Werner Völker
Hermann der Cherusker Die Schlacht im Teutoburger Wald
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Das gesamt...
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Werner Völker
Hermann der Cherusker Die Schlacht im Teutoburger Wald
Roman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Das gesamte lieferbare Programm der Reihe Hanser und viele andere Informationen finden Sie unter www.reihehanser.de In neuer Rechtschreibung Dezember 2006
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 2006 Carl Hanser Verlag München Wien Umschlagillustration: Dieter Wiesmüller Karten: Achim Norweg Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany ISBN-13:978-3-423-62292-9 ISBN-10: 3-423-62292-X
Die Römer haben Arminius unterschätzt – und die Deutschen haben Hermann maßlos überschätzt: Luther hatte ihn »von hertzen lieb«, Klopstock, Kleist und Grabbe widmeten ihm Dramen, und Viktor von Scheffel dichtete die bekannten Verse: »Als die Römer frech geworden…«, und 1875 wurde das bekannte Denkmal im Teutoburger Wald eingeweiht. Die Rede ist von Arminius oder Hermann, dem Cherusker, der mit seinen Germanentruppen im Jahre 9 den Legionen des römischen Feldherrn Varus eine vernichtende Niederlage beibrachte. An seine Gestalt konnten sich alle halten: die Patrioten des Kaiserreichs, die Germanentümler ebenso wie die Nationalsozialisten, die ihn zum Typus des urgermanischen Kämpfers für Freiheit machten. Aber wer war Hermann, der Cherusker, oder Arminius wirklich? Werner Völker, geboren 1944 in Büren, studierte Anglistik, Geschichte und Philosophie in Göttingen; er ist Mitglied des P. E. N. und lebt als freier Schriftsteller im Barockstädtchen Amorbach im Odenwald. Unter anderem schrieb Werner Völker ein Sachbuch über die Schlacht im Teutoburger Wald »Als die Römer frech geworden« (Wagenbach, Berlin). Zuletzt veröffentlichte er eine Biographie des Goethe-Sohnes und »Bei Goethe zu Gast« (beide Insel Verlag) und das viel beachtete »Weihnachten bei Goethe« (DVA).
Er (Arminius) war zweifelsohne der Befreier Germaniens, und zwar ein Mann, der das römische Volk nicht, wie andere Könige und Heerführer es taten, in seinen ersten Anfängen, sondern auf der Höhe seiner Macht anzugreifen wagte. War er auch in der einzelnen Schlacht nicht immer erfolgreich, so hat er doch nie einen ganzen Krieg verloren. Er brachte es auf siebenunddreißig Jahre, davon stand er zwölf an der Spitze seines Volkes; noch heute lebt sein Andenken in den Liedern fort. Tacitus, Annalen, II, 88
Die Niederlage (des Varus) war indes ihrem eigenen Gewicht nach nicht mehr als ein empfindlicher Rückschlag in der römischen Germanenpolitik der letzten zwei Jahrzehnte. Die römischen Befürchtungen, ein allgemeiner Germanensturm würde daran anschließen, bewahrheiteten sich nicht. Marbod, der das Haupt des Varus von Arminius zugeschickt bekam, verharrte in seiner Reserve. Von den Germanen selbst wurde die Tat des Arminius nicht als nationale Befreiungstat aufgefasst. Ein echtes politisches Gemeinbewusstsein war bei ihnen nicht vorhanden. Sie haben auch die Erinnerung an Arminius nicht bewahrt. Ohne die römischen Historiker wäre er in Vergessenheit geraten, und seine spätere Glorifizierung wäre unmöglich gewesen. Alfred Heuss, Römische Geschichte
Erstes Buch
DIE HERAUSFORDERUNG
Marcus Caelius, der Centurio, war mitten unter ihnen. In dem kilometerlangen Zug befehligte er seine Centurie, achtete darauf, dass alle Legionäre Schritt hielten, schnauzte Nachzügler an, teilte kleine Klapse mit dem Rebstöckchen aus, wenn es ihm allzu langsam ging, und war ansonsten bester Laune. Um sein Gepäck hatten sich seine beiden Burschen Thiaminus und Privatus gekümmert, es lag wohlverstaut auf dem Trosswagen seiner Einheit. Marcus Caelius marschierte unbeschwert neben seiner Truppe, die Legionäre jedoch waren unzufrieden. Dieser verdammte Aufstand der Marser! Was sollte das Theater? Sie wollten schließlich ins Winterlager; nichts hassten sie mehr, als das regnerische und trübe Herbstwetter in Germanien. Dunkel und unheimlich waren die Wälder. Manchmal knackte es im Dickicht, ein Raubvogel flog auf, oder ein Wisent ergriff die Flucht. Sonst war nichts zu hören. Der endlose Zug bewegte sich wohlgeordnet. Doch plötzlich! Geschrei und Gebrüll. Die Legionäre erwachen aus ihrem dumpfen Marschtrott. Bei Jupiter und allen Göttern, die Germanen kommen! Angst und Schrecken, lähmendes Entsetzen überfallen die Truppe des Marcus Caelius, als die riesigen germanischen Krieger, wild und schrecklich anzusehen, direkt auf sie zu stürmen. Von den Hängen, aus den Wäldern, von überall her kommen sie heran. Ihr Kriegsgeschrei gellt den völlig verschreckten Legionären in den Ohren. Das Grölen schwillt an. Die riesigen wilden Krieger mit roten Haaren, halbnackt, nur mit Tierfellen umhängt, stürzen auf die Römer zu, schleudern ihre langen Speere und ziehen die Langschwerter.
Ein blutiges Gemetzel beginnt. Auf römischer Seite gibt es kaum Gegenwehr, zu plötzlich, zu unerwartet sind die Germanen über sie hereingefallen. Wo ist der Feldherr…? Wo ist Varus… das kann doch nicht… Ein Irrtum… Arminius ist doch unser Freund… Er war doch gestern noch mit Varus… Bei den unsterblichen Göttern, seid ihr denn alle verrückt geworden? Schreie, Fluchen, Röcheln, Stöhnen, auch Weinen und Wehklagen der Legionäre. Immer wieder das Surren der tödlichen Speere in der Luft. Stärkeres, durchdringendes Gebrüll der Germanen, die jetzt in unendlicher Zahl von den Steilhängen herabstürmen. Sie werfen sich wie besessen auf die Römer, die vor Entsetzen immer noch starr sind. Dumpf stoßen Schwerter und Framen in ihre Leiber – ein unermessliches Hauen, Wühlen, Stechen, Fluchen und Stöhnen. Die Legionäre sterben, den grauenhaften Schock noch auf den Gesichtern. In der langen Talschlucht haben sie kaum eine Chance, sich zu formieren. Völliges Chaos, totale Verwirrung. Einige Römer haben sich mit den Schilden über dem Kopf eingeigelt und hoffen, so der Katastrophe zu entgehen, doch die Framen der Germanen prasseln nur so auf sie nieder. Unzählige Soldaten sterben beim ersten Ansturm. Trossknechte, Frauen und Kinder des Heerzuges werden ohne Gnade abgeschlachtet. Die Welle der riesigen Feinde, die so furchterregend aussehen, dringt mit ungestümer, todbringender Kraft, sich ständig erneuernd vor. Immer noch kaum Gegenwehr! Wo ist der Feldherr? Wie konnte er den
Germanen nur so blind vertrauen? Was ist plötzlich los mit den germanischen Stämmen? Freunde des römischen Volkes! Die Cherusker – Arminius – die Römer verstehen die Welt nicht mehr. Sie sterben zu Tausenden; erstochen, erschlagen, enthauptet, von Framen durchbohrt. Viele von ihnen, auch Marcus Caelius, fallen mit einem Fluch auf Arminius, den Verräter, auf den Lippen. Andere verdammen Varus, den leichtfertigen Feldherrn, bevor sie zugrunde gehen. Doch langsam, langsam, alles der Reihe nach…
I.
Augustus kratzte sich. Der Herrscher über das römische Weltreich saß mit gerötetem Gesicht in der Badewanne, befühlte seinen Rücken und schrie: »Pass doch auf, du schwarzes Ungeheuer!« Eine nubische Sklavin, nackt bis zur Hüfte, deren dunkle Haut vor Schweiß glänzte, war damit beschäftigt, den mächtigsten Mann der damals bekannten Welt mit dem Badestriegel abzubürsten. Am Handgelenk der Nuba baumelten an einem Ring drei Ölschaber, deren Einsatz Augustus nach vorherigem Einreiben mit Öl besonders schätzte. In einem offenen Regal standen kunstvoll geformte Fläschchen, die Salben und Duftstoffe enthielten. Es gab Schminkkästchen mit ausziehbarem Boden zum Mischen der verschiedenen Farben, die Augustus benutzte, um seinen oft recht blassen Teint etwas aufzufrischen. Die Nuba hatte den Kaiser inzwischen von oben bis unten mit Öl eingerieben, nahm einen Ölschaber und zog es sorgsam wieder ab. »Ja, das tut gut«, murmelte der Kaiser zufrieden. Nach dieser Prozedur trat die Nuba zur Wandnische. Dort lagen Ampullen und Balsamerien für Öl und Salbe, verschiedene Pinzetten, andere Kleingeräte und mehrere Elfenbeindöschen. Neben der Nische war ein metallener Spiegel angebracht. Die Sklavin reichte ihrem Herrn einen Spiegel mit Elfenbeingriff. Augustus betrachtete sich kritisch, während er massiert wurde. Er genoss die Massage, obwohl sein immer noch jugendlich wirkendes Gesicht sich zeitweise vor Schmerz verzerrte, so dass die kleinen, schadhaften Zähne sichtbar
wurden, die weit auseinanderstanden. Zu dieser Zeit, im Jahre 7 nach Christus, war Augustus immerhin schon siebzig Jahre alt, aber man sah ihm das Alter nicht an. Sein Gesicht hielten viele für schön und anmutig, aber die Haut war weniger schön. Muttermale bedeckten sie überall, deren Form und Anordnung irgendjemand einmal mit dem Sternenbild des Großen Bären verglichen hatte. Auf Bauch, Brust und Rücken musste die Nuba auf viele zusammengewachsene Schwielen achten, die durch den dauernden Gebrauch des Badestriegels entstanden waren. Ständig klagte der Herrscher über Hautjucken. »Gut, gut, genug jetzt«, brummte er zufrieden und hob dabei den Arm. Sofort beendete die Sklavin ihre Arbeit und trat zur Seite. Augustus erhob sich, tätschelte ihre Brüste und setzte vorsichtig den Fuß auf den bloßen Boden. Der Baderaum war mit prächtigem Marmor ausgelegt. Den Boden schmückten etruskische Jagd- und Liebesszenen, die wie in einer Erzählfolge angeordnet waren. Die Stirnwand wurde beherrscht von einem Bild Caesars, seines Onkels und Adoptivvaters, als Triumphator, mit tief in die kahle Stirn gezogenem Lorbeerkranz. Augustus wirkte nachdenklich. Während er zum letzten Mal abgetrocknet wurde, betastete er die Nierengegend. Die wenigen Schritte, die er vor dem Spiegel machte, verrieten ein leichtes Hinken auf der linken Seite. Er war von jeher ein kranker Mann gewesen, das war bekannt, war auf Sandbäder und Schilfpackungen angewiesen, litt unter Blasen- und Nierenschmerzen, bevorzugte Wollleibchen, um sich nicht zu erkälten, und zog im Winter gelegentlich vier Tuniken übereinander und darüber noch eine dicke Toga an. Schenkel und Waden umwickelte er mit Binden. Sonne konnte er nicht vertragen und trug deshalb selbst bei Spaziergängen im Peristyl∗ seines Hauses einen breitkrempigen Hut. ∗
Wandelgang im Innenhof
Dieser mächtige Mann, der so viel Zeit auf seine Körperpflege verwendete, war noch dazu so abergläubisch, dass er bei Gewitter ein Seehundsfell bei sich trug, weil er glaubte, dass in eine Robbe niemals der Blitz einschlage. Die Nuba hatte ihn inzwischen fertig angekleidet. Augustus war schmächtig und nur mittelgroß. Die hellen und wachen Augen schauten in den Spiegel, während er selbst seine dunkelblonden Haare kämmte. Die Sklavin richtete den Faltenwurf seiner Toga dabei, und Augustus verließ nach einem letzten Blick in den Spiegel das Bad.
So oder ähnlich stelle ich mir das vor. Sueton teilt neckische Einzelheiten mit, eine richtige Plaudertasche, dieser römische Schriftsteller. Keiner überliefert so viele intime Details wie er. Aber weiter, ich sehe zwei Palastsoldaten, die über ihren Kaiser klatschen und tratschen.
II.
Zwei Prätorianer, Marcus und Sixtus, die vor dem Bad auf Posten standen und mit Thallus, dem persönlichen Diener des Kaisers, geplaudert hatten, nahmen Haltung an, als Augustus vorbeirauschte. Thallus unterdrückte ein Grinsen, zog die Lippen über die vorstehenden Zähne und folgte sofort seinem Herrn, der es plötzlich eilig zu haben schien. Die Gardesoldaten blickten den beiden nach, Marcus stieß Sixtus an und sagte: »Siehst du, er hinkt!« »Wo denn?« »Na, guck doch hin, der zieht das rechte Bein nach! Überhaupt hat mir die Nuba da Sachen erzählt! Qualis rex, talis grex! – Wie der Herr, so’s Gescherr!« Er blickte Sixtus an und machte bedeutungsvolle Handbewegungen. »Also von wegen Schönheit! Sicher ist unser Kaiser ein schöner, jugendlicher Mann – jedenfalls sein Standbild. Avus Augustus – unser Opa Augustus!« »Du spinnst«, sagte Sixtus gelangweilt. »Na hör zu, wenn du schon länger bei uns wärst, wüsstest du, was alle wissen. Der Kaiser oder besser Princeps, der Erste, wie er sich ja offiziell nennt, ist verdammt hinter den Weibern her! Erst neulich hat er sich bei einem Staatsessen die Frau eines Senators geschnappt und ist mit ihr im Nebenzimmer verschwunden! Und das in einem Alter, in dem andere ihre Enkelkinder sanft auf dem Schoße schaukeln! O tempora, o mores – o Zeiten, o Sitten! Nach ‘ner ganzen Weile sind sie dann wieder zurückgekommen, und Augustus hat mit größtem Appetit weitergegessen, während die Frau des Senators mit verrutschter Frisur und geröteten Ohrläppchen sichtlich
verwirrt und verschämt vor sich hin blickte. Ihr Mann hat von alledem natürlich nichts gemerkt!« »Natürlich nicht«, erwiderte Sixtus mit interessiertem Spott in der Stimme. »Ja, aber soll ich dir auch erzählen, warum?«, fragte Marcus. »Kann ich mir schon denken, ich…« Sie wurden unterbrochen, ein Senator ging vorbei, jedoch ohne die beiden zu beachten, Prätorianer gehörten zum Inventar, standen herum, Wache und Dekoration zugleich. Kaum war der Senator vorbei, fing Marcus wieder an: »Weißt du auch, dass sie sich in meiner Familie erzählen, Caesar sei der Liebhaber des Augustus gewesen?« Marcus kam nahe an Sixtus heran, kleine Lachfältchen erschienen an seinen Augen, hinter der vorgehaltenen Hand sagte er: »Er soll sich zum Treffen mit seinem Liebhaber das Haar an den Schenkeln mit glühenden Nussschalen abgesengt haben, damit es weicher nachwächst!« Sixtus machte ein ungläubiges Gesicht, davon hatte er in dem Provinznest, aus dem er stammte, noch nie etwas gehört. Wieder hörte er Marcus’ tuschelnde Stimme: »Aus dem ganzen Reich werden diesem Lüstling jungfräuliche Mädchen zugeführt, der ist nicht etwa nur schwul, von wegen, sogar seine Frau vermittelt ihm Jungfrauen!« »Die Livia?«, fragte Sixtus entrüstet. »Ja, die Livia, seine eigene Frau«, äffte Marcus ihn nach. »Übrigens ist er nebenbei ganz schön feige, weißt du, was mir mein Onkel erzählt hat? Bei der Schlacht von Philippi hat er sich in ein Sumpfgelände verkrochen und ist…« Doch das war zu viel für Sixtus, er winkte ab: »Ach, Marcus«, sagte er, »du erzählst wieder Geschichten, bei dir sind immer gleich alle Hurenböcke, Trunkenbolde oder Feiglinge, du schneidest ganz schön auf – bei Jupiter, endlich kommt die Ablösung!«
III.
Thallus hatte inzwischen die Finger- und Zehennägel seines Herrn geschnitten und bemühte sich jetzt, die Haare des Kaisers in die endgültige Form zu bringen. In Staatsform sozusagen. Augustus war mit seinem Zeigefinger beschäftigt. Mit der linken Hand betastete er immer wieder den rechten Zeigefinger, zog, massierte, bog – irgendetwas schien ihm nicht zu gefallen. »Thallus, wo ist meine Hornhülle?«, fragte er plötzlich, und sein Gesicht hellte sich auf. Thallus brachte ohne ein Wort die verlangte Hülle, die der Kaiser mit sichtlicher Befriedigung über den Zeigefinger stülpte. Dann erhob er sich und betrachtete sein Gewand, Tunika und Toga saßen in perfektem Faltenwurf. Er wirkte zufrieden und ging gemessenen Schrittes zum Empfangsraum. Dort nahm er hinter einem Tisch, der mit Karten bedeckt war, Platz und winkte dem Posten. Der Soldat öffnete die Tür des Raumes und meldete mit lauter Stimme: »Publius Quinctilius Varus!«
Lassen wir Varus einen Augenblick warten! Mein Gott, was mich diese Person beschäftigt hat, von Arminius ganz zu schweigen. Ich denke an meine Fahrten nach Göttingen in die Universitätsbibliothek. Quellen und Sekundärliteratur, uralte Ausgaben, Sondergenehmigungen. Varus der Sündenbock, der harte Richter, Bruder Leichtfuß, Tölpel. Andererseits ausgezeichneter Offizier, Konsul, Statthalter. Auch die römischen Schriftsteller geben
Meinungen von sich, sind subjektiv eingestellt. Ich mache mir mein Bild de viro Varo – über den Mann Varus. Ein Passbild von ihm hatte ich leider nicht zur Verfügung, dafür aber eine Münze der afrikanischen Stadt Achulla mit seinem Porträt. Ich versuche, Ordnung zu bringen in einen Wirrwarr, der vor fast 2000 Jahren Schlagzeilen machte.
Varus machte einen dynamischen Eindruck, als er in den Raum eilte. Er war ein großer, starker Mann von etwa fünfzig Jahren mit markanten Gesichtszügen, großer, vorspringender Nase und vollen Lippen. Dieser Mann, der jetzt von Augustus empfangen wurde, hatte die höchsten Ämter bekleidet und mit Geschick und Umsicht stets die Interessen Roms vertreten. Er war Konsul gewesen, Statthalter in Afrika und danach Prokonsul in Syrien. Durch seine Frau Claudia war er entfernt mit Augustus verwandt und hatte zu diesem persönlich immer ein gutes Verhältnis gehabt. Varus war viel zu schlau, um sich auf dieses Verwandtschaftsverhältnis etwas einzubilden. Im Gegenteil, er wusste, dass so etwas auch nachteilige Folgen haben konnte – in Rom zählte nur die Leistung. Diese Leistung hatte er in allen seinen Ämtern unter Beweis gestellt. Er war römischer Offizier und Beamter mit untadeliger Vergangenheit. Varus erschien als Feldherr bei seinem Kaiser, mit einem Federbuschhelm und in einem Muskelpanzer, der die Konturen seines Körpers in etwas idealisierter Form wiedergab. Er nahm den Helm ab und hob die rechte Hand zum Gruß: »Salve Augustus – sei gegrüßt!« Der Kaiser erwiderte den Gruß und winkte Varus zu sich heran. Durch die Tür kamen darauf der Legat Lucius Eggius und der Präfekt Ceionius, zögernd und in gebührendem
Abstand, doch Augustus wies sie zurück, und der Prätorianer geleitete sie wieder hinaus. Varus nahm auf ein Handzeichen des Princeps in einem Sessel Platz und betrachtete die Pergamentkarten, die vor dem Kaiser auf dem Tisch lagen. Augustus schaute prüfend auf den Generalplan des Römischen Reiches, der die gesamten Gebiete rund um das Mittelmeer zeigte. Mit einer Art Besitzerstolz strich er über die Karte und blickte Varus an. Es war schwer für Varus, diesen Blick zu deuten, denn bei Augustus wusste er nie, was dieser dachte. Deshalb lächelte er seinen Princeps freundlich an, ohne den Mund aufzumachen. Ein bisschen kam ihm Augustus wie ein Familienvater vor, der voller Stolz seine Kinderschar vorführt und Anerkennung erwartet. Augustus griff nach kleineren Karten mit den Aufschriften Gallia, Hispania, Pannonia und Dalmatia, doch alle legte er wieder beiseite. Die, die er offenbar suchte, zog er bald darauf unter weiteren Blättern hervor – das Pergament trug die Aufschrift Germania Magna, sonst sah Varus, der die für ihn auf dem Kopf stehende Schrift entziffert hatte, so gut wie nichts. Während die anderen Kartenausschnitte voll von lateinischen Bezeichnungen waren, sah er hier nur das Pergament mit ein paar eingezeichneten Flüssen und Gebirgszügen, ansonsten tabula rasa!, alles frei, nichts! »Wie geht’s der Claudia, der schönen?«, fragte der Kaiser ganz nebenbei. »Danke gut«, sagte Varus irritiert. »Ist sie immer noch so sehr mit ihrem Gesichtchen beschäftigt, das liebe Kind?« »Ja«, sagte Varus unsicher und blickte angestrengt auf die Karte. Augustus lächelte. »Ja, ja, wer schön sein will, muss leiden! Und wie geht’s dir? Was machen die Nerven?«
Varus fühlte Panik in sich aufsteigen. »Nerven? Wieso Nerven«, stammelte er. »War nur ‘ne Frage«, antwortete der Princeps ungerührt. »Du wirst starke Nerven brauchen. Ich nehme sonnengewärmtes Meerwasser und plansche in meiner Badewanne darin herum. Sollen die Leute ruhig spotten, es hilft! Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, du verstehst mich. Letztlich hängt alles von den Nerven ab.« Varus schwieg und machte ein ausdrucksloses Gesicht, der schwere Körper war ein wenig devot dem Imperator zugewandt. »Behandelst du sie gut?«, fragte Augustus, locker zurückgelehnt. »Die Claudia meine ich, nicht die Nerven.« Er lachte. »Eigentlich bist du zu schwer für sie. Ich staune immer wieder, dass schwere Männer so zierliche Frauen…« Er winkte Varus lächelnd an seine Seite. Deutlich erkannte dieser jetzt im Südwesten den Rhein, und der hornverstärkte Zeigefinger des Kaisers wies auf die Römerkastelle hin. Varus beschränkte sich darauf, bestätigend mit dem Kopf zu nicken. Dann wanderte der Finger weiter nach Nordosten und zog pedantisch genau die Flussläufe der Amisia∗ und Visurgia∗∗ nach, Flüsse und Namen, die für den Römer auf der Straße kein Begriff waren. Schließlich schob sich das kaiserliche Horn weiter nach Norden vor und zeigte die Halbinsel, die die Kimbern bewohnt hatten, und fuhr dann beschwörend langsam den Flusslauf der Albis∗∗∗ stromaufwärts in südöstlicher Richtung, bis es auf den Namen Danuvius∗∗∗∗ stieß. Der Herrscher des römischen ∗
Ems Weser ∗∗∗ Elbe ∗∗∗∗ Donau ∗∗
Weltreichs war jetzt völlig ernst, ganz Oberbefehlshaber und Staatsmann. Varus war schweigsam dem Zeigefinger des Kaisers gefolgt – Augustus starrte ihn jetzt fragend an, ohne ein Wort zu sagen. Publius Quinctilius Varus räusperte sich. Es war ein gewichtiges Räuspern. Er konnte nicht darauf hoffen, dass der Kaiser ihm wegen des entfernten Verwandtschaftsgrades (noch dazu angeheiratet) verzeihen würde, wenn er auf diese symbolische Demonstration mit Allgemeinplätzen antwortete. Aber Varus war kein Dummkopf, o nein! Was der Kaiser wollte, war klar. Das war auch spätestens seit den letzten zwanzig Jahren kein Geheimnis mehr gewesen. Doch diese Überlegungen schienen gerade in diesem Jahr konkretere Formen anzunehmen. Der Princeps muss mich zur Durchführung dieser Überlegungen ausersehen haben, dachte Varus nicht ohne Stolz. Doch er war viel zu sehr Offizier, als dass ihm nicht gleich auch Legionszahlen eingefallen wären, Kastelle am Rhein, die er schon mal besucht hatte, Nachschubprobleme und viele andere Dinge aus seiner Truppenerfahrung. Wenn Augustus ihn wirklich… langsam… Er würde Tribunen∗ ernennen müssen, und viele tausend Menschen würden von ihm abhängig sein. Vorsichtig begann er: »Lucius Eggius und Ceionius sind meine tüchtigsten Offiziere, wenn du erlaubst, möchte ich sie jetzt hinzuziehen.« Augustus gestattete es mit einer Geste – sofort reagierte der Prätorianer an der Tür, und kurz darauf betraten Lucius Eggius und Ceionius, die Stabsoffiziere, das Palastzimmer. Sie stellten sich rechts und links hinter den Sessel ihres Feldherrn und ∗
Tribun: aus den Reihen der Ritter ernannt, Amt ohne direkte Befehlsgewalt zur Verfügung des Feldherrn.
grüßten ihren obersten Dienstherrn. Varus blickte sich nur kurz um und begann mit seinem improvisierten Vortrag. Mehrmals unterbrach ihn Augustus, und die Männer studierten die Karte, wonach Lucius Eggius und Ceionius jedes Mal wieder auf ihre Plätze zurückkehrten. Varus war kein Anfänger, er dachte an alles, und es gelang ihm sogar, seinem Vortrag eine logische Gliederung zu geben. Er schilderte die Rhein-Donau-Grenze aus seiner Sicht, um zu zeigen, dass er sich auch schon mit diesem Thema befasst hatte, und machte seinen Herrscher dabei auf besonders wichtige strategische Punkte aufmerksam. Er beschrieb die Vorzüge, die eine Grenzverkürzung haben würde, und legte überzeugend dar, dass seiner Meinung nach zu viele Legionen an Rhein und Donau stünden und dass diese im Krisenfalle zu weit von Rom entfernt seien. Er vermied es, seine eigenen Erfolge bei ähnlichen Unternehmungen in Afrika und Syrien zu betonen, da sie dem Kaiser ohnehin bekannt waren und weil Augustus es liebte, wenn Soldaten ausschließlich zur Sache berichteten. Varus erklärte den Nutzen einer Provinz Germanien, redete von einer sicheren Nordostgrenze und kam auf den Unsicherheitsfaktor der Markomannen zu sprechen, bei denen man nie sicher wäre, auf wessen Seite sie stünden. Marbod!, sagte er und schaute hoch. Dann erwähnte er die befreundeten Germanenstämme, unter ihnen die Cherusker, mit denen er glaubte, rechnen zu dürfen, wie er sich vorsichtig ausdrückte. Publius Quinctilius Varus holte Luft. Augustus lächelte und unterbrach. Dieser schlaue Fuchs Varus, dachte er bei sich, sicher hatte er aus verschiedenen Quellen schon davon erfahren, dass er für die Statthalterstelle in Germanien ausersehen war und sich entsprechend darauf vorbereitet. Als der Kaiser sich nun erhob, nahmen die
Offiziere unwillkürlich Haltung an, würdevoll sprach der Herrscher der Welt im Pluralis majestatis: »Wir haben dich, Publius Quinctilius Varus, mit den ruhmreichen Legionen siebzehn, achtzehn und neunzehn dazu ausersehen, die Grenze unseres Reiches im Norden vom Rhein zur Elbe zu verschieben. Der Senat und das römische Volk übertragen dir hiermit eine ehrenvolle Aufgabe!« Der göttliche Sohn des Caesar fügte diesen so einfach klingenden Sätzen nichts mehr hinzu, und als er die Audienz für Varus und seine Offiziere beendete, war Publius Quinctilius Varus Oberbefehlshaber in Germanien mit insgesamt fünf ihm direkt unterstellten Legionen. Er erhielt eine vorbereitete Urkunde, die Thallus brachte, mit allen Vollmachten, die ein Statthalter, Oberbefehlshaber und Feldherr brauchte.
IV.
Ich rufe einen Zeugen der Geschichte auf, der sich zu meinem Vorteil schriftstellerisch betätigt hat, es ist Velleius Paterculus. In der alten Ausgabe von 1830, »Des Cajus Vellejus Paterculus zwei Bücher, Römischer Geschichten, soviel davon Übriggeblieben, übersetzt durch Friedrich Karl von Strombeck«, lese ich über den eigentlichen »Helden« dieses Buches: »Ein junger Mann, von edeler Herkunft, kraftvoller Faust, schnellem Verstande und einer unter Barbaren seltenen Geistesgegenwart, Namens Arminius, des Sigimerus, eines der Ersten jenen Volkes, Sohn, dem das Feuer des Geistes aus dem Antlitze und den Augen strahlte, und der in den frühern Feldzügen unser steter Begleiter… (war).« Velleius und Arminius haben also Feldzüge zusammen unternommen, warum sollte Velleius lügen? Obwohl, obwohl – Vorsicht! Aus dieser Quelle tropft die Tiberius-Verehrung literweise, aber davon später. Nun, dann komm, Arminius, dreh dich um! Wir kennen dich als »Hermann den Cherusker« auf diesem wahrhaft teutschen Sockel, in heldenhafter Siegerpose, komm runter, Arminius, steig vom Sockel, mach dich kleiner, lass uns sehen, wer du wirklich bist! Ist das überhaupt noch möglich, nach fast 2000 Jahren? Ich habe meine Zweifel. Immerhin tappen wir aber nicht völlig im Dunkeln. Bilder lassen sich entwerfen, Dialoge nachempfinden, so, wie es gewesen sein könnte.
Der römische Reiterpräfekt Velleius Paterculus erkannte den Mann an seinem blonden Haupthaar, der mit dem Rücken zu
ihm auf dem Exerzierplatz des pannonischen Lagers stand und germanische Hilfskrieger im Speerwerfen ausbildete. Velleius rief ihn an: »Arminius!« Der Mann antwortete, ohne sich umzudrehen: »Was ist, Velleius?« »Ich muss wegen gestern Abend noch mal mit dir sprechen! Komm am besten nachher in mein Zelt!« Arminius gab in aller Ruhe weitere Kommandos, ehe er die Aufsicht an seinen Stellvertreter Ansgar übergab und sich umdrehte.
Wie sah er aus? Ich komme an dieser verdammten Blond-blauäugigBeschreibung nicht vorbei. Wie viel Schwulst, wie viel Pathos sind auf diese Figur übertragen worden! Teutscher Übermuth. Symbolfigur. Nationales Denkmal, Identifikationsperson für Traumhelden – aber lassen wir das! Stellen wir uns vor, er war einfach nur groß und kräftig und unterschied sich durch blonde Haare von den Römern.
Arminius machte sich mit nachdenklichem Gesicht auf den Weg. Schon seit der Zeit, als sie mit den römischen Legionen unter dem Oberbefehl des Tiberius hier in Pannonien angekommen waren, bewegte ihn ein Problem. Der sonst so draufgängerische Arminius, Sohn des Cheruskerfürsten Segimer, grübelte. Sein Gefährte Velleius Paterculus, der römische Offizier, der Tagebuch führte über alles, was er auf den Kriegszügen erlebte, hatte ihn in Gesprächen immer wieder gedrängt, doch endlich die volle römische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Er, Arminius, solle doch endlich seinen Status als Anführer germanischer Hilfstruppen
in römischen Diensten aufgeben und aktiver römischer Offizier werden. Velleius hatte es in den häufigen Gesprächen über dieses Thema verstanden, Arminius dessen mögliche Zukunft in den rosigsten Farben auszumalen. Arminius habe sich, trotz seiner Jugend, schon in vielen Schlachten bewährt, aber den Oberbefehl oder wenigstens die Führung einer regulären Legion würde er ohne diesen Schritt auch in Zukunft nie übernehmen können, weil er eben Germane war, die höheren Posten würden immer aristokratischen Römern vorbehalten bleiben. Arminius hasste die jungen »adeligen« Stabsoffiziere, die keine Ahnung von der Führung einer Legion hatten und die ihre Militärzeit nur als lästige, notwendige Stufe ihrer Karriere ansahen. Diese jungen Offiziere waren etwa in seinem Alter, kamen fein ausstaffiert daher mit ihren schmalen Purpurstreifen an der Toga, gaben sich weltmännisch, fassten ein Schwert nur ungern an und führten ansonsten in der Etappe ein leichtes, lockeres Leben. Der ehrgeizige Arminius wusste, dass diese jungen Römer ihm in allem überlegen waren, mochte er selbst noch so tüchtig und tapfer sein. Er seufzte und ging weiter in Richtung via principalis des römischen Lagers zum Offizierszelt des Velleius Paterculus. Er war größer als die meisten Legionäre, die ihm begegneten, und fiel sofort auf durch die hellere Haut und das blonde Haar. Sonst unterschied ihn in Kleidung und Ausrüstung nichts von einem römischen Offizier. Er trug seine Tunika, seinen Muskelpanzer, Schwert und Dolch wie die anderen Offiziere auch. Arminius dachte über die freundlich herablassende Art des Tiberius nach, der seine Leistungen nach dem gestrigen Kampf besonders erwähnt hatte. Einerseits erwartete er dieses Lob, dann wieder ärgerte ihn der Ton, in dem es ausgesprochen worden war, auch wenn es aus dem Munde des
Adoptivsohns des Kaisers kam. Er kam sich wie ein kleiner Junge vor, der wegen einer Nebensächlichkeit, die er brav erledigt hatte, gelobt worden war. Arminius blickte auf und sah seinen alten Freund Chariomannus, den weißbärtigen Händler, der mit seinem Karren vorbeizog. Die beiden Männer begrüßten sich herzlich, doch Arminius hörte nur mit halbem Ohr auf die Neuigkeiten, die Chariomannus zu erzählen wusste. Bald darauf war er auf der via principalis beim Zelt des Velleius angekommen. Der erwartete ihn schon vor dem Eingang mit sorgenvoller Miene, die gar nicht so recht zu ihm passte. Plötzlich dachte Arminius, es müsse etwas passiert sein, konnte sich aber nicht recht vorstellen, was. Die Männer betraten das Zelt. Velleius, der seinem Freund höflich den Vortritt ließ, war groß und schlank, sonnengebräunt, und sein dunkles Haar begann, an den Seiten schon grau zu werden, obwohl er noch keine dreißig Jahre alt war. Die Freunde setzten sich auf die Zeltpolster, und Arminius stellte fest, dass der Reiterpräfekt tatsächlich sehr ernst war. Velleius blickte ihm gerade in die Augen: »Du weißt, dass ich ursprünglich mit dir wieder über unser altes Thema sprechen wollte, aber es ist inzwischen eine Nachricht eingetroffen, vor der alles andere verblasst.« Er machte eine rhetorische Pause und dachte an den Offizier, der zu ihm gekommen war, um die Botschaft zu überbringen. »Estne Arminius quidam in auxiliis nostris…?«, hatte er gefragt, »ist nicht ein gewisser Arminius in unseren Hilfstruppen?« Velleius dachte flüchtig an die arrogante Fragehaltung »Arminius quidam…!« dann fuhr er fort: »Ich wollte sie dir gerne selbst übermitteln, du weißt ja…« Arminius unterbrach ihn ungeduldig, seit wann machte Velleius solche großen Worte! Stets hatten sie sich rundheraus die Meinung gesagt. Hatten sie ihm etwa den Befehl über die
Hilfstruppen genommen oder ihm gar einen von diesen verdammten Tribunen vor die Nase gesetzt? »Heraus mit der Sprache, Velleius, was ist los!?«, fuhr er den Freund barsch an. Velleius beschwichtigte mit den Händen: »Es ist eben eine Botschaft von deinem Stamm gekommen, dein Vater liegt im Sterben, und anscheinend gibt es Kämpfe um die Nachfolge. Segestes und Inguiomer…« Arminius war aufgesprungen und stürzte aus dem Zelt, zu viele Eindrücke kamen zu plötzlich. Nicht allein der zu erwartende Tod des geachteten Vaters, sondern auch die Erinnerung an Inguiomer, den halsstarrigen und rechthaberischen Onkel, auch an Segestes, den Vater einer schönen und vielbegehrten Tochter. Das Leben bei seinen eigenen Leuten stand unvermittelt wieder vor seinen Augen. Er kannte seine Stammesgenossen, wusste, wozu sie fähig waren. Nach und nach kam er zu sich und ging zum Zelt zurück. Der Gefährte vieler Schlachten stand abwartend in der Zeltöffnung und ließ ihn ein. »Du sollst zu Tiberius kommen, der kann dir sicher noch Genaueres sagen«, sagte Velleius, als Arminius sich wieder gesetzt hatte. Arminius antwortete nicht. Seine Lage wurde ihm schlagartig sehr deutlich. Eigentlich kam er für die Nachfolge seines Vaters gar nicht in Frage. Schließlich war er römischer Offizier, sprach die lateinische Sprache und hatte viele römische Gewohnheiten angenommen, denn die Römer waren in vieler Hinsicht weiter als die Germanen. Bei Wodan und Jupiter! Er hatte eine Menge gelernt von den Römern. Überhaupt kein Vergleich, sein Volk und die Römer! Fast schien es, als lächelte er, als er aufstand und dem Freund die Hand drückte. Eine Entscheidung musste getroffen werden.
V.
Es war schon spät am Nachmittag, als Lucius Eggius und Ceionius vor dem Haus des Varus in Rom ankamen. Das Haus war wie alle römischen Häuser zur Straßenseite hin höchst unscheinbar – nur einige schmale Fensterschlitze und eine einfache Tür waren zu sehen. Die beiden Offiziere wurden unmittelbar auf ihr Klopfen durch die mit Metall beschlagene Tür eingelassen und gelangten durch einen schmalen Korridor in den weit sich öffnenden Atriumhof. Sie gingen am Impluvium, dem Wasserbecken, vorbei, bewunderten den Garten mit dem wasserspeienden Springbrunnen, sahen Büsche und Blumen und betrachteten neugierig die überall aufgestellten Bronze- und Marmorstatuen, denn sie waren zum ersten Mal im Hause ihres Feldherrn in Rom. Ceionius und Lucius Eggius bewunderten gerade den Geschmack des Varus, und Ceionius wies eben auf die Malereien der Atrium- und Peristylwände hin, als Varus auch schon aus dem Tablinum∗ mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam. Er begrüßte seine Stabsoffiziere überschwänglich und nahm sichtlich erfreut ihre Bewunderung für sein Haus zur Kenntnis. Die Männer betraten lachend und plaudernd das Tablinum, in dem bereits ein jüngerer und ein älterer Mann warteten, die sich jetzt von den Liegebänken erhoben. Der Hausherr machte die vier Männer miteinander bekannt. Der ältere war der Senator C. Titus Cassianus und der jüngere sein Sohn Rufus, der das Amt eines Militärtribunen in den Legionen des Varus übernehmen sollte. Der weißhaarige ∗
Empfangsraum für Gäste mit Liegebänken (Klinen), Tischen und Regalen.
Senator wurde mit Hochachtung von den Offizieren begrüßt. Varus erklärte, dass Titus Cassianus ständig in der Nähe des Augustus zu finden sei. Daraufhin spielte der Senator scherzhaft auf die Verwandtschaft des Varus mit dem Kaiser an: »So gut wie ein Sohn bist du für ihn, trefflicher Varus!« Varus winkte ab, doch sein Gesichtsausdruck verriet, dass er für Schmeicheleien empfänglich war. Die Gesellschaft ging scherzend und lachend weiter in das nächste Zimmer, das Triclinium genannte Speisezimmer. In dem großen Raum waren drei Liegebänke rechtwinklig zueinander aufgestellt, ein Tisch mit einem mächtigen Löwenfuß aus Bronze stand in der Mitte. An den Wänden standen verschiedene Tische mit Marmorplatten, die zum Abstellen von Speisen benutzt wurden. Über dem Tisch in der Mitte des Raumes hing eine mehrschnauzige Öllampe aus Bronze, die an einer Kette aufgehängt war und wie ein Kronleuchter den Raum beleuchtete. Ein Lampenständer in Form einer überdimensionalen Weinranke sorgte für die Beleuchtung des Hintergrundes. Der Fußboden bestand aus einem Steinmosaik, das Ceionius und Lucius Eggius besonders erwähnten und mit ihren Lagerunterkünften verglichen. Varus erklärte die verschiedenen geometrischen Motive des Bodens, die er persönlich mit dem Baumeister abgesprochen habe, und wies darauf hin, dass er bewusst nur schwarze und weiße Mosaiksteine zugelassen habe, weil der Boden sonst zu dominierend geworden wäre. Sklavinnen und Sklaven eilten hin und her, mit den letzten Vorbereitungen des Gastmahls beschäftigt. Hoheitsvoll nahte die Gastgeberin, Claudia Pulchra, die schöne Claudia. Ihre Garderobe wurde von den Gästen artig beklatscht. Claudias braune Augen strahlten. Ihren Beinamen, die Schöne, trug die Großnichte des Augustus zu Recht, sie war klein und zierlich, mit langem, dunklen Haar und besonders ausdrucksstarken,
braunen Augen. Sie verschwand mit ihrem Gefolge wieder, um, wie sie sagte, die Herren unter sich zu lassen. Varus strahlte und war in bester Laune. Beiläufig gab er den Sklaven Anweisungen und trat wie zufällig vor den überdachten, gemauerten Hausaltar der Laren und Penaten∗, auf dem mehrere Bronzestatuetten römischer Götter standen. Gleich vorn erkannten seine Gäste eine Statuette des persönlichen Schutzgottes des Varus, seines Genius. Der Hausherr lächelte schelmisch und holte aus dem Hintergrund des Altaraufbaus eine kleine, derbe Figur, deren Rückseite er den Männern zeigte, um sie dann plötzlich mit einem Lachen umzudrehen. Es war die Statuette des Gottes Priapus, der sein Gewand anhob und den Betrachtern sein riesiges Glied entgegenstreckte. Varus machte einen »Herrenwitz«, wie wir das heute nennen würden, unterbrach sich dann aber und sagte, gleichsam den Gott um Entschuldigung bittend: »Gravis ira Priapi – Schwer trifft der Zorn des Priapus!«
Ich schweife ab, blicke vom Schreibtisch auf den Rasen vor meinem Zimmer, die Hände noch an der Schreibmaschine, und überlege, was wohl geschähe, wenn ich Priapus hier auf den Rasen stellte. Mehrere Figuren dieses geilen Gartengottes sind erhalten, so u. a. im Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig und im Römisch-Germanischen Museum in Köln. Ich stelle mir die Gesichter der Leute vor, die meinen Priapus anstarren würden, besser gesagt, sein Glied. Aber lassen wir das. Weiter im Text.
