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1. Die australische Küste lag querab: eine unregelmäßige grünlich-braune Linie über dem weißen Strich der Brandung. Die „Isabella VIII." rauschte mit halbem Wind unter Vollzeug westwärts. Das Wasser war fast so blau wie der makellose Himmel. Eine handige Brise wehte und ließ das lange schwarze Haar des Seewolfs
flattern. Philip Hasard Killigrew stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells, kniff die eisblauen Augen zusammen und versuchte zu ergründen, was ihm an diesem Bilderbuch-Wetter nicht gefallen wollte. Die paar fedrigen, geblich-weißen Wölkchen im Süden? Er kannte das Wetter in dieser Gegend nicht besonders gut, aber er hatte ein Gespür für Wind und Wel-
4 len, für den Geschmack der Luft und die unmerklichen Veränderungen der Atmosphäre, die sich nicht mit dem Verstand, sondern nur instinktiv erfassen ließen. Er war nicht der einzige. Neben ihm starrte sein Bootsmann Ben Brighton ausdauernd die fedrigen Gebilde über der Kimm an. Old Donegal Daniel O'Flynn rieb an seinem Beinstumpf herum und schimpfte brummelnd über die Gegend, die er als gewissen edlen Körperteil der Welt bezeichnete. Unten auf der Kuhl fluchte Edwin Carberry, der eiserne Profos, daß es nur so rauchte: Aber das besagte nicht viel, da er es immer tat, und außerdem einen guten Grund hatte. Philip und Hasard, die neunjährigen Söhne des Seewolfs, waren nämlich wie die Kastenteufel aus dem Kombüsenschott geflitzt und ihm genau vor die Füße gelaufen. In der Kombüse schepperte etwas. Im nächsten Augenblick sauste auch der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella", aus dem Schott mit einem langen Holzlöffel in der Rechten. Er rannte genau in den Profos hinein. Da Edwin Carberry einen Brustkasten wie ein Bierfaß und die Standfestigkeit des Londoner Towers hatte, prallte der Kutscher drei Schritte zurück und wäre fast wieder in der Kombüse gelandet. Im letzten Moment fing er sich und holte tief Luft. Gegen den eisernen Profos nahm er sich eher mickrig aus: ein mittelgroßer, etwas schmalbrüstiger Mann mit dunkelblonden Haaren. Bevor ihn eine Preßgang des damaligen Kapitäns Francis Drake kurzerhand zum Seemann befördert hatte, war er Kutscher bei Doc Freemont in Plymouth gewesen. Kutscher wurde
er immer noch genannt. Ansonsten verstand er heute nicht mehr so recht, wie es ein vernunftbegabter Mensch länger als ein paar Tage an Land aushalten konnte. „Du Holzklotz!" fauchte er jetzt. „Mußt du unbedingt im Weg herumlatschen, wenn ich ..." „Sagtest du Holzklotz, du mißratener Kochlöffel-Schwinger?" raunzte der Profos. „Überhaupt, was soll der verdammte Kochlöffel? Willst du damit vielleicht das Bilgewasser umrühren, was, wie?" „Nein, aber diesen beiden Teufelsbraten den Hintern verdreschen! Verdammt, wo sind sie denn jetzt schon wieder?" Von den Zwillingen war keine Spur mehr zu sehen. Philip Hasard Killigrew kratzte sich am Kopf, weil er mal wieder väterliche Pflichten auf sich zurücken sah. „Was ist los, Kutscher?" fragte er knapp. „Deine Söhne klauen Rosinen, Sir!" meldete der Kutscher erbost. „Dann verdrisch sie", erklärte Hasard gelassen. „Aye, aye, Sir. Aber dazu muß ich sie erst finden, und inzwischen brennt mir die Suppe - die Suppe ..." Das letzte war ein Schreckensschrei. Wie von einem Marlspieker gepiekst fuhr der Kutscher herum und raste in seine Kombüse, aus der feine weiße Rauchschwaden drangen. Das Schott knallte zu. Hasard grinste, denn im selben Augenblick erschienen seine Söhne wieder auf der Bildfläche. Sie kauten noch. Ausgerissen waren sie nämlich nicht, weil sie sich einbildeten, der gerechten Strafe entgehen zu können, sondern weil sie neben dem Schaden wenigstens auch den Genuß haben wollten.
5 Vorerst allerdings wurde das Donnerwetter aufgeschoben. „Deck!" erklang Bills Stimme aus dem Großmars. „Mastspitzen Backbord voraus!" Und das führte dazu, daß sich in den nächsten Minuten niemand mehr um die wenig zerknirschten Missetäter kümmerte. Der Seewolf enterte ein Stück in die Besanwanten und setzte das Spektiv an. Mastspitzen waren in dieser Gegend äußerst selten. Ob sie etwas Gutes bedeuteten, durfte bezweifelt werden. Gespannt schwenkte Hasard die Kimm ab und dann mußte er kräftig schlukken, um den Anblick zu verdauen. Mastspitzen, ja, aber ein ganzer Wald davon. Mindestens vier Schiffe, vielleicht noch mehr. Sie kamen von Südwesten und liefen mit raumem Wind Nordost-Kurs. Ein Kurs, der - falls er beibehalten wurde - den der „Isabella" kreuzen würde. Hasard runzelte die Stirn und ließ das Spektiv sinken. Mit einem Sprung stand er wieder auf dem Achterkastell. „Bill!" rief er. „Behalte die Schiffe im Auge und melde jede Veränderung ihres Kurses! Außerdem will ich wissen, wie die Kähne aussehen." Und zu seinem Bootsmann: „Wir machen gefechtsklar, Ben. Stückpforten bleiben vorerst geschlossen. Wenn die Burschen friedliche Absichten haben, soll es an uns nicht liegen." „Aye, aye, Sir! Klar Schiff zum Gefecht überall! Kugeln, Kartuschen und Sandsäcke an Deck! Al, laß die Kanonen bemannen." „Aye, aye! Klar bei Culverinen und Drehbassen! Smoky, Stenmark, ihr lahmen Rübenschweine ..." Der schwarzhaarige Stückmeister
war in seinem Element, strich wie ein grollender Geist über das Geschützdeck und überzeugte sich, daß alles in Ordnung war. Er wußte, daß er keinerlei Grund zu Beanstandungen finden würde. Aber der ruhige, stämmige Al Conroy war ein Mann, der einer Sache grundsätzlich erst traute, wenn er sie mit eigenen Augen untersucht hatte. „Deck!" tönte Bills Stimme aus dem Großmars. „Ich kann sechs Schiffe erkennen, in Kiellinie gestaffelt. Ein Viermaster als erstes Schiff. Der sieht - eh - irgendwie komisch aus." Ed Carberry, der gerade Blacky anbrüllte, die gottverdammten Kettenkugeln gefälligst schneller zu mannen, hielt verblüfft inne. „Komisch?" röhrte er. „Sagtest du komisch, du halbflügge Bettwanze? Ist das vielleicht eine anständige Meldung, was, wie?" „Weiß ich nicht"; sagte Bill aus seiner sicheren Höhe ziemlich trocken. „Aber der Viermaster ist nun mal komisch." Dem Profos blieb die Luft weg. Hasard schüttelte den Kopf. „Dan!" schrie er. „Sir?" Der schlanke, blondhaarige junge Mann tauchte neben ihm auf. Donegal Daniel O'Flynn junior gehörte zur Schiffsführung und befaßte sich vorwiegend mit navigatorischen Aufgaben. Aber er hatte immer noch die schärfsten Augen an Bord, und die wurden jetzt gebraucht. Der Seewolf drückte ihm das Spektiv in die Hand. „Enter auf und wirf mal einen Blick auf den ,komischen' Viermaster!" „Aye, Sir." Dan flitzte den Niedergang hinunter und enterte geschickt wie eine Katze in die Wanten. Hasard beob-
6 achtete ihn und dachte flüchtig an die Zeiten, als der junge O'Flynn noch das sechzehnjährige Bürschchen mit dem unschlagbar frechen Mundwerk gewesen war. Jetzt hatte sich auch Bill, der frühere Moses, zum Mann entwickelt. Und auf der „Isabella" wuchsen gleich zwei Schiffsjungen heran, die das Zeug hatten, einmal ausgezeichnete Seeleute zu werden. Auf der Plattform im Großmast warf Dan O'Flynn einen langen Blick durch das Spektiv. Als er es wieder sinken ließ, stand eine steile Falte auf seiner Stirn. Reichlich verblüfft blickte er nach unten. „Sir!" rief er. „Der ganze Verband ist komisch." „Himmelarsch!" brüllte Carberry auf der Kuhl. „Willst du Stint uns auf den Arm nehmen? Du glaubst wohl, der alte Carberry kriegt es nicht fertig, dir eigenhändig die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch abzuziehen, was, wie?" „Komm doch 'rauf, du karierter Affe!" forderte Dan. „Oder hast du Angst, du fällst aus dem Mars - was, wie?" Der Profos holte Luft, daß sich sein breiter Brustkasten dehnte. Nur Hasards scharfer Zuruf hinderte ihn daran, ebenfalls aufzuentern, was für den Großmars entschieden zuviel Betrieb ergeben hätte. Dan flitzte schon wieder die Wanten hinunter. Schweigend drückte er Carberry den Kieker in die Hand, und der stand mit drei Schritten am Backbord-Schanzkleid. Er spähte nach Südwesten - eine volle Minute lang. Und danach schnitt er das Gesicht eines Mannes, der die Angel nach einem Hering ausgeworfen und einen
Hai an den Haken bekommen hat. „Sir", sagte er erschüttert. „Ich will meine Seestiefel fressen und die Sokken als Nachtisch, wenn das nicht wirklich die komischsten Waschzuber sind, die ich je gesehen habe." Ein paar Minuten später konnte auch der Seewolf erkennen, was Ed Carberry meinte. „Komisch" war vielleicht nicht das richtige Wort - „fremdartig" hätte es besser getroffen. Fremdartig auf eine irgendwie sonderbare, verquere Weise, denn mit Ausnahme des Viermasters bestand der Verband aus ganz normalen Galeonen und einer Karavelle. Schiffe, die in allen Regenbogenfarben schillerten, an deren Toppen yardlange Banner flatterten, deren Aufbauten verändert worden waren, als hätte ein verrückter Schiffbauer ihnen Pagodendächer aufgesetzt. Auf sämtlichen Segeln prangten leuchtende Bilder. Nach einer Weile konnte Hasard durch das Spektiv erkennen, daß es sich um Tigerköpfe mit aufgerissenen Rachen handelte. „Grundgütiger Himmel", murmelte er ergriffen. „Sir?" fragte Ben Brighton neben ihm. Der Seewolf reichte ihm schweigend das Spektiv. Das führende Schiff des fremden Verbandes war jetzt auch mit bloßem Auge schon recht gut zu sehen. Ein Viermaster, der entfernt an den Schwarzen Segler erinnerte. „Eiliger Drache über den Wassern" sah nach einhelliger Meinung der Crew wie eine gelungene Kreuzung zwischen Dschunke und Galeone aus. Wollte man bei dem Vergleich bleiben, mußte man das Flaggschiff der
7 Fremden allerdings als mißglückte Kreuzung bezeichnen. Zum Teil mochte das daran liegen, daß es Aufbauten an Stellen hatte, wo keine hingehörten, zahllose Türmchen und Zierdächer, vergoldete Schnörkel, wo immer sie sich denken ließen, Baldachine als Schattenspender, geschnitzte, bemalte Figuren im Überfluß. Das ganze Schiff sah aus, als habe ein verwöhntes Kind seine Phantasie ausgetobt. Oder ein größenwahnsinniger Irrer, der seinen kostbaren Fuß nicht auf eine gewöhnliche Galeone, sondern nur in einen schwimmenden Palast setzen wollte. „Heiliger Bimbam", sagte Ben Brighton, während er das Spektiv sinken ließ. „Wenn da ein harter Brecher dazwischenschlägt, haben sie die schönste Wuhling an Deck", ließ sich Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, fachmännisch vernehmen. „Ein Tiger!" schrie der kleine Philip begeistert. „Schau, Hasard, ein Tiger!" In der Tat: die Galionsfigur des Viermasters war der Bewunderung wert. Ein lebensgroßer springender Tiger, schwarz und golden glänzend, mit grünglitzernden Augen, in denen der Seewolf aus der Entfernung Smaragde vermutete. Hirnrissig, dachte er. Der Tiger ging ja noch an. Aber wenn die Burschen mit ihrem Viermaster in einen kräftigen Sturm gerieten, würde ihnen garantiert die Dekoration um die Ohren fliegen. Hasard wandte sich ab und überzeugte sich durch einen Blick, daß die „Isabella" gefechtsklar war. Noch blieben die Stückpforten geschlossen. Doch im Notfall würde es nur ein paar Handgriffe kosten, sie
zu öffnen und die schweren Culverinen mit den überlangen Rohren auszurennen. Sechs Gegner stellten zwar eine gefährliche Übermacht dar, doch die Seewölfe waren schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden. „Sten, Smoky - sind die Brandsätze klar?" „Klar, Sir", bestätigte Smoky, der Decksälteste, der mit dem blonden Schweden Stenmark neben den Bronzegestellen zum Abschießen der chinesischen Raketen kauerte. „Brandpfeile klar?" „Klar!" dröhnte die Stimme Big Old Shanes vom Bug her. „Batuti auch klar", ließ sich der schwarze Herkules aus Gambia von achtern vernehmen. „Deck!" schrie Bill im selben Augenblick aus dem Großmars. „Viermaster luvt an! Der Verband dreht parallel zu unserem Kurs!" Das tat er wirklich. Was allerdings nicht bedeutete, daß er auswich - im Gegenteil. Der Viermaster war kurz davor gewesen, den Kurs der „Isabella" zu kreuzen. Jetzt lief er, ebenfalls mithalbem Wind, über Backbordbug auf die Galeone zu - und hinter ihm fielen die drei letzten Schiffe wieder etwas ab und scherten aus der Kiellinie. Philip Hasard Killigrew lächelte hart und zeigte die kräftigen weißen Zähne, die ihm bei jener legendären Straßenschlacht vor der „Bloody Mary" in Plymouth den Kriegsnamen Seewolf eingetragen hatten. Was die Fremden planten, war nicht schwer zu durchschauen. Die drei ausgescherten Schiffe - zwei Galeonen und eine Karavelle - luvten wieder an, kaum daß sie den Kurs der „Isabella" gekreuzt hatten. Auch sie staffelten wieder in Kielli-
8 nie, und damit glich die Formation des Verbandes jetzt einer weit offenen Falle. „Die haben Nerven, haben die", sagte Ferris Tucker erschüttert. „Hirnamputierte Hammel sind das!" fauchte Ed Carberry aufgebracht. „Denken die vielleicht, wir haben die Seefahrt im Nachttopf gelernt, was, wie? Na wartet, euch ziehe ich die Haut in Streifen von euren verdammten Affenärschen!" Daß die „hirnamputierten Hammel" ihn nicht hören konnten, schien ihn wenig zu stören. Die Zwillinge lauschten hingerissen, wie immer, wenn der Profos fluchte. Hasard junior legte den Kopf schief und spähte zu Hasard senior hinauf. „Gibt's gleich Zunder, Dad, Sir?" fragte er. „Zunder kriegt ihr vom Kutscher", versprach der Seewolf. „Später! Was es vorher gibt, müssen wir erst mal abwarten. Ich denke..." Er unterbrach sich. Aus den Augenwinkeln hatte er die ganze Zeit über den fremden Verband beobachtet. Was er jetzt sah, ließ ihn überrascht die Stirn runzeln, und im nächsten Augenblick meldete es auch Bill aus dem Großmars. „Deck!" rief er. „Auf dem TigerSchiff geht ein weißer Fetzen am Flaggenstag hoch. Ich nehme an, daß das eine Friedensfahne sein soll." * Sekundenlang blieb es still. Tatsächlich: der Viermaster mit dem Tiger als Galionsfigur hatte, vermutlich mangels anderer Verständigungsmöglichkeiten, eine weiße Flagge gehißt. Damit signalisierte er friedliche Absichten - so weit, so gut. Aber signalisieren konnte man viel. Der Seewolf kniff skeptisch die
Augen zusammen. „Komm heraus, ich bin dein Freund - sagte der Fuchs, als ihm das Kaninchenloch zu eng war", murmelte Ben Brighton zwischen zusammengebissenen Zähnen. Hasard grinste. „Klar bist du mein Freund, sprach das Kaninchen und kam heraus, aber nicht aus dem Loch, vor dem der Fuchs lauerte." Er warf das Haar zurück und hob die Stimme: „Klar zum Anluven! Sobald wir an dem Viermaster vorbeigelaufen sind, gehen wir an den Wind und brechen durch die Linie. Das muß schneller gehen, als die Burschen denken können. Wenn sie mit uns reden wollen, reden wir, aber aus der Luvposition, ob es ihnen paßt oder nicht." Die Männer feixten. An den Culverinen hielten sich die Geschützmannschaften bereit, um notfalls blitzartig die Stückpforten zu öffnen und die Kanonen auszurennen. Zwei Raketen mit dem unlöschbaren chinesischen Feuer steckten bereits in den Abschuß-Gestellen. Diese verheerenden Brandsätze verwendeten die Seewölfe nur, wenn es gar nicht anders ging, schon weil die Dinger nicht unbegrenzt zur Verfügung standen. Aber wenn eine Übermacht von sechs schwer bewaffneten Schiffen angriff, mußte sich die „Isabella" natürlich mit allen Mitteln wehren. Aus schmalen Augen spähte Hasard voraus. Immer näher glitt der Verband der abenteuerlich ausstaffierten Schiffe. Deutlich konnte man jetzt sehen, mit welchem Prunk, welchem Ballast an überflüssigem Zierat sie ausgestattet waren. Die Tigerköpfe auf den Segeln sollten bedrohlich wirken, doch die Orgie der Prachtentfaltung
9 zerstörte diesen Eindruck wieder. Jetzt konnte Hasard auch den Burschen auf dem Achterkastell des Viermasters sehen. Ein hochgewachsener, wuchtiger Mann mit einem karmesinroten Turban, den über der Stirn ein großer, grün funkelnder Edelstein zusammenhielt. Das Gesicht war breit, kräftig, mit einer schon erschlafften olivfarbenen Haut und tiefschwarzen Augen. Er trug eine Art Mantel, goldfarben, dazu verschiedenfarbige Schärpen, eine schwere, funkelnde Halskette, an der Hüfte ein mächtiges Krummschwert in einer edelsteinbesetzten Scheide. Wer er war oder was er darstellte, ließ sich aus der Kleidung nicht erkennen. Hasard vermutete ohnehin, daß es sich um eine Phantasie-Uniform handelte, die die gleiche Neigung zu einer ins Lächerliche übersteigerten Prunksucht verriet wie
die Ausstattung der Schiffe. Trotzdem beging der Seewolf nicht den Fehler, die Fremden zu- unterschätzen. Ein größenwahnsinniger Piraten-Häuptling, vermutete er. Oder einer der zahllosen Herrscher und Würdenträger aus der geheimnisvollen Inselwelt, die den Pazifik vom Indischen Ozean trennte. Auf jeden Fall ein selbstherrlicher Typ - und die Tiger als Wahrzeichen der klei-, nen Flotte redeten ihre eigene Sprache. Jetzt war der Viermaster fast mit der „Isabella" auf gleicher Höhe. Die drei Schiffe an der Steuerbordseite der ranken Galeone hingen etwas zurück, weil die Karavelle an der Spitze mit schlecht getrimmten Segeln weniger Fahrt lief. An Deck der „Isabella" herrschte gespanntes Schweigen. Die Brassen waren zum Laufen klargelegt, Pete Ballie im
10 Ruderhaus stand auf dem Sprung. Stenmark und Smoky blickten zu Hasard hinüber, und als der ihnen zunickte, richteten sie mit ein paar Griffen auch das zweite Bronzegestell nach Steuerbord aus. „Anluven!" befahl der Seewolf gelassen. „An den Wind mit dem Kahn!" Und dann lief auf der „Isabella" ein Segelmanöver ab, bei dem so mancher Kapitän, der eine erstklassige Crew zu befehligen glaubte, vor Neid erblaßt wäre. Die ranke Galeone ging hart an den Wind, schor knapp am Heck des Viermasters vorbei und durchbrach die Kiellinie ihrer Gegner, ehe die noch ganz begriffen, was die „Isabella" vorhatte. „Klar zur Wende!" befahl Hasard knapp. „Wir gehen überstag und drehen parallel zu dem Viermaster. Mal sehen, ob er dann die Zähne zeigt", fügte er hinzu. Aber das sagte er mehr zu sich selbst und so leise, daß nur Ben Brighton es verstehen konnte. „Wetten, daß er vergoldete Kanonenrohre hat?" fragte der Bootsmann grinsend. „Klar zum Wenden!" brüllte Ed Carberry auf der Kuhl. „Hopp-hopp, ihr Rübenschweine, oder ich ziehe euch streifenweise die Haut vom ..." Weiter gelangte er nicht. Erstens lag die „Isabella" bereits auf Parallelkurs und holte rasch auf. Und zweitens bewies das „TigerSchiff", daß es mit der weißen Flagge alles Mögliche hatte signalisieren wollen, nur nicht die Bereitschaft, sich schön klein und bescheiden zu verhalten. Dröhnend entlud sich ihre achtere Drehbasse. Pulverdampf wölkte auf, unmit-
telbar vor dem Bug der „Isabella" klatschte eine Kugel ins Wasser. Das war eine unmißverständliche Aufforderung zum Beidrehen. Und eine ausgesprochen unfreundliche Aufforderung dazu. Die Männer an den Geschützen hatten plötzlich steinerne Gesichter. Man sah ihnen an, wie gern sie die Kerle, die es wagten, ihnen eine Kugel vor den Bug zu setzen, zu Kleinholz verarbeitet hätten. Aber Hasard dachte an die weiße Flagge und entschied, daß man den Schuß zunächst einmal als Mangel an besser geeigneten Verständigungsmöglichkeiten deuten könne. „Klar zum Beidrehen!" befahl er knapp. Daß seine Männer hörbar und erbittert mit den Zähnen knirschten, überraschte ihn nicht weiter. 2. Es war ein sonderbares, fast gespenstisches Bild: der Verband von sechs prachtvoll ausgestatteten, vielfarbig leuchtenden und funkelnden Schiffen, die beigedreht mit aufgegeiten Segeln auf der Dünung schaukelten - und an ihrer Luvseite die ranke Galeone, schmucklos, aber mit ihren überlangen Masten und den ungewöhnlich flachen Linien so gefährlich wie ein Falke unter lauter Paradiesvögeln. Jetzt, da die Tigerköpfe auf den Segeln nicht mehr zu erkennen waren, wirkte all der farbenprächtige Zierat noch lächerlicher. Trotzdem herrschte an Bord der „Isabella" spürbare Spannung. Hinter den geschlossenen Stückpforten kauerten die Männer sprungbereit und konzentriert. Alle vier Drehbassen waren besetzt, um bei der ersten feindseli-
