, Oxford OX3 0BP, UK E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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M. Noortmann
Kategorie der bewaffneten nicht-staatlichen Akteure (BNSAs) ist, ebenso wie die nicht-staatlichen Akteure (NSAs) im Allgemeinen, vielfältiger geworden und daher stellt sich die Frage der Einordnung. Das Problem der theoretischen Einordnung oder Kategorisierung der verschiedenen BNSAs ist nicht nur wesentlich für die alltägliche Klassifizierung dieser Akteure, sondern auch für die völkerrechtspolitische Feststellung der möglichen Rechte und Pflichten der BNSAs und die Debatte bezüglich der Frage, ob und gegebenenfalls inwiefern die Praktiken und Rechtsmeinungen dieser Akteure – die ja weder Vertragspartei im Sinne der Genfer Konventionen sind noch eine völlige, anerkannte Völkerrechtssubjektivität haben – das humanitäre Völkergewohnheitsrecht mitbestimmen können. Die Problematik lässt sich am besten anhand der klassischen Meinung von Sir Hersch Lauterpacht erklären: „In so far as, in consequence of the recognition of the belligerency of the insurgents by the legitimate government, the conflict has assumed an international complexion, the rules of the Geneva Convention apply in toto, if the legitimate Government is a party to them and if the recognised insurgents formally accept and apply the provisions of these Conventions. Failing this the accepted customary rules of war apply as between the parties in this as in other spheres.“ Die Debatte bezüglich der Frage, ob der juristische Status und die Rolle von nicht-staatlichen Akteuren in Gesetzgebungsprozessen einem wesentlichen Änderungsprozess unterliegt, das heißt, ob sie sich von einfachen „law-takers“ in Richtung „law-makers“ entwickeln, wird sich in steigendem Maße auch mit bewaffneten nicht-staatlichen Akteuren beschäftigen müssen. In diesem Artikel widme ich einige Überlegungen den allgemeinen Fragen der nicht-staatlichen Akteure und der Lehre der Völkerrechtssubjektivität, um anschließend näher auf die Problematik der Aufständischen und privaten Militärunternehmen einzugehen.
panies, Oxford 2007; T. Pfanner, Editorial: Private Military Companies, in: International Review of the Red Cross 88 (2006); J. Scahill, Blackwater: The Rise of the World’s Most Powerful Mercenary Army, New York 2007. Zu der allgemeinen Debatte über nicht-staatliche Akteure siehe: R. Hofmann/N. Geissler, NonState Actors as New Subjects of International Law. International Law – From the Traditional State Order Towards the Law of the Global Community, Berlin 1999; B. Arts/M. Noortmann/B. Reinalda (Hrsg.), Non-State Actors in International Relations, Aldershot 2001; A. Bianchi, Non-state Actors and International Law, Aldershot 2009. H. Lauterpacht (Hrsg.), Oppenheim’s International Law, A Treatise, Vol. II, Disputes, War and Neutrality, 7. Aufl., London/New York/Toronto 1952, S. 211 f. M. Noortmann/C. Ryngaert, Non-State Actor Dynamics in International Law: From Law-taking to Law-making?, Aldershot 2010 (i.E.); C. Chinkin, The Role of Non-governmental Organizations in Standard Setting, Monitoring and Implementation of Human Rights, in the Changing World of International Law in the Twenty-first Century, A Tribute to the Late Kenneth R. Simmonds, Den Haag 2001, S. 58.
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2 (Bewaffnete) nicht-staatliche Akteure: ein völkerrechtliches Problem? Das Problem der nicht-staatlichen Akteure stellt das noch immer auf der Souveränität der Staaten beruhende Westfälische Völkerrecht – und damit auch das humanitäre Völkerrecht – vor ein besonderes Problem: Wie kann die Faktizität der politischen Realität des 21. Jahrhunderts mit juristischen Ausgangspunkten verknüpft werden? Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat bereits 1948 festgestellt, dass „the progressive increase in the collective activities of States has already given rise to instances of action upon the international plane by certain entities which are not States.“ Allerdings hat weder die Beobachtung des Gerichtshofs noch seine (limitierte) funktionale Herangehensweise bezüglich einer internationalen rechtlichen Persönlichkeit eine paradigmatische Veränderung bewirkt. Die außergewöhnliche Meinung des Gerichtshofs in dem Reparation for Injuries-Fall hat die allgemeine Debatte über nicht-staatliche Instanzen kaum beeinflusst. Circa 60 Jahre später ist es allgemein akzeptiert, wenn nicht sogar „sexy“, dass man die Existenz und Aktivitäten einer zunehmenden Vielfalt von nicht-staatlichen Akteuren auf internationaler Ebene anerkennt und sich mit ihrer Rechtsposition und ihren Einfluss auf das Völkerrechtssystem wissenschaftlich auseinander setzt. Nicht-staatliche Organisationen, transnationale Kooperationen, bewaffnete Oppositionsgruppen, indigene Völker, politische Parteien, Terror-Organisationen, epistemische Gemeinschaften und Expertengruppen, soziale sowie religiöse und Arbeiterbewegungen und viele andere sogenannte „non-state actors“ stehen im Mittelpunkt der rechts- und politikwissenschaftlichen Diskurse. Wissenschaftler und Gesetzgeber zugleich geben bereitwillig zu, dass diese Organisationen nicht erst durch Lobbying und Networking eine Auswirkung auf internationale Entscheidungsfindungen haben, sondern bereits durch ihre einfache Teilnahme am und Beeinflussung des zwischenstaatlichen Verkehrs ihren Einfluss geltend machen. Sie sind nicht nur Informationsträger, sondern haben eigene Interessen und Normenkomplexe, die sie in bestimmten internationalen Arenen und Konflikten vertreten und oft mit Gewalt durchzusetzen versuchen.10
M. Noortmann, Globalisation, Global Governance and Non-State Actors: Researching Beyond the State, in: International Law FORUM du droit international 4 (2002), S. 5. IGH, Reparations for Injuries Suffered in the Service of the United Nations, Advisory Opinion, 11. April 1949, I.C.J. Reports 1949, unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/4/1835.pdf, S. 178. Siehe z.B. M. Noortmann, Non-State Actors in International Law, in: B. Arts/M. Noortmann/B. Reinalda (Hrsg.), Non-State Actors in International Relations, Aldershot 2001, S. 59; A. Clapham, Human Rights Obligations of Non-State Actors, Oxford 2006; R. A. Higgott/G. R. D. Underhill/A. Bieler (Hrsg.), Non-State Actors and Authority in the Global System, London/New York 2000; P. Alston (Hrsg.), Non-State Actors and Human Rights, Oxford 2005. 10 In diesem Sinne kann man sagen, dass internationale Organisationen eine besondere Art nichtstaatlicher Akteure darstellen, welche sich nicht im völkerrechtlichen Status, politischem Interesse oder der Kapazität unterscheidet, sondern in der „government dimension“ in Abgrenzung zu nichtstaatlichen („non-governmental“) Organisationen.
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In der globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts würde man es für politisch unkorrekt halten, wenn zum Beispiel Nichtregierungs-organisationen (NGOs) nicht dazu eingeladen wären, an internationalen Konferenzen teilzunehmen.11 Das Landminenverbotsabkommen spiegelt diesen Zeitgeist perfekt in den Art. 11 Abs. 4 und 12 Abs. 3 wider, welche besagen, dass „relevant non-governmental organizations may be invited to attend [Meetings of the States Parties and Review Conferences] as observers in accordance with the agreed Rules of Procedure.“12 Zugleich kommt man nicht umhin zu beobachten, dass das Landminenverbotsabkommen ein strikt staatliches Unternehmen ist. Das Abkommen reflektiert das traditionelle internationale Rechtssystem, in welchem Staaten die Eliteakteure sind. Damit werden auch die bewaffneten Oppositionsgruppen von der direkten Teilnahme an solch wichtigen Verhandlungen wie der Feststellung der konventionellen Rahmenbedingungen ausgeschlossen. Bislang können bewaffnete Oppositionsgruppen das internationale Recht nicht beeinflussen.13 Formaljuristisch gesehen sind nicht-staatliche Akteure keine Subjekte des internationalen Rechts. Durch das juristische Argument, dass nur staatliche Akteure mit internationalen rechtlichen Persönlichkeiten an einem legalen Regime teilnehmen können, wird der rechtliche Status von nicht-staatlichen Akteuren politisch relevant, da es an sich die nicht-staatlichen Akteure von einem politischen Prozess ausschließt, der „Gesetzgebung“ genannt wird. Daraufhin entsteht die Frage, ob das Interesse und der Schwerpunkt des internationalen Rechts auf den Subjekten des internationalen Rechts internationale Realitäten oder internationale Notwendigkeiten reflektieren.