∗
Hausgötter
Die Männer kamen heran, begutachteten die Priapusfigur, machten ihre Bemerkungen, lachten und scherzten und lagerten sich dann auf den Liegebänken, von denen die Sklaven zwei weitere für Lucius Eggius und Ceionius bereitgestellt hatten. Der Senator Titus Cassianus war sichtlich erheitert über die Priapusdemonstration, und er äußerte den Wunsch, auch solch eine Statue zu besitzen. Varus nannte lachend die Bezugsquelle, und der Senator bat seinen Sohn Rufus, den Namen zu behalten. Auf einen Wink des frischgebackenen Statthalters kam nun der Küchenchef mit einem Wachstäfelchen herbei. Varus legte sich genüsslich lächelnd auf seiner Kline an der Stirnseite des Karrees zurecht und forderte ihn auf, die Speisenfolge zu verlesen. Der Küchenchef stellte sich in Positur, die Gäste zogen die Sandalen aus, schoben weiche Kissen unter den aufgestützten Arm und blickten ihn gespannt an. Der begann mit wichtiger Miene zu lesen: »Austern, Muscheln und Schnecken aus Tarent!« Er blickte hoch und machte eine Pause, um mit seinen flinken Augen die Sklavinnen zu beobachten, die gerade den Mulsum-Aperitif servierten. »Weiter, weiter!«, drängte Varus. Der Chefkoch beeilte sich: »Gefüllte Haselhühner aus Phrygien, gewürzt mit Silphium, Pfeffer und Kümmel, in süßsaurer Brühe aus Öl, Wein und Essig. Dazu Kohl, Lauch und Sellerie; als Beilage gesottene Pfifferlinge und Morcheln, angemacht mit Koriandersamen, Minze und eingekochtem Most.« Der Koch schaute auf den Hausherrn, der die Mienen seiner Gäste studierte. Der Senator leckte sich in freudiger Erwartung die Lippen, das pausbäckige Gesicht des Ceionius hatte sich gerötet, er konnte Schluckbewegungen nicht unterdrücken.
Wieder die Stimme des Küchenmeisters: »Gebratene Edelfische aus Pessinus, gefüllt mit Zwiebeln, Liebstöckel, Saturei, Eigelb, dazu Feigendatteln in Weinsoße.« Er drehte die Tafel um und las weiter, während die Männer dem Gastgeber Komplimente machten: »Straußenfleisch aus Afrika in Pastetenteig mit Kraftmehl und Majoran, dazu gebratenes Schwein aus Belgica mit Garum und erlesenen Soßen.« Dann, mit bedeutungsvollem Augenaufschlag: »Gebratene Nachtigallen und Vogelzungenragout!« Die Herren klatschten und riefen begeistert durcheinander. Varus und sein Koch sonnten sich in ihrer Zustimmung und freudigem Vorgenuss. Publius Quinctilius Varus war mit seinem Koch zufrieden. »Er versteht sein Handwerk«, rief er anerkennend, »ich habe ihn nicht umsonst Apicius Secundus genannt!« Apicius Secundus errötete, sein Gesicht glänzte vor Freude. Sichtlich geschmeichelt, beeilte er sich, den Rest der Delikatessen vorzutragen: »Feigen aus Syrien, Eicheln aus Spanien, Nüsse aus Pontus am Schwarzen Meer, Datteln aus Ägypten mit gerösteten Nüssen als Kern, in Honig aus Sarmatien getaucht, gepfefferte Pinienkerne in Rosinenwein, dazu…« Der Senator unterbrach: »Bei Jupiter, Varus, du hast sicher Augustus selbst zu diesem Essen erwartet! Ich darf ohne Übertreibung sagen, das ist einmalig, wirklich einmalig, ich beneide dich um deinen weit gereisten Koch!« Apicius blickte seinen Herrn stolz an. Während die Männer auf den Liegen schon eifrig dem Mulsum zusprachen, sich die Lippen leckten, Schmatz- und Kaubewegungen machten, las er zuletzt: »Dazu köstliche Weine aus Spanien und Gallien, von der Rhone, aus Samos und aus dem Nildelta!« Apicius machte eine artige Verbeugung, und die Gäste applaudierten. Sklavinnen brachten nun kleine Schalen mit
Proben der Speisen. Varus erhob sich und opferte sie den Penaten und Laren, indem er sie auf den Hausaltar stellte. Dann klatschte er ungeduldig in die Hände, und sofort wurden die Vorspeisen in Glas-, Ton- und Bronzegefäßen hereingebracht, Weine wurden durchgesiebt und gemischt. Der Herr des Hauses beobachtete alles mit Genugtuung. Seine Gäste hielten bereits eine Schüssel in der Hand des aufgestützten Arms und nahmen die Speisen, die ihnen mundgerecht zerlegt wurden, mit den Fingern der anderen Hand. Serviererinnen benutzten Servierplatten aus vergoldetem Silber und brachten süßsauer eingelegte Leckereien zusätzlich zu den Austern, Muscheln und Schnecken. Varus hatte sich bequem zurechtgelegt und plauderte mit Rufus, dem Sohn des Senators. Alle Männer lagen behaglich ausgestreckt und nahmen die Köstlichkeiten zu sich, die am Tisch zerkleinert wurden. Der Senator verzog anerkennend sein Gesicht und machte dem Hausherrn mit Daumen und Zeigefinger seiner Esshand ein lobendes Zeichen. Ceionius und Lucius Eggius prosteten ihrem Feldherrn zu. Auf dem Tisch, in der Mitte des Tricliniums, standen Brotkörbe und verschiedene Karaffen mit Wein. Eine Sklavin war nur damit beschäftigt, den Wein auf Wunsch mit Wasser zu mischen. Varus war ein Liebhaber von Austern und Schnecken, er benutzte einen kleinen silbernen Löffel mit langem spitzem Stiel, mit dem er sie aus ihrem Gehäuse zog und zwischendurch andere Happen aufspießte. Ceionius ließ bereits seinen Becher mit Wein nachfüllen. Die Hauptgänge wurden hereingebracht. Dampfende Platten und Schüsseln aus feinstem Tongeschirr mit Hühnerfleisch, Fischen, Straußenfleisch und gebratenem Schwein, in großen, unzerteilten Stücken. Es war jetzt fast still, und außer gelegentlichem Schmatzen und Seufzen und Fragen der
Sklavinnen war nichts zu hören. Varus prostete seinen Freunden zu, leerte den Becher in einem Zug und streckte sich. Lustvoll sich regende Glieder unter bequemen Gewändern. Wippende Sklavinnenbrüste. Hauptsächlich syrische und afrikanische Importware.
Ich habe Hunger und denke an die römischen Fressgelage, an die Angewohnheit, sich nach vorzüglichem Mahl den Gaumen mit Gänsefedern zu kitzeln, um zu erbrechen und weiteressen zu können. Die phantastischen Gelage des Trimalchio! Ein Abendessen bei Lukulli Schüsseln voll Nachtigallenherzen, Wachtel- und Pfauenhirnen oder Reiherzungen! Ein Vermögen für ein Abendessen. Auf der anderen Seite Sklavenfraß: Bohnen, Rüben, Schwarzbrot, essigsaurer Wein. Millionen von Sklaven. Sklavenhaltergesellschaft – Türöffner, Kammerdiener, Vorleser, Sänftenträger, Köche, Ausrufer, Barbiere, Schneider, Ärzte, Schreiber, Lehrer, Maler, Baumeister und so weiter und so weiter. Fußtritte, Nadelstiche und Grausamkeiten für ungehorsame Sklaven. Roma aeterna – ewiges Rom. Zurück zu Varus.
Die Herren genossen die Hauptgänge. Immer wieder wurden die Weinpokale nachgefüllt. Jeder der fünf Männer hatte eine Sklavin für sich, die augenblicklich auf seine Wünsche reagierte. Varus blickte sichtlich zufrieden in die Runde und erhob bei jedem Trinkspruch seinen Silberbecher. Die gebratenen Nachtigallen wurden hereingebracht, und der Senator ließ einen Happen, den er bereits im Munde hatte, zu Boden fallen, um von der Brust der Vögel zu kosten. Dann ließ er sich von den Zungen reichen – sein Gesicht geriet in Verzückung, und er rief voller Begeisterung aus: »Ein
wahrhaft lukullisches Mahl, Publius Quinctilius Varus! Du bist ein Liebling der Götter, du musst mir unbedingt deinen Koch hier lassen, wenn du nach Germanien aufbrichst!« Varus lächelte, erhob sich umständlich von der Kline, räusperte sich und begann: »Meine lieben Freunde! Wir stehen vor einem neuen Abschnitt, nicht nur meines Lebens, eh, ich will sagen, nicht nur meiner Karriere, sondern, ich darf wohl sagen – an einem besonderen Punkt auch für das gesamte Imperium.« »Bravo«, rief Ceionius, doch ein ärgerlicher Blick seines Feldherrn brachte ihn zum Schweigen. »Augustus, unser verehrter Princeps, hat mir einen besonders wichtigen Posten anvertraut. Es wird vom Willen der Götter abhängen, ob wir die Grenze des Römischen Reiches bis zur Elbe vorschieben können und die Provinz Germania für alle Zeiten befrieden und den Barbaren Sitten und Gewohnheiten, Kultur und Religion unseres Volkes bringen können. Wir wissen alle, dass einige Stämme der wilden Germanen bereits in die Freundschaft des römischen Volkes aufgenommen worden sind. Ich habe einen der Söhne eines Barbarenfürsten persönlich kennen gelernt, es ist ein junger Mann aus dem Stamme der Cherusker, den sie bei unseren Hilfstruppen Arminius nennen. Diesem Mann gilt mein besonderes Vertrauen, zumal ich weiß, dass auch andere Fürsten seines Stammes für Rom sind.« Er machte eine kurze Trinkpause und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Trotzdem ist dieses eine Aufgabe von besonderer Verantwortung und unser Caesar Augustus wird wissen, warum er gerade mich dazu auserwählt hat!« Der Senator nutzte die Gelegenheit und hielt eine kurze Lobrede auf die Verdienste des Varus in Syrien und Afrika, und zum Schluss deklamierte er voller Pathos Vergils Verse:
»Du, Römer, wisse, dies ist dein Beruf: Die Welt regiere, denn du bist ihr Herr. Dem Frieden gib Gesittung und Gesetze. Begnad’ge, die sich dir gehorsam fügen, und brich in Kriegen der Rebellen Trotz!« Nach Applaus und Bravorufen setzte Varus seine Rede fort: »Unsere Legionen stehen an Rhein und Donau, und wer sich die Karten genau ansieht, weiß, welche Schwächen diese Grenze hat, und weiß auch, welche Anstrengungen es Rom jährlich kostet, diese Grenze zu halten. Ich brauche hier nicht die einzelnen Unternehmungen der kaiserlichen Prinzen Drusus und Tiberius zu schildern, sie sind allgemein bekannt. Es kommt jetzt aber darauf an, den Barbaren zu zeigen, was Pax Romana bedeutet, was es bedeutet, nach römischem Recht zu leben, die Vorteile einer geordneten römischen Verwaltung zu genießen – aber auch Steuern zu zahlen und sich römischem Gesetz zu beugen. Auf diesem Gebiet werden wir hoffentlich unsere Erfahrungen nutzen können. Diese Barbarenprovinz Germania muss systematisch erschlossen werden, nichts darf dem Zufall überlassen werden, wenn es für alle zum Vorteil gereichen soll. In diesem Sinne hoffe und vertraue ich auf die Kraft des römischen Volkes und erwarte von meinen Soldaten Ausdauer, Disziplin und Tapferkeit vor dem Feinde zum Wohle und Ruhme unseres Volkes – vae victis, wehe den Besiegten!« Die Sklavinnen hatten eilig Wein nachgeschenkt, Varus hob seinen silbernen Pokal und blickte die Männer nacheinander an. Alle glaubten, sich der Bedeutung des Augenblicks bewusst zu sein. Rufus schmeichelte seinem neuen Vorgesetzten und nannte die Rede des Varus beeindruckender als alles, was er sonst auf dem Forum gehört habe. Wieder kamen die Aufwärter und trugen Schüsseln und Schalen herbei. Sklavinnen mit Gießschalen standen bereit,
gossen den Gästen kühles Wasser über die Hände und trockneten sie sorgfältig ab. Neuer Wein wurde gebracht, allen Teilnehmern wurde das Schildchen gezeigt, auf dem Anbauort und Jahrgang verzeichnet waren. Die Männer aßen und tranken, so viel sie nur konnten. Sie rülpsten und furzten aus lauter Höflichkeit und benahmen sich immer ungezwungener. Lucius Eggius hatte sein Auge auf eine asiatische Sklavin geworfen, die für ihn besonders leckere Bissen aufspießte, ihn fütterte und ihm Wein in den Mund goss. Die Stimmung wurde ausgelassener. Rufus hatte bereits so viel gegessen, dass er zur ›Magenreinigung‹ nach nebenan, ins Vomitorium, gehen musste und sichtlich erleichtert zurückkam. Varus lächelte und sagte zwinkernd zu seinem Vater, er werde in Germanien schon einen Mann aus seinem Sohn machen! Apicius Secundus war überall, überwachte die Arbeit der Sklaven und war im selben Augenblick auch schon wieder in der Küche verschwunden. Die Schlemmerei und Prasserei wollte kein Ende nehmen. Varus flüsterte dem Apicius etwas ins Ohr, und sofort trat ein Lyraspieler auf, der die Essenden und Trinkenden mit seiner Musik zu erfreuen hatte – sie beachteten ihn jedoch kaum. Wieder wurden die Hände gewaschen, und alle stürzten sich auf den nächsten Gang, wenn sie auch inzwischen genudelt und gestopft waren und deutliche Zeichen der Ermüdung und Erschöpfung zeigten. Viele mundgerecht zerlegte Bissen fielen bereits zu Boden, Wein wurde verschüttet. Da trat Apicius wieder ein und verkündete feierlich: »Secundae Mensae – Zeit für den Nachtisch!« Die Männer zeigten mühsames Interesse, was konnte ihnen ihr Gastgeber jetzt noch bieten! Schon kamen vier Sklaven und trugen ein kleines Tischchen herein, auf dem offenbar etwas mit einem Tuch zugehängt war.
Der Lyraspieler verstummte, und als alle herschauten, riss Apicius das Tuch mit einem Ruck weg – zum Vorschein kam ein gebackener Priapus, garniert und behängt mit allerlei Köstlichkeiten. Die Überraschung war dem Hausherrn gelungen, und die Ausgelassenheit, die sich jetzt einstellte, war kaum noch zu steigern. Immer mehr ging das Gastmahl in ein Zechgelage über. Varus begann mit dem Trinkritual bei dem Senator als höchstgestelltem Gast, neben dem inzwischen eine üppige blonde Sklavin Platz genommen hatte. Caius Titus Cassianus trank die ihm angebotene Schale halb aus und gab sie mit einem Trinkspruch, in dem er viel Glück für Germanien wünschte, an Ceionius weiter. Der Lyraspieler erhielt Gesellschaft – vier Tänzerinnen in phantastischen Kostümen schwebten herein und wurden begeistert empfangen. Unterdessen kreisten die Trinkschalen reihum, und Priapus wurde nach und nach verspeist. Sklaven fegten den Boden und teilten neue Deckchen und Servietten aus. Die Männer hatten alle vornehme Zurückhaltung abgelegt, selbst Rufus benahm sich ungeniert unter den Augen seines zukünftigen Vorgesetzten, der bereits Schwierigkeiten mit der Aussprache hatte und um jeden Preis mit dem Senator aus einer Schale trinken wollte. Belustigt sahen die anderen zu. Die Geräuschkulisse steigerte sich erheblich, die Späße wurden eindeutiger. Unter großem Gelächter erhielt der Hausherr selbst das letzte Stück von Priapus. Mit einem lauten Rülpser meinte er, er fühle sich heute wie neugeboren, griff sich eine hübsche Sklavin, fütterte sie und brüllte vor Vergnügen. Das Gastmahl artete in eine echt römische Orgie aus. Die erste Morgenstunde war bereits angebrochen, als Sklaven den wie bewusstlos daliegenden Titus Cassianus in einer Sänfte abtransportierten.
Die bereitgestellten Fackeln wurden nicht benötigt, da es schon lange hell war, als auch die anderen Zecher lallend und schwankend aufbrachen.
VI.
Im Hilfstruppenlager der römischen Legionen in Pannonien war Arminius damit beschäftigt, seine persönliche Habe zusammenzupacken. Sein Bursche Wolfhart, Cherusker wie er, stellte eine Liste zusammen, und Arminius besprach mit ihm den Transport, denn im Laufe der Jahre in römischen Diensten hatte sich einiges angesammelt. Vor allem die Pferde wollten alle mitnehmen, die sich entschlossen hatten, mit Arminius in die Heimat aufzubrechen, Pferde als Reit- und Packtiere, zusätzlich Maulesel. Arminius blickte auf seinen Hengst Sleipnir, so benannt nach Wodans achtbeinigem Hengst – niemals würde er sich von diesem Pferd trennen. Sleipnir war schnell und ausdauernd und ließ sich auch im Kampfgewühl nicht aus der Ruhe bringen. Wolfhart erledigte alles gewissenhaft, er war ein stiller Junge von knapp zwanzig Jahren, groß und kräftig, mit rotblonder Mähne und scharfblickenden, grauen Augen. In einem der Kämpfe in römischen Diensten hatte er die obere Hälfte seines linken Ohres eingebüßt, die Römer nannten ihn seither Auris, das Ohr, andere fühlten sich an Gold erinnert und nannten ihn wegen seines Haares Lupus Aureus, den goldenen Wolf. Wolfhart hatte sich wie die anderen Germanen an die römischen Namen und Bezeichnungen gewöhnen müssen, sie waren allgemein üblich, und selbst Arminius redete niemand mit dessen germanischem Namen an, zumal der auch kaum bekannt war. Es hieß bei den Römern einfach, das soll Aureus machen, na wer, wer? Der mit den Goldhaaren, mit dem halben Ohr. Oder: Arminius übernimmt das Kommando! Wie viel Leute? Drei! Also: Primus, Secundus, Tertius, schon
waren Namen vergeben! Die machten es sich einfach, die Römer, sogar ihre Kinder nummerierten sie, so hörte man, wenn ihnen keine besseren Namen einfielen. Viele hießen Quintus, Sixtus oder Septimus, je nachdem, wie viel Geschwister sie hatten. Wolfhart gab einem der cheruskischen Hilfskrieger mit Namen Aper – der Eber – den Befehl, die Packtiere von der Weide zu holen. Aper machte sich sofort auf den Weg. Er war wegen seiner Entschlossenheit und rohen Kraft bekannt. Seine gelblichen, weit auseinanderstehenden Schneidezähne hatten die Römer zu seinem Beinamen angeregt. Arminius drängte, er hatte es plötzlich eilig, von den Römern wegzukommen. Als sie beide gerade im Zelt waren, hörten sie Pfeifen und Rufen, das nur von einem stammen konnte, von Ansgar, Arminius’ Stellvertreter im Range eines Centurios erster Ordnung. Sein hübsches Gesicht zeigte gespielte Traurigkeit, als er zur Zeltöffnung hereinschaute. »Varium et mutabile semper femina, sagt der Römer, ein Weib ist stets ein wankendes und veränderliches Wesen! Wie recht sie doch haben, unsere lieben Freunde, die Beherrscher des Weltkreises!« Ansgar verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und zeigte Wolfhart die Zähne, der jedoch keine Miene verzog. Er war dunkelblond, sonnenverbrannt und stets guter Laune. Überall war Ansgar als Draufgänger bekannt. Ovid nannten ihn die Römer scherzhaft, Ansgarius Ovidius, weil er ständig irgendwelche römischen Schriftsteller zitierte, mit Vorliebe Ovids eindeutigsten Verse. Spaßmacher, Alleinunterhalter in den Kneipen des Vorlagers, wo sich Frauen und Kinder, aber auch allerlei Gesindel aufhielten. Ansgarius, Ansgarius! Denk an deine Frau, die hübsche Vera, Römerin aus vornehmem
Hause, sie weint sich die Augen aus, wenn sie von deinen Missetaten hört! Ansgar ornatus – der mit Orden Ausgestattete, der sich viele Male durch Tapferkeit vor dem Feind hervorgetan hatte. Orden hatte er bekommen, doch er trug sie nicht. Sie seien ihm lästig, hatte er auf die entsprechende Frage des Velleius geäußert. Lästig im Kampf natürlich, hatte er mit seinem unnachahmlichen Lächeln hinzugesetzt. Was konnten ihm die Römer schon anhaben? Durch seine Heirat war er Vollbürger, seiner Karriere im römischen Heer stand nichts im Weg. »Seid gegrüßt, Freunde«, sagte er jetzt, die Redeweise der Römer nachahmend, als weder Wolfhart noch Arminius sich um ihn kümmerten. Schließlich fragte Arminius: »Hast du einen Brief von deiner Frau bekommen?« Er wusste, dass Ansgar sehr an seiner Frau Vera hing und immer ungeduldig auf Briefe wartete, was ihn aber nicht hinderte, zwischendurch mit jedem weiblichen Wesen anzubändeln, das einigermaßen hübsch war. Ansgar spielte den Entzückten und sagte theatralisch: »Unsicheres Herz wird stets aufs Neue von holdem Brieflein entzündet! Doch was sehe ich hier für Vorbereitungen, warum holt Aper die Packtiere?« Arminius erzählte schnell, was vorgefallen war. Ansgar sagte kein Wort mehr. Bei Freya und allen Göttinnen der Liebe, das musste ja einmal passieren! Warum musste er, ausgerechnet er aus dieser verdammten Provinz Germania stammen? Natürlich war er Germane, aber was bedeutete das schon, waren in Rom nicht alle Nationen vertreten? Er fluchte leise vor sich hin, es ärgerte ihn, dass Arminius und Wolfhart so schweigsam waren. Er ahnte, dass Arminius ihn bitten würde, mit nach Germanien zu kommen. Schon des öfteren hatten sie in Gesprächen die Möglichkeit erörtert, und Ansgar
hatte sich immer für den Süden, für die Sonne, für das Leben in Rom entschieden. Dort hatte er nicht zuletzt durch seinen Schwiegervater eine sichere Existenz zu erwarten, dort lebte seine Frau. Germanien hieß für den leichtlebigen Ansgar Kälte, Unsicherheit und eine ungewisse Zukunft. Was interessieren mich deine wilden Cherusker, hatte er einmal leichthin zu Arminius gesagt. Überhaupt dieser Arminius, warum nahm der alles so ernst? Ansgar hatte oft versucht, sich über sein Verhältnis zu dem Freund und Kampfgefährten klar zu werden. Der und Velleius! Ewig diese todernsten Gespräche. Oft hatte er gedacht, Arminius sei vielleicht eifersüchtig auf ihn, weil ihm manches leichter gelang. Verdammt noch mal, was sollte er in Germanien? War er nicht längst Römer? Er pfiff durch die Zähne und machte eine vage Geste zu Arminius und Wolf hart, als er das Zelt verließ.
VII.
Fast alle hatten sich ihm angeschlossen. Wolfhart, auch Ansgar, nach einigem Zögern und Fluchen, viele Krieger, frisch aus römischen Diensten entlassen. Erst waren es nur wenige gewesen, doch es hatte sich schnell herumgesprochen – Arminius würde in die Heimat aufbrechen. In die Heimat? Noch wollten die meisten bei den Römern bleiben, wollten ihren Sold, ihre Vorteile. Doch dann war bei vielen eine unerklärliche, sentimentale Stimmung aufgekommen, die sie vergeblich zu unterdrücken suchten. Tiberius, ihr oberster Kommandeur, hatte sich extra herbeibemüht und sich herabgelassen, zu seinen Hilfstruppen zu sprechen. Von würdigen Aufgaben und von Pflichterfüllung hatte er gesprochen, die Freundschaft des römischen Volkes werfe man nicht weg wie eine alte Tunika! Arminius hatte niemanden beeinflusst. Mit unerschütterlicher Ruhe trafen er und Wolfhart ihre Vorbereitungen. Fast sah es so aus, als hätten die Römer mit Ansgar einen neuen Kommandeur der Hilfstruppen gewonnen. Doch dieses Gerücht hielt sich nur Stunden. Als Ansgar erklärte, er werde sich Arminius anschließen, waren ihm die meisten Männer gefolgt. Alle hatten sie die beschwerliche Reise in das Cheruskerland auf sich genommen, auch die Marser, Chatten, Usipeter und Chasuarier, die unter ihnen waren. Auf der Reise entwickelte sich ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, Arminius, Ansgar und auch Wolfhart wurden als Führer anerkannt. Gewohnheiten aus römischen Diensten erwiesen sich nun als nützlich. Lagerbau und Versorgung wurden nach römischem Vorbild abgewickelt, Marschordnung und Disziplin
wurden eingehalten. Ansgar hatte das Wort von den »Römergermanen« erfunden, doch auch er hielt sich an Arminius’ Anordnungen, sogar Wachdienste wurden nachts eingerichtet. Bei den Cheruskern angekommen, beschlossen alle, sich nicht aufzulösen, sondern zusammenzubleiben. Einige hatten noch die Absicht, in römische Dienste zurückzukehren.
Als Arminius nach dem langen Zug ins Cheruskerland endlich mit Ansgar, Wolf hart und einigen Männern an der Totenbahre seines Vaters stand, versuchte er, sich langsam wieder an die Bräuche seines Stammes zu erinnern. Er sah, dass die Cherusker den Tod seines Vaters noch nicht wahrhaben wollten. Segimer lag dort wie auf einer Ruhestätte, sein Haar noch nicht einmal grau, versorgt mit allem, was er für eine lange Fahrt ins Reich der Asen brauchen würde. Seine Waffen hatten die Krieger griffbereit neben ihn gelegt und gestellt. Arminius’ Mutter hatte sich sehr über die Ankunft des Sohnes gefreut, doch gleich stimmte sie wieder die Totenklage an, und alle Sippenangehörigen fielen in die Klage ein. Kleidung, Schmuck und persönliche Gegenstände des Toten wurden hereingebracht und auf den Boden gelegt. Arminius verließ den dumpfen Raum, um der Enge zu entfliehen. Er dachte an die gemeinsamen Jagden mit dem Vater und dem Bruder, wie sie beide nach und nach alles vom Vater gelernt hatten. Dann gab der Vater sie beide in römische Dienste. Ihr müsst mehr lernen als andere, hatte er ihnen zum Abschied gesagt. Viel lernen müsst ihr, wenn ihr eines Tages führen wollt, das waren seine Worte gewesen.
Draußen, auf dem weiten Vorplatz des Burggehöftes, sahen Arminius und seine Männer die Vorbereitungen zur Leichenverbrennung. Abordnungen der benachbarten Stämme waren zu Gast, und viele blickten misstrauisch auf die »Römergermanen«, die immer noch Teile römischer Kleidung oder Ausrüstung mit sich führten. Wohin gehörten sie eigentlich? Waren sie Römer oder Germanen? Oder beides? Welcher Unterschied zu römischen Städten, zu der geradlinigen Ordnung römischer Lager! Überall, wohin die Ankömmlinge blickten, sahen sie die Ungleichheit. Menschen und Vieh unter einem Dach. Aus rohen Baumstämmen gezimmerte Häuser mit Schilf- und Strohdächern. Dicke Lehmwände. Qualm und Rauch in den Häusern, geschwärzte Balken. Fensterlose Deelen, Windaugen, Rauchabzugslöcher. Arminius schaute Ansgar an und erinnerte sich, dass sie Vorratskammern früher sogar mit Dung zum Schutz gegen die fürchterliche Kälte überhäuft hatten. Was würde der Spötter Ansgar dazu sagen? Überall war Holz aufgeschichtet, das die Hörigen und Knechte seines Vaters gesammelt hatten. Eichenholz, Buche, Kiefer und Wacholder, genau wie früher. Arminius erinnerte sich dunkel an den Tod des Großvaters. Sein Vater war damals mit den anderen Sippenangehörigen rund um ein hell loderndes Feuer geritten. Verwirrt fiel sein Blick auf nackte und schmutzige Kinder, die auf dem Lehmboden herumbalgten, er sah Mütter, die ihren Kindern die Brust gaben und ungerührt dem Treiben auf dem Burggehöft zusahen. Das Vieh brüllte. Arminius ging gedankenverloren zu Ansgar, der sich aus einem Zuber Wasser schöpfte. Er nahm die Schöpfkelle und trank von dem kühlen Wasser. Erstaunt betrachtete er das große Wohnstallhaus mit dem tief herabgezogenen Dach. Automatisch verglich er es mit den eleganten römischen
Steinhäusern. Arminius nahm den allgegenwärtigen Geruch des Viehs in sich auf und spürte schmerzlich die eigene Entfremdung von seinem Stamm.
Ein hoher Scheiterhaufen wurde aufgeschichtet, gewaltig hoch, dem Ansehen und der Bedeutung des Segimer entsprechend. Das Lieblingspferd des Herzogs der Cherusker wurde in der Nähe angepflockt, seine persönliche Habe und allerlei Grabbeigaben wurden herangetragen. Unter ihnen waren kostbare Gefäße aus Bronze, Silber und Glas, die davon zeugten, dass auch Segimer mit der römischen Welt in Berührung gekommen war. Feldherren und Händler hatten ihm ihre Gastgeschenke überreicht, denn schließlich hatte der alte Segimer zwei Söhne in römischen Diensten, und die Cherusker hießen offiziell »Freunde des römischen Volkes«. Dann war es so weit. Deutlich hörten die herumstehenden Männer und Frauen aus dem Gehöft die Klagegesänge der Frauen näher kommen. Segimer wurde herausgetragen, von Priestern, weisen Frauen und Sippenangehörigen umgeben. Arminius fühlte, dass er sich eigentlich dem Zuge anschließen müsste, blieb aber dennoch außerhalb und ließ den Zug an sich herankommen. Die Mitglieder seiner Sippe kümmerten sich nicht um ihn, das Ereignis der Bestattung Segimers nahm sie ganz in Anspruch. Sein Onkel Inguiomer leitete wie selbstverständlich die Zeremonie, er kümmerte sich um alles, es schien, als habe er bereits jetzt Segimers Stelle eingenommen. Auch Segestes von der Nachbarsippe war da, er stand würdig und mit ernstem Gesicht herum und beachtete Arminius nicht. Der Trauerzug hatte den Scheiterhaufen erreicht. Sechs Männer hoben die Bahre hoch über ihre Köpfe und legten sie behutsam auf den riesigen Scheiterhaufen. Zu den Füßen des
toten Herzogs legten sie Kleidungsstücke, Pferdegeschirr und lederne Schuhe, an seine Seiten die Waffen, lange Framen; Pfeile und ein Schild an das Kopfende. Zwei Krieger holten Segimers Pferd und führten es zu den Priestern. Der weiße Hengst wieherte laut, als nähme er Anteil am Tode seines Herrn. Der älteste der Priester trat vor, ein Knecht reichte ihm das Opfermesser. Alle waren still. Würdevoll blickte er in die Runde und erhob die Stimme: »Wodan, dem Vater aller Asen, hat es gefallen, Segimer, den Fürsten der Cherusker, nach Walhall abzuberufen. Ein ehrenvoller Platz ist ihm dort sicher! Das Totenheer, das durch die Wolken zieht, wird ihn beschützen! Lasset uns also die Klagelieder beenden! Wodan möge uns weiterhin Schutz verleihen, Thor bringe uns den Regen und zerschmettere das Eis mit seinem Hammer, Freya beschütze die Liebenden und schenke den Trauernden neue Kraft. Wodan, du Gott des Windes, erwecke den Atem dieses Toten zu neuem Leben und erhalte uns deine Gunst. Möge der Tote in seinen Söhnen weiterleben!« Der Priester schaute nur kurz zu Arminius und die Männer und Frauen mit ihm. Dann trat er zu dem Hengst, den Segimer bis zuletzt geritten hatte, und sprach feierlich: »Nimm diesen Hengst des Segimer auf in das Reich der Lüfte!« Bei diesen Worten schlachtete er das Pferd, das von zwei Kriegern gehalten wurde, mit einem einzigen, kräftigen Hieb mit dem Opfermesser. Das Tier bäumte sich trotz der gefesselten Beine im Todeskampf auf. Während es noch lange wie wild zuckte, sprach der Oberpriester beschwörende Formeln. Danach kamen mehrere Knechte und zogen es mit vereinten Kräften an die vorbereitete Stelle des Scheiterhaufens, der daraufhin in Brand gesetzt wurde.
Hell loderte bald das trockene Holz, und die Männer bestiegen die Pferde und ritten um den Scheiterhaufen herum, um böse Mächte abzuwehren, um die Riesen, die finsteren und wilden Gesellen, die Feinde der Götter und Menschen fernzuhalten. Jetzt erst schlossen sich die Neuankömmlinge dem Ritt um den Scheiterhaufen an. Noch bevor der Abend hereinbrach, wurde der Leichenbrand des Toten in einer Urne gesammelt und der letzte Rest des Cheruskerfürsten Segimer in einem Grabhügel beigesetzt.
VIII.
Kurz nach dem Begräbnis des Segimer brachten Kundschafter und Händler aufregende Nachrichten in die Gaue der Germanen. Der neue römische Statthalter Varus versuche, in die Gesetzgebung der Germanen einzugreifen, er habe Fehde und Blutrache verboten, allenthalben sei den Germanen am Rhein römisches Recht aufgezwungen worden, das ihnen unverständlich sei. Wer ist Varus?, fragten die meisten Cherusker, warum sei das so aufregend, die Cherusker seien schließlich weit weg vom Rhein. Händler berichteten, dass viele Germanen schon höhere Steuern zahlen müssten. Manch einer schmückte seine Erzählung aus und wusste Schauerliches von der Willkür des Varus zu berichten. In unregelmäßigen Abständen trafen neue Meldungen ein, die sich schnell verbreiteten. Die empörtesten Cherusker steckten die anderen an, neue Meldungen gaben der Wut und Empörung frische Nahrung. Der Höhepunkt wurde erreicht, als Segimund, der Sohn des Segestes, bei den Cheruskern eintraf. Erschöpft fiel er vom Pferd, sein Körper war schweißbedeckt, die langen blonden Haare waren verklebt. Er zeigte auf eine Wunde am Oberschenkel, ein Pfeil römischer Legionäre hatte ihn getroffen. Schon bildete sich eine Menschentraube um ihn, jeder wollte erfahren, was passiert war, denn alle wussten, dass er zur gleichen Zeit, als Arminius und dessen Bruder Flavus in römische Dienste getreten waren, Priester am Augustusaltar in der Stadt der Ubier∗ geworden war. ∗
Auf dem Gebiet des späteren Köln.
Die Cherusker brachten ihm zu essen und zu trinken, Frauen holten klares Quellwasser und erfrischten ihn. Segimund bestätigte die Gerüchte. Er habe Varus persönlich kennen gelernt, sagte er und fügte hinzu: »Varus hält sich für einen großen Richter…« Ein Hustenanfall unterbrach die Erzählung, die Umstehenden reichten ihm Wasser. Schließlich sagte Segimund leise, sichtlich am Ende seiner Kräfte: »Er schleppt eigens einen Richterstuhl mit sich herum, außerdem hat er große Pläne zur Eroberung von ganz Germanien, die Freundschaft des römischen Volkes, in die sie uns aufgenommen haben, scheint nur Geschwätz zu sein. Wir bekamen diese neue Richtung bald zu spüren, und schon begegneten uns viele Römer mit offener Feindseligkeit. In der Stadt der Ubier wird viel geredet, und Varus wird schon jetzt gefeiert, obwohl noch niemand weiß, was er eigentlich vorhat.« Segimund schwieg; noch war er zu entkräftet, um alle Einzelheiten zu berichten. Die Germanen zerstreuten sich nach und nach und erzählten von der Ankunft des Segimund in ihren Familien und Sippen. War nicht auch Arminius, Sohn des verstorbenen Segimer, wieder nach Hause zurückgekehrt? Die Römer, die Römer, die Römer! Immer hörte man in diesen Tagen von den Römern! Neue Gerüchte, Meinungen und Meldungen kamen hinzu. Die germanischen Stämme waren alarmiert. Sie schickten Boten aus zu Marbod, dem mächtigen Markomannenkönig, doch von dem war nichts zu erfahren, er wolle sich neutral verhalten, er habe keine Angst vor den Römern, aber von ihnen, den Cheruskern, seien ja schon einige vor den Römern davongelaufen, hieß es. Auch von den Friesen, Chauken und Amsivariern kehrten die cheruskischen Boten unverrichteter Dinge zurück. Warum überhaupt diese Aufregung, ob sie gegen Rom zu Felde ziehen sollten! Bislang habe man mit den Römern immer guten
Handel treiben können. Der Eindruck erhärtete sich aus den Meldungen der ausgesandten Cherusker, dass gerade die Stämme am Meer aus Furcht vor der römischen Flotte jedem Treffen der Germanen fernbleiben würden. Alles ging durcheinander. Noch war nicht klar, wer überhaupt die Boten losgeschickt hatte, nicht mal ein Thing war einberufen worden, die fehlende Autorität des Herzogs Segimer war deutlich spürbar. Die allgemeine Verwirrung war komplett. Segestes mahnte, überall wo er auftauche, zur Ruhe und Besonnenheit, wies immer wieder darauf hin, dass sie, die Cherusker, vor allen anderen Stämmen mit den Römern befreundet wären. Er erwähnte die Verhandlungen des Segimer und berief sich auf seine eigenen, freundschaftlichen Beziehungen zu den Römern. Auch Inguiomer, Segimers Bruder, sprach zu den Leuten, rasselte mit den Waffen und verkündete überall, er habe keine Angst vor den Römern, Marbods Haltung sei die einzig richtige. Die Cherusker waren verunsichert. Segimund wurde immer wieder ausgefragt, er musste doch schließlich mehr wissen, denn er war ja Kaiserpriester am Altar der Ubier gewesen. Doch Segimund verwies auf Arminius, der sei jahrelang in römischen Diensten gewesen. Wenn einer die Lage realistisch einschätzen könne, dann Arminius. Einige erinnerten sich. Arminius, natürlich! Warum hatten sich Segestes und Inguiomer nicht mit ihm besprochen? Wo waren die Männer, die zusammen mit ihm zurückgekehrt waren? Viele fragten nach Arminius, und Segestes und Inguiomer wurden vom Rat der Krieger mit der Einberufung eines außerordentlichen Things beauftragt. Wo hatte sich Arminius verkrochen? Ansgar, den hatten sie schon kennen gelernt, diesen komischen Spaßvogel! Was für
kurze Schwerter die Römer hatten, aber wie geschickt dieser Ansgar damit umgehen konnte! Arminius hatte sich tatsächlich verkrochen. Alles war neu und dennoch seltsam vertraut für ihn. Spielgefährten von damals waren jetzt erwachsene Männer geworden, Mädchen seines Stammes, die er als Kinder in Erinnerung hatte, waren inzwischen »mannbar«. Auch Thusnelda, seine Jugendfreundin, hatte er wiedergesehen. Mit einem anderen sollte sie verlobt sein. Wie fremd sie an ihm vorbeigegangen war! Arminius bemerkte, wie Inguiomer und Segestes nach dem Amt seines Vaters strebten, doch er war unfähig, sich zu rühren. Dann hörte er von den Vorbereitungen zu einer Thingversammlung – auch er, Arminius, war ausdrücklich geladen. Er sollte von seinen Erfahrungen bei den Römern berichten, hatten ihm Abgesandte des Segestes überbracht. Er versuchte, sich langsam auf die neue Situation einzustellen. Die Mutter redete ihm gut zu, der Vater habe ihn zum Erben bestimmt, berichtete sie, seine letzten Gedanken hätten ihm gegolten.
IX.
