1.
Arme und Beine des Mannes waren an vier in den Boden gerammte Pflöcke gefesselt, seine von der Sonneneinwirkung ze...
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1.
Arme und Beine des Mannes waren an vier in den Boden gerammte Pflöcke gefesselt, seine von der Sonneneinwirkung zerstörte Haut war mit Sand verkrustet. Doch der Mann lebte noch. Gaunth sprang vom Pferd, zog eines seiner Messer aus den Kreuzgurten und trennte blitzschnell die Stricke durch. Der Körper des Gefolterten wurde schlaff. »Auf diese Weise töten die Söhne des Fuchses ihre Feinde«, sagte Dragon, der seine kleine Gruppe anhalten ließ, um den Platz in der Wüste zu untersuchen. »Sie nennen diese Folter den Sonnentod.« Ringsum im Sand lagen noch etwa fünfzig Tote. Dragon nahm an, daß es sich um einen Zug von Bewaffneten aus Alesch gehandelt hatte, die von den Wüstensöhnen überfallen und niedergemacht worden waren. Dragon löste seinen Lederbeutel vom Gürtel und ließ Wasser in das Gesicht des Sterbenden tropfen. »Wir können ihm nicht mehr helfen«, stellte er dabei fest. Nabib sagte zögernd: »Vielleicht haben die Toten
etwas Wertvolles bei sich!« »Sei still!« befahl Dragon. Er beugte sich zu dem Mann hinab. Vorsichtig löste er Sandklumpen von den Lippen des Gepeinigten. Einer inneren Eingebung folgend, sagte Dragon: »Ich bin für den Gott mit den tausend Namen unterwegs.« Die Anspielung auf Cnossos hatte unerwarteten Erfolg, denn der Mann versuchte den Kopf zu heben. »Du möchtest etwas sagen!« Dragon träufelte dem Gefolterten Wasser auf die Lippen. »Ich bin As Sallad«, sagte der Mann mit rauher, kaum hörbarer Stimme. »Ich war Seneschall der Kyrace und sollte fünfhundert Diener für meine Herrin in Alesch abholen.« Dragon hatte schon Gerüchte über Kyrace, die den Beinamen »die Wunderbare« trug, gehört. Sie lebte angeblich in einem auf einem Felseiland gelegenen Palast in der Flachen See. In vielen Geschichten wurden Kyrace große magische Kräfte zugeschrieben. Die Auskunft des Seneschalls (dieser Titel war mit dem eines Haus- und Hofmeisters vergleichbar) besaß für Dragon jedoch doppelte Bedeutung. Zwischen Kyrace und Cnossos mußte es eine Verbindung geben. »Auch du kennst den Gott der tausend Namen«, sagte Dragon. Er zog die Schriftrolle aus seinem Gürtel,
die jene Cnossos-Botschaft enthielt, die er am Berg des Windes erhalten hatte. »Hier ist der Beweis, daß ich ebenfalls für ihn unterwegs bin. Verrate mir den Weg zum Palast deiner Herrin, damit ich ihr und ihrem Verbündeten vom Scheitern deiner Mission berichten kann.« As Sallads zitternde Hände glitten über das Pergament. »Ich werde sagen, was ich weiß!« Er fuhr mit schwacher Stimme fort zu sprechen und beschrieb den Weg, den Dragons Gruppe nehmen mußte, um den Feenpalast Kyraces zu erreichen. Dragon hörte aufmerksam zu. As Sallad wollte nach Dragons Hand greifen, doch er war zu schwach. »Sage Kyrace«, sagte er mit erlöschender Stimme, »daß ihre Vereinigung mit dem Gott der tausend Namen Unglück bringen kann. Sie muß ... muß ... vorsichtig ...« Dragon stand auf und schloß seinen Wasserbeutel. Hegon war von seinem Pferd gesprungen und kam langsam heran. »Was machen wir mit ihm?« »Nichts«, erwiderte Dragon ruhig. »Er ist tot.« Die anderen umringten den Toten. »Ich bin sicher, daß Cnossos früher oder später im Palast der Kyrace eintreffen wird«, überlegte Dragon
laut. »Wir müssen ihm zuvorkommen und ihm einen tödlichen Empfang bereiten. Dieses Ungeheuer muß endlich von dieser Welt verschwinden, die es bisher ungestraft verwüsten konnte.« Hegon sah sich um. Sein nach militärischen Maßstäben arbeitender Verstand wurde durch Dragons Plan herausgefordert. »Wir sind nur wenige«, sagte er. »Wir müssen Verstärkung heranholen, bevor wir uns auf unser neues Ziel zubewegen.« Dragon konnte den urgoritischen Krieger verstehen, aber er war nicht gewillt, auf Hegons Wünsche Rücksicht zu nehmen. »Wir haben wenig Zeit«, argumentierte er. »Wir werden den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite haben – das wird die Entscheidung bringen.« Hegon verzog unwillig das Gesicht, aber er akzeptierte Dragon als Anführer und erhob keine Einwände mehr. »Sollen wir die Toten begraben?« fragte Ubali. Dragon schüttelte den Kopf. »Auch dazu haben wir keine Zeit. Sand und Wind werden uns die Arbeit abnehmen.« Er ging zu seinem Pferd. »Wir brechen sofort auf.« Iwa und Ubali tauschten einen Blick. Sie spürten den verzehrenden Haß, der in ihrem Anführer loderte. Dragon würde sie unermüdlich antreiben, bis sie ihr
Ziel erreicht hatten. Dragon schwang sich auf sein Pferd. Sie befanden sich jetzt in einem hügeligen Wüstengebiet östlich des Stillen Sees. Nach den Auskünften As Sallads mußten sie zunächst einmal zurück zur Totenküste. Es war noch früh am Morgen. Bis zum Abend hoffte Dragon das Südende des Stillen Sees erreichen zu können. Dort würden sie nach Einbruch der Dunkelheit eine geeignete Stelle suchen und rasten. Dragon hob einen Arm. »Aufsitzen! Wir reiten weiter!« Er lenkte sein Pferd in Richtung des Stillen Sees, denn am Ufer war das Land flacher, so daß sie schneller vorankommen würden. Nabib trieb sein Pferd neben das Reittier des Atlanters. »An den Lagerfeuern meines Volkes werden viele Geschichten von Kyrace erzählt«, sagte er. »Vor allem soll sie in ihrem Feenpalast ungeheure Reichtümer gehortet haben.« »Was willst du – den Palast plündern?« erkundigte sich Dragon amüsiert. Nabib tätschelte den Hals seines Pferdes. »Eines Tages werde ich unermeßliche Schätze finden«, sagte er träumerisch. »Schon möglich«, meinte Dragon
gedankenabwesend. »Ich bin dazu bestimmt, reich und wohlhabend zu leben«, fuhr Nabib mit Überzeugung fort. »Eine innere Stimme sagt mir das immer wieder.« Dragon sah ihn mitleidig an und sagte spöttisch: »So, wie du jetzt aussiehst, ist von deiner Bestimmung nicht viel zu merken.« »Ich sehe abgerissen aus, das stimmt«, gab Nabib zu. »Aber darauf kommt es nicht an. Ich habe ein Gespür für versunkene Schätze.« Er machte eine weit ausholende Bewegung. »Ich kann förmlich riechen, was überall in den Ländern, die wir besuchen werden, verborgen ist. Ganze Karawanen werden eines Tages unterwegs sein, um den Schatz Nabibs in einen Palast zu bringen.« Sie ritten über einen Hügel und sahen den Stillen See unter sich liegen. »Salziges Wasser!« sagte Nabib mit allen Anzeichen des Ekels. »Ich kann es riechen.« »Deine Nase ist sehr vielseitig«, bemerkte Hegon, der das Gespräch mitgehört hatte. Dragons Blicke schweiften über den Stillen See. Trotz des Windes, der von den fernen Bergen kam, kräuselte sich die Wasseroberfläche kaum. Dieser riesige See war Mittelpunkt vieler Legenden und Mythen. Dragon wunderte sich nicht darüber. Auch ihn
beschlich ein merkwürdiges Unbehagen, als er jetzt am Ufer entlang ritt. Eine unbeschreibliche Drohung hing über diesem Land. In der Ferne schienen sich über dem Wasser unsichtbare Gefahren zusammenzuballen. Sogar die Tiere spürten diese Aura des Unheimlichen, denn ihre Gangart wurde unruhig, und sie schnaubten erregt. Der Sand, durch den sie ritten, reagierte wie zäher Schleim, das Hufgetrappel war kaum noch zu hören. »Ich glaube, Cnossos hat irgendwann einmal in diesen See gespuckt und ihn verhext«, sagte Ubali. Unwillkürlich dämpfte er seine Stimme. »Das sind die Wasser des Bösen.« Dragon schüttelte den Kopf. Seit er seine Erinnerung fast völlig zurückgewonnen hatte, wußte er, daß er für viele Dinge, die ihm bisher geheimnisvoll erschienen waren, vernünftige Erklärungen gab. »Es ist ein ganz normaler See«, sagte er. Aber da war der Atem des Wassers in seinem Gesicht, jener Geruch nach Salz und Fäulnis. Wenn er mit der Zungenspitze über die Lippen glitt konnte er den See sogar schmecken. Dragon schaute zurück. Die fünf Krieger Parthos ritten dicht nebeneinander, als wollten sie sich auf diese Weise vor kommendem Unheil schützen. Den Abschluß der Gruppe bildeten die beiden
Gaukler Gaunth und Mainala. Die Trommeltänzerin saß aufrecht im Sattel, ihr rotes Haar flog ungebändigt im Wind. Dragon dachte an Amee, und heißes Verlangen nach einer Frau stieg in ihm hoch. Aber Mainala gehörte zu Gaunth. Nabib hatte die Blicke des Atlanters bemerkt und richtig gedeutet. »Sie ist schön!« »Ja«, sagte Dragon knapp. Nabib schnalzte mit der Zunge. »Wenn ich erst einmal reich bin, werde ich Dutzende solcher Mädchen haben. Vorerst jedoch muß ich mich damit begnügen, auf Gaunth neidisch zu sein.« Am Ufer vor ihnen tauchte ein dunkler Gegenstand auf. Dragon ritt darauf zu. Es war ein Tierkadaver, der schon längere Zeit in Verwesung übergegangen war. Insekten und Maden krochen über den Leichnam. Der Gestank war unerträglich. »Es muß ein sehr großes Tier gewesen sein«, sagte Ubali. »Ein Tier, wie wir es bisher noch nicht gesehen haben.« Iwa deutete auf den See hinaus. »Es kam aus dem Wasser!« »Das glaube ich auch«, stimmte Dragon zu. »Laßt uns weiterreiten.«
Nach einer kurzen Strecke wandte er sich im Sattel um und blickte zurück. Die Hitze ließ die Luft über dem Ufer flimmern, so daß man nicht genau erkennen konnte, was in der Ferne vorging. Trotzdem hatte Dragon den Eindruck, als würde sich der halbverweste Kadaver auf plumpen Beinen ins Wasser zurückwälzen. Dragon kniff angestrengt die Augen zusammen; was er sah, mußte eine Halluzination sein, eine Luftspiegelung, wie sie in diesen Gebieten öfter vorkam. Trotzdem krampfte sich alles in ihm zusammen. Das Gefühl einer nahen Gefahr wurde immer stärker. Der Wind wurde stärker. Auf dem See entstanden Wellen. Dragon sah ungläubig, daß das Wasser in verschiedenen Richtungen bewegt wurde, als wären außer dem Wind noch unterseeische Mächte am Werk. »Ein gespenstisches Land«, bemerkte Hegon. »Hier sollte man sich nur aufhalten, wenn man keine andere Wahl hat.« Nabib seufzte. »Ich sehne mich nach meiner Heimat«, gestand er. Sie ritten weiter, eine kleine Gruppe in einem von Zauber und Drohungen schwangeren Land, wo sie allein der Wille und der Mut ihres Anführers zusammenhielt und vorantrieb.
Dunkle Wolkenstriche, die wie die Zungen eines hinter dem Horizont lauernden mehrköpfigen Ungeheuers am Himmel erschienen, kündigten die Nacht an. Dragon zügelte sein Pferd. Sie befanden sich jetzt am Südende des Stillen Sees. Die Sonne würde in wenigen Augenblicken untergehen. »Von nun an«, sagte der Atlanter zu seinen Begleitern, »sehen wir uns nach einem geeigneten Rastplatz um.« »Ist es nicht gleichgültig, wo wir rasten?« fragte Gaunth. »Einen völlig sicheren Platz gibt es hier sowieso nicht.« Der Gaukler hatte nicht unrecht, aber Dragon wollte trotz aller Eile keine unnötigen Risiken eingehen. Das Land am Stillen See wirkte menschenleer, trotzdem mußte Dragon mit den umherziehenden Stämmen der Wüstensöhne rechnen. Die Söhne des Fuchses waren wilde, unberechenbare Krieger, die Fremden gegenüber meist feindlich gesinnt waren, wie er zu seinem Leidwesen bereits erfahren hatte. Sie ritten weiter. Nach Sonnenuntergang befanden sie sich noch immer in den Sätteln. Draußen auf dem See lagerten sich dunkle Nebelbänke ab. Kleine, daumendicke Fische sprangen aus dem Wasser in den Ufersand und zappelten dort, bis sie erstickt waren. Die Tiere verließen zu Tausenden
ihren natürlichen Lebensraum, ohne daß erkennbar wurde, was sie zu diesem Verhalten antrieb. Fast hätte man annehmen können, sie ergriffen vor einer Gefahr im Wasser die Flucht. Der Tod am Ufer schien ihnen leichter zu ertragen sein, als die Dinge, die sich unter der rötlichen Wasseroberfläche abspielten. Weder Dragon noch einer seiner Freunde hatten ein solches Phänomen schon einmal erlebt, und sie fanden auch keine Erklärung dafür. Aber der Freitod so vieler Fische paßte zu diesem Land und zu diesem See. Der Wind ließ nach. Die Stille ringsum wurde zur Belastung. Bei zunehmender Dunkelheit entdeckte der an der Spitze reitende Dragon plötzlich einen schmalen Pfad, der am Ufer begann und ins offene Land hinausführte. Einige Hügel versperrten den Blick auf den weiteren Verlauf des Weges. Dragon ließ seine Gruppe anhalten. Er sah, daß der Pfad zu beiden Seiten mit kleinen leuchtenden Kristallen markiert war. »Ich frage mich, ob dieser Weg vom See weg in ihn hineinführt«, sagte Hegon. »Ich glaube nicht, daß er irgend etwas mit dem See zu tun hat«, erwiderte Dragon. »Dann könnte er ebensogut im Nichts beginnen«, meinte Gaunth. Seine Hände tasteten unwillkürlich
über den Kreuzgurt, wo seine verschiedenartigen Messer staken. »Ein Weg, der im Nichts beginnt, endet auch im Nichts«, sagte Ubali philosophisch. »Diese leuchtenden Steine scheinen sehr wertvoll zu sein«, sagte Nabib. Er öffnete seine Satteltasche und brachte einen leeren Sack zum Vorschein. »Was hast du vor?« wollte Dragon wissen. »Das siehst du doch!« Nabib ließ sich vom Pferd gleiten und faltete den Sack auseinander. »Ich werde die Kristalle, die da so offen herumliegen, einsammeln und irgendwo in einer großen Stadt verkaufen oder umtauschen.« »Halt!« befahl Dragon. »Vorläufig unternimmt niemand etwas. Der Weg, den wir vor uns sehen, ist kein gewöhnlicher Weg, aber er wurde von intelligenten Wesen erbaut. Offenbar wird diese Einrichtung noch immer benutzt, sonst wären die Kristalle längst vom Sand zugeweht.« »Richtig!« stimmte Hegon zu. Er zog sein Schwert. »Es ist möglich, daß die Erbauer des Weges in der Nähe sind.« »Sie werden in keinem Fall damit einverstanden sein, daß wir ihre Markierungssteine stehlen«, ergänzte Gaunth. Alle sahen Dragon an. Sie warteten auf eine Entscheidung ihres Anführers. Dragon fühlte sich
jedoch unentschlossen. Sein Instinkt riet ihm, diesen Weg mit den merkwürdigen Kristallen zu ignorieren und weiterzureiten, obwohl es jetzt fast völlig dunkel war. Er spürte jedoch, daß seine Neugier stärker war als alle Bedenken. Die Entscheidung wurde Dragon von Nabib abgenommen, der sich angesichts der kostbar aussehenden Steine nicht mehr beherrschen konnte und mit dem leeren Jutesack in den Händen auf den Pfad zuging, um den unbewacht herumliegenden Schatz einzusammeln. Dragon erhob keine Einwände, sondern sah gespannt zu, was nun geschehen würde. Nabib erreichte den Weg. Er bückte sich nach den ersten Kristallen, richtete sich aber fast im selben Moment wieder bolzengerade auf. »Ich werde verrückt!« schrie er zu der Gruppe hinüber. »Ich werde verrückt!« »Irgend etwas scheint nicht zu stimmen«, bemerkte Hegon beunruhigt. Er sah seine vier Krieger an. »Macht euch bereit.« Das Klirren der Schwerter klang durch die abendliche Stille. Es schien ein Signal zu sein. »Was ist los?« rief Dragon Nabib zu. »Warum sammelst du das Zeug nicht ein?« Der Händler weinte fast. »Es geht nicht!« jammerte er. »Ich kann sie nicht
anrühren. Irgend etwas hält mich davon ab.« »Nabib von Thinayda!« rief Dragon. »Du bist tatsächlich verrückt.« Er nickte seinen Begleitern zu. »Kommt, laßt uns nachsehen, was dort drüben nicht in Ordnung ist.« Sie waren von den Pferden abgestiegen und zogen sie hinter sich her. Wenig später erreichten sie den Beginn des Pfades unmittelbar am Ufer. Nabib hüpfte wie ein Veitstänzer von Kristall zu Kristall und versuchte immer wieder, einen davon zu ergreifen. Doch seine Hände schienen jedesmal gegen unsichtbare Barrieren zu stoßen. Nabib war völlig außer sich. Da lag der lang ersehnte Schatz zu seinen Füßen – und er war unfähig, auch nur einen geringen Teil davon in seinen Jutesack zu stecken. »Ich werde es versuchen«, sagte Iwa entschlossen. Die zierliche Frau gesellte sich zu Nabib, aber es stellte sich schnell heraus, daß sie ähnliche Schwierigkeiten hatte wie der Händler. »Es macht mir Angst«, gestand sie bebend. »Dragon, komm zu mir, du mußt das selbst erleben.« Alle elf Mitglieder der Gruppe befanden sich wenige Augenblicke später zu beiden Seiten des Pfades und griffen nach den Kristallen, ohne daß einer von ihnen Erfolg dabei hatte.
Dragon registrierte verwundert, daß sie sich bei dieser Aktion langsam aber sicher vom Ufer des Stillen Sees entfernten und dem Weg landeinwärts folgten. Die Pferde hatten sie zurückgelassen. Wir handeln wie Schlafwandler! durchzuckte es Dragons Gedanken. Er wurde sich dieser gefährlichen Tatsache zwar bewußt, aber er konnte dem Zwang, der von ihm Besitz ergriffen hatte, nicht widerstehen. Entsetzen stieg in ihm auf. Niemand redete jetzt noch. Auch das Interesse an den Kristallen war mit einem Schlag erloschen. Niemand bemühte sich noch darum, einen der Steine in seinen Besitz zu bringen. Dragon spürte, wie sein eigener Wille von einer unheimlichen Macht unterdrückt wurde. Er spürte instinktiv, daß diese Wirkung von den Kristallen ausging. Sie waren für den tranceähnlichen Zustand der Gruppe verantwortlich. Hegon und seine vier Krieger warfen ihre Waffen weg. Auch Dragon und die anderen entwaffneten sich. Gaunths Kreuzgurte mit den Messern darin fielen zu Boden. Dann stolperte die Gruppe weiter über den Pfad einen Hügel hinauf. In der jetzt fast vollständigen Dunkelheit erschienen die Kristalle wie glotzende Augen.
Dragons Gedanken verwirrten sich.
Irgend etwas hatte sie erbarmungslos in der Gewalt.
So stolperten sie den merkwürdigen Weg hinauf,
ohne ihr Ziel zu kennen.
2.
Ein Flirren war in der Luft, als würden riesige Schmetterlinge mit schnellen Flügelschlägen durch die Dunkelheit huschen. Die Nacht verdichtete sich zu einer endlosen schwarzen Fläche, aus der das Licht der Kristalle wie mit Lanzenspitzen hervorstach und die Augen der Frauen und Männer auf dem Pfad blendete. Dragon stolperte über einen am Boden liegenden Stein und verlor das Gleichgewicht. Dabei löste sich der Umhang, den er vom Namenlosen erhalten hatte, aus der Spange im Nacken und fiel ihm über den Kopf und über das Gesicht. Das Material war so durchsichtig, daß Dragon die Kristalle noch immer sehen konnte, aber sie verloren ihre hypnosuggestive Wirkung. Dragon fühlte den eigenen Willen in sein Bewußtsein zurückströmen. Er
wußte wieder, wer er war und was er tat. Die anderen bewegten sich vor ihm, noch immer in Trance. Im Ungewissen Licht sah Dragon etwa fünfzig Schritte vor sich einen Felsen aufragen. An der Felsenwand klebte ein fensterloses Häuschen, dessen Räumlichkeiten sich wahrscheinlich noch tief ins Felseninnere fortsetzten. Am Fuß des seltsamen Gebäudes befand sich eine Art Portal, über dem ein kopfgroßer Kristall hing, der wie eine Miniatursonne strahlte und durch sein Licht überhaupt erst ermöglichte, daß Dragon alles sehen konnte. Innerhalb weniger Augenblicke war Dragon wieder völlig Herr über seine Sinne. Er rannte den anderen nach, um sie einzuholen und zu warnen. Dragon hielt den schützenden Umhang dicht vor das Gesicht, denn er wollte nicht wieder in den Einfluß der Kristalle geraten. Bevor er eingreifen konnte, öffnete sich das Portal. Ein höchstens drei Fuß großes Männlein wurde sichtbar. Es war dürr, hatte einen Buckel und trug einen mit Kristallen besetzten Umhang. Das Kichern des häßlichen Wesens klang durch die Nacht. Der Zwerg machte einladende Gesten.
»Kommt!« rief er mit schriller Stimme. »Seid meine Gäste! In meinem Felsenschloß gibt es viele Überraschungen für euch.« Dragon verließ sich darauf, daß er unter seinem Umhang auch für den Zwerg unsichtbar blieb und folgte seinen Freunden, die der Aufforderung des Männleins ohne Zögern nachkamen. Mainala und Hegon gingen an der Spitze. Als der Zwerg die rothaarige Gauklerin sah, stieß er einen lauten Freudenschrei aus. »Tritt näher, mein Täubchen!« krähte er. »Der alte Ugulesch wird sich von nun an um dich kümmern.« Dragon sah entsetzt, daß seine Begleiter nacheinander durch das Portal verschwanden, wobei sie Ugulesch mit aufmunternden Worten antrieb. Dragon wußte, daß ihm nicht lange Zeit blieb, um eine Entscheidung zu fällen. Sobald Iwa, die den Abschluß der kleinen Kolonne bildete, die Schwelle überschritt, würde sich das Portal wieder schließen. Die Tür machte einen sehr massiven Eindruck, so daß Dragon bezweifelte, ob er sie mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln öffnen konnte. Einen anderen Eingang in die Felsbehausung des Zwerges schien es nicht zu geben. Dragon zögerte nicht länger. Er rannte los, überholte Iwa und Ubali und schlüpfte an Ugulesch vorbei ins Innere des rätselhaften Bauwerks.