2.1 Überdenken von Rechtssubjektivität im Völkerrecht Herkömmlicherweise beschäftigt sich das Recht mit Einheiten, die im Grunde als Rechtspersönlichkeiten definiert werden können. Das internationale Recht stellt da11
Die für das humanitäre Völkerrecht wichtigsten Konferenzen, bei denen nicht-staatliche Akteure eine wesentliche, wenn nicht ausschlaggebende Rolle gespielt haben, sind in erster Linie die Genfer Konventionen von 1949. Daneben kann man auch noch die Konferenz von Rom bezüglich des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) nennen oder die Involvierung von NGOs in die Initiative, den Handel von kleinen und leichten Waffen zu regulieren. 12 Convention on the Prohibition of the Use, Stockpiling, Production and Transfer of Anti-Personnel Mines and on their Destruction, unter: http://www.un.org/cyberschoolbus/banmines/resources/treaty.asp. 13 Es gibt keinen Zweifel daran, dass BNSAs ebenfalls an der allgemeinen und spezifischen Regulierung des bewaffneten Konflikts interessiert sind. Die Initiative „Geneva Call” und insbesondere die sogenannte „Deed of Commitment for Adherence to a Total Ban on Anti-Personnel Mines and for Cooperation in Mine Action“ unter: http://www.genevacall.org/resources/deed-of-commitment/f-deed-of-commitment/doc.pdf zeigt ganz klar das Interesse von bewaffneten nicht-staatlichen Akteuren, sich quasi-juristisch zu verpflichten, die völkerrechtlichen Normen einzuhalten. Nur aus einem engen positivistischen völkerrechtlichen Blickwinkel könnte man diese transnationale Erklärung als völkerrechtlich irrelevant abweisen. Damit würde man aber auch die normative und die Beteiligungskomplexität des humanitären Völkerrechts außer Acht lassen.
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bei keine Ausnahme dar.14 Das traditionelle Interesse von internationalen Rechtswissenschaftlern an Staaten und ihren internationalen Organisationen ist durch die juristische Fiktion der „ursprünglichen Völkerrechtssubjektivität“ und der davon abgeleiteten „partiellen Völkerrechtssubjektivität“ gerechtfertigt. Gelegentlich werden auch andere Einheiten in den Kreis der internationalen legalen Subjekte aufgenommen.15 In den meisten Lehrbüchern wird dann eine Vielzahl von quasi-juristischen Unterschieden zwischen „Sonderfällen“ auf der einen Seite und „anderen Rechtsstellungen“ auf der anderen Seite gemacht.16 In der Tat kann man Peter Malanzcuk nur zustimmen: „[If] one tries to define the precise extent of the legal personality which [non-state actors] have acquired, one enters a very controversial area of the law.“17 Aus akademischer und konzeptueller Sicht ist die Aufgabe, das genaue Ausmaß einer rechtlichen Persönlichkeit zu definieren, welche (nicht-staatliche) Akteure erreicht haben, durchaus berechtigt. Für kurzfristige und praktische Zielsetzungen muss diese Aufgabe jedoch in Frage gestellt werden.18 In vielen Konflikten ist der rechtliche Status der beteiligten Akteure irrelevant. Die Frage ist vielmehr, ob ein bestimmter Akteur in der Formulierung und Implementierung einer gegebenen normativen Situation eine Rolle spielen sollte oder nicht. Anderswo habe ich argumentiert, dass die positivistische und neo-positivistische Betrachtungsweise in Bezug auf Rechtspersönlichkeiten im internationalen Recht fehlgeschlagen ist in dem Versuch, den Status eines nicht-staatlichen Akteurs aufgrund abgeleiteter Rechte zu bewerten.19 Wenn überhaupt, dann ist ein BNSA ein selbstständiges Völkerrechtssubjekt. In diesem Zusammenhang führe ich zustimmend Lador-Lederer an, der behauptete, die Idee, dass sich Rechtspersönlichkeit von den ursprünglichen Völkerrechtssubjekten (das heißt Staaten) ableitet, in einem „mechanical, and, therefore, limited
14
Siehe im Allgemeinen zu der völkerrechtlichen Diskussion bezüglich der Rechtssubjektivität: J. Nijman, The Concept of International Legal Personality: An Inquiry into the History and Theory of International Law, Cambridge 2004; J. E. Hickey, The Source of International Legal Personality in the 21st Century, in: Hofstra Law & Policy Symposium 2 (1997), S. 3. 15 Zum Beispiel das IKRK, der Heilige Stuhl und der Souveräne Malteser-Ritterorden. 16 S. Hobe/O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 8. vollst. neu bearb. und erweit. Aufl., Stuttgart 2004, S. 147-170; siehe auch: I. Brownlie, Principles of Public International Law, 6. Aufl., Oxford 2003, S. 57-68. Brownlie unterscheidet zwischen „established legal persons“, „special types of personality“ und „controversial candidatures“; M. N. Shaw, International Law, 5. Aufl., Cambridge 2003; R. M. M. Wallace, International Law, 2. Aufl., London 1992, S. 75. Wallace spricht von „selected anomalies” und Shaw von „selected cases“. 17 P. Malanczuk, Akehurst’s Modern Introduction to International Law, 7. überarb. Aufl., London/New York 1997, S. 91. 18 Siehe dazu: J. Nijman, Non-state Actors and the International Rule of Law: Revisiting the ‘Realist Theory’ of International Legal Personality, in: M. Noortmann/C. Ryngaert, a.a.O. (Fn. 6); N. Gal-Or, Observations on the Desirability of an Enhanced International Legal Status of the NonState Actor, in: M. Noortmann/C. Ryngaert, a.a.O. (Fn. 6). 19 M. Noortmann, a.a.O. (Fn. 9), S. 59.
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sense“20 verstanden werden müsse. Besonders hinsichtlich bewaffneter oppositioneller Gruppen ist es schwierig, ihren rechtlichen Status in Bezug auf den Staat, welchen sie zu verändern versuchen, zu erfassen. Entsprechend der Hauptposition des Staates in der positivistischen Auffassung desgleichen leitet sich die sich im Kreis drehende Begründung hinsichtlich der Rechtspersönlichkeit ab. Fachliche, kritische und politisch orientierte Betrachtungsweisen des rechtlichen Status von nicht-staatlichen Akteuren bieten weitere Möglichkeiten, neue Akteure innerhalb eines Rechtssystems anzuerkennen. Es ist nicht nur so, dass diese Denkschulen die staatlich zentrierte Anschauung der positivistischen Auffassungen und diejenigen der Realisten ablehnen; sie bieten außerdem auch alternative Denkweisen an. So wird „Recht“ zum Beispiel in der politisch orientierten Betrachtungsweise verstanden als „a continuing process of identifying, clarifying and securing common interest in response to the changing demands and expectations of all participants (not merely nation-states).“21 Mit anderen Worten: „[T]here are no ‚subjects‘ and ‚objects‘, but only participants.“22 Aus einer politisch orientierten Perspektive sind Beteiligte nur in spezifischen „value sectors“ (Wertebereichen) relevant. Der „Basiswert“, welchen bewaffnete oppositionelle Gruppen verfolgen, ist „Macht“. Politisch orientierte Gelehrte erkennen außerdem an, dass der „status of national liberation movements aimed at establishing authority and control over particular territory (…) controversial under international law“ ist.23 Dennoch sollten wir uns nicht, wie bereits oben angedeutet, mit dem Status als solchen befassen, sondern mit der Position nicht-staatlicher Akteure in juristischen Prozessen. Diese Frage, „ob im Zeitalter der Globalisierung auch andere Akteure als Staaten und Regierungsorganisationen an der Bildung der (Staaten-)Praxis teilhaben können“, ist – wie Stephan Hobe zutreffend feststellt – bisher „wenig erforscht“.24
20
J. J. Lador-Lederer, International Non-Governmental Organizations and Economic Entities. A Study in Autonomous Organization and Ius Gentium, Leyden 1963. Sinngemäß: in einem mechanischen und deshalb begrenzten Sinn. 21 L. Chen, An Introduction to Contemporary International Law: A Policy-Oriented Perspective, New Haven 1989, S. 4. Sinngemäß: Recht wird betrachtet als ein fortlaufender Prozess der Identifizierung, Klarstellung und Sicherung allgemeiner Interessen, der eine Antwort auf die sich verändernden Ansprüche und Erwartungen aller Beteiligten darstellt (nicht lediglich Nationalstaaten). Die Betrachtungsweise der von Myers McDougall und Harold D. Lasswell errichteten New Haven School wird von einer neuen Generation politisch orientierter Völkerrechtswissenschaftler erneut diskutiert. Zu den Ideen der „New Haven School“ und der Diskussion zwischen den alten und neuen „New Havenists“ siehe: Yale Journal on International Law 32 (2007). 22 R. Higgins, Problems and Process – International Law and How We Use It, Oxford 1994, S. 50. Sinngemäß: Es gibt keine „Objekte“ und „Subjekte“, sondern nur Beteiligte. 23 L. Chen, a.a.O. (Fn. 21), An Introduction to Contemporary International Law: A PolicyOriented Perspective, New Haven 1989, S. 65. Sinngemäß: Der Status nationaler Befreiungsbewegungen, gerichtet auf die Begründung von Machtbefugnis und Kontrolle über ein bestimmtes Gebiet, ist im Völkerrecht umstritten. 24 S. Hobe/O. Kimminich, a.a.O. (Fn. 16), S. 184.