Der Thingstab, Thors Hammer nachgebildet, ging von Dorfmark zu Dorfmark, von Gehöft zu Gehöft, von Mann zu Mann. Die Vollfreien wurden zum Thing geladen, gleichzeitig der Thingfrieden verkündet. Alle Streitigkeiten hatten zu ruhen. Unter den Thor geweihten Eichen wurde das Thing gespannt. Pfähle aus Haselnussholz wurden eingeschlagen und mit Seilen verbunden, der Thingplatz eingehegt. Die Thingmannen bewaffneten sich in den Gauen, zäumten die Pferde und setzten sich ohne allzu große Eile in Bewegung. Tage vergingen. Auch zu den verbündeten Stämmen war geschickt worden, zu dem Marserfürst Mallovendus, den Chattenfürsten Catumer, Adgandester und Ucromer, zu den Brukterern, den Chatuariern, den Usipetern, den Chasuariern und den Tubanten. Nach und nach trafen die Thingleute mit Pferden, Waffen und Gefolge ein. Alle trugen ihre besten Mäntel, die schönsten Pelze, zeigten ihre neuesten Framen. Endlich war die Thingversammlung vollzählig, und die Rechtmäßigkeit des Aufgebots wurde festgestellt. Innerhalb des umhegten Platzes nehmen die Männer auf Steinen und rohen Bänken Platz. Die Cheruskerfürsten Segestes und Inguiomer haben sich neben dem Opferstein niedergelassen. Auch Arminius hat sich mit der Gefolgschaft seines Vaters eingefunden. Keiner hatte es gewagt, Segimers Richterstuhl zu besetzen, verwaist steht er da, an erhöhter Stelle, nach Osten gerichtet. Priester und Schamanen ziehen in das Gehege ein. Knechte bereiten das Opfer vor. Kranke
Pferde werden den Priestern und Schamanen gebracht, die sie besprechen sollen. Die alten Zaubersprüche werden gemurmelt: Baldr und Wodan fuhren zu Holze, da ward Baldr sein Fuß verrenkt. Da besang ihn Sinthgunt und Sunna, ihre Schwester, da besangen ihn Frija und Folla, ihre Schwester; da besang ihn Wodan, wie wohl er es konnte: ›Sei’s Beinrenkung, sei’s Blutrenkung, sei’s Gliedrenkung; Bein zu Bein – Blut zu Blut! Glied zu Gliedern, so seien sie fest gefügt.‹ Knechte führen die Tiere weg, der Opferstier wird Wodan feierlich geopfert. Amulette, Fetische und Wurzeln werden mit dem Opferblut besprengt. Ein Schamane mit Maske und Gürtel taucht seinen Daumen in das Opferblut und drückt sein Mal auf den Opferstein. Die Germanen rufen Wodans Namen in ihre Schilde, hören auf Donars Rauschen in den Eichen und bitten Ziu um Sieg und Ehre im Kampf. Wodan, Vater aller Asen, soll seine Zauberrute gebrauchen, die Feinde blenden im Kampf und ihre Waffen stumpf machen. Arminius hat die alten Riten wie in Trance beobachtet. Seine Blicke gehen zu Segestes’ Gefolgschaft, er sieht Segimund und Segithank, Sohn und Neffen des Segestes, seine früheren Spiel- und Jagdgefährten. Noch nie hatte er an einem Versammlungsort eine solch große Abordnung verschiedener germanischer Stämme versammelt gesehen. Inzwischen sind die Opferriten beendet. Allgemeine Stille tritt ein, als zunächst Segestes, der älteste der Cheruskerfürsten, das Wort an die Abordnungen richtet. Er ist eine imposante Erscheinung, wie er hoch aufgerichtet auf der kleinen Erhebung steht. Seinen kunstvoll gearbeiteten
Fellumhang wirft er zurück über die Schulter und schaut sich prüfend im Kreise um. Wunderdinge erzählen sich die Germanen von Segestes, mit den mächtigen römischen Kaisern soll er im Bündnis stehen. Die ersten weißen Fäden durchziehen Haupt- und Barthaare, doch er wirkt jugendlich und stark, die meisten Krieger überragt er. Seine wachsamen Augen scheinen alles zu sehen, kaum einer kann sich dem Bann dieses Mannes entziehen. Seine starken Hände liegen entspannt an der prunkvollen Gürtelschnalle, als er zu sprechen beginnt: »Wir gehen Zeiten entgegen, wo die Erfahrung eines Menschenlebens nichts mehr gilt! Wir gehen Zeiten entgegen, wo die Söhne klüger sind als die Väter! Wir gehen Zeiten entgegen, wo Bündnisse mit mächtigen Verbündeten nicht mehr beachtet werden und unser aller Untergang sich abzeichnet!« Seine Hände haben sich vom Gürtel gelöst, und er unterstreicht mit kräftigen Gesten seine Worte: »Schon Segimer, der in Walhall eingezogen ist, hat die Notwendigkeit eines Bündnisses mit Rom…« Hochrufe auf Segimer, aber auch Murren. Rom, Rom, immer wieder Rom, die Thingleute machen ihrem Ärger Luft, eine herrische Bewegung von Segestes bringt sie zum Verstummen. »… Segimer hat eingesehen, dass wir von den Römern…« Wieder wird er unterbrochen, jetzt sogar von den Cheruskern. Seine Augen funkeln, als er noch lauter als bisher weiterspricht: »Wie ich schon sagte, wir gehen Zeiten entgegen, wo man die Älteren nicht einmal mehr anhört! Viele wissen nicht, welch gewaltige Macht hinter Rom steht. Varus allein ist schon mächtig genug, obwohl er nur ein winziger Finger Roms ist.
Ich bin oft genug gastfreundlich von ihm empfangen worden und weiß…« Doch die Männer fangen an zu murmeln, immer lauter werden sie. Varus, Varus, die Römer! Sind sie nicht freie Germanen? Wer will ihnen was befehlen? Liegt Rom nicht weit weg? Sie wollen Segestes’ Worte, die für Rom gesprochen sind und die Macht und Stärke Roms preisen, nicht länger hören. Sie wollen ihrer Wut und ihrem Hass Luft machen. Was hat man nicht alles gehört in den letzten Tagen und Wochen. Soll der Segimund doch sprechen, sein eigener Sohn! Warum lässt er ihn nicht sprechen? Segestes ist tief getroffen, das ist ihm bei einer Thingversammlung noch nicht passiert. Aus seinen Blicken spricht tiefste Verachtung, und alle Versammelten wissen, dass er nicht der Mann ist, der jetzt noch weiter am Thing teilnehmen wird. Er wirft seinem Sohn Segimund seinen fordernden Blick zu, doch dieser weicht aus. Segestes verlässt mit hoch erhobenem Haupt die Umhegung, nur seine engste Gefolgschaft schließt sich ihm an. Das Wort hat Inguiomer, der Bruder des toten Herzogs. Seine Tapferkeit und sein Jähzorn sind gleichermaßen bekannt. Trotzig und finster ist sein Gesicht. Er zeigt den Thingmännern seine Narben auf Brust und Armen und dreht der Versammlung dann den Rücken zu, auf dem keinerlei Narben zu sehen sind. Diese Demonstration begreifen alle. Inguiomer ist ein Haudegen, der nur vorwärts stürmen kann, der stets seinen Vorteil sucht und keinen Schritt zurückweicht. Er ist kein großer Redner, doch seine Worte, die er mit heiserer Stimme hervorstößt, finden Anerkennung. Richtig begeistern kann er die Menge jedoch nicht. Die Fürsten der verbündeten Stämme erhalten nacheinander das Wort. Sie berichten von Gerüchten, Kontakt mit den
Römern hat keiner von ihnen gehabt, einige ihrer Leute seien mit Arminius zurückgekehrt. Die Menge wird ungeduldig; wenn sie nichts Neues zu berichten wissen, sollen sie doch schweigen. Warum lässt man nicht Segimund zu Wort kommen und Segimers Sohn? Mürrisch erteilt Inguiomer Segimund das Wort. Die Thingmänner gaffen ihn an. So, so, Kaiserpriester war der, in der Stadt der Ubier! Segimund gibt seinen Bericht. Er erzählt das, was er bei seiner Ankunft schon gesagt hat, mehr weiß auch er nicht. Arminius sei ja schließlich auch anwesend, sagt er, warum… Soll der doch sprechen, brummt es aus der Versammlung, Cherusker mit römischem Namen! Aber Segimers Sohn! Ein Hoch auf Segimer! Die Thingleute setzen sich durch, Arminius erhält das Wort. Er scheint seine Grübelei der letzten Tage und Wochen überwunden zu haben. Ansgar, der in der ersten Reihe seiner Gefolgschaft steht, beobachtet ihn kritisch, als er jetzt entschlossen zum Opferstein tritt. Sehr verändert sieht er aus in der Tracht der Germanen, mit der langen Wollhose, die so ungewohnt an ihm ist. Ansgar mustert seinen Kampfgenossen, seinen muskulösen Oberkörper, das glatte, bartlose Gesicht und die durchdringenden Augen. Arminius tritt sicher und überzeugend auf, genauso wie Ansgar es oft genug bei den römischen Hilfstruppen erlebt hat. Arminius wartet in Ruhe ab, wartet, bis das Gemurmel sich legt. Die Männer kennen ihn als Führer germanischer Hilfstruppen in römischem Dienst; bei vielen entdeckt Ansgar deutliches Misstrauen in ihren Blicken. Unvermittelt beginnt Arminius mit klarer, lauter Stimme. Die Stimme ist so deutlich und weittragend, dass alles Gemurmel verstummt. »Inguiomer und Segestes haben von der Macht der Römer gesprochen, der eine will sie angreifen, der andere sich
bedingungslos mit ihnen verbünden – beide haben ihren Standpunkt vertreten!« Ungeduldige Rufe werden laut, Arminius lässt sich nicht beirren, dies ist sein Auftritt. »Die Römer sind mächtig, das sollten alle wissen, die hier versammelt sind – aber wichtig ist, was sie mit und gegen uns vorhaben. Lange Zeit waren wir mit den Römern befreundet, Herzöge der Germanen gaben ihre Söhne in römische Dienste, damit sie von ihnen lernten. Viel konnten sie von ihnen lernen, darunter auch, dass Rom die Welt beherrscht und dass es fast aussichtslos ist, sich gegen Rom zu stellen. Die Freundschaft der Römer ist ein sicheres Pfand, solange sie nicht einseitig ausgenutzt wird. Wenn die Römer jetzt vorhaben, Germanien zu ihrer Provinz zu machen, ändert sich die Lage völlig. Warum haben sie es bis jetzt so leicht gehabt dabei? Ich will es den Thingleuten sagen: weil die Stämme nicht einig sind! Sie sind in kleinliche Streitereien verwickelt, befehden sich gegenseitig, überziehen sich mit Blutrache, tragen Zwist und Hader in die Gemarkungen! Nach und nach unterjochen die Römer Stamm für Stamm, und das Schlimmste ist – germanische Stämme helfen den Römern noch dabei, indem sie Hilfstruppen stellen! Ihr größter Feldherr Caesar hat alle seine Siege mit germanischen…« Bis jetzt hatten die Männer ihm gebannt zugehört, doch nun erscholl wütendes und erregtes Geschrei. Alle wussten, dass er selbst Führer einer solchen Hilfstruppe gewesen war. Was für ein Spiel spielte dieser romanisierte Germane mit ihnen? Einige laute Stimmen nennen den Namen Flavus – sein eigener Bruder sei immer noch in römischen Diensten! Ansgar stellte mit Genugtuung fest, dass Arminius die Situation klar in der Hand hatte. Der Einfluss römischer Rhetorik war nicht zu überhören.
»Ich bin nie gegen mein eigenes Volk gezogen – meine Zeit bei den Römern war eine Maßnahme meines Vaters Segimer, habt ihr das vergessen?« Der Name Segimer verursachte beifälliges Gemurmel und Gebrumm. Die Krieger beruhigten sich wieder und hörten auf die klare Stimme. »Gut, ich habe etwas gelernt in dieser Zeit, ich kenne die Kampftechnik der Römer, die der unseren weit überlegen ist. Wenn wir überhaupt an eine Auseinandersetzung mit den Römern denken wollen, müssen wir uns auch darauf vorbereiten. Ihr habt alle die Gerüchte und Meldungen der letzten Wochen gehört. Nun, ich werde Varus persönlich aufsuchen, um zu erfahren, was er wirklich plant! Wenn sie uns angreifen wollen, werden wir entschlossen Widerstand leisten. Wenn wir aber in wilden Haufen kämpfen, sind wir den wohlgeordneten römischen Heeren immer unterlegen. Sollte es wirklich zum Äußersten kommen, müssen wir jetzt schon Truppenverbände schaffen und unsere Krieger ausbilden. Jeder soll nicht allein für sich kämpfen, sondern alle miteinander, gegen die Römer, wenn es sein muss!« Die Nennung eines möglichen gemeinsamen Feindes erhielt offene Zustimmung aus rauen Kehlen, die Krieger schlugen ihre Waffen gegeneinander, feuerten Arminius an, das Eis war gebrochen. »Wenn Varus tatsächlich unsere Freundschaft ausnutzen will, dann müssen wir die Römer mit ihren eigenen Mitteln schlagen! Wie die Nachrichten zeigen, müssen wir auf der Hut sein. Keiner von uns wird den Römern erlauben wollen, über uns Gericht zu halten, unser Vieh wegzutreiben und über uns zu herrschen, wir entscheiden unsere Angelegenheiten immer noch selbst. Doch täuschen wir uns nicht! Wenn wir Rom entgegentreten wollen, müssen wir einig sein und dem Feinde unsere Kraft beweisen! Zu oft habe ich erlebt,
wie Uneinigkeit der Feinde Roms zu deren eigenem Untergang führte. Nur zusammen haben wir eine Chance! Oder wollt ihr zusehen, wie weiterhin römische Siedlungen in unserem Gebiet entstehen? Wir Cherusker, die wir Freunde des römischen Volkes genannt werden, wollen wir uns von unseren angeblichen Freunden ausplündern lassen, oder wollen wir diesen Söldnern Einhalt gebieten?« Diese direkte Frage an die Thingversammlung löste heftige Bewegung aus. Wie der redete. So hatte noch niemand mit ihnen geredet. Die Alten steckten die Köpfe zusammen und tuschelten, Inguiomer stand unschlüssig da. Die Krieger sahen ihn abwartend an, andere besprachen sich untereinander. Die Anführer der verbündeten Stämme, der Marserfürst Mallovendus, die Chattenherzöge Catumer, Adgandester und Ucromer nutzten die Pause, um sich mit Inguiomer zu besprechen. Alle wussten längst, dass es jetzt darum ging, einen neuen Anführer zu wählen, aber das war in erster Linie Sache der Cherusker, die verbündeten Stämme wollten handfeste Maßnahmen gegen die Römer. Arminius versuchte, sich wieder Gehör zu verschaffen: »Ich werde der Thingversammlung meinen Plan entwickeln. Ich kenne die Römer und kenne Varus, diesen vertrauensseligen Säufer und Schlemmer!« Ansgar stutzte. Gerade Arminius hatte immer das besondere Vertrauen des Varus besessen, und oft hatten sie mit ihm gegessen und getrunken. Er wusste, dass Arminius den römischen Statthalter besser kannte und hier bewusst ein einseitiges Bild von ihm entwarf. Ansgar und Arminius wussten beide, dass Varus ein Mann mit hohen Auszeichnungen war, der wie kaum ein Zweiter die gewaltige Heeresmaschine Roms in Gang bringen konnte. Alle im Heer kannten seine Erfolge in Syrien und in Afrika. Natürlich gab es verschiedene Meinungen über ihn, einige hielten ihn, wie
Arminius gesagt hatte, für einen Säufer und Schlemmer, einen römischen Lebemann, der seine hohe Stellung nur der Verwandtschaft mit dem Kaiserhaus verdankte, andere nannten ihn tyrannisch und herrschsüchtig, wieder andere glaubten, er sei gutmütig und gerecht. Ansgar durchschaute längst, was Arminius wollte. Varus und seine Legionen mussten herabgesetzt werden, den Germanen musste leichte und reiche Beute in Aussicht gestellt werden. Arminius erläuterte seinen Plan. Lange und reiflich habe er alles bedacht. Nach seinen Überlegungen sollten die Marser einen Aufstand gegen Varus vortäuschen, um ihn anzulocken. Varus würde wie gewöhnlich auch in diesem Jahr die Kastelle am Rhein verlassen und Sommerlager in ihrem Gebiet beziehen, er selbst wolle Verbindung zu Varus halten und ihm seine Dienste anbieten, damit seine Führer Varus notfalls genau dahin führen könnten, wohin man ihn haben wollte. Unruhe entstand bei den Marsern, Mallovendus war verblüfft, wie man über seinen Stamm bestimmte. Alles müsse gründlicher beraten werden, Segestes müsse wieder teilnehmen. Die Unruhe breitete sich aus. Viele Einwände wurden laut. Zu viel war geredet worden. Inguiomer hob die Hand und gebot Schweigen, er schnäuzte seine Nase mit den Fingern, strich über sein ergrauendes Blondhaar und blickte den Neffen zum ersten Mal seit dessen Ankunft offen an: »Sohn meines Bruders Segimer, wir haben deinen Plan gehört. Zwar sind viele von uns gereifter an Jahren, aber wir wollen uns deine Erfahrungen bei den Römern zunutze machen. Wir verpflichten hiermit alle verbündeten Krieger zu unbedingter Gefolgschaft und Treue, wenn es zum Kampf gegen Rom kommt.«
Arminius durchschaute das Spiel seines Onkels – so leicht ließ sich Inguiomer nicht an die Seite drängen, der behauptete wie ein Felsblock seinen Platz in der Führung des Stammes. Er schaute dem Oheim fest in die Augen und sagte: »Ich danke dir für deine Worte, aber nennt mich von jetzt ab Arminius, denn unter diesem Römernamen muss ich auftreten, um keinen Verdacht zu erregen. Kein römerfeindliches Wort darf über unsere Lippen kommen, wir dürfen den Römern nicht den kleinsten Hinweis auf unsere Absichten geben – und wehe dem, der zum Verräter wird!« Unterdessen war die Dämmerung hereingebrochen. Wind war aufgekommen, das Rauschen in den Eichen Donars nahmen die Germanen als Zustimmung Wodans. Sie ergriffen ihre Waffen, holten die Pferde. Das Thing war beendet. Tagadinc, das Thing bei Tage, so wie es ihre Vorfahren immer gehalten hatten. Die Krieger standen in Gruppen zusammen; die nicht zu Wort gekommen waren, redeten jetzt. Viele Eindrücke mussten verarbeitet werden. Wer hatte recht? Warum hatte Segestes die Versammlung verlassen? Konnte man dem Arminius vertrauen?
X.
Ameisenhaufen. Ich kann das Bild nicht abschütteln. Überall Ameisen. Gut organisierte Staaten und Kolonien legen sie an. Männchen, Weibchen, Arbeiter, Soldaten. Nestbau ist ihre Aufgabe, Futtersuche, Bewegung, Bewegung, Transport. Kribbel-Krabbel, organisiertes Chaos. Gänge legen sie an, ihre Nester sind beständig. Gemischtkostfresser, Fleischfresser. Fleiß, Ausdauer, Reichtum. Symbol des Fleißes und des Reichtums auf römischen Münzen neben der Ceres. Römische Ameisen. Legionäre im Jahre 9 der Zeitrechnung. Vor fast 2000 Jahren. Formicae Romanae – römische Ameisen. Bunte und gepanzerte Ameisen in Germanien. Spätsommer, die ersten Blätter färben sich. Die römischen Legionäre befinden sich im Cheruskerland, in der Nähe der Porta Westfalica. Ich streite nicht. Tacitus schreibt »Haud procul Teutoburgiensis Saltus«, nicht fern vom Teutoburger Wald, und der hieß damals Osning, und es gibt wenigstens hundert Theorien, Theorien pfundweise, eine überbietet die andere. Gefunden hat das Lager aber noch keiner. Na also! Irgendwo wirds schon sein. Wo ist ein Heinrich Schliemann mit den Annalen des Tacitus, der sich mit Buch und Spaten in der Hand auf Wanderschaft durch den Teutoburger Wald begibt? Haud procul… was heißt das schon? Quelle oder nicht Quelle, das ist hier die Frage. Stellen wir uns die Legionäre vor, diesen riesigen Ameisenhaufen.
Der Tagesmarsch ist beendet. Der Tribun hat die weiße Fahne in den Boden gesteckt, hier haben die Soldaten das Zelt ihres Feldherrn, das Praetorium, zu errichten. Rote Fahnen markieren die Plätze für Offiziere und Legionäre. Die Groma, das Vermessungsinstrument, wird aufgestellt, mit Speeren werden die Hauptstraßen abgesteckt. Das Lager war gut ausgesucht. Es lag an einem abfallenden Hang mit einem Bergbach. Holz zum Schanzen sowie Grünfutter für die Pferde und Maultiere waren vorhanden. Ohne Murren gehen die Soldaten an die Arbeit. Genau nach Plan wird gegraben und gebuddelt, Erde wird von außen nach innen geworfen – Wall und Graben entstehen gleichzeitig. Im Wald fällen Spezialeinheiten der Pioniere junge Fichten, die als Schanzpfähle auf dem Wall eingelassen werden sollen. Innerhalb von Stunden emsiger Arbeit wird das römische Lager gebildet – ein Rechteck mit zwei sich kreuzenden Wegen, ein Rom im Kleinen. Erstaunlich zu sehen, wie aus dem Nichts die Längsstraße, via praetoria, und die Querstraße, via principalis, entstehen, oder an genau bezeichneter Stelle die Tore, porta praetoria vorn und porta decumana hinten. Das Ordnungsschema setzt sich auch im Kleinen durch, es entstehen Gassen zwischen den Unterkünften, rechtwinklig und geradlinig. Das Feldherrnzelt ist bereits aufgebaut, Varus in seiner prächtigen, purpurnen Feldherrntoga rückt mit seinen Offizieren an. Der Altar wird aufgebaut, die Feldzeichen werden um ihn herumgestellt. Da, wo sich die via praetoria verbreitert, wird ein Antreteplatz für die Legionen abgesteckt. Das Lager ist noch nicht fertig, da teilt Ceionius bereits Tageswachen ein. Auf die Feldwachen im Vorgelände verzichtet er auf Anordnung des Varus, weil die Cherusker in die Freundschaft des römischen Volkes aufgenommen worden
waren und man keine feindlichen Handlungen zu erwarten hatte. Überall wird fleißig gearbeitet. Die Legionäre haben ihre Helme und Panzer abgelegt, um sich freier bewegen zu können. Die rechteckigen Schilde haben sie ordentlich zusammengesetzt, Schwert und Speer hat jedoch jeder in seiner Nähe, denn von den Waffen trennen sich die Soldaten niemals. Die Centurionen, erkennbar an ihren Rebstöckchen und den querstehenden Helmbüschen, überwachen die Arbeit ihrer Kohorten. Mit Hacke, Schanzwerkzeug und Rasenstecher lösen die Legionäre die Erde, andere schleppen sie in Körben auf den Wall. Vivere est militare, Leben heißt Militärdienst! Inzwischen versammeln sich alle Offiziere beim Feldherrnzelt. Unter den jungen Tribunen ist auch Rufus, mit schmalem Purpurstreifen an seiner Toga, direkt neben ihm steht der tribunus laticlavius, ein Stabsoffizier, mit breitem Purpurstreifen als Zeichen seines Ranges. Als das Signal zum Appell geblasen wird, sind die Schanzarbeiten beendet. Die Ameisen sind fleißig gewesen, fast unglaublich, was sie mit vereinten Kräften in der kurzen Zeit geschafft haben. Unter der strengen Aufsicht der Centurionen müssen sie jetzt ihr Schanzwerkzeug wegpacken, ihre Panzer anlegen, den Helm aufsetzen, die Waffen überprüfen, bevor sie, Einheit für Einheit, zum Antreteplatz abrücken.
Community, Identity, Stability! Vielen Dank, Herr Huxley, das wollte ich auch gerade sagen. Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit! Römisches Bokanowsky verfahren∗. Pftz, klick! ∗
Fabrikationsanlagen für einheitliche Nutzmenschen (Huxley, Brave New
Hastaten, Principes, Triarier∗, Soldaten, Soldaten, Soldaten. Drei Legionen sind es, die sich jetzt auf der via praetoria des riesigen Lagers versammeln, etwa 18000 bis 20000 Mann, nicht mitgerechnet Frauen, Kinder sowie persönliche Bedienstete der Offiziere und Marketender. Die Offiziere sorgen für Ruhe und Ordnung, die Centurionen achten darauf, dass alle Soldaten in Reih und Glied antreten. Jede Legion für sich, die Adlerträger und Feldzeichenträger vorn. Die Offiziere stehen vor der Front und warten, nur unterdrücktes Gemurmel ist zu hören. Schlagartig verstummt auch das, als Publius Quinctilius Varus, Feldherr, Oberbefehlshaber und Statthalter, sichtbar wird. »Achtung!« Tausende von Arschbacken straffen sich, kein Laut ist mehr zu hören. Die Unterfeldherrn melden das vollzählige Antreten der Legionen.
Prächtig, prächtig, dieser Varus Brustpanzer und Federbuschhelm.
mit
Feldherrntoga,
Gemächlich besteigt er das Podium und räuspert sich. Einige Offiziere reden mit ihm.
Ich stelle mir vor, es ist Kaiserwetter, sogar Kaisergeburtstag. Augustus war am 23.9.63 vor der Zeitrechnung geboren.
World). ∗ Rangbezeichnung der einfachen Soldaten.
Warum also nicht! Varus in Kaiserlaune. Vollmundige Ansprache:
»LEGIONÄRE! Wir haben heute die Ehre, den Geburtstag unseres erhabenen Caesar Augustus, unseres Pontifex Maximus, des Sohnes des göttlichen Caesars, feiern zu dürfen. Es ist der Wille unseres göttlichen Princeps, unseres divi filius, dass sein Geburtstag auch in allen Provinzen gefeiert werde. Nach Beendigung der Lagerarbeiten und Einteilung der Nachtwachen wird mit dem Ausschenken von Sonderrationen Wein begonnen werden. Wir befehlen, dass diese Feier in würdigem Rahmen abläuft, die Offiziere haben dafür zu sorgen, dass der Wachdienst reibungslos klappt! Wir erwarten für morgen zum Gerichtstag eine Abordnung der Fürsten der befreundeten Cherusker. Wir haben beschlossen, dieses Lager weiter auszubauen und einen Teil des Trosses und die marschunfähigen Legionäre hier zurückzulassen!« Varus hatte seine Ansprache beendet. Er übergab dem Unterfeldherrn Lucius Eggius das Kommando, der die Legionen wegtreten ließ. Ein freudiges Gemurmel aus vielen tausend Kehlen erhob sich beim Wegtreten in der Vorfreude auf den zu erwartenden Wein. In Eile wurden die nötigen Arbeiten vollendet: Latrinen angelegt, Wasserstellen am Bach ausgebaut, Grünfutter für die Tiere zusammengetragen und die Mannschaftszelte aufgeschlagen. Brustwehren waren auf dem Wall errichtet worden, und das Lager bot einen sicheren, abgeschirmten Anblick. Kommandos zur Wacheinteilung wurden gegeben, Soldaten eilten mit ihren Täfelchen zum Praetorium, um die Parole in
Empfang zu nehmen, und die Centurionen prüften die geleisteten Arbeiten ihrer Männer, ehe sie zum Verpflegungsund Weinempfang abrücken durften. Die vier Tore waren mit je einer Kohorte besetzt, alle anderen Legionäre lagerten sich nach und nach vor ihren Zelten, tranken Wein, sangen und waren lustig. Nichts ahnten sie davon, dass ihr Feldherr Varus auf die Finte des Arminius hereingefallen war und den Aufstand der Marser für bare Münze genommen hatte. Oft hatte Arminius den Feldherrn im Lager besucht, und das Verhältnis zwischen Germanen und Römern schien in bester Ordnung zu sein. Kein Römer maß diesem Aufstand der Marser besondere Bedeutung bei, sie waren sich des Beistands der Verbündeten gewiss. Wer würde es schon wagen, ein Drei-Legionen-Heer anzugreifen! Die Nacht verlief ruhig. Manchmal wieherte ein Pferd oder ein Maultier schrie, sonst war nichts zu hören. Aus dem Feldherrnzelt hörten nur die in der Nähe campierenden Soldaten den hellen Klang der Becher und Pokale – die Offiziere feierten den Geburtstag des Kaisers. Laut dröhnte zuweilen das Lachen des Statthalters, auch im Lager ließ es sich offenbar gut leben.
XI.
Wäre ich ein Landschaftsmaler, würde ich Ihnen ein Bild eines germanischen Hains malen, würde mit heroischen Farben Größe und Erhabenheit ausdrückende, jahrhundertealte Eichen darstellen. Wäre ich ein Musiker, würde ich mich vom Rauschen der Donareichen inspirieren lassen, aber ohne in Wagnersche Musik auszuarten, mit viel Bombast und Pathos in den Tönen. Da ich aber beides nicht bin, muss ich mit Wörtern vorliebnehmen. Vorsicht vor Wörtern! Aus Wörtern werden Worte, die sich abnutzen im Laufe der Jahrhunderte. Heute einen heiligen Hain beschreiben! Wortketten aneinander reihen. Wohin führen die Wörter? Naturbeschreibung gerät leicht zur Idylle, Klischees werden vermittelt. Können wir uns heute noch einen urwüchsigen Hain vorstellen, angesichts einer total veränderten Umwelt? Ohne Straße, die unmittelbar vorbeiführt, ohne Autos und Düsenlärm, ohne Spaziergänger, ohne Abfall? Dafür aber mit Tieren wie Wolf und Luchs, die heute allenfalls im Zoo verzweifelte Streifgänge am Zaun längs unternehmen. Stellen Sie sich also einen Eichenwald vor, Mischwald, wie wir heute so profan sagen, von ordinären Fichten ganz zu schweigen. Vorsicht vor Bildern des neunzehnten Jahrhunderts! Ich denke an schaurig-grandiose Szenen mit Eiche, Ross, Priester, in der Mitte der Held mit Adlerschwingen am Helm. Sind das noch Germanen oder schon Preußen? Meine Germanen sind eine Nummer kleiner: Ackerbauern, Viehhalter, Krieger, urige, urwüchsige Gesellen.
Sie trafen sich im heiligen Hain der Cherusker. Unter ihnen waren die Anführer der verbündeten Stämme. Späher hatten den Lagerbau der Römer genau beobachtet, neue Gerüchte und Meldungen waren eingetroffen. Sogar Vieh sollte für die Truppenverpflegung der Römer beschlagnahmt worden sein. Die germanischen Bauern waren in Unruhe, sie wollten keine neuen Herren, denen sie Abgaben leisten mussten. Arminius stand jetzt schon wie selbstverständlich im Mittelpunkt der Versammlung neben Segestes und Inguiomer. Zuerst hatten die Priester das Wort. Ein fehlerfreier Hengst wurde geschlachtet und auf dem Altar Wodan dargebracht. Während des Opfers hob der älteste Priester mit langen weißen Haaren und weißem Umhang die Hände, um zu Wodan zu sprechen: »O Wodan, du Beherrscher von Asgard und Midgard, du Vater der Götter, erleuchte die Sinne unserer Fürsten und lass sie die richtigen Wege beschreiten. Bei den Hunden Freki und Geri, bei den Raben Hugin und Munin, die alles sehen, schwören wir, dass wir uns deinem Willen beugen werden, wenn du es für richtig hältst, gegen die römischen Eindringlinge vorzugehen. Wenn der Beschluss einmal gefasst ist, mögen deine Kraft und Donars Blitze jeden treffen, der sich diesem widersetzt.« Nach diesen feierlichen Worten wurde ein Kalbsfell herbeigebracht, und eine alte, blinde Seherin wurde in den Kreis der Priester geführt, die ihr Runenstäbchen reichten. Die Alte murmelte unverständliche Worte und warf die Stäbchen auf das Fell. Die Männer beobachteten gebannt den Oberpriester, der unverwandt auf die Buchenstäbchen starrte. Er nahm drei einzeln auf, richtete sich auf, hob beide Arme zum Himmel und sprach den alten Spruch der Väter:
»Runen sollst du lernen und rätliche Stäbe Stäbe gar stark Zeichen zauberkräftig, wie sie zog der Zauberherr wie sie wirkten Weihegötter wie sie ritzte der Ratefürst.« Er verharrte eine Weile tief in Gedanken versunken, ehe er sich zu den Versammelten umdrehte: »Die Zeichen stehen günstig, mögest du, Wodan, uns deine Gunst leihen für die Kämpfe zum Ruhme unseres Volkes und für jeden, der in diesen Kämpfen fallen wird, einen ehrenvollen Platz in Walhall bereithalten.« Zu den Cheruskerfürsten gewandt, sprach er: »Die Götter haben gesprochen, nun haben die Menschen das Wort!« Inguiomer ergriff sogleich das Wort und berichtete vom Viehabtrieb auf seinem Gebiet. Der Zorn war ihm deutlich anzusehen, die Römer sollten es nicht wagen, sie wie Sklaven zu behandeln, noch seien sie Rom nicht tributpflichtig! Segestes fiel beschwichtigend ein, sie seien schließlich mit den Römern befreundet, ein paar Kühe und Stiere könne man den Römern schon überlassen! Doch da meldeten sich die Marser zu Wort. Mallovendus war aufgebracht, es müsse endlich etwas geschehen! Schon die letzte Thingversammlung habe keine Ergebnisse gebracht, Arminius habe immerhin einen Plan vorgeschlagen, man solle Arminius sprechen lassen! Wieder gingen Staunen, Zustimmung und Gemurmel wie bei der Thingversammlung durch die Menge. »Römerfreund«, »dein Bruder Flavus, ein Römer«, hieß es. Arminius trat vor. Noch immer gab es Misstrauen gegen ihn, das war ihm völlig klar. Er musste sich bemühen, dieses
Misstrauen so schnell wie möglich zu entkräften, musste das Schlagwort von der Freiheit gebrauchen, bewusst schwarzweiß malen, damit die Germanen ihn verstehen konnten. Er begann langsam und stockend: »Wenn mir hier vorgeworfen wird, ich sei ein Freund der Römer, dann müsste auch mein Vater ein Freund der Römer gewesen sein! Er hat aber nur ein Bündnis mit ihnen zu unserem Vorteil ausgenutzt! Ihr glaubt, weil ich Anführer einer Hilfstruppe der Römer war, hätte ich unser Volk vergessen. Deshalb begegnet ihr mir überall mit Misstrauen, ja sogar mit Feindseligkeit! Was glaubt ihr, warum mein Vater und ich schon früher oft zu Gast im Lager der Römer waren? Wir müssen den Gegner kennen, wenn wir ihn besiegen wollen!« Er blickte die Männer an und sah brummige Gesichter, aufgestützt und in nachdenkliche Falten gelegt. Unsicher sahen sie einander an. »Ich kenne die Römer und ihre Taktik, und ich sage euch, dieses ist unsere Chance, jetzt und unter diesem Feldherrn die Römer anzugreifen!« Die Marser schlugen Beifall mit den Waffen. »Oft genug habe ich am Tisch des Varus gesessen und seine Ansichten genossen! Wer mich immer noch für einen Freund der Römer hält, der soll weiter hören. Es ist kein Geheimnis, dass Varus auch bei unseren Nachbarn allgemein verhasst ist. Er hat seine Amtsgewalt missbraucht und ein strenges Richteramt ausgeübt, das ihm nicht zusteht!« Arminius steigerte seine Stimme: »Wir lassen uns von ihm keine Vorschriften machen und schon gar keinen Tribut abverlangen, wir sind ein freies Volk!« Fast überall wurde zustimmend genickt und gemurmelt. Nur die Gefolgschaft um seinen Onkel Inguiomer blickte finster wie dieser selbst. Segestes verzog keine Miene. »Weiter, weiter!«, feuerten die Marser Arminius an.
»Was glaubt ihr, warum wir Varus gebeten haben, Truppen abzustellen zur Sicherung der Verpflegungsbeschaffung, warum in einigen Gauen römische Soldaten zum angeblichen Beweis ihrer Freundschaft zu uns stehen? Das alles dient doch nur dazu, den Feind zu schwächen, dazu brauchte ich nicht die Römer als Lehrmeister! Wenn es zum Aufstand kommt, sind diese Söldner die Ersten, die von unserer Hand fallen werden!« Das hatte gezündet. Wachsende Begeisterung war den Männern von den Gesichtern abzulesen. Arminius nutzte die Gelegenheit, um die Krieger zu verpflichten: »Wer für meinen Plan ist, soll durch Zustimmung bekräftigen, nicht unehrenhaft von der Walstatt zu weichen, um in Ehren in Walhall einziehen zu können! Die Römer führen einen ungeheuren Tross mit sich, ich verspreche jedem Krieger reiche Beute, für die Tapfersten ein Pferd!« Inguiomer und Segestes waren überrumpelt. Der ging ja ganz schön ran! Was glaubte der denn eigentlich, wer hier zu bestimmen hatte? Doch die Zustimmung für Arminius wuchs. Die Marser, die sich gegen Varus erheben sollten, waren einverstanden, sie schlugen Waffen und Schilde zusammen, lärmten und wurden so unruhig, dass die Anführer beschlossen, die Krieger zu entlassen, um Einzelheiten des Plans besprechen zu können. Inguiomer und Segestes waren ärgerlich und verstimmt, der Marserfürst Mallovendus trat auf Arminius zu und bekräftigte seine Zustimmung, Wolfhart und Segimund standen hinter Arminius. Der Chattenfürst Adgandester hielt sich noch zurück und schaute auf Segestes und Inguiomer. Doch alle Anführer und Herzöge waren nah genug, dass sie Arminius’ klare Stimme hören konnten, als er seinen Plan erklärte. Vor Eifer glühten seine Augen. Ansgar, der ihn schweigend beobachtet hatte, stellte die totale Veränderung des Gefährten fest.
Arminius war wie besessen von seiner Aufgabe. Dieser Stimme konnte sich keiner entziehen: »Varus führt einen schwer beweglichen Tross mit sich, dazu Weiber, Kinder und allerlei Gesindel. Wir müssen ihm einreden, dass er mit dem gesamten Tross durch unser Gebiet in das Gebiet der Marser zieht, die, wie verabredet, sich zum Schein gegen die Römer erheben werden. Die Kunde vom Aufstand der Marser habe ich dem Varus bereits hinterbracht. Er hielt die Angelegenheit zunächst für so unwichtig, dass er die Marschrichtung ins Winterlager nicht mehr ändern wollte, aber ich werde noch mal mit ihm sprechen. Doch wehe dem, der zum Verräter wird!« Dabei blickte er wie zufällig dem Segestes in die Augen und dann zu Ansgar, bei dem er einen spöttischen Zug zu entdecken glaubte. Ansgar dachte an den Eid, den sie bei den Römern geschworen hatten, wie leicht schien es für Arminius zu sein, die Fronten zu wechseln. War das noch sein Freund und Kampfgefährte, der da sprach? »Wir sind im Vorteil, denn wir kennen das Gelände. Es ist mein Plan, dass wir die Römer am ersten Marschtag angreifen und sie so zermürben, dass wir sie, wenn sie durch die Schlucht zu den Marsern müssen, vernichtend schlagen können. Ich habe aus diesem Grunde dem Varus Führer zur Verfügung gestellt, die von mir persönlich ausgesucht und mir alle treu ergeben sind.« Segestes wurde unruhig. Der tat ja gerade so, als sei er ihrer aller Herzog! Er richtete sich zur vollen Höhe auf und wandte sich an die Herzöge und Anführer, ohne Arminius anzusehen: »Segimers Sohn hat in seinem jugendlichen Eifer nicht bedacht, dass die Römer nicht nur aus drei Legionen bestehen und nicht nur Feldherren von der Art des Varus haben! Wir müssen bedenken, dass, wenn wir die Römer nicht besiegen können oder auch wenn wir sie schlagen könnten bei diesem
Überfall, andere Legionen kommen werden und uns vernichten! Keiner wird mir Feigheit vorwerfen wollen, aber es ist völlig ungewiss, ob wir gegen diese drei Legionen eine Chance haben. Arm… Arminius weiß so gut wie ich, dass es gut ausgesuchte Truppen sind, Elitetruppen, wie die Römer sagen! Noch sind die Römer Herren des Weltreiches, nur mit ihnen zusammen sind wir stark! Ich werde mich dem Kampf nicht entziehen, gebe aber noch zu bedenken – was geschieht, wenn Marbod, der Markomanne, unsere Schwächung ausnutzt und über uns herfällt oder gar den Römern beisteht?« Herausfordernd blickte Segestes sich im Kreise um, schaute wieder auf Segimund, auch auf Arminius, raffte seinen Umhang und verließ wieder die Versammlung. Die Spannung wuchs, fast schien es, als wollten auch Inguiomer und Adgandester gehen. Mallovendus trat vor sie und sprach sich leidenschaftlich für Arminius’ Plan aus, so dass Inguiomer brummend seine Zustimmung gab und knurrte, ob man ihn etwa für einen Feigling halte, er werde mit seinen Leuten dabei sein. Arminius zog sein Schwert und hielt es ausgestreckt vor sich hin und blickte sich nach den Priestern um, die jetzt in den Kreis der Verschwörer kamen. Mit fester Stimme sagte er: »Wir wollen diesen Plan unter uns noch einmal durch einen Schwur besiegeln. Nicht eher wollen wir ruhen, als bis unser Land wieder frei ist von der römischen Herrschaft, und jeder, der zum Verräter an dieser Sache wird, den mögen Blitz und Hammerschlag Donars treffen, und der Eingang zu Walhall möge ihm auf ewig verwehrt sein!« Die Priester umsteckten einen Kreis mit Haselzweigen und riefen die Götter als Zeugen an. Die Männer schlugen ihre Waffen zusammen, verfluchten ihre Waffen für den Fall des Eidbruches, berührten ihr Gewand und schworen bei Bart und Haar, Hand und Brust, nicht eher von der Walstatt zu weichen, bis der römische Feind geschlagen war.