Eine unheimliche und gleichzeitig schöne Umgebung nahm ihn auf. Überall an Wänden und Decken klebten verschieden große Kristalle, die in den Farben des Regenbogens strahlten und angenehmes Licht verbreiteten. Durch den Vorraum, in dem ein paar aus Holz gefertigte Sitze standen, konnte Dragon in einen Korridor blicken, der offenbar tief in die Felsen führte. Dragon nahm an, daß er an der Schwelle eines ausgedehnten Höhlensystems stand. Dieses Labyrinth schien das Reich des Zwerges Ugulesch zu sein. Unwillkürlich wurde Dragon beim Anblick des Zwerges an die Trolle von Atlantis erinnert, obwohl diese natürlich wesentlich kleiner gewesen waren. Dragon fragte sich, ob zwischen Ugulesch und den Drachenberatern von Atlantis ein Zusammenhang bestand. Ausgeschlossen war es nicht, denn viele Arten hatten überlebt und sich im Verlauf der Jahrtausende verändert. Dragon beobachtete den zufrieden kichernden Ugulesch, der jetzt die Tür zudrückte. Der Zwerg trug außerdem mit Kristallen besetzten Umhang einen leuchtenden Stein auf der Brust. Trotz des Umhangs spürte Dragon die starke Ausstrahlung dieses Kristalls. Er nahm an, daß Ugulesch ihn als besondere Waffe zu seinem Schutz ständig mit sich trug. Dragon fragte sich, wieviel einsame Wanderer
Ugulesch über den Pfad der Kristalle schon in sein Felsenschloß gelockt haben mochte. Was machte er mit seinen Gefangenen? Ein beklemmendes Gefühl beschlich den Atlanter, als er überlegte, was sich in den Tiefen des Felsens abspielen mochte. Er würde alles tun, um seine Freunde vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren. Zunächst jedoch mußte er herausfinden, was die Absichten Uguleschs waren und ob es noch andere Bewohner dieser Art im Felsenschloß gab. Dragons Freunde hatten sich im Vorraum versammelt und standen tatenlos herum. Es war offensichtlich, daß sie unter dem Bann der Hypnostrahlung standen, die von den verschiedenen Kristallen ausging. Dragon befürchtete, daß es im Innern des Schlosses noch andere Kristalle gab, deren Eigenarten vielleicht noch gefährlicher waren. Es gab ein knirschendes Geräusch, als der Zwerg mehrere Querbalken vor die Tür schob und Kristallbündel daran hängte. Durch eine kleine Luke warf er noch einen Blick ins Freie. »Nur eure Pferde sind noch dort draußen«, sagte er zufrieden. »Elf Pferde, aber ich sehe nur zehn Besucher.« Dragon hielt unwillkürlich den Atem an. Die Pferde befanden sich hinter dem Hügel. Wie konnte Ugulesch sie zählen?
»Hattet ihr ein Ersatzpferd dabei, oder ist einer von euch durch ein Wunder entkommen?« Ugulesch humpelte auf Mainala zu und sah zu ihr auf. »Wir werden sehen, wir werden sehen.« Er schien nicht mit einer Antwort zu rechnen, denn er watschelte in den Korridor und winkte den Eingeschlossenen, ihm zu folgen. Die Kristalle auf seinem Umhang klirrten leise gegeneinander. »Kommt!« rief er den Gefangenen zu. »Ich bringe euch jetzt in mein Schloß.« Dragons Freunde sprachen nicht. In ihrem augenblicklichen Zustand schienen sie auch die Fähigkeit verloren zu haben, untereinander Informationen auszutauschen. Willenlos folgten sie ihrem Bezwinger. Dragon folgte in sicherem Abstand. Ab und zu hörte er den Zwerg kichern oder boshafte Bemerkungen machen. Einmal wurde Uguleschs Stimme schrill vor Zorn, und er schrie: »Niemand darf über mich lachen, weil ich klein bin. Ich werde euch beweisen, daß man jedes Wesen kleiner machen kann.« Dragon nahm diese Worte durchaus ernst, aber er sah in ihnen die Androhung eines blutigen Gemetzels unter seinen Freunden. Der von Kristallen besetzte Weg führte durch den etwa sechzig Schritte langen Korridor in einen zweiten
Vorraum. Auch hier dienten Kristalle als Lichtspender. In diesem Raum standen ein halbes Dutzend junge Frauen und bewegten sich nicht. Sie schienen völlig starr zu sein. Nicht einmal ihre Augenlider zuckten, als die von Ugulesch geführte Gruppe den Raum betrat. Dragon hielt sich dicht an der Wand. »Sie sind starr!« sagte Ugulesch. »Ihr könntet ihnen eine Eisenspitze in den Körper treiben, ohne daß sie dabei die geringste Empfindung zeigen würden.« Dragon erschauerte. Er ahnte, daß das häßliche Männlein für den Zustand der sechs Frauen verantwortlich war. »Sie sind jung und schön«, fuhr Ugulesch fort. »Sind sie nicht ein prächtiges Spalier für meine Besucher?« Sein Gelächter gellte durch den Korridor. »Keine Furcht!« rief er. »Sie sind nicht tot. Wenn ich Lust habe, sie aus ihrer Starre zu befreien, kann ich es tun.« Dragon konnte nicht widerstehen. Er huschte lautlos zu einem der gelähmten Mädchen und berührte es sacht an der Hand. Es reagierte überhaupt nicht. Dragon schätzte, daß die junge Frau knapp zwanzig Jahre alt war. Sie trug einen losen Umhang aus dünnem Gewebe, der ihre körperlichen Reize nur notdürftig verdeckte. Dragon fragte sich, wie lange das Mädchen schon hier stand. Seine Haut war eiskalt und hart.
Inzwischen hatte der Zwerg damit begonnen, seine neuen Gefangenen in den benachbarten Raum zu treiben. Dragon wartete, bis alle verschwunden waren, dann richtete er sich vor dem Mädchen auf. »Kannst du mich hören?« fragte er mit gedämpfter Stimme. »Versuche mir ein Zeichen zu geben, wenn es möglich ist. Du kannst mich nicht sehen, aber vielleicht kannst du mich spüren.« Er berührte sie abermals. Ihre Blicke schienen durch ihn hindurchzusehen. Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte Dragon sich über sie und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen waren kalt und fest. Sie atmete nicht einmal. Dragon preßte sein Ohr an ihre Brust, aber er konnte ihr Herz nicht schlagen hören. Lebte sie wirklich noch? In ihr war weniger Leben als in einer Untoten. Dragon wußte, daß er die anderen fünf Mädchen nicht zu untersuchen brauchte. Sie befanden sich in einem ähnlichen Zustand. Trotzdem hatte Ugulesch behauptet, daß diese Bedauernswerten noch am Leben waren. »Ich werde versuchen, euch zu helfen!« versprach Dragon entschlossen. »Ich hoffe, daß ihr mich wenigstens hören könnt. Die Stunde eures Peinigers sind gezählt.« Er rannte in den Nebenraum, doch die Gefangenen
waren von Ugulesch bereits weitergeführt worden. Dragon holte sie in einer Halle ein, die Ugulesch offenbar als Werkstatt diente. Auch hier waren Wände, Decken und Boden mit Kristallen geschmückt. Es gab mehrere Feuerstellen, über denen zum Teil kupferne Kessel mit kochenden Laugen darin hingen. Dampf und Rauch zogen durch Schächte in der Decke ab. Auf einem langen flachen Tisch lagen Tausende von Kristallen. Die meisten davon waren noch nicht bearbeitet. Zwischen Tisch und Wand waren zahlreiche Schleifsteine verschiedenster Größenordnung und Körnung aufgestellt. Hier wurden die rohen Steine in ihre endgültige Form gebracht. Ugulesch kannte das uralte Geheimnis der Kristallbearbeitung. Dragon erinnerte sich an seine Jugendzeit in Atlantis. Damals hatten in Muon ein paar Magier gelebt, die ebenfalls in der Lage gewesen waren, Steine so zu bearbeiten, daß sie bei jenen, die sie später als Schmuck trugen, bestimmte Gefühle auslösten. Keiner jener Magier hatte jedoch Uguleschs Kunstfertigkeit besessen. In den Händen des Zwerges wurden die Kristalle fast zu lebendigen Wesen. Da sich niemand in dieser Werkstatt aufhielt, nahm Dragon an, daß nur Ugulesch hier arbeitete. Abgesehen von seinen Gefangenen war der Zwerg der einzige
Bewohner des Felsenschlosses. »Seht euch gut um!« erklang die keifende Stimme des Zwerges. »Das ist meine Werkstatt. Hier entstehen all die schönen Steine, die ihr schon gesehen habt.« Er hüpfte zum Tisch und nahm einen blau schimmernden Kristall in die Hände. Er kehrte mit dem Stein zu der Gruppe zurück und hielt ihn Mainala vor das Gesicht. Das Mädchen reagierte nicht. »Ist er nicht schön?« fragte Ugulesch. »Das ergibt einen Traumkristall. Wer ihn trägt, wird angenehme Träume haben.« Seine gichtigen Finger glitten über den Kristall. »Aber nur eine kleine Änderung in der äußeren Struktur kann dazu führen, daß der Träger nicht mehr schlafen will, weil er nur noch Alpträume erlebt.« Er drehte sich um und warf den Stein mit einer geschickten Bewegung zum Tisch zurück. »Man kann mit diesen Kristallen fast alles machen. Ich entwickle meine Kunstfertigkeit immer weiter. Irgendwann werde ich sogar mit einem exakt geschliffenen Stein einen schöpferischen Lichtstrahl schaffen und damit toter Materie Leben einhauchen können.« Er sah sich im Kreis seiner neuen Gefangenen um. »Ich bin Herr über die Kristalle. Eines Tages werde ich die gesamte Welt beherrschen, und ihre Bewohner
werden mein Spielzeug sein.« Er kicherte. »Solange ich jedoch gezwungen bin, innerhalb meines Schlosses zu wohnen, hole ich mein Spielzeug zu mir.« Dragon, der anfangs vermutet hatte, bei Ugulesch könnte es sich um eine Cnossos-Kreatur handeln, war jetzt überzeugt davon, daß der Zwerg ein Einzelgänger war. Verbittert über seine körperlichen Mißbildungen, hatte er sich in dieses einsame Gebiet zurückgezogen und mit seinen Forschungen begonnen. Ugulesch schien schon sehr alt zu sein. Das mochte an seiner Verwandtschaft mit den Trollen liegen oder an den Strahlungseigenschaften einiger Kristalle. An der Verwandtschaft zwischen Ugulesch und den echten Trollen zweifelte Dragon nicht. Die Ähnlichkeit war zu stark. Ob es noch echte Trolle gab? fragte sich Dragon. Er erinnerte sich an die letzten Tage von Atlantis. Damals war der Troll Flotox sein bester Freund gewesen. Was mochte aus dem Drachenberater geworden sein? War er bei der Katastrophe ums Leben gekommen, oder hatte er sich retten können? »Hier sitze ich oft tagelang, ohne ein Auge zuzutun«, fuhr Ugulesch fort. Es schien ihn nicht zu stören, daß er keine Antworten erhielt. Die Anwesenheit einiger willenloser Zuhörer stellte ihn bereits zufrieden. »Die kleinen Kristalle, die ihr draußen beiderseits des Weges gesehen habt, sind
leicht anzufertigen. Davon schaffe ich ein paar Dutzend an einem Tag. Anders sieht es mit den größeren aus.« Er ging wieder zum Tisch und zog ein Tuch von einem klumpenförmigen Gegenstand. Ein kopfgroßer, nur teilweise bearbeiteter Stein wurde sichtbar. »Das«, sagte Ugulesch ehrfürchtig, »soll mein vorläufiges Meisterstück sein. Es wird noch ein paar Jahre dauern, bis er fertiggestellt ist.« Dragon unterdrückte einen Ausruf der Bewunderung. Sogar durch den Umhang spürte er die pulsierende Kraft dieses riesigen Kristalls. Der Atlanter konnte sich vorstellen, daß viele Menschen morden würden, um in den Besitz eines solchen Stückes zu gelangen. »Die Welt hat mich einst verlacht«, sagte Ugulesch drohend. »Wegen meiner geringen Größe und meines Aussehens wurde ich überall herumgestoßen und vertrieben. Das habe ich nicht vergessen.« Diese Worte bestätigten, was Dragon über den seelischen Zustand des Zwerges dachte. Er fragte sich, ob er aufspringen und Ugulesch angreifen sollte. Doch bei einem solchen Manöver konnte ihm der Umhang des Namenlosen vom Gesicht fallen. Er würde sofort in den Bannstrahl der hypnotischen Kristalle geraten. Es war auch nicht ausgeschlossen, daß der Zwerg unsichtbare, von seinen Kristallen ausgehende Strahlen
wie einen schützenden Mantel trug, so daß niemand eine Chance hatte, dicht an ihn heranzukommen. Dragon verwarf die Idee eines sofortigen Angriffs. Er mußte noch mehr über dieses Wesen herausfinden. Sollten jedoch Dragons Freunde in akute Gefahr geraten, wollte der Atlanter sofort eingreifen. Der Zwerg führte seine Gefangenen tiefer in die Felsenburg. Dragon folgte der Gruppe. Sie gelangten dabei in Räume, die der Zwerg zu regelrechten Lagern für die von ihm geschaffenen Kristalle ausgebaut hatte. Auf Tischen, die mit eigens dafür präparierten Moosarten ausgelegt waren, lagen Steine in allen Größen und Farben. Besondere Stücke hatte Ugulesch auf kleine Sockel geklebt. Auf dem Marsch ins Innere des Schlosses redete der Zwerg ununterbrochen. »Sicher habt ihr die Mädchen im Vorraum gesehen«, sagte er. »Sie sind vom Bannstrahl eines Kristalls getroffen worden und wie zu Eis erstarrt. Ich kann jeden von euch auf diese Weise verwandeln. Ich tausche diese Mädchen in regelmäßigen Abständen aus, denn länger als sechs Monde darf niemand in diesem Zustand bleiben. Er würde sonst nicht mehr zu seiner ursprünglichen Zustandsform zurückfinden.« Dragon schloß aus diesen Worten, daß Ugulesch offenbar keine seiner Gefangenen vorsätzlich tötete. Er benutzte die unfreiwilligen Besucher lediglich als
Spielzeug. Daß er sie damit quälte, schien ihn nicht zu stören, denn das war seine Rache an den Menschen der Außenwelt, die ihn verlacht hatten. Sie gelangten in einen Raum, wo mehrere Holzpritschen aufgestellt waren. Mit Wasser gefüllte Krüge standen auf dem Boden. Früchte, Nüsse und Wurzeln lagen auf einem runden Tisch in der Mitte des Raumes. Auf der einen Seite gab es zahlreiche Nischen in den Wänden. »Hier werdet ihr vorläufig bleiben«, verkündete Ugulesch. »Später, wenn ihr euch an die neue Umgebung gewöhnt habt, bringe ich euch mit meinen anderen Gästen zusammen. Ein paar von euch werde ich kleiner machen, die anderen werden für mich arbeiten. Es gibt viel zu tun. Das Schloß muß vergrößert werden. Außerdem brauche ich ständig neues Rohmaterial für meine Arbeit. Jene, die sich als besonders willig auszeichnen, werde ich ausschicken, damit sie Holz sammeln und auf die Jagd gehen.« Innerhalb dieser mächtigen Felsformation existierte eine kleine, nach bestimmten Regeln funktionierende Welt, dachte Dragon. Der Zwerg hatte sie zu seinen Zwecken aufgebaut. Dragon sah, daß am Kopfende jeder Pritsche ein Kristall befestigt war. Die Gefangenen sollten ständig dem hypnosuggestiven Einfluß der Steine ausgesetzt bleiben.
»Ruht euch aus!« befahl Ugulesch der Gruppe. »Ich komme später wieder.« Erleichtert sah Dragon ihn davongehen. Der Durchgang zu den nächsten Räumen war nicht mit einer Tür abgesichert, aber über dem Torbogen hing ein leuchtender roter Stein, der den gleichen Zweck erfüllte. Keiner der Beeinflußten würde es wagen, unter diesem Stein durch das Tor zu gehen, solange Ugulesch es nicht erlaubt hatte. Dragon wartete, bis die Schritte des Zwerges verklungen waren. Dann huschte er zu Hegon und zog ihm einen Teil des Tarnumhangs über das Gesicht. Der Krieger stieß einen überraschten Ruf aus und wollte sich auf Dragon stürzen. »Langsam!« rief Dragon. »Ich bin es. Der Umhang des Namenlosen schützt uns vor der Kraft der Kristalle. Solange er über unser Gesicht gezogen ist, kann uns nichts passieren.« »Wo ist er?« grollte Hegon. »Ich drehe ihm den häßlichen Hals um.« »Dieser Wunsch ist verständlich«, gab Dragon zu. »Aber in der derzeitigen Lage müssen wir nachdenken, bevor wir überstürzt handeln. Der Zwerg verfügt über große Macht. Es gibt wahrscheinlich noch mehr Gefangene in diesem Schloß. Auch ihnen sollten wir
helfen.« »Du mußt deinen Umhang zerreißen!« schlug Hegon vor. »Jeder von uns braucht ein Stück. Dann können wir nicht mehr beeinflußt werden.« Dragon schüttelte den Kopf. »Ich würde so handeln, wenn es einen Sinn hätte. Aber der Tarnumhang des Namenlosen verliert seine Wirkung, wenn man ihn zerreißt. Ich darf nicht einmal ein kleines Stück für dich abreißen.« »Dann mußt du uns nacheinander hinausbringen«, schlug Hegon vor. »Mindestens zwei von uns passen jedesmal unter den Umhang.« »Das wäre eine Möglichkeit. Ich befürchte nur, daß Ugulesch das Verschwinden einiger Gefangener bemerken würde, noch bevor ich sie alle in Sicherheit gebracht hätte.« »Hm!« machte Hegon. Sein erster Zorn war verraucht, er wurde nachdenklicher. »Was können wir tun?« »Es wäre gefährlich, Ugulesch zu unterschätzen. Hier, mitten unter den von ihm geschaffenen Kristallen, ist er wahrscheinlich unbesiegbar. Wir müssen ihn überlisten.« Hegon ballte die Fäuste. Er war ungeduldig. »Ich verlasse euch jetzt und sehe mich im Schloß um«, sagte Dragon zu dem Krieger. »Ihr könnt euch darauf verlassen, daß ich zurückkomme und euch
befreie.« Der Urgorit hätte am liebsten sofort losgeschlagen. Die Aussicht, in wenigen Augenblicken wieder hilfund willenlos zu sein, behagte ihm wenig. »Warte noch!« rief er Dragon zu. Er klammerte sich mit beiden Händen am Umhang fest. »Wir können gemeinsam gehen.« »Ugulesch würde merken, daß jemand fehlt.« »Dann gehe ich!« stieß Hegon hervor. Mit einer blitzschnellen Bewegung wollte er Dragon den Umhang vom Körper reißen. Dragon war jedoch darauf vorbereitet und zog dem Krieger das Tuch vom Gesicht. Die Bewegungen des Urgoriten erlahmten sofort. Dragon trat einen Schritt zurück. »Du bist ein Hitzkopf«, warf er Hegon vor. »Fast hättest du alles verdorben.« Es wurde ihm bewußt, daß Hegon bereits wieder unter dem Einfluß der Kristalle stand und überhaupt nicht mehr begriff, was der Atlanter sagte. Hegon war ein Kämpfer. Er hätte an Dragons Stelle sicher anders gehandelt. Dragon mangelte es nicht an Mut, aber er war sich seiner Verantwortung für seine Freunde bewußt. Außerdem durfte er nie vergessen, daß er einen schlimmeren Feind als Ugulesch besaß: Cnossos, den Balamiter.
Cnossos war eine Bedrohung für die gesamte Welt. Er hatte bereits ganze Stämme unterjocht und in weiten Gebieten chaotische Zustände verursacht. Dragons Lebensziel mußte die Vernichtung des balamitischen Eindringlings sein. Wenn ihm das nicht gelang, gab es für diese Welt keine Zukunft. Cnossos würde die Erde mit seinen schrecklichen Geschöpfen bevölkern und über sie herrschen. Aber damit würde sein Feldzug nicht beendet sein. Früher oder später würde Cnossos das Geheimnis der Weltentore enträtseln und von der Erde aus zu Parallelwelten gelangen können. So gesehen, war Ugulesch geradezu harmlos. Allerdings konnte der Zwerg verhindern, daß Dragon den Kampf gegen Cnossos fortsetzte. Dragon verließ die Unterkunft der Gefangenen. Er durchquerte einige Räume, in denen Ugulesch Rohstoffe für seine Arbeit aufbewahrte. Der größte Teil der Räume, die Dragon betrat, gehörten zu dem natürlichen Höhlensystem, das der Zwerg für seine Zwecke nutzbar gemacht hatte. Es gab jedoch auch nachträglich geschaffene Räume. Dragon hörte Stimmen und blieb stehen. Irgendwo in seiner unmittelbaren Nähe hielten sich Menschen auf. Männer und Frauen, die miteinander sprachen.
Dragon nahm an, daß er sich einer Gruppe anderer Gefangener näherte. Diese Menschen sprachen miteinander, eine Fähigkeit, die den Beeinflußten seiner eigenen Gruppe offenbar völlig abhanden gekommen war. Das ließ sich nur so erklären, daß Ugulesch nach einiger Zeit die, Intensität der hypnotischen Beeinflussung verringerte. Denkbar war auch, daß die Gefangenen sich mit der Zeit an die Strahlung der Kristalle gewöhnten. Dragon ging langsam weiter. Er kam an einen mit schweren Tüchern verhängten Durchgang. Auch an den Tüchern klebten Kristalle. Dragon schob das vorhangähnliche Gebilde zur Seite. Vor ihm lag ein Raum, in dem sich einige Dutzend Kinder aufhielten. Sie waren mit dem Sortieren von Rohkristallen beschäftigt. Dabei unterhielten sie sich über belanglose Dinge. Dragon sah sofort, daß auch diese Menschen keinen freien Willen besaßen. Sie konnten arbeiten und miteinander sprechen, aber das war auch alles. Als Dragon näher kam, sah er zu seinem Entsetzen, daß die Gruppe nicht aus Kindern bestand, sondern aus erwachsenen Menschen, die zu kindlicher Größe zusammengeschrumpft waren. Jetzt erhielten die Worte Uguleschs, daß er auch Mitglieder von Dragons Gruppe kleiner machen würde, eine neue, unheimliche Bedeutung.
Zweifellos besaß der Zwerg Kristalle, mit deren Hilfe er einen solchen Schrumpfungsprozeß einleiten konnte. Der Grund für Uguleschs Handeln konnte nur mit dem Minderwertigkeitskomplex des Zwerges erklärt werden. Anscheinend konnte Ugulesch nicht mit Menschen zusammenleben, die größer waren als er. Er hatte infolgedessen eine Methode entwickelt, um seine Gefangenen kleiner zu machen. Dragon überlegte, ob diese Veränderung endgültig war, oder ob sie sich wieder rückgängig machen ließ. Innerhalb des Raumes, den Dragon betreten hatte, hielten sich über fünfzig kleine Menschen auf. Sie schienen sich ihres schrecklichen Schicksals nicht bewußt zu sein, denn sie unterhielten sich unbekümmert miteinander. Dragon sah sich um. Ugulesch war nicht in der Nähe. Der Atlanter entschloß sich, einen der Unglücklichen zu entführen und unter dem Umhang des Namenlosen zu befragen. Diese Menschen hielten sich schon längere Zeit hier auf. Vielleicht wußten sie mehr über Ugulesch, als der erst vor kurzer Zeit im Felsenschloß eingetroffene Atlanter. Dragon verließ sich darauf, daß er unter seinem Umhang nicht gesehen werden konnte. Er schlich an die Gruppe heran und griff nach einem abseits sitzenden Mann. Er preßte sofort eine Hand auf den
Mund des Gefangenen, damit dieser nicht schreien konnte. Dann rannte er in die Lagerräume zurück. Er hockte sich auf den Boden und lehnte mit dem Rücken an die Wand. Blitzschnell streifte er dem Mann ein Stück des Umhangs über den Kopf. Der Geschrumpfte hörte auf, sich zu wehren. Seine Bewegungen erlahmten. Wie ein Kind lag er auf Dragons Schoß. »Sei still!« flüsterte Dragon. »Ich bin gekommen, um dir und den anderen zu helfen.« »Was ist überhaupt passiert?« brachte der Mann hervor. »Kommst du aus dem Land der Riesen?« Dragon zögerte mit einer Antwort. Wenn er dem Mann zwischen seinen Knien die Wahrheit sagte, würde der andere durch den Schock vielleicht den Verstand verlieren. Doch er wurde einer Entscheidung enthoben. Uguleschs Opfer fand sich schnell in der Wirklichkeit zurück. Die Erinnerung übermannte ihn. Er begann heftig zu zittern. Dann schluchzte er. »Du mußt still sein!« ermahnte ihn Dragon. »Wenn du Lärm machst, lockst du Ugulesch hierher.« »Du bist kein Riese, sondern ein normal gewachsener Mann«, sagte der Gefangene entsetzt. »Ich geriet in den Strahl eines großen Kristalls und wurde kleiner. Jetzt kann ich mich an diesen Vorgang erinnern.«
Dragon konnte die Verzweiflung des anderen verstehen. »Ich werde dir und den anderen helfen«, versprach er. »Noch ist nichts verloren.« Er hatte fest und mit Überzeugung gesprochen, denn er wollte den Gefangenen beruhigen und ihm Hoffnung machen. Nur dann konnte er ein vernünftiges Gespräch mit diesem Unglücklichen führen. »In diesem Zustand kann ich nicht mehr in meine Heimat zurückkehren«, klagte der Kleine. »Ich bin unwürdig und verzaubert. Man wird mich auf einem Scheiterhaufen verbrennen oder davonjagen.« Dragon betrachtete den Mann mit neuem Interesse. Er gehörte zweifellos nicht zu den Stämmen, die in den Ländern rund um den Stillen See lebten. Seine Haut war weiß, seine Haare rotblond. Er schien jener Völkergruppe anzugehören, die weit im Norden lebte. Dragon hatte schon viel von diesen Stämmen gehört. Später einmal, wenn Cnossos besiegt sein würde, wollte er all diese Länder besuchen. Die Gedanken des Atlanters kehrten in die Wirklichkeit zurück. »Mein Name ist Brasko«, sagte der Geschrumpfte. »Ich gehörte zu einer Gruppe von Händlern, die unterwegs nach Süden waren. Wir lagerten in der Nähe des Stillen Sees. Bei einem abendlichen
Rundgang stieß ich auf den von Kristallen umsäumten Pfad und geriet in die Gewalt des Zwerges Ugulesch.« »Wie lange ist das jetzt schon her?« »Viele Monde«, erwiderte Brasko. »Man verliert das Gefühl für die Zeit, wenn man ständig unter Uguleschs Kontrolle steht.« Dragon nickte verständnisvoll. »Mein Umhang schützt mich vor der Macht der Kristalle«, erklärte er dem Nordländer. »Ich kann mich frei in dieser Burg bewegen. Deshalb habe ich vor, der verbrecherischen Tätigkeit des Zwerges ein Ende zu bereiten.« »Töte ihn!« forderte Brasko ihn auf. Dragon ging nicht darauf ein. Er konnte den Haß verstehen, den Brasko empfand. Dragon selbst jedoch durfte sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Er mußte sachlich darüber nachdenken, was er zur Rettung seiner Freunde und der anderen Gefangenen tun konnte. »Wenn ich euch helfen soll, muß ich alles erfahren, was du von Ugulesch weißt«, sagte er. Brasko dachte einen Augenblick nach. »Er hat die Angewohnheit, mit sich selbst zu sprechen«, sagte er dann. »Mein Zustand verbot es mir, bewußt zuzuhören, aber ich kann mich an viele Dinge erinnern.« »Sehr gut«, erwiderte Dragon zufrieden. Er
wunderte sich, wie schnell Brasko sich mit der Situation abgefunden hatte. Im Augenblick jedenfalls schien der Kleine nicht an sein Schicksal zu denken. »Obwohl Ugulesch aussieht, als wäre er zwischen dreißig oder vierzig Jahre alt, wurde er bereits vor über hundert Jahren geboren«, berichtete Brasko. »Ugulesch behauptet, Sohn einer Irdischen und eines Trolls zu sein.« Er blickte zu Dragon auf. »Ich weiß nicht, ob eine solche Verbindung überhaupt möglich ist!« »Sie ist«, versicherte Dragon. Wenn Uguleschs Behauptung der Wahrheit entsprach, mußte es noch echte Trolle geben. Zumindest, dachte Dragon einschränkend, hatten vor etwa einhundert Jahren noch solche Wesen existiert. Bei dem hohen Alter, das echte Trolle erreichten, war es nicht ausgeschlossen, daß irgendwo auf der Erde noch direkte Nachkommen von Flotox lebten. Dieser Gedanke war faszinierend. Wenn es noch Trolle gab, mußte Dragon Verbindung mit ihnen aufnehmen. Er konnte sich keine besseren Verbündeten im Kampf gegen Cnossos wünschen. Aber wo lebten diese Trolle? »Hat Ugulesch noch mehr über seinen Vater gesagt?« fragte er den Nordländer. Brasko verneinte.