11 gen Geste sofort einen Bleihagel auf die Reise zu schicken. Nur die beiden Bronzegestelle zum Abschießen der Brandsätze waren von der Kuhl auf die Back verlegt worden. Die brauchten fremde Augen nämlich nicht unbedingt zu sehen - und im Moment wurde an Bord des Viermasters gerade ein Beiboot abgefiert. Und was für ein Beiboot! „Heiliges Kanonenrohr", murmelte Old O'Flynn, der auf seinen Krücken an die Schmuckbalustrade gehinkt war. „Sieht aus wie'n Äppelkahn", meinte Ferris Tucker kurz und bündig. Damit hatte er den Nagel nur bedingt auf den Kopf getroffen. Tatsächlich hatte die Bauweise des Bootes Ähnlichkeit mit einem sehr flachen und breiten Lastkahn. Durch eine Brandung konnte man das Ding bestimmt nicht sicher steuern. Aber dafür hatte es achtern eine Art Zeltaufbau, einen seidenen, in Rot und Gold schimmernden Baldachin, reich geschmückt mit bunten Trod- . deln und allen möglichen Bändern und Bordüren. Ein Aufbau, der offenbar dem alleinigen Zweck diente, dem Mann im Bootsheck Schatten zu spenden. Nicht etwa demjenigen, der die Pinne bediente - der konnte sehen, wie er mit der versperrten Sicht klarkam -, sondern dem Burschen, der es sich unter dem Baldachin bequem gemacht hatte wie der große Chan persönlich in seiner Sänfte. Nicht der behäbige Turbanmensch, wie Hasard mit einem Blick feststellte. Der Kerl in dem Beiboot-Monstrum war klein, hager und habichtnasig. Was ihm an Größe fehlte, glich er durch arrogante Haltung aus. Seine Rudergasten pullten mit gesenk-
ten Köpfen. Sie trugen Pluderhosen und nach Kefiah-Art geschlungene Kopftücher. Ihre Oberkörper waren nackt, jeder einzelne hatte an der rechten Schulter ein Brandzeichen, das an einen stilisierten Tiger-Kopf erinnerte. „Der Obermacher von dem Verein scheint sich höllisch wild vorzukommen", meinte Ben Brighton trocken. Hasard verzog das Gesicht. Gespannt beobachtete er, wie das Beiboot-Monstrum längsseits ging. Blacky und Matt Davies hatten etwas lahm die Jakobsleiter ausgebracht. Aufentern mußte der Habichtnasige schon selbst, eine Sänfte konnte niemand für ihn abfieren. Auf die Kuhl hievte ihn auch niemand. Sekundenlang stand er ziemlich unschlüssig da, während sich seine schwarzen Knopfaugen mit Wut füllten. Hasard hatte nicht im Traum daran gedacht, den Kerl an der Jakobsleiter zu empfangen. Seine Begleitung blieb unten. Die Knopfaugen glitten in die Runde - und weiteten sich etwas, da die volle Gefechtsbereitschaft der „Isabella" nicht zu übersehen war. Er faßte sich schnell wieder. „Ich wünsche den Kapitän dieses Schiffs zu sprechen", erklärte er in fließendem Spanisch. Es klang unglaublich arrogant. Edwin Carberry holte Luft und stemmte die Fäuste in die Hüften. Sein wüstes Narbengesicht rötete sich, das Rammkinn schob er auf eine Art vor, die der Selbstherrlichkeit des Besuchers sichtlich einen Dämpfer aufsetzte. „Ah!" knurrte er. „Und wer will den Kapitän dieses Schiffs sprechen?" Der kleine Mann straffte sich. „Bej
12 Kinoshan, im Auftrag des ehrwürdi- und Sie haben uns mit einer Kugel gen Moguls von Annampar, Abu vor den Bug gestoppt. Ich bin verBashri." dammt gespannt auf Ihre Erklärung." Na denn, dachte Hasard. Er enterte bereits den Niedergang hinunter. Der gute Bej Kinoshan sollte getrost auf der Kuhl bleiben, um sein Sprüchlein aufzusagen. Dort Weißer Strand säumte die blaue, fühlte er sich nämlich sichtlich un- tief eingeschnittene Bucht. wohl, was an der Versammlung wilIm Sonnenlicht schimmerte das der Gestalten lag, die einen Halb- Wasser makellos blau, umspülte den kreis um ihn bildeten. roh gezimmerten Bootssteg und ließ Matt Davies polierte angelegent- die Karavelle mit den aufgegeiten lich den scharfen Stahlhaken der Segeln sacht um die Ankertrosse Prothese, die ihm die rechte Hand er- schwojen. Jenseits des Strandstreisetzte. Ferris Tucker streichelte lie- fens stieg das Gelände an. Struppige, bevoll den Griff seiner riesigen Zim- hüfthohe Sandheide wucherte zwimermannsaxt. Blacky betrachtete schen den Klippen, weiter oben ragseine Fäuste, Ed Carberry brauchte ten ein paar einzelne Eukalyptusnur dazustehen, um bedrohlicher zu bäume in den Himmel. Zum Landinwirken als alle zusammen. Der An- neren hin schloß sich eine kleine blick der Zwillinge war zwar nicht grasbewachsene Hochfläche an, auf besonders einschüchternd, aber der ein Dutzend weidender Ziegen recht verwirrend, und zu allem wie helle Flecken wirkten. Überfluß mischte sich jetzt auch Ein paar einfache Pfahlhütten noch der karmesinrote Ara-Papagei schmiegten sich in den Schutz der Sir John ins Geschehen. Felsen. „Hijo de puta!" krähte er auf spaWasserrinnen aus ausgehöhlten nisch, da er soeben ein paar Worte in Baumstämmen führten von der Süßdieser Sprache gehört hatte. „Ba- wasserquelle zu den Behausungen. stardo! Hijo de perro!" Am Strand waren Holzgerüste aufWas sonst noch folgte, klang zwar gebaut, auf denen Fisch trocknete. etwas wirr, aber ausgesprochen blut- Über einer großen Feuergrube drehrünstig. Der Besucher mußte den ten sich Fleischstücke am Spieß. Die Eindruck gewinnen, daß man auf beiden Männer, die daneben auf den diesem Schiff ausgesprochen schnell Fersen kauerten, beschäftigten sich mit Kielholen, An-die-Rahnock damit, Fischreusen zu reparieren. knüpfen, Hautabziehen und ähnlich In einer der Hütten prüften drei unerfreulichen Gesten bei der Hand weitere Männer ihre Musketen, weil war. Bej Kinoshan wurde etwas blaß sie einen Streifzug ins Landesinnere um die Habichtnase und sah Hasard planten, um ihr Jagdglück zu versumit einem gar nicht mehr so arro- chen. ganten Blick entgegen. Erland Surraj hing sich die Waffe „Philip Hasard Killigrew", stellte über die Schulter und befestigte den sich der Seewolf vor. „Ich bin der Ka- Riemen der Wasserhaut an seinem pitän der ,Isabella'. Sie haben ver- Gürtel. Er war ein großer Mann, sehsucht, uns in die Zange zu nehmen, nig und muskulös, bekleidet mit Ho-
13 se und Hemd aus weichem Ziegenleder, die ihn unterwegs vor dem Dornengestrüpp schützen sollten. Struppiges Haar und ein dichter, schon ergrauter Bart umgaben ein noch junges Gesicht, in dem die malaiischen Züge mit den wasserhellen Augen einen sonderbaren Kontrast bildeten. Erland Surraj hatte asiatische, spanische und skandinavische Vorfahren, und so abenteuerlich wie seine Ahnenreihe war auch sein Lebensweg gewesen, der ihn hierher an den äußersten Nordwest-Zipfel Australiens verschlagen hatte. Seine Begleiter, ein knappes Dutzend kräftiger jüngerer Männer, waren Malaien, Inder und Polynesier. Einfache Menschen, denen das karge, harte Leben hier nichts ausmachte. Sie hätten auch größere Strapazen in Kauf genommen, denn alles erschien ihnen besser als das, was hinter ihnen lag. Die Narben der Peitschenstriemen auf ihren Rücken und die Brandzeichen an ihren Schultern zeigten, was sie gewesen waren: Sklaven eines grausamen Tyrannen, der Menschen wie Vieh behandelte. Erland Surraj verließ die Hütte und atmete tief die frische, salzige Luft ein. Seine Augen leuchteten auf, als sein Blick auf die beiden Kinder fiel, die gerade ihre kleinen, selbstgefertigten Schleppnetze in eins der Boote packten. Braunhäutige, blauäugige Kinder mit lachenden Gesichtern. Der zehnjährige Yabu trug nur ein weißes Lendentuch. Das blauschwarze Haar fiel ihm frei über die Schultern. Seine achtjährige Schwester Yessa hatte sich aus den Resten ihres alten Sari ein höchst praktisches Kleidungsstück genäht, das nur über den Kopf gezogen und in der Taille mit einer Lederschnur ge-
halten wurde. Beide waren vergnügt und gesund, kräftig, zäh und geschickt, und nichts erinnerte mehr daran, daß sie sich einmal in perlenbestickten Prunkgewändern in einem Palast gelangweilt hatten. Mit geübtem Schwung schoben sie die Piroge ins Wasser und richteten den Mast auf. Erland Surraj winkte ihnen zu. Die Kinder winkten fröhlich zurück. „Wir gehen fischen!" schrie der kleine Yabu. „In Ordnung! Aber seid vorsichtig und fahrt nicht zu weit hinaus!" „Wir passen schon auf ..." Yabu wandte sich dem Segel zu. Yessa übernahm die Ruderpinne. Geschickt steuerten die beiden das Boot aus der Bucht, und Erland Surraj sah ihnen nach, bis sie hinter der vorspringenden Landzunge verschwanden. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich ab und begann, zusammen mit seinen Begleitern, den steilen Trampelpfad zum Plateau hinaufzusteigen. * Bej Kinoshan, sichtlich eingeschüchtert von der furchtlosen Haltung der Seewölfe, brachte sein Anliegen ganz manierlich und bescheiden vor. „Der ehrwürdige Mogul Abu Bashri, Herrscher von Annampar, hat zwei Enkelkinder", erklärte er auf Spanisch. „Wie schön für ihn", sagte Hasard trocken. Bej Kinoshan blinzelte irritiert. „Die Kinder seiner verstorbenen Tochter Rhana, der Freude seines Herzens, die schön wie ein Stern war und allzufrüh dahingerafft wurde",
14 fuhr der kleine Mann fort. „Der junge Prinz ist des ehrwürdigen Moguls einziger Erbe, die kleine Prinzessin der Trost seines Alters und die Freude seiner Seele. Ruchlose Schurken haben die Kinder aus ihrem heimatlichen Palast entführt. Seit Monaten ist der ehrwürdige Mogul auf der Suche nach ihnen - vergeblich ..." Der Seewolf fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn. Das klang zwar alles etwas geschraubt und albern, aber an der Tatsache als solcher war durchaus nichts lächerliches. Hasard fühlte eine gewisse Sympathie für den dicken Turbanträger, der vermutlich die gleichen bitteren Erfahrungen durchlebte, die auch der Seewolf hatte sammeln müssen. Er dachte daran, wie er den Entführern seiner Söhne durch das ganze Mittelmeer nachgejagt war und schließlich von einem widerlichen, gewissenlosen Halunken erfahren hatte, daß sie angeblich tot seien. „Ich verstehe", sagte er ruhig. „Aber ich sehe nicht, wie wir dem ehrwürdigen Mogul in dieser Sache helfen können." „Sie können!" versicherte der kleine Mann. „Sie können es bestimmt. Der Entführer, dieser Hund, treibt sich mit seiner Karavelle in dieser Gegend herum. Der ehrwürdige Mogul war ihm dicht auf den Fersen, aber der Schurke ist entwischt. Ihr müßt ihm begegnet sein, irgendwo an diesen Küsten." Hasard sah die zwingende Logik dieses Gedankengangs nicht ganz ein. Aber grundsätzlich war er durchaus bereit, dem ehrwürdigen Mogul zu helfen. „Wir haben eine lange Fahrt hinter uns und sind unterwegs einer Menge Gesindel begegnet", sagte er. „Wer ist
dieser Entführer?" „Er heißt Erland Surraj. Ein großer Eurasier mit dem Gesicht eines Malaien und blauen Augen. Seiner Karavelle gab er den Namen ,Candia'. Er spricht viele Sprachen und versteht es, den Ahnungslosen zu täuschen. Ein hinterlistiger Schurke, der es verdient, tausend Tode zu sterben." Hasard zuckte mit den Schultern. „Es tut mir leid, daß ihr euch umsonst bemüht habt. Wir sind weder der ,Candia' noch einem Mann begegnet, auf den die Beschreibung zutrifft." Bej Kinoshan kriegte schmale Augen. „Wirklich nicht?" fragte er gedehnt. Hasard hob nur die Brauen. In der überflüssigen Frage klang Mißtrauen mit - und schon wieder jene aggressive Überheblichkeit, die der Seewolf nur zu gut von gewissen englischen Höflingen kannte, die sich ebenfalls einbildeten, daß alle anderen nur Schachfiguren seien, die nach ihrer Flöte zu tanzen hätten. Der kleine Mann mit der Hakennase schien der Auskunft nicht zu trauen und preßte die Lippen zusammen. Ärger und vielleicht auch Enttäuschung über die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen ließen ihn die Vorsicht vergessen. „Ich warne euch!" stieß er durch die Zähne. „Der ehrwürdige Mogul will die Wahrheit hören." „Der ehrwürdige Mogul hat die Wahrheit gehört", sagte Hasard kühl. „Beziehungsweise er wird sie hören, wenn Sie ihm Bericht erstatten. Sonst noch irgendwelche Fragen?" Bej Kinoshans schwarze Knopfauugen funkelten. Der Teufel mochte wissen, was in seinem Kopf vorging. Vielleicht hat-
15 te er Angst, daß ihn der ehrwürdige Mogul zu Hackfleisch verarbeiten würde, wenn er eine negative Auskunft brachte. Auf jeden Fall war er nicht bereit, sich mit dem Mißerfolg seiner Mission abzufinden. „Ich glaube euch nicht!" zischte er. „Ich rate euch dringend, die Wahrheit zu sagen, sonst..." „Sonst?" fragte der Seewolf. Seine Stimme klang sanft. Gefährlich sanft. Selbst jemand, der ihn nicht kannte, hätte das bemerken müssen. Aber der kleine Mann mit der Habichtnase war nicht zu bremsen. „Sonst werdet ihr es bereuen!" fauchte er. „Weil wir euch nämlich in Fetzen schießen und versenken!" 3. Für ein paar Sekunden waren nur das Knarren der Rahen und das Klatschen der Wellen gegen die Bordwand zu hören. Bej Kinoshan hatte einen herrischen Blick in die Runde geworfen jetzt stahl sich wieder jähe Unsicherheit in diesen Blick. Die Gesichter der Männer ringsum wirkten steinern. Philip Hasard Killigrews Augen funkelten kalt wie blaues Gletschereis. Bej Kinoshan schluckte und hatte plötzlich ein paar dicke Schweißperlen auf der Stirn. „Wer dem ehrwürdigen Mogul einen Gefallen erweist, tut es nicht zu seinem Schaden", wechselte er hastig die Marschrichtung. „Der ehrwürdige Mogul wird euch reich machen und euch fürstlich beschenken." „Wir lassen uns nichts schenken", sagte Hasard kalt. „Belohnen!" verbesserte sich der kleine Mann rasch. „Fürstlich beloh-
nen wird er euch, wenn ihr ihm die Wahrheit sagt. Ich schwöre euch ..." Er verstummte abrupt. Der Blick der eisblauen Augen ließ ihn einen halben Schritt zurückprallen. Hasards Haltung wirkte sehr ruhig, sehr gelassen - und ungeheuer gefährlich. „Das war das zweite Mal, daß Sie an meinem Wort gezweifelt haben, Bej Kinoshan", sagte er klirrend. „Sie tragen einen Degen. Wenn Sie damit umgehen können, dann wagen Sie es ruhig ein drittes Mal, an meinem Wort zu zweifeln." Der kleine Mann rang die Hände. „Nein, Señor Capitán, nein! Sie mißverstehen mich! Nie würde es mir einfallen, am Wort eines Ehrenmannes zu zweifeln. Ich werde dem ehrwürdigen Mogul erklären, daß Sie uns bedauerlicherweise nicht helfen können. Es tut mir leid, wenn Sie - wenn Sie einen falschen Eindruck hatten. Nichts liegt mir ferner, als Sie der Zusammenarbeit mit einem schmutzigen Verbrecher zu bezichtigen." „Ich akzeptiere Ihre Entschuldigung", sagte Hasard frostig. „Und jetzt haben Sie es sicher eilig, dem ehrwürdigen Mogul Bericht zu erstatten." Bej Kinoshans Augen flammten auf. Es fiel ihm schwer, unendlich schwer, diesen kaum verbrämten Hinauswurf zu schlucken. Aber der zwingende Blick der eisblauen Augen verhinderte, daß er seinem Ärger freien Lauf ließ. Die Abschiedsfloskeln, die er zwischen zusammengebissenen Zähnen murmelte, hörten sich eher wie knirschende Flüche an. Steif drehte er sich um, enterte an der Jakobsleiter ab und thronte Sekunden später wieder unter dem
16 schattenspendenden Baldachin auf seinem Beiboot-Monstrum. Die halbnackten, braunhäutigen Männer mit den Brandmalen an den Schultern stießen den „Äppelkahn" von der Bordwand ab. Hasards Blick glitt über die schwimmenden Paläste, die in der Dünung schaukelten. Der „ehrwürdige Mogul", der den Verband befehligte, mußte tatsächlich größenwahnsinnig sein, wenn sich schon sein Abgesandter wie der Kaiser von China persönlich aufspielte. „Dämlicher Affenarsch", kommentierte Matt Davies, der ebenfalls ans Schanzkleid getreten war. „Affenarsch! Affenarsch!" krähte Sir John in den Wanten. Diesmal auf englisch - und das war es vermutlich, was im selben Augenblick den Schimpansen Arwenack auf den Plan rief. Der Affe war schon lange genug an Bord, um spanische von englischen Lauten unterscheiden zu können. Er hatte auch mitgekriegt, daß es sich bei Leuten, die spanische Laute von sich gaben, zumeist um Feinde handelte. Enterkämpfe gehörten zu den größten Vergnügen des Schimpansen. Da pflegte er munter mitzumischen, indem er Belegnägel, Kokosnüsse und Ähnliches aus luftiger Höhe an spanische Köpfe warf. Jetzt hatte er spanische Laute gehört, der abenternde Fremde war zudem als „Affenarsch" bezeichnet und mit grimmigen Blicken bedacht worden - und Arwenack sah wieder einmal seine Stunde gekommen. Die Crew bemerkte den Schimpansen erst, als er bereits auf dem Schanzkleid kauerte und mit einer kapitalen Kokosnuß ausholte. „Nicht, du Affe!" schrie Dan
O'Flynn noch. „Halt, du Mistvieh!" brüllte Ed Carberry. Aber da flog das Geschoß bereits durch die Luft, beschrieb einen bildschönen Bogen und landete punktgenau an Bej Kinoshans Schädel. * Ein hohles Geräusch - was nicht unbedingt an der Nuß liegen mußte. Der kleine Mann mit der Habichtnase schrie gellend auf, warf die Arme hoch und sackte zusammen. Die Rudergasten waren starr vor Schrecken. Aber nur eine Sekunde lang. Dann begannen sie, wie besessen zu pullen. Sie jagten das Boot an der Bordwand der „Isabella" entlang zum Heck - und der Seewolf begriff sehr genau, warum sie blindlings das Weite suchten, statt zu ihrem Flaggschiff zurückzupullen. Weil sie damit rechneten, daß dieses Flaggschiff in der nächsten Minute Feuer und Blei spucken würde! Der dicke Turbanträger auf dem Achterkastell hatte eine Bewegung vollführt, als wolle er senkrecht in die Luft gehen. Kein Zweifel: er faßte die Kokosnuß am Kopf seines hakennasigen Abgesandten als aggressiven Akt auf. Ein paar scharfe Befehle in einer fremden Sprache, ein dumpfes Ächzen und Quietschen an der Backbord-Seite des Viermasters - und schon zeigte der schwimmende Palast die Zähne. Beachtliche Zähne. Zwölf an der Zahl! Aber mit so etwas hatte der Seewolf gerechnet, wenn auch nicht wegen einer simplen Kokosnuß, die von einem Schimpansen geworfen worden war. Die Taktik der „Isabella" stand von vornherein fest. Eine Tak-
17 tik, die Nerven und Kaltblütigkeit erforderte und ihre Wirkung gerade auf einen überheblichen, selbstherrlichen Gegner nicht verfehlen würde. Keine Segelkommandos, kein überstürzter Fluchtversuch - nichts dergleichen. „Hoch damit", sagte Hasard nur. Und er hatte kaum ausgesprochen, als sich auch auf der „Isabella" bereits die Stückpforten öffneten. Rasselnd und rumpelnd wurden die Culverinen ausgerannt. Gleichzeitig trat eins der Bronzegestelle in Aktion, und zischend und funkensprühend stieg eine Rakete steil in den Himmel. Kein Brandsatz, das nicht. Nur ein harmloser chinesischer Feuerwerkskörper, der in der Luft zerplatzte und leuchtende Kugeln in allen Farben nach unten regnen ließ. Aber die moralische Wirkung war dennoch ungeheuer. Stille senkte sich herab, als die letzte gleißende Kugel im Wasser verlöschte. Eine tiefe, atemlose Stille, in der die Szenerie wie zum lebenden Bild erstarrt schien. Kein weiterer Schiffsführer der Tiger-Flotte riskierte es, die Stückpforten hochgehen zu lassen. Die Kanonen des Viermasters starrten immer noch herüber wie drohende Augen, doch der fette Turbanträger stand stumm und reglos da und stierte auf die „Isabella". Selbst die Rudergasten der schwimmenden Sänfte, die der Viermaster als Beiboot führte, legten sich nicht mehr in die Riemen. Bej Kinoshan, der die Kokosnuß auf den Kopf bekommen hatte, erwachte wieder aus seiner Bewußtlosigkeit. Mühsam rappelte er sich auf, sah sich um und fuhr sich
mit der Hand über die Augen, als glaube er, noch zu träumen. Auf der Poop und der Back der „Isabella" richteten sich im selben Moment schweigend zwei Gestalten auf. Big Old Shane, der ehemalige Schmied und Waffenmeister der Feste Arwenack, der mit seiner Hünengestalt und dem wirren grauen Vollbart an einen vorzeitlichen Riesen erinnerte. Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, nicht weniger hünenhaft und mit den gebleckten Zähnen und rollenden Augen nicht weniger furchterregend. Beide hatten mächtige Langbögen gespannt, beide hielten glimmende Brandpfeile auf den Sehnen. Noch warteten sie. Da der Turbanträger die stärkste Waffe der „Isabella", die Brandsätze, nicht kannte, gab es für ihn sicherlich keinen Zweifel daran, daß seine Flotte die Galeone mit den überlangen Masten mit Leichtigkeit versenken konnte. Aber es gab auch keinen Zweifel daran, daß die „Isabella" dem Viermaster acht saubere Löcher in die Wasserlinie stanzen und mindestens zwei Brandpfeile mitten in die überflüssige, leicht brennbare Pracht jagen würde - von den beunruhigenden Feuerwerkskörpern ganz abgesehen. Der Turbanträger war Asiate. Vielleicht kannte er das chinesische Feuer und ließ sich das harmlose Feuerwerk eine Warnung sein. Vielleicht genügte auch die kalte Drohung, die von dem gegnerischen Schiff ausstrahlte. Auf jeden Fall schien der Bursche zu der Überzeugung zu gelangen, daß es sich nicht lohnte, wegen einer Kokosnuß seinen schwimmenden Palast aufs Spiel zu setzen.