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Die Idee von Christine Chinkin, die Aktivitäten von NGOs zu berücksichtigen und als Bestandteil relevanter Praxis zu betrachten,25 gilt ebenso für andere nichtstaatliche Akteure und ist in Anbetracht des Wortlauts von Art. 38 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs weniger revolutionär, als man im ersten Moment vermuten mag. Obwohl Art. 38 lit. b) des IGH-Statuts nach wie vor in Bezug auf staatliches Handeln interpretiert wird, was das Handeln nicht-staatlicher Akteure per se ausschließt, wird der Begriff „Staat“ in dem Artikel nicht erwähnt. Der Vorschlag von Chinkin wirft aber sowohl praktische als auch konzeptionelle Fragen auf: 1. Wessen und welche Praxis und opinio iuris der nicht-staatlichen Akteure soll als Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts anerkannt werden? 2. Ist das Völkergewohnheitsrecht („opinion and practice“) (relevanter) nichtstaatlicher Akteure genauso wichtig für die Interpretation vertraglicher Bestimmungen? 3. Wie sollten nicht-staatliche Akteure in gesetzgebende Regelungssysteme einbezogen werden? Auf globaler Ebene sollte das Völkergewohnheitsrecht von relevanten internationalen Organisationen, NGOs, multinationalen Unternehmen und bewaffneten oppositionellen Gruppen bei der Festlegung der einschlägigen globalen Normen des humanitären Völkerrechts berücksichtigt werden. Es gibt keinen Grund, warum bei der Festlegung von Regeln für bewaffnete Konflikte die Praxis und juristische Meinung von Staaten als wichtiger betrachtet werden sollte als jene von bewaffneten oppositionellen Gruppen, NGOs oder internationalen Organisationen, wie die der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK), der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ oder dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Genau wie in der Staatenpraxis sollte aber eine Verbindung hergestellt werden zwischen Kontext und relevanten Akteuren.26 Auch Abkommen zwischen BNSAs und Staaten können nicht länger am Maßstab des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge (WÜV) (1969), welches das Recht der Verträge zwischen Staaten regelt, als nicht-völkerrechtlich bezeichnet werden.27 Waffenstillstands- und Friedensabkommen, welche zwischen Staaten und aufständischen Bewegungen abgeschlossen werden, sollten wie herkömmliche zwischenstaatliche Abkommen dieser Art auf der Basis des allgemeinen Völkerrechts der Verträge ausgeführt, durchgesetzt und ausgelegt werden. Es geht schließlich nicht darum, diese Verträge völkerrechtlich einzuordnen, sondern sie 25
C. Chinkin, a.a.O. (Fn. 6), S. 58. „[T]o allow the activities of NGOs themselves to be constitutive of relevant practice for determining rules of customary international law“. 26 Hinzuzufügen wäre noch die Überlegung, dass speziell in der bilateralen und lokalen Beziehung zwischen Staat und bewaffnetem nicht-staatlichen Akteur eine gewohnheitsvölkerrechtliche Beziehung entstehen könnte. Die Idee der „local customs“ wurde vom IGH im Rights of Passage Case anerkannt. IGH, Case Concerning Rights of Passage over Indian Territory (Merits), Urteil vom 12. April 1960, unter: http://www.icj-cij.org/docket/files/32/4523.pdf. 27 M. Noortmann, a.a.O. (Fn. 9), S. 59.
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zu einem wesentlichen Bestandteil der Konfliktlösung zu machen, und dazu gehört eine juristische Anerkennung. Wo ein Konflikt die Schwelle des Internationalen überschreitet und durch die Beteiligung von BNSAs zu einem transnationalen Konflikt wird, müssten die Abkommen entsprechend als Mittel der öffentlichen Ordnung ausgelegt und die Verletzungen dieser entsprechend gehandhabt werden. Eine formelle Bewertung dieser Abkommen nach der Definition des WÜV28 wäre hier fehl am Platz.
2.2 Der völkerrechtliche Status von bewaffneten Oppositionsbewegungen: eine völkerrechtspolitische Frage? Das Problem des völkerrechtlichen Status von bewaffneten Oppositionsbewegungen ist vielseitig und hat sich mit der Zunahme und Vielfalt von bewaffneten Gruppen vergrößert. So ist es einfach unmöglich, ein juristisches System zu schaffen, welches alle möglichen bewaffneten Akteure integriert. Die von Ulrich Schneckener verfasste „typology of armed non-state actors“29 veranschaulicht das Problem:
Change vs. status quo
Territorial vs. nonterritorial
Physical vs. psychological use of violence
Political vs. economic motivation
Change Status quo
Physical Physical Psychological Physical
Political Political
Status quo
Territorial Territorial Non-territorial Territorial
Status quo
Territorial
Economic
Terrorists
Change
Non-territorial
Physical Psychological Psychological
Criminals, Mafia, Gangs Mercenaries, PMCs/PSCs Marauders, „sobels“
Status quo
Non-territorial
Psychological
Economic
Indifferent
Territorial
Physical
Economic
Indifferent
Non-territorial
Psychological
Economic
Rebels, Guerrillas Militias, Paramilitaries Clan chiefs, Big men Warlords
28
Political
Political
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, UNTS Vol. 1155, S. 331, BGBl. 1985 II S. 927. 29 U. Schneckener, Fragile Statehood, Armed Non-State Actors and Security Governance, in: A. Bryden/M. Caparini (Hrsg.), Private Actors and Security Governance, Berlin 2006, S. 30.
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Die meisten Autoren erachten die eine oder andere Form der Anerkennung als grundlegend für den rechtlichen Status einer bewaffneten Oppositionsgruppe. Liesbeth Zegveld hingegen ist eine der wenigen Autoren, welche die Anerkennung als Kriterium für das Vorliegen einer Rechtspersönlichkeit ausschließt. Sie ist der Ansicht, dass die Rechtspersönlichkeit der bewaffneten Oppositionsgruppen auf objektiven Elementen wie (1) den Genfer Konventionen30 und anderen internationalen Rechtsquellen sowie (2) dem Vorliegen eines bewaffneten Konflikts basiere.31 Nijman möchte eine „realistischere“ Art der Feststellung der Rechtspersönlichkeit hervorheben und die sozio-politische und ökonomische „Kapazität“ als grundlegende Indizien einbeziehen.32 Die Fälle der PLO und des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) könnten als Beispiele dienen, um zu zeigen, dass die Vielfalt von politischen und normativen Betrachtungsweisen das internationale Ansehen dieser zwei Organisationen bestimmt hat. In Bezug auf die Gründe für die Anerkennung wurde geschlossen, dass unter den anerkennenden Staaten kein einheitliches und klares „Policy“-Modell erkennbar ist.33 In der Praxis gründet die Anerkennung von bewaffneten Oppositionsgruppen nicht auf einem einzelnen Set von subjektiven oder objektiven Kriterien. Vielmehr spielt eine kombinierte Berücksichtigung von Effektivität, taktischer und politischer Zweckmäßigkeit sowie Pragmatismus und normativer Rechtfertigung eine entscheidende Rolle. Des Weiteren mag Anerkennung in vielen Fällen nicht in einem einzelnen Statement oder Dokument zu finden sein, sondern muss auf Grundlage einer Vielzahl von Fakten und Situationen beurteilt werden. Die Bestimmung von Anerkennung wird zusätzlich erschwert durch die Anwendung des dualen Konzepts von De-facto und De-jure-Anerkennung sowie durch die widersprüchlichen Meinungen, ob Anerkennung eine konstitutive Funktion hat oder nur von deklaratorischer Relevanz ist.34 Hinsichtlich der Staatlichkeit wird Anerkennung nicht länger als ein konstitutives Element an sich betrachtet. In rechtlichen Begrifflichkeiten gilt „Anerkennung“ lediglich als Anerkennung der Existenz der Dreifaltigkeit von Staatlichkeit: Territorium, Bevölkerung und Kontrolle. In politischen Begrifflichkeiten scheinen Staaten andere Kriterien erfüllen zu müssen, um anerkannt, das heißt innerhalb eines Kreises von etablierten Staaten 30
Genfer Abkommen I vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der bewaffneten Kräfte im Felde, BGBl. 1954 II S. 781, 783; Genfer Abkommen II vom 12. August 1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der bewaffneten Kräfte zur See, BGBl. 1954 II S. 781, 813; Genfer Abkommen III vom 12. August 1949 über die Behandlung der Kriegsgefangenen, BGBl. 1954 II S. 781, 838; Genfer Abkommen IV vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten, BGBl. 1954 II S. 781. 31 L. Zegveld, The Accountability of Armed Opposition Groups in International Law, Cambridge 2002. 32 Ibid. 33 F. L. M. van de Craen, „Palestine Liberation Movement“, in: Encyclopedia of Public International Law, 1990. 34 Zu der allgemeinen Diskussion bezüglich der Anerkennung siehe: C. Warbrick, States and Recognition in International Law, in: M. D. Evans (Hrsg.), International Law, 2. Aufl., Oxford 2006, S. 217-274; R. Mushkat, One Country, Two International Legal Personalities, Hong Kong 1997.
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akzeptiert zu werden. Überlegungen zur Repräsentation und zur demokratischen „Governance“ spielen innerhalb der gegenwärtigen Fragen zur Anerkennung eine Rolle. Was sind dann die Bedingungen für die Anerkennung von bewaffneten Oppositionsgruppen? Viele Autoren unterscheiden deutlich zwischen nationalen Befreiungsbewegungen („National Liberation Movements“), die mit anti-kolonialistischen bewaffneten Kämpfen verbunden sind, und post-kolonialen Rebellenbewegungen, die in (inter)nationale bewaffnete Kämpfe aufgrund einer Reihe von politischen, religiösen und ethnischen Gründen eingebettet sind. In den 1960er Jahren und zu Beginn der 1970er Jahre erhielt eine beachtliche Anzahl an nationalen Befreiungsbewegungen (z. B. die PLO, die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF), die Mosambikische Befreiungsfront (FRELIMO), die Volksbewegung zur Befreiung Angolas (MPLA), die Afrikanische Unabhängigkeitspartei von Guinea und Kap Verde (PAIGC), der ANC und Polisario in der Westsahara) internationale Anerkennung durch zwischen staatliche Organisationen wie die Organisation of African Union (OAU) und die Vereinten Nationen (UN). Diese nationalen Befreiungsbewegungen erreichten inter national rechtliches Ansehen durch die internationale Anerkennung ihrer politischen Ziele der Befreiung von der Kolonialherrschaft.35 Eine Anerkennung der gegenwärtigen Rebellenbewegungen ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Der Kolonialstaat wurde aus seinen eigenen Reihen kritisiert. Dem Post-Kolonialstaat ergeht es nicht so. Der bewaffnete Kampf von gegenwärtigen, bewaffneten Oppositionsgruppen erhält rechtliche und politische Signifikanz durch die effektive Kontrolle des Territoriums und der Bevölkerung, das heißt, durch die Anerkennung einer „PseudoStaatlichkeit“. Die Anerkennung einer PLO-ähnlichen Organisation im Jahre 2010 ist sehr zweifelhaft. Post-kolonialen und besonders Post-Kalten-Kriegs-Theorien fällt es zunehmend schwer, bewaffnete Kämpfe innerhalb eines Staates mit normativen Begriffen zu rechtfertigen. Die Basis für die Anerkennung von bewaffneten Oppositionsgruppen muss eher in politischen und pragmatischen als in normativen Überlegungen gesucht werden.