»Ich konnte seinen Äußerungen nur entnehmen, daß der Vater zwanzig Jahre nach Uguleschs Geburt auf geheimnisvolle Weise verschwand. Zuvor jedoch unterrichtete er seinen Sohn in der Fertigkeit, seltene Kristalle aufzuspüren und zu bearbeiten.« »Wieviel Gefangene gibt es in diesem Höhlenlabyrinth?« »Etwa zweihundertfünfzig«, sagte Brasko. »Ugulesch hat noch niemals einen Gefangenen getötet, aber er mißbraucht sie zu entwürdigenden Arbeiten und Spielereien.« »Ich verstehe«, sagte Dragon. »Sind alle Gefangenen gleichermaßen beeinflußt?« Der Mann auf seinen Knien, der noch die Größe eines vierjährigen Knaben besaß, zuckte mit den Schultern. »Das wage ich nicht zu beurteilen. Einmal kam Ugulesch in seine Werkstatt, wo ich gerade arbeitete. Er war sehr wütend. Ich verstand nicht genau, was ihn erregte, aber er sprach von jemand, der sich nicht kleiner machen läßt.« Dragon überlegte. Sollte es in der Felsenburg jemanden geben, der gegen die Strahlung der Kristalle immun war? Wo hielt sich dieses Wesen dann auf? Dragon nahm an, daß es von Ugulesch verjagt oder eingesperrt worden war. »Was hat der Zwerg noch darüber gesagt?«
»Nichts«, antwortete Brasko. »Ich weiß nur, daß er damals sehr enttäuscht und wütend war.« Dragon war entschlossen, nach Beendigung seines Gesprächs mit Brasko alle anderen Räume des Felsenschlosses zu durchsuchen. Vielleicht fand er dabei die Spuren jenes Unheimlichen, der sich nicht kleiner machen ließ. Auch Dragon war immun, aber er verdankte diesen Schutz jenem Tarnumhang, der ein Geschenk des Namenlosen war. Dragon glaubte nicht, daß der Weltenwanderer einen weiteren Umhang hatte. Viel wahrscheinlicher erschien ihm, daß die Immunität des Unbekannten auf natürlichen Fähigkeiten beruhte. »Wieviel Räume gibt es in diesem Labyrinth?« wollte der Atlanter wissen. »Das weiß ich nicht«, antwortete Brasko. »Keiner von uns hat sie bisher alle gesehen. Ich glaube, daß Ugulesch oft tagelang in diesem Höhlensystem unterwegs ist.« »Ich bringe dich jetzt zu den anderen zurück«, verkündete Dragon. »Dein Fehlen darf unter keinen Umständen auffallen.« Er spürte, daß der andere sich versteifte und sich an ihm festhielt. »Ich will nicht zurück!« protestierte der kleine Nordländer. »Wenn ich schon in diesem Zustand bleiben muß, dann will ich wenigstens meinen eigenen
Willen behalten.« Dragon überlegte. Wenn Ugulesch tatsächlich an die zweihundertfünfzig Gefangene besaß, würde er nicht so schnell merken, wenn einer der Arbeiter fehlte. Brasko hielt sich schon längere Zeit in diesen Räumlichkeiten auf. Er konnte unter Umständen eine wertvolle Hilfe sein. Da er nicht größer und schwerer als ein vierjähriges Kind war, konnte Dragon ihn tragen und ihn immer unter dem schützenden Umhang halten. »Ich tue alles, was du verlangst«, jammerte Brasko. »Laß mich bei dir bleiben, bis der Zwerg nicht mehr am Leben ist.« Dragon gab nach. Er hoffte, daß er diesen Entschluß nicht später einmal bereuen mußte. Wenn Brasko auch wie ein Kind aussah, so war er doch ein erwachsener Mann mit den Gedanken eines erwachsenen Mannes. Der Geschrumpfte ließ sich schlecht einschätzen. Ein Händler, der von Norden nach Süden wanderte, mußte über Mut und Intelligenz verfügen. Er hörte Brasko aufatmen. »Du nimmst mich also mit?« »Ja«, sagte Dragon zögernd. »Aber du wirst dich nach meinen Anordnungen richten müssen. Sobald du versuchst, auf eigene Faust zu handeln, hole ich dich unter dem Umhang hervor und bringe dich zu deinen Mitgefangenen zurück.«
Brasko erklärte sich mit allem einverstanden. Die Bereitschaft des Kleinen, Dragon in jedem Fall zu akzeptieren, erschien Dragon übertrieben, andererseits verstand er, daß Brasko verzweifelt genug war, um jede Chance zu nutzen. Sie brachen auf. »Was hast du jetzt vor?« erkundigte sich der Nordländer. »Ich muß mich ausruhen«, erwiderte Dragon. »Wir sind den ganzen Tag geritten. Ein müder Mann kann keine richtigen Entscheidungen treffen. Deshalb werden wir uns zunächst einen sicheren Platz suchen. Ich werde ein bißchen schlafen und dann die Durchsuchung der Räume fortsetzen. Nachdem ich weiß, daß meine Freunde keiner unmittelbaren Todesgefahr ausgesetzt sind, kann ich einen risikolosen Plan ausarbeiten.« Brasko sagte nichts, aber Dragon wußte, daß der Geschrumpfte enttäuscht war. Der Händler hatte offenbar gehofft, daß sie sofort losschlagen würden. Dragon fand wenig später eine verlassene Nische. Er kroch hinein. In dieser Umgebung war es zwar nicht besonders bequem, aber es gab keine Kristalle und die Gefahr, daß Ugulesch sie durch einen Zufall entdecken würde, bestand nicht. Dragon ließ sich auf dem Boden nieder. »Ich werde wachen!« versprach Brasko.
Dragon hatte keine Einwände. Er war froh, daß er einen ausgeruhten Partner gefunden hatte. Dragon breitete den Umhang so aus, daß sie sich beide auf den Boden legen konnten. Brasko zog einen Zipfel über den Kopf und kroch bis zum Nischeneingang. Dort blieb er hocken. Dragon schlief sofort ein. Sein Schlaf war jedoch nur von kurzer Dauer. Er erwachte von einem unbestimmbaren Gefühl. Irgend etwas hatte sich verändert. Dragon spürte einen dumpfen Druck im Kopf. Durch den Nischeneingang leuchteten die Kristalle, die draußen im Gang befestigt waren. Entsetzt spürte Dragon, daß sie wieder Gewalt über ihn gewonnen hatten. Er sprang auf die Beine. Dabei entdeckte er, was sich verändert hatte. Brasko war verschwunden. Und mit ihm der Tarnumhang des Namenlosen. Dragon war der hypnotischen Wirkung der Kristalle ausgeliefert und konnte von jedem gesehen werden.
3.
Mit letzter Willenskraft senkte Dragon den Kopf und drehte sich langsam um die eigene Achse. Dabei gerieten die Kristalle aus seinem Blickfeld. Der hypnotische Druck ließ etwas nach. Dragon warf sich gegen die Nischenwand und barg den Kopf in den Armen. Auf diese Weise ließ sich die hypnosuggestive Wirkung der Kristalle draußen im Gang ertragen. Dragon wußte jedoch, daß er sich nicht bewegen durfte. Jeder Schritt aus der Nische heraus würde sein Verhängnis bedeuten. Er konnte jedoch nicht ewig in der Nische bleiben. Irgendwann mußte er trinken und essen. Seine Lage war verzweifelt. Er verwünschte Brasko, der ihn auf so heimtückische Art hintergangen hatte. Trotzdem war der Nordländer die einzige Hoffnung, die ihm im Augenblick blieb. Unter dem Schutz des Umhangs würde der Händler aktiv werden. Dragon mußte Brasko Erfolg wünschen, denn nur Veränderungen draußen im Felsenschloß konnten den Atlanter aus seiner jetzigen Lage befreien. Plötzlich hörte Dragon ein schleifendes Geräusch draußen im Gang. Er wagte sich nicht umzuwenden, um nicht in Richtung der Kristalle blicken zu müssen. »Für einen kleinen Mann wie mich ist es nicht einfach, diesen großen Stoffetzen durch die Gegend zu
schleppen«, klang Braskos Stimme vor der Nische auf. Dragon traute seinen Ohren nicht. Der Geschrumpfte war zurückgekehrt. »Nachdem du eingeschlafen warst, bin ich aufgebrochen, um dir etwas Nahrung zu beschaffen«, fuhr Brasko fort. »Komm herunter, damit du mit unter deinen Umhang schlüpfen kannst.« Dragon ließ sich zu Boden gleiten und zog sich erleichtert den Umhang über den Kopf. Sofort ließ der hypnosuggestive Druck nach. Dragon konnte ohne Gefahren aus der Nische blicken. Er sah jedoch den Nordländer an, der ein paar Früchte und einen mit Wasser gefüllten Becher in den Händen hielt. »Das hättest du nicht tun dürfen!« warf er Brasko vor. »Als ich erwachte, wäre ich fast aus der Nische gerannt.« »Ich wollte dich nicht gefährden«, beteuerte Brasko. »Du hattest so fest geschlafen, daß ich das Risiko einging, dich für einige Zeit zu verlassen.« Dragons Zorn verflog nicht so schnell. »Unter diesen Umständen kann ich dich nicht weiter mitnehmen«, erklärte er. »Ich bringe dich zu deiner Gruppe zurück.« »Das kannst du nicht tun«, jammerte der Händler. »Ich hatte keinerlei böse Absichten. Ich wollte dir nur etwas zu essen und zu trinken beschaffen.«
»Das hätten wir später gemeinsam erledigen können«, versetzte Dragon. »Verbündete, die solche Fehler begehen, kann ich mir in der jetzigen Lage nicht leisten.« »Ich werde nichts mehr tun, was du nicht ausdrücklich befohlen hast«, beteuerte der Geschrumpfte. Dragon konnte diesen eindringlichen Bitten nicht widerstehen. Vor wenigen Augenblicken wäre er selbst fast unter den Einflußbereich der Kristalle geraten und konnte sich daher vorstellen, warum Brasko sich so dagegen wehrte, wieder zu einem willenlosen Instrument des Zwerges gemacht zu werden. Dragon seufzte ergeben. »Einen Versuch riskiere ich noch, auch wenn es vielleicht kein kluger Entschluß ist. Wer dich zum Begleiter wählt, riskiert sein Leben.« »Das ist nicht so, ich werde es dir beweisen«, beteuerte der Nordländer eifrig. »Doch jetzt iß und trink, damit du zu Kräften kommst.« Dragon kam dieser Aufforderung nach. Als er fertig war, nahm er Brasko auf die Arme und trat auf den Korridor hinaus. »Willst du nicht mehr schlafen?« fragte der Kleine erstaunt. Dragon verzog das Gesicht. »Ich bin hellwach«, sagte er. Brasko zog es vor, sich einer Antwort zu enthalten. Offenbar fürchtete er, Dragon könnte seine Meinung doch wieder ändern.
Sie bewegten sich über den breiten Korridor. In den Räumen, die von Ugulesch nicht regelmäßig benutzt wurden, gab es außer den Kristallen keinen besonderen Wandschmuck. Wände, Decken und Boden bestanden aus nacktem Fels. In den bevorzugten Räumen dagegen war der Boden mit Fellen und Moosen bedeckt. Dragon vermutete, daß Ugulesch den Besitz vieler Gefangener an sich genommen hatte. »Wann werden wir angreifen?« fragte Brasko ungeduldig. Dragon wußte, worum es dem Geschrumpften ging, aber er reagierte abweisend. »Dafür ist die Zeit noch nicht gekommen. Zunächst einmal muß ich mit den Gegebenheiten innerhalb des Felsenschlosses vertraut sein. Schon der erste Angriff gegen Ugulesch muß Erfolg haben, denn eine zweite Gelegenheit werden wir nicht bekommen.« Er blieb stehen. Im Licht der Kristalle sah er Dampfschwaden in den Gang ziehen. Sie kamen aus einem vor den beiden Männern liegenden Raum. Der Atlanter machte seinen Begleiter darauf aufmerksam. »Ich war noch nie in diesem Teil der Felsenburg«, erwiderte Brasko. »Vielleicht befinden wir uns in der Nähe einer zweiten Werkstatt.« Dragon ging vorsichtig weiter. Wenig später stand er am Eingang eines Raumes, in
dem aus zahlreichen Bodenschlitzen Dampf hervorquoll. Die Luft roch nach Schwefel. »Hier gibt es irgendwo unterirdische Quellen«, erkannte Dragon. »Ugulesch hat bestimmt einen Grund dafür, daß er diese Öffnungen noch nicht verschlossen hat.« »Solche Dämpfe sind gesund«, vermutete Brasko. Dragon sah, daß auch im Raum vor ihm überall Kristalle an den Wänden hingen. Die dem Eingang gegenüberliegende Seite war jedoch nicht zu erkennen. »Ob dies das Ende des Labyrinths ist?« fragte Dragon. »Bestimmt nicht«, erwiderte Brasko. »In seinen Selbstgesprächen behauptete Ugulesch einmal, daß er noch Hunderte von Räumen mit Kristallen ausfüllen müßte.« Dragon hatte keinen Grund, an dieser Auskunft zu zweifeln. Die Frage war nur, ob der wahnsinnige Zwerg bei seinen Selbstgesprächen immer die Wahrheit sagte. Bei Ugulesch vermischten sich wahrscheinlich Wunschvorstellungen mit der Realität. Dragon betrat den seltsamen Raum. Das Tuch über seinem Kopf schützte ihn nicht vor den ätzenden Dämpfen. Unwillkürlich hielt er den Atem an und beschleunigte seine Schritte. Der Dampfvorhang lichtete sich, Dragon konnte plötzlich in einen noch größeren und tiefer liegenden
Raum blicken. Er sah einen kleinen, mit ockergelber Flüssigkeit gefüllten See. Der Rand dieses natürlichen Beckens war mit Kristallen besetzt. Dragon trat langsam näher. Dann sah er, daß jemand in der ockergelben Brühe schwamm. Der Schwimmer war Ugulesch. Der Zwerg hatte seinen Kristallumhang abgelegt. »Uguleschs Bad«, stellte Brasko fest. »Ich habe es vorher noch nie gesehen.« »Still!« zischte Dragon. »Er darf uns nicht hören. Vielleicht können wir ihm den Umhang entwenden, dann kommen wir leichter an ihn heran.« Mitten im Becken befand sich eine kleine Anhöhe. Ugulesch hatte sie inzwischen erreicht und war hinaufgeklettert. Zu seiner Enttäuschung sah Dragon, daß der Zwerg den großen Kristall noch immer auf der Brust trug. Ugulesch war vorsichtig. Seinen wichtigsten Schutz legte er auch beim Baden nicht ab. Mit seiner krebsroten Haut sah Ugulesch wie ein monströses, gerade aus dem Wasser gekrochenes Schalentier aus. Im nackten Zustand fiel seine Häßlichkeit besonders auf. Das Aussehen des Zwerges ließ Dragon begreifen, was im Innern dieses Wesens vorgehen mochte, wenn es gutgewachsene Männer sah. Plötzlich pfiff Ugulesch durch die Finger.
Auf der anderen Seite des Beckens erschienen drei geschrumpfte Männer und eine geschrumpfte Frau. »Los jetzt!« befahl Ugulesch. »Springt in das Wasser!« Die Beeinflußten zögerten keinen Augenblick, den Befehl ihres Meisters auszuführen. Ohne ihre Kleidung abzulegen, stiegen sie in den kleinen See und begannen um die Erhebung, auf der Ugulesch stand, herumzuschwimmen. »Schneller!« trieb Ugulesch sie an. Die vier Unglücklichen machten verzweifelte Anstrengungen, einander zu überholen. Dabei schluckten sie Wasser und rangen nach Atem. »Er wird sie bis zur völligen Erschöpfung antreiben«, sagte Brasko mit wuterstickter Stimme ... Auf diese Weise quält er uns immer.« »Vorwärts, meine Kleinen!« schrie Ugulesch. »Ich will sehen, was ihr gelernt habt.« Der Zwerg war so auf seine Umgebung konzentriert, daß Dragon es wagen konnte, sich am Rand des Beckens tiefer in den großen Raum zu bewegen. Sein Ziel war die Stelle, wo Ugulesch seinen kristallbesetzten Umhang abgelegt hatte. Dragons nächster Schritt wurde ihm zum Verhängnis. Der Boden unter seinen Füßen wurde glatt und rutschig. Mit Brasko auf den Armen konnte er den Sturz nicht mehr abfangen. Er verlor das Gleichgewicht
und kippte seitwärts in das Becken. Dabei verlor er Brasko aus den Armen. Der Nordländer schrie entsetzt auf. Dragon war geistesgegenwärtig genug, um sofort den Umhang festzuhalten und über den Kopf zu ziehen. Er tauchte auf. Brasko paddelte ein paar Schritte von ihm entfernt durch das ockergelbe Wasser. Ugulesch hatte ihn bereits entdeckt. »Woher kommst du?« schrie der Zwerg. »Ich muß mit dir sprechen.« Dragon wußte, daß er den Nordländer jetzt nicht mehr retten konnte. Brasko schwamm genau auf die Anhöhe zu, wo Ugulesch stand und mit den Armen fuchtelte. Der Händler stand bereits im Banne des Hypnokristalls auf der Brust des Zwerges. Dragon brauchte kein Hellseher zu sein, um die Konsequenzen aus diesem Zwischenfall vorauszusehen. Ugulesch würde Brasko verhören und alles erfahren, was dieser über Dragon wußte. Innerhalb der nächsten Augenblicke würde der Zwerg herausfinden, daß er in seiner Felsenburg einen unsichtbaren Gegner hatte. Dragon war froh, daß Ugulesch sich jetzt nur um
Brasko kümmerte. Der Atlanter konnte unbemerkt aus dem Becken kriechen. Er ordnete seinen Umhang, so daß er wieder völlig unsichtbar wurde. Inzwischen hatte Brasko die Anhöhe erreicht und sprach mit dem Zwerg. Dragon brauchte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, worüber die beiden sich unterhielten. Dragon gab seinen ursprünglichen Plan, das Kristallgewand des Gnomen an sich zu nehmen, auf und verließ diesen gefährlichen Raum. Er entdeckte einen zweiten Korridor, der vom Raum mit den dampfenden Bodenschlitzen noch tiefer in das Felsenschloß führte. Von nun an mußte er mit Verfolgern rechnen. Die Frage war nur, ob Ugulesch Möglichkeiten besaß, Dragons Tarnumhang unwirksam werden zu lassen. Im Hintergrund begann Ugulesch zu kreischen. »Ich werde dich finden, wo immer du bist! Du wirst mir nicht entkommen, Unsichtbarer! Der Fluch der Kristalle wird dich ebenso treffen wie alle anderen.« Seine Stimme überschlug sich vor Zorn. Ugulesch hatte also alles erfahren, was Brasko wußte. Dragon wußte, daß es ein Fehler gewesen war, sich mit dem Nordländer einzulassen. Das Mitleid mit dem Geschrumpften hätte ihn nicht dazu verleiten dürfen, die eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen.
Davon, ob Dragon in Freiheit bleiben konnte, hing das Schicksal aller Gefangenen Uguleschs ab. Nicht zuletzt ging es auch darum, ob Dragon den Kampf gegen den Balamiter bald fortsetzen konnte. Wenn Dragon zu lange im Felsenschloß Uguleschs aufgehalten wurde, konnte es passieren, daß Cnossos den Feenpalast der Kyrace vor Dragon erreichte und sich mit der Zauberin verbündete. Wenn Cnossos das gelingen sollte, würde er unschlagbar werden. Dragon rannte durch den Korridor. Er durfte jetzt keine Zeit mehr verlieren, sondern mußte alle wichtigen Räume des seltsamen Schlosses möglichst schnell untersuchen. Um seine Freunde brauchte er sich im Augenblick nicht zu kümmern, außerdem konnte er sicher sein, daß Ugulesch diese Gruppe von nun an besonders gut bewachen wurde. Dragon erreichte das Ende des Korridors. Er gelangte in eine Halle, wo ein paar Dutzend erstarrte Männer und Frauen in normaler Größe herumstanden. Dragon wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich mit diesen Unglücklichen zu unterhalten. Sie waren nicht in der Lage, auf noch so intensive Versuche zu reagieren. Inmitten des Raumes befand sich ein kopfgroßer Kristall. Er lag auf einem steinernen Sockel. Dragon
vermutete, daß dieser Stein für den Zustand der Gefangenen verantwortlich war. Dragon näherte sich dem Kristall. Vielleicht konnte er den Erstarrten helfen, indem er diesen kunstvoll bearbeiteten Stein zerstörte. Je näher der Atlanter dem Kristall jedoch kam, desto schwerfälliger wurden seine Schritte. Die Wirkung der Strahlung machte sich durch das schützende Tuch des Namenlosen bemerkbar. In Dragons Körper begann es zu kribbeln. Sein Pulsschlag verlangsamte sich. Er schien von innen heraus zu Eis zu werden. Dragon begriff, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Er war der Gefahr ausgesetzt, ein Mitglied jener Gruppe von menschlichen Statuen zu werden, die den unheimlichen Kristall umstanden.
4.