18 Ein scharfer Befehl. Die Kanonen des Viermasters zogen sich zurück wie erschrockene Flußaale in ihre Löcher. Rasselnd klappten die Stückpforten zu, und auf dem Tiger-Schiff gingen die Decksmannen daran, wieder Segel zu setzen. Auch der habichtnasige Bej Kinoshan begriff, daß sein Herr und Meister Friedensliebe zu demonstrieren gedachte. Was er den Rudergasten zubrüllte, konnten die Seewölfe nicht verstehen, aber es hörte sich sehr nach finsteren Drohungen an. Die Männer begannen jedenfalls wie besessen zu pullen. Minuten später wurde das Beiboot-Monstrum hochgehievt, und der Viermaster zeigte wieder die Imponierenden Tigerköpfe auf seinen Segeln. Der ganze Verband legte sich vor den Wind und segelte der Küste zu. „Arwenack!" schrie Bill im Großmars begeistert. „Arwenack!" stimmten die Zwillinge mit ihren hellen Kinderstimmen ein. Und im nächsten Moment fegte der alte Schlachtruf der Seewölfe donnernd über das Wasser, als wolle er die Besatzungen der schwimmenden Paläste noch nachträglich das Fürchten lehren: „Arwenack! Arwenack! Ar-wenack!" * Die „Isabella" segelte weiter nach Westen. Hasard hatte eine Ration Rum ausgeben lassen, aber die Gefechtsbereitschaft nicht aufgehoben. Er hegte seine eigene Theorie über die merkwürdige Tiger-Flotte und den
fetten Turbanträger. Selbstherrliche, größenwahnsinnige Herrscher und Würdenträger jeder Art kannte er zur Genüge. Feige waren die meisten. Feige, aber auch hinterlistig, und deshalb tat man gut daran, sie nicht zu unterschätzen. Dan O'Flynn war nicht gerade begeistert, als er mit dem Spektiv in den Großmars geschickt wurde. Er hielt das sogar ganz offensichtlich für übertrieben. Doch der Seewolf wußte genau, was er tat. Er dachte nicht daran, ein unnötiges Risiko einzugehen. Deshalb brauchte er Dans scharfe Augen - und eine knappe Stunde später erwies sich, daß er richtig vermutet hatte. „Schiff ho!" schrie Dan O'Flynn. „Mastspitzen achteraus!" „Weiter beobachten!" befahl Hasard. Denn da Donegal Daniel junior das Spektiv benutzte, war ohnehin klar, daß niemand von der Crew zum augenblicklichen Zeitpunkt auch nur das geringste erspähen würde. „Mastspitzen verschwinden!" meldete Dan ein paar Minuten später. „Lahmer Waschzuber", stellte Ben Brighton fest. „Tun wir ihm den Gefallen?" „Wir tun ihm den Gefallen", bestätigte Hasard. Er ließ Segel wegnehmen. Die „Isabella" verlor an Fahrt. Prompt meldete Dan wieder Mastspitzen über der Kimm, und innerhalb der nächsten Viertelstunde rückte der Verfolger auf. Nach einer weiteren Viertelstunde erkannte Dan bereits die Tigerköpfe auf den Segeln - oder jedenfalls etwas, das er für Tigerköpfe hielt. „Klar zur Wende!" befahl Hasard. „Wir gehen durch den Wind und halten weiter von der Küste ab."
19 „Klar zur Wende!" wiederholte Carberry auf der Kuhl. „Hopp-hopp, ihr Rübenschweine. Jetzt werden wir den Tiger am Schwanz ziehen, also bewegt eure müden Knochen, bevor ich euch Feuer unter dem Achtersteven mache, ihr quergestreiften Decksaffen!" Hasard grinste nur. Der Profos hatte natürlich längst begriffen, um was es ging. Die meisten anderen ebenfalls. Nur die Zwillinge nicht, die am Schanzkleid standen und ernsthaft darüber debattierten, warum die „Isabella" zwar wendete, aber doch Abstand zwischen sich und den Verfolger brachte. „Warum wohl, ihr Läuseknacker?" brummte Smoky gutmütig. „Damit wir nachher raumschots auf sie zurauschen können, daß sie denken, wir seien mindestens Windsbräute was wohl sonst?" „Windsbräute?" fragte Hasard junior. „Fliegende Frauen", sagte Philip junior, der sich an höchst aufregende Erzählungen erinnerte, die Old O'Flynn zum Besten gegeben hatte. „Na ja, fliegende Frauen." Smoky kratzte sich am Kopf. „Auf Gespensterschiffen!" Das schien ihm die eindeutigere Formulierung. „Ein Kahn, der durch die Luft fliegt, klar?" „Jawohl", sagte Philip junior. „Quark mit Soße", sagte Hasard junior. Smoky stöhnte abgrundtief. Aber er verzichtete darauf, zu erklären, daß er durchaus nicht hatte ankündigen wollen, die „Isabella" werde sich in die Lüfte erheben. Denn inzwischen erklang bereits der Befehl zum Abfallen, die Galeone schwang elegant herum und rauschte mit
Backstagsbrise auf die Karavelle zu, die Dan O'Flynn die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte. Das Schiff mit den Tigerköpfen auf den Segeln glitt immer noch westwärts. Einzelheiten waren nicht zu erkennen, doch die Seewölfe vermuteten, daß der Ausguck der Karavelle unbeirrt nach Westen starrte und die Mastspitzen der „Isabella" suchte. Die Galeone lag schon auf Rammkurs, und der Gegner hatte immer noch nichts bemerkt. Als er endlich aufmerksam wurde, wäre es schon lange zu spät gewesen - jedenfalls wenn die „Isabella" vorgehabt hätte, den anderen auf Tiefe zu schicken. Soweit allerdings wollte der Seewolf nicht gehen. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie auf einen Zuruf des Ausgucks hin plötzlich die gesamte Crew der Karavelle wie ein Mann herumfuhr und erstarrte. Durch das Spektiv waren sogar schon die Gesichter zu erkennen. „Die machen sich in die Hosen", meldete Dan O'Flynn denn auch respektlos. Die „Isabella" fiel ab und ging mit dem Heck durch den Wind. Auf der Karavelle rasselten die Stückpforten hoch. Der Kapitän führte auf dem Achterdeck eine Art Veitstanz auf. Sein Schiff war gefechtsklar, aber er fürchtete Schlimmes, das zeigte sein Benehmen ganz deutlich. Die „Isabella" mit ihrer größeren Reichweite hätte es in diesem Augenblick ohne viel Federlesens versenken können, doch das wäre für Hasard so gewesen, als schieße er mit Kanonen auf harmlose Seemöwen. „Rasier ihm den Bugspriet ab, Al", forderte er knapp. „Aye, aye", sagte der schwarzhaa-
20 rige Stückmeister nur. Und nichts in seiner Stimme verriet, daß so ein Schuß mit der Drehbasse eine verdammte Glückssache war und - wenn er gelang - eine dreimal verdammte Meisterleistung. „Gei auf Blinde!" Das ertönte zweistimmig, von Hasard und Al Conroy gleichzeitig. Aber es hätte des Befehls gar nicht bedurft: Bob Grey und Luke Morgan wußten auch so, daß der Stückmeister freies Schußfeld brauchte, und waren schon dabei, die Blinde einzuholen. Der stämmige schwarzhaarige Mann spähte über das Eisenrohr der Waffe, die er wie seine eigenen Gliedmaßen kannte. Es war Bill, der ihm die Lunte reichte. „Vorsicht, sie brennt", sagte er dabei. Und Al Conroy fand sogar noch Zeit, ihm einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. „Was denn sonst, du Hering?" Bill wurde rot und zog den Kopf ein. Al Conroy grinste, drückte die Lunte in die Pulverpfanne und sprang rasch zur Seite, um dem Rückstoß auszuweichen. Ein schmetternder Krach. Das Bugspriet der Karavelle zersplitterte, die Blinde ging in Fetzen, ein Wust aus Stagen, Segeltuch und Splittern entstand. Männer mit Beilen und Entermessern sprangen hinzu, um die Wuhling über Bord gehen zu lassen, bevor sie das Schiff aus dem Kurs brachte. Die „Isabella" hatte die Halse beendet und lief wieder mit halbem Wind westwärts. Die amputierte Karavelle blieb achteraus - und ohne Bugspriet und Blinde hatte sie nicht mehr die leiseste Chance, in Fühlung mit ihrem Gegner zu bleiben. „Heißt Marssegel und Fock!"
Philip Hasard Killigrews Stimme klang ruhig und gelassen wie meist. Die Männer grinsten sich eins. Sie hatten ihrem Gegner gezeigt, woher der Wind wehte - und jetzt, so glaubten sie, würden sie die größenwahnsinnigen Kerle von der „Tiger-Flotte" endgültig belehrt haben. Der Seewolf glaubte das ebenfalls. Aber sein Blick hatte sich inzwischen wieder mit den fedrigen Wolkengebilden im Süden beschäftigt. Sie waren zahlreicher und dichter geworden. Und sie zeigten inzwischen ein böses, fast schwefliges Gelb, eine Farbe, die der Seewolf kannte und die haargenau dem entsprach, was er schon die ganze Zeit über in der Luft zu wittern glaubte. Der fette Turban-Träger mit seiner Tiger-Flotte war bestimmt nicht ungefährlich gewesen. Wind und Wellen waren gefährlicher. Und nach Hasards Gefühl sah es ganz so aus, als seien die Elemente wieder einmal dabei, mit allen Kräften gegen die „Isabella" auszuholen. 4. Die Piroge mit dem dreieckigen Segel glitt leicht durch die Dünung. Im Norden war der schmale Küstenstreifen im Dunst versunken. Der südliche Himmel brannte in schwefligem Gelb. Yabu, der zehnjährige Eurasier, versuchte mit zusammengebissenen Zähnen, das Boot zu wenden. Er konnte gut damit umgehen. Sehr gut sogar. Aber da die letzte Spur von Wind binnen Sekunden eingeschlafen war, blieben alle Bemühungen vergeblich. Yabu biß sich auf die Unterlippe. Sein Blick hing wie gebannt am
21 Himmel. Er kannte das Wetter in diesem Teil der Welt nicht. Er kannte überhaupt sehr wenig von Wind und See - nur das, was er aus Erzählungen gehört hatte, und die wenigen Dinge, die er aus seiner kurzen Erfahrung wußte. Aber die schweflige Farbe der Wolken erschien ihm böse, unheimlich. Er wußte instinktiv, daß sie zur Küste zurückkehren mußten. Die Flaute hatte etwas Bedrohliches an sich. Sie konnten nicht auf Wind warten. Yabu straffte sich und versuchte, den Ausdruck der Furcht aus seinen Augen zu verbannen, als er sich seiner Schwester zuwandte. „Wir müssen rudern", sagte er in seiner Heimatsprache. „Rudern?" fragte Yessa mit gerunzelter Stirn. „Pullen, ja! Nimm den Riemen! Wir müssen uns anstrengen, beide! Schau dir die Wolken an!" Yessa wußte mit den fedrigen schwefelgelben Wolkengebilden noch weniger anzufangen als ihr Bruder. Sie hatte ihr Leben bis vor kurzem in Palästen zugebracht und den größten Teil ihrer Zeit darauf verwendet, sich von Sklavinnen schminken und schmücken zu lassen. Da sie nichts anderes kannte, war es ihr natürlich erschienen. Sie hatte die tödliche Langeweile fast schon als ständigen, normalen Begleiter betrachtet. Yessa, die Prinzessin Yessa, der Augenstern des „alten Vaters", Yessa, die kleine Blume, deren einzige Aufgabe im Leben es war, schön zu sein. Aber ihre Mutter, die ebenfalls der Augenstern des „alten Vaters" gewesen war, hatte ihr vorgelebt, daß jeder Mensch seinen eigenen Willen hatte. Und immer war ihr Vater dagewesen, um ihr von fremden Welten
zu erzählen, von phantastischen Abenteuern, von einer Freiheit, die wertvoller als tausend Edelsteine war und die man sich jeden Tag neu erobern mußte. Yessa war zu jung gewesen, um das alles zu verstehen. Aber sie war nicht zu jung, um zu spüren, daß ihr Vater sie einer märchenhaften, tödlichen Scheinwelt entrissen hatte, daß sie jetzt erst wirklich lebte. Sie hatte gelernt, ihren eigenen Händen zu vertrauen. Sie hatte die Zufriedenheit gespürt, die nur dieses Vertrauen in die eigenen Hände schenken konnte - und deshalb griff sie energisch und ohne zu zögern nach den Riemen. Yabu pullte langsam, fast gemächlich, um sich den schwächeren Kräften seiner Schwester anzupassen. Er starrte immer noch zum Himmel. Fast glaubte er schon, daß überhaupt nichts passieren und sie es ohne Schwierigkeiten bis zur Küste schaffen würden. Aber dann hörte er, sehr fern, ein unheimlich heulendes, zischendes Geräusch - und in der nächsten Sekunde fiel von Süden her eine Windbö ein, die das Boot mit Urgewalten traf und bis zum Kiel erschütterte. „Yabu!" schrie Yessa erschrocken. „Sturm!" preßte ihr Bruder durch die Zähne. „Das Segel hoch, rasch!" „Aber..." „Wir müssen an Land, so schnell und so nah wie möglichan die Küste heran! Schnell, Yessa, schnell!" Seine Schwester nickte nur. Sie hörte auf zu denken und richtete sich atemlos und blindlings nach Yabus Anweisungen. Das dreieckige Segel, das sie eingeholt hatten, als sie zu pullen begannen, entfaltete sich wieder. Eine neue Bö fiel ein und ließ die Piroge schwer nach Steuerbord
22 überholen. Yessa schrie erschrocken auf. Yabu warf sich mit seinem ganzen Gewicht nach Backbord und stürzte fast ins Wasser bei dem Versuch, das Boot am Kentern zu hindern. Sekunden vergingen, ein Alptraum von Zeit. Ein paar Herzschläge lang flaute die Gewalt des Windes etwas ab. Die Piroge richtete sich ruckartig auf und tanzte in der Dünung. „Halt sie vor dem Wind!" schrie Yabu. „Genau vor dem Wind, das ist unsere einzige Chance." Yessa gehorchte. Yabu kämpfte verzweifelt mit dem Segel, während sich ringsum die Wasserfläche in einen kochenden, brodelnden Hexenkessel verwandelte. Für Minuten gelang es den Kindern, ihr leichtes Boot pfeilgerade auf die Küste zujagen zu lassen. Dann schralte der Wind, traf die Piroge mit Urgewalten - und in dem dreieckigen Segel zeigte sich ein kleiner Riß. Eine neue Bö. Mit einem Knall, der die peitschende Schärfe eines Pistolenschusses hatte, zerriß das Segel. Das Tuch flatterte an der Rah, wurde weggefetzt und schien sekundenlang einen irren Tanz aufzuführen, bis es sich irgendwo im Weiß des kochenden Gischtes verlor. Die Piroge torkelte, schoß mit den sich immer steiler auftürmenden Wellenbergen aufwärts, stürzte in schwindelerregende Abgründe. Yessa umklammerte verzweifelt die Pinne, doch ihre schwachen Kräfte waren der Gewalt des Sturms nicht gewachsen. Yabu hatte die Riemen ergriffen und arbeitete keuchend und schwitzend, um das Boot nicht querschlagen zu lassen. Aber auch er wußte,
daß er es nicht schaffen konnte. Die Piroge würde in den nächsten Minuten kentern. Für ihn und seine Schwester blieb dann kaum noch eine Überlebenschance. „Laß die Pinne!" schrie er über das Heulen und Toben des Sturms hinweg. „Nimm die Vorleine! Wir müssen uns aneinanderbinden." Yessa zitterte am ganzen Körper als sie die Ruderpinne fahren ließ und nach der Vorleine griff. Mühsam, auf Händen und Knien, kletterte sie über die mittlere Ducht blieb neben ihrem Bruder kauern und schlang die Leine um seiner nackten Oberkörper. Yabu arbeitete wie besessen mit den Riemen. Immer wieder gelang es ihm, das Boot vor dem Seegang zu halten. Immer wieder holte er kurz und schnell durch, damit die Wellen nicht unter dem Kiel abliefen, sondern sie in sausender, schwindelerregender Fahrt näher zur Küste trugen. Spätestens im Brandungsbereich mußte die Piroge zerschellen. Aber Yabu wußte, daß sie es nicht bis dahin schaffen würden. Denn jetzt türmte der Sturm die Wogen zu Brechern auf, und die erste gurgelnde grüne Sturzsee traf schmetternd das Heck des Bootes. Yessa knotete die Leine um ihren Körper. Auf Händen und Knien kauerte sie in der Piroge, das Gesicht vor Angst verzerrt. Längst hatte der kochende Gischt sie bis auf die Haut durchnäßt. Sie zitterte vor Kälte, während ihrem Bruder Schweiß und Wasser in Strömen über den Körper liefen. Der nächste Brecher traf die Piroge wie eine gigantische zuschlagende Raubtierpranke. Das Boot erzitterte, die Riemen schnitten unter. Yabu unterdrückte einen Schrei, als die
23 Piroge querschlug. Yessa klammerte zweifelt die Augen auf und suchte sich mit aller Kraft an der Ducht fest, die Linie der fernen, rettenden Küdoch im Toben der Elemente gab es ste, aber er konnte nur kochenden keinen Halt mehr. Gischt und den Vorhang des peitDie nächste Woge hob die Piroge schenden Regens erkennen. mit unwiderstehlicher Gewalt an der Er wußte, daß sie keine Chance Backbordseite an. hatten. Yessa ließ sich nach vorn über die Sekundenlang kämpfte er gegen Ducht fallen. die Versuchung an, einfach loszulasYabu schrie, als das Boot um- sen und aufzugeben. Er hatte sagen schlug, von einem neuen Brecher hören, daß das Ertrinken kein herumgewirbelt wurde und durchkenterte. Die Kante des Dollbords traf Yessas Kopf. Ihre Gestalt erschlaffte, und Yabu, der halb erstickt und in Panik mit Armen und Beinen schlug, spürte die sich straffende Leine schmerzhaft in seine Haut schneiden. Wasser drang ihm in die Kehle. Blindlings kämpfte er sich nach oben, bekam wieder Luft und sah den Schatten des kieloben treibenden Bootes im weißen Gischt vor sich. Mit ein paar verzweifelten Schwimmstößen erreichte er das schlimmer Tod sei, daß die Panik Fahrzeug und klammerte die Linke rasch verebbte und die Bewußtlosigum den Kiel. Seine Rechte packte die keit schnell und ohne Qual komme. Leine, zog und zerrte. Er hatte das Aber dann sah er Yessas fahles GeGefühl, als müsse er einen Felsblock sicht, dachte an seinen Vater, der auf zu sich heranziehen, aber schließlich, sie wartete, an die Siedlung in der nach einer Ewigkeit, durchstieß Yes- Bucht, und noch einmal bäumte sich sas Kopf die Wasseroberfläche. sein Lebenswille mit aller Kraft auf. Yabu schloß die Augen, biß die Minuten später erwischte Yabu ihr langes schwarzes Haar und zerrte sie Zähne zusammen und versuchte, alles zu vergessen außer der Notwenzu sich heran. Irgendwie schaffte er es, sie halb digkeit, sich an dem Kiel der treibenüber den Bootskörper zu ziehen. den Piroge festzuklammern. Schlaff hing sie auf der Außenbe* plankung, das Gesicht geisterhaft weiß, die Augen verdreht, aber Yabu sah, daß sie noch atmete. Seine RechAuf der „Isabella" waren rechtzeite krallte sich immer noch in ihr lan- tig alle Luken verschalkt und Mannges Haar, mit der Linken hielt er sich taue gespannt worden. am Kiel der Piroge fest. Das Boot Unter Fock und Besan - kleinen schaukelte, bäumte sich, schlug wild Sturmsegeln - lief die Galeone jetzt gegen seine Rippen. Yabu riß ver- eine Höllenfahrt nach West-Nord-
24 west. Das war besser als überhaupt keine Fahrt. Wenn der Sturm stärker wurde, sie zum Beidrehen zwang und bei minimaler Vortriebskraft praktisch dwars vertrieb, liefen sie Gefahr, der Küste in Lee zu nahe zu geraten und auf Legerwall geworfen zu werden. Aber diese Gefahr war bei dem augenblicklichen Kurs nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Wenden oder Halsen nutzte auch nichts. Egal, was sie taten, die Küste würde in Lee bleiben, also konnten sie nichts weiter tun, als gegen den heulenden, tobenden Südsturm anzuknüppeln. „Dichter holen die Rahen!" brüllte Hasard über das Orgeln und Brausen hinweg. „Höher ran, Pete, oder wir schlitzen uns den Bauch auf!" „Aye, aye!" schrie Pete Ballie, der Rudergänger. „Anluven, ihr Himmelhunde!" röhrte Ed Carberry, der sich auf der Kuhl an ein Manntau klammerte. „Bewegt eure müden Knochen, oder ich ziehe euch die Hammelbeine so lang, daß ihr an Land waten könnt! Himmelarsch, Pete! Schläfst du, hast du Kakerlaken im Hirn, Rosinen in den Ohren oder ..." Schwerfällig drehte die „Isabella" eine Spur höher. Bei dem mörderischen Druck des Sturms konnte nicht einmal Pete Ballie mit seinen ankerklüsengroßen Fäusten dem Rad so leicht seinen Willen aufzwingen. „Smoky!" brüllte Hasard mit Donnerstimme. Der bullige Decksälteste begriff sofort, hangelte sich an einem Strecktau entlang und stand Sekunden später ebenfalls im Ruderhaus, um sich zusammen mit Pete in die Speichen zu stemmen. Tief im Bauch der „Isabella"
knackte und knirschte es bedrohlich, doch die Galeone drehte noch eine Kleinigkeit, bis sie über Steuerbordbug hoch am Wind lag. Im Ruderhaus keuchten und schwitzten Pete Ballie und Smoky und brauchten ihre ganze Kraft, um das Rad zu bändigen. Der Seewolf, an der Schmuckbalustrade festgelascht, umfaßte die Handkante, konzentrierte sich und lauschte und witterte, als könne er erfühlen, wann der Augenblick eintrat, in dem die Ruderanlage zu Bruch ging. Besser ein kaputtes Ruder als ein aufgerissener Rumpf, sagte er sich. Sie konnten es schaffen. Wenn der Sturm stärker wurde und der Kurs nicht mehr zu halten war, konnten sie sogar noch ein paar Stunden überstehen - immer vorausgesetzt, daß die Küste sie nicht mit vorgelagerten Riffen und Untiefen überraschte. Sie hatten das Wetter vorausgesehen und schon eine Weile auf Südwest-Kurs gelegen, als es losbrach, und deshalb segelten sie jetzt längst nicht mehr so dicht unter Land wie vorher. „Wenn das anhält, sind wir im Eimer!" brüllte Ben Brighton, der sich ebenfalls festgelascht hatte. „Sind wir nicht!" brüllte Hasard zurück. „Wenn die Karten der Chinesen nur halbwegs stimmen, runden wir ein verdammtes Kap, und dann kann es uns tagelang nach Norden vertreiben, ohne daß wir irgendwo aufbrummen." „Hoffentlich hat der liebe Gott den Chinesen Weisheit geschenkt", murmelte Ben Brighton. Aber das konnte der Seewolf im Tosen des Sturms natürlich nicht verstehen. Im Ruderhaus stemmten sich Pete Ballie und Smoky angestrengt in die
25 Speichen, schwiegen und lauschten gebannt auf das Knacken und Ächzen, das aus dem Schiffsbauch drang. Immerhin blieben sie trocken, denn die mörderischen Brecher rollten von Backbord an, stiegen an der Bordwand hoch, überspülten immer wieder rauschend und gurgelnd die Kuhl und flossen durch die Speigatten ab. Die Männer an Deck mußten sich verzweifelt festklammern, um nicht über Bord gespült zu werden. Immer heftiger orgelte und jaulte der Sturm, pfiff durch das Rigg und ließ die straff gespannten Wanten und Pardunen wie überdimensionale Violinsaiten schrillen. Die „Isabella" lag am Wind, aber den Männern war klar, daß sie nicht die geringste Chance hatten, gegen den brüllenden Sturm auch nur einen Yard zu gewinnen. Sie mußten schon mit allen Kräften kämpfen, um die Galeone auf Kurs zu halten, um zu verhindern, daß sie der Küste zugetrieben wurde und strandete. Noch schafften sie es. Ed Carberrys mörderische Flüche waren überflüssig. Das Wissen, daß ihrer aller Schicksal auf dem Spiel stand, spornte die Männer auch so zu Höchstleistungen an und trieb sie dazu, über sich selbst hinauszuwachsen. Bill war auf Befehl des Seewolfs aus dem Großmars abgeentert. Aber Dan O'Flynn hing wie ein Klammeraffe im Backbord-Hauptwant, suchte mit seinen scharfen Augen in Regen, Gischt und Finsternis nach der Küste - und er war es, der als erster den undeutlichen Umriß auf der kochenden Wasserfläche erkannte. Er mußte zweimal hinsehen, um sicher zu sein, daß er sich nicht getäuscht hatte. „Deck!" schrie er mit voller Lun-
genkraft. „Kieloben treibendes Boot Steuerbord voraus!" „Was sagst du da, du Hering?" brüllte Ed Carberry zweifelnd. „Boot Steuerbord voraus! Der Kahn treibt kieloben! Und mir scheint, daß sich noch jemand daran festklammert!" Der Seewolf biß die Zähne zusammen. Mit einem Griff löste er den Slipknoten, mit dem er sich festgelascht hatte, und hangelte den Niedergang hinunter. Dan O'Flynn war abgeentert. Schweigend reichte er Hasard das Spektiv, und der hangelte zum Bugkastell weiter. Viel nutzte der Kieker nicht in der fast nachtschwarzen Dunkelheit. Aber das Boot, das im schäumenden Gischt tanzte, war inzwischen auch mit bloßem Auge zu erkennen. Der Seewolf starrte hinüber. Genau wie Dan sah er den undeutlichen Schatten, der quer über dem Bootsrumpf lag und sich am Kiel festhielt. Oder die Schatten? Hasard kniff die Augen zusammen. Sekunden vergingen, dann konnte er deutlich sehen, daß es sich tatsächlich um zwei Gestalten handelte. Kinder, kein Zweifel! Es mußten Kinder sein, das war inzwischen klar zu erkennen. Beide klammerten sich mit letzter Kraft an dem kieloben treibenden Boot fest. Der Himmel mochte wissen, wie lange sie schon so aushielten. Auf jeden Fall stand fest, daß sie es nicht mehr lange schaffen würden, daß sie am Ende waren, wenn ihnen nicht schleunigst geholfen wurde. Der Seewolf atmete tief durch. Er wußte, was er von seinen Männern zu verlangen im Begriff war. Aber er wußte auch, daß keiner die-
26 - und für ihn hätte sich jeder einzelne der ehemaligen Sklaven bei lebendigem Leibe in Stücke hacken lassen. Keuchend vom schnellen Lauf erreichten sie den Rand der Hochfläche. Surraj verharrte und starrte mit angehaltenem Atem über die dunkle, * aufgerissene See. Das Wasser stand hoch in der Bucht und leckte bereits Ächzend bogen sich die Äste der um die Pfähle der Hütten. Brüllend Eukalyptusbäume unter dem und schäumend brachen sich die Wellen, die Brandung war eine weiSturm. Die Heidesträucher peitschten und ße, alles zerschmetternde Gischtklatschten gegeneinander. Sand wir- Hölle, die das Land berannte. belte auf, wurde in langen Schlieren Surraj schluckte hart. Sein Blick über die Hochfläche getrieben, pras- suchte die Karavelle, die einigermaselte gegen die Felsen und stach wie ßen geschützt lag. Mit zusammengemit tausend Nadeln auf der nackten bissenen Zähnen ließ er die Augen Haut. über die Anlegestege und den halb Erland Surraj kämpfte sich schräg überspülten Strändstreifen gleiten, gegen den Wind gelehnt über das doch von der Piroge war nichts zu sePlateau. Seine beiden Begleiter blie- hen. ben dicht hinter ihm, die Köpfe tief Sie mußte noch draußen sein, mitgesenkt, um sich vor dem treibenden ten im Chaos des Sturms. Gesteuert Sand zu schützen. Sie hatten ein gro- von zwei Kindern, die sich mit den ßes Känguruh und ein Opossum er- Elementen viel zu wenig auskannlegt, aber im Augenblick interessier- ten, um auch nur die Spur einer ten sie sich nicht mehr für die Jagd- Überlebenschance zu haben. beute. Erland Surraj grub die Zähne in Angst schnürte Erland Surraj die die Unterlippe, bis er den Schmerz Kehle zu. wie Feuer spürte. Auch die Gesichter der beiden MaSeine Schuld! laien in seiner Begleitung wirkten Er hätte es wissen müssen! Er hätte starr und verzerrt. Sie dachten an die den Kindern nicht erlauben dürfen, Kinder. Wenn Yabu und Yessa noch zum Fischfang hinauszufahren, somit dem Boot draußen waren, würde lange er die Wetterverhältnisse in jeder Mann aus der Siedlung in der diesem Teil der Welt selbst noch Bucht an Bord der Karavelle gehen, nicht gut genug kannte, um einen um die Kinder zu suchen. Sturm vorauszuahnen. Mit einem Sie waren ihnen ans Herz gewach- unterdrückten Stöhnen schwang er sen während der langen Flucht sich über die Kante des Plateaus, kreuz und quer durch den Pazifik. turnte den schmalen, steilen Pfad Und Erland Surraj war mehr für sie hinunter und sprang auf den Sandals der Kapitän, mehr als ein Anfüh- streifen, über den bereits handbreit rer. Ihm verdankten sie ihre Freiheit das Wasser gurgelte. ser Männer tatenlos zugesehen hätte, wie zwei Kinder elend im Sturm absoffen. „Beiboot klarmachen!" übertönte Hasards Stimme den Sturm. „Bringt es in Lee hinunter! Ed, Ferris, Batuti, Dan - wir versuchen, die Kinder an Bord zu holen!"