Ansgar, der sich an der Eidleistung mit gemischten Gefühlen beteiligt hatte, vermied es, Arminius anzusehen. Vieles war noch zu besprechen. Die Kampfverbände waren zu postieren, jeder hatte seinen Platz genau zu kennen, alle sollten auf ein verabredetes Zeichen warten, unbedingte Gefolgschaft musste den Kriegern eingeschärft werden. Wolfhart wurde mit Kurierdiensten beauftragt, er sollte Verbindung zu den einzelnen Herzögen halten. Deutlich sah Ansgar ein triumphierendes Lächeln auf Arminius’ Gesicht, als sie den Hain verließen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.
XII.
In aller Frühe begann der Ausmarsch der römischen Legionen, während vor dem Feldherrnzelt die Gerichtsverhandlung vorbereitet wurde. Zunächst verließ die Reiterei mit den germanischen Führern als Vorhut das Lager. Lucius Eggius hatte das Kommando des Abmarsches übernommen. Die Offiziere überwachten zu Pferde das ordnungsgemäße Antreten der einzelnen Verbände und Einheiten. Varus hatte sich doch nicht entschließen können, den unnötigen Tross und vor allem die Frauen und Kinder im Lager zurückzulassen. Nur einige Kohorten blieben zurück, um es weiter auszubauen. Die Legionäre bauten Baracken aus Holz und deckten sie mit Stroh. Sie stampften die Wege fest und legten vor den Wasserstellen Knüppelroste an. Stallungen wurden errichtet und Weideplätze für die Tiere eingezäunt. An dem hinteren Tor, der porta decumana, erhielten der Quästor∗, der Zahlmeister und die Schreiber ihre Unterkünfte. Es gab viel Arbeit im Lager, und jeder, der die Arbeiten beobachtete, musste denken, dass Varus das Lager ausbauen ließ, um hierher zurückkehren zu können. Stundenlang dauerte der Ausmarsch der Legionen, die sich wie ein kilometerlanger Strom durch die porta praetoria ergossen. Die Armee marschierte in Kolonnen zu sechs Mann nebeneinander, fast identische Wesen, ohne Tritt, Marsch! Vor den verschiedenen Abteilungen gingen die Feldzeichenträger und die Bläser. Zwischen den Kolonnen kamen Pferde, Wagen und Maultiere, die mit dem Gepäck der Offiziere bepackt ∗
Verwalter der Kasse, eigentlich Untersuchungsbeamter.
waren. Der gemeine Soldat hatte seine Waffen zu tragen und das Marschgepäck, per aspera ad astra∗, sagten die Offiziere in bestem Latein, verarschen können wir uns selbst, sagten die Legionäre, ebenfalls auf Latein. Sie fassten ihre Tragstange mit Schanzgerät, Koch- und Trinkgeschirr und der eisernen Ration von zwei Kilo Zwieback fester und marschierten weiter. »Omnia mea mecum porto« pflegten sie zu sagen, alles was ich habe, schleppe ich mit mir rum. »Mulus Marianus«, sagten andere, Marianischer Maulesel, und sie verfluchten heimlich den Konsul Marius, der ihnen diese Bepackung durch seine Heeresreform eingebrockt hatte. Alles in allem wirkte der Aufbruch der Römer sehr schwerfällig, und Arminius hatte seine Späher überall, die ihm meldeten, wann die Vorhut aufgebrochen war und wie lange es noch dauern würde, bis auch die Nachhut das Lager verlassen haben würde. Beim Feldherrnzelt war inzwischen der Richtersessel für den Statthalter aufgestellt worden, und zwei Plätze wurden abgesteckt, auf denen sich die streitenden Parteien aufstellen mussten. Es ging um fünfzehn Rinder, über die sich Angehörige einer cheruskischen und einer umherstreifenden suebischen Sippe nicht einigen konnten, jede behauptete, die Tiere seien ihr Eigentum. Die beiden Gruppen nahmen auf den ihnen zugewiesenen Plätzen Aufstellung und beschimpften sich gegenseitig. Die Kühe, die die Römer zwischen ihnen angebunden hatten, rupften friedlich an dem Gras, das sie fanden. Der Wortführer der Cherusker-Partei war ein hünenhafter Mann mit fuchsrotem Bart, der wild die Fäuste schüttelte und den Sueben drohte.
∗
durch Raues (gemeint sind strenge Zucht und Disziplin) zu den Sternen
Zwei Liktoren∗ geleiteten Varus zu seinem Richterstuhl. Würdevoll nahm der oberste Richter und Statthalter Platz. Die Germanen beobachteten ihn wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Im Gefolge des Varus waren Ceionius, Rufus und ein Dolmetscher, die sich neben den Richterstuhl stellten. Das Gericht wurde eröffnet. Der rotbärtige Bauer brachte wild gestikulierend seine Anschuldigungen vor, so dass der Dolmetscher alle Mühe hatte, so schnell zu übersetzen. Immer wieder wies der Cherusker auf die Kühe und sagte, die gehörten seiner Sippe, die Sueben hätten sie gestohlen. Varus lächelte milde. Formelhaft kam ihm der Spruch »Audiatur et altera pars« über die Lippen, die andere Partei sollte auch gehört werden, keine Zwischenfragen, keine Rückfragen. Die suebische Gegenpartei kam zu Wort. Ihr Wortführer, der nach Art seines Stammes sein Haar zu einem fein geschlungenen Knoten über dem rechten Ohr gebunden trug, behauptete genau das Gegenteil. Als der Dolmetscher übersetzte, lachte Varus laut heraus, und die herumstehenden Offiziere fielen in dieses Lachen ein. Dann steckten die Römer kurz die Köpfe zusammen, das Gesicht des Statthalters zeigte während der ganzen Zeit der kurzen Beratung ein schelmisches Lächeln. Die Offiziere traten wieder beiseite, und der oberste Gerichtsherr hob gebieterisch die Hand und verkündete das Urteil: »Da sich die streitenden Parteien nicht einigen können, müssen wir annehmen, die Kühe gehören keiner von beiden! Die Tiere werden für die Truppenverpflegung beschlagnahmt. Ich nehme sie als Zeichen der Gastfreundschaft von den ∗
Vollstreckungsbeamte, die zum Zeichen ihres Amtes ein Rutenbündel mit Beil trugen.
Cheruskern und auch von den Sueben. Beiden Parteien spreche ich meinen Dank aus. Die Gerichtssitzung ist hiermit geschlossen, die Rechtsparteien sind entlassen!« Die Germanen hatten verständnislos den Worten in lateinischer Sprache zugehört. Als aber der Dolmetscher jetzt das Urteil übersetzte, erhob sich ein Unmutsgeschrei, und der rote Cherusker wagte es sogar, dem Feldherrn zu drohen, doch der hatte ihm schon den Rücken gekehrt. Soldaten eilten auf den Wink der Offiziere herbei, führten die Kühe weg und drängten die jetzt vereinten Germanen zum Tor hinaus. Am Tor kam es zu einem Handgemenge, und die bewaffneten Römer schlugen erbarmungslos auf die unbewaffneten Bauern ein. Ein Offizier kam und flüsterte lange mit Ceionius, der ihm aufmerksam und mit überraschtem Gesicht zuhörte. Der Offizier salutierte und zog sich zurück. Ceionius eilte sofort zu Varus, der mit Rufus in ein Gespräch über Rechtsfragen vertieft war. Er sonnte sich offenbar noch in seinem »Erfolg« und hörte nur mit halbem Ohr hin, als Ceionius sagte: »Es gibt schlimme Nachrichten, Feldherr! Angeblich planen die Cherusker eine Verschwörung. Segestes ist unterwegs, er will dich warnen, dein Freund Arminius soll…« Gerade in dem Augenblick meldeten die Torwachen Segestes, der kurz darauf allein ins Lager kam. Varus ging mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu: »Willkommen, Segestes, Freund des römischen Volkes!« »Sei gegrüßt, Quinctilius Varus«, entgegnete Segestes. »Nun, was bringst du für neue Kunde?«, fragte der Statthalter. Segestes ging vertraulich nahe an Varus heran: »Arminius und Inguiomer sind Verräter, Feinde des römischen Volkes, legt allen Fesseln an, auch mir, ehe es zu spät ist, dann könnt
ihr untersuchen, ob meine Nachricht stimmt! Hütet euch vor Arminius!« Das Lachen des Feldherrn unterbrach den Verräter: »Arminius ist römischer Ritter! Ich habe ihn gern wie einen eigenen Sohn, Segestes, du wirst alt! Du selbst hast doch für die Freundschaft des cheruskischen Volkes gebürgt, zusammen mit Inguiomer und Segimerus! Woher kommen jetzt plötzlich die Zweifel?« Ein Bote der Torwache kam und meldete Arminius mit Gefolge, Segestes verschwand in aller Eile in Richtung auf das hintere Tor, um sich wie ein Dieb aus dem Staube zu machen. Nicht auszudenken, wenn er hier mit Arminius zusammengetroffen wäre.
Jeder ist auf seinen Vorteil bedacht, Arminius, Varus, Segestes, wie sie auch alle heißen. Arminius mit Gefolge. Erwarten Sie jetzt keine Schilderung eines strahlenden Helden hoch zu Ross von mir. Die Pferde der Germanen wie auch die der Römer waren wesentlich kleiner als die heutigen, sie hatten etwa die Größe von Ponys, im Laufe von nahezu 2000 fahren ist in der Pferdezucht allerhand unternommen worden, auf anderen Gebieten weniger.
Varus begrüßte Arminius zurückhaltend: »Was muss ich von Segestes hören, kann ich mich etwa nicht mehr auf die Freundschaft der Cherusker verlassen? Er beschuldigt dich des Verrats, Arminius!« Diese Nachricht machte, zumindest nach außen hin, keinen Eindruck auf Arminius. Kühl erwiderte er: »Solange ich Herzog der Cherusker bin, wird es keine Entscheidung gegen
meinen Willen geben! Es liegt an Euch, wem Ihr mehr vertraut, Segestes oder mir! Es ist unter meiner Würde als Freund der Römer, diesen Verdacht zu entkräften, doch hört eins, Feldherr: Aus sicherer Kunde wird bestätigt, dass Segestes sich mit Marbod, dem Markomannenfürst, verbündet hat!« Varus war ehrlich verblüfft und erstaunt: »Dieser alte Fuchs Segestes, wer hätte das gedacht! Und er versucht, dich bei mir anzuschwärzen!« Arminius redete schnell und geschäftsmäßig: »Meine Männer und die unserer Verbündeten, der Brukterer und Chatten, stehen bereit, wir werden im Laufe des Tages zu euch stoßen!« Varus schien seine Zweifel restlos verloren zu haben. Er umarmte Arminius und lobte seine Treue zum römischen Volk: »Nach Beendigung dieses Feldzuges habe ich dir und deinen Getreuen einen Sonderplatz in meinem Triumphzug in Rom zugedacht, jeder soll sehen, dass du Anteil an den Erfolgen hattest!« Arminius’ Gesicht blieb undurchdringlich. Er grüßte höflich, bestieg sein Pferd und verließ mit seiner Begleitung das römische Lager. Die Wachen am Tor nahmen Haltung an, als die Germanen vorbeikamen. Varus war bester Laune, er plauderte mit Rufus und Ceionius und meinte, es schade nichts, wenn die Germanen unter sich uneins seien, schon Caesar habe seine Vorteile daraus gezogen. Man müsse eine solche Sachlage nur geschickt auszunutzen verstehen. Bald darauf verließ auch der Feldherr mit der Nachhut das Lager, in dem nur vereinzelte Arbeitstrupps und die Torwachen zurückblieben.
XIII.
Kaum war das Römerlager außer Sicht, trieben Arminius und seine Begleiter ihre Pferde mit größter Hast. Als sie ihren Treffpunkt erreicht hatten, wurde Wolfhart sofort losgeschickt. Er hatte die schwierige Aufgabe, zu überprüfen, ob die Herzöge und Anführer auch wirklich die vereinbarten Plätze eingenommen hatten. Arminius brauchte ihm nicht extra einzuschärfen, dass er bei Segestes und Inguiomer besonders vorsichtig sein musste, wenn der ganze Plan nicht gefährdet werden sollte. Segestes durfte keinen Verdacht schöpfen, dass Varus seinen Verrat sofort an Arminius weitergegeben hatte. Wortlos machte sich Wolfhart auf den Weg. Arminius war unbeherrscht und erregt, er suchte offensichtlich das Gespräch mit Ansgar. Der schnelle Ritt hatte sein hitziges Temperament noch gesteigert. »Heute hast du es selbst gehört«, sagte er, »wie unverschämt die Römer werden! Wir sollen als freie Germanen den Triumphzug des Varus in Rom mitmachen! Wer garantiert uns denn, dass wir als freie Bundesgenossen und nicht als Besiegte angesehen werden? Wir sind unbesiegt, und niemals wird ein freier Germane einen römischen Triumphzug aus freiem Entschluss mitmachen! Wie blind bin ich gewesen all die Jahre! Varus ist in seiner Einfalt wirklich nicht zu überbieten! Wie ich es übrigens vorausgesehen habe, ist Segestes zum Verräter geworden, aber Varus glaubt nicht ihm, sondern mir! Segestes werden wir später zur Rechenschaft ziehen! Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun, aber Wodan möge ihn beschützen, wenn der Angriff fehlschlägt!«
Er erwartete keine Antwort von Ansgar, viel zu sehr war er von diesem tollkühnen und mörderischen Plan gefangen. Mit einem Ast zeichnete er für Ansgar eine Skizze auf den Waldboden und erklärte ihm genau die Stelle, die sie selbst mit den römisch geschulten Kriegern einnehmen wollten. Dann wurde Ansgar weggeschickt mit dem Befehl, das Zeichen zur Ermordung der römischen Besatzungssoldaten in den Gauen zu geben. Ansgar wollte offenbar noch etwas sagen, drehte sich aber wieder um, als er merkte, dass Arminius keine Ohren für ihn hatte, sondern weitere Befehle gab. Ein Trupp Krieger wurde losgeschickt, um die Versorgungszufuhren für das römische Heer abzufangen. Dann zog Arminius die Unterführer seiner eigenen Truppe zu sich heran und hämmerte ihnen ein: »Denkt daran, dass wir am ersten Tag des Überfalls nichts riskieren dürfen. Der erste Angriff soll nur dazu dienen, Verwirrung zu stiften und die römische Kolonne, wenn es geht, auseinanderzureißen. Wir müssen bedenken, dass die Römer in der Überzahl sind, aber unser Vorteil ist die völlige Ahnungslosigkeit der Legionäre, es muss sie treffen wie Donars Blitz aus heiterem Himmel! Wir haben keine Chance, wenn die Römer sich auf einer breiten Ebene zum Kampf formieren können. Unsere Taktik muss folgende sein: herausbrechen aus dem Wald, zustoßen, und, wenn sich schnell eine Übermacht formieren sollte, wieder zurück! Aber schlagt, haut und trefft gleich beim ersten Angriff, so gut ihr könnt!« Ein Bote näherte sich und berichtete über den jetzigen Standort der Legionen. Arminius hörte aufmerksam zu und zeigte dann auf seine in den Waldboden gezeichnete Skizze: »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte er, »jetzt muss jeder an seinem Platz seinen Mann stehen!«
Der Plan lief. Alles war vorbereitet, nun musste sich zeigen, ob dieser verwegene Plan Aussicht auf Erfolg hatte.
Erfolg? Ich denke über dieses Wort noch einmal nach. Was wir so alles Erfolg nennen! Etwas gelingt, etwas glückt! Wenn ich Arminius in dieser Situation hätte interviewen können, oder wenigstens danach! Sicher wusste er, worauf er sich da einlieft. Die Rache der Römer würde grausam sein, wenn der Plan misslang! Noch immer bin ich mir über seine Motive nicht vollends im Klaren. Historische Konstruktionen gibt es genug. Welche davon kommen der Wahrheit am nächsten? »Wahrheit!« Auch wieder so ein Begriff. Ehrgeiz spielte bestimmt eine Rolle. Mit einiger Gewissheit hat Arminius die Führungsrolle in seinem Stamm angestrebt. Gedanken lassen sich so schwer rekonstruieren. Aber ich erzähle meine Version weiter.
Arminius machte sich auf den Weg zu seinem eigenen Einsatzort. Noch unterwegs wurde ihm der erfolgreiche Anschlag auf die römischen Besatzungslegionäre gemeldet. Im nächsten Augenblick schon kam ein Bote von Ansgar und machte seine Meldung, dazu überreichte er Arminius ein römisches Wachstäfelchen, drehte sein Pferd und verschwand im Hochwald. Ärgerlich blickte Arminius auf das Täfelchen und las: »Trahit sua quemque voluptas, einen jeden reißt seine Leidenschaft hin!« Dieser Ansgar! Dieser verdammte Ansgar, wenn er ihn doch nur bei den Römern gelassen hätte. Sicher war Ansgar der Einzige, der ihn durchschaute. Zornig zerbrach er das Täfelchen und schleuderte die Teile nacheinander in hohem
Bogen von sich. Das Pferd bekam die heftige Bewegung zu spüren und wieherte laut auf. Schon kam die nächste Meldung und ließ Arminius keine Zeit zum Nachdenken – ein Verpflegungstross war abgefangen worden, die Begleitmannschaft hatte man ohne Schwierigkeiten überwältigt. Niemand war entkommen. Arminius dachte flüchtig an die Grausamkeiten, zu denen es kommen würde und von denen er seine Männer nicht zurückhalten konnte, zu sehr waren sie jetzt auf Kampf eingestellt. Was mochte nur Ansgar gemeint haben – voluptas∗? Der mit seinen verdammten Zitaten! Er trat seinem Pferd ärgerlich in die Flanken und stieß bald darauf zu seiner Abteilung, die unter Segimunds Kommando bereits auf dem Weg zu dem Ort des Überfalls war. Mit dieser Abteilung wollte er selbst den schwierigsten Teil des Unternehmens übernehmen, die Vernichtung der römischen Reiterei. Er kannte die Beweglichkeit der gut ausgebildeten Reiter, in vielen Gefechten hatte er ihre oft kampfentscheidende Taktik bewundern können. Späher stießen zu ihnen und berichteten, dass die Römer genau den vorgeschriebenen Weg nähmen und geradewegs auf die Schlucht zusteuerten, die Reiterei sei etwa noch eine Wegstunde entfernt. Arminius trieb seine Abteilung zur Eile an. Kaum merklich hatte es im Hochwald zu regnen begonnen. Auf und ab, über wurzeldurchzogene Hänge suchten die Germanen ihren Weg, allen voran Arminius, der sich immer wieder ungeduldig umdrehte, zu langsam kamen ihm die Krieger zu Fuß nach. Als sie die ausgewählte Stelle am Ausgang der Schlucht endlich erreicht hatten, überzeugte sich Arminius sofort von den Arbeiten des Vorkommandos, ∗
Wollust, Wortspiel mit voluntas, Wille.
während Segimund dafür sorgte, dass sich die Männer im Halbkreis um den Eingang des schmalen Tales sorgfältig im Gebüsch tarnten. Der Platz war für einen Überfall dieser Art hervorragend geeignet. Das Vorkommando hatte auf dem Talweg, kurz vor dem Ausgang, einen breiten Graben gezogen, der mit Gebüsch und losen Grassoden über Astwerk sorgfältig verdeckt war. Hohe Bäume zu beiden Seiten des Pfades hatten die Germanen so weit angesägt, dass sie jederzeit gestürzt werden konnten. Einige Krieger verbargen sich auf den benachbarten Bäumen, sie hielten lange Stricke in den Händen, die mit den angesägten Baumriesen verbunden waren. Arminius nickte zufrieden, vielleicht lächelte er grimmig, ich weiß es nicht. Gerade trafen Ansgar und Wolfhart mit ihren Hundertschaften ein und verteilten sich, wie besprochen, an beiden Hängen im dichten Hochwald. Unten im Tal regnete es jetzt heftiger, immer verschwommener wurde die Sicht durch das langgestreckte Tal des Waldgebirges. Die Germanen waren ungeduldig. Plötzlich warf ein Krieger fast lautlos aus einem der höchsten Bäume eine Frame nach unten. Sie blieb hin und her schwankend beinahe senkrecht im Boden stecken – das verabredete Zeichen, keiner durfte jetzt noch einen Laut von sich geben. Schwer, sehr schwer fiel das den ungeduldigen Germanen! Doch nichts war zu hören. Viele Augenpaare starrten auf den Talweg, starke, schwielige Hände umfassten Speer und Schild fester. Endlich! Die Vorhut der Römer kam in Sicht. Schon raschelte es im Gebüsch, mancher besonders ungestüme Krieger musste mit Gewalt zurückgehalten werden. Die römischen Reiter ritten in sorgloser Formation unter dem Kommando des Vala Numonius heran. Auf jedes Ausschwärmen und Erkunden des Geländes hatten sie offenbar
verzichtet, denn Arminius erkannte sofort, dass fast die gesamte Reiterei beisammen war. Sie hielten keine Ordnung ein, ritten in willkürlichen Trupps. Die Spitze der Reiterei schien den Germanen jetzt zum Greifen nahe! Würde Arminius seine Männer lange genug zurückhalten können, bis die ersten sorglosen Reiter den Graben erreicht hatten? Bewegte sich ein germanischer Krieger, durchbohrte ihn Arminius mit seinen Blicken, als wolle er die Männer hypnotisieren. Da – schon ritten die ersten Römer auf den sorgfältig verdeckten Graben zu, als das lang erwartete Hornzeichen zu hören war – alle römischen Reiter waren in der Waldschlucht! Die germanischen Krieger waren nicht mehr zu halten. Plötzlich war die Hölle los. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel änderte sich die Situation. Krachend und berstend fielen direkt vor den vordersten Reitern Baumriesen um und versperrten den Ausgang, die ersten Pferde fielen mitsamt Reitern in den Graben. Die nachfolgenden Pferde scheuten, bäumten sich auf, wieherten furchtsam. Und krampfhaft bemühten sich die Reiter in dem Gedränge und Durcheinander, nicht abgeworfen zu werden. Überall aus dem Gebüsch und von den Hängen des Hochwaldes kamen riesige, halbnackte Krieger brüllend und lärmend hervorgestürmt. Menschen und Pferde wurden durch diese Ungeheuer mit roten struppigen Mähnen und umgehängten Tierfellen vollends verwirrt. Römische Pferde waren bei ihrem Anblick nicht mehr zu bändigen. Ihre Angst übertrug sich auf die Reiter, und es entstand ein heilloses Chaos. In Sekundenschnelle ist die Schlucht völlig abgeriegelt, und die Germanen fallen mit immer furchtbarer werdendem Kampfgeschrei über die Römer her, die sich nur allmählich auf Gegenwehr einstellen können. Schon liegen Verwundete und Tote am Boden, werden von den Hufen der Tiere zerstampft.
Es regnet inzwischen in Strömen, und der Boden wird feucht und glitschig, immer noch prallen Pferde und Reiter gegeneinander, wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Immer neue Germanenhorden brechen aus dem Wald hervor und schleudern ihre Framen auf die Reiter, die zum Teil nur mit Pfeil und Bogen und ihren kurzen Schwertern bewaffnet sind. Die römischen Schwerter sind im Nahkampf tausendfach erprobt, doch auf Nahkampf lassen sich die Germanen nicht ein. Verzweifelt versuchen einige Römer, die Grube zu umreiten. Sie preschen auf den Ausgang zu, nachfolgende prallen gegen die engstehenden Bäume, werden abgeworfen und niedergemacht. Kein Menschenleben wird verschont. Arminius und seine Leute lassen am Ausgang der Schlucht keinen Reiter durch, keinem gelingt es, an der Grube vorbeizukommen, die Falle ist perfekt angelegt. In der Mitte des engen Kampfplatzes haben sich die tapfersten Römer um Vala Numonius geschart. Sie sind von den Pferden gesprungen und bieten den Germanen erbitterten Widerstand. Es ist schwer für sie, das Todesgestöhn ihrer verwundeten Kameraden zu überhören. Mit dem Mut der Verzweiflung versuchen sie bei strömendem Regen, die Pferde den steilen Waldhang hinaufzuführen und so zu entkommen, doch immer wieder rutschen die sich verzweifelt abmühenden Tiere, stürzen und begraben andere unter sich. Immer wieder stoßen germanische Krieger hervor und nutzen diese Notlage brutal aus. Es gibt kein Entkommen für die Römer über diesen Steilhang, also werfen sie sich wieder auf den Talweg und drängen mit übermenschlicher Anstrengung zum Ausgang der Falle hin. Den Schock durch den unvermittelten Angriff der Germanen haben die Römer jetzt überwunden. Trotz der hoffnungslosen Lage geben sie ihr Letztes. Überall versuchen sie, todesmutig durchzubrechen, doch der Graben am Ausgang ist für sie
unüberwindlich, und die Germanen richten ein grauenvolles Blutbad an. Die Tiere werden erbarmungslos abgestochen, der nächste Speer trifft den Reiter. Wieder versuchen einige Männer mit Vala Numonius, dem Reiterführer, über den Steilhang zu entweichen. Am Eingang des Kessels feuert Arminius seine Leute ständig an, und dann sieht es doch so aus, als könnten einige Römer durch den Ausgang entwischen. Arminius schreit Segimund einen Befehl zu, plötzlich ist auch Wolfhart da und verhindert den Durchbruch. Da kommt von der Mitte her ein Signal – Vala Numonius hat das Unglaubliche geschafft, er hat sich doch einen Ausweg über den Waldhang freigekämpft. Sobald er die Höhe erreicht hat, jagt er mit ein paar Dutzend Reitern in wilder Flucht davon. Die restlichen Reiter aber lassen völlig den Mut sinken, sie wissen, dass sie keine Chance mehr haben. Kaum einer von ihnen sitzt noch auf seinem Pferd. Die Germanen sind jetzt in erdrückender Übermacht und erschlagen wie wild die letzten Römer. Der Kampfplatz bietet ein grauenvolles Bild. Überall Leichen, verwundete und tote Pferde, dazwischen markdurchdringende Schreie der Tiere im Todeskampf. Voller Genugtuung überblickt Arminius das Schlachtfeld und lässt das Zeichen zum Sammeln geben. Nur wenige Germanen sind gefallen. Arminius drängt zum Aufbruch, denn es ist keine Zeit zu verlieren. Doch er kann seine Leute nicht vom Plündern zurückhalten, zu gierig sind sie auf die Beute. Alles können sie gebrauchen, kein Ausrüstungsstück, keine Waffe, auch nicht das Zaumzeug der toten Tiere wird zurückgelassen. Bei den Plünderungen werden die letzten schwer verwundeten Römer erschlagen. Ansgar, Segimund und Wolf hart sind zu Arminius gestoßen, Wolfhart soll mit einer Hundertschaft Vala Numonius und die entkommenen Reiter verfolgen. Ansgar betrachtet mit grauem
Gesicht die Schlucht. Ohne ein Wort zu sagen, wendet er sich ab.
Es regnet jetzt ununterbrochen, und der Boden wird immer rutschiger, Sturm kommt auf. Einige Pferde haben tatsächlich das Gemetzel überlebt. Sie werden eingefangen, und Arminius drängt ungeduldig zum Aufbruch. Viel hängt jetzt davon ab, ob die Legionen nicht inzwischen gewarnt worden sind. Nach kurzem Ritt erreichen sie die vereinbarte Stelle. Wieder ist es eine enge Schlucht, wieder nimmt Arminius mit seinen Leuten die Stirnseite ein. Er wird die Legionen des Varus möglichst weit an sich herankommen lassen, während die anderen Verbände unter Inguiomer, Segestes, Adgandester und den anderen Herzögen sich zu beiden Seiten der Talschlucht in den Wäldern postiert haben. Arminius sitzt unbeweglich auf seinem Pferd, er scheint Sturm und Regen nicht zu spüren. Er schaut hinunter in den langen Gebirgseinschnitt, durch den der schwerfällige Zug des Varus kommen muss. Nur zu gut kennt er Legionen, die mit Sack und Pack in die Winterlager ziehen. Im Schneckentempo bewegen sich diese vorwärts! Wolfhart und Segimund verteilen die Krieger; auch hier haben die Germanen Bäume angesägt, die sie auf Kommando umstürzen können. Einige gewandte Krieger klettern in die benachbarten Bäume, wo sie hocken bleiben, um auf ein Zeichen mit langen Stricken die Bäume umzureißen. Der Regen rinnt in Strömen, die Sicht wird immer schlechter.
Wenn man den alten Quellen Glauben schenken will, ist es tatsächlich wie in einem Drama; die Naturgewalten kündigen das nahende Verhängnis an.
Plötzlich kommt Ansgar aus dem Nebel auf Arminius zugeritten und meldet den Zug des Varus. Arminius verharrt in seiner Unbeweglichkeit, er wirft dem Kampfgefährten nur einen schwer zu deutenden Blick zu. Kurz darauf hören die ungeduldigen Germanen die ersten Legionäre. Als sie in Sichtweite heran sind, erkennt Arminius, dass sie ihre Marschordnung vollkommen aufgelöst haben und in ungeordneten Haufen marschieren. Zwischen einzelnen Abteilungen befindet sich der Tross, schwer beladene Saumtiere und Marketenderwagen. Von der Höhe aus erhalten die germanischen Krieger einen Eindruck von der Länge des ungeheuren Zuges.
Ob er mit einem Bandwurm oder dem Lindwurm der Sage zu vergleichen ist, der Zug der Römer? Ja, vielleicht, aber einem mehrere Kilometer langen Bandwurm, aus vielen, etwa 20000 kleinen Gliedern, der sich durch das enge Tal schlängelt. Möglich, dass das Bild von Fafnir, dem Drachen, so entstanden ist, den Siegfried-Arminius erschlug. Vielleicht sind sie tatsächlich identisch, Siegfried und Arminius, wer weiß. Nun gut, der römische Drache bewegt sich also, schiebt seine unzähligen Glieder immer weiter ins Verderben, ohne es zu wissen. Speit er Feuer? Nein, davon ist nichts zu sehen, es ist ein eher harmlos wirkender Drache.
Die Germanen sind aufgeputscht. Beute, Beute, Beute – hämmert es in ihren Köpfen. Wieder müssen sie Geduld aufbringen, und das fällt ihnen unendlich schwer. Arminius hat ihnen immer wieder eingeschärft, dass davon das Gelingen des
gesamten Planes abhängt. Seine durchdringenden Augen sind überall, sie registrieren die kleinste Bewegung, wehe dem, der sich nicht zurückhält!
XIV.
Nur langsam und schwerfällig nähert sich der Römerzug. Vom Beobachtungspunkt der Germanen sieht man sie jetzt wieder, die kleinen Ameisen, bepackt wie Trossknechte, sie machen gar keinen kriegerischen Eindruck. Doch Arminius weiß aus seiner Erfahrung in römischen Diensten, wie sehr dieser Eindruck täuschen kann. Die Römer sind fast unschlagbar, wenn sie sich frei entfalten können, wenn sie ihre schachbrettartige Formation einnehmen können und den Gegner im ersten Ansturm mit Wurfspeersalven niederzumachen versuchen. Arminius weiß, wie hochentwickelt die Fechtkunst des einzelnen Legionärs ist, wenn er, geschützt durch Helm, Panzer und Schild, vorsichtig lauernd den Gegner anfällt, sich wieder zurückzieht und dann in plötzlichem Ausfall unberechenbare Hiebe und Stiche führt. Das alles ist umso gefährlicher, weil der gesamte Verband gleichzeitig operiert. Immer wieder werden bei dieser Kampftechnik Tote oder Verwundete aus den hinteren Reihen ersetzt. Der Anblick, der sich Arminius und seinen ungeduldigen Leuten jetzt bietet, lässt ihn keinen Augenblick die Gefährlichkeit der Römer vergessen, und er denkt daran, dass dieser Kampf für sie alle mit Gefangenschaft, Tod und Sklaverei enden wird, wenn es nicht gelingt, die Römer vernichtend zu schlagen. In diese Überlegungen hinein ertönt weit entfernt, doch gut vernehmbar ein germanisches Hornsignal. Das ist der Chattenherzog Adgandester, der das Zeichen gibt, dass sich der römische Zug vollständig in dem Talkessel befindet. Als
Antwort darauf erschallen ringsum auf den Bergen weitere Hornsignale der Germanen, und überall stürzen aus den dichten Wäldern germanische Krieger hervor, die ein fürchterliches Gebrüll anstimmen, sich auf die Römer stürzen und in wenigen Minuten Hunderte von den völlig ahnungslosen und wie erstarrt stehenden Legionären niedermetzeln. Bei Jupiter, Mars und allen römischen Göttern, was war das! Die Wälder, die Wälder! Es ist für die Legionäre, als wenn die Wälder plötzlich eine raubtierhafte Lebendigkeit angenommen haben. Die Bäume sind feindliche Riesen, die sich nun auf sie stürzen. Oh grausames Schicksal! Manche ergreifen ihre Amulette, andere denken an ihre bald beendete Dienstzeit. Mit Speer und Schild bewaffnet dringen immer mehr Germanen auf die Römer ein. Einige schwingen riesige Keulen und jagen allein schon durch ihren wilden Anblick den römischen Soldaten Angst und Schrecken ein. Bald erfüllt heftiges Kampfgetümmel das Tal. Wer half mir Wider der Titanen Übermut? Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei? Ja, bedecke deinen Himmel, Zeus… Während ich deklamiere und aufgeregt durchs Zimmer laufe, kommt Jan herein und sagt spontan: »Ich helf dir, Papa!« Na, wenigstens einer! Aber meine Gedanken sind schon wieder bei den Ameisen, die die römische Politik nach Germanien verschlagen hat.
Lähmendes Entsetzen hat die Römer gepackt. Noch immer sind sie kaum zur Gegenwehr fähig. Gerüchte stehen ihnen
plastisch, schrecklich, verwundend und tötend vor Augen. Alles, was sie von den Germanen gehört haben, fällt ihnen wieder ein und macht ihnen Angst. Nach und nach lassen sie ihr Gepäck fallen und verteidigen sich, so gut es geht. Schon formieren sich die erprobtesten Veteranen und ziehen andere durch ihr Beispiel mit. Offiziere sind nicht zu sehen. Verzweifelt versuchen die Soldaten, bergauf gegen die herabstürmenden Titanen ihre kurzen Wurfspeere zu schleudern. Bald, nachdem sich die Römer von ihrem Schrecken erholt haben, merken sie, dass auch die Germanen nicht unverwundbar sind, keine Halbgötter, doch keine Riesen. Sie suchen sich nur die wunden Punkte des römischen Bandwurms aus. Frauen und Kinder, Trossknechte und Händler, die unbewaffnet sind, sind schon beim ersten Ansturm abgeschlachtet, umgehauen und aufgespießt worden. Endlich! Vertraute Signale für die Ohren der Legionäre! Varus bemüht sich, den unbeweglichen Zug zu formieren. Meldereiter suchen sich mühsam ihren Weg durch das Chaos. Das Wetter hat sich zunehmend verdunkelt, und der Sturm treibt den Kämpfenden den stetig rinnenden Regen ins Gesicht. Reiterlose Tiere und bepackte Lasttiere irren umher, überall liegen Gepäckstücke der Legionäre. Arminius drängt mit seiner Abteilung die Römer immer mehr zusammen, seine Leute richten ein grauenvolles Blutbad an. Die Germanen putschen sich durch ihr Kampfgeschrei gegenseitig weiter auf, noch sind es nicht genug Tote, Verwundete, Sterbende. Ihr Blutrausch scheint maßlos zu sein. Die Feldzeichenträger der Römer können die Befehle in dem Durcheinander gar nicht so schnell anzeigen, wie sie mit der Tuba oder dem Cornu geblasen werden. Zudem widerspricht ein Befehl dem anderen. Immer wieder greifen die Horden der Germanen den Römerzug an den schwachen Stellen an und
ziehen sich sofort zurück, wo sich eine Schlachtreihe zu bilden beginnt. Das ganze Tal ist auf einer Länge von mehreren Kilometern von Kampfgeschrei, Waffenlärm und Todesgestöhn von Mensch und Tier erfüllt. Auch die Germanen haben Verluste, besonders, wenn sie die todbringenden Framen weggeschleudert haben und von drei, vier Legionären gleichzeitig angegriffen werden. Um den Feldherrn Varus beginnen sich, trotz der Bedrängtheit und Feuchtigkeit des Geländes, reguläre Schlachtreihen zu bilden, er selbst kämpft verbissen und feuert seine Leute an. Allmählich haben die Römer begriffen, wer sie angreift, einige haben sogar Arminius erkannt. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch den gesamten Zug. Arminius, wie ist das möglich. Einer von ihnen, römischer Hilfstruppen-Offizier! Ist er nicht gestern noch bei Varus gewesen? Arminius ein Verräter, wer hätte das gedacht! Die Legionäre fluchen vor sich hin. Schmährufe auf den Verräter Arminius kommen, kaum hörbar, als letzter Fluch von den Lippen der Sterbenden. Der so geschmähte und verfluchte Arminius ist auf seinem Schimmelhengst Sleipnir bald hier, bald dort und haut mit seinem Schwert wie wild um sich. Bei diesem Überfall scheint er nicht mehr er selbst zu sein. Das Gesicht ist verzerrt, die Augen sind blutunterlaufen. Legionäre, die die wurzeldurchzogenen Hänge erstürmen wollen, kommen ins Rutschen, und gleich sind mehrere Germanen zur Stelle, die sie kaltblütig aufspießen. Der Sturm heult, und Donar lässt ein entferntes Grollen vernehmen und schleudert von Zeit zu Zeit seine Blitze. Es gießt ununterbrochen. Die germanischen Krieger nehmen alles als Anfeuerung für ihren Kampf, Donar und Wodan unterstützen sie im Streit mit den Eindringlingen, die Götter drohen den Feinden.
Ganz anders die Römer. Ihnen jagt das Gewitter Angst und Schrecken ein, die dunklen Wälder, die riesenhaften Germanen, die Schauermärchen, die alte Veteranen in den Garnisonen erzählt haben, um sich wichtig zu machen, alles das verunsichert sie zutiefst. Doch Wut und Verbitterung über den Verrat des Arminius verstärkten auch bei einigen die Kampfmoral, und sie wehren sich immer heftiger und erfolgreicher. Allmählich gelingt es den Offizieren, die römische Übermacht zur Geltung zu bringen, und immer mehr Germanen fallen im Nahkampf, oft mit den römischen Soldaten zusammen. Stunde um Stunde vergeht. Hauen, Stechen, Töten, Niedermachen, Umbringen, Totschlagen. Das Gemetzel nimmt kein Ende. Mittlerweile ist es dunkler geworden, und bald sind im Getümmel Freund und Feind nicht mehr zu unterscheiden. Arminius gibt jedoch nicht das Zeichen zur Beendigung der Schlacht, es ist, als wolle er die totale Vernichtung der Römer noch vor der endgültigen Dunkelheit erzwingen. Immer wieder reißt er seine Leute mit sich, er achtet nicht darauf, dass er aus einer Armwunde heftig blutet. Doch die Schlacht beendet sich von selbst, als es fast völlig dunkel ist und nur ein schmaler Mond spärliches Licht auf eine grausige Szenerie wirft. Um Verwundete und Tote kümmert sich niemand. Die Germanen plündern das Schlachtfeld und raffen zusammen, was sie an Waffen, Geräten, Helmen und Panzern finden können. Dann verschwinden sie johlend und schreiend in den Wäldern. Sie lassen das heulende Elend bei den Römern zurück. Legionäre helfen ihren verwundeten Kameraden, suchen zu retten, was noch zu retten ist. Sie fluchen, jammern und weinen. Die Anspannung der stundenlangen Kämpfe fällt von ihnen ab. Sie sind nicht ansprechbar, ignorieren ihre Offiziere und geben sich hemmungslos ihrer Verzweiflung hin.
Umherliegende Leichen, Gliedmaßen, Pferdekadaver und zerbrochene Waffen sprechen eine deutliche Sprache. Alle sind durchnässt, erschöpft und mutlos, sie haben nicht einmal mehr die Kraft, ihre Einheiten zu suchen. Germanische Nacht. Hunger und Kälte. Viele zittern beim bloßen Gedanken daran, die Germanen könnten noch einmal zurückkommen, und die ersten Hornsignale werden bewusst überhört. Aber die Centurionen, die überlebt haben, treiben die entnervten Männer gnadenlos an. Waffen und Gerät aufnehmen. Sammeln, Schanzen! Jeder zu seiner Legion zurück! Heulen und Jammern einstellen! Waschweiber! Für ganz Mutlose gibt es Schläge mit dem Rebstock. Aufstehen, sammeln, los, los! Das Unglaubliche geschieht in der Dunkelheit, Triarier, Principes, Hastaten sammeln sich, Reiter, Zeichenträger und Unterführer suchen ihre Verbände, die Reste der Kohorten und Legionen kommen durch Zuruf zueinander. Voller Zorn stechen sie in tote Germanen, die sie auf dem Schlachtfeld finden. Müde, abgekämpft, hungrig und frierend gehorchen sie widerwillig ihren Centurionen. Schanzarbeit wird befohlen. Ein Sonderkommando schlägt mitten in dem Gewühl das Feldherrnzelt auf. Varus, selbst blutig und bis auf die Haut durchnässt, lässt ungeduldig die Offiziere zur Lagebesprechung herbeiholen. Langsam setzen sich altgewohnte Ordnungsprinzipien wieder durch, die Mannschaften sind bereits mit der Schanzarbeit beschäftigt, und mit allerletzter Kraft werden Wall und Graben angelegt. Einige brechen bei der Arbeit zusammen, andere pflegen Verwundete. Legionäre, die noch etwas mehr Kraft haben, regen sich über die Treulosigkeit des Arminius und der Germanen auf, sie fluchen und schimpfen, drohen den schweigenden Wäldern, die wie eine schwarze Mauer dastehen, und knirschen vor Hilflosigkeit mit den Zähnen.