Die Tatsache, daß ihn jemand überlistet hatte, raubte Ugulesch fast den Verstand. Nachdem er die niederschmetternde Information von dem wieder
willenlos gewordenen Brasko erhalten hatte, war der Gnom zunächst unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er schrie seine Wut in unartikulierten Lauten hinaus, bis er sich schließlich allmählich wieder in die Gewalt bekam. Mit seinem Toben machte er den Gegner nur aufmerksam – mehr erreichte er damit nicht. Seit Jahrzehnten fühlte Ugulesch sich in seinem Felsenschloß unbedroht. Immer wieder gelang es ihm, Gefangene zu machen und mit ihnen zu experimentieren. Bisher hatte sich ihm niemand widersetzt. Nun war mit der letzten Gruppe jemand ins Schloß gekommen, der sich unsichtbar machen konnte und gleichzeitig immun gegen die verschiedenen Wirkungen von Uguleschs Kristallen war. Ugulesch hatte von Brasko erfahren, daß der Fremde Dragon hieß und seine Fähigkeiten einem seltsamen großen Tuch verdankte, das er um Körper und Kopf geschlungen hatte. Ugulesch hockte sich auf die kleine Erhebung inmitten des Beckens und überlegte. Die vier Schwimmer, die, noch immer seinem Befehl folgend, im Wasser strampelten, hatte er vergessen. Erst als einer der drei Männer am Ersticken war und gurgelnde Geräusche von sich gab, wurde Ugulesch
auf sie aufmerksam. »Verschwindet!« befahl er barsch. »Ich brauche euch nicht mehr. Brasko, hilf ihnen heraus.« Der Zwerg sprang ins Wasser und schwamm zum Beckenrand, wo er seinen Umhang anzog. Das Gefühl, daß der Unsichtbare ganz in der Nähe war und ihn vielleicht bei dieser Aktion beobachtete, bedrückte Ugulesch. Brasko hatte berichtet, daß der Fremde vorläufig nicht an einen Angriff dachte, weil ihm das zu riskant erschien. Es war jedoch denkbar, daß Dragon angesichts der Ereignisse seine Pläne geändert hatte. Für Ugulesch bedeutete das erhöhte Gefahr. Dennoch fürchtete er sich nicht übermäßig. Er war der Herr über die Kristalle, er allein kannte ihr Geheimnis und konnte sich die Steine nützlich machen. Er war überzeugt davon, daß die Kristalle ihm helfen würden, diesen Gegner zu besiegen. Er knüpfte den Umhang zu und verließ den Baderaum. Es wurde Zeit, daß er seine wertvollsten und gefährlichsten Kristalle aus dem Versteck holte, um sie nötigenfalls gegen Dragon einzusetzen. Bisher hatte Ugulesch niemals Schwierigkeiten gehabt. Er war kein Kämpfer. Das minderte jedoch nicht seine Entschlossenheit, die Gefahr für sein kleines Reich abzuwenden. Ugulesch kümmerte sich nicht länger darum, ob der
Fremde ihn vielleicht beobachtete und verfolgte. In seiner watschelnden Gangart, die durch seine körperlichen Mißbildungen bedingt war, eilte er durch Räume und Gänge, bis er in einen Höhlenraum mit kuppelförmiger Decke kam. Mitten im Raum befand sich eine Schachtöffnung. Von der Decke hing ein dickes Seil herab, an dem ein Korb befestigt war. Ohne zu zögern, kletterte Ugulesch in diesen Behälter. Mit beiden Händen machte er sich am Strick zu schaffen. Nachdem er einen Knoten gelöst hatte, konnte er den Korb in die Tiefe lassen. Das Seil lief über eine an der Decke befestigte Rolle. Ugulesch beeilte sich. Schneller als bei früheren Gelegenheiten sauste der Korb in die Tiefe. Auf diese Weise gelangte der Gnom in eine der größten Höhlen des Schlosses. Er sprang aus dem Korb und band das Seil fest, an dem er sich wieder hochziehen mußte. Es gab jedoch noch einen zweiten Ausgang aus diesen tiefer gelegenen Räumen, so daß Ugulesch auch dann von hier entkommen konnte, wenn der Fremde auftauchen und den Strick zerschneiden sollte. Ugulesch hoffte, daß er den zweiten Ausgang nicht zu benutzen brauchte, denn dort lauerten zahlreiche Gefahren. Der Zwerg rannte durch die Halle und stand wenig später vor dem versteinerten Drachen. Irgendwann in ferner Vergangenheit war dieses
gigantische Tier hier eingeschlossen und von den Felsen begraben worden. Ein natürlicher Prozeß (vermutlich ausgelöst von den in den Felsen verborgenen Rohkristallen) hatte das eingesperrte Wesen versteinern lassen. Der Drache ragte nur zu einem Teil aus den Felsen hervor, sein Hals reichte bis unter die Decke. Ugulesch hatte in mühevoller Arbeit eine Treppe in den Körper der Kreatur geschlagen. Sie reichte bis zum Rachen hinauf. Über diese Treppe gelangte er jetzt bis zum Maul des versteinerten Giganten. Er sah sich noch einmal in der Halle um. Nur die Treppe, die zum Maul hinaufführte, war mit großen Kristallen abgesichert. Der Zwerg erreichte das Innere des aufgerissenen Rachens. Zwischen den Zähnen kletterte er in den Schlund. Dort hatte er mit seinen Werkzeugen kleine Nischen geschaffen und sie mit Moos ausgepolstert. An diesen Stellen lagerten die wertvollsten Kristalle des Buckligen. Sie waren nicht besonders groß, aber besonders schön geschliffen und besaßen eine ungewöhnliche Leuchtkraft. Ugulesch sammelte ein paar davon in einen Beutel ein und befestigte diesen an seinem Umhang. Dann kroch er tiefer in den langen Hals hinein. Er mußte sich jetzt an beiden Seiten abstemmen, um nicht über die glatte Fläche in die Tiefe zu rutschen. Er hätte Tage gebraucht, um sich einen Weg aus dem Magen
des Drachen nach oben zu bahnen. Schließlich erreichte er die Stelle, von wo aus er den Backneck-Kristall sehen konnte. Das Leuchten dieses ungewöhnlichen Steines erhellte den gesamten Schlund. Vor Jahren hatte Ugulesch diesen Rohkristall geschliffen und zur Aufbewahrung hierher gebracht. Der Kristall war ihm jedoch aus den Händen geglitten und in die Tiefe gerutscht. Ugulesch trauerte diesem Kristall besonders nach, denn wenn man ihn in eine besondere Stellung brachte, konnte sein Licht auch dicke Felswände durchsichtig machen. Eines Tages würde Ugulesch diesen Kristall bergen. Im Augenblick war jedoch an eine solche Aktion nicht zu denken. Der Gnom mußte den Kampf mit dem Unsichtbaren aufnehmen. Noch einmal blickte Ugulesch in die Tiefe, dann wandte er sich ab und kehrte ins Maul zurück. Bevor er sich um den Fremden kümmerte, mußte er noch einen zweiten Besuch machen. Er mußte jenen besuchen, der sich nicht kleiner machen ließ. Dieser ungewöhnliche Gefangene mußte noch einmal überprüft und besser versteckt werden, damit er nicht durch einen Zufall in Dragons Hände fiel. Nacktes Entsetzen hatte den Atlanter befallen. Mit
äußerster Anstrengung schloß er die Augen. Die Strahlkraft des gefährlichen Kristalls schien so stark zu sein, daß sie nicht nur den Umhang, sondern auch Dragons Augenlider durchdrang und weiter wirksam blieb. Dragon spürte, daß seine Gliedmaßen schwerer wurden. Er gab jedoch nicht auf, sondern kämpfte verbissen gegen die unheimlichen Kräfte des geschliffenen Steines. Es gelang ihm, den Oberkörper zurückzubringen. Dann zog er die Arme nach. Obwohl das gefährlich war, ließ er sich fallen. Auf diese Weise gelang es ihm, seinen Kopf weiter aus dem Einflußbereich des Kristalls zu bringen. Mit unsicheren Griffen überzeugte er sich davon, daß sein Umhang noch richtig festsaß. Dann streckte er beide Arme aus. Seine Hände bekamen eine flache Stufe zu fassen, und er zog sich daran aus dem Gefahrenbereich. Das Blut kehrte nun auch in seine Beine zurück, schmerzhaft pulsierte es in den Adern. Dragon rollte bis zur Wand. Hier war er dank seines Umhangs geschützt. Er blieb erschöpft liegen und wartete darauf, daß die Kräfte in seinen Körper zurückkehrten. Er begriff, daß er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Er hatte die Kraft der größeren Kristalle unterschätzt. Auch sein Umhang konnte ihn vor diesen Steinen nicht
schützen, wenn er zu nahe an sie herankam. Das warf ein neues Problem für ihn auf. Ugulesch trug einen großen Hypnokristall auf der Brust. Dragon mußte davon ausgehen, daß er von diesem Stein beeinflußt werden konnte, sobald er den Zwerg körperlich angriff. Das machte die Ausführung seiner Pläne besonders kompliziert. Wie konnte er den Zwerg bezwingen, ohne sich in dessen unmittelbare Nähe zu begeben? Dragon dachte an Wurfgeschosse, Pfeil und Bogen und ähnliche Waffen. Steine, mit denen er nach Ugulesch werfen konnte, würden sich leicht finden lassen. Ob die Anfertigung komplizierterer Waffen möglich war, hing von den Dingen ab, die er hier unten noch finden würde. Dragon war froh, daß er auf ein überhastetes Eingreifen verzichtet hatte. Wahrscheinlich wäre er längst ein Mitglied der steinernen Runde, wenn er sich dazu hätte verleiten lassen. Das jüngste Ereignis war ihm eine Warnung. Er mußte auf eine Gelegenheit warten, die vollen Erfolg versprach. Da Ugulesch jetzt von der Anwesenheit eines Unsichtbaren wußte, erforderte das große Geduld. Der Atlanter richtete sich auf und kontrollierte seine Muskeln. Sein Körper gehorchte ihm wieder.
Dragon verließ den gefährlichen Raum. Es war sein Ziel, Lagerräume des Zwerges zu suchen und sich dort mit geeigneten Waffen auszurüsten. Seine Suche führte ihn in einen schmalen Gang, wo nur wenige Kristalle im Boden eingelassen waren. Dragon schloß daraus, daß hier nur selten Gefangene durchgeführt wurden. Das Plätschern von Wasser drang an sein Ohr. Er ging weiter und fand kurz darauf die Quelle des Zwerges. Das Wasser sprudelte in einem armdicken Strahl aus den Felsen. Es gelangte zunächst in die umgestülpten Oberteile Dutzender Menschenschädel und versickerte dann ringsum im Boden. Die halbierten Totenköpfe dienten Ugulesch als Behälter. Am Boden eines jeden dieser »Gefäße« lag ein kleiner, kunstvoll geschliffener Kristall. Dragon trat an die Quelle und trank direkt von der aus den Felsen quellenden Flüssigkeit. Neben dem Felsvorsprung, aus dem das Wasser kam, befand sich ein niedriger Gang. Einzelne Kristalle verbreiteten schwaches Licht. In gebückter Haltung ging Dragon weiter. Ugulesch kam in diesem Gang sicher ohne Schwierigkeiten voran, aber nicht sein großgewachsener Gegner. Von irgendwoher kam das Rauschen eines unterirdischen Flusses. Dragon nahm an, daß er direkt
zum Stillen See führte. Nach einiger Zeit verstummte der Lärm wieder. Dragon kam in einer mit Kristallen und Fellen geschmückten Halle heraus, die offensichtlich zu den privaten Räumen des Zwerges gehörte. Es gab einige bequeme Liegen und zwei kleine Feuerstellen. Ein süßlicher Duft hing in der Luft. Dragon vermutete, daß er von Speise herrührte, die Ugulesch sich an dieser Stelle anfertigte. Eine kurze Untersuchung zeigte dem Atlanter, daß beide Feuer erkaltet waren. Ugulesch schien seit längerer Zeit nicht hiergewesen zu sein. Dragon fand eine Anzahl besonders schöner Kristalle, aber sie schienen nur als Schmuckstücke zu dienen, denn von ihnen ging auch dann keine Wirkung aus, als Dragon sie vorsichtig in die Hand nahm. Trotz der vielen Gefangenen, die Ugulesch gemacht hatte, war der Gnom ein einsames Wesen. Dragon konnte sich vorstellen, daß der Bucklige völlig verbittert war. In Räumen wie diesen verkroch er sich wahrscheinlich, wenn er von der Einsamkeit übermannt wurde. Es war fast erstaunlich, daß Ugulesch seine Gefangenen nicht noch mit größerer Grausamkeit behandelte. In eigens dafür in den Fels geschlagenen Löchern bewahrte der Zwerg neben schönen Kristallen auch
andere Habseligkeiten auf. Aus der Verschiedenartigkeit der Gegenstände schloß Dragon auf ihre unterschiedliche Herkunft, was nur bedeuten konnte, daß es sich um Stücke handelte, die Ugulesch seinen Gefangenen weggenommen hatte. Zu Dragons Bedauern waren jedoch keine Waffen dabei. Dragon verließ den Raum, obwohl er hier weitere Aufschlüsse über das Verhalten des Gnomen hätte finden können. Doch das war jetzt zweitrangig. Es ging in erster Linie um Dragons Sicherheit. Dragon war überzeugt davon, daß Ugulesch genügend Einfluß auf seine Gefangenen besaß, um sie an der Jagd auf den Eindringling zu beteiligen. Früher oder später würde der Bucklige seine willenlosen Diener alarmieren. Aus einem Nebenraum klang das Rasseln von Ketten. Dragon fand den Durchgang, schob mit einer Hand den Fellvorhang zur Seite und blickte in einen weiteren Wohnraum des Zwerges. An einer Wand war ein blinder alter Mann angekettet. Er hockte auf einer breiten Liege. Neben ihm am Boden standen eine Kanne mit Wasser und eine Fruchtschale. Der Blinde hob aufmerksam den Kopf. Er schien die Anwesenheit eines Fremden zu spüren. Dragon kam vorsichtig näher. Er sah, daß die Augenhöhlen des Alten leer waren. Der Gefesselte
besaß keine Augen. Er schien nicht beeinflußt zu sein. »Wer ist da?« rief der alte Mann mit rauher Stimme. Er war sauber gekleidet. Trotzdem zeigte sein eingefallenes Gesicht Spuren von Entbehrungen und Angst. Dragon fragte sich, wie dieser Mann in die Gewalt des Zwerges geraten sein mochte. War diesem Unglücklichen erst im Felsenschloß das Augenlicht geraubt worden? Dragon konnte sich nach allem, was er bisher gesehen und erlebt hatte, nicht vorstellen, daß Ugulesch solche Greueltaten vollbringen konnte. Dragon sah sich um und lauschte. Außer dem Blinden schien niemand in der Nähe zu sein. »Hier ist Dragon«, sagte er und faßte nach einer Hand des Alten. »Ich gehöre nicht zu den Beeinflußten des Zwerges. Sage mir, wer du bist.« Der Alte ließ sich zurücksinken. Die Ketten rasselten. Er brachte sie zur Ruhe, indem er die Arme anwinkelte und eng gegen den Körper preßte. »Ich bin Wor von Dondordien«, sagte er. In seinem Gesicht ging eine Veränderung vor, die Lippen wurden schmal und blutleer. »Vielmehr das, was von Wor von Dondordien noch übrig ist.« Die Sprache des Mannes verriet seine Herkunft. Er gehörte zu den Stämmen, die am Meer des Ostens lebten. Wahrscheinlich war er ein Adeliger. »Wie kommst du hierher?« wollte Dragon wissen. »Ich war mit einer Karawane unterwegs, um eine
Botschaft meines Königs nach Lu‘ur zu bringen«, berichtete Wor von Dondordien. »Eine Tochter meines Königs ist mit einem Sohn des Arkten von Lu‘ur vermählt. Mein König braucht Hilfe gegen einen aufrührerischen Stamm. Auf dem Wege nach Lu‘ur wurden wir von Räubern überfallen. Nur meinem Diener und mir gelang die Flucht. Mein Diener schlug mich nieder, während ich schlief und brannte mir mit einer Fackel beide Augen aus. Dann verschwand er mit allen Geschenken, die für den Arkten von Lu‘ur bestimmt waren.« Der Alte holte tief Atem. »Tagelang lag ich da und wartete auf den Tod. Dann fand mich Ugulesch, der umherwanderte und auf der Suche nach Steinen war. Er brachte mich mit hierher. Damit ich kein Unheil anrichten kann, hat er mich festgekettet, denn der Zauber seiner Kristalle hat keinen Einfluß auf mich. Er behandelt mich jedoch nicht schlecht. Eines Tages, so hat er mir versprochen, will er mir Gelegenheit geben, nach Dondordien zurückzukehren.« Wor schüttelte traurig den Kopf. »Ich glaube nicht mehr an eine Rückkehr in meine Heimat. Dazu bin ich schon zu alt.« »Wenn dir jemand helfen kann, dann bin ich es«, sagte Dragon. »Ich bin das einzige freie Wesen in Uguleschs Felsenschloß. Du mußt mir sagen, was du von Ugulesch weißt.«
»Er ist einsam und verbittert«, berichtete Wor. »Oft höre ich ihn stundenlang drüben in seinem Schlafgemach weinen.« »Solche Auskünfte helfen mir wenig«, bedauerte Dragon. »Ich muß Einzelheiten über seine Gewohnheiten wissen.« Wor von Dondordien dachte angestrengt nach. Dragon befürchtete, daß der Verstand dieses Mannes nicht mehr einwandfrei funktionierte. Das war bei allem, was der Botschafter durchgemacht hatte, nicht erstaunlich. »Ab und zu bringt er jemand mit in seine Privaträume«, sagte Wor schließlich. »Es scheint sich nicht um einen der üblichen Gefangenen zu handeln. Ugulesch ist sehr freundlich zu diesem Wesen. Er nennt es Erbolix.« »Erbolix«, wiederholte Dragon nachdenklich. Der Klang des Namens weckte uralte Erinnerungen in ihm, aber er durfte keine falschen Schlüsse ziehen. »Worüber unterhalten sich die beiden?« erkundigte er sich. »Ich kann nur Ugulesch verstehen«, sagte Wor. »Die Stimme des anderen ist leiser als die eines Kindes.« »Und was sagt Ugulesch?« »Ich habe ein paarmal gehört, wie er diesen Erbolix um Freundschaft anflehte«, erwiderte der Blinde. »Erbolix scheint jedoch auf diese Bitten ablehnend zu
reagieren. Zwischen diesen beiden besteht ein rätselhaftes Verhältnis. Erbolix scheint Uguleschs Gefangener zu sein, andererseits ist Ugulesch von Erbolix abhängig. Mir fällt noch ein, daß Ugulesch diesen Gefangenen oft den Kleinen nennt, der sich nicht kleiner machen läßt.« Dragon hatte gespannt zugehört. Alles deutete darauf hin, daß sich irgendwo im Felsenschloß des Buckligen ein echter Troll aufhielt. Eine Zeitlang stand Ugulesch vor dem dunklen Raum und rührte sich nicht. Als er sicher sein konnte, daß niemand in der Nähe war, trat er durch die Lichtrampe der Täuschkristalle. Sie waren auf gleicher Höhe auf beiden Seiten des Korridors an den Wänden befestigt. Ugulesch hatte sie so geschliffen, daß ihr Licht optische Täuschungen hervorrief. Er benutzte diese beiden wertvollen Kristalle, um den dunklen Raum vor den Blicken anderer Wesen abzuschirmen. Ein Nichteingeweihter sah an der Stelle, wo sich ein Durchgang befand, ein Stück nackte Felswand. Ugulesch schlüpfte blitzschnell in den dunklen Raum. Das Licht seines Kristallumhangs reichte aus, um die Umgebung zu erhellen. Auf einem winzigen Fellbett lag ein fußgroßes Wesen und schnarchte. Es hatte ein zerknittertes Gesicht mit einer roten Knotennase und wulstigen
Lippen. Die Haare hingen dem Schlafenden wirr im Gesicht. Dieses Wesen war wesentlich kleiner als Ugulesch. Der Bucklige trat an das winzige Bett und rüttelte es. Das Männlein hörte abrupt auf zu schnarchen, öffnete erst ein Auge, dann beide und blinzelte zu Ugulesch empor. Sein Gesicht verfärbte sich. »Wie kannst du es wagen, mich zu wecken?« schrie es empört. Als es sich aufrichtete, wurden die Stricke sichtbar, mit denen es an das Bettgestell gefesselt war. »Ich habe ausgezeichnet geschlafen und einen guten Traum gehabt. Du kannst froh sein, daß ich in dieser Umgebung keine Wunder vollbringen kann, sonst hätte ich deine Hände jetzt in Steinklumpen verwandelt.« Bestürzt blickte Ugulesch auf den tobenden Zwerg hinab. »Ich wollte dich nicht in deinen Träumen stören, Erbolix«, beteuerte er zerknirscht. »Aber es ist etwas geschehen, worüber ich mit dir sprechen muß.« Erbolix verdrehte die Augen. »Ich wünsche mir nur einen winzigen Sonnenstrahl, daß ich davonschweben kann. Du kannst froh sein, daß ich die Lichtstrahlen deiner Kristalle nicht benutzen kann.« Inbrünstig fügte er hinzu: »Aber eines Tages werde ich deinem Treiben ein Ende setzen.« Ugulesch sank vor dem Bettchen zu Boden.
»Warum können wir nicht Freunde sein?« jammerte er. »Ich wäre schon zufrieden, wenn wir ein Bündnis schließen können. Schließlich sind wir miteinander verwandt.« »Verwandt?« wiederholte Erbolix ungläubig. »Man ist entweder ein Troll oder nicht! Es gibt keine anderen Möglichkeiten.« Er maß Ugulesch mit einem schiefen Blick. »Jedenfalls hast du nichts mit einem Troll gemeinsam!« »Mein Vater war ein echter Troll!« »Ein schamloser Lustmolch war er!« schrie Erbolix. »Wie konnte er es wagen, sich mit einem Erdenmädchen einzulassen? Er hätte wissen müssen, was bei einer solchen Verbindung herauskommt.« »Du kannst mich nicht dafür verantwortlich machen!« »Das ist allerdings richtig«, gab Erbolix zu. Er schien einigermaßen besänftigt zu sein. »Für deine Taten jedoch bist du verantwortlich. Wenn du alle Gefangenen freigibst und mir die Freiheit schenkst, werde ich vielleicht vergessen, was du getan hast. Aber das ist deine einzige Chance, meine Anerkennung zu finden.« Ugulesch schüttelte entschieden den Kopf. Er kannte diese Gespräche. Bisher hatten der Troll und er sich noch nie einigen können. Jeder beharrte auf seinem
Standpunkt. Ugulesch versuchte alles, um die Freundschaft des Trolls zu gewinnen, doch er wußte, daß Erbolix sofort fliehen würde, wenn er Gelegenheit dazu erhielt. »Ich will nicht allein in meinem Felsenschloß leben«, sagte er. »Ich bin Herr über die Kristalle. Hier ist mein Reich, das ich mir mühsam aufgebaut habe. Ich brauche Diener, die meine Befehle ausführen.« »Willenlose Sklaven«, sagte der Troll angeekelt. »Ich habe dir deinen Willen nicht genommen«, erinnerte der Bucklige. Der Troll schwieg. Er ließ sich zurücksinken und verschränkte die Ärmchen hinter dem Kopf. Ugulesch kannte diese demonstrative Haltung. Sie bedeutete, daß Erbolix genug von dieser Unterhaltung hatte und seine Ruhe haben wollte. »Vielleicht änderst du deine Meinung, wenn ich dir berichte, was geschehen ist«, sagte Ugulesch. »Ein Fremder, der sich unsichtbar machen kann, ist in mein Schloß eingedrungen und schleicht überall herum. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß er auch immun gegen die Strahlung meiner Kristalle ist.« Erbolix kam wieder hoch. Er sah Ugulesch mit neuem Interesse an. »Geht es dir endlich an den Kragen?« fragte er zufrieden. »Ich hoffe nur, daß der Fremde dir den Schädel einschlägt.«
Ugulesch war so enttäuscht, daß seine Stimme versagte. »Wenn es geht, werde ich dem Unbekannten helfen«, erklärte Erbolix. »Auf eine solche Gelegenheit warte ich schon seit meiner Gefangennahme.« Ugulesch ballte die Fäuste. Fast hätte er die Beherrschung verloren und wäre auf den Troll losgegangen. Doch seine Ehrfurcht vor einem echten Vertreter des von ihm so geachteten Volkes war zu groß. »Ich hatte gehofft, daß wir im Augenblick der Gefahr zusammenhalten würden«, sagte er tonlos. »Wofür hältst du mich?« schrie Erbolix. »Für einen Seelenverkäufer? Verschwinde endlich und laß mich allein.« Ugulesch war mit großen Hoffnungen in den dunklen Raum gekommen. Er nannte die Unterkunft des Trolls so, weil hier kein einziger Kristall hing. Insgeheim befürchtete Ugulesch nämlich noch immer, daß der Troll die Macht besaß, die Wirkungen eines geschliffenen Steins zu manipulieren. Das Verhalten des Trolls war niederschmetternd für Ugulesch. Er fühlte sich betrogen und verlassen. Hatte er Erbolix nicht immer anständig und freundlich behandelt? Er hatte alles für den Troll getan. Nur die Freiheit, die Erbolix immer wieder für sich forderte, konnte er ihm nicht geben.