27 Seine Leute waren aus den Hütten getreten und warteten. Es bedurfte nur eines Blicks in ihre Gesichter, um zu wissen, daß Yabu und Yessa tatsächlich noch nicht zurückgekehrt waren. Ein paar von den Männern hatten bereits die beiden Beiboote der „Candia" klargemacht. Shaiba, der drahtige, muskulöse Malaie, stand mit flatternden Haaren im Wind und reckte die Schultern. „Wir fahren hinaus?" fragte er durch das Brüllen des Sturms. Surraj sah ihn an. Sein Herz hämmerte. Würde die „Candia" in diesem Unwetter nicht verloren sein? Hatte er ein Recht, von all diesen Männern zu verlangen, ihr Schicksal auf Gedeih und Verderb an das seine zu ketten? „Ich weiß nicht, Shaiba", sagte er rauh. „Es ist eure Entscheidung. Wollt ihr hinausfahren?" „Willst du Yabu und Yessa ihrem Schicksal überlassen?" fragte der Malaie. „Nein, Shaiba. Das weißt du." Der Malaie nickte. Auf seinem braunen, breitflächigen Gesicht lag ein hartes Lächeln. „Dann fahren wir hinaus", sagte er schlicht. „Yabu und Yessa darf nichts geschehen. Und hier ist niemand, der sich vor ein bißchen Wind fürchtet." Erland Surraj atmete tief. Mit jeder Faser spürte er ein jähes, heißes Gefühl der Dankbarkeit, ein Gefühl der Verbundenheit, wie er es nie zuvor einem anderen Menschen gegenüber empfunden hatte. Spontan streckte er die Hand aus, drückte Shaibas Schulter und lächelte. „Danke", sagte er leise. Im nächsten Moment übertönte seine Stimme wieder den orgelnden Sturm: „Alle Mann in die Boote! Wir
werden zur ,Candia' pullen und aus der Bucht segeln!" * Wie ein Korken unter einem Wasserfall tanzte das Beiboot der „Isabella" auf den Wellen. Es auf der Leeseite abzufieren, war nicht einmal besonders schwierig gewesen, obwohl es am Ende aufs Wasser klatschte, daß die Seewölfe sekundenlang fürchteten, es werde in tausend Stücke brechen. Jetzt war es aus dem Windschatten der Galeone heraus. Mit voller Kraft packte es der Sturm, jede Sekunde drohte es querzuschlagen, und die Rudergasten pullten, was das Zeug hielt. Dan O'Flynn hatte als fünfter Mann im Boot die Pinne übernommen. Der Seewolf holte einen der Riemen durch und konzentrierte sich mit jeder Faser, während das rhythmische „Hoool weg! Hoool weg!" das Tosen des Sturms übertönte. Bei diesem Seegang ein Boot vor Wind und Welle zu halten, war ein Kunststück und nicht zuletzt auch eine Frage der körperlichen Kraft. Aber hier bedienten Philip Hasard Killigrew, der schwarze Herkules Batuti, der hünenhafte Edwin Carberry und der rothaarige Riese Ferris Tucker die Riemen - und wenn diese vier es nicht schafften, dann war es nicht zu schaffen. Schon konnten sie die Umrisse des kieloben treibenden Bootes deutlicher erkennen. Immer noch klammerten sich die beiden kleinen Gestalten verzweifelt an den Kiel. Oder nein: nur einer der beiden klammerte sich fest, ein Junge mit braunem, verzerrten Gesicht, der nur ein Lendentuch am Körper
28 trug. Die zweite Gestalt hing schlaff über der Außen-Beplankung des Bootes. Der Junge hielt sie, preßte sie mit aller Kraft gegen das Fahrzeug, und jetzt glaubte Hasard auch das Tau zu erkennen, mit dem sich die beiden Schiffbrüchigen aneinander festgebunden hatten. „Hoool weg! Hoool weg ..." Dan O'Flynns Stimme gellte. Verbissen pullten die Männer weiter und verhinderten immer wieder, daß das Beiboot querschlug. Der Gischt hatte sie binnen weniger Sekunden bis auf die Haut durchnäßt. Kraftvoll trieben sie das Boot durch die tobende See, und beim nächsten „Hoool weg!" hatten sie das treibende Fahrzeug erreicht. „In Luv vorbei!" schrie Hasard gegen den Sturm. „Ed Ferris - weiterpullen!" Edwin Carberry und Ferris Tucker pullten ohnehin weiter: sie wußten, daß ihr Untergang besiegelt sein würde, sobald das Boot keine Fahrt mehr lief. Hasard beugte sich weit nach Steuerbord. Locker hielt er den Riemen mit der Linken. Seine Rechte schoß vor und griff nach dem braunhäutigen Jungen. Weit aufgerissene blaue Augen starrten ihn an. Hasard erwischte seinen Arm und riß ihn mit einem Ruck zu sich herüber. Gleichzeitig sah er, daß es sich bei der zweiten Gestalt, die bewußtlos über dem treibenden Fahrzeug hing, um ein kleines Mädchen handelte. Batuti hatte sich vorgebeugt. Blitzartig griff der schwarze Mann aus Gambia zu, erwischte den mageren, zappelnden Körper des Jungen und hievte ihn mit lässigem Schwung in das Beiboot. Der Junge hatte seine Finger im langen Haar
des Mädchens verkrallt. Er ließ nicht los, und vielleicht war das gut so. Ein Brecher spülte über die Bewußtlose weg. Doch sie wurde unwiderstehlich auf das Beiboot der „Isabella" zugezerrt, und Hasard brauchte nur noch nach ihren Armen zu greifen. Sekunden später sackte auch sie auf den Planken des Beiboots zusammen. „Herum mit dem Kahn!" schrie der Seewolf. „Bringt ihn mit dem Bug in den Seegang! Schnell, wenn euch euer Leben lieb ist!" Ed Carberry, Ferris Tucker, Batuti und Dan O'Flynn wußten selbst, was die Stunde geschlagen hatte. Hasard griff wieder nach dem Riemen und wartete, bis Batuti und Ferris Tucker das Boot herumgezwungen hatten. Als die nächste Woge anrollte, richtete es seinen Bug schon wieder gegen den Seegang. Jäh stieg es in schwindelerregende Höhen und stürzte abrupt nach unten, als die Woge unter dem Kiel ablief. Die Männer pullten mit aller Kraft, und nur aus den Augenwinkeln konnten sie beobachten, wie der gerettete Junge den Kopf hob, mit flackernden Augen um sich sah und schließlich mit einem Stöhnen wieder zusammensackte. Ein paar Sekunden später war das Beiboot wieder im Windschatten der „Isabella". Bange Minuten verstrichen. Mitten im heulenden Sturm legten die Seewölfe ein perfektes Manöver hin. Das Beiboot wurde hochgehievt, die beiden Schiffbrüchigen geborgen. Vorsichtig zogen die Männer sie auf die Kuhl, doch inzwischen hatten sie beide das Bewußtsein verloren. Klatschnaß und keuchend standen die Männer da, klammerten sich an die Strecktaue und betrachteten die
29 beiden Kinder. Ein drahtiger braunhäutiger Junge, etwa im gleichen Alter wie die Zwillinge. Das Mädchen mochte sieben oder acht Jahre zählen. Beide hatten die kräftigen, weichen Gesichtszüge und das blauschwarze Haar von Malaien oder Indern, und beide zeigten, erst auf den zweiten Blick sichtbar, auch europäische Züge. Der Seewolf atmete tief durch und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. „Bringt sie ins Achterschiff!" ordnete er an. „Sie brauchen vor allem trockene Kleider. Der Kutscher soll sich um sie kümmern." 5. Krachend schlug der Brecher gegen die Bordwand des Viermasters. Ein halbes Dutzend kleiner hölzerner Tiger-Köpfe lösten sich aus ihrer Verankerung und wurden über die Kuhl gefegt. Der klatschnasse, sturmgezauste Baldachin-Aufbau vor dem Schott zum Achterschiff schwankte bedenklich. Abu Bashri hatte sich in die Kapitänskammer zurückgezogen, aber auch dort wurde er durchgerüttelt, daß es eine Art hatte. Der Mann, der im Augenblick das Schiff führte, hieß Shamal Ravi. Er stand auf dem Achterkastell und suchte dem Sturm zu trotzen, aber er wußte, daß der Viermaster, dessen Name auf Englisch in der Tat „Tiger" bedeutete, viel zu dicht unter Land segelte. Den restlichen Schiffen des Verbandes ging es nicht besser. Abu Bashri hatte die Zeichen nicht verstanden und viel zu spät reagiert. Jetzt mußte Shamal Ravi
sehen, wie er fertig wurde. Der hochgewachsene Inder tat das einzige, was noch übrigblieb: er versuchte, eine geschützte Bucht anzulaufen. „Landzunge Steuerbord voraus!" Die Stimme des Mannes im Großmars klang schrill. Er war sicher, daß man ihn auf ein Himmelfahrtskommando beordert hatte und ihn die nächste Bö aus dem Ausguck fegen würde. Shamal Ravi warf den Kopf hoch und starrte geradeaus, dann ließ er mit einem Ruck das Spektiv sinken. „Abfallen!" schrie er. „Wir werden uns in die Bucht verholen." Der Ausguck enterte mühsam ab. Auf den restlichen Schiffen des Verbandes atmeten die Männer erleichtert auf, nachdem Ravi seine Absicht hatte signalisieren lassen. Eine geschützte Bucht - genau das war es, was sie jetzt brauchten. Der Viermaster fiel ab. Inzwischen hatte sich auch die Karavelle wieder in den Verband eingereiht. Sämtliche sechs Schiffe liefen auf die Bucht zu. In der Kapitänskammer atmete der dicke Abu Bashri erleichtert auf. Etwas zu früh, aber das konnten nur die Männer an Deck erkennen. „Schiff ho!" schrie jemand. Im selben Augenblick bemerkte auch Bej Kinoshan, dessen Hauptaufgabe darin bestand, den ehrwürdigen Mogul zu informieren, die Silhouette des Schiffes, das sich da völlig unsinnigerweise - aus dem Schatten der Bucht in das tosende Chaos schob. Eine Karavelle! Ein Schiff, das den Namen „Candia" trug. Bej Kinoshan sah es, begriff, daß sie der Zufall in unmittelbare Nähe des verhaßten Feindes geführt hatte. Der Zufall? Schicksal, entschied Bej Kinoshan,
30 eine glückliche Fügung. Er bleckte die Zähne. Eine einzelne Karavelle gegen sechs kampfbereite, schwer bewaffnete Schiffe! Bej Kinoshan sah sogar schon den Mann auf dem Achterkastell. Erland Surraj! Er winkte mit den Armen, schrie etwas und gab ein halbes Dutzend knapper Befehle. Bej Kinoshans Mundwinkel verzerrten sich zu einem zynischen Lächeln. Eilig ließ er die Neuigkeit an Abu Bashri weitergeben. Der erschien sofort an Deck, um Näheres zu erfahren. Die Aussicht, sich endlich auf sein Opfer stürzen zu können, ließ ihn sogar die Gefahr vergessen. Er starrte zu der Karavelle, und seine Augen funkelten in einem wilden, triumphierenden Feuer. „Die ,Candia'", zischte er. Und nach einer langen, haßzitternden Pause: „Klar Schiff zum Gefecht! Wir greifen an und entern! Aber ich schneide jedem eigenhändig die Kehle durch, der Hand an Erland Surraj legt. Den dreimal verdammten Hund will ich lebendig haben!" * In der Sekunde, in der das Beiboot hochgehievt war und die beiden bewußtlosen Kinder, von Ferris Tukker und Batuti festgehalten, auf den Planken der Kuhl lagen, schien der Sturm etwas von seiner alles zerschmetternden Gewalt zu verlieren. Vielleicht nur Einbildung, da das Toben der Elemente von der Ducht einer schwimmenden Nußschale aus natürlich ungleich heftiger erscheinen mußte als hier oben an Deck. Immer noch schrillten die Pardunen, sangen die straff gespannten Luvwanten, als spiele ein unsichtbarer
Riese auf einer gigantischen Geister-Harfe. Hasard runzelte die Stirn, eine Hand um das Strecktau geklammert. Aufmerksam lauschte er auf das höllische Lied des Sturms - und nach ein paar Sekunden gelangte er tatsächlich zu dem Ergebnis, daß es sich schon ein wenig zahmer anhörte als vorher. Aus der Kombüse war wie der Blitz der Kutscher aufgetaucht und hangelte sich an den Strecktauen entlang. Beim Anblick der beiden Kinder zuckte er erschrocken zusammen. Auch die anderen Männer blickten erschüttert auf die erbarmungswürdigen kleinen Gestalten hinunter. Daß es sich nicht um Eingeborenenkinder handeln konnte, war dem Seewolf schon im Boot beim ersten flüchtigen Blick klargeworden. Deutlich erinnerte er sich daran, daß die jetzt geschlossenen Augen des kleinen Jungen nicht asiatisch dunkel waren, sondern das klare, intensive Blau von Saphiren hatten. Die olivfarbene Haut der Kinder dagegen ließ genau wie ihr blauschwarzes Haar und die kräftigen, weichen Züge an Malaien oder Inder denken, am ehesten vielleicht an Eurasier, da auch ein gewisser europäischer Einschlag nicht zu übersehen war. Hasard durchzuckte die Erinnerung an die Tiger-Flotte, den ehrwürdigen Mogul und seine geraubten Enkel, doch er schüttelte den Gedanken ab. Die Kinder brauchten dringend Hilfe. Jetzt war weiß der Himmel nicht der richtige Zeitpunkt, sich über ihre Herkunft den Kopf zu zerbrechen. „Bringt sie ins Achterkastell", ordnete er an. „Kutscher, glaubst du, daß du es schaffst, etwas heißen Tee zu
31 brauen?" „Aye! Ist ja nur noch ein lächerliches Lüftchen, was da weht." Das war zwar stark untertrieben, doch die „Isabella" lief tatsächlich schon wesentlich ruhiger. Das Schlimmste schien überstanden. Ein, zwei Stunden noch, dann würde wohl auch dieser Sturm abflauen, ohne daß es der Wut der Elemente gelungen war, der Galeone etwas anzuhaben. Batuti hatte sich bereits den bewußtlosen Jungen geschnappt und schleppte ihn mit einem Arm, während er sich mit der freien Hand am Manntau festhielt. Big Old Shane hob mühelos das kleine Mädchen hoch. Für ihn wog sie nicht mehr als eine Feder. Der Kutscher war schon wieder in der Kombüse verschwunden, um eins seiner belebenden Getränke aufzubrühen. Die „Isabella" pflügte mit halbem Wind westwärts, Ed Carberry brüllte die Männer an, endlich damit anzufangen, den dreimal verdammten Kahn aufzuklaren - also konnte der Seewolf beruhigt Shane und Batuti durch das Schott ins Achterschiff folgen. Die beiden Kinder wurden in Kojen gebettet. Wasser geschluckt hatten sie offenbar nicht. Die Ohnmacht des kleinen Mädchens rührte zweifellos von der Platzwunde am Kopf her - wahrscheinlich war sie von dem durchkenternden Boot getroffen worden. Der Junge hatte offenbar aus Erschöpfung das Bewußtsein verloren. Verständlich: was es hieß, im Sturm einen Bewußtlosen auf einem kieloben treibenden Boot vor dem Ertrinken zu bewahren, konnte sich jeder der Seewölfe lebhaft vorstellen. Es grenzte an ein Wunder, daß die
Kinder überhaupt noch lebten. Beide atmeten verhältnismäßig ruhig und tief, ihr Puls ging kräftig, wie Hasard feststellte. Soweit er sah, fehlte ihnen nichts, das nicht mit warmen Decken, heißem Tee und etwas Ruhe zu beheben gewesen wäre. Der Junge regte sich schon wieder. Unruhig bewegte er den Kopf. Seine Lider flatterten, die blauen Augen glitten verwirrt umher. Gleichzeitig begann das kleine Mädchen in der Nachbarkoje zu stöhnen, und der Junge zuckte erschrocken zusammen. Mit einem Ruck richtete er sich auf. Seine Augen wirkten verschleiert. Er war noch zu benommen, um zu begreifen, wo er sich befand. Taumelnd glitt er von der Koje, stürzte zu dem Mädchen hinüber und beugte sich über sie. „Yessa!" stieß er hervor. „Yessa!" „Yabu ..." murmelte sie, immer noch halb ohnmächtig. Der Seewolf nahm an, daß es sich dabei um die Namen der beiden Kinder handelte. Ihre blauen Augen und die eurasischen Züge ließen vermuten, daß sie wenigstens ein paar Brocken aus der Sprache einer seefahrenden europäischen Nation verstanden. Er versuchte es auf Spanisch. „Keine Angst! Ihr seid in Sicherheit." Der Junge fuhr herum. Hinter ihm auf der Koje richtete sich das Mädchen unsicher auf. Sie mußte sieben oder acht sein, etwa zwei Jahre jünger als er. Seine Schwester vermutlich, denn sie hatte die gleichen leuchtenden saphirblauen Augen Augen, die voller Angst an den fremden Männern hingen.