Die Offiziere machen dem Feldherrn unterdessen bittere Vorwürfe wegen seiner Leichtgläubigkeit. Besonders Lucius Eggius, dem eine Frame den Fuß durchbohrt hat, beklagt das Vertrauen des Varus zu Arminius und erinnert immer wieder an die Warnung des Segestes. Die anderen Offiziere schließen sich ihm an, und es wird eine endlose Litanei mit »hätten, könnten, dachten und sollten«. Die Stimmung nähert sich dem Nullpunkt. Die Römer können die Stärke des Feindes nicht einschätzen, und in dem unwegsamen Gelände sind die Germanen im Vorteil. Die Legionäre fluchen und schimpfen, doch ihre Unterführer treiben sie auseinander. An die Arbeit! Schanzen, aufräumen, Unterkünfte aufschlagen! Wachen werden eingeteilt. Jahrelanger Drill macht sich bemerkbar. Zwischendurch kommen die ersten Nachrichten von den Offizieren, die Marschrichtung soll geändert werden, Varus will sich mit den Resten der Legionen zum Kastell Aliso∗ durchschlagen. Aliso! Kastell Aliso! Gierig greifen die Legionäre das Hoffnungswort auf. Vielleicht wird doch noch alles gut, vielleicht können sie ihre eigene Haut noch retten. Der gesamte überflüssige Tross soll verbrannt werden, Wagen und Karren werden zusammengefahren. Offiziere achten darauf, dass ihr Gepäck auf Maultiere umgepackt wird, dafür werden Ausrüstungsgegenstände der Soldaten abgepackt. Rufus hat den Befehl erhalten, die Aktion zu überwachen. Kleinlaut und frierend steht er herum, ein energischer Centurio gibt für ihn die Kommandos. Schon brennen die ersten Wagen, auch der Richterstuhl des Varus, eitles Schauobjekt seiner Rechtsprechung, fällt den Flammen zum Opfer. ∗
Aliso: befestigtes Römerlager an der Lippe. Mögliche Standorte: Oberaden bzw. Haltern; auch das Lager Anreppen in der Nähe von Paderborn käme in Frage.
Endlich haben sich auch die Legionsküchen wieder eingerichtet. Die Rationen, die ausgegeben werden, sind denkbar knapp. Die Mannschaften murren, sie hören mit den ohnehin notdürftigen Schanzarbeiten auf. Im Feldherrnzelt reden alle durcheinander, Wehklagen, Vorwürfe, Beschuldigungen. Varus, der in Syrien und Afrika manche Schlacht geschlagen hat, bewahrt die Ruhe. Er weiß, dass er den Mannschaften jetzt Mut zusprechen muss. Er beendet die Auseinandersetzungen der Offiziere und befiehlt die drei Adlerträger der Legionen zu sich. Auf einen formellen Befehl zum Antreten verzichtet er und begibt sich direkt zu den Legionären. Varus lässt sich von den Unterführern über die Verluste ihrer Einheiten informieren und wartet geduldig ab, bis das Jammern und Klagen verstummt. Die Legionäre scharen sich zusammen. Die Adler werden hochgehalten, der Mond wirft spärliches Licht über sie. Varus zeigt auf die Adler und ruft laut, damit ihn möglichst viele verstehen, die Adler seien immerhin noch in ihren Händen, nichts sei verloren, niemand dürfe den Mut verlieren. Morgen werde ihnen Mars wieder gnädig sein, man werde ihm heute noch opfern, sicher werde es ihnen allen gelingen, den Weg nach Aliso freizukämpfen. Aliso, Aliso, murmeln die Legionäre, wenigstens ein Hoffnungsschimmer. Sie werden ruhiger und hören, was ihr Feldherr zu sagen hat: »Niemand soll glauben, dass die römischen Adler besiegt werden können, schon gar nicht durch Treulosigkeit von Verrätern! Seit Hannibal haben wir keine Schlacht mehr verloren, selbst die Kimbern und Teutonen und auch Ariovist haben wir schließlich geschlagen, und da sollen wir uns von diesen Aufständischen…« Doch was ist das? Die Legionäre drehen sich um, Feuer flammen in den Wäldern auf, die mühsam verdrängte Furcht vor den Feinden ist sofort wieder da. Was haben die Germanen
vor, werden sie in der Nacht noch angreifen? Varus sieht ein, dass es keinen Zweck hat, mit den Leuten zu reden. Er geht mit den Offizieren zum Feldherrnzelt zurück. Unterwegs gibt er den Befehl, den restlichen Wein zu verteilen, damit er die Legionäre wärme und ihnen neuen Mut mache. Sogar seine eigenen Vorräte stellt er zur Verfügung.
XV.
Unter den siegestrunkenen Germanen, die um die Feuer herumtanzten, johlten und lärmten, waren Arminius und Ansgar in Streit geraten. Es war, als habe Ansgar zu lange etwas in sich unterdrückt. Er blickte den »Held des Tages« zornig an und brüllte: »Ja, du solltest Gnade zeigen! Schließlich ist Varus dein Freund und Gönner! Hast du nicht immer große Stücke auf ihn gehalten? Haben wir nicht oft mit ihm gefeiert? Ein Denkzettel reicht für ihn, oder willst du das ganze Römische Reich bekriegen? Was willst du eigentlich?« Arminius blickte ihn verächtlich an. »Was ich will, was ich will«, schrie er, »ich will die Römer verjagen, ja, das will ich!« Arminius war aufgesprungen. »Gnade mit einem Römer?! Niemals! Du hast nicht begriffen, worum es geht, dein Gehirn verkraftet den Umschwung nicht, das habe ich schon längst gemerkt, du bist immer noch auf der Seite der Römer!« Ansgar schwieg betreten, es war unmöglich, sich in dem Siegestaumel Gehör zu verschaffen. Fast bereute er es, dass er Arminius zu den Cheruskern begleitet hatte. Wie oft hatte er über diese Frage nachgegrübelt! Wann würde Arminius Ruhe geben? Wenn der letzte Legionär des Varus tot auf dem Schlachtfeld lag? Und dann? Wie würde es weitergehen? Er versuchte mit Wolfhart zu sprechen, doch an den war nicht ranzukommen, der starrte mit glänzenden Augen auf Arminius. Ansgar blieb abwartend stehen, sein Gesicht war ernst und nachdenklich.
Wie konnte er Arminius nur klarmachen, dass auch Rückschläge kommen würden, dass niemand Rom ungestraft angreifen konnte! Was hatte er, Ansgar, eigentlich noch mit der ganzen Angelegenheit zu tun? Er drehte sich um. Immer mehr Germanen umringten den siegreichen Anführer Arminius, der ihre Zurufe sichtlich genoss. »Nieder mit den Römern«, schrie er wie besessen, und seine Halsschlagadern traten deutlich hervor. »Gnade für die Römer – niemals!«, rief er in Ansgars Richtung. »Wir kämpfen, bis der letzte Römer unseren Boden verlassen hat!« Die Germanen stampften vor Begeisterung und schlugen die Waffen aneinander. Lärm und Ausgelassenheit der Krieger nahmen ständig zu. Niemand beklagte die Toten, denn man wusste, sie würden einen ehrenvollen Platz in Walhall finden, und die Verwundeten ertrugen ihre Schmerzen mit Fassung. Arminius’ Führungsstellung schien jetzt allgemein anerkannt, er hatte die wichtigsten Anführer, unter ihnen Adgandester, den Chattenfürst, seinen Onkel Inguiomer, Segimund und Wolfhart um sich versammelt, und sie hielten Rat. Ansgar saß schweigend im Hintergrund. Die germanischen Führer, die von Arminius für die Römer als Führer abgestellt worden waren, wurden zu den Beratungen hinzugezogen. Sie hatten ihre Sache gut gemacht, denn die Römer waren genau den von ihnen, den Germanen, vorgeplanten Weg gezogen. Arminius äußerte sich lobend und sprach ihnen seine Anerkennung aus. Die Führer wussten Einzelheiten aus dem Lager des Varus zu berichten, und sie erzählten vor allem von der Sorglosigkeit und der Ahnungslosigkeit des Varus und seiner Gefolgschaft. Unterdessen wurden die erbeuteten Waffen und Geräte auf einen Haufen getragen. Lange und kurze Wurfspeere, die bekannten römischen Kurzschwerter, Helme, Schilde und
Panzer, außerdem wurden allerlei Schanzwerkzeuge gesammelt und geordnet. Arminius nahm einem der Umstehenden dessen Schwert ab und schlug es, ohne ein Wort zu sagen, an einen Baum. Es verbog sich und war für den Kampf wertlos. Dann nahm er ein römisches Schwert und schlug auch dieses an den Baum – es hielt die Probe aus. Nach dieser Demonstration gab Arminius den Befehl, die erbeuteten Schwerter an alle Krieger zu verteilen, die schlechte Waffen trugen. Alle übrigen Geräte und Beutestücke wurden verteilt. Einige Germanen versuchten unter dem Gelächter der Kameraden, die ungewohnten Muskelpanzer anzulegen.
Sobald der Morgen graute, schickte Arminius einen Unterhändler zum Lager der Römer, um sie zur Kapitulation aufzufordern. Kaum hatte sich dieser dem Lager genähert, wurde er auch schon von einem Trupp Wachsoldaten überfallen, von Speeren und Schwertern durchbohrt und anschließend grausam verstümmelt. Die Germanen rückten näher an das Lager heran. Arminius sagte kein Wort, als ihm die Meldung vom Tod des Unterhändlers überbracht wurde. Sie konnten jetzt sehen, wie schlecht die Römer in der Dunkelheit nach der blutigen Schlacht das Lager gebaut hatten. Wall und Graben verliefen schief und waren oft nur angedeutet. Arminius schickte seine Späher aus, die ihn über die Truppenbewegungen der Römer informieren sollten.
XVI.
Gespannter und noch aufgeregter als am Vortage waren die Germanen. Enttäuschter, verzweifelter, aber auch doppelt wachsam die Römer. Defensive hieß die Parole bei den Legionären; die germanischen Krieger bereiteten sich in Vorahnung eines gewaltigen Sieges ohne jegliche Zurückhaltung auf den Angriff vor. Als die Römer ihr Notlager in Gefechtsbereitschaft verließen, hatten einige Legionäre noch Galgenhumor: Sie betrachteten die Buchstaben SPQR – Senatus Populusque Romanus, der Senat und das römische Volk, auf ihren Feldzeichen und riefen sich ihre Landserversion dazu zu: Sepulcrum Pilumque Romanum – ein Grab und einen römischen Wurfspieß dazu. Was sollte das alles? Schließlich war es nicht ihre erste Schlacht. Scheiß der Hund drauf, man würde sehen, ob mit oder ohne Mars. Einige versuchten sogar, einen Marschgesang anzustimmen. Die Centurionen eilten wie angestochen hin und her, die Kriegsmaschinerie musste wie ein müder lustloser Gaul in Gang gebracht werden. Der Boden war nass und aufgeweicht, die Luft stürmisch, und graue Wolken verhängten den Himmel. Große Mengen germanischer Krieger sammelten sich im Rücken der Römer und zwangen sie, durch die Schlucht zurückzumarschieren. Die Legionäre hatten inzwischen disziplinierte Schlachtreihen formiert und die Verwundeten und den Rest des Trosses in die Mitte genommen. Offenbar wollten sie versuchen, die nahe gelegene Ebene zu erreichen, um sich gegen die angreifenden Germanen besser formieren zu können.
Arminius sammelte seine Leute und griff von Westen aus an. Soweit es das Gelände zuließ, hatten sich die Germanen zu Gruppen vereint und bildeten ähnliche Schlachtreihen wie die Römer. Die jedoch waren auf der Hut, und der Ausmarsch ging zügig weiter. Die Germanen zogen sich zurück, wo sie auf Widerstand stießen. Es war ersichtlich, dass man die Römer in eine bestimmte Richtung zu lenken versuchte. Varus ließ die Kolonnen eng zusammenrücken, um den Durchbruch durch den schmalen Talkessel zu erzwingen. Er trug den linken Arm in einer Schlinge, ritt jedoch unermüdlich hin und her und feuerte die Legionäre an. Von Faulheit und Trägheit, die ihm nachgesagt wurden, war nichts zu bemerken, er setzte seine ganze Kraft ein, die Legionen zu retten und sie sicher zum Kastell Aliso zu bringen. Immer wieder griffen die Germanen an, immer neue Abteilungen und Gruppen kamen aus den Wäldern hervor, drangen unaufhörlich auf die Römer ein und richteten mit ihren langen Framen viel Unheil an, während die Römer verzweifelt, aber schwunglos vor Erschöpfung Pfeile und Wurfspeere gegen die Germanen schleuderten. Mit Umsicht und Geschick gelang es Varus, die freie Ebene zu erreichen. Dort konnte sich die überlegene Kriegskunst der Römer zeigen. Varus wuchs in diesem Augenblick über sich selbst hinaus. Mit scharfen Augen überwachte er, dass die Offiziere seine Befehle weiterleiteten und die berühmte schachbrettartige Aufstellung der Truppen vornahmen. Währenddessen formierten die Cherusker, Brukterer, Marser und Chatten entgegen der Abmachung den Eberkopf, die keilförmige Dreiecksaufstellung gegen den Feind. Die Fürsten der verbündeten Stämme befanden sich in der vordersten Linie, in der Spitze des Keiles. Die übrigen Germanen waren in den Wäldern versteckt und sollten die Römer von den Seiten angreifen. Der Rücken blieb frei, denn man wollte die
Legionäre in das Moor treiben. Die Römer hatten sich zur Schlacht aufgestellt und stürmten mit Kampfgeschrei unter dem Geschmetter der Signalinstrumente heran. Schon schleuderten die ersten Schlachtreihen ihre Pilensalven auf die Germanen, doch diese wehrten mit hoch erhobenen Schilden ab, und drohend rückte der Eberkopf vor. Die Germanen schleuderten ihre Framen, und Arminius ließ den Befehl geben, die Formation des Eberkopfes aufzulösen. Hörnersignale erschallten, die Dreiecksseiten der germanischen Aufstellung schwenkten aus, und bald standen sich die Feinde Mann gegen Mann gegenüber. Jetzt zeigten sich Disziplin und Fechtkunst der Römer wieder, die Legionäre duckten sich hinter ihren Schilden und stießen blitzschnell zu, wenn sie eine Blöße des Feindes sahen. Die Germanen hieben und stachen wild drauflos. Sie schleuderten ihre gefürchteten Speere und schwangen mit ungeheurer Kraft die langen Schwerter. Wild tobte die Schlacht.
Auch so’n Satz! Ich lasse ihn erst mal stehen und beende den Arbeitstag an der Schreibmaschine. Wie abgegriffen unsere Sprache doch ist, wie wenig sie oft aussagt, immer wieder dieselben Wörter. Ich denke darüber nach, während ich ins Bett gehe. Kein Wunder, dass mich diese Schlacht bis in meine Träume verfolgt. Ich hole tief Luft und bin mitten in dem Hauen, Wühlen, Stechen, Stampfen, Fluchen und Stöhnen. Meine Ohren dröhnen vom Waffenlärm. Tiere und Menschen prallen aufeinander. Verbissen wird gekämpft. Ein riesiger Pferdeleib stürzt auf mich zu und zerstampft mich mit den Hufen. Gleichzeitig höre ich den dumpfen Schlag der Lanzen in Körper, Blut rinnt in Strömen, und ich versuche verzweifelt, meine Hände abzuwischen. Meine zerstampfte Brust wird zu
eng, ich schreie laut auf. Wohin soll ich fliehen aus diesem Hexenkessel? Andere Leiber fallen auf mich, sie röcheln und stöhnen in ihren letzten Sekunden, bevor sie schwer und steif werden. Die Last auf mir wird unerträglich. Ich versuche, sie mit verzweifelter Anstrengung wegzustemmen! Tatsächlich gelingt es, was ich selbst nicht begreifen kann. Aber der Albdruck bleibt noch lange nach dem Aufwachen. Also, wild tobt die Schlacht.
Die Römer leisten erbitterten Widerstand, und Varus kämpft trotz seiner Verwundung. Doch schon brechen neue Abteilungen der Germanen aus den Wäldern hervor und greifen die Flanken des Feindes an. Bald sind die Römer fast umzingelt, nur eine Richtung bleibt frei, und der Boden wird immer morastiger, außerdem beginnt es wieder zu regnen. Den ganzen Tag über dauern die Kämpfe. Die geschwächten Römer wehren sich tapfer; auf beiden Seiten gibt es schwere Verluste, und es zeigt sich, dass die Germanen die Römer in offener Feldschlacht nicht besiegen können. Doch die Germanen erkennen ihren Vorteil in dem morastigen Gelände und drängen die disziplinierten Schlachtreihen der Römer immer weiter auseinander. Die Schlacht geht in ein grausames Abschlachten über. Viele römische Legionäre suchen ihr Heil in der Flucht. Andere kämpfen sich zu den umliegenden germanischen Gehöften durch und werden dort zu Sklaven, andere werden kurzerhand erschlagen. Erst die hereinbrechende Dunkelheit verhindert weitere Verluste auf beiden Seiten. Endlich konnten sich die Römer zurückziehen, um sich zu verschanzen, verwundete oder langsamere Legionäre wurden von den Germanen ohne Zögern umgebracht.
Das Schlachtfeld bot wie am ersten Tag ein schreckliches Bild. Überall Tote und Verwundete, und die Germanen begannen, die eigenen Kameraden abzutransportieren. Einige mordeten und plünderten weiter, andere sammelten Waffen, Geräte und Gepäckstücke der gefallenen Römer auf. In ihrer Grausamkeit kannten die Germanen kein Maß. Sie schlugen gefangenen Römern die Köpfe ab und hefteten sie an die nächsten Bäume. Arminius konnte das nicht verhindern, er bemühte sich auch nicht. Erste Zweifel kamen ihm: Wie konnten solche Leute der Zivilisation Roms gegenübertreten; wie konnte man mit solchen Horden Rom besiegen? War es nicht aussichtslos, aus Germanen-Kriegern den Legionären ebenbürtige Kämpfer zu machen? Nun hatten er und seine Freunde die Germanen monatelang gedrillt, und schon beim ersten Kampf hatten diese alles vergessen und gekämpft, wie sie es gewohnt waren, ohne sich um ihren gewählten Führer zu kümmern. Der bisherige Erfolg war nur der List und Überrumpelung zuzuschreiben. Der Befehl zum Sammeln wurde gegeben, aber dies war eben keine römische Hilfstruppe unter seinem Kommando; ohne auf das Zeichen zu achten, begannen die Germanen sich aufzulösen und in die umliegenden Gebiete abzuziehen. Überall flammten in der Nacht hohe Siegesfeuer auf. Markdurchdringende Schreie schrillten durch die Luft, als hohe Offiziere des römischen Heeres auf schreckliche Weise umgebracht oder von den Händen der Priester zu Ehren Wodans geopfert wurden.
XVII.
Romani perturbati – verwirrt, sehr verwirrt waren die Römer. Da standen sie nun, Abkömmlinge eines ursprünglich einfachen Bauernvolkes und »Zugereiste« mit ihren Verbündeten. Unsicher, unentschlossen. Der Galgenhumor war verflogen. Was hier geschah, ging weit über ihre Vorstellungskraft hinaus. Sieggewohnt wie sie waren, hatten sie nicht damit gerechnet, dass der Spieß auch einmal umgedreht werden könnte. Verblüffung und Staunen, Furcht, Angst und Schrecken auf allen Gesichtern. Hart im Zuschlagen, hart im Nehmen waren sie selbst. Grausam konnten sie sein gegen ihre Feinde, und sie hielten das noch für Tugend, weil man es ihnen immer wieder eingetrichtert hatte. »Man« – auch wieder so ein undurchsichtiges Wort. Wer hatte ihnen das eingetrichtert? Römische Militärtradition, die Römer, die großen Kaputtmacher. Befehl und Gehorsam, du bist nichts, Rom ist alles. Deutlicher will ich nicht werden. Römische Tugenden, viel besungen und beschworen, waren aufgepfropft und kümmerlich nachgewachsen auf diesem urwüchsigen Volkskörper, der den glorreichen Feldherrn oder noch besser gleich den Diktator brauchte, um zu vermeintlichen »Leistungen« angespornt zu werden! Oh, miles gloriosus∗, wie hast du dich doch zu allen Zeiten bescheißen lassen. Ein Rebstöckchen hier, ein breiterer Purpurstreifen ∗
ruhmvoller, ruhmrediger Soldat (Titelheld eines Lustspiels von Plautus 250-184 v. Chr.) in der Bedeutung: Aufschneider, Prahlhans.
dort – aber lassen wir das, es führt zu nichts, Köder der Dummheit. Griechen und Etrusker hätten sich vermutlich im Grabe umgedreht, hätte man die Römer als ihre Nachfolger bezeichnet. Sicher hatten sie von den Griechen gelernt, der Grieche als Mädchen für alles im dekadenten Rom, ein griechischer Hauslehrer galt bei römischen Banausen als schick. Nur ist es schwer, Ochsen eine kultivierte Sprache beizubringen. Urwüchsige Gesellen waren sie, von der sogenannten Kultur noch unbeleckt. Papperlapapp, die großen Baumeister, römische Errungenschaften, alles Kopien, bis hin zur Literatur. Cicero hat nachweislich von Platon übernommen, die Römer haben Schiffbau von den Karthagern gelernt, ihre »Kultur« von den Etruskern geerbt, Reiter bei Kriegszügen von Galliern und Germanen geholt. Man könnte sie fast als die Japaner des Altertums bezeichnen. Was hatte das römische Volk schon von Cicero? Hier gab es ungestüme, bäurische Kraft, noch nicht durch Christentum beeinflusst. Aber immerhin, sie hatten einen gewissen Lebensstandard erreicht, sprachen abschätzig von den »Barbaren«. Sicher fühlten sie sich eine Stufe höher stehend, verglichen müden Germanen. Nur eine? Der römische Dünkel war zu allen Zeiten gut ausgeprägt. Wie selbstverständlich hielt man sich für die Herren der Welt! Nur hatten anscheinend die Germanen keine Kenntnis davon. O sancta simplicitas – o heilige Einfalt, was kümmert sie die virtus Romana, die römische Tugend – ein Speerwurf war wirkungsvoller! Fortitudo, Tapferkeit – noch eins drauf pietas, Frömmigkeit – da, ein Schlag mit der Keule! Vielleicht ahnten die Legionäre, dass es für sie kein Entrinnen mehr gab, wenn Denken und Ahnungen auch gemeinhin den Offizieren vorbehalten waren.
Noch tiefere Mutlosigkeit als nach dem ersten Schlachttag machte sich breit, als die Reste der Legionen begannen, sich für die Nacht einzurichten. Es gab nur noch schwache Hoffnung, dass man sich am nächsten Morgen nach Aliso durchschlagen könnte. Der schwer verwundete Varus bot einen verzweifelten und kläglichen Anblick, seine Augen waren geschwollen und gerötet. Überall war er mit Blut beschmiert, und seine Tunika war völlig verdreckt. Sein schwerer Körper lag hilflos in den Armen seiner Leute, Tränen rannen über sein Gesicht, und den ganzen Körper durchlief ein Zittern und Schluchzen. Die Umstehenden versuchten, ihm Mut zu machen, doch Varus jammerte immer wieder: »Mein Kaiser, verzeih mir, oh mein Kaiser, mein Kaiser! Augustus, hilf mir, ich bin verloren!« Man brachte ihm eine Decke und bettete das Haupt mit den verklebten Haarsträhnen auf ein Kissen und versuchte, ihm Wein aus einem Pokal einzuflößen – Varus ließ willenlos alles mit sich geschehen. Zu groß war die Enttäuschung, er hatte die Situation in Germanien unterschätzt und dem Arminius zu leichtfertig vertraut. Ein Fluch kam von seinen Lippen. Es lag ihm fern, an Recht oder Unrecht seines Handelns zu denken, sicher dachte er nur an seinen Kaiser in Rom und an seine eigene Schande. Dieses Kommando hatte den krönenden Abschluss seiner militärischen Laufbahn bilden sollen. Er hatte gehofft, Neues aus Germanien mit nach Rom bringen zu können, und sich einen glanzvollen Triumphzug ausgemalt – und nun war alles vorbei. Er heulte vor Verzweiflung, raufte sich die Haare und schlug mit den Fäusten auf die Erde. Seine Leute mühten sich vergebens, ihn zu trösten. Immer mehr Offiziere und Soldaten eilten herbei.
Plötzlich wurde Varus starr. Wirr blickten seine Augen, er richtete sich halb auf, der Hohn in seiner Stimme war nicht zu überhören: »Dulce et decorum est pro patria mori!«∗ »Mein Schwert!«, schrie er dann wie von Sinnen. Ehe einer der Umstehenden begriff, entriss er einem seiner Soldaten das Schwert und stieß es sich mit voller Wucht tief in die Brust. Der schwere Körper stürzte sofort zu Boden, aber offenbar lebte Varus noch, und sein Stöhnen war auch für raue Legionäre nicht leicht zu ertragen; sie wandten die Gesichter ab und brachen in lautes Wehklagen über ihren Feldherrn aus. Erst lange Sekunden später war Varus tot, das Schwert hatte seinen Körper durchbohrt, und Blut färbte den Boden. Seine Leiche geriet später in die Hände der Germanen, die ihr den Kopf abschlugen und ihn an Marbod, den Markomannenkönig, als Warnung schickten. Der jedoch ließ sich nicht beeindrucken und schickte das Haupt des einst so stolzen Feldherrn den Römern zur Bestattung postwendend weiter.
Varus – Soldat, Offizier, Feldherr, Statthalter, Genießer –, ich weiß nicht, ob du solch ein Schicksal verdient hast. Du bist mir näher gekommen, das ist alles.
Die Mutlosigkeit bei den Römern wurde noch größer. Einige Offiziere folgten dem Beispiel des Varus und töteten sich selbst. Viele Legionäre hielten die Tränen nicht zurück – zu groß war das Unglück, zu tief die Schmach. Andere tuschelten über das Schicksal des Varus: »Schon sein Vater und Großvater endeten durch Selbstmord, muss wohl in der Familie liegen.« ∗
Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben!
»War nicht der Schlechteste!« »Was werden die Leute in Rom dazu sagen?« »Ob wir hier noch wieder rauskommen?« »Dieser verdammte Arminius, diese verdammten treulosen Germanen!« »Wir sind doch nur zu ihrem Schutz hier.« »Da, schon wieder ein Offizier… grässlich…!« »Lasst uns abhauen von hier, vielleicht können wir uns bis zum Rhein durchschlagen…!« Später in der Nacht versuchte man, die Leichen zu verbrennen, was wegen des Regens jedoch Schwierigkeiten bereitete. Lucius Eggius hatte das Kommando übernommen und versuchte mit übermenschlicher Anstrengung, Ordnung in das Chaos zubringen. Am Morgen des dritten Schlachttages standen die Germanentruppen beim ersten Tageslicht rings um das Lager und bedachten die Römer mit höhnischen Zurufen. Obwohl die Germanen jetzt in der Überzahl waren, versuchte Lucius Eggius dennoch, die Legionäre zum Weitermarsch zu bewegen, weil die Notverschanzung ihnen ohnehin keinen Schutz bot.
XVIII.
Arminius ließ zum Angriff blasen. Er wollte auf jeden Fall verhindern, dass die Römer sich formierten. Von allen Seiten fielen die Germanen über die Römer her. Wieder Geschrei und Waffengeklirr und aufgeregtes Wiehern der Pferde. Doch unglaublich, die Überreste der 17. 18. und 19. Legion brachten trotz alledem eine geschlossene Ordnung zustande, das Bokanowskyverfahren hatte Nachwirkungen, die Maschine setzte sich in Gang, Exerzieren, Drill, Formalausbildung machten sich auch jetzt noch bemerkbar. Die Germanen jedoch wüteten in ihrem Siegestaumel, und es zeigte sich immer deutlicher ihre inzwischen kräfte- und zahlenmäßige Überlegenheit. Zwei Legionsadler, die über alles gehüteten Zeichen der Legion, hatten sie bereits erbeutet, Waffen und Gepäckstücke rissen die Germanen gierig an sich. Ein Adlerträger wollte den letzten Legionsadler um jeden Preis retten – er floh in wildem Lauf, von einer ganzen Horde Germanen verfolgt. Er blickte sich verzweifelt nach seinen Verfolgern um und rannte geradewegs auf ein sumpfiges Gebiet zu. Die Germanen waren ihm dicht auf den Fersen, blieben jedoch zurück, als sie merkten, dass der Boden nicht mehr trug. Der Legionär stapfte weiter und war schnell bis zu den Hüften versunken. Die Germanen weideten sich an seiner Qual und ließen ihn nicht aus den Augen, bis er gurgelnd, strampelnd und schreiend mit dem begehrten Adler im Moor versank. Der dritte Schlachttag breitete sich zu einem allgemeinen Gemetzel aus, und auch die von den Römern, die noch nicht verwundet waren, ließen sich widerstandslos niedermachen.
Als es keinen Zweifel mehr an dem überwältigenden Sieg der Germanen geben konnte, gab Arminius den Befehl zum Sammeln. Er verhöhnte die römischen Feldzeichen und die erbeuteten Legionsadler. Die Ausgelassenheit der verbündeten Germanen kannte keine Grenzen. Hoch aufgerichtet stand Arminius auf einem Hügel am Rande des Schlachtfeldes. Die Feldzeichen und erbeuteten römischen Legionsadler wurden von seinen Männern gehalten. Blut tropfte von seiner Armwunde, doch er schien es nicht zu merken. Voller Stolz schaute er auf die Germanen, die Hochrufe auf ihren Herzog ausstießen. Die Schlacht war beendet. Wer von den Römern nicht tot, verwundet oder gefangen war, hatte sein Heil in der Flucht gesucht. Der Himmel war immer noch grau und verhangen, nur für Augenblicke hörte es auf zu regnen. Die Sonne hatte sich tagelang nicht blicken lassen. Inguiomer und Adgandester rückten mit ihren Truppen heran, ebenso die Stämme der Marser unter dem Kommando ihres Fürsten Mallovendus sowie die Stämme der Brukterer, Abteilungen der Chatuarier, der Usipier, der Chasuarier und der Tubanten. Auch Segestes kam mit seinen cheruskischen Kriegern. Neidvoll beobachteten Inguiomer und Segestes die Huldigungen für Arminius. Kaum ein Hochruf auf Inguiomer oder Segestes wurde laut. Arminius reckte sich mit stolzgeschwellter Brust hoch auf und rief mit überschäumender Kraft: »Nieder mit den Römern!« Ein ungeheures Siegesgeschrei der Germanen stimmte in den Ruf ein. »Nieder mit dem römischen Joch!« »Es lebe Arminius!«, riefen die Umstehenden, und die Menge fiel ein.
Arminius wartete den Beifall und die Hochrufe ab, dann rief er: »Seht hier die einst so stolzen römischen Adler, wie sie ihre Fittiche hängen lassen, ihnen ist das germanische Wetter nicht bekommen!« Höhnisches Lachen und Beifall waren die Antwort. »Wo sind die tapferen Offiziere, wo ist der glänzende Feldherr Varus, ist das alles, was Rom uns zu bieten hat? Der alte Kaiser soll selbst aus Rom kommen mit seinen Legionen, wir werden nicht weichen! Dieses ist unser Land, und hier dulden wir keine römischen Eindringlinge!« Seine Stimme hatte sich bis zu Raserei gesteigert, sein Temperament riss die Männer mit, und das Siegesgeschrei des versammelten germanischen Heerbanns nahm kein Ende. Er wartete ab und fuhr fort, als die Massen sich beruhigt hatten: »Doch noch ist unsere Aufgabe nicht erledigt, die Reste der Römer haben sich in das Ausgangslager des Varus verkrochen – wir werden sie ausräuchern! Die Kastelle der Römer auf germanischem Gebiet werden dem Erdboden gleichgemacht! Wir dulden keine römischen Stützpunkte in Germanien!« Er blickte siegesbewusst um sich, vermied es aber, Ansgar anzusehen, und gab dann sofort das Zeichen zum Aufbruch und die Befehle zum Einsammeln der Waffen und des noch vorhandenen Gepäcks der Römer. Die Hornbläser schmetterten das Signal zur Beendigung der Schlacht, das dasselbe war, wie es die Germanen nach Beendigung einer Jagd bliesen. Nur lagen jetzt statt Hasen, Auerochsen, Wisenten und Hirschen tote Römer und Germanen auf dem Feld. Unmengen von Schwertern, Rüstungen, Helmen, Schilden, Speeren, Pfeilen und Bogen wurden eingesammelt und zu großen Haufen zusammengetragen. Oft mussten die Waffen aus den Leichen herausgezogen werden. Auch der persönliche Besitz des Varus wurde auf verendeten Lasttieren im Moor gefunden. Er
bestand aus silbernen Bechern, Schalen und allerlei Schmuckgegenständen, die gierig betrachtet wurden. Niemand dachte an morgen – schwere Zeiten für besonnene Leute. Ansgar hielt sich zurück, niemand hätte ihn in dem Gewühl verstanden. Die Zeichen standen auf Siegesfeier und Siegesschmaus.
Punktum, da haben Sie’s. Dafür stiften die Deutschen Denkmäler. Heldenverehrung. Ob Ernst von Bandel von daher seine Motivation bezog, die immerhin so stark war, dass sie ihn fast 40 Jahre am Hermannsdenkmal, diesem monströsen Standbild, werkeln ließ? Auch er hat sich ein Bild von Arminius gemacht, allerdings aus Bronze, mit erhobenem Schwert. Krönung seines Lebens war die Schwerterhebung, die Aufrichtung des Monstrums unter kaiserlichem Segen. Der fast erblindete Künstler durfte zur Feier des Tages zu seinem Kaiser in die Kutsche klettern – wenn das nichts ist! Ich brauche eine Pause von der Arbeit an diesem Buch, die mich mehr anstrengt, als ich mir selbst eingestehen will. Wir fahren nach Detmold; ich will den Mann auf dem Bild hinter meinem Schreibtisch sehen. Meine Erinnerung geht Jahre zurück. Die erste Fahrt zum »Hermann«! Mit der Tante und den Geschwistern per Bus bis Paderborn und von dort mit der Straßenbahn bis Detmold. Lippe-Detmold, eine wunderschöne Stadt… Dann der Aufstieg zum »Hermann«, der ungeheure Eindruck und die Genickstarre, die sich bald einstellte. Einfach überwältigend. Etwa 30 Jahre später. Wir schauen uns das Denkmal an und schütteln den Kopf über den nationalistischen Zeitgeist der Wandsprüche von 1870/71 – »DA ERSTUNDEN ALLE MIT PREUSZEN VERBÜNDETEN DEUTSCHEN VOLKSSTÄMME UND ZÜCHTIGTEN…FRANZOESISCHEN
UEBERMUTH…« Damit ist plötzlich der Zusammenhang hergestellt. Wie einfach das doch ist. Helden in einer langen Reihe bis Bismarck und noch weiter, alles Helden, bis zum »größten Feldherrn aller Zeiten«. In einer Außennische am Sockel des Denkmals lese ich unter einem Bronzerelief Wilhelms L: »Der lang getrennte Stämme vereint mit starker Hand Der welsche Macht und Tücke siegreich überwandt, Der längst verlorene Söhne heimführt zum Deutschen Reich, Armin, dem Retter ist er gleich.« Noch ein Held! Die Ahnenreihe stößt mir bedrohlich nahe an unsere Zeit. Für Bandels Geschichtsbetrachtung ist der Satz in der nächsten Nische bezeichnend: »Nur weil deutsches Volk verwelscht und durch Uneinigkeit machtlos geworden, konnte Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen, mit Hilfe Deutscher Deutschland unterjochen; da endlich 1813 scharten sich um das von Preußen erhobene Schwert alle deutschen Stämme ihrem Vaterland aus Schmach die Freiheit erkämpfend.« So leicht ist das. Noch ‘ne Schwerterhebung, immer gleich zum Schwert greifen, züchtigen, Übermut, gegen Verwelschung und Schmach. Ob Franzosen oder Römer, was spielt das schon für eine Rolle, schwarz-weiß ist einfacher, Unterdrücker und Befreier. »Armin haben wir es zu danken, dass wir in der uns angestammten Eigenthümlichkeit seiner That gedenken und sie nachpreisen können, seiner Schwerterhebung, dass im Anfange dieses Jahrhunderts ein deutscher König, gleich ihm dasselbe Schwert, mit demselben Erfolge, erheben und dass wir, Armins nächste Nachkommen, in derselben Sprache Kampf- und Siegeslieder singen konnten«, schreibt Bandel 1861.
Mir wird fast schlecht, als ich in einem Heft, das noch heute am Denkmal verkauft wird, seine Gedanken interpretiert finde: »Deutsche Eigenart wurde stets von außen bedroht, in der Geschichte durch die Römer und zu seinen Lebzeiten durch die Franzosen. Wirksame Begegnung auf diese Bedrohung war der vereinte Abwehrkampf aller Deutschen.« Es beruhigt mich ein wenig, dass es über die Nischensätze auch heißt: »Hier dokumentierte sich der Zeitgeist, der in übertriebener Selbsteinschätzung in einem Gegenwartszustand eine tiefere Wahrheit zu erblicken glaubte.« Übertriebene Selbsteinschätzung! Die Nischensätze allerdings sind immer noch da, das ist der Gegenwartszustand. »Der Ausblick von oben, einfach toll«, höre ich im Vorbeigehen. Ein wenig ratlos gehen wir um das Denkmal und betrachten den Andenkentisch; unter den »schönsten« Stücken Arminius und ein Klo kombiniert, Arminius abortus. Jan zeigt sich unbeeindruckt und bohrt in der Nase. Als ich ihn hochhebe und ihm die Figur zeige, sagt er: »Der hat ja’n Vogel auf’m Kopp und ‘n Stock in der Hand«, und will sich kaputtlachen. Nachdem er schon Stonehenge als Turnhalle bezeichnet hatte, musste so ‘ne Bemerkung ja kommen. Keine Ehrfurcht vor Denkmälern, mein Sohn, recht so! Zurück zu den siegreichen Germanen!
Am Abend des Tages versammelte sich fast der gesamte Stamm der Cherusker. Frauen, Kinder und Greise waren gekommen, um Arminius zu begaffen, der etwas Unwahrscheinliches geschafft hatte – die Römer, ihre Unterdrücker und Ausbeuter waren vertrieben, verjagt, getötet, vernichtet. Eine staunende Menge mit offenen Mündern umringte die Anführer. Fremd war er ihnen eigentlich immer
noch, dieser Arminius, wie sie ihn nannten, war er doch vor Kurzem erst zurückgekehrt. Immerhin – Segimers Sohn! Die Masse wollte die erbeuteten Waffen sehen, die man zu großen Haufen zusammengetragen hatte. Arminius verteilte die Waffen, Panzer und Helme und achtete darauf, dass jeder Krieger, der noch alte Waffen trug, zuerst ein erbeutetes Schwert oder einen Speer erhielt. Besonders begehrt waren die kunstvollen römischen Schilde, die aus Holz zusammengefügt und mit einem Metallrand eingefasst waren. Inguiomer und Segestes hatten der Verteilung der Waffen schweigend zugesehen, doch als es an die Verteilung des Varusschatzes ging, trat Inguiomer vor und rief mürrisch: »Dieser Schatz gehört mir, meine Leute haben ihn im Moor gefunden!« Segestes schwieg und wich den forschenden Blicken von Arminius aus. Arminius kannte seinen Onkel und wusste, dass es schwer war, ihm etwas auszureden. Doch er war der Herzog, und nach alter Sitte und Gewohnheit konnte er auf den Schatz nicht verzichten, deshalb rief er: »Auch du, Inguiomer, sollst deinen Anteil erhalten, ich werde den Schatz unter den Fürsten verteilen.« Die Cherusker drängten heran und bewunderten den Schatz des Varus. Auf kostbaren Teppichen hatte man die einzelnen Teile ausgebreitet, die dem Feldherrn Varus persönlich gehört hatten. Reich verzierte silberne Rüstungen, dem Körper genau angepasst, lagen neben den schweren silbergetriebenen Schalen und Schüsseln. Den Germanen, die an ihre einfachen Trinkhörner gewöhnt waren, gefielen besonders die Trinkgefäße in den schönsten Formen. Die Schalen waren mit Abbildungen versehen, eine stellte Herkules als Kind dar, wie er mit jeder Hand eine Schlange zerdrückte. Aber wer kannte schon Herakles oder Hercules?