3 Private Militärunternehmen: Der bewaffnete Konflikt als Markt? „From Mercenaries to Market“: Der Haupttitel des von Simon Chesterman und Chia Lehnardt herausgegebenen Bandes über „the rise and regulation of military companies“ bringt ein altes Thema zurück in die laufenden Debatten der Politik der Kriegsführung und des humanitären Völkerrechts.36 Söldner, Fremdenlegionen und Mietarmeen sind, historisch-politisch betrachtet, kein unbekanntes Phänomen.37 35
P. Malanczuk, a.a.O. (Fn. 17), S. 104. S. Chesterman/C. Lehnardt, a.a.O. (Fn. 3). 37 Man denke z.B. an die famose Schweizergarde, die immer noch existiert als persönliche Leibwache des Papstes, die französische Fremdenlegion oder die berühmten italienischen „Condottie36
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Die heutige Privatisierung der staatlichen Militärfunktion lässt sich aber nicht ausschließlich erklären aus der Politik der Staaten, die auf Basis internationaler oder nationaler Überlegungen immer öfter zum wirtschaftlichen Instrument des „outsourcing“ greifen, sondern auch aus dem Bedarf der multinationalen Kooperationen und NGOs, sich schützen zu wollen gegen Angriffe von bewaffneten Aufständischen und von „Warlords“ geleiteten Banden.38 Die zukünftige Entwicklung und Zunahme dieser privaten Militärunternehmen lässt sich bis jetzt aber kaum einschätzen. Viele PMUs haben in den letzten Jahren ihre Namen und Standorte geändert. Eine der größeren, bekannteren und in vielen Augen berüchtigte Firma, Blackwater, führt ihre Geschäfte jetzt weiter unter dem Namen „Xe Services LLC“.39 Sandline International hat 2004 die Schließung des Unternehmens angekündigt mit folgender Erklärung: „The general lack of governmental support for Private Military Companies willing to help end armed conflicts re”, die schon zu Lebzeiten von Niccolo Machiavelli ihre Dienste den verschiedenen kriegsführenden italienischen Städten anboten. Obwohl es einen klaren konzeptuellen Unterschied zwischen diesen verschiedenen Kampfgruppen gibt, werden in der Praxis die Begriffe uneinheitlich verwendet. Der Unterschied zwischen Söldnern und PMUs/PSUs liegt hauptsächlich in der wachsenden Anerkennung, dass der Einsatz von Söldnern völkerrechtswidrig ist. Man siehe hierzu z.B.: UNGeneralversammlung, Resolution 63/164, UN Doc. A/RES/63/164 vom 13. Februar 2009, Der Einsatz von Söldnern als Mittel zur Verletzung der Menschenrechte und zur Behinderung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, unter: http://www.un.org/Depts/german/gv-63/ band1/ar63164.pdf; Genfer Konventionen, 1. Zusatzprotokoll v. 8. Juni 1977, UNTS Vol. 1125, S. 3, BGBl. 1990 II S. 1551, Art. 47 „Mercenaries“, wo der Begriff „Mercenary“ (Söldner) definiert wird: „Art 47. Mercenaries: 1. A mercenary shall not have the right to be a combatant or a prisoner of war. 2. A mercenary is any person who: (a) is especially recruited locally or abroad in order to fight in an armed conflict; (b) does, in fact, take a direct part in the hostilities; (c) is motivated to take part in the hostilities essentially by the desire for private gain and, in fact, is promised, by or on behalf of a Party to the conflict, material compensation substantially in excess of that promised or paid to combatants of similar ranks and functions in the armed forces of that Party; (d) is neither a national of a Party to the conflict nor a resident of territory controlled by a Party to the conflict; (e) is not a member of the armed forces of a Party to the conflict; and (f) has not been sent by a State which is not a Party to the conflict on official duty as a member of its armed forces.”; und UN-Generalversammlung, Resolution 44/34, UN Doc. A/RES/44/34 vom 4. Dezember 1989, Internationale Konvention gegen die Anwerbung, den Einsatz, die Finanzierung und die Ausbildung von Söldnern, unter: http://www.un.org/Depts/german/gv-early/ar44034soeldner.pdf. Siehe dazu auch: UN Doc. A/50/390 vom 29. August 1995, „Report on the Question of the Use of Mercenaries as a Means of Violating Human Rights and Impeding the Exercise of the Right of Peoples to Selfdetermination, Submitted by the Special Rapporteur of the Commission on Human Rights“ (Mr. Enrique Bernales Ballesteros), unter: http://daccess-ods.un.org/TMP/3108904.html (am 13. Januar 2010); C. Schaller, Private Sicherheits- und Militärfirmen in bewaffneten Konflikten: Völkerrechtliche Einsatzbedingungen und Kontrollmöglichkeiten, Berlin 2005. 38 C. Schaller, a.a.O. (Fn. 37), S. 1. Um diese Trends verstehen, geschweige erklären zu können, ist es erforderlich, insbesondere die allgemeine Privatisierungswelle, die in den 1980er Jahren in den USA gestartet wurde, zu berücksichtigen. Diese Privatisierung auf nationaler Ebene hat sich auch auf globaler Ebene durchgesetzt. In diesem Sinne kann man die privaten Militärunternehmen als einen Auswuchs der weitergehenden Privatisierung der Sicherheit auf nationaler Ebene betrachten. 39 Für eine sehr ausführliche biografische Beschreibung dieser Firma siehe: J. Scahill, a.a.O. (Fn. 3).
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in places like Africa, in the absence of effective international intervention, is the reason for this decision. Without such support the ability of Sandline to make a positive difference in countries where there is widespread brutality and genocidal behaviour is materially diminished.“40 Zuvor hatte Sandline International schon das südafrikanische Executive Outcomes übernommen, nachdem die südafrikanische Regierung Südafrikanern verboten hatte, in den Dienst dieser Organisation zu treten. Die 1987 gegründete amerikanische Professional Resources Incorporated (MPRI)41 und die British Aegis Defence Services LTD42 sind bedeutend stabiler. Der Jahresumsatz dieser PMUs wurde 2006 auf 20–100 Mrd. US-Dollar mit einem wachsenden Umsatz von bis zu 210 Mrd. US-Dollar im Jahre 2010 geschätzt.43 Das Problem sind aber nicht die steigenden Wachstumsraten dieser Unternehmen, sondern die juristische Bewertung ihrer transnationalen Aktivitäten. Eine solche Bewertung kann auf Basis verschiedener Rechtsgrundlagen vorgenommen werden; das heißt auf Basis der Frage, welches Recht zur Feststellung der Rechte und Pflichten der PMUs anwendbar ist. Im Allgemeinen gibt es drei verschiedene Möglichkeiten: (1) das Recht des Territorialstaats, (2) das Recht des Nationalstaats oder (3) das Völkerrecht. Im letzteren Fall könnte sowohl das stärker zivilrechtlich angehauchte Regime der Staatenverantwortlichkeit angewendet werden als auch das mehr strafrechtlich bestimmte Völkerstrafrecht und das humanitäre Völkerrecht.44 Mit der Anerkennung der Anwendungsnotwendigkeit des humanitären Völkerrechts in einem bewaffneten Konflikt sind die Probleme aber noch nicht beseitigt. Im Rahmen des humanitären Völkerrechts müssen zuerst zwei wichtige Statusfragen beantwortet werden: (1) Sind Arbeitnehmer der im Konfliktgebiet operierenden privaten Sicherheitsunternehmen Kombattanten oder Zivilpersonen im Sinne des IV. Genfer Abkommens, des gemeinsamen Art. 3 und der Zusatzprotokolle I und II der Genfer Konventionen? (2) Inwiefern kann die Teilnahme an den Streitigkeiten als „direkt“ im Sinne von Art. 43 Abs. 2 des I. ZP angesehen werden? Zu diesen beiden Fragen haben sich verschiedene Meinungen gebildet, die, soweit sie eine neue Kategorie der „quasi Kombattanten“ im humanitären Völkerrecht introduzieren, nach Meinung von Cowling den Effekt hätten „of totally undermining the existing structure of IHL [International Humanitarian Law].“45 Ob und wie man diese privaten Militärunternehmen regulieren muss, national oder international, nach dem humanitären Völkerrecht oder dem allgemeinen Völkerrecht, wird eine Frage sein,
40
http://www.sandline.com/. http://www.mpri.com/esite/. 42 http://www.aegisworld.com/. 43 T. Pfanner, a.a.O. (Fn. 3), S. 445; M. Cowling, Outsourcing and the Military: Implications for International Humanitarian Law, in: South African Yearbook of International Law 32 (2007), S. 312-316. 44 Für spezielle Überlegungen zur Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts siehe: M. Cowling, a.a.O. (Fn. 43), S. 319-344. 45 Id., S. 340. 41
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mit der wir uns in den kommenden Jahren beschäftigen müssen, denn private Militärunternehmen werden auch weiterhin eine Rolle spielen.