32 Auch im Gesicht des Jungen flakkerte kaum verhohlene Furcht. Wie ein kleines, gejagtes Tier kauerte er da. Ob er die Worte verstanden hatte, konnte Hasard nicht entscheiden. Er wiederholte sie auf Englisch und Portugiesisch. Ergebnislos. Die Kinder starrten ihn nur an. Und jetzt, da sie sich etwas erholt hatten, wirkten sie geduckt und sprungbereit wie nasse Wildkatzen. Hasard kratzte sich am Kopf. Es war der ruhige, bedächtige Ben Brighton, der die richtige Idee hatte. „Vielleicht sprechen sie Türkisch", meinte er. „Möglich", erwiderte der Seewolf. „Shane, hol die Zwillinge her und..." Weiter gelangte er nicht. Denn im selben Augenblick sprang das Schott auf. Der Kutscher erschien, mit einem dampfenden Kessel, Schöpfkelle und Mucks beladen. Für Sekunden war die Aufmerksamkeit der Männer abgelenkt, und die beiden Kinder schienen das als Signal zu betrachten. Der Junge schnellte hoch wie ein Kastenteufel. Am Arm riß er seine Schwester mit. Das Mädchen taumelte, stürzte fast, kämpfte mühsam um ihr Gleichgewicht. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, wußte ganz sicher nicht, was überhaupt geschah, aber sie folgte blindlings ihrem Bruder. Der rempelte den Kutscher an und rammte ihm einen spitzen Ellenbogen in den Magen. Kessel, Schöpfkelle und Mucks klirrten zu Boden, heißer Tee spritzte herum. Blitzartig schlängelten sich die beiden Kinder an dem verblüfften Mann vorbei und erreichten das Schott. Hasard fluchte, rannte
ihnen nach, und dabei durchzuckte ihn flüchtig die Erinnerung an die Zeit, als seine eigenen Söhne ihn noch für einen finsteren Kindesentführer, Sklavenhändler oder Schlimmeres gehalten und ständig auf die Chance gelauert hatten, wieder von Bord der „Isabella" zu entwischen. Nur hatten die Seewölfe damals von vornherein damit gerechnet, und die Fluchtversuche der beiden „Rübenschweinchen", wie Ed Carberry sie nannte, endeten stets damit, daß sie im Griff des Profos oder Big Old Shanes zappelten. Der Ausbruch dieser beiden klatschnassen, noch halb bewußtlosen kleinen Wildkatzen dagegen hatte die Männer völlig überrascht. Yabu und Yessa - falls das ihre Namen waren - flitzten über den Niedergang, als sei der Teufel hinter ihnen her. Fest stand, daß sie sich auf Schiffen auskannten. Als Hasard das Schott erreichte, rannten sie bereits über die Kuhl, taumelnd und geduckt, weil der Wind immer noch recht kräftig pfiff, duckten sich unter Manntauen hinweg und strebten offenbar dem Steuerbord-Schanzkleid zu. Weil sie in Lee ihr Boot vermuteten? Vielleicht. Wahrscheinlicher war, daß sie überhaupt nicht nachgedacht hatten. „Festhalten!" schrie Hasard. Die Männer an Deck reagierten sofort. Es war Pech, daß ausgerechnet Matt Davies und Jeff Bowie am nächsten standen und den Kindern den Weg abschnitten. Jeff Bowie, der vor Jahren durch Piranhas die Hand verloren hatte, trug links die gleiche Prothese wie
Heute wollen wir auf eine Frage eingehen, die Herr M B , 6, 4800 Bielefeld 1, gestellt hat und deren Beantwortung sicherlich auch viele andere SEEWÖLFE-Leser interessieren wird. Wir zitieren aus seinem Brief: „.. .Es heißt oft in Ihren Romanen: ,Der Stockanker der Galeone hat sich fest auf dem Grund des Meeresbodens verankert', z.B. damit das Schiff bei Sturm und hohem Seegang nicht abgetrieben wird. Nun meine Frage: Wie ist es möglich, daß z.B. eine Handvoll Männer den Anker manchmal binnen kurzer Zeit am Ankerspill hochhieven - wo doch nicht einmal die schwere Galeone die Möglichkeit hatte, den Anker bei schwerem Sturm loszureißen? Vielleicht oder sogar bestimmt haben Sie die Lösung auf diese Frage, ich würde mich freuen..." Nun, eine schwere Galeone wie auch jedes andere Schiff kann durchaus „von allein" den Anker aus dem Grund brechen - und wird es in der Regel auch tun, wenn es bei Sturm und schwerem Seegang zu wenig Ankerkette oder Ankertrosse „gesteckt" hat. In dieser Tatsache verbirgt sich bereits die Antwort auf die Frage, die Herr B stellte. Anders erklärt: Läßt ein Schiff den Normalanker (Stockanker) fallen, so wird er zunächst mit dem Kreuz oder einem der Arme den Grund berühren und bei weiterem Kettestecken dann beide Arme flach auf den Ankergrund legen, während der mit dem einen Ende sich auf den Grund aufstützende Ankerstock schräg nach oben zeigt. Kommt jetzt Zug auf die auf dem Grund liegende Kette, dann wird der An-
kerschäkel, durch den Anker und Kette verbunden sind, nach unten gezogen. Als Folge kantet der Anker um den Stock, so daß jetzt der Stock flach (horizontal) auf dem Grund liegt, während die Arme in der Vertikalebene stehen und sich der untere Arm infolge des Kettenzuges und der Schwere des Ankers pflugartig in den Ankergrund gräbt, und zwar bei gutem Ankergrund so tief, daß der Schaft in seiner ganzen Länge auf dem Grund liegt. Man ankert im allgemeinen mit einer Mindestkettenlänge, die der dreifachen Wassertiefe entspricht. Die Regel und Erfahrung sagen, daß man um so sicherer ankert, je mehr man Kette oder Trosse steckt. Aber nun zum Aufhieven des Ankers mittels Ankerspill. Dabei wird das Schiff mit Muskelkraft (heute maschinell) an den Anker „herangezogen", das heißt, die Kette oder Trosse wird kürzer und kürzer, bis sie „kurzstag" zu stehen beginnt. Jetzt zieht sie wieder über den Ankerschäkel den Schaft allmählich in die Höhe, der Anker muß sich also um das Kreuz drehen und der im Grund eingegrabene Arm wird durch diese Drehung gewaltsam aus dem Grund herausgebrochen. Das passiert meist, wenn die Kette oder Trosse „auf und nieder" steht, das heißt, die Kette zeigt senkrecht nach oben. Alles klar? Dann „hiev up!"
Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren.
36 Matt Davies rechts. Zwei Männer mit bedrohlich glänzenden, spitzen Stahlhaken statt Händen - das war einfach zuviel. Das kleine Mädchen stieß einen erschrockenen Schrei aus und fuhr zurück. Ihr Bruder prallte gegen sie, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Yessa wechselte blindlings die Richtung, turnte über die Nagelbank des Großmastes und rannte zum Backbordschanzkleid. Dort ging es nicht weiter, wenn sie nicht ins Wasser springen wollte. Aber die Kleine wählte den einzigen Fluchtweg, der noch offenstand: über die Webleinen der Luvwanten nach oben. Der Junge sprang wieder auf, noch ehe Hasard ihn erreichte. Er sah sich eingekreist, sah Ed Carberry, Batuti, Blacky und Smoky von allen Seiten auf sich zusteuern. Verwirrt, wie er war, begriff er nur, daß man ihn wieder einfangen wollte. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn einfach in Ruhe zu lassen. Aber den Seewölfen ging es schließlich darum, die Kinder vor Schaden zu bewahren - zumal die beiden durchaus den Eindruck erweckten, als könnte es ihnen im nächsten Moment einfallen, außenbords zu springen. Daß die Situation in den Augen des Jungen höchst bedrohlich war und wie eine erbarmungslose Treibjagd aussah, ging ihnen zu spät auf. Da tauchte Yabu bereits unter den zupackenden Händen des Profos hinweg, jagte ebenfalls nach Backbord und folgte seiner Schwester in die Wanten. Knapp unterhalb des Großmars verhielten sie. Da hockten sie nun. Klatschnaß, blaß, keuchend, im scharfen Wind vor Kälte zitternd. Das Mädchen schluchzte. Der Junge enterte noch
ein Stückchen höher, um tröstend den Arm um sie zu legen. Seine blauen Augen funkelten. Augen, in denen deutlich zu lesen stand, was er dachte: Versucht nur, uns nier herunterzuholen ! Der Seewolf stemmte die Fäuste in die Hüften und seufzte abgrundtief. „Wenn wir da oben mit den beiden einen Ringkampf veranstalten, laufen sie Gefahr, abzustürzen", stellte er fest. „Holt Philip und Hasard an Deck! Vielleicht gelingt es denen, Friedensverhandlungen in die Wege zu leiten."
Mit donnerndem Krach entluden sich zwei Breitseiten gleichzeitig. „Wassereinbruch mittschiffs!" schrie eine entsetzte Stimme. „Wahrschau! Der Mast!" brüllte jemand. Der Fockmast der „Candia", unter Deck in seinen Verbänden getroffen, neigte sich, als wolle er sich verbeugen, krachte mitsamt der Gaffelrute auf die Back und begrub das Vorschiff unter dem Lateinersegel. Die beiden anderen Masten waren längst nur noch zersplitterte Stümpfe, das Rigg bestand aus einem wirren Knäuel von Tauwerk und Segeltuchfetzen. Verzweifelt hackten die ehemaligen Sklaven mit Äxten und Entermessern auf den Wust ein, um ihn über Bord gehen zu lassen. Denn die zerschossene, manövrierunfähige Karavelle krängte ohnehin schwer nach Backbord, wurde vom Winddruck unaufhaltsam in die Bucht zurückgetrieben und lief jede Sekunde Gefahr, irgendwo aufzubrummen. Sollte sie, dachte Erland Surraj grimmig.
37 Er stand auf dem Achterkastell, bleich vor Zorn und Bitterkeit, und schrie seine letzten Befehle durch den Lärm. Sie hatten wie die Teufel gekämpft und sich überraschend lange gegen die Übermacht gehalten, da die Tiger-Filtte sie in der engen Einfahrt der Bucht nicht in die Zange nehmen konnte. Aber jetzt war es aus. Jetzt blieb Erland Surraj nur noch die Genugtuung, daß auch die Angreifer nicht ungerupft aus dem ungleichen Kampf hervorgehen würden. Und noch etwas blieb ihm: die Chance, wenigstens seine Leute vor dem schrecklichen Schicksal zu retten, das sie in den Händen von Abu Bashri erwartete. Surraj straffte sich. „Steuerbordkanonen - Feuer!" schrie er. „Zeigt ihnen noch einmal die Zähne! Und dann alle Mann von Bord!" Von den Steuerbordkanonen waren nur noch zwei intakt. Brüllend entluden sie sich und jagten ihre Kugeln in die Schwaden von Pulverdampf, die die Umrisse der Tiger-Schiffe verhüllten. Diesmal wurden die Geschütze nicht nachgeladen. Die Männer warfen sich herum und suchten sich ihren Weg durch das Trümmerfeld, das einmal ein Deck gewesen war. Sie sprangen einfach außenbords: der Strand war nah genug, um hinüberzuschwimmen. Sie würden ins Landesinnere fliehen, sich irgendwie durchzuschlagen versuchen - und sich dann später, wenn sie Glück hatten, an einem vereinbarten Treffpunkt in der Nähe wieder zusammenfinden. Wenn sie Glück hatten, wiederholte Erland Surraj in Gedanken. Er jedenfalls würde nicht dabei
sein, davon war er überzeugt. Er hatte das Achterkastell verlassen, aber nicht, um ebenfalls über Bord zu springen. Keuchend kämpfte er sich nach vorn zur Bug-Drehbasse durch. Er wußte, wenn überhaupt jemand eine Chance haben sollte, mußten die Jäger wenigstens noch für eine Weile aufgehalten werden, und wenn es nur Minuten waren. Seine flüchtenden Männer würden zu spät bemerken, daß er an Bord geblieben war. Surrajs Gesicht verkantete sich, als er die Drehbasse nachlud und das lange Rohr in der drehbaren Lafette schwenkte. Zweimal kam er zum Schuß, dann krachte die „Candia" schwer auf die Felsen der Landzunge. Erland Surraj verlor das Gleichgewicht, wurde wie ein Stoffbündel auf die Planken geschleudert und klammerte sich blindlings irgendwo fest. Die Drehbasse verwandelte sich in ein rasendes Geschoß, durchschlug das Backbord-Schanzkleid und polterte zwischen die Felsen. Schmetternd traf ein anrollender Brecher das Wrack der Karavelle und erschütterte es bis in die Grundfesten. Surraj verlor den Halt, sein Kopf stieß gegen eine Holzkante, und für ein paar Minuten wurde es dunkel um ihn. Als er wieder zu sich kam, hörte er bereits das triumphierende Geschrei seiner Gegner. Er taumelte hoch und sah sich nach einer Feuerwaffe um - vergeblich. Das Wrack hing schräg zwischen den vorspringenden Klippen, auf dem Wasser konnte er die Umrisse von Beibooten erkennen. Ganz normale, völlig schmucklose Beiboote, da auch die Männer Abu Bashris den Sinn für das Praktische nicht völlig verloren hatten.
38 Diese Männer sprangen jetzt außenbords, kletterten über die Felsen und schwangen sich über das halb zersplitterte Backbord-Schanzkleid der Karavelle. Erland Surraj wollte das schwere Entermesser aus der Scheide zerren, dann ließ er die Hand sinken. Es war sinnlos, zu kämpfen. Seinen Männern hatte er den entscheidenden Vorsprung verschafft, jetzt mußte er sich ergeben. Angst lastete wie ein Klotz in seinem Magen. Nicht die Angst vor dem Tod, im Gegenteil. Der Tod war gnädig im Vergleich zu dem, was ihn erwartete, wenn er lebend in Abu Bashris Hände fiel. Aber Yabu und Yessa waren mit dem Boot draußen. Sie wenigstens sollten am Leben bleiben. Ihre einzige Chance bestand darin, daß die Tiger-Flotte nach ihnen suchte - und das hieß, daß Abu Bashri von ihm, Surraj, erfahren mußte, was geschehen war. Er wehrte sich nicht, als die Angreifer über ihn herfielen, ihm die Arme auf den Rücken rissen und seine Hände zusammenschnürten. Fäuste trafen ihn, eine Spake stieß in seinen Rücken und trieb ihn zum Schanzkleid. Surraj biß die Zähne zusammen, weil er fürchtete, daß die Kerle ihn einfach zwischen die Felsen stürzen würden. Dabei hätte er sich vermutlich das Genick gebrochen, aber seine Gegner wußten, daß Abu Bashri das Opfer lebend haben wollte. Surraj kannte den Grund. Er wußte, daß sich der sogenannte Mogul fürchterlich an ihm rächen würde. Mogul, wiederholte er in Gedanken bitter. Dieser größenwahnsinnige Narr! Aber für die Kinder war es immer noch besser, in der Gefangenschaft eines größenwahnsinnigen
Narren zu leben, als im Sturm umzukommen. Und Abu Bashri wollte die Kinder zurückhaben. Nur deshalb hatte er die „Candia" nicht versenkt, sondern sorgfältig dafauf geachtet, daß bei dem Gefecht nicht das Achterkastell zerschossen wurde, wo er Yabu und Yessa vermutete. Grob zerrten die Männer aus den Beibooten Erland Surraj über die Felsen bis zum Strand. Sein Blick fiel auf die Hütten, die Trockengerüste für die Fische, die Wasserleitung. Wochen der Arbeit und des Aufbaus - für nichts! Es war nicht das erstemal. Seit Monaten wurde die „Candia" erbarmungslos gehetzt, seit Monaten gelang es der Tiger-Flotte immer wieder, ihre Opfer aufzuspüren und von Schlupfwinkel zu Schlupfwinkel zu treiben. Bisher hatten Surraj und seine Leute es immer wieder geschafft, im letzten Augenblick zu entwischen. Aber diesmal war es aus, das wußte er. Diesmal konnte er nur noch darauf hoffen, daß wenigstens die entflohenen Sklaven fliehen würden, daß Abu Bashri an dem einen Triumph genug hatte und die Jagd aufgab. Mit zusammengebissenen Zähnen sah Erland Surraj zu, wie die Schiffe der Tiger-Flotte in die Bucht liefen und Anker warfen. Der Viermaster sah zerrupft aus, gar nicht mehr so prächtig, aber die meisten Schäden betrafen nur den überflüssigen Zierrat. Abu Bashri würde nicht lange brauchen, um sein Schiff wieder in einen schwimmenden Palast verwandeln zu lassen. Surrajs Magenmuskeln zogen sich zusammen, als er die fette, wuchtige Gestalt auf dem Achterkastell erkannte. Schwerfällig stieg der sogenannte Mogul den Niedergang hin-
39 unter. Das Beiboot mit dem Baldachin wurde, abgefiert, und es dauerte nur Minuten, bis es den Strand erreichte. Es sah grotesk aus, wie der kleine, magere Bej Kinoshan versuchte, seinem fetten Herrn und Meister trokkenen Fußes ah Land zu helfen. Aber Erland Surraj war nicht in der Stimmung, irgend etwas lächerlich zu finden. Die Fäuste, die ihn hielten, packten fester zu. Er straffte den Rücken. Mit steinernem Gesicht sah er dem Fettwanst entgegen, der durch den nassen Sand auf ihn zuwatschelte. Ein herrischer Wink, und die Bewacher traten Surraj die Beine unter dem Körper weg und zwangen ihn auf die Knie. Abu Bashris Augen waren schwarz vor Wut. Er keuchte heftig, als er ausholte und dem wehrlosen Mann seine feiste, ringgeschmückte Rechte ins Gesicht schlug. 6. „Himmelarsch!" fluchte Ed Carberry erbittert. „Mister Ballie, du sollst Kurs halten und keine Löcher in die Luft glotzen! Mister Andrews, dein Platz ist am Fockmast, du karierter Decksaffe! Wollt ihr wohl spuren, ihr Himmelhunde? Klar Schiff überall, oder denkt ihr, hier ist 'ne Theateraufführung, was, wie?" Für Sekunden hatten die meisten Männer tatsächlich nur auf die beiden Kinder geachtet, die da wie nasse Katzen im Backbord-Hauptwant kauerten und nicht so aussahen, als wollten sie freiwillig wieder hinunterklettern. Jetzt konzentrierten sich die Seewölfe wieder auf ihre Aufgaben, denn der Wind wehte immer
noch kräftig genug, um ihre volle Aufmerksamkeit zu erfordern. Dafür erschien Big Old Shane mit den Zwillingen auf der Kuhl. Auch der Schimpanse Arwenack tauchte von irgendwoher auf. Nur Sir John, der Papagei, ließ sich nicht blicken: er hatte eine ausgeprägte Abneigung gegen Regen, Sturm und nasses Gefieder. Yabu und Yessa blickten verblüfft auf die beiden kleinen Gestalten, die ebenso verblüfft zurückstarrten. Zwei Kinder, die sich wie ein Ei dem anderen glichen und nur daran zu unterscheiden waren, daß der eine weiße und der andere blaue Schifferhosen trug. Beide hatten schwarzes Haar und eisblaue Augen, beide waren ungefähr in Yabus Alter. Der Junge schluckte und ließ seinen Blick zu dem großen Mann hinüberwandern, dem die Zwillinge wie aus dem Gesicht geschnitten waren. Ihr Vater, kein Zweifel. Für Yabu hatte diese Tatsache etwas Beruhigendes: Väter, die ihre Kinder mit auf See nahmen, konnten seiner Meinung nach keine bösen Menschen sein. Unten auf der Kuhl erklärte der Seewolf seinen Söhnen kurz die Situation. Hasard junior und Philip junior nickten einhellig, und der kleine Hasard stemmte die Hände in die Hüften. „Könnt ihr mich verstehen?" fragte er auf Türkisch. Yabu dankte dem Himmel für den verkrachten türkischen Gelehrten, den Abu Bashri als Hauslehrer in sein Insel-Königreich entführt hatte. Genau wie seine Schwester sprach der Junge auch etwas Spanisch, aber es war ihm entschieden lieber, sich zunächst einmal mit jemandem seines Alters zu unterhalten.
40 „Jawohl!" rief er nach unten. Und dann entspann sich ein türkischer Dialog, von dem die Seewölfe kein Wort verstanden und der in einer Sprache geführt wurde, wie sie unter Kindern nun einmal üblich ist. „Seid ihr vom wilden Affen gebissen?" erkundigte sich Hasard Junior grob. „Glaubt ihr vielleicht, wir haben nichts Besseres zu tun, als mit euch fangen zu spielen„wo ihr gerade erst dem Scheitan von der Schippe gesprungen seid?" „Selber dem Scheitan von der Schippe gesprungen!" revanchierte sich Yabu. „Wenn wir euch nicht aufgesammelt hätten, würdet ihr jetzt den Fischen Gesellschaft leisten!" Hasard junior ging mit dem Wörtchen „wir" recht weitherzig um. „Was wollt ihr überhaupt da oben? Überwintern?" Yabu und Yessa wechselten einen Blick. Die Frage hatte ihre Berechtigung, das sahen sie ein. Hier oben in den Wanten saßen sie in der Falle. Außenbords springen konnten sie auch nicht, und kalt und ungemütlich war es überdies. „Wir sind Engländer, wir tun euch nichts", versprach Philip junior großzügig. „Ihr braucht keine Angst zu haben." „Phh, Angst!" sagte Yabu. „Wer hat Angst?" „Na, dann entert doch ab, wenn ihr keine Angst habt!" Letzteres war ein genialer taktischer Schachzug, der keinem der Erwachsenen eingefallen wäre. Die Seewölfe hätten mit Engelszungen reden können und doch mit Sicherheit lange gebraucht, um den Jungen in dem weißen Lendentuch zu überzeugen. Die Unterstellung, daß er sich nicht traute, brachte ihn
dagegen sofort in Bewegung. Vorsichtig griff er nach Yessas Arm, half ihr beim Abentern und sprang Sekunden später neben ihr auf die Planken. / Da standen sie nun. Pitschnaß, kampflustig und immer noch mißtrauisch. Der kleine Hasard grinste und vollführte eine ausholende Geste. „Das ist unser Dad, Philip Hasard Killigrew, der Kapitän der ,Isabella'. Das da sind Mister Carberry, der Profos, Mister Brighton, unser Großvater Mister O'Flynn ..." So ging es weiter. Selbstverständlich wurde auch der Bordschimpanse in die allgemeine Vorstellung mit einbezogen. Arwenack rückte keckernd näher, verbeugte sich feierlich und reichte den Gästen an Bord die Pfote - und das war ein Anblick, der Yabu und Yessa, so naß und erschöpft sie auch sein mochten, in helles Gelächter ausbrechen ließ. „Und wie heißt ihr?" fragte Hasard junior. „Ich bin Yabu. Das ist meine Schwester Yessa." „Versteht ihr spanisch? Türkisch sprechen nämlich nur Philip und ich." Das Eis war gebrochen. Yabu und Yessa sprachen tatsächlich etwas Spanisch. Ihr Mißtrauen hatte sich zwar noch nicht völlig gelegt, sie erinnerten immer noch an sprungbereite kleine Wildkatzen, aber immerhin hatten sie auch nichts mehr dagegen, zurück in die Kammer gebracht und in warme Decken gepackt zu werden. Ein paar Minuten später kauerten sie nebeneinander in der Koje, schlürften heißen Tee mit einem kleinen Spritzer Rum und konnten
41 nicht verleugnen, daß sie sich recht wohl dabei fühlten. Die Zwillinge saßen mit baumelnden Beinen auf der Nachbarkoje, um im Bedarfsfall als Dolmetscher zu fungieren. Vorerst erwies sich das allerdings als überflüssig, da die spanische Sprache ausreichte. Der Seewolf betrachtete die beiden vermummten Gestalten aufmerksam. Inzwischen war er fast sicher, daß ihnen der Zufall die entführten - angeblich entführten - Enkel des ehrwürdigen Moguls über den Weg geschickt hatte, obwohl die Namen der beiden bei der Begegnung mit der Tiger-Flotte nicht gefallen waren. Dafür aber der Name des vermeintlichen Entführers. „Kennt ihr einen Mann namens Erland Surraj?" fragte Hasard tastend. Die Kinder hoben ruckartig die Köpfe. Yessas Augen strahlten auf. Yabu, immer noch mißtrauisch, runzelte die Stirn. „Woher du kennst Namen von unserem Vater?" wollte er wissen. „Euer - Vater?" vergewisserte sich Hasard. Der Junge nickte ernsthaft. „Ich bin Yabu Surraj, meine Schwester ist Yessa Surraj. Unsere Mutter ist gestorben ..." Er stockte, und seine Lippen zitterten. „Seitdem wir sind mit Vater auf der Flucht, weil Alter Vater uns ihm wollte wegnehmen." Der Seewolf begann, eine ganze Menge zu begreifen. „Alter Vater?" echote er. „Abu Bashri?" Das Mädchen schauerte zusammen, als der Name fiel. Yabus Augen verdüsterten sich. Hasard dachte daran, daß der habichtnasige Bej Kinoshan den kleinen Prinzen als Abu
Bashris einzigen Erben und die Prinzessin als „Trost seines Alters und Freude seines Herzens" bezeichnet hatte. Die Kinder selbst schienen in diesem Punkt völlig anderer Ansicht zu sein. Ihre Reaktion auf die Erwähnung des ehrwürdigen Moguls galt ganz sicher keinem liebevollen Großvater. „Ja", sagte Yabu heiser. „Alter Vater heißt Abu Bashri. Er böse! Glaubt, daß alle Welt ihm gehorchen muß. Jeden Tag er läßt Leute auspeitschen und foltern und umbringen. Nur unsere Mutter konnte mit ihm reden. Sie hat uns beschützt. Alter Vater liebte sie. Aber unseren Vater haßt er. Als unsere Mutter starb, wir mußten fliehen." „Und Abu Bashri verfolgte euch?" Der Junge nickte. „Immerzu er war hinter uns. Nirgends wir konnten in Frieden leben - bis jetzt. Vater brauchte eine Mannschaft für Schiff, deshalb er befreite Sklaven, die Alter Vater zum Tode verurteilt hatte. Jetzt wir haben Dorf gebaut in kleiner Bucht. Yessa und ich immer beten, daß Alter Vater uns nicht findet." Hasard dachte daran, daß sich die Tiger-Flotte schon wieder in unmittelbarer Nähe herumtrieb. „Also wolltet ihr nicht zu Abu Bashri zurück?" vergewisserte er sich. „Nein!" riefen Yabu und Yessa im Chor. „Wir zu Vater zurück, zu Erland Surraj", setzte Yabu hinzu. Dabei sah er so beschwörend von einem zum anderen, daß für die Seewölfe nicht mehr der geringste Zweifel daran blieb, was von der haarsträubenden Entführungsgeschichte zu halten war, die Bej Kinoshan erzählt hatte.