Eine andere zeigte die den Germanen ebenfalls unbekannte Göttin Athene in langem fließendem Gewand. Die staunenden Krieger sahen Trinkgefäße mit zwei hochgezogenen Griffen, verziert mit Weinranken und Masken, die sie grinsend und lachend an den Mund legten, wie um das Trinken zu üben. Die anderen Gefäße zeigten Götter und Motive der Römer. Auf einer besonders prächtigen Schale war der Kaiser Augustus nachgebildet. Sie ging von Hand zu Hand, manch einer klopfte und roch daran. Selbst die Priester betrachteten den Schatz mit gierigen Blicken. Schon traten auch Adgandester und Mallovendus vor, um einen Anteil von dem begehrten Silber zu erhalten, doch da nahm der greise Oberpriester das Wort und sprach: »Seid nicht uneins, Fürsten, vor Wodan habt ihr feierlich Einigkeit geschworen, und diesen Schwur müsst ihr halten. Noch sind die Römer nicht besiegt, wir brauchen die Gunst Wodans, lasst uns den Schatz Wodan anvertrauen zu seiner Ehre und zu seinem Ruhme!« Arminius stutzte einen Augenblick und dachte an die Listigkeit der Priester, doch blieb ihm nichts anderes übrig, als zuzustimmen, und er rief einen Hochruf auf Wodan aus: »Heil sei Dir, Wodan, dem Weltenbeschützer!« Die Priester und die Umstehenden stimmten diesem Ruf zu, doch Inguiomer drohte seinem Neffen mit der Faust und verschwand. Dann waren die Germanen nicht mehr zu halten. Es wurden Vorbereitungen für die Siegesfeier getroffen. Überall an den Feuern wurden riesige Fleischstücke gebraten, und die Trinkhörner der Germanen wurden nicht leer vom wohlschmeckenden Met und Bier.
Lassen wir sie saufen, essen und schmatzen und um ihre Feuer tanzen, die Wilden, die Barbaren, wie die Römer sie nannten.
XIX.
Am frühen Morgen des nächsten Tages stellte Arminius eine starke Abteilung zusammen, um das Ausgangslager des Varus zu überfallen und die Überreste der Legionen zu vernichten. Man rechnete nur mit geringem Widerstand, doch musste man darauf gefasst sein, dass das Lager inzwischen schon weiter ausgebaut und befestigt worden war. Arminius ließ Wagen mitnehmen, auf die man zur Überwindung des Grabens und der Palisaden Stangen und Leitern packte. Als die Germanen das Lager erreichten, hatten die Römer bereits in der Feindrichtung den Wall besetzt, und sie empfingen die Germanen verzweifelt mit Pfeilsalven. Arminius ließ Bäume fällen und sie über den Graben legen. Dann teilte er die Truppen in vier Abteilungen auf, die durch die einzelnen Tore in das Lager eindringen sollten. Nach kurzer Zeit wurde das Signal zum Angriff geblasen, das von den verbündeten Stämmen an allen Seiten der Umwallung erwidert wurde. Die Römer konnten das Lager nicht schützen, zu kläglich war der Überrest der drei Legionen. Die Angreifer hatten leichtes Spiel. Die Legionäre an den Toren, die sich mit dem Mut der Verzweiflung wehrten, wurden in kürzester Zeit niedergemacht. Die Germanen stürmten auf die Wälle, und viele von den Römern ließen sich willenlos erschlagen, oder sie wurden in geringer Zahl zu Gefangenen gemacht, was für sie Sklaverei bedeutete. Römische Zwangsarbeiter, in der Geschichte die ersten unfreiwilligen Gastarbeiter in Germanien. Varus und seine Legionen waren damit vollkommen besiegt. Alles, was sich noch im Lager fand, wurde weggetragen, die
Pferde und Maulesel fortgeführt, und schon züngelten die ersten Flammen aus den Baracken. Das Feuer griff schnell um sich, und bald würden nur noch Wall und Graben von einer römischen Lageranlage zeugen.
XX.
Arminius war voller Tatendrang. Seine Augen glühten fiebrig. Auf nach Aliso! Zu lange war die Römerfestung im Germanenland Symbol der Macht und Herrschaft der Besatzer gewesen. Er ließ seine eigene Beute wegschaffen und zog unverzüglich mit den Truppen los. Ehe diese Festung durch Zuzüge römischer Truppen verstärkt werden konnte, musste sie zerstört werden. Andere Stämme der verbündeten Germanen bereiteten inzwischen die Eroberung der umliegenden Römerkastelle vor, und laufend wurde Arminius der Stand der Dinge gemeldet. Es blieb keine Zeit zum Nachdenken für ihn; der Druck der Ereignisse bestimmte immer mehr sein Handeln. Mit Ansgar hatte er schon seit Wochen kein vernünftiges Gespräch mehr geführt. Das Kastell Aliso war im Jahre 11 v. Chr. von Drusus als Stützpunkt und Proviantplatz der Römer erbaut worden. Nun vereinigte sich der Heerbann unter Arminius’ Führung vor dem Kastell. Bewundernd schauten die Germanen auf die hoch aufragenden Zinnen der großen Festung, die zwischen zwei Nebenflüssen am Lippeufer lag.
Ja, wo denn? Ich höre die Frage förmlich. Lasst mich ja mit dem Gelehrtenstreit in Ruhe! Über die Vorarbeiten zu diesem Buch bzw. über den »Abfall« werde ich extra ein Buch schreiben. Aber von der Hochschulprosa, die sich von Zitat zu Zitat hangelt, gibt es schon genug. Lesen Sie mal die Sekundärliteratur, sie verwirrt mehr, als dass sie Klarheit
bringt. Ich nehme an, Aliso lag zwischen Alme und Pader am Lippeufer. In der Nähe liegt ein Dorf, Verzeihung, jetzt ein Stadtteil von Paderborn namens Elsen. Der Name erinnert zumindest an Aliso. Andere sprechen von Oberaden bzw. Haltern, ich weiß, ich weiß. Wie ich schon sagte, ein extra Buch! Wenn wir gerade dabei sind, keiner kennt den genauen Ort der Schlacht. Tacitus hat sich leider nicht genauer ausgedrückt.
Der einzige Zugang zur Festung von Süden her war durch doppelte Gräben gesichert – ein wirklich hervorragender Platz. Vor dem Kastell standen der Altar des Drusus und die Siegessäule der Göttin Victoria. In der ersten Kampfeswut wurde der Altar auseinandergerissen, und Arminius befahl, die Göttin Victoria auf ihrem Sockel umzudrehen, damit sie nach Rom schaue, den Römern zur Mahnung, dass sie in ihrem eigenen Land bleiben sollten. Die Germanen führten allerlei Gerät mit sich: Leitern, Stangen und junge Baumstämme, in die man Kerben geschlagen hatte, dazu Stricke aus Flachs. Schon befand sich der tollkühne Adgandester mit seinen Chatten auf dem Boden des ersten Grabens, und die schnellsten Germanen kletterten aus dem Graben hoch, da wurden die Römer oben auf der Festung sichtbar und schleuderten ihre todbringenden Mauerspeere, die großes Gewicht hatten und mit Widerhaken versehen waren. Arminius gab ohne Zögern das Zeichen zum allgemeinen Angriff. Seine Leute schwenkten aus und umzingelten das Kastell. Inguiomer griff von Süden her an. Baumstämme wurden über die tiefen Gräben gelegt, und bald standen die ersten Cherusker vor der Festung, doch immer wieder wurden Speere von oben geschleudert, und die Germanenstämme hatten große Verluste. Als eine größere Zahl von Germanen unten die Leitern und
Kletterbäume anlegte, warfen die Römer Steine und versuchten, mit langen Stangen die Leitern umzustoßen. Viele kippten um, die Krieger fielen zu Boden, und nur einige tollkühne drangen im ersten Anlauf bis in die Festung vor. Der siegesgewohnte Arminius tobte vor Zorn. Er hatte gehofft, Aliso im Handstreich überrumpeln zu können, aber offenbar hatte die Festung in den Tagen der Varusschlacht Verstärkung erhalten. Wieder wurde zum Angriff geblasen. Arminius versuchte, an seiner Seite die Truppen auf einen Punkt zu konzentrieren und mit Äxten eine Bresche in die Festung zu schlagen. Dabei prasselten Steine auf die über den Kopf erhobenen Schilde der Germanen, die wie eine Schildkröte vorrückten.
Natürlich von den Römern abgeguckt, diese Holzschildgarage auf Füßen. Nicht mal ein Wort hatten die Germanen dafür: »Testudo!« Arminius hatte das Kommando auf Latein gegeben und für alle Fälle seinen eigenen Schild erklärend über den Kopf gehalten.
Die römischen Bogenschützen waren auf der Hut, und sie zielten sicher. Voller Ungeduld spornte Arminius seine Leute mit den Leitern an, doch wieder erreichten nur einige die Zinnen. Er eilte hin und her, aber der große Durchbruch misslang. Arminius raste vor Wut und Enttäuschung. Immer wieder flogen Speersalven auf die Germanen herab und richteten großes Unheil an. Riesige Steinbrocken wurden geschleudert und zermalmten germanische Krieger. Schließlich musste Arminius einsehen, dass die Verluste zu groß würden, und ließ zum Rückzug blasen. Die Stämme der Germanen sammelten sich widerwillig, und alle blickten enttäuscht und
finster. Verwundete und Tote zog man aus dem Bereich der todbringenden Speere und Steinbrocken. Arminius, Inguiomer, Adgandester und Mallovendus hielten Rat. Man musste die Römer aushungern, sonst wusste auch Arminius keine Lösung. Zu mächtig erhob sich das Kastell. Von der Festung erscholl jetzt ein Zeichen, kurz darauf wurden Germanen zu Arminius geführt, die die Römer gefangen hatten und nun freiließen. Sie waren grausam verstümmelt, allen acht Männern hatten sie beide Hände abgehackt. Die Verstümmelten erzählten mit schmerzverzerrten Gesichtern, man habe sie an vollen Getreidespeichern vorbeigeführt, offenbar war also noch genug Vorrat in der Festung, und Arminius zog sofort seine Schlüsse daraus. »Einrichtung auf lange Belagerung«, lautete sein Befehl, der sofort weitergegeben wurde. Keine Zeit zum Mitleid für die acht Männer. Der ungestüme Inguiomer drängte zu einem neuen Angriff, doch auch er musste einsehen, dass die Festung nicht einzunehmen war, und er fügte sich, wenn auch widerwillig, den Befehlen seines Neffen. Die Germanen zogen sich zurück und zündeten bei hereinbrechender Dunkelheit Feuer an und ließen die Festung nicht aus den Augen. Wachen wurden aufgestellt, und Kundschafter mussten das umliegende Gelände aufklären. Inguiomer kam zu Arminius. Er allein schien noch weiterkämpfen zu wollen: »Warum dieser Rückzug?«, herrschte er den Neffen an, »ist es das, was du bei den Römern gelernt hast? Wenn man eine Festung nicht einnehmen kann, räuchert man sie aus. Wozu dieses Zögern?« Arminius blickte den Onkel müde und erschöpft an, die tagelangen Strapazen machten sich jetzt bemerkbar. Ein zorniges Flackern in seinen Augen war die einzige Reaktion. Dann gab er den Befehl, die anderen Germanenherzöge herbeizuholen.
Und die Gegenseite, die Römer in der Mausefalle namens Aliso? Dort war die Stimmung trotz der erfolgreichen Abwehr der Germanen keineswegs gut, denn die Legionäre vermuteten, dass die Germanen es immer wieder versuchen würden. Die Angst saß wie ein großes, graues Gespenst mit in der Festung. Zu ungeheuerlich waren die Nachrichten vom Untergang der drei Legionen. Das Grauen und das nackte Entsetzen packten alle; die Festung hielt keiner mehr für einen hinreichenden Schutz. Frauen und Kinder waren dort, die den waffenfähigen Männern keine Ruhe ließen. Angst, Furcht, Schrecken und Kälte setzten ihnen besonders hart zu, und sie wollten die Festung unter allen Umständen verlassen. Sie stimmten ein so großes Gezeter an, dass die Möglichkeit eines Ausbruchs erwogen wurde. Caedicius, der Festungskommandant, schickte kurz darauf in der Nacht Trompeter aus. Sie schlichen sich durch den Belagerungsring der Germanen und bliesen dann die Signale einer anrückenden Armee. Die Germanen fielen auf den Trick herein, und in genau dem Augenblick wurde ein Ausbruch gewagt.
XXI.
Roma aeterna, ewiges Rom. Fama – ein Gerücht, das Gerücht des Tages, der Woche, des Jahres; bestätigte Nachricht von ungeheurer Wirkung. In Windeseile war sie vom fernen Germanien in die Hauptstadt der Welt gelangt. Drahtlos. Sie bewegte die Gemüter auf dem Forum, in den Straßen und Gassen. Überall standen Römer zusammen: »Habt ihr schon gehört, der Varus…?« »Unglaublich!« »Die drei besten Legionen!« »Vielleicht war er doch kein so guter Feldherr!« »Diese Schande! Was soll nur aus uns werden, wenn die Germanen jetzt kommen!« »Was, ihr wisst auch noch nichts? Der Varus, die Katastrophe, der Untergang…!« Ein paar Überlebende hatte es gegeben, wenige zwar, unvorstellbar wenige von diesem Riesenheer. Sie würden Rom nie wieder betreten dürfen, konnten in der Provinz ihr Dasein fristen, sollten froh sein, dass sie mit dem Schrecken davongekommen waren. In Rom wollte man sie nicht haben, wollte nicht ständig an das Unheil erinnert werden. Triumphzüge für die Siegreichen, Verbannung für die Verlierer! Marcus und Sixtus, die beiden Prätorianer, standen Wache im Hause des Maecenas in Rom, in das Augustus sich zurückgezogen hatte. Viele Leute, hohe Beamte, Offiziere und die Konsuln gingen hier aus und ein, immer wenn Augustus hier wohnte. Heute ging es besonders hektisch zu.
Marcus, der stets das Neueste wusste, wartete ab, bis sich die Tür zu Augustus’ Zimmer hinter einem Offizier geschlossen hatte, dann blickte er nach rechts rüber zu Sixtus und flüsterte: »Gestern habe ich ihn gesehen!« »Wen?«, fragte Sixtus. »Augustus natürlich!« »Na und!« »Na und, na und, die Niederlage des Varus hat ihn ganz schön mitgenommen, er hat Haare und Bart wachsen lassen, macht einen ungepflegten Eindruck, und ich habe selbst gesehen, wie er voller Verzweiflung mit dem Kopf gegen die Tür stieß und rief: ›Quinctilius Varus, gib die Legionen zurück!‹ Dann zerriss er seine Kleider.« Marcus machte eine Pause; Sixtus zuckte mit den Achseln, schien unbewegt und blickte geradeaus. Marcus holte tief Luft: »Der Jahrestag der Niederlage soll als Klage- und Trauertag begangen werden, interessiert dich denn wenigstens das?« »Wirklich?«, fragte Sixtus, »prima, wieder ein Tag frei!« »Ja, außerdem sollen Spiele zu Ehren des Jupiter Optimus Maximus veranstaltet werden, damit…« Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Offizier kam heraus, Marcus und Sixtus nahmen Haltung an und blickten geradeaus. Dann wusste Marcus weitere Einzelheiten zu berichten: »Augustus hat den Befehl gegeben, ein Ersatzheer auszuheben, doch unsere Jugend will sich nicht in die Stammrollen des Militärs einschreiben lassen!« Marcus erzählte, dass Augustus die Öffentlichkeit deshalb durch Lose bestraft habe, er erklärte Sixtus genau, dass von allen, die unter 35 Jahren waren, jeder Fünfte und von den Älteren jeder Zehnte kurzerhand seines Vermögens beraubt und für ehrlos erklärt worden war. Das regte sogar den gleichmütigen Sixtus auf. Marcus flüsterte weiter, dass
Augustus als zusätzliche Mahnung einige hatte hinrichten lassen, außerdem wusste er, dass sogar aus Freigelassenen und Altgedienten ein Heer aufgestellt worden war, das man unter dem Kommando des Tiberius nach Germanien abgeschickt hatte, um die restlichen zwei Legionen des Varus unter dem Kommando seines Neffen Asprenas zu verstärken. Am nächsten Tag war es Sixtus, der Marcus fragte: »Wie soll das denn jetzt weitergehen?« »Was?«, fragte Marcus. »Na, in Germanien!« Doch Marcus war heute sprechfaul: »Weiß ich nicht, vielleicht mit Tiberius oder Germanicus, ich kann ja auch nicht alles wissen!«
XXII.
Verfluchtes Aliso! Die Belagerungstruppen der Germanen vor dem Römerkastell waren inzwischen erheblich kleiner geworden. Die Germanen hatten nach den tagelangen Kämpfen eine Ruhepause nötig. Arminius konnte die Krieger nicht länger halten und musste sich selbst eingestehen, dass die Eroberung Alisos fehlgeschlagen war. Inguiomer fluchte und schimpfte. Alle anderen waren ernüchtert, und nach dem Kampfrausch der letzten Tage machte sich Hunger bemerkbar, der stärker war als Beutegier, und die einzelnen Stämme begannen, nach und nach in ihre Gebiete zurückzukehren. Der Wille eines einzelnen Mannes, Arminius’ Wille, reichte nicht aus, sie zu halten. Den eingeschlossenen Römern kam dieser Umstand zu Hilfe – außerdem hatte sich der Trick mit den Trompetern, die die Signale einer anrückenden Armee geblasen hatten, bewährt. Es gelang den Legionären tatsächlich, zu den Truppen des Asprenas und des herbeieilenden Tiberius zu stoßen und so der drohenden Vernichtung zu entgehen. Alle weiteren Absichten auf beiden Seiten machte der früh hereinbrechende germanische Winter zunichte, dem sich auch der ungeduldige Arminius beugen musste. Selbst er hätte keinen Krieger mehr mobilisieren können. Die totale Ruhe des germanischen Winters breitete sich aus. Zwar versuchten Segestes und Inguiomer, die Cherusker vor neuen römischen Legionen zu warnen, doch die Germanen genossen den Sieg und dachten wenig an morgen. Aber schon nach wenigen Tagen gab Arminius neue Befehle aus. Er musste seine Machtstellung weiter ausbauen und versuchen,
seine Krieger nach römischem Vorbild zu drillen. Die letzten erbeuteten Waffen und Geräte waren verteilt worden, und die germanischen Schmiede erhielten eine Menge Arbeit. Viele neue eiserne Schwerter mussten geschmiedet werden, denn Arminius wusste, dass die Römer wiederkommen würden. Steigbügel, Riemenbeschläge und Trensen für die Pferde wurden angefertigt, und Helme und Schilde für die Krieger mussten hergestellt werden. Nun kopierten die Germanen die Römer. Arminius genoss seine Macht und sein Ansehen bei den Cheruskern, doch er stieß auch auf Misstrauen und Neid, vor allem bei Segestes und bei seinem Onkel Inguiomer. Wie in Friedenszeiten kamen friesische Händler ins Land der Cherusker und boten Waren an, die sie aus Italien geholt oder mit römischen Händlern getauscht hatten. Begehrte Schmuckstücke für die Frauen wurden angeboten, Armreifen und Gewandnadeln aus Kupfer oder Zinn. Manch eine cheruskische Frau verkaufte den Händlern ihr langes helles Haar, das in Rom zu Perücken verarbeitet wurde, und erhielt als Gegenleistung Schmucksachen, Kämme oder Stoffe. Selbst Arminius konnte diesen Warenaustausch nicht verhindern. Er wetterte, wenn er davon hörte – germanisches Haar sei viel zu kostbar für die Lebedamen in Rom! Die Cherusker zuckten die Achseln und kümmerten sich wieder um die Wagen und Gerätschaften, die sie im nächsten Frühling zum Ackerbau gebrauchen würden. Die Frauen nähten knöchellange Hosen für die Männer und fertigten Schuhe aus Lederhäuten an. Die Essen der Schmiede wurden nicht kalt. Kräftige Schmiedegesellen stellten Beile, Sicheln und Framenspitzen her.
Die bienenkorbartigen Rundhütten wurden für den Winter verstärkt, unterirdische Wohnhöhlen wurden angelegt und mit Dünger gegen die Kälte überhäuft. Der normale Alltag kehrte zurück, fast schien es, als sei nichts, überhaupt nichts passiert.
XXIII.
Zum nächsten Vollmond nach dem Sieg über die Römer wurden die angesehensten Fürsten der Cherusker und die Anführer der Chatten und Marser, Adgandester und Mallovendus, zum Thing eingeladen. Es wurde Gericht gehalten über Segestes, den Verräter. Nur durch die Vertrauensseligkeit des Varus hatte der Verrat keinen Erfolg gehabt. Segestes hatte sich zwar widerwillig an den Kämpfen beteiligt, doch sein Verrat musste gerächt werden, so forderte es das jahrhundertealte ungeschriebene Gesetz der Germanen. Unter den Eichen im heiligen Hain wurden die Plätze abgesteckt. Krieger, Priester, Fürsten und Gefolge trafen ein. Inguiomer betrat mit seinen Leuten trotzig den Platz für Segestes. Er hatte sich zwar an den Kämpfen mit aller Kraft beteiligt, aber nur, weil er sich dem Volksbeschluss hatte beugen müssen. Einstimmig wurde die Ächtung des Segestes beschlossen, und Inguiomer kam erst gar nicht zu Wort. Arminius wurde die Aufgabe übertragen, den Schiedsspruch der germanischen Fürsten zu überbringen. Adgandester und Mallovendus sowie einiges Gefolge begleiteten ihn zur Eresburg, dem Sitz des Segestes. Gegen Abend kamen sie an, und Arminius wurde kühl empfangen. In strenger Form verlief die Begegnung mit Segestes, dem Arminius das Urteil der Stämme überbrachte. Segestes saß unbeweglich in seinem Stuhl, neben ihm seine Tochter Thusnelda. Die Anwesenheit Thusneldas war Arminius unangenehm, aber er hatte seine Pflicht zu erfüllen, und so sprach er mit deutlicher Stimme: »Die germanischen Fürsten haben dich, Segestes, aus ihrem Rat ausgeschlossen. Deine Waffen und die Waffen deiner
Männer sollen ausgeliefert werden, zur Jagd bleiben euch eure Wurfspeere. Du behältst den fünften Teil deines Viehs, das übrige wird als Entschädigung an die Grenzbewohner verteilt, denen die Römer ihr Vieh weggetrieben haben. Deine Burg wird dir belassen, doch die germanischen Fürsten setzten dir eine Bannmeile von zwei Wegstunden, wenn du diese überschreitest, bist du vogelfrei!« Kurz und bündig, dieser Fürstensohn mit römischer Ausbildung. Seine eiskalten Augen wichen denen des Segestes nicht aus. Der hatte unbewegt den Schiedsspruch der Fürsten vernommen, Thusnelda an seiner Seite war blass geworden. Er erhob sich jetzt zu seiner vollen Größe, strich über seinen Bart und sprach verächtlich: »Auch du, Sohn des Segimer, warst einst in römischen Diensten, du solltest die Römer kennen, sie werden wiederkommen und dich vernichten und mit dir unser ganzes Volk! Ich muss deine Bedingungen annehmen, doch merke, der Besiegte hat immer Unrecht, aber das Glück ist wetterwendisch – niemals wird mein Vertrauen zu Rom sinken!« Wortlos drehte sich Arminius um und verließ mit seinem Gefolge die Teutburg∗.
∗
Von Volksburg (Theot = Volk) vgl. auch Teutberg bei Detmold (Theotmali).
XXIV.
Um die Männer bei Laune zu halten und um die Wintervorräte zu ergänzen, wurde bei den Cheruskern eine großangelegte Jagd veranstaltet. Die Edlen der Cherusker, Krieger und Gefolgsleute, persönliche Freunde des Arminius, Ansgar, Wolfhart, Segimund, der Sohn des Segestes, Segithank und Heriwart, die beiden Unzertrennlichen, und viele andere beteiligten sich daran. Es war eine Jagd auf Großwild, den Ur, Hirsch, Wisent und Bär. Schon in der Nacht waren die Treiber aufgebrochen, um das Wild von den Kämmen der Berge in die Niederungen zu treiben. Das große Jagen! Mit Leidenschaft bis in die heutige Zeit gepflegt! Die Lust am Töten. Die Jagdgesellschaft überprüfte die Waffen und schwang sich auf die Pferde. In weitem Halbkreis ritten die Jäger los. Schon von fern hörten sie das Lärmen und das Rufen der Treiber, die, von den Bergen kommend, ihnen das Wild zutrieben. Ein Sprung Rehe jagte auf die Jäger zu und lief verstört hin und her. Die Jäger machten den Bogenschützen Platz und kaum ein Pfeil verfehlte sein Ziel. Vereinzelte Füchse und Wölfe, die sich durch die Jägerkette schleichen wollten, wurden kaum beachtet. Nur ab und zu traf ein schneller Pfeil einen Luchs, dessen Fell sehr begehrt war. Plötzlich hörte Arminius ein starkes Geprasse aus dem Unterholz, und kurz darauf durchbrach ein riesiger Hirsch das Dickicht, um in wilder Flucht die Niederung zu erreichen. Mit gewaltigen Sprüngen stürmte er vorwärts, das mächtige Geweih zurückgelegt. Blitzschnell eilte ihm Arminius entgegen und schleuderte ihm den kurzen Jagdspeer mitten
durchs Blatt. Zu Tode getroffen stürzte der starke Hirsch zu Boden. Doch schon dröhnte der Boden von Hunderten von Hufen, eine Wisentherde kam heran. Niemand hätte es wagen können, sich ihr entgegenzustellen, sie hätte alles niedergewalzt. Die Jäger ließen die Herde durch und griffen die Nachhut an. Arminius erblickte einen starken Bullen, der Witterung aufnahm, seinen großen Kopf senkte und auf ihn zu stürzte. Er empfing ihn mit Schwert und Speer, sprang kurz vor den Hörnern des Stieres zur Seite und trieb ihm sicher und genau zwischen Blatt und Nacken den zweiten Jagdspeer ein. Ehe sich der Stier umwenden konnte, sprang Arminius ihm nach und zerhieb mit dem Schwert die Achillessehne. Ein Zucken ging durch den schweren Körper des Tieres, der Jagdspeer hatte tief und sicher getroffen, das Tier stürzte. Arminius betrachtete den zottigen Kopf und die gewaltigen Gliedmaßen, die noch lange zuckten und heftig schlugen. Auch von den anderen Jägern wurde jetzt durch Zurufe Jagdglück gemeldet. Arminius war einen Augenblick abgelenkt und schaute zu Ansgar, der ihn offenbar auf etwas aufmerksam machen wollte. Da schob sich plötzlich langsam und vorsichtig ein übermannshoher Elch mit großflächigen Schaufeln und starkem Bart aus dem Unterholz. Sofort ging Arminius in Deckung, Ansgar war an seine Seite geschlichen. Der Wind stand günstig, und der Elch hatte die Jäger offenbar noch nicht bemerkt. Doch da – ein Knacken im Unterholz, der Elch war alarmiert, nahm sich aber trotzdem noch die Zeit, gemächlich in die Runde zu blicken, ehe er majestätisch davonlief. Überall ertönten Rufe und Jagdsignale. Die Herden waren durch die Treiber auseinandergesprengt worden, die Tiere irrten einzeln umher und wurden leichte Beute für die Jäger. Eine Urherde hatte sich geteilt, vier Tiere kamen auf Arminius und Ansgar zu. Sie scharrten mit den Vorderläufen,
senkten den Kopf, stellten den Schwanz hoch und bewegten sich auf die Jäger zu, doch dann bekamen sie anderen Wind und stürzten auf Segithanks und Heriwarts Stand zu. Ihr Gehörn war doppelt so lang wie das des Wisents und eine äußerst gefährliche Waffe. Mit sicheren Speerwürfen wurden zwei von ihnen von Segithank und Heriwart niedergestreckt. Den ganzen Tag über ging das Jagen, und die Jäger konnten keinen Augenblick verschnaufen. Arminius schien trotz anfänglicher Begeisterung nicht ganz bei der Sache zu sein. Früher hatte er die Jagd voll und ganz angenommen, sie gehörte zu ihm, war Teil seines Lebens, diente dem Lebensunterhalt. Er erinnerte sich an frühere Jagden mit seinem Vater Segimer, seinem Bruder Flavus und den anderen. Immer wieder hatte Segimer ihnen die Jagd als Lebensnotwendigkeit erklärt, als Bewährung für den Kampf, als Vorbereitung und Erprobung für den Krieg. Doch heute führte Arminius die Bewegungen rein mechanisch aus. Ohne große Anstrengung sprang er zur Seite und war sich der Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier bewusst. Seine Gedanken irrten ab. Würden die Germanen den Römern auf Dauer ähnlich überlegen sein? Er dachte an die wohlgeordneten römischen Schlachtreihen, an ratio und virtus – Vernunft und Tugend, die dahinter standen, an überragende Feldherren und an die Gesamtplanung eines ehrgeizigen und klugen Kaisers. Er begriff widerwillig die überlegene Kultur der Römer und erkannte, dass er die Gefühle und Emotionen seiner Leute aufputschen musste, damit sie diesen Kampf voll und ganz zu dem ihren machten. Er musste die Gefahr für sie noch übertreiben, musste dramatisieren, beschwören, um das Letzte aus den Männern herauszuholen. Ansgar stieß ihn an, doch er schien es nicht zu bemerken, mit aller Kraft zielte er mit seiner Frame auf einen Baum. Dieser
Wurf hätte früher mit tödlicher Sicherheit einen Ur, ein Wisent oder einen Bären getroffen. So aber blieb die Frame im Baum stecken, und der schwere Schaft wippte gemächlich hin und her. Wieder versuchte Ansgar, sich bemerkbar zu machen. »Ich kann mir sogar vorstellen«, sagte er mehr zu sich selbst, »dass mir eines Tages auch das Jagen keinen Spaß mehr macht. Immer nur töten! Vielleicht sollte ich darüber schreiben, wie unser gemeinsamer Freund Velleius, wenn unsere Sprache nicht so unvollkommen wäre – auch darin sind uns die Römer überlegen. Töten, töten, töten! Hast du wirklich mal darüber nachgedacht, was wir den Römern angetan haben?« Er trat so dicht an Arminius heran, dass dieser ihn ärgerlich anblickte, offenbar war ihm an einer Unterhaltung nichts gelegen. Ansgar schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf. »Ohne größere Not, ohne zwingenden Grund haben wir sie umgebracht! Wie sinnlos das alles ist. Dies hier kann ich ja noch begreifen – wir brauchen Fleisch, brauchen Nahrung –, aber wer ernährt sich schon von toten Römern? Die Römer haben recht, wir sind tatsächlich die Barbaren, barbarisch haben wir sie zugerichtet!« Arminius zuckte nur mit den Achseln und spähte angestrengt ins Dickicht. »Irgendwann«, presste Ansgar zwischen den Zähnen hervor, »irgendwann nehme ich meinen Abschied von dir, Arminius, das ist ganz sicher! Was die römischen Landser können, das kann ich auch! Bekomme ich dann auch eine Diploma von dir, für treue Dienste, oder reicht’s dazu nicht? Mal sehen, vielleicht kann ich sogar auch ‘ne Kneipe aufmachen, wie mancher Legionär nach seiner Dienstzeit, zum Beispiel in der Stadt der Ubier, das könnte mir schon gefallen. Wo gehöre ich denn eigentlich hin? Hier will ich jedenfalls auch nicht für
immer bleiben!« Er grinste. »Eure Frauen sind so spröde, und die Männer greifen immer gleich zum Schwert, wenn man sie auch nur ansieht, ihr seid ein eigenartiges Volk, ihr Cherusker! Mag sein, dass es ein Fehler war, dass ich bei diesem verrückten Unternehmen mitgemacht habe, eigentlich gefiel es mir bei den Römern ganz gut. Aber für einen Seitenwechsel ist es jetzt zu spät, fürchte ich. Schankwirt, das wär was, wenn das alles hier vorbei ist. Aber warte nur ab, das ist nicht alles, die Römer kommen wieder, verlass dich drauf! Wir sehen im Augenblick nur unsere Seite, unseren Sieg, aber die römische Seite des Sieges wird uns weniger schmecken, darauf kannst du Gift nehmen…« Arminius starrte noch immer ins Dickicht, aber nichts regte sich. Ansgar stieß den Kampfgefährten an: »Lass mich ruhig reden, du brauchst gar nicht zu antworten, mit einem Holzklotz redet es sich am besten, du könntest mein älterer Bruder sein, der war auch immer so…« Arminius drehte sich zur Seite, das Gerede war ihm offensichtlich lästig. Er könne jederzeit gehen, herrschte er Ansgar an, er halte ihn nicht, ob er etwa die Hosen voll habe, bei seinem Unternehmen könne er nur Männer gebrauchen, keine Plauderer und Dichter… Der Cheruskerherzog suchte nach weiteren Worten und war sichtlich erregt. Als das Signal zur Beendigung der Jagd geblasen wurde, entfernte er sich sofort, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ansgar schaute ihm belustigt nach und beobachtete die Jäger, als wenn er gar nicht zu ihnen gehörte. Die Beute war groß. Starke Haken wurden durch die Hinterbeine der erlegten Tiere gezogen, und die Treiber und Knechte schleppten sie mit Pferden zur Sammelstelle. Die Jagd war ungewöhnlich gut
ausgefallen, hatte aber auch zwei Treibern das Leben gekostet, die von einer Urherde niedergetrampelt worden waren, als diese plötzlich umdrehte und unerwartet auf sie zukam. Stolz und Freude über die erlegte Beute waren groß, und nach den Kämpfen mit den Römern schienen die Cherusker immer mehr zur gewohnten Lebensweise zurückzufinden.
XXV.
Es ist heiß hier in der Provinz Pannonien, am Balaton. Auf der Halbinsel Tihany stoßen wir auf steinerne Spuren der Römer. Arminius bleibt auch hier Phantom. Mein Manuskript verfolgt mich – ein kühles Bier soll die Arbeit erleichtern. Ha! Nein, nein, ich schweife nicht ab, was heute aus Pannonia/Ungarn geworden ist, dafür kann man nicht mal die Römer verantwortlich machen. Süd-Nord-Verschiebung, vertauschte Zugehörigkeit, das ist alles. Provinz bleibt Provinz, trotz anderer Bezeichnung. Noch ein Bier! Wie das Bier der Germanen wohl schmeckte? Aus Weizen oder Gerste, mit Schafgarbe oder Eberesche gewürzt! Allerdings konnte es nicht haltbar gemacht werden, deshalb mussten die angesetzten Vorräte stets ausgetrunken werden – um Ausreden waren schon die Germanen nicht verlegen! Sicher tranken sie am Abend nach der Jagd. Sie versammelten sich in Sippen, brachten ihre Vorräte an Bier und Met mit, legten sich bequem auf ihre Pelle und füllten die Trinkhörner. »Es lagen die alten Germanen, zu beiden Seiten des Rheins…« So entstehen langlebige Vorurteile und »geschichtliches« Volkswissen!
Arminius ließ in seinem Burggehöft die Trinkvorräte zusammentragen und sorgte dafür, dass seine Knechte die Trinkhörner stets aufs Neue füllten. Ansgar trank fleißig von dem Met und wurde immer lustiger. Die Cherusker hatten sich
an diesen komischen Kauz schon gewöhnt, der oft Witze machte, unverständliches Zeug daherredete, aber in der Schlacht ebenso gut wie Arminius sein Schwert zu führen wusste. Ansgar schaute sich abschätzend und grinsend um, so als suche er einen Gesprächspartner; er hob sein Trinkhorn und konnte einen Spruch nicht unterlassen: »Einfach sind unsere Väter, du aber, goldene Roma, prangst in des Weltalls Glanz, den du machtvoll eroberst!« Er leerte sein Horn in einem Zug und seufzte. Niemand achtete auf ihn, nur auf Arminius’ Stirn erschien regelmäßig eine Falte, wenn Ansgar zitierte, weiter kam von ihm keine Reaktion. Ansgar war sich mehr und mehr selbst überlassen. Er stellte sich in seinem Rausch vor, Vera sei gekommen, seine Frau. Vera und Thusnelda, die Cheruskerschöne. Er malte sich aus, dass die beiden Frauen sich auf Anhieb verstanden. Die kleine, zierliche Römerin Vera mit dem dunklen Teint und den lebhaften, braunen Augen. Dagegen die etwas kühl wirkende Cheruskerin Thusnelda mit der blonden Lockenmähne, dem kräftigen Körper mit den vollen Formen. Verstohlen blickte er auf Arminius und sah gleichzeitig Thusneldas Blick aus ihren wasserhellen Augen. Für sie musste Vera fremdartig sein, seine Vera; ihre Bewegungen, ihre Sprache, ihre Kleidung mussten einfach jede Germanin faszinieren. Sicher wirkte Thusnelda groß und unbeholfen neben seiner Vera! »Matrimonium multiplex, plures simul uxores habere«, murmelte er unwillkürlich auf Latein, einen Gesprächspartner suchend, »mehrere Weiber gleichzeitig, das wäre die Lösung, eine kühle Blonde – aber meine arme Vera…!« Er verfiel mehr und mehr in Selbstmitleid und leerte wieder und wieder sein Trinkhorn. »Ansgar cupidus. Cupiditas magna!∗«, murmelte er vor sich hin. ∗
Lüsterner Ansgar. Welch große Begierde!
Schließlich war keiner der Krieger mehr nüchtern. Sie prahlten gegenseitig von ihren Jagderlebnissen, und manche drohten den Römern das gleiche Schicksal wie den erlegten Tieren an, sollten sie es jemals wagen, nach Germanien zurückzukommen. Übermütige Späße wurden gemacht, getanzt und gelacht. Ansgar beteiligte sich wieder, nur Arminius wurde noch grimmiger, je mehr er trank. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Ansgar kam erst jetzt richtig in Fahrt und versuchte, Arminius aus seiner Reserve zu locken: »Was war eigentlich wirklich mit dir und Varus?«, fragte er unvermittelt in seiner flapsigen Art. Die Krieger horchten auf, sofort wurde es still in der Runde. »Hat er dich eigentlich verstoßen? Im Lager wusste doch jeder, dass du sein Geliebter warst, mehr noch, er liebte dich wie einen Sohn!« Ansgar blickte den Freund herausfordernd an, doch es kam keine Reaktion. »Hatte er einen andern? Du musst doch wissen, dass du von einem Römer keine Treue erwarten kannst! Fühltest du dich vernachlässigt? Was hätte er dir denn noch bieten sollen, dein Varus, etwa den Posten des Oberbefehlshabers? Ein Germane, ein Cherusker, dass ich nicht lache!« Ansgar schlug sich auf die Schenkel und genoss seinen Auftritt, er ignorierte, dass Arminius kochte, und spottete: »Oh, Göttergeschlechter, unterbrecht Brettspiel und Gesang, vergesst die Riesen vorm Götterheim – die Sonne wird schwarz, es sinket die Erde ins Meer, Arminius verstoßen, der Varus…« Weiter kam er nicht. Arminius stürzte auf ihn, schlug ihn zu Boden und zog sein Schwert. Ansgar kicherte immer noch,
rollte zur Seite, stand blitzschnell auf, suchte aber Abstand und machte eine beruhigende Geste. »Ruhig, ganz ruhig!« Er wusste genau, dass er den Bogen überspannt hatte, aber er konnte sich selbst nicht bremsen: Furchtlos kam er auf Arminius zu. »Was ärgert dich eigentlich so an den Römern?«, fragte er mit schwerer Zunge. »Wir beide brauchen uns doch nichts vorzumachen! Die Militärs in Rom lachen in Wirklichkeit über diese Art von Überfall, geben dem Tölpel Varus die Schuld und planen die Vergeltung! Glück haben wir gehabt, Ziu∗ oder Mars∗∗ oder wer auch immer waren auf unserer Seite, das ist alles!« Arminius schaute die sie umringenden Krieger prüfend an. Offenbar nahm keiner die Auseinandersetzung ernst, alle waren betrunken, prosteten ihrem Anführer zu, johlten und lachten und zerstreuten sich wieder. Hatten sie verstanden, was Ansgar gesagt hatte? Arminius fand es nicht der Mühe wert, mit Ansgar zu reden. Schankwirt sei schon der richtige Beruf für ihn, meinte er trocken und ließ sich sein Trinkhorn füllen. Schließlich zog er sich zurück, warf sich auf sein Lager und wälzte sich hin und her, bis er endlich unruhigen Schlaf fand. Er ritt auf seinem besten Pferd, im Eberkopf, mit allen seinen Leuten auf die schachbrettartige Aufstellung der römischen Truppen zu. Seltsam klein und winzig erschienen ihm die Römer, und das Bewusstsein seiner Stärke nahm zu. Nur die Hufschläge des Pferdes waren zu hören, die Germanen folgten ihm wie Schattenwesen. Näher und näher kam das Ameisenheer der Römer! Arminius trieb sein Pferd ungeduldig zur Eile an und umklammerte die Waffen fester. Schon stießen sie auf die erste Schlachtreihe der Legionäre – doch die ∗
Ziu (oder Tiu): germanischer Kriegsgott. Mars: römischer Kriegsgott.
∗∗
Soldaten, die er mit seinem Schwert traf, lachten und gingen unverletzt zur Seite. Arminius geriet ins Schwitzen. Er schaute sich um. Die Formation des Eberkopfes war seitlich ausgeschwenkt, und die Reihen seiner Krieger lösten sich auf, anstatt den Feind zu umzingeln. Die ersten stürmten bereits in die Wälder, ohne sich um die Römer zu kümmern. Sie schienen etwas zu verfolgen, was Arminius nicht erkennen konnte. Wütend schrie er seine Befehle und drang gleichzeitig weiter in die Schlachtreihen der Römer vor. Doch jetzt erscholl lautes Gelächter, auch aus den eigenen Reihen. Als Arminius zurückblickte, standen alle seine Krieger wieder in der keilförmigen Aufstellung, nur hatten jetzt alle Ansgars Gesicht. Viele tausend Krieger blickten ihn mit Ansgars spöttischen Augen an. Arminius fluchte und hieb wie wild mit dem Schwert um sich. Doch plötzlich hielt er erschöpft ein – die tausend Ansgars waren verschwunden –, die Römer rückten überlegen lächelnd heran. Sie kamen immer näher! Jetzt sah er die Gesichter der Legionäre ganz deutlich vor sich, das gleiche, gefrorene Grinsen auf allen Gesichtern. Erschrocken drehte er sich im Kreis. Allein! Umzingelt! Keine Rettung war möglich! Wild entschlossen stürmte er trotzdem auf die Menschenmauer los. Die wich vor ihm zurück, und es öffnete sich eine Gasse, in die Arminius mit seinem Pferd hineingaloppierte. Am Ende der Gasse stand ein überdimensionales römisches Feldherrnzelt mit drei riesigen Adlern davor. Als er näher herankam, verwandelte sich das Feldherrnzelt in den Kopf des Varus, und die riesigen Adler begannen, wie wild mit den Schwingen zu schlagen. Das Pferd scheute und stürzte. Die Adler verursachten einen gewaltigen Sturm, und Arminius stürzte und stürzte. Er schrie
laut auf. Bis schließlich wieder das Gelächter aus vielen tausend Kehlen einsetzte – Arminius erwachte. Schwitzend und keuchend lag er neben seinem Lager und fluchte, als er zu sich kam.