4 Fazit Die Anerkennung eines rechtlichen Status von nicht-staatlichen Akteuren auf der internationalen Agenda wird sehr stark von den Bedürfnissen des Systems bestimmt. Staaten scheinen nicht-staatliche Akteure zu akzeptieren, wenn (und zu dem Ausmaß, in dem) sie zur Effektivität politischer und rechtlicher Beziehungen, zum Funktionieren eines bestimmten Regimes oder zur Entwicklung eines globalen Systems als Ganzes beitragen. Selbstverständlich werden spezifische politische Überlegungen nicht-staatliche Akteure wahrscheinlich davor bewahren, eine Ausweitung ihres rechtlichen Status in Situationen anzustreben, in denen dies aus einer normativen Sichtweise erstrebenswert erscheint. Im Hinblick auf die Anerkennung von bewaffneten Oppositionsgruppen müssen Staaten die Folgen des Ausschlusses relevanter nicht-staatlicher Akteure für die Effektivität des humanitären Rechts in Betracht ziehen. Formale rechtliche Überlegungen sollten bewaffnete Oppositionsbewegungen nicht von der Beteiligung in solchen Bereichen abhalten, die relevant für die Entwicklung von rechtlichen Regeln und Institutionen sind. Staaten und bewaffnete nicht-staatliche Akteure werden durch das Völkerrecht nicht davon abgehalten, eine (völker)rechtliche Beziehung zu schaffen. Im Gegenteil, die Praxis zeigt, dass Staaten und BNSAs sich immer mehr juristisch annähern und eine völkerrechtlich ähnliche rechtliche Beziehung anknüpfen; entweder weil die Konfliktparteien dies vor Ort als vorteilhaft betrachten oder weil es darüber hinaus transnationale, normative und politische Motive gibt, um in einem spezifischen juristischen System eingegliedert zu sein, wie zum Beispiel dem humanitären Völkerrecht. Ob das letztere System diese Motive auch in allen Fällen respektieren muss, ist zweifelhaft. Abschließend möchte ich dazu zustimmend Mike Cowling zitieren: „[I]t is important that the proliferation of PMCs and their utilisation in armed conflicts must not be accommodated by the unrealistic extension of the existing rules of IHL. Instead, it is necessary to reinforce the basic principle that sovereign independent states enjoy a monopoly in respect of the use of military force during an armed conflict. This does not exclude certain non-state actors such as rebel movements and insurrectional groups (provided they comply with certain requirements). However, these requirements ensure that such non-state actors approximate states as parties to the conflict. But this is not the case with regard to PMCs. At no stage do they possess the characteristics that can qualify them as parties to the conflict.“46
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Id., S. 341 f.
Absolute Immunität der Vereinten Nationen? – Der Völkermord von Srebrenica als Lackmustest Axel Hagedorn
1 Vorgeschichte Im Juli 1995 wurden in der „Safe Area“ Srebrenica zwischen 8.000 und 10.000 Muslime, überwiegend Männer und männliche Jugendliche, durch bosnische Serben unter Leitung von General Mladic ermordet. Dies geschah, obwohl die Vereinten Nationen (UN) dort mit Blauhelmen vertreten waren, die die Zivilbevölkerung schützen sollten. Im Sommer 2004 traten die bosnischen Anwälte der „Mütter von Srebrenica“ an uns heran, ob wir eine Sammelklage gegen den niederländischen Staat wegen vorwerfbaren Fehlverhaltens der niederländischen Blauhelme (auch „Dutchbat“ genannt) vertreten wollten. Wir haben uns zunächst zu zweit beinahe zwei Jahre in das Thema eingearbeitet und erst 2006 das Mandat auch offiziell angenommen. Nach 15 Monaten Arbeit mit 15 Rechtsanwälten der Kanzlei in den Niederlanden haben wir im Juni 2007 Klage eingereicht. Entgegen dem ursprünglichen Wunsch waren wir schnell zu der Überzeugung gelangt, dass eine Klage sowohl gegen den niederländischen Staat als auch die Vereinten Nationen eingereicht werden musste, da sich aus den verschiedenen Quellen deutlich ablesen ließ, dass aus unserer Sicht beide eigene Haftungstatbestände erfüllt haben. Ich will heute nicht ausführlich die Problematik der doppelten Zurechenbarkeit diskutieren. Darum nur kurz einige Bemerkungen dazu. Grundsätzlich fallen die Blauhelme unter die UN-Befehlsgewalt; die Entsendestaaten sind nicht Aus Gründen der Authentizität entspricht der Beitrag weitgehend dem Vortrag von Axel Hagedorn vom 17. September 2009 bei der wissenschaftlichen Tagung „60 Jahre Genfer Abkommen – eine Rechtsordnung vor neuen Herausforderungen, 20 Jahre IFHV – Forschungen auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts“ im Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht in Bochum.
A. Hagedorn () Van Diepen Van der Kroef Advocaten, Dijsselhofplantsoen 14-18, 1077 BL Amsterdam, Niederlande E-Mail:
[email protected] H.-J. Heintze, K. Ipsen (Hrsg.), Heutige bewaffnete Konflikte als Herausforderungen an das humanitäre Völkerrecht, DOI 10.1007/978-3-642-14676-3_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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verantwortlich für das Handeln ihrer zur Verfügung gestellten Truppen, wenn die Blauhelme Fehler begehen. Anders ist dies, wenn die Vereinten Nationen nicht ausschließlich „command and control“ haben, sondern der Entsendestaat selbst „effective control“ ausübt. Diesen Fakt haben wir in unserer Klage ausführlich begründet, da der niederländische Staat vielfach die Kommandostruktur der Vereinten Nationen durchbrochen hat. Daraus ergibt sich, dass der niederländische Staat neben den Vereinten Nationen haftbar gemacht werden muss. Hierbei spielt auch eine wichtige Rolle, dass im Vorfeld der niederländische Staat und die Vereinten Nationen sich gegenseitig die Schuld für das Versagen in die Schuhe geschoben haben. Es wäre also unverantwortlich gewesen, eine Klage nur gegen den niederländischen Staat oder nur gegen die Vereinten Nationen einzureichen, um dann möglicherweise nach vielen Verfahrensjahren den Vorwurf zu erhalten, dass man die Vereinten Nationen hätte verklagen müssen beziehungsweise den niederländischen Staat. Schon jetzt möchte ich darauf hinweisen, dass Sie den gesamten Prozessgang auf unserer Webseite http://www.vandiepen.com abrufen können. Wir haben uns frühzeitig entschlossen, unsere Klage in drei Sprachen ins Netz zu stellen, weil wir feststellen mussten, dass die Fakten weltweit, aber auch insbesondere in den Niederlanden, durch die Presse unzureichend und sogar häufig fehlerhaft dargestellt worden waren. Auf einiges komme ich später noch zurück. Die Klage von ca. 200 Seiten steht in Deutsch und auch in Englisch auf unserer Webseite zur Verfügung. Wissenswert ist auch, dass wir eine Sammelklage namens der niederländischen Stiftung „Mothers of Srebrenica“ eingereicht haben, die 6.000 Familienangehörige von Opfern des Völkermords vertritt. Mit der Klage soll die Feststellung erreicht werden, dass die Vereinten Nationen und der niederländische Staat zivilrechtlich mitverantwortlich sind für den Völkermord von Srebrenica. Wichtig ist aber auch, dass unsere Klage fast ausschließlich auf öffentlich zugänglichen Dokumenten beruht, also dem berühmten „NIOD“-Bericht 2002 (des niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation), dem niederländischen parlamentarischen Untersuchungsbericht 2002/2003, dem französischen parlamentarischen Untersuchungsbericht vom 22. November 2001, dem UN-Bericht vom 15. November 1999 und verschiedenen Urteilen nationaler und internationaler Gerichte. Die in die Klage aufgenommenen Zeugenaussagen, die schriftlich eingereicht
P. Bootsma, Srebrenica, een ‘veilig’ gebied (Srebrenica, ein ‘sicheres’ Gebiet), April 2002. Parlementaire Enquête Srebrenica 2002/2003, http://www.parlement.com/9291000/d/tk28506_3.pdf. Commission de la Défense Nationale et des Forces Armées, Compte Rendu N° 18, 22. November 2001, abrufbar unter: http://www.assemblee-nationale.fr/11/cr-cdef/01-02/c0102018.asp. UN-Bericht A/54/549 vom 15. November 1999, abrufbar unter: http://www.un.org/peace/srebrenica.pdf. Diesem UN-Bericht wird vom Internationalen Gerichtshof (IGH) in seinem Urteil vom 26. Februar 2007 in Sachen Bosnien-Herzegowina gegen Serbien-Montenegro großes Gewicht beigemessen, IGH, Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. Pressebericht abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/presscom/index.php?pr=1897& pt=1&p1=6&p2=1. Zum Beispiel das Verfahren gegen General Krstic vor dem Internationalen Strafgerichtshof in erster und zweiter Instanz und das Verfahren beim IGH in der Rechtssache Bosnien-Herzegowina gegen Serbien-Montenegro.