Erbolix war der einzige wirklich kleinere Mensch als Ugulesch. Das Bedürfnis, sich diese Tatsache durch den Anblick des Trolls immer wieder zu vergegenwärtigen, übertraf alle anderen Wünsche Uguleschs. »Ich werde den Eindringling auch ohne deine Hilfe finden und töten«, versicherte Ugulesch zornig. Erbolix antwortete nicht ... »Dieser Dragon wird noch bedauern, daß er in mein Reich eingedrungen ist!« Die Augen des Trolls blitzten. Er war plötzlich hellwach. »Wie nennt sich dieser Fremde?« »Dragon«, wiederholte Ugulesch. »Dragon!« Der Troll dehnte das Wort. Er sprach es mit einer seltsamen Betonung aus, als wäre es Bestandteil einer fremden Sprache. Unwillkürlich wurde Ugulesch an seinen Vater erinnert, der früher oft in einer seltsamen Sprache geredet hatte. Die »alte Sprache« hatte er sie genannt. »Dragon«, sagte Erbolix noch einmal. »Bist du sicher, daß du dich nicht getäuscht hast?« »Warum interessierst du dich so dafür?« fragte Ugulesch mißtrauisch. »Ich vermute, daß du etwas über den Fremden weißt und es mir verheimlichst. Ich warne dich! Ich werde alle Gefangenen töten, wenn ich merken sollte, daß du mich hintergehst.« Ugulesch hatte sich so in Wut und Enttäuschung
hineingesteigert, daß er die Drohung, in dem Augenblick, da er sie aussprach, auch ernst meinte. »Ich glaube, der Name erinnert mich an irgend etwas«, sagte Erbolix. »Ich traue dir nicht«, betonte Ugulesch. »Aber ich werde dir den Kopf des Fremden bringen, das wird dein Erinnerungsvermögen stärken.« »Wenn er der ist, für den er sich ausgibt, wirst du ihn niemals besiegen können!« schrie Erbolix, der jetzt ebenfalls die Kontrolle über sich verlor. Ugulesch wandte sich abrupt ab und stürmte aus dem dunklen Raum hinaus. Er würde es ihnen allen zeigen, wozu er fähig war.
5.
»Kannst du mir sagen, wo ich diesen Erbolix finden kann?« fragte Dragon den Blinden. »Nein, aber seine Unterkunft muß in der Nähe sein. Ugulesch kam immer schnell zurück, wenn er Erbolix wegbrachte.« »Ich werde zurückkommen und mich um dich kümmern«, versprach Dragon dem Botschafter. Wor von Dondordien schien sich keinen Illusionen
hinzugeben, denn er lächelte traurig. »Ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Das Leben, das ich vor meiner Erblindung führte, wird sowieso für alle Zeiten ein Traum bleiben. Ich wünschte, ich könnte hier sterben.« Dragon konnte seine Erschütterung nicht verbergen. »Trotzdem werde ich zurückkommen«, versicherte er noch einmal, dann verließ er den Raum. Das Rasseln von Wors Ketten verfolgte ihn bis tief in den nächstgelegenen Korridor. Seit er seine Erinnerung zurückgewonnen hatte, war Dragon mit der Frage beschäftigt gewesen, ob es noch echte Trolle auf der Erde geben mochte. Nun bestand die Hoffnung, daß er diese Frage beantworten konnte. Ugulesch war kein echter Troll, aber er hatte zweifellos Trollblut in den Adern. Wenn es also Spuren gab, die zu einem echten Troll führten, dann mußten sie hier im Felsenschloß zu finden sein. »Erbolix«, sagte Dragon leise. Das war ein typischer Trollname, wie etwa Flotox oder Vartosix. Trolle lebten sehr lange. Es war möglich, daß ein echter Troll noch viele Dinge von der alten Welt wußte. Dragon war glücklich darüber, daß er immer Anzeichen dafür fand, daß mit dem Untergang von Atlantis nicht die gesamte alte Welt von der Erde
verschwunden war. Es gab Nachkommen der verschiedensten Arten. Atlantis und seine Bewohner lebten in vielen Lebewesen und Dingen fort. Das machte Dragon Hoffnung. Sein Ziel war es, die alte Ordnung wiederherzustellen. Dazu war es nötig, daß er jenen vernichtete, der die Katastrophe ausgelöst hatte: Cnossos, der Balamiter. Ein Troll hätte Dragon bei seinem Vorhaben eine große Hilfe sein können. Doch der Weg zu diesem Troll, darüber war Dragon sich im klaren, führte nur an Ugulesch vorbei. Dragons Blicke suchten nach Eingängen zu weiteren Räumen. Er wußte, daß er bisher nur einen Teil des Felsenschlosses durchsucht hatte. Die Frage war jetzt, wo Erbolix gefangengehalten wurde. Ein Troll war so klein, daß man ihn überall verbergen konnte. Dragon erreichte eine Stelle, wo der Gang sich verbreiterte. Von der Decke hingen Dutzende von Kristallen herab. Sie klebten an Schnuren und befanden sich alle in einer Höhe. Sie strahlten in den verschiedensten Farben. Dragon fragte sich, warum Ugulesch sie an dieser Stelle in so seltsamer Weise aufbewahrte. Behutsam berührte er einen der Kristalle. Die Schnur, an der der Stein hing, begann zu schwingen.
Der Kristall berührte den Stein, der ihm am nächsten hing. Dabei entstand ein langanhaltender hoher Ton. Dragon trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch er hatte offenbar einen nicht mehr zu bremsenden Prozeß ausgelöst. Nacheinander begannen sich alle Kristalle zu bewegen und prallten gegeneinander. Sie erzeugten dabei die verschiedenartigsten Töne, so daß eine Art unheimliche Musik entstand. Das sanfte Klirren steigerte sich allmählich und tat Dragon in den Ohren weh. Dadurch gewarnt, zog er sich wieder in den Gang zurück, aus dem er gerade gekommen war. Doch der Lärm verfolgte ihn, der Gang erwies sich als Trichter, in dem die von den Kristallen erzeugten Geräusche noch verstärkt wurden. Dragon preßte beide Hände gegen die Ohren und taumelte rückwärts. Er befürchtete, daß das Klirren der Kristalle weithin zu hören war bis in die entferntesten Winkel des Felsenschlosses. Nun bestand die Gefahr, daß Ugulesch aufmerksam gemacht wurde. Der Zwerg würde sofort wissen, wer für diesen Lärm verantwortlich war, denn Dragon konnte sich nicht vorstellen, daß beeinflußte Gefangene des Buckligen in diesen Teil des Felsenschlosses kamen. Die Töne kamen jetzt schriller. Dragon begann zu rennen. Der Lärm bereitete ihm Schmerzen. Er hatte
nur noch den Wunsch, möglichst schnell aus dem Einflußbereich der »sprechenden« Kristalle zu gelangen. Während er durch den Gang stürmte, kümmerte er sich kaum noch um seine Umgebung. Plötzlich tauchten vor ihm ein paar Gestalten auf. Es waren Gefangene des Krüppels. Sie schienen durch den Lärm der Kristalle angelockt zu werden. Das Klirren und Schwingen schien ihnen nichts auszumachen. Vielleicht, dachte Dragon, handelte es sich um ein von Ugulesch konstruiertes Alarmsystem, das eigens für die Zusammenrufung aller Gefangenen geschaffen worden war. Die nächsten Ereignisse schienen diese Vermutung zu bestätigen, denn aus allen Räumen und Korridoren in der Umgebung tauchten jetzt Frauen und Männer auf. Bei allen Gruppen befanden sich Normalgewachsene und Geschrumpfte. Der Korridor vor Dragon war verstopft von langsam vorwärtsdrängenden Gestalten. Eine Frau stieß gegen Dragon, aber sie beachtete ihn überhaupt nicht. Da sie ihn nicht sehen konnte, nahm sie vielleicht an, daß sie von einem neben ihr gehenden Mann einen Stoß erhalten hatte. Dragon sah, daß die Gefangenen ihre Köpfe erhoben hatten, als müßten sie angestrengt lauschen. Dabei hätte ihnen der Lärm in den Ohren weh tun
müssen. Aber vielleicht reagierten Beeinflußte und Normale unterschiedlich auf das Klirren der Kristalle. Dragon zwängte sich in eine Nische. Die Gefangenen unterhielten sich nicht miteinander. Ihre Blicke waren starr geradeaus gerichtet. Dann hörte der Atlanter die Stimme Uguleschs, die das Klirren der Kristalle noch übertonte. »Zurück!« kreischte der Gnom. »Alles zurück. Ich habe euch nicht zu einer Versammlung gerufen. Das ist ein Irrtum.« Doch der Ruf der Kristalle war stärker. »Das war der Fremde!« schrie Ugulesch. Er stieß eine Serie von Verwünschungen aus. Plötzlich verstummten die Kristalle. Dragon nahm an, daß Ugulesch sie zur Ruhe gebracht hatte. Unter den gegebenen Umständen war Dragon dem Herrn der Kristalle für sein Eingreifen dankbar. In den Ohren des Atlanters schwangen noch immer die hohen Töne nach. »Und jetzt«, klang Uguleschs Stimme auf, »hört mir gut zu.« Er sprach zweifellos zu seinen Gefangenen, die aus allen Teilen des Schlosses herbeigeeilt waren. »Da wir uns schon hier versammelt haben, kann ich euch auch neue Befehle erteilen! Ein Fremder ist in mein Schloß eingedrungen. Er ist unsichtbar und außerdem immun gegen die Kristalle. Er muß
irgendwo in der Nähe sein. Sucht alles ab. Tastet euch an Wänden entlang und richtet euer Augenmerk vor allem auf kleine Räume und Nischen. Wir können ihn nicht sehen, aber man kann ihn spüren. Sucht ihn.« Dragon wußte, daß er sich in großer Gefahr befand. Alle Räume in seiner unmittelbaren Umgebung waren von Gefangenen besetzt. Das galt auch für die Verbindungsgänge. »Vorwärts!« befahl Ugulesch noch einmal. »Sucht den unsichtbaren Fremden.« Die Gefangenen, die nach dem Verstummen der Kristalle zur Ruhe gekommen waren, begannen sich wieder zu bewegen. Mit ausgestreckten Armen tasteten sie sich durch den Gang, wo sich Dragon aufhielt. Der Mann von Atlantis warf sich zu Boden und kroch zwischen zwei Männer hindurch. Er hielt sich inmitten des Ganges, denn hier war er im Augenblick sicherer als dicht an den Wänden. So schnell es ging entfernte er sich von den Gefangenen. Als er sich schon in Sicherheit wähnte, tauchte Ugulesch am anderen Ende des Korridors auf. Der Zwerg hielt zwei rotleuchtende Kristalle vor die Augen gepreßt und bewegte sich langsam auf Dragon zu. Dragon blieb unwillkürlich stehen. Er beobachtete den Krüppel und überlegte, was dieser vorhaben konnte. »Ich sehe ihn!« kreischte Ugulesch in diesem
Augenblick los. »Ich kann ihn jetzt sehen.« Die Zielstrebigkeit, mit der er auf Dragon zukam, ließ den Atlanter nicht an der Wahrheit des Ausrufs zweifeln. Der Zwerg blickte durch die beiden geschliffenen Kristalle. Durch sie konnte er Dragon sehen, obwohl dieser den Tarnumhang des Namenlosen trug. Das Triumphgeheul des Gnomen gellte durch den Gang. Dragon war unschlüssig. Sollte er jetzt, da Ugulesch ihn entdeckt hatte, angreifen oder die Flucht ergreifen? Er sah, daß Ugulesch einen Arm sinken ließ. Der Zwerg beobachtete ihn nur noch durch einen Kristall. Das freie Auge hatte er zugekniffen. Dadurch wurde sein Gang unsicher. Mit der freien Hand nestelte der Herr der Kristalle an einem Beutel, den er an seinem Umhang befestigt hatte. Er zog einen zitronengroßen Stein hervor und hob ihn hoch. Ein Strahl reiner Energie ging von diesem Stein aus und bohrte sich vor Dragon in den Boden. Das Gestein wurde regelrecht verdampft. Dragon sprang zurück. Er konnte froh sein, daß der Zwerg nur ein Auge benutzen konnte. Das hinderte ihn am genaueren Zielen. Auf Atlantis hatte Dragon oft genug die Wirkung von Energiewaffen erlebt, aber er hatte es für
unmöglich gehalten, daß er in der neuen Welt einmal damit konfrontiert werden könnte. Der Kristall verschleuderte den zweiten Blitz. »Ich werde dich verbrennen!« schrie Ugulesch wild. »Du wirst ausgelöscht.« Eine Serie von Lichtblitzen zischte über Dragon hinweg und riß große Locher in die Wand. Dragon besann sich nicht länger. Ein Angriff wäre unter diesen Umständen einem Selbstmord gleichgekommen. Dragon suchte die Umgebung ab. Seine Blicke fanden einen Seitengang. Der Atlanter hatte keine Wahl. Mit einem Satz brachte er sich aus der Reichweite der gefährlichen Waffe. »Du entkommst mir nicht!« schrie Ugulesch. Dragon glaubte ihn vor sich zu sehen, wie er mit größter Eile durch den Gang humpelte. Doch der Schnelligkeit des Atlanters war der Zwerg nicht gewachsen. Dragon erreichte den nächsten Raum, noch bevor Ugulesch um die Ecke bog. »Wo bist du?« hörte er Ugulesch rufen. »Du Feigling, warum versteckst du dich?« Der Raum, in dem Dragon sich jetzt befand, diente dem Zwerg als Lager für Tierfelle. Anhand der Vielzahl der Felle erkannte Dragon, daß auch oft Tiere in die Hypnofalle vor dem Felsenschloß gingen. Zwischen den Fellstapeln gab es schmale
Durchgänge. Dragon zwängte sich hindurch. Er entdeckte zwei Ausgänge auf der anderen Seite des Raumes. Er wählte den linken. Bevor Ugulesch das Fellager betreten hatte, war Dragon bereits wieder verschwunden. Der Atlanter hörte Uguleschs enttäuschten Wutschrei. »Ich finde dich wieder!« Hinter Dragon blitzte es auf. Offenbar hatte Ugulesch in seiner Verwirrung die Kontrolle über den gefährlichen Stein verloren und einen Blitz abgeschossen. Dragon kümmerte sich nicht darum. Er gelangte in einen Raum, in dem sich mehrere weibliche Gefangene aufhielten. Auch Mainala war darunter. Dragons Blicke suchten Iwa, aber er konnte sie nicht finden. Mit wenigen Schritten erreichte Dragon die Gauklerin. An ihrem starren Blick erkannte er, daß Mainala noch immer unter dem Einfluß der Kristalle stand. Dragon warf ihr ein Teil seines Umhangs über den Kopf. Sofort wurde das Mädchen lebhaft. Sie erkannte ihn. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte der Atlanter hastig. »Ugulesch ist hinter mir her, und er besitzt tödliche Waffen. Aber ich werde ihn bezwingen.« »Was ... was ist überhaupt passiert?« fragte das Mädchen. Dann klammerte sie sich furchtsam an ihn.
»Nimm mich mit, Dragon! Laß mich hier nicht allein zurück.« Dragon machte sich gewaltsam frei. »Ich komme wieder!« versprach er. »Ich werde alle Gefangenen befreien und dafür sorgen, daß Ugulesch niemand mehr in seine Falle locken kann.« Er zog das Gewand zurück und sah, daß Mainala sofort wieder unter den Einfluß der überall an den Wänden befestigten Kristalle geriet. Dragon rannte weiter. Er stieß in ein Gewirr zahlreicher schmaler Gänge vor. Eine Zeitlang irrte er darin umher. Von Ugulesch war nichts mehr zu sehen. Nur seine Kristalle hingen überall. Dragon atmete erleichtert auf, als er wieder einen größeren Raum vor sich sah. Er wollte schon weitergehen, als eine feine Stimme sagte: »Du mußt tatsächlich blind sein! Mußt du erst auf mich treten, bevor du mich siehst?« Dragon blieb wie angewurzelt stehen. Diese Stimme! So sprach nur ein Troll! Dragon drehte sich langsam um die eigene Achse, aber er sah nur nackte Felsen, angestrahlt vom blauroten Licht zahlreicher Kristalle. Er hörte den Troll kichern. »Der Sohn des Urrodal und Enkel des berühmten Flotox verlacht dich! Nichts, was ich von Dragon
gehört habe, scheint der Wahrheit zu entsprechen. Du bist blind und ängstlich.« Ein Troll! jubelten Dragons Gedanken. Ein echter Troll, zudem noch ein Nachkomme von Flotox. »Worauf wartest du noch?« erklang die Stimme erneut. »Es wird Zeit, daß du mich ins Freie bringst. Sobald ich außerhalb des Felsenschlosses bin, werde ich ein paar Wunder vollbringen, daß dieser Ugulesch das Atmen vergißt.« »Wo bist du?« fragte Dragon. »Du mußt zwischen den beiden Kristallen hindurchtreten, die in gleicher Höhe an den Felsen befestigt sind, dann kannst du mich sehen. Ugulesch hat sie angebracht, um zu verhindern, daß ich von den anderen Gefangenen gesehen werde. Diese beiden Steine erzeugen ein Trugbild.« Dragon entdeckte die von Erbolix beschriebenen Kristalle. Er trat zwischen sie. Es war, als hätte ihm jemand mit voller Wucht gegen den Kopf geschlagen. Er stürzte zu Boden und schrie auf. »Was ist passiert?« rief der Troll bestürzt. Dragon richtete sich auf. Seine Hände tasteten über eine unsichtbare Wand, dann befühlte er seinen Kopf. »Eine Barriere«, sagte er mühsam. »Eine unsichtbare Barriere. Ugulesch hat sie als zusätzliche Sicherung
angebracht. Nur er kann hier vorbei.« »Du darfst nicht aufgeben!« ermahnte ihn der Troll. »Es muß einen Weg geben.« »Kannst du mich sehen?« fragte Dragon. »Nur hören«, erwiderte Erbolix. »Ich kann dir nicht helfen. Du mußt dieses Problem selbst lösen. Vielleicht ist es nur eine Felsenwand, die dir im Weg ist.« Dragon konnte nicht riskieren, seinen Umhang abzulegen. Er wäre sofort in den Einfluß der zahlreichen Kristalle geraten. Dragon stand wieder auf den Beinen. Seine Hände glitten über die Barriere. Sie war glatt wie poliertes Gestein und fühlte sich warm an. Es konnte sich nur um eine Energiemauer handeln. Ugulesch hatte sie mit Hilfe seiner Kristalle errichtet. »Es gibt vielleicht einen Weg«, überlegte Dragon laut. »Ich muß herausfinden, welche Kristalle die Barriere aufrecht erhalten. Wenn ich sie entferne, bricht das Hindernis vielleicht zusammen.« »Worauf wartest du dann noch?« ermunterte ihn der Troll. »Ugulesch kann jeden Augenblick hierher zurückkommen, dann ist es zu spät. Wenn er merkt, daß du mein Versteck entdeckt hast, wird er mich an einen anderen Platz bringen.« Dragon bewegte sich an der Barriere entlang, bis er die Felswand erreicht hatte. Dort waren mehrere Steine befestigt. Dragon berührte sie nacheinander mit der
Fingerspitze, denn er wollte vor unangenehmen Überraschungen sicher sein. Dann brach er den ersten Kristall heraus. Die Barriere blieb. Dragon zögerte nicht, weitere Steine von den Felsen zu lösen. Sie waren mit einer klebrigen Masse daran befestigt und leicht zu entfernen. Plötzlich verschwand die Felswand an Dragons rechter Seite. Der Atlanter konnte in einen kleinen Raum blicken. Was Dragon zuerst auffiel, war, daß sich dort kein einziger Kristall befand. Dann sah er den Troll. Erbolix war ein fast genaues Ebenbild von Flotox. »Ich kann dich jetzt sehen«, sagte Dragon. Die Erinnerung an Atlantis überwältigte ihn und ließ ihn verstummen. »Du bist gerührt«, stellte Erbolix fest. »Aber für Gefühlsduselei haben wir keine Zeit. Ich kann mir vorstellen, daß mein Anblick einen ungeheuren Eindruck auf dich macht.« »Gib nicht so an!« verwies ihn Dragon. »Du hast dich von Ugulesch einfangen lassen. Das spricht weder für deine Fähigkeiten noch für deine Schlauheit.« Erbolix hüpfte vom Bett. Zum erstenmal sah Dragon die Stricke, mit denen der Troll an das Bettgestell gefesselt war. »Ich sehe nur, daß wir uns beide im Felsenschloß
des Buckligen befinden«, erwiderte Erbolix. »Ich kam freiwillig herein, um meinen Freunden zu helfen«, sagte Dragon. Er wurde nachdenklich. »Ohne den Umhang des Namenlosen wäre ich allerdings verloren gewesen.« Erbolix erbleichte. Er schien bestürzt zu sein. »Was hast du?« fragte Dragon. »Nichts ... es ist nichts!« beteuerte Erbolix hastig. Doch Dragon ließ sich nicht täuschen. Die Erwähnung des Namenlosen war nicht ohne Eindruck auf Erbolix geblieben. »Was weißt du von dem Namenlosen?« fragte Dragon direkt. »Nicht viel«, antwortete der Troll widerstrebend. »Aber es ist gefährlich, sich mit den endlosen Höhlen zu beschäftigen. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie einer meiner Freunde darin verschwand und nie mehr zurückkam.« Die endlosen Höhlen! dachte Dragon. Er selbst hatte zahlreiche Menschen in einer seltsamen Öffnung verschwinden sehen. Allerdings hatte der Namenlose einen anderen Namen dafür gehabt. »Man soll keine Geschäfte mit der Ewigkeit machen«, fuhr Erbolix fort. »Ich glaube, daß jeder, der sich mit einem Namenlosen einläßt, dafür teuer bezahlen muß.« »Bisher hatte ich nur Vorteile von dieser
Begegnung!« »Schon möglich«, meinte der Troll knapp. Das Thema war ihm sichtlich unangenehm. Dragon besann sich auf seine vordringliche Aufgabe. Nachdem er noch ein paar Steine von den Felsen gelöst hatte, brach die Barriere zusammen. Er konnte Erbolix‘ Gefängnis betreten. »Da bist du ja endlich«, sagte Erbolix ungnädig. »Du machst soviel Lärm, daß Ugulesch dich auch vom anderen Ende der Welt hören könnte.« »Ich bewege mich fast nur auf Zehenspitzen«, versetzte Dragon. »Binde mich los!« befahl der Troll. »Es wird Zeit, daß ich aus diesem Käfig herauskomme.« Dragon, der sich noch gut an die Unverschämtheiten von Flotox erinnerte, blieb unbeeindruckt. »Wir wollen zunächst einmal bestimmen, wer von uns beiden die Befehle gibt«, sagte er gelassen. »Ich bin der Anführer meiner Gruppe. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn du in Zukunft an meiner Seite kämpfen willst.« Erbolix schüttelte sich und spie auf den Boden. »An deiner Seite kämpfen? Bin ich denn verrückt?« »Du und ich – wir gehören noch zur alten Welt«, erinnerte Dragon. »Wir sind aufeinander angewiesen. Die neue Welt ist vom Untergang bedroht, solange Cnossos auf ihr herrscht.«
Erbolix strich sich über sein spitzes Kinn. »Vielleicht«, sagte er herablassend, »erklärte ich mich bereit, eine Art lockeres Bündnis mit dir einzugehen. Doch ich muß erst meditieren, um darüber entscheiden zu können.« Dragon wandte sich von ihm ab und trat in den Hauptraum hinaus. »Dann meditiere!« empfahl er dem Troll. »Ich komme gelegentlich wieder vorbei, um mir anzuhören, was dabei herausgekommen ist.« »Halt, du weißhäutiger Riesenaffe!« schrie der Troll. »Ich bin noch immer festgebunden.« Dragon grinste. Dann fiel ihm ein, daß der Troll ihn ja nicht sehen konnte. »Ich stelle die Bedingungen«, sagte Dragon. »Du befolgst meine Befehle. Dafür ernenne ich dich zu meinem Berater.« »Pah!« machte der Troll. »Niemand hat je davon gehört, daß ein echter Troll einen Riesenaffen beraten hätte. Wir sind Drachenberater. Leider blieb meine Suche nach den Drachen bisher erfolglos.« »Ich weiß, wo die Drachen sind«, verkündete Dragon. »Sie haben mir bei meinen Kämpfen gegen den Balamiter schon oft geholfen.« Der Troll sprang vom Bett. Er vergaß seine Fesseln und wollte aus dem Raum stürmen. »Du weißt, wo die Drachen sind?«
»Ja«, sagte Dragon. »Du lügst!« Dragon trat wieder in das Gefängnis, beugte sich zu dem Troll hinab und versetzte ihm einen Klaps auf das winzige Hinterteil. Der Troll heulte protestierend auf. »Das war dafür, daß du mich einen Lügner genannt hast«, erklärte Dragon. Er schlug abermals zu. »Und das galt deinem frechen Benehmen.« Erbolix versuchte, ihm in die Hand zu beißen, doch das gelang ihm nicht. »Sobald ich frei bin, werde ich meine gesamte Wunderkraft auf dich konzentrieren«, drohte er. »Zunächst einmal werde ich dir schwarze Warzen ins Gesicht zaubern. Dann lasse ich dir die Haare ausfallen und verschaffe dir gelbe Zahnstummel. Keine Frau wird dich mehr ansehen.« Dragon riß die Stricke vom Bettgestell und befreite den Troll von den Überresten der Fesseln. Er zog ihn unter den Umhang. Erbolix konnte ihn sehen. »Hm!« machte der Troll zögernd. »Eigentlich siehst du auch ohne schwarze Warzen schon häßlich genug aus.« »Genug geredet«, versetzte der Atlanter. »Jetzt müssen wir Ugulesch unschädlich machen.« »Immer der Reihe nach«, sagte das Männlein. »Zunächst einmal wirst du mich ins Freie bringen,
damit ich meine Wunderkraft wirken lassen kann.« Dragon dachte nach. Unklug war der Vorschlag des Zwerges nicht. Die Frage war nur, auf welche Weise Ugulesch den Ausgang seines Felsenschlosses abgesichert hatte. Bestimmt hatte er an dieser gefährdeten Stelle ein paar besondere Kristalle angebracht. »Wir versuchen es«, sagte er. »Wenn es klappt, können wir vielleicht nacheinander alle Gefangenen hinausbringen. Auf diese Weise ist Ugulesch zu besiegen. Wir würden ihn ins Freie locken. Ich glaube, daß er ohne seine vielen Kristalle ziemlich hilflos ist.« »Ich kenne den Weg«, sagte Erbolix. »Der Verrückte hat mich oft durch sein Reich geführt, so daß ich mich hier gut auskenne. Ohne mich als Führer würdest du dich hoffnungslos verirren.« Dragon reagierte nicht auf diese Worte. Es war besser, wenn er sich frühzeitig an die Angeberei des Trolls gewöhnte. Ändern ließ sich Erbolix wahrscheinlich ebensowenig wie vor langer Zeit der streitbare Flotox. »Ich bin einverstanden, daß du die Führung übernimmst«, stimmte er zu. »Es fällt mir zwar schwer«, meinte Erbolix, »aber ich kann mir ja vorstellen, daß du ein großer Drache bist und auf meine Beratung nicht verzichten kannst.«
6.