42 Zwei Kinder waren von ihrem Vater entführt worden. Und dieser Vater hatte Hasards volle Sympathie. Hatte er, der Seewolf, seine Söhne nicht ebenfalls entführt - damals, als er sie zufällig bei den Gauklern in Tanger entdeckt hatte, wo sie die Attraktion einer Zauber-Nummer gewesen waren? Er hatte es getan, weil es sein Recht als Vater war, obwohl sich die beiden Jungen zunächst mit Händen und Füßen wehrten und alle Anstrengungen unternahmen, um wieder von der „Isabella" zu entwischen. Yabu und Yessa dagegen waren freiwillig mit ihrem Vater geflohen. Ganz offensichtlich hingen sie so an ihm, wie heute auch die Zwillinge an ihrem Dad hingen. Und genauso offensichtlich fürchteten sie sich vor ihrem Großvater, der ein widerliches Ekel sein mußte. Für die Seewölfe war unter diesen Umständen völlig klar, was sie zu tun hatten. „Könnt ihr uns beschreiben, wo eure Bucht liegt?" fragte Hasard. Yabus Augen leuchteten auf. „Ihr uns werdet zu Vater zurückbringen?" fragte er hoffnungsvoll. „Ja, das haben wir vor. Aber wir brauchen eure Hilfe, um die Bucht zu finden." Das Gesicht des Jungen verdüsterte sich wieder. Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Wir nicht wissen, wo jetzt sind", murmelte er. „Deshalb wir nicht können erklären, wo Bucht liegt. Wir sind mit Boot zum Fischen gefahren. Dann kam Sturm auf, und wir konnten nicht schnell genug zur Küste zurücksegeln. Boot schlug um, trieb lange in Wellen. Jetzt wir kennen Weg nicht." Hasard nickte. Er hatte etwas
Ähnliches erwartet. „Werdet ihr die Bucht erkennen, wenn wir daran vorbeisegeln?" fragte er. „Ja", sagte Yabu sofort. Und nach einer Pause: „Bucht muß liegen im Osten von hier. Wir sind weit nach Westen gesegelt, als wir fuhren zum Fischen hinaus." Wieder nickte der Seewolf. Nach Osten also. Das hieß wenden und auf Gegenkurs gehen. Und noch etwas hieß es: daß sie der Tiger-Flotte, die sie gerade abgehängt hatten, vermutlich genau entgegensegeln würden. Um so besser, dachte Hasard grimmig. Sollten diese schwimmenden Paläste getrost versuchen, die „Isabella" anzugreifen. Sie würden dabei gehörig gerupft werden. So gehörig, daß der ehrwürdige Mogul vielleicht hinterher keine Lust mehr verspürte, sich mit seiner Übermacht auf eine kleine Gruppe von Menschen zu stürzen, die nichts weiter wollte, als in Frieden zu leben. Daß sie die Kinder zu ihrem Vater zurückbringen würden, war für die Seewölfe selbstverständlich. Wenn sich dabei die Gelegenheit ergab, einem anständigen Kerl in einer schwierigen Lage beizustehen und einen größenwahnsinnigen Tyrannen auf das richtige Maß zurechtzustutzen - nun, was die Männer von dieser Aussicht hielten, das bewies ihre Reaktion auf Hasards Bericht ganz deutlich. Smoky, der Decksälteste, spuckte in die Hände. Ferris Tucker tastete nach dem Griff seiner mächtigen Zimmermannsaxt. Der blonde Schwede Stenmark machte die bezeichnende Geste des Ärmel-Aufkrempelns. Da
44 war niemand, der nicht im Geist schon die Messer wetzte, und Edwin Carberrys Flüche klangen in dieser Stimmung so richtig herzerfrischend. „Klar zur Wende!" röhrte er. „Hopp-hopp, ihr lahmen Heringe! Herum mit dem Kahn, aber ein bißchen schnell, bevor ich euch das Feuer unter dem Hintern anblase! Jetzt greifen wir dem Teufel ins Maul und ziehen die dreimal verdammten Tiger am Schwanz. Und wenn sie frech werden, zeigen wir ihnen, woher der Wind aus der Hölle weht - so wahr ich Edwin Carberry heiße!" * Der Wind hatte den Himmel blankgefegt und die letzten dunklen Wolken vertrieben. Über der schmalen, tief eingeschnittenen Bucht strahlte die Nachmittagssonne. Draußen auf der offenen See war die Dünung immer noch gefährlich steil - Nachwirkungen des mörderischen Sturmes. Aber in der Bucht lagen die sechs Schiffe der Tiger-Flotte sicher wie in Abrahams Schoß, genauso sicher wie die Beiboote, die Abu Bashris Männer auf den Strand gezogen hatten. Dort war inzwischen ein farbenprächtiger, mit Goldstickerei und bunten Troddeln verzierter Baldachin aufgebaut worden, in dessen Schatten der fette Mogul auf einem bequemen Lederkissen thronte. Hammerschläge dröhnten über das Wasser. Ein Dutzend Männer war eifrig damit beschäftigt, ein Holzgerüst aufzurichten. Keinen Galgen, obwohl man notfalls auch jemanden daran hätte aufknüpfen können. Aber Erland Surraj wußte, daß man
ihn nicht hängen würde, jedenfalls nicht sofort. Ein Opfer kurz und halbwegs schmerzlos hinzurichten, das war nicht das, was sich ein Mann wie Abu Bashri unter einer gelungenen Rache vorstellte. Im Augenblick dachte er überhaupt noch nicht an seine Rache. Und Erland Surraj dachte nicht an das, was ihm bevorstand. Seine Gedanken waren bei Yabu und Yessa. Eindringlich starrte er dem fetten Mogul in die Augen und versuchte zum wiederholten Male, ihn von der Wahrheit zu überzeugen. „Ich schwöre es", sagte er. „Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, Abu Bashri. Die Kinder sind mit einem kleinen Boot draußen. Vielleicht haben sie den Sturm überstanden. Vielleicht leben sie noch. Ihr müßt sie suchen!" Die feisten Lippen des Moguls verzogen sich abfällig. Mit einem fast schläfrigen Ausdruck betrachtete er den Gefangenen, der blutend und gefesselt vor ihm stand. Langsam schüttelte er den schweren Schädel unter dem karmesinroten Turban. „O nein, Surraj", sagte er mit einer Stimme, die für einen Mann etwas zu hoch und dünn klang. „Mich täuschst du nicht, du verdammter Hund! Mich nicht!" „Abu Bashri..." „Schweig, Elender!" donnerte der fette Mogul. „Ich weiß, was du planst. Die Kinder sind mit der schmutzigen Sklavenbrut in irgendeinen Schlupfwinkel geflohen. Uns willst du dazu bringen, das Meer nach ihnen abzusuchen, damit sie einen Vorsprung gewinnen. Aber das schaffst du nicht, Bastard! Du wirst mir erzählen, wohin die Kinder gebracht werden sollen. Alles wirst du mir erzäh-
45 len. Du wirst froh sein, wenn ich dir wieder gestatte zu reden! Du wirst auf Knien vor mir rutschen und den Staub von meinen Schuhen lecken, du elender Schurke!" Erland Surraj preßte die Lippen zusammen. Straff und aufrecht stand er vor seinem Widersacher, das dichte, ergrauende Haar im Wind flatternd, ein kaltes Funkeln in den blauen Augen. Am liebsten hätte er den fetten Mogul angespuckt und ihm seine ganze Verachtung ins Gesicht geschleudert. Aber er dachte an Yabu und Yessa. Er selbst konnte ihnen nicht mehr helfen. Die Tiger-Flotte war ihre einzige Chance. „Hör mir zu, Abu Bashri!" versuchte es der hochgewachsene Eurasier noch einmal. „Ich schwöre beim Andenken deiner Tochter ..." Das feiste Gesicht wurde fahl vor Wut. „Nimm Rhanas Namen nicht mehr in den Mund, du Hund!" fauchte Abu Bashri. Und zu seinen Leuten: „Greift ihn euch! Bindet ihn an! Rasch - ich will ihn winseln hören!" Erland Surraj wurde gepackt und zu dem Holzgerüst geschleift. Minuten später hing er mit gespreizten Beinen und emporgereckten Armen zwischen den Holzpfählen. Zwei von den Kerlen rissen ihm grob das Hemd vom Körper und entblößten seinen Rücken. Hinter ihm begann die Peitsche zu pfeifen. Doch wenn Abu Bashri gehofft hatte, er werde sein Opfer schreien hören, sah er sich getäuscht. Ohne einen Laut ertrug Erland Surraj die grausame Prozedur. Wie ein Schraubstock preßte sich sein Kiefer aufeinander, seine Augen hatten sich verdunkelt und starrten stolz über seine Peiniger hinweg. Er
wußte, daß es keinen Sinn hatte, den selbsternannten Mogul überzeugen zu wollen. Jedes weitere Wort war überflüssig. Was sich der selbstherrliche, größenwahnsinnige Abu Bashri einmal in den Kopf gesetzt hatte, davon brachte ihn so leicht nichts wieder ab. Das Schicksal von Yabu und Yessa war besiegelt. Surraj dachte daran, daß sie - wenn sie überhaupt noch lebten - ganz allein den Elementen ausgeliefert waren, und dieser Gedanke schmerzte schlimmer als die grausamen Peitschenhiebe. Irgendwann winkte Abu Bashri mit der Hand, und die Folter wurde unterbrochen. Erland Surraj hing mehr tot als lebendig in den Stricken. Aber er hielt immer noch den Kopf erhoben. Seine Züge wirkten steinern. Schnaufend erhob sich der fette Mogul von seinem Sitzkissen und trat dicht an das Opfer heran. Seine schwarzen, zwischen Fettwülsten fast verschwindenden Augen funkelten wütend. Er war unzufrieden. Er liebte es, wenn die Menschen vor ihm krochen und zitterten. Die Tatsache, daß der hochgewachsene Eurasier mit keiner Silbe um Gnade bettelte, schmälerte sein Triumphgefühl empfindlich. „Nun?" zischte er. „Hast du es dir überlegt? Willst du die Wahrheit sagen?" Surraj holte mühsam Atem. Trotzdem klirrte seine Stimme vor Verachtung. „Narr!" stieß er hervor. „Eines Tages wirst du begreifen, daß du zu Yabus und Yessas Mörder geworden bist." „Verdammter Hund! Ich warne dich! Du wirst den Tag verfluchen, an dem du geboren wurdest, du ..."
46 „Ich werde nicht einmal den Tag verfluchen, an dem ich dir begegnete, Abu Bashri", sagte Surraj kalt. „Denn an diesem Tag begegnete ich auch Rhana, und sie war das Glück meines Lebens, auch wenn sie einen wahnsinnigen Fettwanst zum Vater hatte. Du kannst mich foltern und umbringen, Abu Bashri. Aber das, was deine Tochter mir in all den Jahren geschenkt hat, kannst du mir nicht wieder entreißen. Und wenn ich sterbe, werde ich wissen, daß du dich noch für deinen Starrsinn verfluchen wirst. Dann nämlich, wenn du erkennst, daß du deiner krankhaften Rachsucht das Leben von Yabu und Yessa geopfert hast - deiner eigenen Enkel!" Hart und scharf wie Peitschenhiebe kamen die Worte. Und wie Peitschenhiebe schienen sie den fetten selbsternannten Mogul auch zu treffen: jedes einzelne ein Schlag gegen seinen Stolz, jedes einzelne auf seinen wundesten Punkt gezielt, auf die Tatsache, daß seine Tochter, sein Augenstern, sein Kleinod, dieser einzige Mensch auf Erden, dem er keinen Wunsch abschlagen konnte - daß seine vergötterte Rhana ihre Liebe an diesen unwürdigen Bastard verschwendet hatte. Abu Bashris Gesicht war fahlweiß. Die feisten Wangen zitterten, in den schwarzen Augen glomm der Haß wie eine unlöschbare, verzehrende Flamme. Nur der Gedanke an die Kinder, Rhanas Kinder, hinderte ihn daran, sofort den Befehl zur Hinrichtung seines Todfeindes zu geben - einer Hinrichtung, die er sich während der langen Monate der vergeblichen Verfolgungsjagd immer wieder bis in die letzten scheußlichen Einzelheiten ausgemalt hatte.
„Du willst nicht reden?" stieß er mühsam durch die Zähne. „Ich habe nichts mehr zu sagen", erwiderte Erland Surraj hart. „Ich lasse dir das Fleisch von den Knochen peitschen! Ich lasse dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, ich..." Er verstummte abrupt. Erland Surraj hatte mit einem Ruck den Kopf gehoben. Voll eiskalter Verachtung spie er seinem Widersacher mitten in das feiste Gesicht, und diesmal lief Abu Bashri so rot an, als werde er jede Sekunde einen Schlaganfall erleiden. Trotzdem brüllte er nicht los. Die rote Farbe wich aus seinem Gesicht und ließ es wieder geisterhaft blaß werden. Die nächsten Worte drangen leise und tonlos über seine Lippen. „Weiter auspeitschen!" zischte er. „Wir haben Zeit, viel Zeit. Wir werden diesen Bastard schon auf die Knie zwingen." * Der Wind fegte über die Hochfläche, wühlte in den Eukalyptusbäumen und bog die struppigen Sträucher der Sandheide zu Boden. Shaiba, der Anführer der geflohenen Sklaven, kauerte neben einem Felsblock in einer geschützten Mulde und lauschte. Er hatte Schritte gehört. Aber er wußte nicht, ob es die Schritte von Freund oder Feind waren, daher wartete er mit angehaltenem Atem und gespannten Muskeln. Der gedämpfte Vogelschrei, der im nächsten Moment an sein Ohr schlug, ließ ihn aufatmen. Das Erkennungszeichen! Es war Surrajs Idee gewesen, genau wie es seine Idee gewesen war, für den Not-
47 fall einen Treffpunkt in einer Bucht nördlich des Kaps zu vereinbaren. Die bittere Erfahrung hatte sie gelehrt, daß solche Vorsichtsmaßnahmen notwendig und mitunter lebensrettend waren. Seit Monaten war ihr kleines Grüppchen vor der Übermacht der Tiger-Flotte auf der Flucht. Immer wieder hatten sie um ihr nacktes Leben kämpfen müssen, und diese Zeit hatte sie zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengeschweißt. Die entflohenen Sklaven hätten sich für Erland Surraj in Stücke hacken lassen. Sie wußten, daß auch der eurasische Abenteurer sie niemals im Stich lassen würde. Shaiba richtete sich etwas auf, hob die Hände an die Lippen und ahmte ebenfalls den tremolierenden Vogelruf nach. Minuten später wurde es im Gebüsch lebendig. Vier, fünf Männer erschienen am Rand der Mulde: erschöpfte, halbnackte Gestalten, zerschunden, teilweise verletzt, die Gesichter noch vom Pulverdampf geschwärzt. Aber keiner von ihnen kümmerte sich groß um seine Blessuren. Brandzeichen und Peitschenstriemen - das waren Male der Demütigung. Die Narben, die sie als freie Männer im Kampf empfangen hatten, würden sie wie Ehrenzeichen tragen. „Die anderen?" fragte Shaiba in seiner Heimatsprache. Allgemeines Achselzucken. „In alle Himmelsrichtungen verstreut, fürchte ich", meinte ein dunkelhäutiger, drahtiger Malaie. „Ich nehme an, sie werden sich zum Treffpunkt durchschlagen." „Hat jemand den Kapitän gesehen?" Kopfschütteln. Der Malaie biß sich
auf die Lippen. „Ich glaube, er ist an Bord geblieben, um unsere Flucht zu decken", sagte er leise. „Ja", murmelte der schlanke, noch junge Mann neben ihm. „Und ich fürchte außerdem, daß er sich dem Mogul ergeben hat." „Lebend?" fuhr der Malaie auf. „Niemals!" „Doch", sagte Shaiba. „Ich glaube, Said hat recht. Denkt doch an Yabu und Yessa! Wer könnte sie jetzt noch retten, wenn nicht Abu Bashri mit seinen Schiffen?" Für Sekunden schien das Schweigen wie ein körperliches Gewicht über den Männern zu lasten. Schaudernd starrten sie zum Rand des Plateaus hinüber. Sie kannten den fetten, größenwahnsinnigen Mogul. Welches Schicksal Erland Surraj erwartete, wenn er tatsächlich in Gefangenschaft geraten war, konnten sie sich leicht ausmalen. „Wir müssen zurück", murmelte der drahtige Malaie. „Wir müssen ihn herausholen." Zwei, drei von den anderen stimmten zu. Nur der Junge mit dem Namen Said runzelte zweifelnd die Stirn. „Ich glaube, es ist trotz allem besser, wenn wir zuerst zum Treffpunkt marschieren", meinte er zögernd. „Aber..." „Said hat recht", sagte Shaiba zum zweitenmal. „Überlegt doch! Um gegen Abu Bashri zu bestehen, brauchen wir jede Hand, jeden Mann. Selbst dann werden wir nur eine winzige Chance haben. Am Treffpunkt können wir uns wieder mit den anderen vereinigen, soweit sie am Leben sind. Dort liegen zwei Boote versteckt! Mit einem Angriff von See her rechnet Abu Bashri nicht.
48 Wenn wir vorsichtig sind, die Überraschung nutzen, wie die Teufel kämpfen - vielleicht gelingt es uns dann wirklich, den Kapitän herauszuhauen." „Es muß uns gelingen", sagte der drahtige Malaie durch die Zähne. „Und es wird uns gelingen", stieß Said hervor. „Ich schwöre, daß ich diesen widerlichen Fettwanst eigenhändig erwürge, und wenn es das letzte ist, was ich in diesem Leben tue." „Also sind wir uns einig? Wir marschieren zunächst über Land zum Treffpunkt und greifen die Kerle dann von der See her an?" Die Männer nickten schweigend. Ja, sie waren sich einig. Einig, ihren Freund und Kapitän entweder zu befreien - oder Seite an Seite mit ihm unterzugehen. * Die „Isabella" segelte mit halbem Wind über Backbordbug nach Osten. Die australische Küste lag queraban Backbord diesmal und nah genug, um durch das Spektiv Einzelheiten der Landschaft wie zum Beispiel charakteristische Felsformationen zu erkennen. Yabu, in eine Philip junior gehörende Kluft gekleidet, war zu Bill in den Großmars aufgeentert und beobachtete die Küste ständig durch den Kieker. Die kleine Yessa trug Hemd und Segeltuchhosen von Hasard junior, hatte Ärmel und Hosenbeine etwas hochgekrempelt und sah ziemlich verwegen aus. Den Kindern war deutlich anzumerken, daß sie einen waschechten Seemann zum Vater und die letzten Monate ihres Lebens vorwiegend auf Schiffsplanken verbracht hatten.