XXVI.
»Also leben die Frauen in Zucht und Keuschheit, nicht verdorben durch lüsterne Schaustellungen oder verführerische Gelage. Geheimer Briefwechsel ist Männern und Frauen gleichermaßen unbekannt.« Ach, Tacitus, zu sehr überträgst du römische Gepflogenheiten auf die Lebensbedingungen in den germanischen Urwäldern. Der Zweck wird deutlich: »Seht her, wie verderbt ihr seid, sie, die Germanen, sind noch unverdorben!« »Den Liebesgenuss lernen die Jünglinge erst spät kennen, deshalb ist ihre Zeugungskraft ungeschwächt!« Haltet euch zurück, Römer, und ihr habt länger was davon! Das führt nun aber wirklich zu weit!
Arminius und Thusnelda hatten sich verschiedene Male gesehen seit seiner Rückkehr, aber es waren immer nur flüchtige Begegnungen gewesen. Der Zufall führte sie zusammen. Chariomannus, ein alter Bekannter des Arminius, war eingetroffen und hatte seinen Karren an den Ringwällen vor Arminius’ Burggehöft abgestellt. Die cheruskischen Frauen waren herbeigekommen, um zu kaufen, zu tauschen, zu plaudern. Das sonnengebräunte Gesicht des weißbärtigen Händlers strahlte vor Freude, als auch Arminius kam. Sie begrüßten sich freundlich, doch Arminius hatte Thusnelda entdeckt.
Was ist mit dir, Thusnelda, warum hat man gerade deinen Namen so abgewertet im Laufe der Jahrhunderte! Ohne dich zu kennen! Wer nennt heute seine Tochter noch Thusnelda? Thusnelda, so wie ich sie sehe, trug ein ärmelloses Wollkleid, das unter dem Busen gegürtet war, und schlichte Ledersandalen an den Füßen, wie die anderen Frauen auch. Mein Gott, wenn ich an Gemälde aus dem 19. Jahrhundert denke! Überladen und kitschig. So sah sie sicher nicht aus, eher bäurisch-gesund und kräftig.
Freundlich begrüßte sie Arminius, den sie seit ihrer Kindheit kannte. Die anderen Frauen drehten sich um und flüsterten, als die beiden den Wagen des Händlers verließen und auf Segimers Burg zugingen. Jeder im Stamm wusste, dass Thusnelda Heriwart versprochen war, aber niemand sah darin ein Hindernis. »Die beiden gehören zusammen«, tuschelten die Frauen. »Das wird Segestes nicht zulassen!« »Segestes ist geächtet, Arminius hat die Macht!« »Trotzdem, Segestes ist der Vater!« »Tut nicht so, schließlich gibt es auch Raubehen!« Die Frauen bewunderten das Paar so laut, dass Chariomannus ein Schmunzeln nicht unterdrücken konnte. Arminius saß in der Klemme – die Tochter eines Verräters, der noch dazu geächtet war. Plötzlich brauchte er wieder Ansgars Rat. Doch der hatte nur wieder seine Albernheiten auf Lager. Arminius war unsicher. Niemand konnte seine Erklärungen ernst nehmen, er wolle Frieden schaffen mit Segestes und ihn wieder auf die Seite der verbündeten Stämme bringen. Alle wussten, dass die Gegensätze zwischen Arminius und Segestes unüberbrückbar waren.
Ansgar war für diesen Auftrag nicht zu gebrauchen, Wolfhart musste her. Arminius gab ihm eine Botschaft an Thusnelda mit, in der ein Treffpunkt vereinbart wurde. Unter dem Vorwand, den Abtransport von Segestes’ Vieh überwachen zu müssen, brach Wolfhart mit einer Anzahl von Kriegern auf. Nach seiner Rückkehr meldete er, dass Thusnelda mit der »Entführung« einverstanden sei. Nun aber ran! Noch in der gleichen Nacht machte sich Arminius auf den Weg zur Eresburg, nur wenige Männer begleiteten ihn. Thusnelda wartete schon mit ihrer Magd Ebba an der verabredeten Stelle. Ohne Zögern kamen die beiden Frauen auf die Männer zu, bestiegen die Pferde und ritten mit ihnen. Thusnelda sprach unerwartet heftig von ihrem Vater zu Arminius: »Sein Hass gegen dich ist unerbittlich, und ich glaube, er wird seine Verbindungen mit den Römern nutzen, mich aus deiner Gewalt zu befreien, denn er muss ja annehmen, dass du mich geraubt hast!« Arminius war völlig verändert. Er hörte nur zu. Keine Befehle, keine Anweisungen, nur zuhören und Thusnelda ansehen. Die Freunde, die mitritten, sahen ihn sogar lächeln und konnten sich nicht daran erinnern, ihren Herzog in den letzten Wochen und Monaten in ähnlich gelöster Stimmung gesehen zu haben. Ansgar spottete, als er den Kampfgefährten sah, freundlich und heiter sei er, der »germanische Feldherr«, der sonst so sture und ernste. Nicht wiederzuerkennen! Die Provokation in seinem Spott war unüberhörbar. Thusnelda blickte ihn so zornig an, dass selbst Ansgar verstummte.
Zweites Buch
DIE ANTWORT
I.
Augustus war tot! Trauer, aber auch Freude im Reich! Freude? Selbstverständlich! Das römische Volk als Gesamtheit erhielt vierzig Millionen Sesterzien, das Stadtproletariat drei und eine halbe Million, jeder Prätorianer, jeder Soldat, jeder Legionär war im Testament bedacht worden. Der alte Schlaukopf wusste, wie schnell das Volk vergaß, deshalb wurde ein Verzeichnis seiner Taten angelegt, im Monumentum Ancyranum∗ bis heute erhalten. Was ist von einem Mann zu halten, der am Ende seines Lebens an die Freunde die Frage richtete, ob er das Schauspiel des Lebens nicht ganz artig gespielt habe? Augustus ein Staatsschauspieler? Seine Vorliebe jedenfalls für das Rezitieren, das Deklamieren, dazu noch auf Griechisch, verließ ihn auch in den letzten Stunden nicht: »Hat das Ganze euch gefallen, nun so klatschet unserm Spiel und beginnt mit Freuden alle insgesamt den Beifallsruf.« Leicht und schmerzlos, heißt es, verschied er, in den Armen seiner Livia. Schwäche der Eingeweide! Na, na! Man muss ja auch nicht immer nur lästern! Demortuis nihil nisi bene!∗∗ Friede seiner Asche. Augustus, der ewig Kränkelnde, hatte immerhin das für die Antike überdurchschnittlich hohe Alter von »sechsundsiebzig Jahren weniger 35 Tagen« erreicht. Vielen Dank, Herr Sueton, Ordnung muss sein. ∗
Ancyra, heute Ankara; Tatenbericht des Augustus an der Außenwand des Tempels, in Abschrift und griech. Übersetzung erhalten. ∗∗ Über die Toten nichts, wenn nicht Gutes (reden).
Auch ein Mann fehlte nicht, bestellt oder nicht bestellt, der bei der Einäscherung unter Eid bezeugte, er habe »die Gestalt des Verbrannten zum Himmel emporsteigen sehen«! Der Erhebung in den Götterstand war damit der erste Weg geebnet! Und der Nachfolger? Alle Ränke, Intrigen und Hofklatsch lasse ich beiseite. Mord und Totschlag, auch Gift waren im Spiel – wer trennt die Spreu vom Weizen? Jedenfalls war Tiberius, Biberius∗ übrig geblieben, der ungeliebte, gedemütigte. Ob er seinem Raubstiefvater nachtrauerte, der seine hochschwangere Mutter seinem leiblichen Vater weggenommen, ja, schlicht weggenommen hatte? Er, Tiberius, war nur lästiges Anhängsel gewesen. Hatte Augustus die Ebenbürtigkeit, wenn nicht sogar Überlegenheit dieses jungen tüchtigen Mannes aus uraltem Adel, gegen den die Octavier Emporkömmlinge waren, gespürt? Neid des Schwächlings auf den Starken und Tüchtigen, der militärische Erfolge mit einer Lässigkeit errang, von der Augustus nur geträumt hatte? Jeden anderen hatte der Kaiser vorgezogen. Aber alle anderen Thronfolgepläne, auch die mit seinen Enkeln Gaius und Lucius, waren infolge frühen Todes vereitelt worden. So musste der alte Fuchs schweren Herzens Tiberius adoptieren, zwang diesen aber gleichzeitig, den Germanicus∗∗ zu adoptieren, und veranlasste noch dazu dessen Heirat mit seiner Enkelin Agrippina. Klare Familienverhältnisse – »hervorragende« Nachkommenschaft, allen voran Caligula, Aas Monstrum, heute verfilmt und als Protagonist in einer Blut- und Pornoorgie auf der Leinwand zu sehen. ∗
Wortspiel, das ihn als Säufer darstellen sollte. Eigentlich Gaius Julius Caesar, gen. Germanicus, Sohn von Tiberius’ Bruder Drusus. Der Beiname Germanicus wurde ihm vom römischen Senat wegen seiner Verdienste in Germanien verliehen. ∗∗
Wie viel Hass, wie viel Verachtung muss der junge Tiberius in sich hineingefressen haben! Nicht einmal seine Frau Vipsania Agrippina, eine Tochter des Marcus Agrippa, von der er einen Sohn namens Drusus hatte, war ihm von Augustus gegönnt. Als sie gerade wieder schwanger war, musste er sie auf allerhöchsten Befehl verstoßen und Julia, die Tochter des Augustus, heiraten, eine Dame, die, gelinde ausgedrückt, nicht gerade den besten Ruf besaß. Welch Wunder, dass Tiberius nach schnell durchlaufener Ämterlaufbahn und ersten Erfolgen Überdruss packte. Midlife-crisis? Möglichst weit weg von Rom! Sogar in den Hungerstreik trat er, als man ihn nicht gehen lassen wollte. Erst nach sieben Jahren kehrte er zurück und errang große militärische Erfolge in Germanien und Illyrien. Selbst Augustus musste ihn nun wohl oder übel als »den erfahrensten Feldherrn und als die einzige Stütze des römischen Volkes« lobend erwähnen. Tiberius war es, der für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt hatte! Auch den Vers des Ennius musste der Stiefvater auf den Erfolgreichen schließlich noch anwenden: »Ein Mann hat uns den Staat durch wachsame Sorge gerettet.« Dieser alte Heuchler! Lange genug hatte er Tiberius zurückgehalten, ihn gedemütigt. Schlechte Biographen hat er gehabt, Tiberius, Biberius. Aber etwas muss doch dran sein, rebelliert es in mir – seine Altersorgien auf Capri! Gaius Suetonius Tranquillus, warst du dabei, oder hast du den Hofklatsch getreulich und gewissenhaft übernommen? Endlich also war er doch noch Kaiser geworden, inzwischen 56 fahre alt. Er soll sich sehr geziert haben, wollte nicht so recht Amt und Würden übernehmen, was ihm sofort sehr übel genommen wurde. »Unverschämtes Gaukelspiel«, sagten die einen.
Darauf er: »Ihr wisst nicht, welch ein wildes Tier die Herrschaft ist!« Ein besonders Ungeduldiger: »Entweder er regiert jetzt, oder er hört ganz auf!« »Alles nur Taktik!« »Nun gut«, soll Tiberius, der jetzt den Beinamen des Augustus führen durfte, schließlich gesagt haben, er wolle regieren, »bis ich zu der Zeit gelange, wo es euch billig scheint, meinem Alter einige Ruhe zu gönnen!« Nicht mehr der Jüngste war er, vom langen Warten zermürbt, aber wie in jungen fahren groß, breitschultrig und stark. Ein Typ, der einen frischen Apfel mit einem Finger durchbohren konnte. Immer noch war er stets gesund, ohne sich um die Ärzte zu kümmern, vielleicht hatte Augustus ihn auch darum beneidet. Aber auch er hatte seine Ticks, lief stets mit einem Lorbeerkranz herum, weil er glaubte, dass ihn, damit versehen, kein Blitz treffen könne. Na wenn schon, was dem einen sein Robbenfell, ist dem andern sein Lorbeerkranz! Die Senatoren sprachen mit ihm über die Germanienpolitik, lagen ihm ständig in den Ohren, erwähnten auch immer noch die Varianische Niederlage, die inzwischen einige Jahre zurücklag.
Ein Tag in Rom im Jahre 14, ein normaler Arbeitstag des neuen Kaisers Tiberius. Sein Neffe und Adoptivsohn Germanicus hatte sich zur Audienz angemeldet. Jung und ehrgeizig, wie er war, begriff er die Niederlage des Varus als Chance für sich. Seit Anfang des Jahres 13 war er Oberbefehlshaber in Germanien, aber Tiberius hatte vorher mit Leichtigkeit die Rheingrenze gesichert, als die Hysterie in Rom hohe Wellen schlug, hatte
das Land systematisch militärisch aufgeklärt, Expeditionen ins Innere unternommen, breite Schneisen in die Wälder schlagen lassen und sogar die Offensive wieder aufgenommen, als der Feind sich nicht rührte. Germanicus brauchte daran nicht erinnert zu werden. Es wurmte den Jüngeren, dass es für ihn unter der straffen Leitung des Tiberius nur untergeordnete Funktionen gegeben hatte. Die heutige Audienz sollte Klarheit bringen, möglichst unumschränkte Vollmachten für den Kaisersohn. Das Gespräch hatte sich hingezogen, Germanicus hatte ungeduldig das höfische Protokoll eingehalten. Schließlich verließ Tiberius mit ihm den Palast, und sie gingen in den Garten. Der Kaiser schritt voran und hörte seinem Adoptivsohn aufmerksam zu, der energisch auf ihn einredete. Germanicus war kleiner, wirkte untersetzt, hatte lebhafte, scharfblickende Augen und eine starke, gebogene Nase. Durch sein vorstehendes Kinn wirkte der schmallippige Mund eingefallen. Die Ohren standen deutlich ab, selbst die lockige blonde Mähne konnte sie nicht verdecken. Die großen, graublauen Augen unter dichten, zusammengewachsenen Brauen blitzten den Älteren an. Mit den starken Händen gestikulierte er dabei; der ganze kräftige, gedrungene Körper bewegte sich mit. Sonnengebräunt und kraftstrotzend, dieser römische Prinz, ein Tatmensch! Immer noch sprach er, die höfische Zurückhaltung längst ignorierend, eindringlicher noch, so, als wolle er eine Antwort erpressen. Wenn er ein wenig zu ungestüm wurde, zog Tiberius gelegentlich eine Braue hoch, sagte jedoch kein Wort, ließ ihn reden. Es fiel auf, dass sie einander nicht mit den Namen anredeten – Onkel und Neffe, Vater und Sohn, Kaiser und Oberbefehlshaber der rheinischen Legionen, Tiberius und Germanicus.
Germanicus blieb stehen und stellte sich so vor Tiberius, dass dieser den Schritt verhalten musste. Als der Kaiser erstaunt aufschaute, wirkte er müde, deutlich sah man bläuliche Ringe unter seinen Augen, das Gesicht wirkte leicht aufgedunsen. »Ich brauche absolute Vollmachten«, sagte Germanicus laut, »sonst kann ich für nichts garantieren, denn wir sind uns doch wohl einig darüber, dass mit dem Gejammere ›Varus, Varus, gib mir die Legionen wieder‹ nichts gewonnen ist!« Germanicus machte eine Pause, als wolle er prüfen, welchen Eindruck seine Worte auf den Kaiser gemacht hatten. Dieser hüstelte und schien ein wenig aus der Reserve gelockt. Als er endlich sprach, klang es, als habe er sich die Worte seit Langem zurechtgelegt: »Es ist nicht so, dass ich diese Forderung nicht verstehen könnte, denn ich habe unter Augustus mit Illyricum das gleiche Problem gehabt. Wie du weißt, war es der schwerste aller auswärtigen Kriege seit den punischen, und wir haben ihn mit fünfzehn Legionen drei Jahre lang unter schwierigen Umständen geführt. Dieser Krieg war umso wichtiger, da der Feind den Reichsgrenzen sehr nahe war, was unter anderem vielleicht auch auf Germanien zutreffen mag. Die Unterschiede bestehen aber darin, dass wir mit Illyricum eine Provinz unterwarfen, die sehr reich und damit für Rom sehr wichtig ist. So wie sie sich heute darstellt in ihrer gesamten Ausdehnung zwischen Italien, dem Königreich Noricum, Thracien, Macedonien, der Donau und dem Adriatischen Meer – ist sie für Rom unersetzbar. Nichts berechtigt uns aber zu der Annahme, dass Germanien jemals eine solche Stellung einnehmen könnte. Wir können nicht die ganze Welt erobern, nur um jedem Prinzen seinen Triumph zu verschaffen!«
Bei diesen Worten zuckte Germanicus zusammen und beherrschte sich nur mühsam. Seine Wangenmuskeln waren in heftiger Bewegung. Tiberius ging gemessenen Schrittes weiter, blickte auf den Boden und fuhr fort: »Du weißt, wie groß die Gefahr war, dass sich die siegreichen Germanen damals mit den Pannoniern verbündeten – unsere erfolgreichen Kriegszüge wurden also gerade rechtzeitig unternommen! Wer aber zwingt uns jetzt, Germanien anzugreifen, wo die einzelnen Stämme mit sich selbst genug zu tun haben? Die Unbedachtsamkeit und Nachlässigkeit des Varus hat uns zwar großen Schaden zugefügt, das Reich selbst ist aber nicht ins Wanken geraten! Ich habe Augustus ausdrücklich versprechen müssen, die Rhein-Donau-Grenze zu halten, sie aber nicht weiter vorzuschieben, wie es lange unser Plan gewesen ist!« Tiberius, der Kaiser, hatte gesprochen, langsam, mit Betonung und mit deutlichen Gesten. Jetzt blickte er den Prinzen forschend von der Seite an. Germanicus schwieg, und die beiden Männer setzten ihren Spaziergang schweigend fort. Der Adoptivsohn des Kaisers war sichtlich verärgert, sein Gesicht war bleich geworden. Ohne mit dem Kaiser zum Palast zurückzugehen, meldete er sich abrupt zu seinen rheinischen Legionen ab. Tiberius schaute ihm lange nach, der Ausdruck in seinen Augen war schwer zu deuten.
II.
Germanische Urlandschaft. Wälder, Sümpfe, Moore und Heide. Landschaft mit dem Blut der Toten der Varusschlacht gedüngt. Langgezogene Häuser mit Rohr gedeckt, Menschen und Vieh unter einem Dach. Brachzeit. Keine Kämpfe, kein Blut, Ruhe in den cheruskischen Gehöften. Die üblichen Streitigkeiten hier und da. Stallgeruch, Wärme von Vieh in den Häusern, von der Feuerstelle in der Mitte. Rauch- und rußgeschwärzte Balken, Felle auf den Bänken längs der Hauswand. Dung vor dem Haus. Torfspitze, die zottigen germanischen Hof-, Jagd- und Hirtenhunde, lagen dösend in der Sonne, kein Fremder, den sie ankläffen konnten. Ruhe auf Arminius’ Burg, keine Krieger auf den Wällen oder an den Palisaden. Schwer drückte die Last, die Krieger der ehemaligen römischen Hilfstruppen zu unterhalten, jetzt schon fünf Jahre lang, dazu viele Freie, die für ihn gekämpft hatten. Die Beute, die sie in der Varusschlacht gemacht hatten, war längst aufgebraucht. Vom Ruhm allein ließ sich nicht leben. Jetzt verlangten sie von Arminius Kleidung, Nahrung, Bewaffnung. Gelegentliche Jagden hielten sie bei Laune, doch immer wieder wurde an den Feuern der Ruf nach Kampf laut. »Wann werden wir endlich die römischen Bastionen am Rhein angreifen?« »Wie lange noch sollen wir die römischen Stützpunkte dulden?« Hatte Arminius nicht schon zu lange gezögert? Hatte er seinen Sieg dadurch verschenkt? Die Cherusker murrten.
Die Thingversammlungen verliefen ohne Ergebnis. Es wurde von den Operationen des Tiberius berichtet, der es aber nicht wagen würde, bis zu ihnen vorzudringen. Viele verstanden Arminius nicht mehr. Und die anderen Stämme? Was interessierten sie die anderen Stämme! Zufällig hatten sie mit ihnen gegen Varus gekämpft, das war alles. Jeder Stamm hatte sich in sein Gebiet zurückgezogen, die sie gemeinsam bedrohende Gefahr war abgewendet. Nicht vergessen war die Zeit, in der man sich gegenseitig bekämpft hatte.
Von wegen Einheit und Freiheit! Kein Zusammengehörigkeitsgefühl, unsere germanischen Vorfahren. Vorfahren? Von wegen Vorfahren! Ein buntes Gemisch, kein Gesamtvolk. Der Name »Germanen«∗ ebenso ein historischer Irrtum wie »Hermann der Cherusker« für Arminius! Legendenbildung, Sage, Dichtung und Wahrheit. Ein bunter Kuchen, nach eigenwilligen Rezepten der jeweiligen Geschmacksrichtung entsprechend zusammengebacken. Das Ergebnis wurde wohlgefällig betrachtet. So waren die Germanen wirklich! Oder doch nicht! Oder so? Oder noch anders? Peinlich, wenn neuere Forschungen, neue Funde ein anderes Bild von den Germanen ergaben! »Nach den Funden in X muss aber festgestellt werden, dass…«
∗
Der Name wurde zuerst von Poseidonius aus Apameia, 135 bis 51 v. Chr. gebraucht und später von Caesar wieder aufgegriffen. Caesar meinte einen kleinen Teilstamm, aber der Name wurde nach und nach für alle »Barbaren« jenseits des Rheins gebraucht.
»Wie Tacitus richtig bemerkt…« Spüren Sie die Arroganz, die dahintersteckt: »Wie Tacitus ›richtig‹ bemerkt?« »Schon Diodor schreibt, dass…« Na, was schreibt er denn, der Diodor? »Die Germanen tragen gehörnte Helme und sind meist halbnackt. Ihre Blöße bedecken sie notdürftig mit Tierfellen.« Blödsinn. Schlicht und einfach Blödsinn. Vielleicht haben ihm römische Legionäre einen Bären aufgebunden. Und Herr Caesar, der große Gallieneroberer, der Imperialist, der Diktator? »Gallia est omnis divisa…«∗ Geschenkt. Latein, Jägerlatein, Caesarlatein! »Nachdem er… Als ihm dieses berichtet wurde… His rebus confectis… (ablativus absolutus) entschloss er sich.« Sie erinnern sich? Vornehme Zurückhaltung, dieses »er« für die eigene Person. Ich werde das auch mal versuchen. Er entfernt sich jetzt von seinem Thema, seinem Weg zu Arminius: Lateinstunden bei den lieben Jesuiten fällen ihm ein, eine, die einzige »unzüchtige« Stelle im Caesar, über die der Pater errötend hinweglas, steht klar vor seinem Sensorium: Jungen und Mädchen badeten gemeinsam in den Flüssen, die Germanen machten »aus der Verschiedenheit der Geschlechter kein Geheimnis«! »Setzen! Abgrundtiefe Schluchten der Unwissenheit, Kindlein, du sollst nicht phantasieren, du sollst übersetzen, das war nicht 5, das war 6!«, klingt ihm heute noch die sonore Stimme des Paters in den Ohren. Doch das war nicht er, das war ein anderer, ihm machte das alles merkwürdigerweise Spaß, scheint sich gehalten zu haben. Will er…? Soll er…? Ja, vielleicht noch jemand! Doch ja! Poseidonius! Richtig! ∗
Gallia est omnis divisa in partes tres… Gallien in seiner Gesamtheit (ganz Gallien) ist in drei Teile eingeteilt… (Anfang von Caesars ›Bellum Gallicum‹ bzw. ›De bello Gallico‹.)
Poseidonius aus Apameia schreibt: »Die Germanen nehmen mittags gebratene Fleischstücke zu sich, dazu trinken sie Milch und ungemischten Wein!« Auch er also ein Germane? Ein Cherusker, ein Chatte? Wenn er dann auch noch Karl heißt, der freie Waffenträger, oder Wernher! Jetzt geht er tatsächlich zu weit! Nehme er bitte die erste Person Einzahl wieder an! Aber er…! Verschwinde er… Aber… Hau ab! Ich bin in der Urlandschaft Germaniens, jedenfalls setze ich sie mir aus Quellen und Beschreibungen zusammen, und tatsächlich gibt es ja auch noch solche Urwaldfleckchen, kaum zu glauben. Zusammensetzen also, nicht träumen! Verlässliche Quellen. Saipo, germanisch: die Seife! Auswaschen müsste ich die Quellen. Was sich alles Quelle nennt! Sprudelndes Wasser, Meinung, Bericht, Sage, Erzählung, Roman, Gedicht, Geschichtsschreibung, Funde. Saipo! Die Germanen als Erfinder der Kernseife. Tatsächlich! Keine Waldschrate, sondern reinliche Leute. Rasiermesser, saipo, Kämme aus Knochen, Haarbürsten, Färbemittel aus Ziegenfett und Hammeltalg. Das Färben der Haare vor dem Kampf, um von den Kameraden nicht unterschieden werden zu können. Blond war »in«, aber auch Rot, bei den Chatten. Schon damals waren eben nicht alle Germanen blond, auch nicht blauäugig. Wie sie wohl tatsächlich aussahen, die Germanen? Kräftige Körper sicherlich, breite Schultern, Stiernacken mit großen, eckigen Westfalenschädeln. Andererseits die Mischung mit den indogermanischen Hirtenkriegern, ein bunter indoeuropäischer Mischmasch, melting pot of races! O Vater, pater, father, pere, pita, pitar – Sprachforschung, Ausgrabungen, Funde!
Ja, lesen Sie ruhig drüber hinweg! Aber saipo! Das Wort gefällt mir, Seife, Haarbürste aus Schweineborsten, und die Hose, die viel verlachte, verspottete Hose. Erst als es den Römern kalt wurde unterm Hemdchen bei germanischen Wintertemperaturen, da erkannten sie plötzlich den Wert der Hose. Sie gehörte fortan zur Sonderausstattung für Legionäre im Norden. Schade, dass wir keinen germanischen Dichter dieser Zeit kennen, spöttisches Kapital hätte er schlagen können aus dieser Hose, aus der Seife, der Haarbürste. Doch die Urlandschaft. Mitten darin auf einem Hügel im Walde, umgeben von Ringwällen und Palisaden, die Teutburg des Segimer – jetzt Arminius Burg, Thusneldas neues Zuhause. Wenig Abwechslung in den letzten Jahren. Ackerbau und Viehzucht, Anbau von Gerste, Weizen, Hafer, auch Flachs, auch Rapunzel. Die Tiere dazwischen, sämtlich kleiner als heute. Ein dreischiffiges Langhaus auf schweren Pfosten, Wände aus Flechtwerk und Lehm, daneben Speicher und Geräteschuppen, keine heroische Burg. Arbeit gab es genug. Für die Männer die Jagd, die Frauen arbeiteten unermüdlich drinnen und draußen, abends am Webstuhl, alle Kleidung wurde selbst hergestellt, Leder wurde gegerbt mit Eichenrinde; alles wurde gesammelt. Gürtelanfertigung mit der Schnalle als Symbol der männlichen Kraft. Ein Beutel dazu, in dem man seine Utensilien aufbewahrte, vielleicht einen Knochenkamm, etwas Hammeltalg oder saipo! Schilde wurden hergestellt aus Ahorn- oder Eschenholz. Manche wurden mit Leder überzogen. Und der »Held« der Varusschlacht? Arminius gab seine Anweisungen, er hatte sich in den Jahren in die Rolle des Cheruskerherzogs hineingelebt. Groß und kräftig, mit Hose und Fellumhang bekleidet, die selbst
hergestellten Lederschuhe an den Füßen. Der rechte Oberarm zeigte eine lange Narbe, Erinnerung an die große Schlacht, das Römerschlachtfest. Alles in mir sträubt sich, ihn heroisch »hoch zu Ross« darzustellen. Aber warum soll er nicht groß und kräftig gewesen sein? Sicher auch ein Hitzkopf. Ein Grübler war er geworden, mit einer tiefen Falte auf der Stirn, die Augen blickten streng. Und Ansgar! Der Ärmste! Verstoßen hatten ihn die römischen Schwiegereltern. Vergeblich war er in die Stadt der Ubier gereist, um Kontakt zu bekommen mit Vera, seiner Frau. Sein Leben hatte er dafür aufs Spiel gesetzt. Ohne Ergebnis. Doch er hatte sich bald getröstet, versuchte, Vera zu vergessen. Die Bräuche der Germanen kamen seiner lockeren Auffassung entgegen: freie sexuelle Entfaltung für den Mann, keine Bestrafung bei Untreue, Tod aber für den Ehebruch einer Frau, bei kleineren Tändeleien, vielleicht Petting außer Haus – Haare ab! Kein Kommentar, nicht mal ein ironischer, er könnte missverstanden werden. Die Frau als Besitz des Mannes! Andererseits großer Einfluss der Mutter, der Priesterin, der »weisen Frau«. Germanenleben im Jahre 14. Zwei Eichenalter von uns entfernt.
In der Zeit der Ruhe gärte und brodelte die Gerüchteküche bei den Cheruskern und anderen Stämmen. Arminius, Segimers Sohn, Sieger der Varusschlacht. »Er will König werden«, sagten einige. »Alleinherrscher über alle Stämme, die Römer haben ihn verdorben!« »Dauernd reitet er umher mit diesem Ansgar.« Doch wenn er bei Schiedsgerichten und Versammlungen sprach, stimmten ihm fast alle zu. Seine Leistungen in der
Varusschlacht waren nicht vergessen. Segestes wagte nicht, ihn anzugreifen, um die Tochter zurückzuholen. Inguiomer war wie immer, brummig und mürrisch. Loblieder auf Arminius an den Feuern konnten ihn zur Raserei bringen. Noch immer gab es die Partei der Römerfreunde. Argwöhnisch beobachtete man sich. Verändert hatte er sich, der Sieger. Der Abstand zu den einstigen Gefährten war größer geworden, anmelden musste man sich jetzt sogar, um zu ihm zu gelangen. Thusnelda, die Herrin auf dem Burggehöft, die Realistin, empfand nicht mehr nur naive Bewunderung für den Helden der Römerschlacht. Schwer war es für sie, mit einem Helden zusammenleben zu müssen, den man nicht kritisieren durfte, der seine Lebensaufgabe wie eine Vision ständig mit sich herumtrug, der dauernd davon sprach. Welche Lebensaufgabe, Vision? Schweigsam und verschlossen war sie geworden, die Tochter des Segestes. Hatte sie jemanden, dem sie ihre Sorgen anvertrauen konnte? Arminius und Thusnelda an der Feuerstelle im Flett∗ des Gehöftes. Der Herzog der Cherusker erwachte aus seinen Gedanken und Grübeleien. Er sprach seine Frau Thusnelda direkt an, fragte nach ihrer Verschlossenheit, wem sie nachtrauere. Ob sie noch an Segestes, ihren Vater, denken müsse? Thusnelda schaute ihn ungläubig an. Schon lange hatten sie sich nicht mehr ausgesprochen. Arminius hatte immer nur Monologe über seine Pläne gehalten, ohne Thusnelda jemals um ihre Meinung gefragt zu haben. Jetzt versprach er ihr, geduldig zuzuhören, als habe er diesen Fehler erkannt. ∗
Altnordisch »Halle«; Querschiff, das den Herdplatz ein schließt.
Zögernd begann Thusnelda: »Du weißt, dass ich schon früher, als ich noch der Munt∗ meines Vaters unterstand, eher deiner Meinung war als der meines Vaters. Aber eigentlich kannte ich ja die römische Kultur, wie du sagst, nicht, nicht einmal das Wort. Ich habe immer nur gelacht, wenn römische Händler kamen und so wild auf blondes Frauenhaar waren, und insgeheim habe ich die Römer verachtet. Durch dich habe ich jetzt eine ganze Menge erfahren, und ich beginne zu begreifen, dass Römer und Germanen in zwei ganz verschiedenen Welten leben, und ich beneide dich um das, was du bei den Römern gesehen und gelernt hast. Als Frau werde ich wohl kaum Gelegenheit dazu haben, Rom kennen zu lernen. Ich habe in den letzten Monaten und Jahren auch begriffen, dass du einerseits Rom schätzt, denn deine Hochachtung spricht aus jedem Satz, wenn du mir von den Römern und ihren Leistungen erzählst, andererseits sprichst du zu den Kriegern unseres Stammes eine ganz andere Sprache. Du glaubst wahrscheinlich, ich sei naiv, trotzdem durchschaue ich das Spiel…« Es schien, als wolle Arminius ihr ins Wort fallen, aber Thusnelda wehrte ab und fuhr fort: »… doch, ich durchschaue das Spiel, aber kann man wirklich beides – kann man Rom lieben und es gleichzeitig bekämpfen? Könnte unser Volk nicht sehr viel von den Römern lernen? Nach allem, was du sagst, sind die Römer doch sehr viel weiter als wir, wir sind doch die ›Barbaren‹, wie du sagst, die Ungebildeten! Ich glaube nicht, dass durch den Krieg, den du gegen Rom planst, hier irgendetwas verbessert wird. Warum können nicht zwei Völker ihre Erfahrungen austauschen, muss es unbedingt ∗
Althochdeutsch »schützende Hand«, Schutz- und Fürsorgegewalt des Hausherrn, vgl. Mündel, Vormundschaft etc.
immer zum Kampf kommen? In diesem Falle trägst du die Verantwortung für die vielen Toten, die…« Arminius hatte bis jetzt schweigend zugehört. Bei dem Wort »Toten« schreckte er jedoch auf und erzählte Thusnelda in schnellen Sätzen von den vielen Toten, die er auf den Schlachtfeldern gesehen hatte, von der gewaltigen und gefräßigen Heeresmaschine Roms, die sich immer weiter vorfräße, wenn man ihr nicht Einhalt geböte. Er sprach davon, dass auch er nicht für den Krieg sei, aber Kampf gegen die räuberischen Arme Roms sei notwendig, um in Ruhe und Frieden leben zu können. Er brachte alle Argumente, die er schon in früheren Gesprächen benutzt hatte, doch überzeugen konnte er Thusnelda nicht, sie fiel wieder in ihre verschlossene Haltung zurück, senkte den Kopf und schwieg. Als sie auf alle seine Argumente nicht mehr reagierte, sagte er leichthin: »Ich merke, du bist auch schon von deinem Vater angesteckt worden, der…« »Lass meinen Vater aus dem Spiel«, unterbrach sie ihn schroff, »du weißt genau, dass ich nicht so denke wie er, sondern…« Doch sie wurden unterbrochen. Ein Knecht machte sich bemerkbar und meldete, dass ein Händler gekommen sei. Naso, der friesische Händler, mit seiner Adlernase einem Raubvogel nicht unähnlich, brachte lang ersehnte Abwechslung in die Cheruskergehöfte. Ansgar war einer der Ersten am Händlerkarren, begutachtete Nasos Waren, fasste dies und das an, spottete: »Roma, auch du kannst von uns lernen, du Stolze, saipo, die Seife, und Borsten am Holze, und die Hose« –
er zog eine Hose vom Händlerkarren und lachte laut schallend –, »die Hose bedecket des Mannes Zier, sicher und warm sind wir in ihr, du aber…« Er ging auf Naso zu, der erschrocken zurückwich, »du aber, greifst gierig nach uns’rer Frauen Haar, dem blonden und langen, suchst geil sie zu fangen, lass sehen, o Naso, Pelze, Leder, kein Getreide? In Rom locken Silber und Seide, einfach die Waren, schlicht dein Gemüt«, er klopfte dem verdutzten Händler auf die Schulter, »es lebe der Austausch, der Handel blüht, Germania, du Stolze, erfindest die Seife und Borsten am Holze, Roma…« Er drehte sich um. Die Frauen, Knechte und Mägde kamen, auch Arminius und Thusnelda. Naso zupfte verlegen an der Nase, schaute verwirrt auf Ansgar, dann auf Arminius. Nicht nur Waren brachte er in das Cheruskerland. Die Meldung, die er für den Herzog hatte, war wichtige Bestätigung der Kundschafterberichte. Nasos friesischer Dialekt klang fremd für Cheruskerohren, die Nachricht, die er brachte, verstanden trotzdem alle. Jetzt war es Gewissheit: Der römische Prinz Germanicus war mit 120 Hundertschaften in Germanien eingefallen.
III.
Es waren Chatten, die den Brief von Velleius brachten. Ein Brief von Velleius Paterculus? War der nicht längst vergessen? Plötzlich standen sie vor den Wällen zu Arminius’ Burg, und ein Knecht führte sie durch den matschigen Hof an den Speichergebäuden vorbei zum Wohnhaus. Die struppigen Torfspitze erwachten aus ihrer Ruhe und kamen kläffend angerannt. Einer knurrte böse, als die Männer an ihm vorbeigingen, weil er seinen Knochen in Gefahr sah. Überall lagen Knochen und Fleischreste, auf die sich sofort unzählige Fliegen setzten, wenn die Hunde von ihnen abließen. Arminius erkannte den Kurier im Range eines Centurio wieder an der Verwundung am Kinn und dem schief stehenden Mund. Der Centurio übergab den Brief, grüßte und wollte mit seinen beiden Begleitern sofort umkehren. Offenbar war der Brief für Velleius so wichtig gewesen, dass er extra drei Mann für diesen Kurierdienst abgeordnet hatte. Ein mutiges Unternehmen war es schon, dachte Arminius, dass Hilfstruppenkrieger den Brief zu diesem Zeitpunkt überbrachten, noch dazu in der vollen Ausrüstung römischer Soldaten. Er versuchte vergebens, die drei Chatten gastfreundlich zu bewirten, sie schienen allerhöchsten Befehl zu haben, ohne eine Antwort abzuwarten, sofort wieder aufzubrechen. Wieder grüßte der Centurio, und die drei ritten davon. Arminius blickte ihnen nach, bis sie hinter dem Wall verschwanden, und öffnete dann die Briefrolle. Velleius hatte sich sogar die Mühe gemacht, den Brief von einem Heeresschreiber schreiben zu lassen. Arminius begriff,
dass dieser Brief auch für den Schreiber wichtig war, er kannte den Ehrgeiz seines früheren Freundes, der bemüht war, sich als Geschichtsschreiber und Schriftsteller einen Namen zu machen. Sie hatten oft darüber gesprochen, und Arminius hatte die Einseitigkeit des Velleius kritisiert, weil Tiberius Mittelpunkt seines Weltbildes war und er den neuen Kaiser über alles verehrte. Sicher würde er auch diesen Brief in sein Geschichtswerk aufnehmen. Arminius las das Schriftstück, das in lateinischer Sprache geschrieben war, die er selbst fließend beherrschte. Mit dem Schreiben hatte er allerdings immer Schwierigkeiten gehabt. Leider! Der Brief hatte folgenden Wortlaut: »Salve Arminius, Rom ist stets sehr großzügig gewesen und hat viele Barbarenvölker in seine Freundschaft aufgenommen. Die meisten haben sich dieser Ehre würdig erwiesen. Für sie war Rom Kulturbringerin, und sie profitierten von der Pax Romana∗. Die Cherusker waren nur ein kleines Volk, in einer unbedeutenden Provinz, dem Rom seine Freundschaft ohne Gegenleistung anbot. Die Söhne des Stammeshäuptlings Segimerus wurden als besondere Auszeichnung in die Auxiliartruppen∗∗ aufgenommen, in denen beide zu Führern ausgebildet wurden und so Sprache, Kultur und die machtvolle Größe Roms kennen lernten. Rom öffnete seine Tore weit, und die einflussreichsten Familien boten Adoption, das heißt völlige Gleichstellung und
∗
»Römischer Friede«, Sicherheit durch Rechtsnormen in der gesamten Kulturwelt des röm. Weltreiches, symbolisiert durch die Göttin Pax auf den Münzen. ∗∗ Hilfstruppen, bestehend aus Germanen, Galliern etc.
noch mehr. Die römische Ämterlaufbahn stand beiden, je nach ihren Fähigkeiten, offen. Doch der ältere von beiden schlug der Mutter Rom im Augenblick ihrer Liebeswerbung ins Gesicht. Dies ist umso schändlicher, als es in Varus einen Statthalter Roms traf, der den Arminius von früheren Feldzügen her kannte und ihm sein volles Vertrauen geschenkt hatte. Vertrauen ist für einen Römer kein leeres Wort, und es wird nur einmal missbraucht. Dieser Vertrauensbruch kostete Rom drei Legionen und schändete gleichzeitig die Achtung vor einem jungen Volk, wie es die Germanen sind, die bisher am Rande der Zivilisation lebten. Für Rom sind drei Legionen nicht unersetzbar, und bald wird ein neuer Feldherr Legionen ausheben, Schiffe bauen und einen Feldzug nach Germanien vorbereiten, der alle vorherigen übertreffen wird. Es gilt, die Ehre Roms wiederherzustellen, die Leichen der varianischen Legionen zu bestatten und die wirkliche Machtstellung zu beweisen. Rom ist immer großzügig gewesen, wie ich bereits sagte, es hat auch immer wieder reumütige Kinder aufgenommen, wenn sie ihre Verblendung erkannt hatten und zurückkehrten, solange es noch nicht zu spät war. Großmut und Vergebung zeichnen die Mächtigen aus. Rom ist mächtig!« Der Brief war datiert und unterschrieben, es folgten die Bezeichnung von Velleius’ Einheit, der Vermerk des Heeresschreibers und der Kurierauftrag. Nachdenklich rollte Arminius den Brief zusammen.