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worden sind, unterstützen nur die in den Berichten und Urteilen festgestellten Tatsachen. Obwohl wir die Klage im Juni 2007 veröffentlicht haben und die Klage inzwischen in den verschiedenen Sprachen mehr als 15.000 Mal heruntergeladen worden ist, haben wir noch von keiner Seite gehört, dass die von uns beschriebenen Fakten nicht stimmen – von niemandem, weder der Presse noch beteiligten niederländischen Blauhelmen.
2 Verfahrensstand Eine inhaltliche Auseinandersetzung hat vor Gericht noch gar nicht stattgefunden, weil sich schon gleich am Anfang das juristische Tauziehen auf die Frage der Immunität der Vereinten Nationen zugespitzt hat. Der niederländische Staat hat seine Verteidigungsbereitschaft angezeigt, die Vereinten Nationen nicht. Dies hat dazu geführt, dass wir ein Versäumnisurteil beantragt haben und zunächst durch das Gericht festgestellt worden ist, dass die Vereinten Nationen tatsächlich säumig sind. Der niederländische Staat hat sich daraufhin in eine doppelte Rolle begeben. Er tritt seitdem im eigenen Interesse auf und will gleichzeitig selbst aufgrund vermeintlicher internationaler Verpflichtungen eine absolute Immunität der Vereinten Nationen verteidigen, obwohl die Vereinten Nationen entschieden haben, dieses Recht vor Gericht nicht selbst einzufordern. Die doppelte Rolle des niederländischen Staates ist schon deshalb zumindest politisch und gesellschaftlich, aber auch juristisch pikant, wenn man weiß, dass der niederländische Staat immer alle Verantwortung auf die Vereinten Nationen geschoben hat. Der niederländische Staat hat daran ein starkes Interesse, weil bei einer ausschließlichen Zurechnung an die Vereinten Nationen die eigene Haftung entfallen kann. Wenn also die Vereinten Nationen Immunität genießen, dann schlägt der niederländische Staat gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Das Verfahren wird enorm verzögert und der Weg wird frei, um alle Schuld weiter auf die unantastbaren Vereinten Nationen abzuschieben.
3 Vorwürfe Was sind nun eigentlich die Vorwürfe, die in der Klage gegen die Vereinten Nationen und den niederländischen Staat erhoben werden? • Der niederländische Staat entsandte ein Bataillon Soldaten in die „Safe Area“ Srebrenica, das nicht ausgerüstet, nicht ausgebildet und nicht geistig darauf vorbereitet war, die ihm aufgetragenen militärischen Aufgaben zu erfüllen.
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• Die versprochene humanitäre Hilfe in der „Safe Area“ Srebrenica erreichte die Bevölkerung nicht oder kaum. • Obwohl bekannt war, dass die bosnischen Serben die „Safe Area“ Srebrenica im Juli 1995 angreifen wollten, wurden diesbezüglich weder vom niederländischen Staat noch von den Vereinten Nationen Maßnahmen getroffen. • Während des Angriffs auf die „Safe Area“ Srebrenica, der sechs Tage dauerte, bestand keine ernsthafte Bereitschaft, den bosnisch-serbischen Angriff aufzuhalten. Dabei wurden militärische Stellungen von den UN-Truppen (niederländischen Blauhelmen) ohne jeglichen Widerstand aufgegeben. Wie sich später herausgestellt hat, beschlossen die bosnischen Serben erst dann, die ganze Enklave einzunehmen, nachdem sie bei ihrem Angriff auf keinen militärischen Widerstand gestoßen waren. • Jede Aufforderung der Einwohner der „Safe Area“, die vorher eingenommenen Waffen zur eigenen Verteidigung zurückzugeben, wurde von den UN-Truppen resolut abgewiesen. Die Abweisung wurde jedes Mal mit der Zusage verbunden, dass die UN-Truppen für die Verteidigung der „Safe Area“ verantwortlich seien, und dass die UN-Truppen die Verteidigung übernehmen würden. • Die Luftwaffe wurde konsequent entweder gar nicht eingesetzt oder ihr Einsatz wurde verzögert. Kurz vor dem Fall der „Safe Area“ hat der niederländische Staat alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die bereits genehmigte Luftunterstützung abgebrochen wurde. Später sollten die Vereinten Nationen über das Ausbleiben der Luftunterstützung urteilen, dass selbst bei einer äußerst zurückhaltenden Auslegung des Mandats alle Bedingungen für den Einsatz der Luftunterstützung erfüllt waren. • Nachdem die „Safe Area“ am 11. Juli 1995 gefallen war, wurde unterlassen, die wehrlose Zivilbevölkerung gegen die serbischen Truppen zu schützen, trotz der Tatsache, dass bis zuletzt Zusicherungen gemacht wurden, diese zu schützen. So wurde nicht verhindert, dass Hunderte von Frauen vergewaltigt und ermordet wurden, und dass Tausende von Männern und Jungen systematisch abgeführt, gefoltert und hingerichtet wurden. Schließlich sollten zwischen 8.000 und 10.000 Flüchtlinge den Tod finden. • Trotz der Tatsache, dass die niederländischen Truppen Zeugen von Kriegsverbrechen waren, erfolgte keine Meldung. Auch die Beobachtungen von Kriegsverbrechen von den in der „Safe Area“ anwesenden militärischen Beobachtern der Vereinten Nationen führten nicht dazu, dass Maßnahmen getroffen wurden. Da die meisten Hinrichtungen in den Tagen nach dem Fall der „Safe Area“ stattfanden und danach noch wochenlang andauerten, hätten mit ziemlicher Sicherheit zahlreiche Flüchtlinge gerettet werden können, wenn die Luftunterstützung und sonstige Maßnahmen ergriffen worden wären. Zusammenfassung Die Vereinten Nationen sollten die Bevölkerung gerade vor einem Massaker schützen, das dann doch stattgefunden hat, wobei die UN auch noch bei der Vorbereitung geholfen haben, wohl wissend, mit welchen Konse quenzen die Männer bei der Deportation rechnen mussten. Das Krstic-Urteil des Jugoslawien-Tribunals lässt da keinen Zweifel zu: „[A]t the stage when Bosnian
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Muslim men were divested of their identification en masse, it must have been apparent to any observer that the men were not screened for war crimes. In the absence of personal documentation, these men could no longer be accurately identified for any purpose. Rather, the removal of their identification could only be an ominous signal of atrocities to come.“ Und nun komme ich zum eigentlichen Thema. Das Landgericht Den Haag ist in erster Instanz dem niederländischen Staat voll und ganz gefolgt und zu der Ansicht gekommen, dass die Vereinten Nationen absolute Immunität genießen. Die Vorgeschichte ist jedoch von erheblicher Bedeutung, damit die katastrophalen Auswirkungen der behaupteten absoluten Immunität der UN deutlich werden.
4 Immunität Wir hatten vier Hauptargumentationsschienen erarbeitet, warum wir der Auffassung sind, dass die Immunität der Vereinten Nationen nicht unbeschränkt sein kann: 1. Die sogenannte funktionelle Immunität der UN ist festgelegt in Art. 105 Abs. 1 der UN-Charta. Art. 105 Abs. 1 lautet: „Die Organisation genießt im Hoheitsgebiet jedes Mitglieds die Vorrechte und Immunitäten, die zur Verwirklichung ihrer Ziele erforderlich sind.“ Wir sind der Überzeugung, dass die Beteiligung an einem Völkermord nie unter die funktionelle Immunität der Vereinten Nationen fallen kann. Hierbei ist nicht entscheidend, ob die UN selbst den Völkermord begangen hat, sondern die Umstände des Einzelfalls entscheiden. Wir haben auch ganz deutlich gemacht, dass wir grundsätzlich die Immunität der Vereinten Nationen begrüßen und unterstützen, aber nicht grenzenlos und nicht um jeden Preis. Eine grenzenlose Immunität der UN birgt auch immer das Risiko des Missbrauches der UN durch nationale Staaten. Dann kann man wahrscheinlich auch mehr Verständnis für unsere Argumentation aufbringen. Die Vereinten Nationen sind ein Gebilde, das von nationalen Truppenkontingenten lebt. Auch dies sind nur Menschen. Die Truppen entsendenden Staaten sind keinesfalls immer Demokratien, sondern häufig Diktaturen. Die Vereinten Nationen haben ein hehres Ziel, aber ob das durch die Menschen so auch angestrebt wird, bleibt immer ein praktisches Problem. Wenn man den UN eine absolute Immunität aufgrund Art. 105 der UN-Charta zubilligt, dann können theoretisch die Vereinten Nationen sogar selbst den Auftrag zu einem Völkermord geben, zumindest aber können UN-Kräfte selbst Völkermord begehen, ohne dass dies den Vereinten Nationen als Institution anzulasten wäre. Wie lässt sich das mit der Vorfechterrolle der UN für Menschenrechte vereinbaren? Und das ist genau unsere Frage. Wir sind der Meinung, es muss Grenzen in der Immunität geben, da dieses gerade
Prosecutor v. R. Krstic, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY), 2. August 2001, abrufbar unter: http://www.unhcr.org/refworld/docid/414810d94.html, Rechtserwägung Nr. 160.