Durch die leuchtenden Kanäle der beiden Suchkristalle hatte Ugulesch den Fremden zum erstenmal gesehen. Die spiegelnden Flächen der Steine hatten den Anblick Dragons nur verzerrt wiedergegeben, trotzdem war Ugulesch von der stattlichen Erscheinung beeindruckt gewesen. Der Eindringling war ein gutaussehender Mann, groß und breitschultrig, mit hellen, wachsamen Augen und einer stolzen Haltung. Früher einmal hatte Ugulesch davon geträumt, einen Kristall schaffen zu können, mit dessen Hilfe er seinen eigenen Körper verändern konnte. Die Gestalt, in der er sich dabei selbst gesehen hatte, war jener des jungen Fremden nicht unähnlich gewesen. Inzwischen hatte Ugulesch die bittere Erfahrung gemacht, daß er zwar die Gefangenen zur Zwergengröße schrumpfen und wieder in ihre normale Größe zurückversetzen, an sich selbst aber nichts verändern konnte. Um so mehr haßte er jetzt den unsichtbaren Fremden. So nahe war er ihm gekommen, daß er ihn leicht hätte ausschalten können, doch Anstrengung und
Erregung hatten seine Hände unsicher gemacht, so daß die Blitze des Waffenkristalls fehlgegangen waren. Nun hatte Ugulesch die Spur Dragons verloren. Der Zwerg war unterwegs zur Unterkunft von Erbolix. Diesmal würde er den Troll zwingen, ihm im Kampf gegen Dragon zu helfen. Schon viel zu lange hatte er auf Erbolix‘ Launen Rücksicht genommen. Das war nun vorbei. Ugulesch wußte, daß er es schwerhaben würde, Dragon zu fangen und in seinen Einfluß zu bringen. Dazu brauchte er die Hilfe des Trolls. Der Krüppel lächelte bösartig. Nötigenfalls würde er seine stärksten Kristalle gegen Erbolix einsetzen, eine Methode, auf die er bisher verzichtet hatte. Immerhin war Erbolix ein Verwandter von ihm. Ugulesch war aber entschlossen, darauf keine Rücksicht mehr zu nehmen. Als er den Gang vor der Unterkunft des Trolls erreichte, sah er zu seinem Entsetzen, daß die täuschenden Lichtschranken ausgeschaltet waren. Auch die Barriere, die er als zusätzliche Sicherung errichtet hatte, existierte nicht mehr. Er stieß einen Wutschrei aus und stürmte los. Gleich darauf stand er vor dem verlassenen Gefängnis des Trolls. Erbolix war verschwunden! Uguleschs Verstand wollte diese Tatsache nicht
akzeptieren. Der Herr der Kristalle stand wie versteinert da und starrte ungläubig in den dunklen Raum. »Dragon!« sagte er mit schriller Stimme. »Das war Dragon!« Es gab keine andere Erklärung, denn allein hätte Erbolix sich niemals befreien können. Das einzige Wesen, von dem er sich Hilfe und Verständnis erhoffte, befand sich in den Händen des Feindes. Schlimmer noch: Ugulesch mußte vermuten, daß Erbolix sich dem Fremden freiwillig angeschlossen hatte. Die beiden hatten ein Bündnis gegen den Besitzer des Felsenschlosses vereinbart. Ugulesch schloß die Augen. Seine Enttäuschung war grenzenlos. Er fühlte sich von Erbolix verlassen und verraten. Hatte er den Troll nicht immer anständig behandelt? Ugulesch wandte sich langsam ab. Er würde auch ohne Erbolix‘ Hilfe diese Auseinandersetzung siegreich beenden. Der Gnom stützte sich mit einer Hand gegen die Wand und überlegte. Er versuchte, sich in die Gedanken seines Gegners zu versetzen. Was hatte dieser Dragon vor? Die Befreiung des Trolls gab einen deutlichen Hinweis. Dragon würde sich bemühen, alle Gefangenen aus dem Felsenschloß zu führen, um sie aus dem Einflußbereich
der Kristalle zu bringen. Damit nicht genug, würde er wahrscheinlich versuchen, Uguleschs strahlende Steine für immer zu vernichten. Uguleschs Mund verzog sich zu einem bösartigen Lächeln. Niemand konnte das Felsenschloß verlassen, solange Ugulesch es nicht zuließ. Der Ausgang war mehrfach abgesichert. Weder die Schlauheit des Trolls noch seine eigene Stärke würden Dragon helfen, diese Sperren zu überwinden. Ugulesch bedauerte jetzt, daß er Erbolix gegenüber die Waffe erwähnt hatte. Der Troll würde diese Informationen weitergeben. Doch Erbolix wußte zum Glück nicht, wo sich die Waffe befand. Die Waffe war einst von Uguleschs Vater konstruiert worden, von dem Ugulesch seine Fähigkeiten in der Kristallbearbeitung erlernt hatte. Diese Waffe war niemals zerstört worden. Uguleschs Vater hatte die Wirkungen bearbeiteter Kristalle nie unterschätzt. »Eines Tages«, hatte er zu Ugulesch gesagt, »könnte es passieren, daß du ein Opfer der von dir geschaffenen Steine wirst. Dann brauchst du die ultimate Waffe gegen die Kristalle.« Mit diesen Worten hatte er Ugulesch die Waffe überreicht, der sie später an einer schwer zugänglichen Stelle in seinem Felsenschloß versteckt hatte. Uguleschs Gedanken kehrten in die Gegenwart
zurück. Er glaubte, den gegenwärtigen Aufenthaltsort Dragons und Erbolix‘ zu kennen. Dragon würde versuchen, den Troll ins Freie zu bringen, wo Erbolix sich ungestört entfalten konnte. Ugulesch erinnerte sich noch gut daran, daß sein Vater oft auf Sonnenstrahlen »geritten« war. Auch hatte er kleine Wunder vollbracht. Zweifellos besaß auch Erbolix diese Fähigkeiten. Das Ziel von Dragon und Erbolix konnte nur der Ausgang des Schlosses sein. »Ich werde vor euch da sein«, sagte Ugulesch mit vor Haß entstellter Stimme. »Ich werde euch erwarten und euch vernichten.« Erbolix kuschelte sich tief in Dragons Armbeuge. »Es wäre bequemer für mich, wenn du nicht so rennen würdest«, beklagte er sich. »Die ständigen Erschütterungen machen mich nervös.« Dragon blickte auf ihn hinab. »Das ist keine Vergnügungsreise! Statt zu meckern, solltest du mir Informationen geben, die für den Kampf gegen Ugulesch wichtig sind.« Der Troll verschränkte die Ärmchen über der Brust. Er fühlte sich in seiner neuen Rolle sichtlich wohl. »Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Zum Teufel, halte dich links!«
Dragon befolgte den Hinweis. »Ugulesch hat mir ab und zu von einer Ultimaten Waffe erzählt, die er irgendwo verborgen hält«, fuhr Erbolix fort. »Aber ich halte das für nicht sehr bedeutsam.« Dragon blieb stehen. »Das könnte wichtig sein. Handelt es sich bei dieser Waffe um einen Kristall?« »Um eine Waffe gegen die Kristalle!« Dragon runzelte die Stirn. Begann der Troll, Unsinn zu reden? »Es handelt sich offenbar um einen Gegenstand, den Ugulesch von seinem Vater geerbt hat«, berichtete Erbolix. »Dieser Troll befürchtete, daß Ugulesch eines Tages von den Kristallen abhängig werden könnte. Er gab ihm eine Waffe, um alle Kristalle zu zerstören.« Dragon schluckte aufgeregt. »Besitzt du bestimmte Hinweise, wo wir nach dieser Waffe suchen könnten?« »Wenn es sie tatsächlich gibt, ist sie gut versteckt«, entgegnete das Männlein. »Außerdem empfände ich es als schade, alle diese wunderbaren Steine zu zerstören.« »Wenn du gesehen hättest, was man damit alles anfangen kann, dächtest du sicher anders darüber«, meinte Dragon grimmig. »Den schmalen Gang!« rief Erbolix. »Wenn du
träumst, erreichen wir unser Ziel nie.« Dragon setzte sich in der angegebenen Richtung in Bewegung. Immer wieder begegneten sie Gefangenen, die entweder teilnahmslos herumstanden oder Arbeiten verrichteten, die ihnen Ugulesch aufgetragen hatte. Dragon mußte feststellen, daß seine Gruppe nicht mehr zusammen war. Der Zwerg hatte sie in die verschiedensten Unterkünfte gebracht. Vielleicht war das eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme Uguleschs. Doch darüber machte der Atlanter sich jetzt keine Sorgen. Wenn er einen Weg in die Freiheit gefunden und Ugulesch ausgeschaltet hatte, würde er seine Freunde schnell finden. Einige Räume, durch die sie kamen, waren Dragon bereits bekannt. Erbolix zögerte bei der Angabe der Richtung nie, so daß Dragon sicher war, daß sie ihr Ziel bald erreicht haben würden. »Ugulesch macht sich wahrscheinlich Gedanken darüber, wo er dich finden könnte«, überlegte Erbolix. »Vielleicht hat er sogar mein Verschwinden entdeckt. Das würde bedeuten, daß er unser Ziel kennt.« »Traust du ihm zu, daß er die richtigen Schlüsse ziehen könnte?« »Ja«, sagte Erbolix. »Ugulesch ist ein halber Troll – und Trolle sind bekanntlich die intelligentesten Wesen, die es auf dieser Welt gibt.« Dragon verzog das Gesicht. Bescheidenheit war
noch nie eine Stärke der Drachenberater gewesen. Trotzdem nahm Dragon die Warnung des Trolls ernst. »Wir müssen also damit rechnen, daß Ugulesch früher oder später ebenfalls am Ausgang seines Schlosses auftauchen wird?« »Nicht nur das«, sagte Erbolix. »Vielleicht ist er bereits dort. Er kennt alle Wege in diesem Labyrinth, so daß er immer den kürzesten wählen kann. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir an den Ausgang kommen.« »Nun gut«, sagte Dragon. »Ich werde mich danach richten. Du mußt aber ebenfalls aufpassen.« Erbolix stieß eine Verwünschung aus. »Wozu hast du mich eigentlich befreit, wenn ich nun erniedrigende Sklavenarbeit verrichten soll?« »Sklavenarbeit?« wiederholte Dragon fassungslos. »Ich trage dich spazieren, und du willst nicht einmal aufpassen. Du bist ein undankbares kleines Ungeheuer.« »Ungeheuer sind immer groß«, versetzte Erbolix ungerührt. Er blickte an Dragon hoch. »Von deiner Größe an aufwärts kann man Wesen als Ungeheuer bezeichnen. Kleinere Wesen sind nicht in diese Kategorie einzureihen.« »Oh!« machte Dragon entrüstet. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, mit dem Troll zu streiten. Trolle mußten immer das letzte Wort haben.
»Laß uns über andere Dinge sprechen«, schlug Dragon begütigend vor. »Ich interessiere mich für das Schicksal deines Volkes. Gibt es außer dir noch andere Trolle auf der Erde?« »Natürlich!«, erwiderte Erbolix. »Ihre Zahl ist längst nicht mehr so groß wie zur Blütezeit von Atlantis. Damals hielten sich Tausende von Trollen auf der Erde auf. Heute sind es bestenfalls noch ein paar Dutzend.« »Und wo halten sie sich auf?« Das Männlein in seinen Armen hob ratlos die Schultern. »Bei meinen Wanderungen bin ich oft anderen Trollen begegnet. Du darfst nicht vergessen, daß wir ein Volk von Nomaden sind. Nachdem den auf der Erde zurückgebliebenen Mitgliedern meines Volkes die Möglichkeit genommen wurde, mit Sternenschiffen in den Weltraum zu fliegen, wandern wir auf der Suche nach Drachen über diese Welt.« »Ich verstehe«, sagte Dragon langsam. »Die meisten Trolle sind noch vor der Katastrophe in den Weltraum geflüchtet.« »An Bord von Drachenschiffen«, bestätigte Erbolix. »Warum kommen keine Besucher mehr aus dem Weltraum zu uns?« »Ich glaube, die Erde wurde aufgrund der Katastrophe zur verbotenen Welt ernannt. Es wird Jahrtausende dauern, bevor wieder Sternenfahrer auftauchen. Vielleicht können wir hoffen, daß ein paar
Irrläufer ab und zu landen, aber die Chancen dafür sind nicht besonders groß.« Seit er seine Erinnerung fast vollständig zurückgewonnen hatte, sehnte sich Dragon nach einer Umgebung, wie er sie damals in Muon auf Atlantis vorgefunden hatte. Er sehnte sich nach dem Kontakt mit Sternenfahrern, Trollen, Zyklopen, Einhörnern und Elfen. Er gab sich einen Ruck. Diese Zeit war endgültig vorbei. Die Welt hatte sich gewandelt. Aufgrund der unermüdlichen verbrecherischen Tätigkeit des Balamiters war sie nahe daran, zu einem Platz des Schreckens zu werden. Nur Dragon konnte noch eine Wendung herbeiführen. Er war stark genug, um dem Balamiter Widerstand zu leisten. Noch besaß Cnossos die besseren Möglichkeiten. Dragon sah sich um. Was sollte aus der Erde werden, wenn auch er ein Opfer des verrückten Ugulesch wurde? »Du träumst«, dräng Erbolix‘ Stimme in seine Gedanken. »Und Träumer leben gefährlich.« »Du hast recht«, bekannte Dragon. »Aber manchmal ist die Sehnsucht nach der Vergangenheit stärker als alle Vernunft.« Der Troll schnaubte leise. »Ich kann dich verstehen«, sagte er. »Mein Vater hat mir die Geschichten von der alten Welt erzählt. Ich habe sie nie gesehen, aber sie muß wunderbar gewesen sein.«
»Ja«, sagte Dragon, »das war sie.« »Man hätte die Katastrophe verhindern müssen«, meinte Erbolix. »Ich glaube, daß nicht allein die Balamiter am Untergang von Atlantis schuld waren.« »Die Atlanter waren mitschuldig«, bestätigte Dragon. »Sie waren verblendet. Ihr Glaube an den Fortschritt war unerschütterlich. Sie vergaßen alle Gefahren.« Der Troll richtete sich in Dragons Armen auf. »Genug davon!« Seine Stimme hatte alle Verträumtheit verloren. »Wir werden den Ausgang gleich erreichen. Du mußt jetzt aufpassen.« Dragon blickte in den breiten Gang dervor ihnen lag. Er glaubte sich erinnern zu können, daß er hier schon gewesen war. Von Ugulesch war nichts zu sehen. Auch Gefangene waren nicht in der Nähe. Die Stille war unheimlich. Wenig später erreichten sie die Stelle, wo der Gang in den großen Vorraum mündete. Dragon blieb stehen. »Worauf wartest du?« rief der Troll ungeduldig. Jetzt, da er sich in der Nähe des Ausgangs befand, hatte er alle Vorsicht vergessen. Er war begierig, ins Freie zu gelangen und seine Kräfte er erproben. »Ich spüre die Gefahr!« erwiderte Dragon leise. »Du solltest nicht mehr so laut sprechen. Es prickelt auf meiner Haut, das ist immer ein sicheres Zeichen, daß
irgend etwas nicht in Ordnung ist.« »Hier können wir trotzdem nicht stehenbleiben!« sagte Erbolix. Dragon bückte sich und hob einen Steinbrocken vom Boden auf. Er warf ihn in den Vorraum. Am Ende des Korridors wurde der kurze Flug des Steines urplötzlich beendet. Dragon sah den Brocken aufglühen und dann verschwinden. Der Troll stieß einen Pfiff aus. Dragon spürte, daß das kleine Wesen zu zittern begann. »Das ... das hätte uns auch passieren können!« brachte er hervor. Dragon nickte nur. Er hatte damit gerechnet, daß der Gnom überall Fallen aufgestellt hatte. »Wenn wir die Kristalle nicht finden, die für diese Sperre verantwortlich sind, kommen wir hier nicht durch«, sagte der Atlanter. »Gibt es noch einen anderen Weg?« »Ich kenne nur diesen!« »Du bist kleiner als ich«, sagte Dragon. »Du mußt an der Gangwand hochklettern und versuchen, dich an der Decke festzuhalten. Vielleicht kannst du auf diese Weise in den Vorraum kriechen und die gefährlichen Kristalle entfernen.« »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, gab der Troll spöttisch zurück. »Und was geschieht, wenn die Sperre auch unter der Decke wirksam ist?«
Dragons Blicke suchten den Boden ab. Er fand ein paar ausgetrocknete Grashalme. Einen davon übergab er Erbolix. »Wenn du diesen Halm vor dir herschiebst, wirst du wissen, wann du anhalten mußt.« Der Troll kratzte sich an seinen großen Ohren. »Ich hätte dir längst gestehen müssen, daß ich kein sehr mutiger Mann bin«, verkündete er mit weinerlicher Stimme. »Ich ahnte es!« Dragon seufzte. »Alle Trolle sind eben Großmäuler.« Erbolix schwenkte den Halm wie eine Waffe hin und her. »Ich opfere mich für dich!« jammerte er. »Dabei hast du das nicht verdient.« »Wenn es gelingt, baue ich dir ein Denkmal aus Schafskäse«, versprach Dragon. Das Männlein äugte mißtrauisch zu ihm herauf. »Hältst du dieses Material für standesgemäß?« »Eigentlich ja«, nickte der Atlanter. »Woran hattest du denn gedacht?« »An Gold!« »An Gold? Ich würde einen Troll aus Schafskäse vorziehen. Ein Denkmal aus Schafskäse kann man notfalls verspeisen.« Die Augen des Trolls weiteten sich. »Das würdest du tun, Ruchloser? Verdammt sollst
du sein! Deine Kinder und Kindeskinder übrigens auch. Mein Fluch trifft dich in diesem Augenblick. Essen – ein Trolldenkmal!« »Dein Fluch trifft mich überhaupt nicht, denn hier im Felsenschloß besitzt du keine magischen Kräfte.« »Ja, verdammt«, bedauerte das Männlein. »Doch jetzt breche ich auf. Wer weiß, ob wir uns noch einmal wiedersehen. Im Augenblick des Abschieds soll man Gefühle der Rache unterdrücken. Ich verzeihe dir also. Leb wohl, Dragon!« Er schluchzte. »Solltest du je meine Gebeine finden, bestatte sie unter einer zehn Fuß hohen Ulme.« Dragon kam nicht mehr dazu, nach dem Grund dieses Wunsches zu fragen, denn Erbolix hüpfte mit dem Halm in der Hand davon. Von nun an war er wieder sichtbar. Die Frage war nur, wie der Kleine die Strahlung der Kristalle überstehen würde. Dieses Risiko mußten Dragon und Erbolix eingehen. Erbolix erwies sich als geschickter Kletterer. Blitzschnell stieg er an der Wand empor und erreichte die Decke. Wie ein großes Insekt kroch er über sie hinweg. In einer Hand schob er dabei den Halm vor sich her. Dragon beobachtete den Troll aufmerksam. Er wollte die geringste Veränderung im Verhalten von Erbolix feststellen. Unangefochten erreichte das Männlein das Ende der
Decke. Es kletterte an der Seitenwand im Vorraum herunter und winkte Dragon zu. »Alles in Ordnung?« erkundigte sich der Atlanter mit gedämpfter Stimme. Erbolix machte ein Zeichen des Einverständnisses. Es war deutlich zu sehen, daß er die Wände nach Kristallen absuchte. »Es sind Dutzende«, teilte er Dragon schließlich mit. »Ich würde einen Tag oder noch länger brauchen, um sie alle von der Felswand zu reißen.« Etwas Ähnliches hatte Dragon befürchtet. »Du mußt versuchen, ob du nicht allein entkommen kannst«, riet er dem Troll. »Bestimmt findest du irgendwo in der Nähe des Ausgangs einen Durchschlupf, der groß genug ist, um dich in die Freiheit entkommen zu lassen.« »Und was geschieht mit dir?« Der Drachenberater war nun doch um seinen Befreier besorgt. »Sobald du draußen bist, kannst du deine magischen Kräfte einsetzen, um mir zu helfen.« Obwohl der Troll noch zögerte, wußte Dragon, daß er ihn überzeugt hatte. »Vorwärts!« drängte Dragon seinen neuen Freund. »Jeder Augenblick des Zögerns kann neue Gefahren für uns bringen.« »Ich gehe!« rief Erbolix. Er rannte in Richtung des Tores davon.
Dragon verließ seinen Platz nicht. Er wußte, daß er sich dadurch der Gefahr aussetzte, von Ugulesch in einer Sackgasse angetroffen und angegriffen zu werden. Doch er wollte sich davon überzeugen, ob die Flucht des Trolls gelang. Erbolix hatte den Ausgang schon fast erreicht, als Ugulesch plötzlich aus einer Nische hervorsprang und dem Troll mit triumphierendem Gekrächze nacheilte. »Erbolix!« schrie Dragon bestürzt. Die Warnung wurde verstanden, aber sie kam zu spät. Der Bucklige war schneller als Erbolix mit seinen kurzen Beinchen. Der Troll schlug ein paar Haken, aber auch das war vergebens. Ugulesch warf sich über ihn und hielt ihn fest. »Dragon!« schrie Erbolix. »Dragon, hilf mir!« Der Atlanter mußte sich gewaltsam zurückhalten, um nicht in den Vorraum hinauszustürzen. Er konnte dem Troll jetzt nicht helfen. Ugulesch richtete sich wieder auf. Er hielt Erbolix mit beiden Händen umklammert. »Dachtest du, ihr könntet mir entkommen? So, wie ich dich jetzt gefangen habe, werde ich auch diesen Fremden erwischen.« »Du Teufel!« krächzte Erbolix empört. »Du bist eine Schande für alle Trolle. Dragon wird dich besiegen.« Ugulesch lachte auf. Er hüpfte im Vorraum hin und her.