Der Seewolf beobachtete die beiden, aber er konnte beim besten Willen nichts an ihrem Benehmen feststellen, was auch nur im geringsten zum einzigen Erben eines ehrwürdigen Moguls und zur „Herzensfreude" des fetten Potentaten gepaßt hätte. Der habichtnasige Bej Kinoshan hatte von dem „jungen Prinzen" und der „kleinen Prinzessin" gesprochen. Yabu und Yessa erweckten ganz sicher nicht den Eindruck, sich für diese Rollen zu eignen. Wenn sie tatsächlich in einem Palast aufgewachsen waren, dann mußten sie unter der Obhut eines Vaters aufgewachsen sein, der sich sehr energisch zwischen sie und den fetten, prunksüchtigen Mogul gestellt und erfolgreich dafür gesorgt hatte, daß sie mit beiden Beinen auf der Erde blieben. Hasard gestand sich ein, daß er auf diesen Erland Surraj inzwischen äußerst gespannt war. Nun, sie würden ihn kennenlernen. Wenn auch, wie der Seewolf annahm, nicht in der Bucht, in der er sich angesiedelt hatte. Zweifellos war er mit seiner „Candia" unterwegs, um die Kinder zu suchen. Deshalb hatte Hasard auch den Fockmars besetzen lassen, wo Dan O'Flynn mit dem zweiten Spektiv die Kimm absuchte. Kein fremdes Schiff zeigte sich weit und breit. Bis zum späten Nachmittag segelte die „Isabella" an der Küste entlang. Dann endlich meldete sich Bills Stimme aus dem Großmars. „Deck! Yabu glaubt, er habe die Bucht gefunden!" „Jawohl!" rief der Junge. „Backbord voraus! Die rote Landzunge, die aussieht wie Pranke von Tiger!" „Ausgerechnet Tiger!" unkte Old O'Flynn, der auf seine Krücken ge-
49 stützt am Backbord-Schanzkleid lehnte. „Wieso nicht?" fragte Ben Brighton mit einem matten Grinsen. „Haben die niedlichen Tierchen dir Angst eingejagt, Donegal?" „Angst? Mir?" Der Alte schnaufte. „Du hast wohl Kakerlaken im Hirn, Mister Brighton? Aber so ist das mit euch Kerlen! Auf Alter und Erfahrung wollt ihr nicht hören! Aber ich sage euch, das ist ein böses Omen!" „Was?" fragte Ben Brighton etwas verdutzt. „Daß die Landschaft wie eine Tigerpranke aussieht?" „Jawohl! Ein böses Omen, sage ich!" „Haha", sagte Ben Brighton. „Was gibt es da zu lachen, verdammt?" „Nichts weiter", sagte der Bootsmann trocken. „Nur, daß von zehn Landzungen mindestens acht wie Raubtierpranken aussehen. Wenn dir das noch nicht aufgefallen ist, solltest du vielleicht mal deine Klüsen ..." Er wurde unterbrochen. Denn im selben Augenblick erklang die Stimme von Donegal Daniel O'Flynn junior aus dem Fockmars - und was er zu melden hatte, schien diesmal die Unkerei seines alten Vaters voll und ganz zu bestätigen. „Achtung!" schrie Dan. „Mastspitzen und aufgegeite Segel jenseits der Landzunge! In der Bucht ankern mindestens sechs Schiffe, und ich fresse meine alten Seestiefel und die Socken zum Nachtisch, wenn das nicht die Flotte von diesem fetten größenwahnsinnigen Abu Bashri ist!" 7. „Etwas abfallen! Smoky, auf die
Back und Tiefe ausloten! Wir pirschen uns dicht unter Land an." „Aye, aye!" tönte es zurück. „Pete, wenn du nachher nicht schnell genug anluvst, laufen wir Gefahr, auf Legerwall geworfen zu werden, ist dir das klar?" „Und du läufst Gefahr, anschließend das Fell über die Ohren gezogen zu kriegen, Mister Ballie, ist dir das auch klar?" raunzte der Profos drohend. „Aye, aye!" Pete grinste nur und packte das Rad fester, während die Galeone langsam abfiel und ihr Bugspriet der Küste zukehrte. „Lotung?" rief Hasard. „Acht Faden!" schrie Smoky nach achtern. „Gei auf Großsegel und Marssegel! Gei auf die Blinde!" Sämtliche Segel bis auf Fock und Besan wurden eingeholt. Die „Isabella" verlor rasch an Fahrt und glitt langsamer auf die unregelmäßige Küstenlinie zu. „Sieben Faden!" sang Smoky aus. „Sechseinhalb Faden - fünf..." „Anluven!" befahl Hasard. Die Galeone drehte wieder etwas höher, segelte mit halbem Wind genau wie zuvor, aber wesentlich dichter unter Land nach Osten. Ihr Bugspriet zeigte jetzt auf die vorspringende Landzunge. Der Seewolf verließ das Achterkastell und enterte geschickt zu Dan O'Flynn in den Fockmars hoch. Wenn sie vor der Landzunge wendeten und auf Gegenkurs gingen, bestand die Chance, daß die Kerle der Tiger-Flotte sie vorerst nicht bemerkten, was wegen des späteren Überraschungseffekts wünschenswert war.
50 Das hieß aber zugleich, daß ihnen nur wenige kurze Augenblicke blieben, um die Lage zu peilen. Immer vorausgesetzt, daß die Felsen der Landzunge überhaupt einen Blick in die Bucht gestatteten. Hasard hatte den kleinen Yabu abentern lassen. Nicht nur, weil er das zweite Spektiv brauchte. Vor allem, weil er ahnte, was sich in der Bucht abspielen mußte, wenn der fette Mogul Erland Surraj und seine Leute erwischt hatte, und weil er dem Jungen auf jeden Fall diesen Anblick ersparen wollte. Jetzt war die „Isabella" nahe genug an die Landzunge herangeglitten. An Deck würde Ben Brighton dafür sorgen, daß genau im richtigen Moment gewendet wurde - Hasard wußte, daß er sich auf seinen Bootsmann voll und ganz verlassen konnte. Gespannt spähte er durch das Spektiv, genau wie Dan, der neben ihm kauerte. In diesem Fall würden vier Augen vermutlich besser und mehr sehen als zwei. Mehr als ein kurzer Blick war nicht möglich, denn auf dem Achterkastell befahl Ben Brighton in diesem Augenblick bereits: „Klar zur Wende!" Hasard konzentrierte sich. Die Galeone schwang nach Steuerbord herum und glitt an einer Stelle vorbei, wo ein Einschnitt zwischen den Felsen klaffte. Tatsächlich: in der Bucht lagen die sechs Schiffe der Tiger-Flotte vor Anker. An der Westseite, zwischen ein paar vorspringenden Klippen, lag das zerschmetterte Wrack einer Karavelle: die „Candia". Der Seewolf schwenkte mit dem Spektiv die Bucht ab, und neben ihm sog Dan O'Flynn scharf die Luft durch die Zähne, weil er die Gestalten am
Strand im selben Augenblick erkannte. Der fette Mogul, wie auf einem prunkvollen Thronsitz unter dem unvermeidlichen schattenspendenden Baldachin. Seine Leute hatten ein Gerüst aufgebaut, eine Art Rahmen mit einem Querholz zwischen zwei tief in den Sand gerammten und provisorisch abgestützten-Balken. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann war mit gespreizten Beinen und emporgereckten Armen in das Gestänge gefesselt. Haar und Bart waren dicht und bereits ergraut. Von dem Gesicht ließen sich aus der Entfernung nur die hellen Augen erkennen, doch der nackte, muskulöse Oberkörper bewies, daß der Mann jünger sein mußte, als seine grauen Haare vermuten ließen. Hinter ihm hatte sich einer von Abu Bashris brutalen Kerlen aufgebaut und schwang die Peitsche. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Wut schoß in ihm hoch. Selbst aus der Entfernung glaubte er, das widerliche Klatschen zu hören. Bevor sich wieder ein paar Felsen in sein Blickfeld schoben, konnte er gerade noch erkennen, daß sich im Gesicht des Opfers kein Muskel regte, obwohl er sichtlich schon eine ganze Menge eingesteckt hatte. Die „Isabella" wendete und ging wieder auf Gegenkurs. Dan O'Flynn ließ das Spektiv sinken. Sein Gesicht unter dem sonnengebleichten blonden Haar wirkte hart und kantig. „Dieses fette Schwein!" fauchte er. „Ich hoffe, daß die Stunde naht, in der ich den Kerl vor die Fäuste kriege!" „An solchen Typen beschmutzt
51 man sich nur die Hände", sagte der Seewolf hart. „Wenn es ihnen an den Kragen geht, fangen sie an zu winseln und rutschen auf den Knien." „Und auf diese Weise kommen sie meistens davon! Weil sie einem viel zu widerlich sind, um sie anzufassen!" „Eben", sagte Hasard trocken. „Du kannst jetzt abentern. Es genügt, wenn Bill im Großmars bleibt." Dan O'Flynn war wie der Blitz an Deck. Hasard folgte ihm. Yabu und Yessa standen am Schanzkleid, dicht aneinandergedrängt, und sahen ihm voller Angst entgegen. „Euer Vater lebt", sagte Hasard ruhig. „Er ist Abu Bashris Gefangener, aber wir werden ihn befreien." Yabu schluckte. Er holte Atem, als wolle er noch etwas fragen, dann ließ er es bleiben. Vermutlich konnte er sich selbst vorstellen, daß es seinem Vater ziemlich übel ergangen war, und er wollte der kleinen Yessa die Antwort auf die Frage ersparen. Ein paar Minuten später, während die „Isabella" wieder nach Westen segelte, fanden sich der Seewolf, Ben Brighton und Big Old Shane, Edwin Carberry und die beiden O'Flynns in der Kapitänskammer zusammen. Old Donegal hatte ein nachdenkliches Gesicht und schien immer noch darüber nachzugrübeln, ob die wie eine Tigerpranke geformte Landzunge nun wirklich ein böses Omen gewesen sei oder nicht. Dan O'Flynns helle Augen funkelten unternehmungslustig. Der Profos hatte das zernarbte Rammkinn vorgeschoben und die mächtigen Pranken geballt und sah ebenfalls so aus, als überlege er nur noch, ob er die Männer des fetten Abu Bashri
roh oder lieber gebraten zum Abendbrot verspeisen solle. An Deck wurde unter den aufmerksamen Augen von Al Conroy, Ferris Tucker und Smoky, dem Decksältesten, gefechtsklar gemacht. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn es gab keine Garantie dafür, daß die Ankerwachen der TigerFlotte die „Isabella" tatsächlich nicht gesehen hatten. Hasard wußte, daß er sich bedingungslos auf die Crew verlassen konnte. Um ihre „alte Tante" in eine schwimmende Festung zu verwandeln, brauchten die Männer keine Befehle. Und auf Edwin Carberrys Flüche konnten sie notfalls auch verzichten. Notfalls - denn natürlich fehlte ihnen das Salz in der Suppe, wenn ihnen niemand androhte, Haut in Streifen von gewissen edlen Körperteilen abzuziehen oder ihnen zu Hammelbeinen zu verhelfen, auf denen sie die Toppen klarieren konnten, ohne auf zuentern. Bei Big Old Shane und Ben Brighton wirkte die Unternehmungslust etwas gedämpft. Nicht etwa, weil ihnen die Übermacht von sechs Schiffen besonders im Magen lag, sondern weil sie das Problem von einer anderen Seite betrachteten. Der Schmied von Arwenack rollte die breiten Schultern und kratzte nachdenklich in seinem grauen Bartgestrüpp. „Wir haben alle Vorteile auf unserer Seite", sagte er in einem Tonfall, der das unausgesprochene „Aber" ahnen ließ. Carberry grinste breit. „Klar, wir brauchen nur die Bucht zu sperren. Und dabei können wir sogar unsere größere Reichweite ausspielen, weil die Kerle so gut wie keine Chance haben, auszubrechen. Sie müssen
52 sich gegen den auflandigen Wind freisegeln, und das schaffen sie garantiert nicht schnell genug." „Und dann fliegen die Fetzen", sagte Donegal Daniel junior begeistert. Hasard nickte grimmig. „Stimmt", sagte er. „Die Fetzen werden fliegen. Und dann?" Carberry holte Luft - und atmete wieder aus. Dan O'Flynn kratzte sich am Ohr. Er sah noch das Bild vor sich, das sich ihm in der Bucht geboten hatte. „Dann ist dieser Erland Surraj im eh - Eimer", sagte er, den wesentlich drastischeren Ausdruck verschlukkend. Der Profos hatte weniger Hemmungen. „Stimmt, Surraj sitzt in der Scheiße. Der Fettwanst haßt ihn. Auf die Idee, ihn als Geisel zu benutzen, wird er ja wohl nicht verfallen, weil er keine Ahnung hat, daß wir ihn überhaupt kennen und daß die Kinder bei uns an Bord sind." „Genau", sagte der Seewolf. „Aber in diesem Punkt liegt auch unsere Chance. Abu Bashri dürfte nicht im Traum damit rechnen, daß überhaupt jemand versucht, seinen Gefangenen zu befreien." „Also versuchen wir es mit einem Stoßtrupp über Land?" fragte der Bootsmann in seiner ruhigen, bedächtigen Art. „Richtig, Ben. Wir werden es nach Möglichkeit so anstellen, daß die Kerle überhaupt nicht merken, was da geschieht. Sobald wir Surraj an Bord haben, können wir die Schnelligkeit der ,Isabella' ausspielen. Sie wird diesen schwimmenden Palästen mit Leichtigkeit davonsegeln." „Einfach so?" brummte Ed Carberry etwas enttäuscht. „Wo wir doch so eine prächtige Gelegenheit hätten, die ganze verdammte Flotte in der
Bucht zu Kleinholz zu verarbeiten?" Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Nicht, solange sie uns nicht dazu zwingen, Ed. Vergiß nicht, daß sie sich zwar gewaltig aufgespielt, uns aber nicht angegriffen haben. Die Karavelle ist sehr schnell verschwunden, nachdem wir ihr den Bugspriet abgeschossen hatten. Das war eine Warnung. Wenn sie sie beherzigen - gut. Wenn sie uns verfolgen und angreifen, haben sie sich die Konsequenzen selbst zuzuschreiben. Aber wir werden sie nicht ohne Notwendigkeit in dieser Falle festhalten und zusammenschießen, nur weil die Gelegenheit so günstig ist, klar?" „Klar", brummte der Profos. „Und wann starten wir?" „Bei Einbruch der Dunkelheit. Zehn Mann müssen genügen. Wir werden uns vorsichtshalber mit ein paar Flaschenbomben ausrüsten. Ben, du übernimmst das Kommando auf der ,Isabella'. Wenn du den Eindruck hast, daß etwas schiefgeht, mußt du selbst entscheiden, was du tust." „Aye", sagte Ben Brighton nur. Was er tun würde, stand ohnehin fest: sobald die Zeichen darauf hindeuteten, daß das Unternehmen in der Bucht schieflief, würde er mit der Galeone vor die Einfahrt segeln und den Kerlen zeigen, daß sie besser daran taten, sich schleunigst um ihre Schiffe zu kümmern. Was sie dann sicher auch taten, denn auch dem rachsüchtigen Abu Bashri mußte klar sein, daß seine Flotte in einer höllischen Falle festsaß und daß er riskierte, alles zu verlieren. „Wer geht außer uns mit?" fragte der Profos, der als selbstverständlich voraussetzte, daß er und der Seewolf auf jeden Fall dabeisein würden. Hasard grinste matt. „Ferris, Dan
53 und Batuti", zählte er auf. „Außerdem Matt Davies und Stenmark, Blacky, Bob Grey und Luke Morgan. Wir werden mit einer Übermacht zu tun kriegen, also muß das Ganze vor allem schnell gehen, sehr schnell." Big Old Shane zog die buschigen Brauen zusammen. „Was ist eigentlich mit Erland Surrajs Freunden?" fragte er langsam. „Mit diesen entflohenen Sklaven?" Hasard runzelte die Stirn. „Ich habe außer Surraj selbst keine weiteren Gefangenen gesehen. Du, Dan?" „Nein", bestätigte der junge O'Flynn. „Entweder sind sie ins Landesinnere geflohen, oder Abu Bashri hat sie töten lassen." Er zögerte und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Was ich nicht kapiere, ist etwas ganz anderes. Erland Surraj hat dem fetten Mogul doch sicher erzählt, daß die Kinder mit einem Boot draußen sind. Wieso, zum Teufel, sucht die Tiger-Flotte dann nicht nach ihnen?" „Wahrscheinlich, weil Abu Bashri seinem Gefangenen nicht glaubt, sondern annimmt, daß Surraj lediglich die Flucht der Kinder decken will", meinte Hasard. „Das spricht übrigens dafür, daß es zumindest ein paar von den ehemaligen Sklaven gelungen ist, sich ins Landesinnere zu verziehen." „Hoffentlich", sagte Dan O'Flynn, der die Szene in der Bucht gesehen hatte und selbst seinem schlimmsten Feind nicht wünschte, dem fetten Abu Bashri in die Finger zu geraten. Der Seewolf nickte nur. Ein paar Minuten später stand er wieder an der Schmuckbalustrade des Achterkastells. Unten auf der Kuhl erklärte Edwin Carberry den Männern in einem völlig ungewohnten - und vorerst überhaupt noch
nicht notwendigen - Flüsterton, was sie in dieser Nacht unternehmen würden.
Erland Surraj hatte das Bewußtsein verloren. Ein Guß Salzwasser, der ihm ins Gesicht klatschte, über seinen Rükken rann und höllisch in den Wunden brannte, brachte ihn zwar vorübergehend wieder zu. sich, aber jeder konnte sehen, daß er bei einer Fortsetzung der Prozedur sofort wieder ohnmächtig werden würde. Abu Bashris feistes Gesicht verzerrte sich vor Wut. Neben ihm warf Bej Kinoshan einen zweifelnden Blick auf den Gefangenen, dann beugte er sich in den Schatten des Baldachins hinunter. „Wir sollten eine Pause einlegen, ehrwürdiger Mogul", schlug er vor. „Die Männer sind ermüdet und ..." „Wer ist müde?" fauchte der Dicke. „Wenn er erst die Peitsche spürt, wird er vergessen, daß es so etwas wie Schlaf überhaupt gibt." „ . . . und Surraj, dieser Hund, wird krepieren, wenn wir nicht aufpassen", vollendete Bej Kinoshan rasch. Das war immerhin ein Argument, das dem fetten Mogul einleuchtete. Einen Augenblick überlegte er. Dann preßte er die Lippen zusammen und winkte herrisch mit seiner fetten, ringgeschmückten Rechten. „Schneidet ihn ab", ordnete er an. „Fesselt ihn wieder! Und dann bindet ihn irgendwo zwischen den Klippen an - aber so, daß er sich nicht wie in einer bequemen Koje fühlt." Die Männer gehorchten. Ein paar Minuten später hatten sie Erland Surraj an Händen und Füßen verschnürt, schleiften ihn etwas ab-
54 seits zwischen die Klippen und fesselten ihn mit dem Oberkörper an einen Felsblock. Surrajs Kopf war auf die Brust gesunken. Einer der Kerle versetzte ihm noch einen Tritt, doch das spürte er nicht mehr, da er wieder das Bewußtsein verloren hatte. * Myriaden von Sternen funkelten am Himmel wie Brillanten auf schwarzem Samt und spiegelten sich verschwimmend in der Dünung. Das Meer sah aus, als sei es mit Quecksilbertropfen besät. Immer noch wehte der gleichmäßige auflandige Wind, und die Seewölfe hofften, daß das auch noch eine Weile so bleiben würde. Sie verstanden ohnehin nicht, daß die Tiger-Flotte nicht längst ihre strategisch, äußerst ungünstige Position in der Bucht verlassen hatte. Der Grund war vermutlich in der Tatsache zu suchen, daß Abu Bashri nicht im Traum mit einem Angriff von See her rechnete. Er hatte die „Candia" in Fetzen geschossen und Erland Surraj gefangengenommen. Jetzt glaubte er, sich Zeit lassen zu können. Zeit, um seine Rache zu genießen. Und Zeit, um im Landesinneren nach den Kindern und den entflohenen Sklaven zu suchen, womit er nach Hasards Meinung spätestens am nächsten Tag beginnen würde. Die „Isabella" ankerte vor der Küste. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit wurde das größere Beiboot abgef iert. Zehn Männer gingen an Bord und verteilten sich auf den Duchten. Der Seewolf übernahm die Pinne. Dan O'Flynn suchte mit seinen scharfen Augen aufmerksam die Umgebung ab, während die Ruder-
gasten zu Ferris Tuckers gedämpftem „Hoool weg! Hoool weg!" die Riemen durchholten. Die Dünung war flacher und länger geworden, die Küste rückte rasch näher. Sie liefen in eine der Buchten östlich des Kaps. Unterhalb des felsigen, ansteigenden Geländes hatte das Meer einen breiten Sandstreifen angeschwemmt, der fahl im Mondschein schimmerte. Ein paar letzte, kräftige Riemenschläge, schon knirschte es unter dem Kiel. Die Männer sprangen ins seichte Wasser, Ferris Tucker, Ed Carberry und Batuti mit ihren Bärenkräften wuchteten das Boot mühelos hoch auf den Strand, als handele es sich um ein harmloses Kinderspielzeug. Ringsum waren nur das Singen und Raunen des Windes und das Plätschern der Wellen zu hören. Der Seewolf gab den anderen ein Zeichen, zurückzubleiben und kletterte als erster zwischen den Klippen aufwärts. Einmal löste sich ein Stein unter seinem Stiefel, aber dann erreichte er die Kante des Plateaus fast lautlos. Vor ihm dehnte sich die windgezauste Hochfläche im Mondlicht: Felsentrümmer, struppige Sandheide, einzelne Eukalyptusbäume. Das Gelände war unübersichtlich und bot zahlreiche Schlupfwinkel. Es würde nicht schwer sein, sich unbemerkt an die Bucht heranzupirschen, in der die Tiger-Flotte ankerte. Hasard winkte den anderen. Eilig folgten sie ihm, verharrten einen Moment und sahen sich ebenfalls um. Die Richtung zu finden, war ebenfalls nicht schwierig. Sie brauchten sich nur parallel zur Küste zu halten, und nach einer Weile sahen sie bereits den rötlichen Wi-
55 derschein der Feuer, die die Männer des Moguls am Strand entzündet hatten. Eine Viertelstunde später waren sie so dicht herangelangt, daß sie Stimmen hören konnten. Stimmen. Keine Schreie, auch nicht mehr das widerliche Klatschen der Peitsche. Der fette Mogul legte offenbar vorerst noch Wert darauf, daß sein Opfer am Leben blieb. Seine Rache hatte er aufgeschoben, denn in erster Linie ging es ihm wohl um die Kinder, seine einzigen Erben. Er würde versuchen, das Versteck der beiden mit allen Mitteln aus Erland Surraj herauszuquetschen. Und Surraj würde vermutlich mit der Kraft der Verzweiflung bei seiner Version, bei der Wahrheit bleiben, weil es aus seiner Sicht so aussah, daß die einzige hauchdünne Überlebenschance für Yabu und Yessa darin bestand, daß die Tiger-Flotte die See nach ihnen absuchte. Die Seewölfe schlichen weiter und bewegten sich noch vorsichtiger und lautloser als zuvor. Wenn sie davon ausgingen, daß die ehemaligen Sklaven ins Landesinnere geflohen waren, mußten sie mit Wachtposten hier oben auf dem Plateau rechnen. Einmal verharrte Hasard und warf ein paar kleine Steinchen ins Gestrüpp, deren Aufprall zwar auf der Hochfläche, aber bestimmt nicht unten am Strand zu hören war. Doch auch als er das Manöver wiederholte, rührte sich nichts. War Abu Bashri zu selbstherrlich, um in den Sklaven auch nur eine Gefahr zu sehen? Wohl kaum, dachte Hasard. Wahrscheinlicher war, daß der Mogul die Sklaven zusammen mit den Kindern immer noch auf der Flucht glaubte einer überstürzten, panischen
Flucht, so weit und so schnell wie möglich. Jedenfalls sprach nichts dafür, daß sich Wachtposten in der Nähe herumtrieben. Nur noch wenige Schritte trennten die Seewölfe von der Stelle, wo das Gelände steil zur Bucht hin abfiel, und dieses letzte Stück legten sie langsam und ohne das geringste Geräusch zurück. Hasard schob sich vorsichtig über eine etwas vorstehende Felsplatte. Unter sich in der Bucht konnte er die flackernden Feuer sehen. Einfache Pfahlhütten schmiegten sich in den Schatten der Klippen: die Häuser, die Niederlassung, die Erland Surraj und seine Freunde hier hatten errichten wollen. Der Widerschein von Öllampen fiel durch einige Fenster. Der Seewolf vermutete, daß Abu Bashri, Bej Kinoshan und die Kapitäne der fünf restlichen Schiffe für die Nacht in ihre schwimmenden Paläste zurückgekehrt waren. Ein paar von den Männern, die hier am Strand die Stellung hielten, hatten sich offenbar in die Hütten zurückgezogen. Ein Anblick, der für Erland Surraj ausgesprochen bitter sein mußte. Ein paar Sekunden später hatte Hasard den hochgewachsenen Eurasier entdeckt. Nicht mehr an dem Holzgerüst hängend, sondern etwas abseits zwischen den Klippen, mit dem Oberkörper an einen Felsblock gefesselt. Das mußte unbequem und schmerzhaft für ihn sein, aber immer noch besser, als die Lage, in der er vorher gewesen war und in der er vermutlich den Morgen nicht erlebt hätte. Aus schmalen Augen musterte Hasard das Gelände. Surraj war zwischen die Felsen der Landzunge geschleppt worden.