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skizzierte Ergebnis sicherlich von niemandem gewollt ist. Und wir sind der Meinung, dass die Immunität immer eine Grenze finden muss, wenn eine konkrete Beteiligung an einem Völkermord wie in unserem Fall vorliegt. Ich höre die Einwendungen: Dies blockiert die UN. Lassen Sie uns ehrlich sein, die Polizei in allen Ländern kann ihre Aufgaben wahrnehmen, obwohl es immer wieder Verfahren gegen die Polizei gibt. Natürlich kann es zunächst vielleicht schwieriger sein, Truppenkontingente zu erhalten, wenn die Haftung nicht mehr ausgeschlossen ist. Aber kann das bestimmend sein? Wenn wir die Völkermordkonvention ernst nehmen, dann muss der Schutz gegen Völkermord allumfassend sein und darf keine Institution, wie groß und mächtig auch immer, ausgenommen werden. Absolute Immunität der Vereinten Nationen bedeutet, dass die UN die einzige Institution in der Welt ist, die unkontrollierbar ist und über dem Gesetz steht. Unkontrollierte Macht – so hat die Geschichte gezeigt – führt immer zu Machtmissbrauch. Angesichts 60 Jahre Genfer Abkommen scheint mir dieser Aspekt besonders wichtig, wenn die Völkermordkonvention nicht zu einer leeren Hülle verkommen soll. Allein strafrechtliche Verantwortlichkeit reicht da bei weitem nicht aus und ist ein schlechtes Signal der UN für alle Opfer von Völkermord. Absolute Immunität untergräbt die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen aufs Äußerste. Die Vereinten Nationen haben in den letzten 60 Jahren eine enorme Wandlung mitgemacht, aber ihre eigene Struktur darauf nicht aufgebaut. Es wird höchste Zeit, dies nachzuholen und eine Strukturreform der UN durchzuführen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung des IGH vom 26. Februar 2007 in der Sache Bosnien-Herzegowina gegen Serbien-Montenegro. Der IGH hat darin festgestellt, dass in Srebrenica ein Völkermord stattgefunden hat. Aber noch viel entscheidender hat der IGH festgelegt, welche Verpflichtungen auf Staaten ruhen, um Völkermord zu vermeiden. Staaten müssen danach alles tun, was in ihrer Macht steht. Da es aber nicht um den Erfolg, das heißt Verhinderung des Völkermords geht, sondern um den getätigten Einsatz zur Verhinderung, kann sich – so der IGH – kein Staat darauf berufen, dass der Völkermord auch bei Einsatz aller Mittel nicht verhindert worden wäre. Der IGH will gerade vermeiden, dass sich Staaten darauf berufen, sie hätten doch keine Chance gehabt, den Völkermord zu verhindern. Das ist aber die Argumentation des niederländischen Staates seit 1995. Man hätte nichts tun können und – so füge ich hinzu – hat deshalb eben gar nichts getan. Nach der IGH-Rechtsprechung hätten die niederländischen Blauhelme trotzdem tätig werden müssen und vor allem hätten sie niemals an einer Deportation mitarbeiten dürfen. Übrigens haben die Vereinten Nationen selbst erklärt, dass sie auch an die Völkermord-Konvention gebunden sind, obwohl sie dieser nicht beitreten konnten. 2. Unsere zweite Argumentation stützt sich auf die Notwendigkeit einer Interessenabwägung. Im Srebrenica-Fall gibt es zwei wichtige völkerrechtliche Güter. Auf der einen Seite die Immunität internationaler Organisationen, also der UN, auf der anderen Seite die zahlreich verletzten Menschenrechte durch Plünderungen, Folter, Vergewaltigung bis hin zum Völkermord. Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Advisory Opinion des IGH vom 29. April 1999, bei der es um den Sonderberichterstatter der UN-Kommission für Menschenrechte ging,
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der über die Unabhängigkeit von Richtern und Anwälten in Malaysia berichten sollte. Nachdem dieser sich in der Presse negativ geäußert hatte, wurde er mit Klagen überhäuft. Es ging um die Frage, ob dieser UN-Berichterstatter Immunität genießen sollte, weil auch der UN-Generalsekretär die Immunität bestätigt hatte. In dieser Advisory Opinion des IGH wurde ausdrücklich festgestellt, dass, wenn nationale Gerichte mit der Immunität eines UN-Vertreters konfrontiert werden, der UN-Generalsekretär benachrichtigt werden muss. Und dann kommt der entscheidende Satz aus dieser Entscheidung, der lautet: „That finding [die Meinung des Generalsekretärs, eig. Anm.], and its documentary expression, creates a presumption which can only be set aside for the most compelling reasons and is thus to be given the greatest rate by national courts.“ Aus dieser Formulierung wird überaus deutlich, dass die Immunität von UNMitarbeitern nicht absolut sein soll, sondern dass der IGH sehr wohl davon ausgeht, dass es „most compelling reasons“ geben kann, die Immunität nicht zu gewähren. Dies bedeutet aus unserer Sicht, dass immer eine Interessenabwägung erfolgen muss zwischen der Frage, ob den Vereinten Nationen Immunität zukommt oder andere dermaßen wichtige Rechtsgüter betroffen sind, sodass die Immunität weichen muss. Das Verbot von Völkermord ist ein ius cogens, also zwingendes Völkerrecht. Die Immunität der internationalen Organisationen ist dies nicht. Es liegt also sehr wohl auf der Hand, dass bei Beteiligung an Völkermord, den man gerade verhindern soll, die Interessenabwägung zu dem von uns angestrebten Ergebnis kommen muss: Selbst wenn man von der funktionellen Immunität ausgeht, muss in diesem Fall die Immunität der Vereinten Nationen zurückstehen. Wenn diese vom IGH beschriebene Interessenabwägung schon bei UN-Mitarbeitern erfolgen muss, obwohl der UN-Generalsekretär sich auf Immunität beruft, dann muss dies erst recht gelten, wenn es um die Immunität der gesamten Vereinten Nationen geht. Und nun noch einmal zum guten Verständnis: Dies bedeutet ja nicht, dass die Vereinten Nationen deshalb haftbar sind; es bedeutet zunächst nur, das fundamentale Recht von Bürgern zu gewährleisten, dass das Handeln der Vereinten Nationen überhaupt überprüft werden kann und die UN sich vor einem Gericht verantworten müssen. Ich möchte auch noch kurz auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 21. November 2001 in der Sache Al-Adsani gegen das Vereinigte Königreich eingehen. Dort ging es um Staatenimmunität. Die Frage war, ob ein kuwaitischer Bürger wegen Folterungen in Kuwait den kuwaitischen Staat in Großbritannien vor Gericht bringen kann. Letztendlich wurde dies durch den EGMR mit der denkbar knappsten Entscheidung von 9:8 Stimmen abgewiesen. Daraus kann man ableiten, dass auch die Staatenimmunität heute keineswegs mehr automatisch als absolut angesehen wird. Hier empfehle ich jedem einmal, die verschiedenen „dissenting opinions“ zu lesen, mit denen das Spannungsfeld von effektivem Menschenrechtsschutz und absoluter
Al-Adsani v. United Kingdom, App. No. 35763/97, Eur.Ct.H.R., Urteil vom 21. November 2001, abrufbar unter: http://www.unhcr.org/refworld/country,,ECHR,,KWT,4562d8cf2,3fe6c7b5 4,0.html.
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Immunität in klaren Worten aufgearbeitet wird und das Pendel hin zu einem effektiven Menschenrechtsschutz ausschlägt. Dabei bleibt anzumerken, dass es in der Al-Adsani-Entscheidung – anders als beim Völkermord von Srebrenica – „nur“ um Folterung eines Menschen ging. 3. Und damit komme ich nun zu der dritten entscheidenden Argumentation, dem fundamentalen Menschenrecht aus Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention beziehungsweise Art. 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Recht auf ein faires Verfahren. Selbst wenn die anderen Argumentationsstränge reißen, dann bleibt die Frage, wieso es in unserem demokratischen Europa möglich ist, dass sich eine Organisation wie die Vereinten Nationen – Vorfechterin für Menschenrechte – als einzige Organisation der Welt niemals und vor niemandem für ihre Handlungen vor Gericht rechtfertigen müssen. Ich will dies näher ausführen. Die Vereinten Nationen kennen keine Gewaltenteilung. Die Vereinten Nationen wurden ins Leben gerufen, weil man unter anderem nicht noch einmal ein NaziDeutschland erleben wollte. Heute ist es so, dass die Vereinten Nationen mit den Resolutionen Gesetze machen. Danach schicken sie ihre eigenen UN-Truppen in die entsprechenden Gebiete, um die Durchsetzung der eigenen Gesetze zu gewährleisten. Eine richterliche Kontrolle darf bei einer absoluten Immunität der UN nicht stattfinden. Alle Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative sind in einer Organisation konzentriert. Dies ist aus meiner Sicht politisch und gesellschaftlich unverantwortlich, aber auch juristisch unhaltbar. Artikel 6 der Europäischen Menschrechtskonvention gewährt jedem europäischen Bürger das Recht auf Zugang zu Gericht. Den Müttern von Srebrenica soll dieses verwehrt bleiben, weil die Vereinten Nationen absolute Immunität genießen sollen. Viele von Ihnen kennen die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Sachen Waite & Kennedy und Beer & Regan über die Arbeitnehmer der European Space Agency (ESA). In diesen Entscheidungen wurde festgestellt, dass die Immunität der Europäischen Luftfahrtbehörde nur deshalb standhält, weil es innerhalb dieser europäischen Luftraumbehörde ein funktionierendes Rechtssystem gibt, an das sich die Arbeitnehmer hätten wenden können. Deshalb war der Gang zu den deutschen Gerichten ausgeschlossen. Im Umkehrschluss muss man aus dieser Entscheidung ablesen, dass eine internationale Organisation, die keinen alternativen Rechtsschutz gewährleistet, keine Immunität genießt. Es ist unbestritten, dass die Vereinten Nationen kein funktionierendes Rechtssystem besitzen. In unserem Verfahren wurden die Mütter von Srebrenica vor Klage
Absolute Immunität eines Staates bedeutet zwar, dass eine Verfolgung in einem anderen Staat nicht erfolgen darf, aber es bleibt immer der Rechtsweg in dem Ursprungsstaat erhalten. Die Diskussion geht in dem Fall Al-Adsani also um die Frage, ob man effektiven Rechtschutz außerhalb des Ursprungsstaates gewähren will. Waite & Kennedy v. Germany, App. No. 26083/94, Beer & Regan v. Germany, App. No. 28934/95, Eur.Ct.H.R., Urteil vom 18. Februar 1999, deutsche Zusammenfassung und Urteil abrufbar unter: http://www.menschenrechte.ac.at/docs/99_1/99_1_07 und http://www.menschenrechte.ac.at/orig/99_1/Waite_Kennedy.pdf.