»Ich habe allen Gefangenen befohlen, nach dem Fremden zu suchen«, sagte er zu Erbolix. »Auf die Dauer kann er sich nicht verstecken.« »Ich verstecke mich nicht vor dir!« hörte Dragon sich rufen. »Ich bin hier im Korridor. Du mußt froh sein, daß ich nicht zu dir gelangen kann.« Der Krüppel fuhr herum. Die Kristalle auf seinem Umhang klirrten gegeneinander. Der irre Ausdruck in Uguleschs Gesicht zeigte Dragon, in welchem Zustand dieses Wesen sich befand. Bisher war Ugulesch nicht zum Mörder geworden, aber seine Bereitschaft, andere Wesen umzubringen, war offensichtlich gestiegen. Dragon begriff, daß er einen Fehler begangen hatte. Er hatte den Buckligen gereizt. Erbolix würde darunter zu leiden haben. Dragon wartete keine Antwort ab, sondern stürmte durch den Gang davon. Er mußte einen anderen Zugang zum Vorraum finden. Die Entscheidung mußte jetzt herbeigeführt werden – so oder so. Ugulesch schüttelte den Troll, bis diesem das Blut in den Kopf gestiegen war. »Aufhören!« wimmerte Erbolix. »Willst du einen Freund deines Vaters umbringen?« »Ich sollte dich auf meinen stärksten Kristallen rösten, bis du schwarz geworden bist!« schrie
Ugulesch. Er streckte die Arme aus und hielt Erbolix weit von sich. »Wie konntest du es wagen, ein Bündnis mit diesem Dragon zu schließen?« »Er war nicht mein Verbündeter. Er hat mich befreit und wollte mir Gelegenheit geben, aus dem Felsenschloß zu entkommen.« »Lüge!« zischte der Gnom. »Alles Lüge!« Er humpelte los, ohne den Druck seiner Hände zu mildern. Erbolix bekam kaum noch Luft. »Ich werde dich jetzt einsperren, bis der Kampf gegen Dragon entschieden ist. Danach werde ich über deine Zukunft entscheiden.« Er sah den Troll drohend an. »Wahrscheinlich friere ich dich ein und stelle dich auf einen Felsenvorsprung vor dem Eingang zu meinem Schloß. Dein Anblick wird alle vorbeiziehenden Trolle warnen, sich mit mir einzulassen.« »Du redest bereits wirr!« sagte Erbolix mühsam. »Aufgrund unserer verwandtschaftlichen Beziehungen solltest du mehr auf meine Ratschläge hören. Schließlich bin ich ja eine ... äh ... eine Art Onkel.« Uguleschs Halsschlagadern schwollen an. »Du willst mein Onkel sein?« »Spürst du nicht die Bande zwischen uns beiden?« erkundigte sich Erbolix voller Pathos. »In unseren Adern fließt Trollblut. Und was tun wir? Wir bekämpfen einander!«
Ugulesch blieb stehen. Er brachte den Troll dicht an sein Gesicht heran. Da sah er, daß Schweißtropfen über das runzlige kleine Gesicht liefen. »Ich glaube, daß du ein verdammter Heuchler bist!« schrie Ugulesch und stampfte mit einem Bein auf. Erbolix verdrehte die Augen. »Schreie mir nicht so ins Gesicht! Du riechst nach Knoblauch, ein sicheres Zeichen, daß sich niemand um deine Eßkultur kümmert! Als Schloßbesitzer solltest du darauf achten, daß dein Benehmen in Ordnung ist.« Ugulesch sah ihn verständnislos an. »Wann immer offizieller Besuch kommt, wirst du dich restlos blamieren«, plapperte der Troll weiter. »Wie willst du deine Gäste bewirten, wenn du die einfachsten Höflichkeitsregeln nicht beherrscht? Du brauchst einen Zeremonienmeister, das ist alles.« »Erbolix!« sagte Ugulesch mit erhobener Stimme. »Es mag sein, daß wir entfernte Verwandte sind. Aber auch von entfernten Verwandten lasse ich mich nicht auf den Arm nehmen.« Er bückte sich und stieß Erbolix heftig auf den Boden. Der Troll heulte auf. »Ich brauche keinen Zeremonienmeister!« schrie Ugulesch und stieß Erbolix zum Nachdruck bei jedem Wort erneut auf den Boden. »Ich habe keine Gäste, sondern Gefangene. Denen ist es egal, womit ich meine Speisen würze.«
»Es war ja auch nur ein Vorschlag«, meinte Erbolix kleinlaut. »Wenn du nicht willst, daß wir zusammenarbeiten, erkläre ich dir eben den Krieg.« »Was?« brachte Ugulesch fassungslos hervor. »Du erklärst mir den Krieg? Willst du etwa gegen mich kämpfen?« »Nicht mit den Fäusten«, betonte Erbolix nachdrücklich. »Meine Waffen sind anderer Natur.« »So?« »Ja, ich kämpfe nämlich mit den Waffen des Geistes.« Inzwischen war Ugulesch weitergegangen und hatte die Wand neben dem Eingang erreicht. Er öffnete eine kleine Nische. Erbolix sah in ihrem Innern ein paar Kristalle leuchten. Ugulesch stellte ihn in die Öffnung und warf die Tür zu. Er verriegelte sie. »Das ist ein verdammt kleines Gefängnis!« beschwerte sich Erbolix. »Hier kann man ja nicht einmal liegen.« »Du bleibst hier, bis ich diesen Dragon geschnappt habe!« rief der Herr der Kristalle. »Hier kannst du nichts anstellen. Inzwischen kannst du ja deine geistigen Waffen einsetzen.« Der Troll seufzte, gab aber keine Antwort. Ugulesch öffnete den Beutel an seinem Umhang und holte ein paar Kristalle heraus. »Das sind meine Waffen«, murmelte er grimmig.
7.
Dragon entdeckte den Einstieg in die unteren Räume bei seiner Suche nach einem zweiten Zugang zum Vorraum. Die Öffnung lag gut versteckt zwischen einigen Felsen und war zusätzlich mit sechs großen Kristallen abgesichert. Es handelte sich um Hypnokristalle, die Dragon nicht gefährlich werden konnten, solange er sie nicht berührte. Der Atlanter untersuchte den Einstieg des Schachtes, von dem er noch nicht wußte, wohin er führte. Dragons Neugier war jedoch geweckt. Obwohl der Schacht ziemlich eng war, zwängte Dragon sich hinein. Vorher überprüfte er den richtigen Sitz seines Umhangs, den er unter keinen Umständen verlieren durfte. Der Schacht führte schräg in die Tiefe. Es war eine Felsenröhre mit vielen Unebenheiten an den Wänden. Das Licht der Kristalle reichte nur ein paar Meter tief, dann befand der junge Mann sich in völliger Dunkelheit. Dragon legte eine Pause ein. Der Zwerg hatte innerhalb des Schachtes keine Kristalle angebracht.
Ugulesch rechnete nicht damit, daß jemals ein anderes Wesen außer ihm selbst hier durchkriechen würde. Obwohl der Schacht immer enger wurde, ließ Dragon sich weiter in die Tiefe gleiten. Er kam jetzt nur langsam voran, denn er blieb immer wieder mit seinem kostbaren Umhang an spitzen Felszacken hängen. Jedesmal löste er das Tuch vorsichtig von den Hindernissen, denn der Umhang des Namenlosen durfte nicht zerstört werden. Dieses Kleidungsstück war Dragons Hauptwaffe im Kampf gegen Ugulesch. Nach einer Weile bemerkte Dragon unter sich einen Lichtschein. Dragon vermutete, daß er von Kristallen am unteren Ende des Schachtes herrührte. Als er wenig später aus dem Schacht in eine geräumige Höhle kroch, stellte er fest, daß seine Ahnung ihn nicht getäuscht hatte. Die Höhlenwände glitzerten im Licht der vielen Steine. Dragon sah, daß es hier zahlreiche leuchtende metallische Adern gab. Steinsäulen reichten von der Decke bis zum Boden und verliehen der Höhle das Aussehen einer festlichen Halle. Dragon sah sich um. Die Stille bedrückte ihn. Hier unten schienen sich keine Gefangenen aufzuhalten. Durch die vielen Steinsäulen war die große Höhle in mehrere Haupt- und Nebenräume unterteilt. Dragon ging weiter. Kurze Zeit später gelangte er in eine zweite große Halle. Dort fand er einen riesigen
versteinerten Drachen aus der alten Welt. Die bis ins Detail erhaltene Kreatur ragte zur Hälfte aus einem Felsenmassiv heraus. Der Körper des steinernen Riesen war mit Löchern übersät. Dragon stellte fest, daß es sich um eine Art Treppe handelte, die bis zum Kopf des Drachen hinaufführte. Die Stufen waren für einen kleinen Mann geschlagen worden, offensichtlich hatte Ugulesch selbst diese Treppe angefertigt. Dragon wandte seine Aufmerksamkeit von dem Drachen ab. Auf der anderen Seite der Halle entdeckte er zwei dicke Stricke, die von einer Deckenöffnung herabhingen. Dragon begab sich an diese Stelle. Er zog an einem Ende des Seils. Ein korbähnlicher Behälter glitt von oben zu ihm herab. Entweder transportierte Ugulesch mit diesem seltsamen Aufzug Material, oder er benutzte ihn, um sich selbst in die Höhle des Drachen hinabzulassen und nach Abschluß seines Besuchs wieder nach oben zu ziehen. Dragon untersuchte Korb und Stricke. Beide schienen sie nicht widerstandsfähig genug zu sein, um einen Mann von seiner Größe zu tragen. Dragon kehrte zu dem Drachen zurück. Er sah sich um. Niemand war in der Nähe. Ugulesch irrte wahrscheinlich durch die oberen Räume und suchte nach ihm.
Nach kurzem Zögern kletterte Dragon am Körper des Drachen hinauf. Er erreichte den Hals und schließlich den geöffneten Rachen. Das helle Licht mehrerer Kristalle blendete ihn. Dragon warf einen Blick in das Maul des Drachen. Er glaubte einige Kristalle in der Unterkieferhöhle liegen zu sehen. Die steingewordene Zunge des Drachen war nur noch zum Teil erhalten, ganze Stücke waren von Ugulesch herausgemeißelt worden, um auf diese Weise Platz für Kristalle zu schaffen. Der Drache mußte schon seit Jahrhunderten hier eingeschlossen sein. Er war ein Vertreter seiner Art aus der alten Welt und konnte mit den Drachen, wie sie jetzt auf der Erde lebten, kaum verglichen werden. Die Erinnerung an Atlantis kehrte schmerzhaft in Dragons Bewußtsein zurück. Er vertrieb seine düsteren Gedanken. Seine Probleme in der Gegenwart waren schwierig genug. Gern hätte er die im Rachen liegenden Kristalle an sich genommen, doch er wagte nicht, sie anzurühren. Es schienen besonders kostbare Steine zu sein, die der Zwerg hier verborgen hielt. Dragon nahm an, daß die Kristalle, die er bei ihren letzten Zusammenstößen in den Händen Uguleschs gesehen hatte, auch aus diesem Arsenal stammten. Dragon bedauerte, daß er nichts über seltene Kristalle und ihre Anwendung wußte, eine solche Erfahrung wäre ihm sicher zugute gekommen.
Der Atlanter kehrte auf den Boden zurück und zog den kleinen Korb wieder nach oben. Ugulesch sollte keine Veränderungen bemerken, wenn er hierher kam. Dragon sah sich ein letztes Mal um. Diese Halle schien keine Geheimnisse mehr zu bergen. Als Dragon davonging, gellte ihm unverhofft Uguleschs Kriegsruf in den Ohren. Wie ein häßlicher Affe glitt der Krüppel an den Stricken in die Halle herab. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, den Korb zu besteigen und sich langsam in die Tiefe zu lassen. »Ich habe die Bewegungen der Stricke in den oberen Räumen gesehen und richtig erkannt!« rief er Dragon zu. Er hatte die Augen zusammengekniffen und hielt auf diese Weise zwei Kristalle fest, durch die er den Atlanter offenbar trotz dessen Tarnumhang sehen konnte. Dragon wollte fliehen, doch er wußte, daß das ein Fehler gewesen wäre. Im Schacht, der nach oben führte, kam er so langsam voran, daß der Gnom ihn schnell einholen würde. Ugulesch brauchte nur ein paar Energieblitze aus seinem Waffenkristall in den Schacht zu schleudern, um Dragon zumindest kampfunfähig zu machen. Dragon änderte seine Richtung und wich bis zum versteinerten Drachen zurück. Ugulesch sprang auf den Boden. Durch die
Erschütterung fiel einer der Kristalle von seinen Augen, aber er fing ihn geschickt auf und klemmte ihn wieder in den Fleischwulst. »Du hast dich selbst in eine Falle manövriert!« rief der Zwerg. »Jetzt kannst du mir nicht mehr entkommen!‘ Dragon beobachtete jede Bewegung des Zwerges. Er wußte, daß er sich in einer Sackgasse befand. Wenn er von hier lebendig entkommen wollte, mußte er alle Klugheit und Kraft aufwenden, die er besaß. Seine Hände berührten den Körper des steinernen Drachen. Weiter zurück konnte er nicht mehr gehen. Ugulesch lachte triumphierend. Er hielt jetzt den großen Kristall in den Händen. Ein Energieblitz fürchte den Boden vor ihm auf. »Bewege dich nicht!« warnte Ugulesch. »Das wäre dein sicherer Tod.« Im Augenblick war es klüger, wenn er die Befehle des Zwerges beachtete, überlegte Dragon. Seine Blicke suchten die Umgebung ab. Gab es keine Hoffnung mehr für ihn? Angesichts seines Triumphs vergaß Ugulesch seine mörderischen Absichten. »Ich will es dir nicht zu leicht machen«, sagte er höhnisch. »Du bist jetzt in meiner Hand. Zunächst werde ich dich unter dem Einfluß meiner Kristalle
schrumpfen lassen, dann friere ich dich ein.« Dragon zweifelte keinen Augenblick daran, daß Ugulesch die Drohung wahrmachen würde. Der Atlanter hatte damit gerechnet, daß sein Gegner versuchen würde, ihn auf der Stelle zu töten. »Ich kenne das Geheimnis deiner Unsichtbarkeit und deiner Immunität«, fuhr der Troll fort. »Halten wir uns nicht mit langen Reden auf. Du wirst jetzt den schützenden Umhang ablegen.« Dragon schien zu Stein erstarrt zu sein, genau wie das riesige Wesen hinter ihm. »Wenn du dich nicht beeilst, durchbohre ich dich mit einem Energieblitz!« drohte Ugulesch. Er hob den Arm. Dragons Gedanken wirbelten durcheinander. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg. Er durfte nicht zum Gefangenen des Zwerges werden. Draußen beging Cnossos eine Untat nach der anderen, und niemand hinderte ihn daran. Dragon bewegte sich. Seine Hände griffen nach den Spangen, mit denen der Umhang des Namenlosen zusammengehalten wurde. In dem Augenblick, da er die Spangen lösen und den Umhang abwerfen würde, begab er sich völlig in die Gewalt des Buckligen. Die Kristalle innerhalb der Nische schienen harmlos zu sein, denn Erbolix spürte keine beeinflussenden
Impulse. Der leichte Druck auf seinem Kopf rührte von den Steinen draußen im Vorraum her. Erbolix wußte, daß er nicht so leicht zu beeinflussen war. Aufgrund seiner magischen Kräfte besaß er eine gewisse Immunität. Die Zeit, die er unter Dragons schützendem Umhang zugebracht hatte, war sehr nützlich für ihn gewesen. Erbolix hatte sich mit neuen Abwehrkräften aufladen können. Erbolix gab sich keinen Illusionen hin. Wenn Ugulesch auch im Grunde seines Wesens nicht ausschließlich bösartig war, so drohte Dragon doch tödliche Gefahr. Uguleschs seelische Nöte waren in der vergangenen Zeit immer größer geworden. Ohne es zu merken, hatte er Gefühlen wie Neid und Haß nachgegeben und war auf diese Weise immer tiefer in einen Abgrund des Bösen geschlittert. Diese Entwicklung war inzwischen so weit gediehen, daß man Ugulesch auch einen Mord zutrauen konnte. Wenn Erbolix‘ Sorgen auch in erster Linie dem Atlanter galten, so machte er sich doch Gedanken um Ugulesch. Ugulesch war zur Hälfte ein Troll – daran ließ sich nichts ändern. Voll Bedauern dachte Erbolix an die vielen ausgelassenen Chancen, sich mit Ugulesch zu verständigen. Der Krüppel hatte ihm immer wieder
Freundschaft angeboten, doch er hatte sie in seinem übermäßigen Stolz abgelehnt. Alles hätte anders sein können, wenn er auf die Angebote Uguleschs eingegangen wäre. Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt, um sich mit Selbstvorwürfen zu quälen. Erbolix überlegte, was er tun konnte, um Dragon und Ugulesch zu helfen. Er begann mit einer gründlichen Untersuchung der Tür. Die Verschlüsse waren primitiv und durch Ritze deutlich zu sehen. Ugulesch hatte sich darauf verlassen, daß der kleine Troll keine Kraft besaß, um sich aus dem Gefängnis zu befreien. Erbolix preßte sich eng gegen die Tür. Dann versuchte er den Riegel mit den Fingerspitzen zu erreichen. Es gelang ihm fast, doch er mußte enttäuscht feststellen, daß seine Finger zu kurz waren. Sie blieben in dem schmalen Ritz stecken. Der Troll suchte die gesamte Nische nach einem Gegenstand ab, den er als Hebel hätte benutzen können, doch er fand nichts Geeignetes. Doch das Männlein gab nicht auf. Es stemmte sich mit dem Rücken gegen die Seitenwand und preßte beide Füße gegen die Tür. Dann begann es zu drücken. Es spürte, daß die Tür nachgab. Ermutigt durch diesen Erfolg verstärkte es seine Anstrengungen. Es ließ sich ein Stück nach unten rutschen und stemmte sich erneut
von der Seite gegen die Tür. Als es sicher sein konnte, daß es den Ritz zwischen Tür und Felswand genügend verbreitert hatte, richtete es sich auf. Beim zweiten Versuch gelang es ihm tatsächlich, den Riegel zu berühren. Der Verschluß war jedoch aus Schmiedeeisen und entsprechend schwer. Erbolix strengte sich so sehr an, daß die Adern an seinem Hals hervortraten. Es gelang ihm, den Riegel ein Stück anzuheben, doch er konnte ihn nicht aus der Halterung drücken. Erschöpft ließ er sich zurücksinken. Er mußte sich eingestehen, daß die lange Gefangenschaft seiner körperlichen Verfassung geschadet hatte. Dieses Problem war nicht allein mit Körperkraft zu lösen. Erbolix schloß die Augen und schaltete seine Gedanken aus. Vor seiner Gefangennahme hatte er oft meditiert. Das war eine alte Gewohnheit, die auch von den Trollen der alten Welt praktiziert worden war. Erbolix versenkte sich in sich selbst. So stand er lange Zeit da, ohne an etwas anderes als an sein Problem zu denken. Auf diese Weise gelang es ihm, neue Kräfte zu seinem Körper freizumachen für diese so entscheidende Aktion. Als er sich wieder zu bewegen begann, war er sich der Tatsache bewußt, daß er diesmal Erfolg haben mußte. Wenn er erneut scheiterte, würde er keine Kraft
für einen dritten Versuch haben. Er überstürzte nichts. Seine tastenden Finger fanden den Riegel. Er hob ihn an. Diesmal ließ er nicht nach. Als er glaubte, das Gewicht des Riegels auf jeder einzelnen Zelle seines Körpers zu fühlen, sprang der Metallbolzen aus der Halterung. Es gab ein klickendes Geräusch, als der Riegel nach unten fiel. Sein Gewicht riß die Tür nach außen. Die Nische stand offen. Erbolix war zu Boden gesunken. Er lag da und war einige Augenblicke unfähig, eine Bewegung zu machen. Er hatte sich völlig verausgabt. Dann besann er sich auf seine Aufgaben und riß sich zusammen. Er trat an den Nischenrand und spähte in den Vorraum hinaus. Er sah drei Gefangene, die mit stumpfsinnigen Blicken umherirrten und nach Dragon suchten. Von ihnen hatte er nichts zu befürchten. Ugulesch war nicht anwesend, wahrscheinlich suchte er andere Räume nach dem Atlanter ab. Erbolix kletterte an der Felsenwand bis auf den Boden hinab. Der Druck, der von den beeinflussenden Kristallen ausging, wurde jetzt stärker, doch der Troll war sicher, daß er ihm noch einige Zeit standhalten konnte. Er bedauerte, daß er so klein war. Hier, im Einflußbereich der Kristalle, war Erbolix auf seine
Beine angewiesen. Er konnte auf den Lichtstrahlen der Steine nicht reiten. Erbolix rannte durch den Vorraum. Einer der Gefangenen sah ihn und deutete in seine Richtung. Erbolix kümmerte sich nicht darum. Er erreichte einen schmalen Gang, durch den er tiefer in das Felsenschloß eindringen wollte. Ab und zu blieb er stehen und lauschte. Er wußte nicht, wo Dragon war, aber er hoffte, daß er ihn früher oder später finden würde. Er rannte weiter, bis er völlig außer Atem war, dann legte er eine Pause ein. Während er dahockte und Luft in seine Lungen pumpte, hörte er plötzlich hysterisches Gelächter. Der Lärm elektrisierte ihn förmlich. Er schoß hoch und hob den Kopf. »Ugulesch!« sagte er grimmig. Er rannte wieder los. Wenn er sich nicht getäuscht hatte, war das Lachen von irgendwo aus der Tiefe gekommen. Erbolix wußte, daß es unter dem eigentlichen Felsenschloß noch ein paar höhlenartige Hallen gab. Wenig später stand Erbolix vor einer Öffnung am Boden. Von der Decke hingen zwei Stricke herab. Sie reichten durch die Öffnung bis in den unter Erbolix liegenden Raum. »Wenn du dich nicht beeilst, durchbohre ich dich
mit einem Energieblitz!« kam die Stimme Uguleschs aus dem Loch. Der Troll brauchte nicht lange nachzudenken, um herauszufinden, wem diese Drohung galt. Ugulesch hatte Dragon gefunden und in die Enge getrieben. Erbolix umfaßte einen der Stricke. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Das Seil war für seine Händchen fast zu dick. Es kostete ihn Mühe, sich festzuhalten und langsam abwärts zu rutschen. Dragon führte die Bewegung nicht zu Ende. Er warf sich mit einem verzweifelten Sprung nach vorn. Ein kalter Lichtblitz zuckte über ihn hinweg und schlug in den versteinerten Leib des Riesen aus der alten Welt ein. Ugulesch hatte offenbar mit einem solchen Angriff gerechnet. Obwohl er Dragon durch die beiden Kristalle vor den Augen nur schlecht sehen konnte, wich er blitzschnell zur Seite. Dragons Hände griffen ins Leere. Der Gnom dagegen packte zu und bekam den Tarnumhang des Atlanters zu fassen. Mit einem Ruck riß er ihn Dragon vom Körper und schleuderte ihn davon. Gleichzeitig hob er den Hypnokristall an seiner Brust hoch. Dragon, der sich gerade aufrichten wollte, erstarrte in seinen Bewegungen. Er führte den Angriff nicht zu
Ende, sondern blieb in der Hocke. Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich. Alle Lebhaftigkeit wich aus seinem Blick. Ugulesch umrundete ihn langsam und in sicherem Abstand. Er konnte noch nicht glauben, daß er den gefährlichen Gegner so schnell überrumpelt hatte. Ein glücklicher Zufall war ihm zu Hilfe gekommen, doch das war für den Ausgang des Kampfes schließlich bedeutungslos. Ein Lächeln huschte über das häßliche Gesicht des Gnomen. »Spürst du die Kraft der Kristalle?« flüsterte er mit verzerrter Stimme. »Jetzt haben sie dich in ihrer Gewalt. Alle diese Steine habe ich geschaffen. Ich wußte, daß du früher oder später in meine Falle gehen würdest.« Dragon stand völlig unter dem Bann des großen Hypnokristalls an Uguleschs Brust. »Jetzt bist du einer meiner Diener!« fuhr Ugulesch fort. »Ich könnte dich auf der Stelle töten, doch das wäre zu einfach. Ich werde dich verkleinern und dann einfrieren. Das wird meine Rache an dir sein.« Er begann um Dragon herumzutanzen und Freudenschreie auszustoßen. Die Spannung, die seit dem Eindringen des Atlanters seine Gedanken fast gelähmt hatte, fiel von ihm ab. »Nun werde ich dein wunderbares Tuch tragen!«
kündigte er an. Er drehte sich um. Doch der Umhang, den er zur Seite geschleudert hatte, war verschwunden. Uguleschs Augen weiteten sich. »Das ... das ist Zauberei!« stieß er hervor. Er wandte sich wieder an Dragon. Seine Stimme wurde drohend: »Wo ist dieses verhexte Kleidungsstück?« Der Atlanter schwieg. Er hockte da. Seine Blicke waren auf den Boden gerichtet. Er verstand nicht, was um ihn herum vorging. »Es ist zu gefährlich, wenn ich dich am Leben lasse«, stellte Ugulesch fest. »Du bist mit magischen Kräften ausgerüstet, die ich nicht verstehe. Jetzt hast du deinen Umhang verschwinden lassen.« Er hob seinen Waffenkristall, um einen tödlichen Blitz in Dragons Richtung zu schleudern. »Willst du auch noch zum Mörder werden?« rief ein schrilles Stimmchen hinter ihm. Uguleschs Unterkiefer fiel herab. Seine Arme wurden schlaff. »Erbolix!« stieß er schließlich hervor. »Wo bist du?« »Wo sollte ich sein? Unter dem Umhang natürlich. Ich warne dich, Ugulesch! Wenn du meinen Freund tötest, wirst du selbst nicht mehr lange zu leben haben.« Uguleschs Augen suchten den Boden nach den Spiegelkristallen ab, die ihm bei seiner Tanzerei von
den Augen gefallen waren. Da er sich seines Opfers sicher gewesen war, hatte er sich nicht darum gekümmert. Nun war es zu spät dafür! Erbolix hatte die Lage genutzt und die beiden unersetzlichen Kristalle entwendet. Ugulesch würde tagelang brauchen, um vergleichbare Steine herzustellen. Inzwischen konnte der Troll sich ungehindert im Felsenschloß bewegen. Ohne die Spiegelkristalle konnte Ugulesch den Troll nicht sehen. Doch Erbolix war in seiner Bewegungsfreiheit stark behindert. Mit dem schweren Umhang über seinem kleinen Körper würde er nur langsam voran kommen. Ugulesch wollte zum zweiten Ausstieg stürmen, um sich dort zu postieren. An den Stricken konnte der Troll mit dem schweren Umhang nicht hinaufklettern. Ugulesch hätte nur den zweiten Ausgang zu besetzen brauchen, um Erbolix vorläufig hier unten festzuhalten. Doch der Krüppel besann sich rechtzeitig eines Besseren. Erbolix war irgendwo in der Nähe. Wahrscheinlich wartete er nur auf eine Gelegenheit, um an Dragon heranzukommen und ihm den Umhang über den Kopf zu ziehen. Damit hätte er Uguleschs Erfolg sinnlos gemacht. Ugulesch wußte, daß er anders vorgehen mußte.