57 Wenn die Seewölfe eine Abstiegsmöglichkeit etwas weiter rechts fanden, konnten sie sich an den bedauernswerten Mann heranpirschen, ohne das Lager ihrer Gegner durchqueren zu müssen. Fragte sich nur noch, ob das Opfer überhaupt körperlich zu einer Kletterpartie in der Lage war. Doch für diesen Fall hatte sich Ed Carberry ein langes Tau um den Leib geschlungen, an dem er und Ferris Tucker den Mann notfalls hochhieven konnten. Im Flüsterton erteilte Hasard seine Befehle. Blacky und Bob Grey bezogen Posten auf der Felsplatte, ausgerüstet mit zwei Flaschenbomben, einer Muskete und den Spezial-Wurfmessern, mit denen Bob so zielsicher umgehen konnte. Der Rest der Gruppe arbeitete sich etwas weiter nach Westen. Hasard, der die Spitze hatte, entdeckte schließlich eine Art Pfad, der stufenförmig abfiel und von vorspringenden Felsennadeln gegen die Sicht geschützt wurde. Links davon gingen Luke Morgan und Stenmark mit Musketen und ausreichend Munition in Deckung. Rechts, wo die Felsen einen Überhang bildeten, deponierten Ed Carberry und Ferris Tucker ein paar Flaschenbomben und begannen bereits damit, das Tau in Buchten aufzuschießen und um einen Felsen zu belegen, um es notfalls blitzschnell fieren zu können. Philip Hasard Killigrew, Dan O'Flynn, Matt Davies und Batuti begaben sich an den Abstieg. Diesmal übernahm der schwarze Herkules die Führung, denn er, der Mann aus der Wildnis, hatte immer noch einen sicheren, unverbildeten Instinkt für die Beschaffenheit des Geländes. Er kletterte barfuß und
nutzte sein „Zehenspitzen-Gefühl", um bei jedem Schritt sorgfältig die Festigkeit des Untergrundes zu prüfen. Kein Zweig knackte, kein Stein löste sich und rollte abwärts. Nur manchmal entstand ein leises Knirschen und Rascheln, doch das wurde von den normalen Geräuschen der Nacht übertönt. Es dauerte nur Minuten, bis Batuti die Felsen der Landzunge erreichte. Hier verharrte er und wartete geduckt, bis auch die anderen den Fuß der Klippen erreicht hatten. Noch ein paar Schritte arbeiteten sie sich weiter und duckten sich in den Schatten des scharfen Grates. Dann gab der Seewolf Dan O'Flynn und Matt Davies das Zeichen, hier zurückzubleiben. Hasard und Batuti turnten lautlos über den Grat. Sie konnten die flackernden Feuer sehen, ab und zu auch ein paar von Abu Bashris Männern, die sich offensichtlich langweilten, doch immer wieder schoben sich Felsblöcke dazwischen, deren tiefe Schlagschatten die beiden dunklen Gestalten schützten. Der Seewolf zog das Entermesser aus dem Gürtel. Vier, fünf Schritte vor sich sah er jetzt deutlich den gefesselten Mann an dem Felsblock. Erland Surrajs Kopf war auf die Brust gesunken. Im ersten Moment glaubte Hasard, das Opfer schlafe oder sei bewußtlos. Aber dann erkannte er, wie sich fast unmerklich die Muskeln des gefesselten Mannes strafften - Zeichen dafür, daß Erland Surraj nicht nur wach war, sondern auch über bemerkenswert feine Sinne verfügte. Hasard lächelte leicht. „Ganz ruhig bleiben", flüsterte er auf Spanisch.
58 Surrajs Kopf ruckte um eine Winzigkeit hoch. Er hielt den Atem an, aber er verlor keine Sekunde die Kontrolle über seine Nerven. „Wer seid ihr?" hauchte er fast unhörbar. „Engländer. Freunde", gab Hasard ebenso leise zurück, während er sich hinter den Felsblock schlängelte, an den Erland Surrajs nackter, blutüberströmter Oberkörper gefesselt war. Mit ein paar blitzschnellen Schnitten durchtrennte er die Fesseln und schob das Entermesser zurück in den Gürtel. „Können Sie gehen?" flüsterte er. „Ja", tönte es zurück. Zähneknirschend. „Klettern?" „Es gibt einen leichten Aufstieg. Ich kenne hier jeden Stein, jeden Grashalm." „Sehr schön." Hasard lächelte matt, warf einen prüfenden Blick zu den Feuern hinüber und huschte zur Vorderseite des Felsblocks, um auch die Stricke zu zersäbeln, die Erland Surrajs Hände und Füße zusammenschnürten. Im ungewissen Mondlicht wirkte das Gesicht des Eurasiers hart und kantig wie aus dunklem Holz geschnitzt. Aufmerksam sah er Hasard an. Nur für eine kurze Sekunde kreuzten sich ihre Blicke, verhakten sich ineinander - und diese Sekunde genügte, um jeden der beiden Männer in den Augen des anderen etwas von seinem eigenen Wesen wiedererkennen zu lassen. Schweigend griff Hasard nach Surrajs Arm, half ihm hoch und stützte ihn, bis sie im tiefen Schlagschatten der Felsen verschwunden waren. Wie ein Geist tauchte Batuti vor
ihnen auf, grinste triumphierend und zeigte seine prächtigen weißen Zähne. Nur ganz kurz stutzte Erland Surraj beim Anblick des schwarzen Herkules, dann lächelte auch er, etwas verzerrt, und sah von einem zum anderen. „Danke!" murmelte er. „Bedanken Sie sich erst, wenn wir auf dem Plateau sind", sagte Hasard trocken. Und in scharfem Flüsterton: „Matt? Dan?" „Aye, aye", tönte es aus dem Dunkel. Sie schlichen weiter. Nicht zu dem Durchstieg, den die Seewölfe benutzt hatten, sondern zu einer anderen Stelle, die auf den ersten Blick viel steiler und schwieriger aussah. Aber das erwies sich als Trugschluß. Eine Art Klamm schnitt tief in den Felsen ein. Es gab natürliche Steinstufen, die das Klettern erleichterten, und wo die nicht ausreichten, hatten Erland Surraj und seine Freunde eiserne Krampen in das Gestein geschlagen, um schnell und gefahrlos die Hochfläche erreichen zu können. Der Eurasier bestand darauf, die Spitze zu übernehmen. Er war ein harter Mann, dieser Erland Surraj, das begriffen die Seewölfe schon in den ersten Minuten. Mühelos klomm er aufwärts, so schnell und geschmeidig, als sei er im Vollbesitz seiner Kräfte. Nur sein Atem hatte sich etwas beschleunigt, als er sich schließlich über die Kante des Plateaus schwang. Hasard folgte ihm dichtauf, und hinter ihm erschienen auch Dan O'Flynn und Matt Davies. Unten am Strand rührte sich nichts. Genausowenig wie auf den schwimmenden Palästen, in denen der fette Abu Bashri, der habichtna-
59 sige Bej Kinoshan und die höheren Chargen jetzt vermutlich den Schlaf der Ungerechten schliefen. Luke Morgan, Bob Grey, Blacky und Stenmark richteten sich in ihren Deckungen auf. Oberhalb des Überhangs sammelte Ferris Tucker die Flaschenbomben ein, und Ed Carberry begann schon wieder, sich das Tau um den Leib zu schlingen. Das alles geschah schnell, lautlos und präzise, und Erland Surrajs Augen weiteten sich vor Überraschung. „Was ..." begann er flüsternd. „Später!" raunte der Seewolf. „Sehen wir erst einmal zu, daß wir etwas Abstand gewinnen." Der Eurasier nickte nur. Genauso leise wie vorher schlich die Gruppe der Männer über das felsige Plateau zurück. Erland Surraj hielt sich immer noch erstaunlich sicher auf den Beinen. Erst als die Seewölfe nach einer Weile hielten, schwankte er ein wenig, das Gesicht blaß und schweißbedeckt, und mußte sich an einem Felsen festhalten. „Ich begreife das alles nicht", sagte er heiser. „Wer sind Sie? Warum haben Sie mir geholfen? Woher konnten Sie wissen ..." „Sie sind Erland Surraj, nicht wahr?" unterbrach ihn der Seewolf ruhig. „Ja. Aber ..." „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew. Die restlichen Männer werden Sie später kennenlernen. Unser Schiff, die ,Isabella', wartet in der Nähe. Vielleicht beantwortet es auch Ihre anderen Fragen, wenn ich Ihnen sage, daß Yabu und Yessa an Bord sind." Der Eurasier hielt den Atem an. „Yabu und Yessa?" fragte er tonlos. „Sie sind bei Ihnen? Sie sind in Sicherheit?"
„Sie sind in Sicherheit, und es geht ihnen gut", bestätigte der Seewolf. „Wir haben sie aufgefischt, als sie mit ihrem Boot im Sturm trieben. Eigentlich wollten wir die beiden zu Ihnen zurückbringen. Bei der Gelegenheit entdeckten wir dann, was sich in der Bucht abspielte." Für Sekunden vermochte Erland Surraj kein Wort herauszubringen. In seinem harten, sonnengebräunten Gesicht zuckte es. „Yabu", murmelte er. „Yessa ..." Die Erleichterung schien ihn fast schwindlig zu machen. Und dann, als er sich mit einem tiefen Atemzug wieder gefaßt hatte, ergriff er mit festem Händedruck die Rechte des Seewolfs. „Danke", sagte er rauh. „Danke, Mister Killigrew. Das werde ich Ihnen nie vergessen. Und ich hoffe, daß es mir eines Tages vergönnt sein wird, mich besser als nur mit Worten zu bedanken." * An den Feuern am Strand kreisten Krüge mit schwerem Reiswein. Niemand erhob Einspruch dagegen. Selbst ein Sklavenhalter wie Abu Bashri sah ein, daß es Augenblicke gab, in denen er die Zügel ein wenig schleifen lassen mußte, wenn er keine allgemeine Meuterei riskieren wollte. Die Männer unterhielten sich leise, genossen die Ruhepause, und es dauerte nicht lange, bis mindestens die Hälfte von ihnen im weichen Sand eingeschlafen war. Der Steuermann des Viermasters, der als wachhabender Offizier die Verantwortung trug, hatte alle Mühe, gegen den Schlaf anzukämpfen. Als ihm zum zweitenmal der Kopf auf die Brust sank, raffte er sich auf und sprang auf die Füße. Er wußte,
60 wenn man ihn schlafend auf Wache antraf, würde ihn nichts und niemand davor retten, ausgepeitscht und anschließend an die Rahnock geknüpft zu werden. Der Steuermann, ein breitschultriger, untersetzter Inder, rieb sich fluchend den Nacken, warf einen Blick in die Runde und schlenderte dann aus reiner Langeweile auf die Landzunge zu, um nach dem Gefangenen zu sehen. Wenn man vom Singen des Windes und dem Plätschern der Wellen absah, war es gespenstisch still. Zwischen den Felsen lagerten tiefe Schatten. Der Steuermann kniff die Augen zusammen. Er hätte geschworen, daß Erland Surraj vorhin an einen der schmalen, hochragenden Felsblöcke gefesselt worden war, die er vor sich sah, doch er konnte den Gefangenen nirgends entdecken. Leise Unruhe beschlich den Steuermann. Er suchte gründlicher, und zwei Minuten später fand er im Sand hinter einem der Felsblöcke die Reste der zerschnittenen Stricke. Erland Surraj war entwischt. Oder besser befreit worden, denn daß er die Stricke nicht aus eigener Kraft hatte sprengen können, stand außer Zweifel. Erschrocken hielt der Steuermann den Atem an. Sekundenlang blieb er reglos stehen und starrte auf die Blutspuren an dem Felsen, die ebenfalls eine deutliche Sprache redeten. Dann holte er tief Luft und warf sich auf dem Absatz herum. Einen Herzschlag später stolperte er wieder zurück auf den Strand, und sein Alarmgeschrei gellte über das dunkle Wasser. *
„Hoool weg! Hoool weg!" Ferris Tucker dämpfte seine Stimme, obwohl sie sich nicht mehr in Hörweite der Bucht befanden. Die Riemen klatschten ins Wasser und trieben das Boot schnell und pfeilgerade durch die anrollende Dünung. Erland Surraj kauerte neben dem Seewolf auf der achteren Ducht. Der Marsch quer über Land hatte den Eurasier mehr angestrengt, als er wahrhaben wollte. Sein Gesicht wirkte fahl, seine Haltung verkrampft. Sobald sie an Bord waren, würde sich der Kutscher seiner annehmen. Der Koch und Feldscher der „Isabella" hatte die Geheimnisse der Wundbehandlung nicht nur seinem früheren Arbeitgeber in Plymouth abgeschaut, sondern kannte auch so manche Tricks und Mittelchen, die er während der Weltumseglung und den späteren Reisen bei Eingeborenen aus allen Teilen der Erde gesammelt hatte und deren Wirksamkeit Doc Freemont sicher sehr erstaunt hätte. Erland Surrajs Blick hing unverwandt an der ranken Galeone mit den flachen Aufbauten und den überlangen Masten. Der Eurasier war ein Seemann von echtem Schrot und Korn. Er hatte nicht zweimal hinzuschauen brauchen, um die besondere Klasse dieses Schiffs zu erkennen. Ab und zu irrten seine Augen zu den Männern im Boot. Inzwischen kannte er ihre Namen. Und daß das Männer aus Granit und Eisen waren, geborene Kämpfer, ausgekochte, salzgewässerte Seefahrer, die dem Teufel schon mehr als ein Ohr abgesegelt hatten - auch dafür hatte Erland Surraj einen untrüglichen Blick. Kerle von solchem Kaliber, die
61 kniffen vor einem Abu Bashri nicht den Schwanz ein. Die konnte auch eine Tiger-Flotte nicht schrecken. Und solche lächerlichen schwimmenden Paläste schon gar nicht. Die scheuten sich nicht, dem Satan mitten ins Maul zu greifen, vor denen nahm sogar der Sensenmann Reißaus. Und falls die Hölle sie doch einmal verschlucken sollte, würden sie bestimmt sofort wieder ausgespuckt werden, weil sie viel zu unverdauliche Brocken waren. Ein paar Minuten später ging das Beiboot an der Bordwand der „Isabella" längsseits. Hasard enterte als erster auf. Erland Surraj folgte ihm. Schon an der Küste hatte ihm Ferris Tucker stillschweigend sein Hemd überlassen. Das war gut so, wenn auch sicher ziemlich schmerzhaft, denn Yabu und Yessa warteten auf der Kuhl, und sie wären bestimmt tödlich erschrocken, wenn sie gesehen hätten, wie Abu Bashri seinen Gefangenen zugerichtet hatte. Der Seewolf trat einen Schritt zur Seite und beobachtete aus schmalen Augen, wie sich Erland Surraj über das Schanzkleid schwang. Hasard war ohnehin sicher, daß an der Entführungsgeschichte des fetten Moguls kein Jota stimmte. Surrajs Reaktion auf die Nachricht, daß die beiden Kinder gerettet seien, hatte es ihm deutlich bewiesen. Das, was sich in den nächsten Minuten abspielte, beseitigte die letzten Zweifel. Eine Sekunde standen die beiden kleinen Gestalten reglos da, fest aneinandergeklammert, und starrten den großen Mann an, als wagten sie nicht, ihren Augen zu trauen. Yessa war die erste, deren Augen hell aufleuchteten. Jubelnd stieß sie ein Wort hervor, das in ihrer Hei-
matsprache vermutlich „Vater" bedeutete, riß sich von ihrem Bruder los und stürzte auf den Eurasier zu. „Vater!" schrie auch Yabu. Tränen erstickten seine Stimme. Sekunden später flogen beide Kinder Erland Surraj in die Arme, Der große Mann drückte sie fest an sich und versuchte, der Erschütterung Herr zu werden, die über sein Gesicht zuckte. „Yessa", flüsterte er rauh. „Yabu ..." „O Vater, Vater ..." Es waren Dutzende von Fragen, die die Kinder in der nächsten Minute hervorstießen. Sie lachten und weinten, redeten durcheinander, und das Gesicht des Eurasiers unter dem ergrauten Haar wirkte plötzlich so jung und vergnügt, als habe er Schmerzen und Erschöpfung abgeschüttelt wie einen alten Mantel. Die stürmische Begrüßung endete erst, als der Seewolf die beiden Kinder zusammen mit Smoky losschickte, um einen kräftigen Schluck Rum für ihren Vater herbeizuschaffen. Das ließen sich Yabu und Yessa nicht zweimal sagen. Erland Surraj verzog schmerzlich das Gesicht, als er sich wieder aufrichtete. Diesmalprotestierte er nicht, als Ferris Tukker ihn stützte und kurzerhand in Richtung Kombüse schob, damit der Kutscher seine Blessuren verarzten konnte. Yessa war enttäuscht, weil man ihnen den Zutritt zur Kombüse verwehrte. Yabu begriff den Grund und wurde etwas blaß um die Nase. Um die beiden abzulenken, begann Dan O'Flynn, ihnen zu erzählen, auf welche Weise sie den fetten Mogul aufs Kreuz gelegt hatten, und da er den Bericht mit allen möglichen span-
62 nenden Details ausschmückte, gelang es ihm schnell, die Kinder in Bann zu schlagen. Der Seewolf steuerte ebenfalls die Kombüse an. Obwohl er die Situation inzwischen überblickte, gab es noch eine Menge offener Fragen. Da sie damit rechnen mußten, der Tiger-Flotte nicht zum letztenmal begegnet zu sein, wollte er sich von Erland Surraj über die Einzelheiten unterrichten lassen, aber er kam nicht mehr dazu.
Aus der Richtung der Bucht im Osten peitschten plötzlich Schüsse. Musketenfeuer! Alarmsignale offenbar! Abu Bashri und seine Leute mußten das Verschwinden ihres Gefangenen entdeckt haben. Für den Seewolf gab es keinen Zweifel daran, daß die Tiger-Flotte innerhalb der nächsten Minuten ankerauf gehen würde, um der „Isabella" nachzujagen . . .
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 214
Der Verdammte der Meere von Kelly Kevin Mit einem infernalischen Donnern, das die Luft zittern ließ und in den Ohren dröhnte, entluden sich beide Breitseiten gleichzeitig. Die Kugeln des Tiger-Schiffs schlugen knapp neben der Bordwand der „Isabella" ins Wasser. Eine schien sogar noch etwas an der Außenbeplankung zu kratzen, bevor sie versank. Die feindliche Galeone dagegen erbebte wie von einer unsichtbaren Gigantenfaust getroffen. Holz barst und splitterte - und genau in der Wasserlinie des Tiger-Schiffs klafften acht sauber gestanzte L ö c h e r . . . Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler und in allen Bahnhofsbuchhandlungen.
Die seemännische Sprache von A-Z Segelkanu
ein Kanu mit Besegelung. Die Entstehungsgeschichte des Kanu-Segelns ist etwas verworren. Dabei ergaben sich zwei Fragen: Sollte ein segelbares Paddelkanu oder paddelbares Segelkanu entwickelt werden? Das eine Boot ist ein „Auch-Segler", das andere ein „Auch-Paddler". Das segelbare Paddelkanu verlangte in erster Linie gute Paddeleigenschaften, das paddelbare Segelkanu hingegen gute Segeleigenschaften. Waren in Deutschland zunächst die Grenzen dieser Entwicklung fließend, so steuerten die Amerikaner bereits kompromißlos das reinrassige Segelkanu an und schufen 1924 einen Typ das internationale Segelkanu -, der mit einem beidseitigen Gleitsitz zum Ausreiten versehen ist und eine Länge von 5,20 m und eine Breite von 0,95 bis 1,10 m aufweist. Die Segelfläche beträgt 10 m2. Bug und Heck laufen kanutypisch spitz zu. Die damaligen deutschen Segelkanu-Experten lehnten diesen Typ ab - er verlange mehr „Jongleurkunst" als „Segelkunst". Daß beides heute Voraussetzungen für das Segeln moderner Rennjollen ¡st, sei am Rande vermerkt. Das internationale Segelkanu wird heute bei Weltmeisterschaften gesegelt. Das EinheitssegelKanu des Deutschen Kanu Verbandes vom Typ Taifun mit einer Länge von 5,20 m, einer Breite von maximal 1,32 m und einer Segelfläche von 9,5 m2 für Fock und Großsegel zusammen ist das offizielle Boot für Europameisterschaften, die alle zwei Jahre ausgesegelt werden. Beide Typen werden mit Schwert gefahren und sind ausgesprochene Rennmaschinen, die einhand gesegelt werden.
Segellatten
auch Spreizlatten genannt, schmale, biegsame, aus Eschenholz oder Kunststoff hergestellte Latten, die in einer Lattentasche am Achterliek eines Segels eingeführt werden und dazu dienen, die Rundung des Achterlieks eines Großsegels auszuspreizen. Je stärker das Achterliek gewölbt ist, desto mehr Segellatten wird man benötigen, um Faltenbildung oder das lästige Umklappen zu verhindern. Allerdings ist bei Jollen- und Kielbootklassen die Menge der Latten, ihre Länge sowie Anordnung durch die jeweiligen
Segelmacher
Segelmacherhandschuh
Vermessungsvorschriften verbindlich geregelt. Bei manchen Segeln laufen die Latten vom Mast bis zum Achterliek durch und geben ihnen auf diese Weise das stützende Profil. Man spricht bei einem solchen Segel von einem Lattensegel. Es ist typisch für das Dschunkenrigg, findet sich heute allerdings auch bei fast allen Katamarantypen. allgemeine Berufsbezeichnung für den Hersteller von Segeln, wobei unter diesen Begriff zur Zeit der Segelschiffe auch jener Mann fiel, der für Zustand, Reparatur und Neuanfertigung von Segeln unmittelbar verantwortlich war. Bis zum Dampfschiffzeitalter waren die Segelmacher an Land und an Bord tätig. An Bord waren sie auch diejenigen, die das stehende und laufende Gut überprüften und in Ordnung hielten. Als die Segelschiffe alter Art von den Meeren verschwanden, wandelte sich der Beruf des Segelmachers zum Hersteller jener Segel, die heute auf Yachten und Jollen gefahren werden. Heute - und das kennzeichnet den Wandel dieser Berufsgruppe, seit Schiffe unter Segeln fuhren - ist der namhafte Segelmacher auch zugleich Schiffseigner und Skipper, der an nationalen und internationalen Regatten teilnimmt, um sein Produkt, das Segel, zu prüfen, zu verbessern - und zu verkaufen. Segel-Olympioniken stiegen auf den Beruf des Segelmachers um - so der mehrfache Goldmedaillengewinner im Finn-Dinghy, der Däne Paul Elvström, oder der mehrfache Weltmeister in der Starboot-Klasse, der Amerikaner Lowell Nortz. Ein Beruf, der zum Sterben verurteilt schien, als die Dampfschiffe die Segelschiffe verdrängten, lebte wieder auf, wenn auch unter anderen Bedingungen. ein sehr praktisches Arbeitszubehör des Segelmachers. Es ist eine Schutzvorrichtung für die Hand, von der die Segelnadel durch das sperrige, harte Segeltuch oder durch Lieken gedrückt wird, ersetzt also den Fingerhut des Schneiders. Der „Handschuh" besteht aus einem breiten, verstellbaren Lederriemen mit Öffnung für den Daumen. An der Innenseite, dort wo sich der Daumenballen befindet, hat er eine geriffelte, runde Metallplatte, die als Widerlager das Einschieben der Segelnadel durch das Segeltuch ermöglicht und erleichtert.