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einreichung auch niemals darauf hingewiesen, dass sie ja sich an diese oder jene Instanz hätten wenden können, zum Beispiel an sogenannte „standing claims commissions“. Diese waren sowieso in der Praxis nicht vorhanden, werden aber in der Regel auch sofort nach der Mission wieder aufgehoben. Diese Institutionen sind auch nicht unabhängig und auf derartig gravierende und umfangreiche Ansprüche gar nicht eingerichtet. Die Mütter von Srebrenica wussten aber auch erst Jahre später, nachdem die ganzen erwähnten Berichte erschienen sind, welche Verfehlungen begangen wurden. Hier spielt auch die Convention on the Privileges and Immunities of the United Nations10 eine wichtige Rolle. Section 29 dieser Convention lautet: „The United Nations shall make provisions for appropriate modes of settlement of: (a) disputes arising out of contract or other disputes of a private law character to which United Nations is a party; (b) disputes involving any official of the United Nations who by reason of his official position enjoys immunity, if immunity has not been waved by the secretary general.“ Die Immunität der Vereinten Nationen ist in der gerichtlichen Praxis Neuland. Allerdings gab es ein Verfahren in Belgien in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts, die Sache Mandelier11. Es ging damals um Plünderungen, also Eigentumsverletzungen durch UN-Truppen im ehemaligen Belgisch-Kongo. In dem Verfahren hatte das Gericht schließlich die Immunität der Vereinten Nationen akzeptiert, weil das Gericht der Meinung war, die UN seien noch sehr jung und es seien der Europäischen Menschenrechtskonvention noch nicht so viele Länder beigetreten. Gleichzeitig wurde aber auch ausdrücklich betont, dass die UN es unterlassen habe, bis dato eine alternative Gerichtsbarkeit zu schaffen. Jetzt sind weitere 40 Jahre vergangen und die Vereinten Nationen haben es noch immer nicht bewältigt. Genau diese Verpflichtung aus Sect. 29 war das Pendant zu einer absoluten Immunität, wobei man auch damals davon ausging, dass es keine unbeschränkte Macht geben darf. Die Vereinten Nationen haben bei einer unbeschränkten Immunität eine derartige Machtfülle, dass aus meiner Sicht ein demokratischer Aufschrei erfolgen müsste und alle demokratischen Länder, die in den Vereinten Nationen vereinigt sind, schon längst ihre Kräfte hätten bündeln müssen, um endlich die UN zu einem würdigen Verfechter von Menschenrechten zu machen. Es kann doch nicht sein, dass die Vereinten Nationen allen anderen Ländern und Institutionen sagen, wie sie sich im Hinblick auf Menschenrechte verhalten sollen, aber an der eigenen Haustür das Gedankengut in den Papiervernichter werfen. Da die Vereinten Nationen kein Rechtsschutzsystem aufgebaut haben, müssen sie sich damit abfinden, dass Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention Vorrang hat. Die Berufung auf Immunität muss der UN deshalb versagt werden. 10
Convention on the Privileges and Immunities of the United Nations vom 13. Februar 1946, abrufbar unter: http://www.onug.ch/80256EDD006B8954/(httpAssets)/C8297DB1DE8566F2C12 56F2600348A73 /$file/Convention%20P%20&%20I%20(1946)%20-%20E.pdf. 11 Tribunal Brüssel, Mandelier/VN, 11. Mai 1966, in: International Law Reports 45 (1972), S. 446.
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4. Schließlich gibt es einen weiteren völkerrechtlichen Aspekt. Wir sind der Überzeugung, dass die UN selbst auf die Immunität hätte verzichten müssen, wenn sie ihre eigene Aufgabe ernst nimmt. Die Vereinten Nationen haben sich völkerrechtlich ja gerade den Menschenrechtsschutz auf die Fahnen geschrieben. Wie kann sie sich dann in einem Fall, in dem sie selbst gravierende Fehler einräumen und die ihrem Schutz anvertraute Zivilbevölkerung einem Völkermord zum Opfer fällt, auf Immunität berufen? Jedenfalls in Fällen, in denen die Mission abgeschlossen ist und Staaten, die die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben haben, beteiligt sind, muss der Verzicht auf die Immunität völkerrechtlich die Norm sein. Diese Auffassung wird zum Beispiel von Prof. Frowein in einem Artikel vertreten, der auf Srebrenica und unser Verfahren Bezug nimmt.12
5 Ausblick Zum Schluss möchte ich noch die Entscheidung des EGMR vom 2. Mai 2007 in Sachen Behrami/Saramati ansprechen, die der niederländische Staat gebraucht hat, um die absolute Immunität der Vereinten Nationen zu begründen. In dem Verfahren ging es um französische KFOR-Truppen, die im ehemaligen Jugoslawien Munitionsräumaufgaben nicht erledigt hatten, wodurch Kinder verletzt wurden beziehungsweise zu Tode kamen. Die Familien verklagten daraufhin Frankreich, aber nicht die UN. In dieser Entscheidung des EGMR wird häufig ein Ansatz dafür gesehen, dass die Vereinten Nationen nicht unter die Europäische Menschenrechtskonvention fallen, da der EGMR die Ansprüche gegen KFOR aus der Europäischen Menschenrechtskonvention abgelehnt hat. Aus unserer Sicht bleibt fraglich, ob der EGMR tatsächlich so weitreichende Folgen grundsätzlich judizieren wollte. Der Völkermord von Srebrenica ist insoweit überhaupt nicht zu vergleichen mit den bisher vom EGMR entschiedenen Fällen. Problematisch ist die Entscheidung nicht nur aus grundsätzlichen Erwägungen einer richterlich unkontrollierbaren UN, sondern auch, weil die Vereinten Nationen ja selbst immer erklärt haben, an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden zu sein. Trotz dieser Selbstbindung kommt der EGMR zu einem anderen Ergebnis. Darüber hinaus hat die Entscheidung des EGMR schwere Kritik erfahren, die ich hier aus Zeitgründen nicht näher kommentieren möchte.13 Es bleibt deshalb sehr wohl abzuwarten, ob der EGMR auch im Fall von Srebrenica die Wirkung der EMRK für die UN ausschließen wird. Wir dürfen auch die Rechtsentwicklung durch die neuere Berufungsentscheidung des EuGH vom 3. September 2008 in Sachen Al-Barakaat gegen den EU-Rat und 12
J. Frowein, UN-Verwaltung gegenüber dem Individuum – legibus absolutus?, in: H. H. Trute/T. Groß/H. C. Röhl et al., Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, Tübingen 2008, S. 346. 13 Zum Beispiel J. Frowein, in: ders./W. Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., Kehl 2009, Art. 1, Rn. 7.
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die EU-Kommission über die schwarzen Listen14 nicht außer Acht lassen. AlBarakaat war auf diese Liste Terrorismus unterstützender Organisationen gekommen, und die EU-Kommission hatte ohne eigene Prüfung unter Berufung auf die Vereinten Nationen Vermögenswerte von Al-Barakaat blockiert. Rechtliches Gehör wurde nicht gewährt. Der EuGH ist der sehr lesenswerten Stellungnahme des Generalanwalts Poiares Maduro vom 23. Januar 2008 gefolgt und hat inhaltlich vollumfänglich bestätigt, dass rechtsstaatliche Grundsätze der Europäischen Gemeinschaft nicht durch die UN ausgehebelt werden können. Der EuGH bekräftigt in dem Urteil, dass die Europäische Gemeinschaft einen autonomen Grundrechtsschutz kennt, in dem effektiver Rechtschutz und das Recht auf ein faires Verfahren, unabhängig von Art. 6 EMRK, ebenfalls verankert sind. Ich bin der Meinung, dass eine Vorlagefrage zum EuGH in unserem Verfahren möglich ist, damit der EuGH klärt, ob absolute Immunität mit den eigenständigen Grundrechten der EU vereinbar ist. Eine interessante juristische Herausforderung, die ich an dieser Stelle nicht weiter vertiefen möchte. Meine Hoffnung ist dann auch, dass in der völkerrechtlichen Diskussion mehr Stimmen laut werden, die diese absolute Immunität in Frage stellen. Absolute Immunität bedeutet ein diktatorisches System und wird, davon bin ich fest überzeugt, zu immer mehr Menschenrechtsverstößen führen, weil die handelnden Personen sich unter dem Schutz der UN sehr sicher fühlen. Das Strafrecht trifft dann vielleicht einzelne Personen, aber nur wenn die Verantwortlichkeit der gesamten Organisation besteht, kann man Exzesse wirkungsvoll und strukturell eindämmen. 60 Jahre Genfer Abkommen verdienen unser aller Andacht, Menschenrechte nicht auszuhöhlen, sondern zu stärken!
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EuGH, Urteil vom 3. September 2008 in den verbundenen Rechtssachen C-402/05 P und C415/05 P.