Er packte Dragon am Arm und führte ihn zu den Stricken. »Klettere nach oben!« befahl er. Der Hypnotisierte kam der Aufforderung nach, aber kaum hatte er sich einen Schritt in die Höhe gezogen, als die Stricke nachgaben und rissen. Dragon war zu schwer für sie gewesen. Der Atlanter fiel zu Boden. Ugulesch hörte Erbolix kichern. »Das ist schiefgegangen, Ugulesch!« rief der Troll. »Jetzt gibt es auch für dich nur noch den zweiten Ausgang.« Der Gnom unterdrückte eine heftige Antwort. Er wußte genau, daß Erbolix ihn nur aus dem seelischen Gleichgewicht bringen wollte. Wenn dem Troll das gelang, würde er leichtes Spiel haben. Ugulesch wandte sich an Dragon: »Wir kehren durch den Schacht in die oberen Höhlen zurück.« Der Gnom hatte eine große Scheu vor diesem Schacht. Er hatte ihn ein paarmal benutzt, wobei es immer wieder zu unerklärlichen Zwischenfällen gekommen war. Zweimal war Ugulesch abgestürzt und hatte sich erheblich verletzt. Innerhalb des Schachtes hielt sich auch ein durch keine Würzstoffe zu vertreibender Geruch. Ab und zu ertönten aus der Öffnung merkwürdige Geräusche, als hätte der Wind einen Weg gefunden, um durch die Höhlungen zu
pfeifen. Doch darauf konnte Ugulesch jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Er mußte zurück nach oben. In seinen Gedanken wurde in diesem Augenblick ein Plan geboren, wie er Erbolix fangen und ihm den Umhang wieder abnehmen konnte. Er brauchte nur alle Gefangenen durch den Schacht nach unten zu schicken und nach Erbolix suchen zu lassen. Früher oder später würden sie ihn finden, denn der Troll war gezwungen, sich Trinkwasser und Nahrung zu beschaffen. Den oberen Schachteingang würde Ugulesch von einem halben Dutzend Diener bewachen lassen. Ein Entkommen des Trolls war damit unmöglich gemacht. Uguleschs Erregung legte sich wieder. Die entscheidende Auseinandersetzung mit Dragon hatte er gewonnen. Was sich jetzt noch abspielte, konnte seinen endgültigen Triumph verzögern, aber nicht mehr verhindern. Zufrieden erreichte Ugulesch den Schacht. Er wußte, daß Erbolix noch nicht hier sein konnte. »Du steigst vor mir hinauf!« befahl er Dragon. »Sobald du oben bist, bleibst du stehen und wartest auf mich.« Willenlos kletterte der Atlanter in den Schacht. Ugulesch jedoch zögerte. Hier unten verbarg er seine ultimate Waffe gegen
die Kristalle. Er hatte sie von seinem Vater für den Notfall erhalten. Der Gnom schüttelte den Kopf. Erbolix wußte nicht, daß diese Waffe hier unten verborgen wurde. Selbst wenn er sie durch einen Zufall finden sollte, würde er sie nicht als das erkennen, was sie war. Ugulesch begann mit dem Aufstieg. Sofort stieg ihm wieder jener abstoßende Geruch in die Nase, den er von früheren Klettertouren her kannte. Über ihm war es still. Dragon schien sein Ziel bereits erreicht zu haben. Ugulesch ignorierte den Gestank und kroch weiter. Die Felszacken, an denen er sich festhielt, waren glatt und schmierig, so daß er nur mühsam vorankam. Warum, so fragte er sich, hatte Dragon nicht ähnliche Schwierigkeiten gehabt? Innerhalb dieses Schachtes schien sich zu bewahrheiten, was sein Vater ihm einmal zu erklären versucht hatte: »Man kann durch seine Persönlichkeit Räume im guten und im bösen beeinflussen. Es gibt Räume, die exakt den eigenen Charakter widerspiegeln. Man kann in ihnen durch seine eigene Persönlichkeit überwältigt werden. Das hängt mit den magischen Kräften zusammen, die wir Trolle besitzen. Du bist nur zur Hälfte ein Troll, aber als ein Erbteil deines Vaters verfügst wahrscheinlich auch du über gewisse Kräfte.«
Ugulesch begann zu schwitzen. Konnte das stimmen? War hier im Schacht seine eigene Persönlichkeit substantiell geworden? War er so böse, daß er derartige Veränderungen in bestimmten Gebieten seiner Umwelt hervorrief? Verbissen kletterte er weiter. Schließlich war es nur der Schacht, wo ihn solche Gedanken überfielen. Hier schien alles zu einer unsichtbaren Drohung konzentriert zu sein. Mit einem Fuß trat er ins Leere. Er stieß einen erstickten Schrei aus und rutschte ein paar Schritte in die Tiefe. Dann fing er sich wieder. »Ist dir nicht gut, Ugulesch?« ertönte die Stimme des Trolls tief unter ihm. »Was bringt dich so außer Fassung?« Ugulesch hätte sich am liebsten beide Ohren zugehalten, doch das war hier nicht möglich. Er brauchte beide Hände, um nicht abzustürzen. Als er das obere Ende des Schachtes endlich erreicht hatte, war er in Schweiß gebadet und zitterte vor Angst. Dragon stand teilnahmslos da und wartete auf weitere Befehle. Sein Anblick gab Ugulesch den Mut zu weiteren Taten zurück. »Ich werde jetzt alle Gefangenen zusammenrufen und sie Jagd auf Erbolix machen lassen«, kündigte er an. »Ich weiß, daß er noch dort unten ist, denn ich habe
seine Stimme hinter mir gehört. Er hat sich verraten. Nötigenfalls werde ich ihn aushungern, so daß er sich ergeben muß.« In diesem Augenblick ertönte ein rumpelndes Geräusch aus dem Schacht. Ugulesch wurde blaß. »Was macht der kleine Teufel dort unten?« fragte er bestürzt. »Es wird Zeit, daß ich ihn ausschalte.« Er ließ Dragon einfach stehen und rannte davon, um seine Diener zusammenzurufen.
8.
Erbolix hörte ein plätscherndes Geräusch und drehte sich langsam herum. Befand sich hier unten eine Quelle, die ihm bisher entgangen war? Der versteinerte Drache geriet in sein Blickfeld. Aus dem Loch, das durch den Blitz aus dem Waffenkristall des Krüppels entstanden war, quoll Blut. Das Loch war zu einer Wunde geworden. Die Geräusche, die Erbolix hörte, kamen von dort.
Der Troll bewegte sich nicht. Das, was er beobachtete, war unglaublich und überwältigend. Es konnte nur ein Traum sein. Und trotzdem geschah es. Der versteinerte Drache begann sich zu bewegen. Er löste sich aus dem Felsenmassiv und senkte den langen Hals. Der Lärm, der dabei entstand, schmerzte in Erbolix‘ Ohren. Er konnte sich vorstellen, daß man in den oberen Räumen alles hören konnte. Aber Ugulesch würde niemals auf die Idee kommen, daß der versteinerte Riese lebendig geworden war. Erbolix erinnerte sich an die Geschichten, die sein Vater Urrodal ihm erzählt hatte. Urrodal hatte sie seinerseits von seinem Vater, dem Troll Flotox erfahren. Auf eine geheimnisvolle Weise hatte der Blitz aus dem Kristall den Drachen wiederbelebt. Erbolix überwand seinen Schrecken. Die Ereignisse überstürzten sich. Nur wenn er einen klaren Kopf behielt, konnte er aus dieser Situation das Beste machen. Er kroch unter dem schweren Umhang hervor. »Hallo, Freund!« schrie er, so laut er konnte. »Kannst du mich sehen?« Von seinem Vater wußte er, daß Trolle und Drachen früher in enger Freundschaft miteinander gelebt hatten. Dieser Drache war noch von der alten Welt. Er mußte
von diesem Verhältnis wissen. Der Drache stöhnte. Er schien große Schmerzen zu empfinden. Kein Wunder! dachte Erbolix erschüttert. Der Riese blutete nicht nur aus der Blitzwunde, sondern aus allen Treppenstufen, die Ugulesch einst in den steinernen Körper geschlagen hatte. Nicht genug damit: Aus dem Rachen des Giganten hing eine zerstörte, blutende Zunge. Der Troll wurde von Mitgefühl überwältigt. Hilflos stand er da und sah den unkontrollierten Bewegungen des Drachen zu. Dann faßte er sich. Er mußte etwas unternehmen. Obwohl die Gefahr, von diesem monströsen Geschöpf erdrückt zu werden, groß war, näherte er sich dem Drachen. »Hörst du mich?« schrie er. »Hier ist ein Freund! Ich will dir helfen, wenn ich dazu in der Lage bin.« Der Drache bewegte den Hals hin und her. Der Kopf schleifte dabei fast über den Boden, die Zunge hinterließ eine blutige Spur. Der riesige Körper wurde von Erschütterungen durchlaufen. Erbolix verstand nicht viel von Drachen, aber dieser hier hatte seiner Ansicht nach nicht mehr lange zu leben. »Drache!« schrie der Troll außer sich. »Drache, warum hörst du mich nicht?«
Der lange Hals schwenkte auf ihn zu und kam unmittelbar vor ihm zur Ruhe. Der Drache sah den Troll an. Er wollte etwas sagen, aber er brachte nur ein Stöhnen hervor. Einem uralten Instinkt folgend, kletterte Erbolix in eines der Drachenohren und begann mit sanfter Stimme auf das große Wesen einzureden. Er spürte, daß das Zittern nachließ. Der Drache begann sich zu beruhigen. »Wahrscheinlich begreifst du nicht, was hier geschieht«, sagte Erbolix langsam. »Ich muß gestehen, daß auch ich es nicht verstehe. Aber dein Drachenberater ist bei dir, um dir zu helfen.« Wieder unternahm der Drache eine Anstrengung, um etwas zu sagen, aber anstelle von Worten kam ein großer Schwall Blut aus seinem Rachen. Erbolix sah, daß mit dem Blut zwei Gegenstände ins Freie geschwemmt wurden. Einer davon war ein großer Kristall, bei dem anderen handelte es sich um ein merkwürdiges, trompetenähnliches Instrument aus Metall, wie Erbolix es bisher noch nie gesehen hatte. Erbolix hatte sich weit aus dem Ohr gebeugt, um zu sehen, was in der Höhle vorging. Er spürte, daß die Kräfte des Drachen erlahmten. Der Blutverlust war zuviel für den Riesen. Der mächtige Körper wurde schlaff und sank zu
Boden. Der Drache streckte den Hals weit von sich. So lag er mitten in der Höhle in Lachen seines eigenen Blutes. Aber er lebte noch immer. »Ich verlasse dich nicht«, versprach Erbolix dem Drachen. Er wunderte sich über das Gefühl der Verbundenheit, das er mit diesem Wesen offenbar teilte. »Ich werde mich nur ein bißchen in der Höhle umsehen.« Er hüpfte aus dem Ohr. Das war jetzt nicht gefährlich, denn der Kopf des Drachen lag auf dem Boden. Der kleine Troll watete durch das Blut bis zu der eigenartigen Trompete. Sie war das Werk eines Trolls, das sah Erbolix auf den ersten Blick. Kein anderes Wesen konnte so feine Verzierungen in Metall anbringen. Erbolix hob sie auf und ließ das Blut abtropfen. Er wunderte sich, wie schwer dieses Instrument war. Der Troll kehrte damit zum Kopf des Drachen zurück. Er wandte sich an den sterbenden Riesen. »Der Kristall und dieses Instrument befanden sich in deinem Körper. Du hast es ausgespieen, wie ich deutlich beobachten konnte. Hast du das mit Absicht oder unfreiwillig getan?« Wieder erhielt er keine Antwort. Der Drache konnte nicht reagieren. Er war nicht mehr Herr über seinen Körper.
»Ugulesch hat diese Dinge in deinem Körper versteckt. Ein besseres Versteck gab es nicht. Sicher hatte der Krüppel allen Grund für seine Vorsicht.« Erbolix dachte einen Augenblick nach, dann fuhr er fort: »Ich glaube fast, daß entweder der Kristall oder die Trompete jene ultimate Waffe ist, von der Ugulesch immer sprach.« Er hob das Instrument. »Vielleicht«, sinnierte er, »werde ich nie herausfinden, wie dieses Ding funktioniert. Es ist auch möglich, daß ich meinem eigenen Leben ein Ende bereite, wenn ich es benutze.« Er ging dichter an das Ohr des Riesen heran. »Trotzdem werde ich einen Versuch wagen! Ich nehme an, du hast nichts dagegen?« Wenn der Drache tatsächlich Einwände hatte, dann war er nicht in der Lage, sie zu artikulieren. Er lag nur da und wartete auf den Tod. Wahrscheinlich waren seine Schmerzen so stark, daß er das Ende schnell herbeisehnte. Erbolix hob das Instrument. Eine geheimnisvolle Kraft schien von ihm auszugehen. Das ließ den Troll noch einmal zögern. Durfte er die Kräfte dieser Waffe freisetzen? Hatte er das Recht dazu, eine etwaige Katastrophe auszulösen? Er war sich darüber im klaren, daß ihm niemand die
Verantwortung abnehmen konnte. Aber er hatte seine Entscheidung trotz seines Zögerns längst getroffen. Er würde versuchen, auf diesem rätselhaften Instrument zu spielen. Inzwischen hatten sich fast zweihundert der insgesamt zweihundertfünfzig Diener vor dem Schachteinstieg versammelt. Um Erfolg zu haben, hatte Ugulesch in einer Blitzaktion alle eingefrorenen Diener wiederbelebt. Die geschrumpften Sklaven waren in ihre ursprüngliche Größe zurückverwandelt worden, denn sie sollten in der Lage sein, ihre gesamten körperlichen Fähigkeiten bei der Suche nach Erbolix einzusetzen. Jetzt jedoch stand Ugulesch direkt neben dem Schachteingang und zögerte, seine Armee in Marsch zu setzen. Der Lärm, der aus der Tiefe kam, irritierte ihn. Was geschah in den unteren Räumen? Das Rumoren konnte doch nicht allein von Erbolix ausgelöst werden! Ugulesch wußte, daß er keine andere Wahl hatte, als sich persönlich von den Vorgängen in den unteren Höhlen ein Bild zu machen. Mit zwiespältigen Gefühlen stieg der Bucklige erneut in den Schacht. Dort hatten sich die Verhältnisse inzwischen nicht verändert – im Gegenteil: Größere Furcht als jemals zuvor überfiel den Gnomen, und er begann, sich zu
beeilen. Seine Hast wurde ihm auf dem letzten Drittel des Weges zum Verhängnis. Er rutschte ab. Seine nach Halt suchenden Hände griffen ins Leere. Er rutschte in die Tiefe, wobei er seinen Körper überall aufschrammte. Doch als er auf dem Boden am Ende des Schachtes aufprallte, hätte er alle Verletzungen mit Freuden auf sich genommen, wenn er dadurch den phantastischen Anblick hätte verschwinden lassen können, der sich seinen Augen bot. Der versteinerte Drache hatte sich aus den Felsen losgerissen. Er lag jetzt halbtot mitten in der Höhle in seinem eigenen Blut. Der lange Hals mit dem großen Kopf wies in Richtung des Schachtes. Schon diese Szene hätte genügt, um Ugulesch bis ins Innerste zu erschüttern. Was er jedoch noch sah, trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Neben dem Kopf des Drachen stand Erbolix. Er hatte den Umhang Dragons abgelegt. In seinen Händen jedoch hielt er die ultimate Waffe. »Nicht!« brachte Ugulesch hervor. »Tu es nicht!« Sie sahen sich an. Für den Bruchteil eines Augenblicks empfanden sie Verständnis füreinander. Vielleicht hätte Erbolix jetzt seine Feindschaft vergessen, doch da beging Ugulesch mehr instinktiv als
bewußt den entscheidenden Fehler. Er griff nach dem Hypnokristall auf seiner Brust, um Erbolix zu beeinflussen. Der Troll setzte das trompetenähnliche Instrument an die Lippen, blähte die Backen und stieß Luft in die Metallröhre. Ein klagendes, kaum hörbares Geräusch entstand dabei. Der Kristall auf Uguleschs Brust verlor seine Leuchtkraft und zerfiel zu Staub. Und mit ihm zerfielen all die Tausende Steine, die Ugulesch im Verlauf der Jahrzehnte geschaffen hatte. Im Felsenschloß wurde es dunkel.
9.
Stille breitete sich aus. Der Troll stand da, die Trompete hing noch vor seinem Mund, aber er wußte, daß er sie kein zweites Mal zu benutzen brauchte. Es gab keine Kristalle mehr. Er hatte sie mit Uguleschs ultimater Waffe alle zerstört. Nach einiger Zeit klangen Stimmen auf. Es waren die verwirrten Gefangenen am oberen Ende des
Schachtes, die jetzt ihren freien Willen wiederfanden und offenbar nicht wußten, was sie tun sollten. Erbolix tappte durch die Dunkelheit und tastete auf dem vom Blut des Drachen feuchten Boden umher, bis er den Umhang Dragons gefunden hatte. Erbolix schleppte den Umhang bis zum Kopf des Drachen. Das war nicht einfach, denn das Tuch war jetzt mit Blut getränkt. »Erbolix!« hörte er Dragon in diesem Augenblick rufen. »Ist dir etwas geschehen? Bist du noch dort unten? Du mußt heraufkommen, damit du uns durch die dunklen Räume ins Freie führen kannst.« »Ich komme!« schrie der Troll. Er hoffte, daß Dragon ihn bei dem Lärm, den die Gefangenen veranstalteten, hören konnte. Dann wandte er sich an den Drachen. »Ich muß dort hinauf«, sagte er. »Ich werde es mit dem Umhang nicht schaffen, wenn du mir nicht hilfst. Vielleicht kannst du ein bißchen Feuer speien, damit ich auf dem Strahl nach oben reiten kann. Jetzt da alle Kristalle vernichtet sind, wird mir das gelingen.« Ein Zucken ging durch den Körper des Riesen. Der Troll begann zu weinen. Er lehnte sich gegen den Kopf des Drachen. »Ich kann dir nicht helfen«, sagte er verzweifelt. »Du bist der Letzte deines Volkes aus der alten Welt. Aber du sollst mit der Gewißheit sterben, daß es auf der
Erde noch immer Drachen gibt – und Trolle, von denen sie beraten werden können.« Es gab ein knirschendes Geräusch, als der Drache den Rachen öffnete. Ein Flammenspeer kam daraus hervor. Der Troll sprang auf und segelte davon, direkt in den Schacht hinein. Dabei hielt er Dragons Umhang fest umklammert. Dragon hatte die Mitglieder seiner Gruppe vor dem Felsenschloß versammelt. Inzwischen waren alle Gefangenen von Erbolix herausgeführt worden. Die meisten von ihnen waren bereits in ihre Heimat unterwegs. Der Troll hatte sich entschlossen, von nun an bei der Gruppe des Atlanters zu bleiben. »Was ist mit Ugulesch geschehen?« fragte Dragon, als Erbolix zum letztenmal aus dem Felsenschloß kam. »Er ist irgendwo in den unteren Höhlen«, erwiderte der Troll. »Wir sollten ihn in Ruhe lassen. Wenn er nicht verrückt geworden ist, dann wird er sich zumindest nie wieder mit Kristallen beschäftigen.« Dragon wußte, daß er viel Zeit verloren hatte. Sie mußten so schnell wie möglich zum Feenpalast der Kyrace. Das gab den Ausschlag. Die von ihm zunächst geplante Jagd auf Ugulesch würde nicht stattfinden. »Wir brechen auf«, entschied er. »Die anderen
Gefangenen können sich selbst um ihr Schicksal kümmern. Eine Gruppe von vier Händlern hat sich des blinden Wor von Dordondien angenommen.« Er sah sich um und stellte fest, daß ein Mitglied seiner Gruppe fehlte. »Wo ist Nabib?« erkundigte er sich besorgt. Hegon deutete zum Pfad hinüber, auf dem sie ins Felsenschloß gekommen waren. »Er sammelt die überall verstreut liegenden Kristalle ein. Alle Steine außerhalb des Felsenschlosses wurden nicht vernichtet, aber sie haben ihre Wirkung verloren.« In diesem Augenblick tauchte Nabib hinter dem Hügel auf. Er hatte einen prall gefüllten Sack auf der Schulter. Auf seinem breiten Gesicht zeigte sich ein zufriedenes Lächeln. »Ich habe es immer gewußt, daß ich eines Tages einen Schatz finden würde«, sagte er glücklich. »Die Geduld hat mir recht gegeben.« Er trat vor Dragon und öffnete den Sack. »Sieh hinein!« forderte er den Atlanter auf. »Ich, Nabib von Thinayda, bin einer der reichsten Männer meines Landes geworden.« Dragon blickte in den Sack. »Wirf selbst einen Blick hinein!« forderte er Nabib auf. Der Händler senkte den Kopf. Sein Gesicht wurde
grau, seine zitternden Hände konnten den Sack nicht mehr festhalten. »Kieselsteine!« ächzte er. »Sie haben sich plötzlich in Kieselsteine verwandelt.« Dragon lächelte. »Es sieht so aus, als müßtest du noch eine Weile hinter anderen Reichtümern herjagen.« »Wie ist das möglich?« jammerte Nabib fassungslos. »Das darf es doch nicht geben.« Dragon sah den Troll an, der es sich in der Armbeuge des Atlanters bequem gemacht hatte. Das Männlein zwinkerte ihm zu. »Nur ein kleines Wunder«, sagte es bescheiden. »Schließlich mußte ich herausfinden, ob meine Fähigkeit noch funktioniert.« ENDE Nach dem unfreiwilligen Aufenthalt in Uguleschs »Felsenschloß« ziehen Dragon und seine Gefährten, zu denen nun auch der Troll Erbolix gehört, weiter und erreichen ohne Zwischenfälle die wartenden Schiffe unter dem Kommando Jaggars, des ehemaligen Piratenkapitäns. Dragon ist jedoch nicht gewillt, nach Myra zurückzukehren. Jetzt will er seinerseits dem Balamiter eine tödliche Falle stellen und deshalb segelt er zur
INSEL DER KYRACE ... DIE INSEL DER KYRACE unter diesem Titel erscheint auch der nächste Dragon-Band. Der Roman ist von Hans Kneifel geschrieben.