IV.
Spätherbst des Jahres 14. Viele Laubbäume waren schon kahl, andere trugen noch ihre rostfarbenen Blätter. Kalter Wind wehte. Mensch und Tier bereiteten sich auf den Winter vor. Die Germanenstämme gruben unterirdische Höhlen, überhäuften sie mit Dung – streng war der germanische Winter. Lang würde er sich hinziehen, wehe dem, der nicht vorgesorgt hatte! Ein gespenstischer Zug zog unterdessen vom Rhein her ostwärts. Wie eine lange Schlange fraß er sich fast lautlos durch ausgehauene Schneisen auf das Gebiet der Marser zwischen Lippe und Ruhr zu, die Tiberus hatte anlegen lassen. Der kilometerlange Zug römischer Legionen, 12000 Mann, dazu 26 Kohorten und 8 Reiterregimenter Hilfstruppen, war sorgfältig abgesichert – Auxiliarinfanterie hatte der Feldherr vorausgeschickt, um das Gelände zu erkunden und mögliche Angriffe abzuwehren, die Vorhut, durch das Los ermittelt und durch einen Trupp Reiter verstärkt, hatte die Aufgabe, sorgfältigste Feindaufklärung zu betreiben, danach kamen zehn Mann aus jeder Centurie, die Werkzeuge für den Lagerbau trugen, unmittelbar darauf folgten die Pioniere, die der Marschkolonne den Weg bahnen mussten. Denn im Caesischen Wald, nördlich der mittleren Ruhr, stieß der römische Heereswurm auf unbegangenes Gebiet, und die Pioniere leisteten Schwerstarbeit. Der Feldherr Germanicus folgte inmitten einer starken, berittenen Eskorte, bestehend aus seiner persönlichen Leibwache und einem Teil der Hilfstruppensoldaten. Danach folgten die höheren Offiziere und dahinter zu sechst die
Legionäre. Die Nachhut bildeten ein starkes Kontingent schweren Fußvolkes und der Rest der Reiterei. Jeglicher Tross fehlte. Die Armee bewegte sich in Eilmärschen. Germanicus trieb ungeduldig zu immer größerer Eile an. Dreißig Kilometer etwa schaffte das römische Heer, wenn ein Feldherr aber besonders ungeduldig war, konnten es auch gut und gerne 50-60 Kilometer werden. Und ewig latscht der Landser! Selbst der Einbruch der Dunkelheit konnte das Ungestüm des Eroberers nicht zügeln, schon murrten die Legionäre, und die ersten stolperten. Bald war es so dunkel, dass ein Weitermarsch unmöglich war. Kein Zeichen wurde gegeben, sondern plötzlich setzte sich das Halt von vorn nach hinten durch. Wie durch Spuk stand die ganze Armee – man hatte vereinbart, so lange wie möglich zu marschieren. Kein Lager wurde aufgeschlagen. Die übermüdeten Legionäre der Vorhut legten zusammen mit den Pionieren einen Wall an, desgleichen die Soldaten der Nachhut. Alle anderen Legionäre jedoch schützten die langen Flanken des Heeres durch Astverhaue – man errichtete Barrikaden aus dem Unterholz und campierte dann. Kaum war das erste Tageslicht zu erahnen, wurde der Befehl zum Aufbruch gegeben – wieder wurde kein Signal geblasen, der Befehl wurde von Mund zu Mund weitergegeben, die Centurionen rüttelten die verschlafenen Legionäre wach, die leise vor sich hin fluchten. Kurz darauf war die Armee wieder auf dem Vormarsch, und der Feldherr trieb wieder zur Eile an. Späher kamen zu ihm und meldeten, dass die Marser ein Fest feierten und völlig ahnungslos waren, nicht einmal Wachen hätten sie ausgestellt. Germanicus verzog den schmallippigen Mund, das Kinn wurde noch energischer nach vorn geschoben – weiter ging es.
Am Abend des darauf folgenden Tages hatte man das Gebiet der Marser erreicht. Wie ein vielarmiger Polyp entfaltete sich nun auf Germanicus’ Kommando die Armee in vier Kolonnen und streckte ihre gefräßigen Arme aus – die Dörfer der Marser wurden umzingelt, und dann kam wie aus heiterem Himmel das erste Signal dieses Feldzuges, das von allen Seiten erwidert wurde. Trupp für Trupp stießen die Legionäre vor, drangen in die Rundhütten und Gehöfte ein – hieben und stachen in grausiger Lautlosigkeit auf die schlafenden, torkelnden und aufstöhnenden Germanen ein. Gellende Schreie der Frauen und Kinder steigerten noch den Blutrausch der Legionäre, von den Offizieren wurden sie angestachelt, Rache zu nehmen für ihre toten Kameraden aus den Legionen des Varus. Ein ungeheures Gemetzel begann – niemand wurde verschont –, Frauen, Kinder, Greise wurden erbarmungslos niedergemacht, die Legionäre stießen kaum auf Gegenwehr, und nach wenigen Stunden war die blutige Arbeit verrichtet. Germanicus ließ zum Sammeln blasen, und gehorsam kamen die Legionäre zurück und formierten sich neu, wischten das Blut von den Schwertern und brachten ihre Ausrüstung in Ordnung. Sonderkommandos setzten die Hütten in Flammen, und eine Abteilung wurde abgeordnet, das Tanfanaheiligtum zu zerstören. Doch nicht genug – Germanicus ließ über eine Strecke von 50 Meilen durch Feuer und Schwert alles verwüsten, was noch nicht zerstört war. Dann endlich war der Feldherr zufrieden und ließ zum Rückzug blasen.
V.
Arminius schrie und tobte vor versammelter Mannschaft. Seine Schläfenadern schwollen bedrohlich an, das Gesicht war rot vor Zorn. Mit solchen Trunkenbolden solle man nun Krieg führen, die Marser hätten sich das selbst zuzuschreiben! Nicht einmal Wachen auszustellen, das sei gegen jede Abmachung! Ob man denn schon alles vergessen habe? Diese Schlamperei dürfe sich auf gar keinen Fall wiederholen. Das alles sei nicht nur ein Fehler der Marser, das sollten sie sich nicht einbilden! Seine Krieger aus den Hilfstruppen der Römer seien die Einzigen, die man als Soldaten bezeichnen könne, die anderen wären Wilde, die nach jeder Kampfhandlung nach Hause liefen und sich besaufen müssten. Damit sei jetzt Schluss, auch müsse man endlich Anführer wählen, Offiziere wie bei den Römern, die die Verantwortung übernehmen müssten, an Zusammengehörigkeit sei sonst nicht zu denken! Die umstehenden Krieger schwiegen betreten und strichen verlegen über ihre Waffen. »Heute die Marser, morgen wir, ihr Idioten, seht ihr das nicht ein!«, schrie Arminius, brach eine Frame entzwei und schleuderte beide Teile weg. Er war nicht zu beruhigen. Selbst Ansgar verzichtete auf seine üblichen Witze, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Arminius polterte etwas beherrschter von lebensgefährlichem Leichtsinn und schilderte die Gefährlichkeit der römischen Legionen. Inguiomer und Segestes hatten sich nicht blicken lassen. Die Umstehenden sahen auf Arminius und waren ratlos; als sie jetzt auch noch von Arminius wegen ihrer Ratlosigkeit
verspottet wurden, entfernten sie sich langsam und unsicher, so als trügen sie Mitschuld am Überfall auf die Marser. Arminius und seine Unterführer blieben zurück und beratschlagten Maßnahmen, damit diese Katastrophe sich auf keinen Fall wiederholen könnte. Sofort wurden Späher ausgesandt, die den Rückzug der römischen Armee beobachten sollten, andere mussten die Nachbarstämme der Marser, die Brukterer, die Tubanten und die Usipeter alarmieren. Dann wurde ein starkes Kontingent von cheruskischen Kriegern aufgestellt, und Arminius befahl unverzüglich den Aufbruch. Schon bald stieß er mit seinen Leuten auf die römischen Legionäre, die in ständiger Gefechtsbereitschaft westwärts zogen. Er befahl Halt und beobachtete. Germanicus stellte sein Heer auf freiem Feld zur Schlacht auf. An der Spitze standen ein Teil der Reiter und die Hilfstruppen, hinter ihnen in altbewährter Formation die erste Legion, die linke Seite deckte die 21. Legion, die 20. den Rücken, die rechte Seite schließlich sicherte die 5. Legion, ihr folgten die Bundesgenossen. Das Beutegepäck hatten sie in die Mitte genommen. Arminius betrachtete voller Anerkennung die perfekte Aufstellung des römischen Heeres. Welch ein Unterschied zur Marschordnung der Legionen des Varus! Es wurde ihm klar, dass Germanicus vollkommen anders eingeschätzt werden musste. Er zögerte und wartete ab, bis der Zug sich dem Vorgebirge näherte, dann befahl er, die Flanken der Römer anzugreifen. Sofort schwärmten die germanischen Krieger aus und behielten sogar ihre Formation bei. Man konnte jetzt sehen, wie Arminius die Germanen gedrillt hatte. Es gab keine wilden Haufen oder Horden mehr, sondern weithin geschlossene Verbände und Hundertschaften, die sich unter dem Befehl ihrer Unterführer auf die Feinde stürzten. Der
»Anpfiff« ihres Herzogs hatte gewirkt; die Krieger setzten aus Verbitterung über den Überfall auf die Marser ihre ganze Kraft ein. Arminius verstärkte den Angriff auf die Flanken des Zuges und warf sich dann mit der Hauptmacht auf die Nachhut. Schon gerieten dort die leicht bewaffneten Kohorten der 20. Legion in Unordnung, doch da sprengte Germanicus auf seinem Pferd selbst heran und feuerte die Soldaten an, einen Ausfall zu machen, um alte Rechnungen zu begleichen, und wirklich stürmten die Legionäre daraufhin mit ungeheurer Wucht vor und warfen die Germanen zurück. Alte Rechnungen? Jawohl! Die Soldaten hatten nach dem Tode des Augustus gemeutert. Nur mit Mühe und Not hatte der junge Oberbefehlshaber die Lage in den Griff bekommen. Jetzt, rief er ihnen zu, sei es an der Zeit, die Meuterei wieder gutzumachen. »Frisch drauflos«, soll er gesagt haben, »verwandelt eure Schuld in Ehre!« Seltsame Form der Ehre auf dem Schlachtfeld! Kein Ruhmesblatt war diese Meuterei für Germanicus gewesen; in Rom verwiesen die Kritiker auf seinen Vorfahr in gerader Adoptivlinie, Gaius Julius Caesar, der bei ähnlicher Gelegenheit die brodelnde Masse des Heeres mit der Anrede »Quinten«∗ zur Räson gebracht hatte. Auch damals befand sich nicht gerade die creme de la creme der Gesellschaft im Heer. Diese Anrede muss auf die Legionäre gewirkt haben wie etwa die Anrede »sir«für den einfachen Klempner. Doch Gaius Julius Caesar Germanicus hatte inzwischen Erfahrungen sammeln können. Er kannte die römische Geschichtsschreibung, hatte »De bello Gallico« gelesen. In seinen kühnsten Träumen hoffte er, in Germanien ähnlich vorzugehen wie Caesar in Gallien. Was war Arminius für ihn? ∗
Besondere Anrede in der Volksversammlung für die röm. Vollbürger.
Ariovist∗ oder Vercingetorix∗∗? Doch alle Vergleiche hinken. Immerhin mochte Germanicus sie ziehen.
Arminius musste zähneknirschend zusehen, wie die Marschordnung plötzlich umgekehrt wurde und die Legionen zum Angriff übergingen. Sie trieben die Germanen in mächtigem Anlauf zurück in die offene Ebene. Germanicus war überall, er überwachte, dass die Römer mit eiserner Disziplin ihre Schlachtreihen einhielten. Dann zog er die Reiterei an die Spitze und drang gleichzeitig weiter in die Ebene vor. Arminius hatte auf seiner Seite mit aller Energie darauf zu achten, dass die Germanen sich nicht wieder zum Kampf Mann gegen Mann auflösten. Seine Unterführer ritten auf schweißnassen Pferden hin und her und wachten über die Einhaltung der Befehle. Dann ließ Arminius ganz gegen seine gewohnte Taktik doch wieder den Eberkopf bilden, ritt selbst an der Spitze und ermunterte die Leute, an das Schicksal der Marser zu denken. Doch es gelang ihm auch mit dieser keilförmigen Anordnung seiner Truppen nicht, eine Bresche in die überlegen kämpfenden Römer zu schlagen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, überblickte seine verbissen dreinschlagenden Männer und hörte eigentlich zum ersten Mal während dieser kurzen Verschnaufpause das Klirren der Waffen, die dumpf aufprallenden Schläge, das Keuchen der Menschen und Tiere, das Geschrei und das Gestöhn der Verwundeten und Sterbenden. Er riss sich gewaltsam los von dieser Betrachtung und gab Wolfhart ein Zeichen, der ihn ∗
Germanischer Heerführer, besiegte 61 v. Chr. die Häduer in Gallien, unterlag 58 Caesar bei Besancon. ∗∗ Keltenfürst aus dem Stamm der Averner, leitete die letzte Erhebung der Gallier gegen Caesar, wurde von Caesar in Alesia (Hauptstadt der Mandubier in Gallien) eingeschlossen und später hingerichtet.
fragend anstarrte – erneut warfen sie sich in den Kampf. Doch eine Entscheidung konnte bis zum Ende des Tages nicht herbeigeführt werden, obwohl Arminius nicht müde wurde, seine Leute anzufeuern. Und nun? Hatte er den Kampf nicht herbeigesehnt in den letzten Jahren? Musste er nicht eigentlich zufrieden sein? Jede Legion, die Rom ihm schickte und die er vernichtete, schwächte doch die Weltmacht! Mit dem Kopf durch die römische Wand! Sein Gesicht wirkte verbissen, er war nicht ansprechbar, kämpfte wie in Trance, als wolle er eine Entscheidung erzwingen. Schließlich in der beginnenden Dämmerung musste er einsehen, dass er gegen die überlegene und ständig kampfbereite römische Truppe keine Chance hatte – er erkannte, dass sich seine Leute durch die Wucht und Stärke ihres Angriffs schneller verausgabten als die Römer, die im Verband ihre Stärke zeigten und ihre Kräfte geschickt einzuteilen wussten. Der Tag hatte den Germanen erhebliche Verluste gebracht, während die Legionen nur geringe Ausfälle hatten und immer noch völlig geordnet standen. Zornig riss Arminius sein Pferd zur Seite. Die Germanen schienen die Gedanken ihres Herzogs lesen zu können – ohne dass ein Kommando ergangen wäre, zogen sie sich zurück und belästigten den Zug der Römer nicht mehr, so dass Germanicus mit den Legionen unbehelligt die Winterlager am Rhein erreichte.
VI.
Der neue Feind war da, personifiziert. Kein Varus. Ein junger dynamischer Prinz auf schwarzem Hengst. Ohne Helm, mit blonden Locken. Die Cherusker und die anderen Stämme mussten ihr Römerbild neu einstellen. Die Schlacht gegen Germanicus hatte bei ihnen einen überwältigenden und ernüchternden Eindruck hinterlassen. Viele von ihnen hatten zum ersten Male die Festigkeit eines disziplinierten römischen Heeres kennen gelernt, bei dem alles aufeinander abgestimmt war: Reiterei, Bogenschützen, Schwerbewaffnete, Leichtbewaffnete – wo der Feldherr seine Kommandos durch Signale und Zeichen bis zum letzten Mann übermittelt sah, wo, wie von Geisterhand bewegt, die Legionäre vordrangen, sich zurückzogen, ausschwenkten, je nach Befehl der Führung. Kriegsmaschinerie in Perfektion. Auf dem Rückmarsch sprach Arminius ärgerlich anerkennende Worte für Germanicus aus, und sein Onkel Inguiomer, der sich wie ein wilder Wolf geschlagen hatte, ohne sich nur die kleinste Ruhepause zu gönnen, und aus einer Stirnwunde blutete, höhnte, dieser Prinz sei germanischer als alle Germanen zusammen, er trage ja auch schließlich den entsprechenden Namen. Doch Arminius hörte nicht hin, er plante bereits neue Kampfvorbereitungen, denn dass die Römer wiederkommen würden, war allen klar. Als sie kurze Zeit später müde, enttäuscht und abgekämpft ihre Dörfer erreichten, gab Arminius bereits den Befehl zu einer neuen Versammlung aus, und er suchte Wolfhart, der wie gewohnt diese Befehle an alle Unterführer weiterleiten sollte. Wolfhart
war nirgendwo aufzutreiben, und Ansgar beauftragte deshalb einen anderen Unterführer mit der Aufgabe. Stunden später kam Wolf hart zu Fuß mit einem Jungen von acht bis zehn Jahren, dem er väterlich den Arm um die Schultern gelegt hatte. Er schien erregt und kratzte heftig die alte Verwundung am Kopf und sein halbes Ohr. Arminius, der ihn forschend ansah, bemerkte, dass er nicht mehr der junge Bursche war, der ihn auf allen seinen Kriegszügen begleitet hatte und wie ein Gegenstand immer für ihn einsatzbereit gewesen war – auch Wolfhart war inzwischen ein Mann geworden. Wolfhart trat mit dem Jungen vor Arminius. Der Kleine war sichtlich verlegen, trat von einem Bein auf das andere, stotterte und stammelte. Die Umstehenden blickten erstaunt auf den Jungen und kamen heran. Arminius beruhigte ihn und stellte seine Fragen, dabei wurde sein erhitztes Gesicht immer bleicher, die Augen glänzten fiebrig, tiefe Ringe lagen unter ihnen, er setzte sich müde auf einen Baumstamm und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Tief atmete er ein und aus, presste die Hände an die Stirn, strich das schweißnasse Haar aus dem Gesicht. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf – man hatte Thusnelda geraubt. Der Junge hatte beobachtet, wie Thusnelda mit der Frau des Wolfhart und zwei Mägden den Wald verlassen hatte und durch die Wiesen auf die Weser zugegangen war. Sie hatten Körbe getragen, um Pilze zu sammeln. Der Junge hatte in einem Baum gesessen, um ein Eichhörnchen zu fangen, war jedoch durch ein Geräusch von seinem Vorhaben abgelenkt worden, weil plötzlich mehrere Männer aus dem Wald hervorgebrochen waren und die Frauen überwältigt hatten. Die Frauen hatten sich verzweifelt gewehrt und um Hilfe geschrien. Sie waren geknebelt und gefesselt worden, und der Junge hatte weiter beobachtet, wie die Männer sie in schnellem Lauf zur Weser gebracht hatten. Er glaubte, einige von Segestes’ Leuten erkannt zu haben. Boote
hatten sie am Ufer versteckt, in die sie die Frauen schleppten. Dann waren sie schnell seinen Blicken entschwunden. Wolfhart tröstete den Jungen, der zu seiner Sippe gehörte, und fand sogar noch lobende Worte für ihn, dass er den Vorfall sofort gemeldet hatte. Arminius sagte kein Wort. Doch dann kam Bewegung in ihn, er ballte die Fäuste, schlug sie auf seine Knie und sprang auf: »Ein schöner Vater ist mir dieser Segestes, der seine eigene Tochter entführen lässt! Ich habe drei Legionen besiegt, aber ich pflege nicht mit schwangeren Frauen Krieg zu führen. Schaut euch doch um! Noch könnt ihr die römischen Feldzeichen in unseren Hainen sehen, die wir unseren Göttern geweiht haben. Segestes scheint es immer noch nicht begriffen zu haben, dass die Römer völlige Unterwerfung verlangen. Ist er denn so blind, dass er nicht sieht, dass man seine Tochter im nächsten Triumphzug mitführen wird, wenn er sie in die Hände der Römer gibt?« Er steigerte seine Stimme: »Wir alle müssen jetzt noch stärker zusammenstehen – wenn euch eure Heimat lieb ist, dann folgt mir jetzt gegen Segestes zu Ruhm und Freiheit und nicht in die römische Knechtschaft!« Heimat! Das Wort saß. Sollte Arminius bis jetzt unsicher gewesen sein, dann hatte er nun zusätzlich ein persönliches Motiv. Alle Krieger schlugen bei seinen Worten die Waffen aneinander, und sogar Inguiomer schien sichtlich empört über die Tat seines Freundes Segestes. Ohne sich eine Ruhepause zu gönnen, beriet Arminius mit Inguiomer, Ansgar und Wolfhart die Lage. Besonders Ansgar meldete sich energisch zu Wort und schlug vor, wenigstens Verhandlungen zu versuchen, Germanicus sei mit seinem Heer noch nicht so weit entfernt, es sei denkbar, dass er umkehre, wenn er erführe, dass Segestes in Bedrängnis sei. Doch Arminius schnitt ihm das Wort ab, ein in Schwierigkeiten geratener Römer, die sicheren Winterlager vor Augen, solle
umkehren, nur um einem Cherusker beizustehen? Er brach in verächtliches Lachen aus, in das Inguiomer einstimmte. Ansgar zog sich zurück, und Arminius gab die entsprechenden Befehle aus, um möglichst bald zur Burg des Segestes aufbrechen zu können, doch der Winter zwang allen eine Ruhepause auf. Früh kam der Schnee, vereitelte alle Pläne des Cheruskerherzogs, der ungeduldig in seinem Haus herumlief und die Fäuste ballte. Er stürmte in den Stall, sprach mit Sleipnir, seinem Pferd. Das Gesinde ging ihm aus dem Weg. Abends saß er dumpf brütend an der Herdstelle und schaute den Frauen beim Weben zu, um dann plötzlich wieder in den Stallteil zu stürzen, zu seinem Pferd. Sleipnir wieherte vor Freude und spitzte die Ohren, wenn Arminius kam, ihm den Hals klopfte und zu ihm sprach. Verständnislos schaute das Pferd ihm nach, wenn er ebenso schnell, wie er gekommen war, den Stall wieder verließ.
VII.
Grimmiger germanischer Winter. Dicke Schneedecken in der Einsamkeit. Kalter Wind über Mooren und Heide. Vereinzelte Tierspuren. Rauch aus einsamen Gehöften. Monatelange Kälte. Selbst die klare Frühjahrssonne vertreibt sie nicht, macht sie eher noch bewusster. Mensch und Tier schütteln sich nach dem Winterschlaf. Viele Kinder und junge Tiere sind der Macht der Eisriesen erlegen. Doch langsam setzt sich Donar durch, auf seinem Ziegenwagen, gezogen von den Böcken Zähneknirscher und Zähneknisterer, kommt er unüberhörbar heran. Er schwingt seinen Hammer, vertreibt damit den Frost, zerschmettert die mächtigen Eisriesen. Zeit der Schneeschmelze; langsam weicht der steinharte Boden auf, verwandelt sich in Matsch. Aber Sunna, die Jungfrau auf dem Sonnenwagen mit den Hengsten Frühwach und Allgeschwind, ist unermüdlich tätig, sie siegt über die Eisriesen, über Kälte und Nässe. Der Boden trocknet. Menschen und Tiere wagen sich wieder hinaus. Der ewige Kreislauf beginnt aufs Neue. Verfolger und Verfolgte. Sieger und Besiegte, der Stärkere setzt sich durch, unterwirft, erbeutet, tötet. Wieder zogen römische Heere wie gefräßige Ungeheuer durch das Land der Germanen. Sie ließen einen breiten Streifen der Verwüstung zurück. Täglich brauchten sie Grünfutter für Tausende von Pferden, und die Dörfer der Germanen wurden restlos geplündert, alles Essbare verschwand in dem gierigen Schlund der Armee. Anakonda Romana!
Germanicus hatte genau nach Plan den Vormarsch der Legionen geteilt, vier Legionen, 5000 Mann Hilfstruppen und außerdem noch Abteilungen der linksrheinischen Germanen, der Bataver, Ubier und Sugambrer zogen unter dem Kommando des Caecina, während er selbst ebenfalls vier Legionen und die doppelte Anzahl Bundesgenossen befehligte. Die Masse von Legionären. Die Armee des Varus verdoppelt und noch zwei Legionen dazu. Alles sollte eben schneller durchgeführt werden, gründlicher – Germanicus war schließlich nicht irgendwer. Immerhin hatte ja auch sein Adoptivvater Tiberius 15 Legionen zur Niederwerfung des pannonischen Aufstandes gebraucht. Nicht kleckern, sondern klotzen! Die gesamte Rheinarmee war auf dem Vormarsch. Dieser Prinz setzte alles auf eine Karte. Und die Legionäre? Gab es Murren, gab es ein Zögern, Fragen nach dem Sinn und Zweck? »Ihr sollt nicht denken, dazu sind wir da!« »Auf geht’s!« »Zehn Stockschläge nach dem Appell!« »Centurie fertig!… Abmarsch!« Ein Kastell wurde angelegt, Brücken und Straßen instand gesetzt, dann führte er das Heer in Eilmärschen in das Gebiet der Chatten. Die Riesenarmee stieß auf die völlig unvorbereiteten Germanen bei Mattium∗. Wieder wurden alte Leute und Kinder hingemetzelt; einige wehrten sich, andere versuchten, über die Eder zu schwimmen. Germanicus gab den Befehl aus, keine Gefangenen zu machen, aber einige liefen schon jetzt freiwillig über, die meisten jedoch wurden durch Wurfgeschosse und Pfeile verjagt oder getötet. Spott und Hohn
∗
Hauptort der Chatten, wahrscheinlich an der Stelle des heutigen Dorfes Dietze, in der Nähe von Fritzlar. Zu Mattium gehörte eine Fluchtburg, wahrscheinlich die nahe Altenburg.
von den Legionären gab es gratis dazu. Mattium wurde völlig zerstört und schließlich in Brand gesteckt. Und der Prinz selbst? Germanicus, umgeben von seinem Stab, betrachtete von einer Anhöhe die rauchenden Trümmer von Mattium, er schien zufrieden und befahl ungeduldig den sofortigen Weitermarsch, von den übergelaufenen Chatten wurde völlige Unterwerfung verlangt, bei der kleinsten Verweigerung sollten sie sofort erledigt werden, außerdem befahl er, sie in den vordersten Reihen der Hilfsvölker kämpfen zu lassen. Ein Bote zu Pferde näherte sich dem Hügel, grüßte den Feldherrn ehrerbietig und meldete völlig außer Atem: »Nachricht von Segestes, er wird von Arminius belagert, er bittet um Hilfe, eine Gesandtschaft von ihm ist hier.« Germanicus dankte dem Boten und befahl, die Gesandten durchzulassen. Er zögerte. Segestes? Freund der Römer! Er blickte auf die Riesenarmee vor und hinter sich, erhob sich leicht im Sattel. Unübersehbar, die Waffen glitzerten in der Sonne. Es war, als koste er die Macht über diese Menschenmenge voll aus, dann befahl er kurzentschlossen die Änderung der Marschrichtung, um Segestes zu Hilfe zu eilen. Kein fragender Blick des Offiziers vom Dienst, bedingungsloser Gehorsam. Keine leichte Aufgabe, eine Armee einfach umzudrehen! Alles verlief genau nach Plan. Unterfeldherren, Stabsoffiziere, Offiziere, Centurionen, Signalbläser, Feldzeichenträger – alle kannten ihre Aufgabe. Ein eindrucksvolles Bild. Halt! Keine Verwirrung, kein Aufmarschieren, kein Stolpern. Eine neue Vorhut wurde gebildet, die neue Marschreihenfolge bekannt gegeben. Germanicus sah den kleinsten Fehler mit wachen Augen. Das unterdrückte Murren und Fluchen der Legionäre drang nicht bis zu ihm durch, die Armee funktionierte.
Inzwischen war die Gesandtschaft heran. Sie bestand aus fünf Männern, angeführt von Segimund, Segestes’ Sohn. Segimund hatte sich der übermächtigen Vaterfigur nicht entziehen können, verdrängt waren die Kämpfe zusammen mit Arminius. Germanicus empfing die Männer gnädig, fragte geduldig nach Einzelheiten, kontrollierte zwischendurch die Neuformation des Heeres und nickte zu den Worten Segimunds. Genauso habe er sich das gedacht! Er rief einen Offizier heran und befahl, Segimund und die Männer zum Rhein zu bringen. Keine Zeit war zu verlieren. Divide et impera, teile und herrsche – Segestes konnte nun wohl endgültig abgetrennt werden vom Heerhaufen der Germanenstämme. Die Gelegenheit war günstig, Germanicus befahl höchste Eile.
VIII.
Späte Nachmittagssonne direkt über den Wipfeln des Burgberges. Die in Eilmärschen heranrückenden Legionäre werden durch gleißendes Licht geblendet. Endlich Schatten. Schemenhaft ist der Ringwall um Segestes’ Burg durch die Bäume zu erkennen. Erdwälle und Palisaden, rundherum Germanenkrieger, so weit man blicken kann. Ohne zu zögern, eilen die Römer weiter. Schon stürmen die ersten Kohorten den Berghang hinauf. Deutlicher sehen sie den Außenwall und die Palisaden. Signale, Feldzeichen, Befehle – die Armee verteilt sich. Sorgfältig schützen sie sich ab, die römischen Soldaten, geschickt die Bäume als Deckung nutzend – Schild hoch, Vorsicht – weiter! Warum greifen die Germanen nicht an? Warum nutzen sie den Vorteil des Abhanges nicht aus? Kein Gebrüll, kein Geschrei, kein Herabstürmen der Krieger, kaum eine Frame wird geworfen. Äußerste Vorsicht ist geboten! Arminius hatte Segestes’ Burg umzingeln lassen, der Außenwall war ringsum von seinen Leuten besetzt. Die Massen seines Heerbanns drohten in wenigen Augenblicken Segestes und die Seinen zu ersticken. Germanischer Stolz! Niemals würde Segestes aufgeben! Doch da! Ein langgezogener Ruf nach Arminius. Ein Cherusker kam atemlos über den Wall gestürmt: »Germanicus kommt«, rief er, »mit allen Legionen!« Peng! Das saß in den Schädeln, verbreitete sich in Sekunden. Der Ruf bewirkte ein wahres Wunder. Die Germanen wussten, dass sie in dieser Zahl zwar die Burg des Segestes eingenommen hätten, aber gegen Germanicus mit seinen
Legionen keine Chance hatten. Das im letzten Jahr noch für unmöglich Gehaltene war also geschehen, ein Römerheer auf dem Rückzug hatte die Marschrichtung geändert, um einem befreundeten Cherusker beizustehen. Unglaublich! Cherusker, die den Ruf gehört hatten, zögerten, andere zogen sich schon zurück, blickten fragend auf Arminius. Zähneknirschend musste dieser den Rückzug befehlen, und er ließ Wolfhart das Signal blasen. Sein Gesicht wurde starr. Wut und Enttäuschung, Hass, die Ungeduld eines langen Winters, die Sehnsucht nach Thusnelda, die Ungewissheit, sein ungeborenes Kind! Würde der Römer seine Frau mitnehmen? Würde Segestes mit ihm ziehen? Die Einsicht empfahl den sofortigen Rückzug, denn die Legionäre stürmten schon bis zum Wall vor. Arminius, der Realist schweren Herzens. Vorsichtig, noch zögernd, regte es sich hinter den Palisaden. Dumme Gesichter über den Wällen. Segestes’ Männer wagten sich hervor, sie hatten die Signale gehört, konnten sich nicht vorstellen, was geschehen war. Sie schüttelten die Köpfe. Was hatte sie vor dem sicheren Untergang gerettet? Segestes selbst kam heran. Er befahl, sich in Abwehrbereitschaft zu halten und die Verschanzungen neu zu befestigen, doch da tauchten die ersten Legionäre zwischen den Baumstämmen auf und lösten unbeschreiblichen Jubel aus. Es dauerte nur kurze Zeit, bis Germanicus selbst die Burg erreicht hatte, deren Tore nun weit geöffnet wurden, um eine Abordnung der römischen Retter einzulassen. Germanicus schaute um sich, sah die einfachen Langhäuser und die Speicher, das Vieh und viele cheruskische Krieger, die ihm zujubelten. Er genoss den ohrenbetäubenden Lärm. Segestes führte dem römischen Feldherrn seine Sippe vor. Hinter ihm, blass und ernst, Thusnelda, die Einzige, die nicht jubelte. Wie muss ihr zumute gewesen sein! Schwanger, dem
Römer ausgeliefert! Sie vermied es, den »Retter« anzusehen. Es war, als ginge sie alles nichts an. Germanicus hatte die Frau seines Gegners offenbar erkannt, doch Segestes lenkte ihn ab, er ließ Beutestücke aus der Varusschlacht herbeibringen, und Germanicus verzog sein Gesicht zu einem gnädigen Lächeln. Segestes war bester Laune. Hoch aufgerichtet stand er vor Germanicus und blickte stolz auf seine Gefolgschaft. Mit sichtlicher Erleichterung dankte er dem römischen Feldherrn für die Rettung, seine Leute schlugen vor Begeisterung die Waffen aneinander. Segestes wurde förmlich: »Heute beweist es sich, dass ich recht behalten habe! Aber nicht erst heute beweise ich Rom meine Treue! Schon seitdem ich von Augustus das römische Bürgerrecht erhalten habe, habe ich immer auf seiten Roms gestanden!« Er blickte Germanicus fest in die Augen und hob seine Stimme: »Du weißt, dass ich in den unglückseligen Kampf gegen Varus gegen meinen Willen und gegen meine Überzeugung hineingezogen worden bin – ich habe Zeugen dafür, dass ich Varus gewarnt habe. Ich habe ihm sogar angeboten, Arminius und mich selbst in Ketten legen zu lassen, weil ich von dem Verrat wusste, doch Varus wollte nicht auf mich hören. Durch seine Verblendung und Unentschlossenheit kam es zu dem bedauerlichen Unglück. Hier ganz in der Nähe werdet ihr das Schlachtfeld finden!« Bewegung aufseiten der Römer bei der Erwähnung des Schlachtfeldes, der Name Varus beschwor grausige Erinnerungen herauf. Germanicus verzog keine Miene, geduldig hörte er Segestes zu. »Ich habe nie an der Größe Roms gezweifelt. Damals wie heute stehe ich ein für die Freundschaft mit Rom und biete dir meine Dienste als Vermittler zwischen Germanen und Römern an, denn ich hoffe, dass noch nicht alle von Arminius
verblendet sind. Für meinen Sohn, den ich zu dir geschickt habe, bitte ich um Nachsicht. Er hat aus jugendlichem Leichtsinn gehandelt, als er die ehrenvolle Aufgabe als Kaiserpriester in der Stadt der Ubier ausschlug, er…« Segestes brach ab, als er bemerkte, dass Germanicus Thusnelda nicht aus den Augen ließ. Er drehte sich um, schaute die Tochter an, die den Blick nicht hob, und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Meine Tochter konnte ich nur mit Zwang hierher bringen! Du musst selbst entscheiden, was dir mehr bedeutet, dass sie meine Tochter ist oder die Frau des Arminius!« Segestes räusperte sich. Fast unwillig hatte er die letzten Sätze gesprochen. Prüfend blickte er den Römer an. Warum sagte er nichts? Segestes war verunsichert. Germanicus ließ sich Zeit mit seiner Antwort, er sprach mit Kundschaftern, die zu ihm durchgelassen wurden, gab Befehle und Anweisungen, ordnete die Aufklärung des umliegenden Gebietes an. Wieder fiel sein Blick auf Thusnelda. Stolz, kerzengerade, blass und schön, mit tief in der Stirn ansetzendem Blondhaar, die Frau des Feindes! Schwanger noch dazu! In Rom… Das Gefühl der Überlegenheit, des Triumphes war ihm deutlich anzusehen. Sein Triumphzug in Rom…! Frau und Kind des ärgsten Feindes, der Rom eine empfindliche Niederlage bereitet hatte! Er streifte die Beutestücke aus der Varusschlacht mit einem kurzen Blick. Wie unbedeutend sie waren gegenüber diesem Schatz! Ganz Rom würde diese Frau mit gierigen Blicken verschlingen! Teilnahmslos stand sie da, das Haupt gesenkt. Germanicus war weit weg mit seinen Gedanken. Segestes wurde unruhig. Endlich fand Germanicus einige Worte für den Cherusker. Er lobte Segestes’ Treue und Zuverlässigkeit, versprach allen Schutz und Sicherheit. Segestes selbst sollte einen neuen
Wohnsitz in Gallien erhalten, Rom vergesse alte Freunde nicht! Segestes bedankte sich überschwänglich bei dem jungen Feldherrn, er war wie verwandelt, der sonst so harte und stolze Cheruskerfürst. Germanicus rief zwei Offiziere zu sich und gab ihnen den Befehl, Thusnelda abzuführen. Segestes stand unschlüssig da. Wieder ritten Kundschafter in die Burg ein. Aufklärungen hatten ergeben, dass die Brukterer ihr eigenes Land verwüsteten, um den Römern den Vormarsch zu erschweren. Germanicus straffte sich. Auf zu neuen Taten! Sicher und klar kamen seine Befehle. Bald erschallten Hornsignale. Die Riesenarmee wurde neu formiert, die römischen Legionäre zogen sich von dem Burgberg zurück. Von Arminius und seinen Kriegern keine Spur. Germanicus setzte den Helm wieder auf und schaute Thusnelda nach, die zu den Trosswagen am Fuße des Berges geführt wurde. Die Centurionen bellten ihre Befehle und scheuchten die Legionäre zu ihren Einheiten. Nach und nach waren die Verbände angetreten. Germanicus gab das Zeichen, Anakonda, die Riesenschlange, setzte sich in Bewegung. Auf zum Varusschlachtfeld! Die Veteranen aus der 17. 18. und 19. Legion wurden zum Feldherrn beordert, eine kleine Gruppe von sechs einfachen Legionären, die einen verängstigten Eindruck machte. In respektvollem Abstand blieben sie hinter ihrem Feldherrn, der ihnen kurz zunickte. Legionen auf den Spuren des Varus! Würden die Herausforderer es wagen, sie erneut anzugreifen? Langsamer Weitermarsch in ständiger Gefechtsbereitschaft wurde befohlen. Den Veteranen war die Anspannung anzusehen, alle Freunde und Kameraden hatten sie verloren. Ein kleines Häuflein von Überlebenden. Sechs vergangene Jahre hatten das Entsetzen nicht von ihnen genommen. Nichts
zog sie hin zu diesem Schlachtfeld, aber der Feldherr hatte sie extra holen lassen, sie konnten sich nicht weigern. Ein Bote ritt heran und meldete das Varuslager. Germanicus hatte es plötzlich eilig. Er ließ Pferde für die Veteranen holen und befahl ihnen ungeduldig, aufzusitzen. Die Fußsoldaten, ungewohnt im Reiten, zögerten ihm zu lange, ärgerlich herrschte er sie an. Auf seinen Wink setzte sich die Prätorianerkohorte mit ihm in Bewegung. Schon bald erkannten sie die Erdwälle eines Lagers für drei Legionen. Niemand hatte sich in den vergangenen sechs Jahren die Mühe gemacht, sie zu zerstören. Ohne zu zögern, ritt Germanicus in das Lager ein. Im Lagertor verhielt er einen Augenblick und stieg dann vom Pferd. Langsam und aufrecht ging er den anderen voran. Die unglücklichen Veteranen rutschten von den Pferden. Das war es, ihr damaliges Marschlager. Knochen, nichts als Knochen. Gebeine, einzeln, gehäuft, zerstreut, dazwischen Tierknochen, vereinzelte Waffenreste. Germanicus ging schweigend weiter. Er versuchte, sich ein Bild von den Kampfhandlungen zu machen. Varus, und in Rom das Gejammere! Er, Germanicus, würde es ihnen schon zeigen, den Römern und den Germanen, schließlich trug er seinen Beinamen nicht umsonst. Sie marschierten weiter, ohne dass jemand sprach. Außerhalb des Lagers das gleiche trostlose Bild: Knochen, Bruchstücke von Waffen, Pferdegerippe, oft auch Menschen- und Tierknochen zusammen. Der Feldherr schien den Anblick in sich aufsaugen zu wollen. Als er Menschenschädel an den Bäumen erblickte, winkte er die Augenzeugen zu sich heran. Zweien von ihnen traten Tränen in die Augen, als die Schlacht plötzlich wieder so deutlich und plastisch vor ihnen stand. Germanicus beruhigte sie und bat, alles zu erzählen, was ihnen noch in Erinnerung wäre, alles könne von Wichtigkeit für die Rekonstruktion der Schlacht sein.
Schweigend zogen sie weiter, verließen das Lager. Dann trat einer vor, zeigte auf eine Eiche und sagte: »Da drüben ist Varus verwundet worden!« Ein anderer mit Namen Publius Caelius ging Germanicus voraus und konnte sich offenbar genau daran erinnern, wo sein Bruder, der Centurio Marcus Caelius, gleich beim ersten Ansturm der Barbaren gefallen war. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte es ihn erwischt. Er ballte die Fäuste und presste die Zähne aufeinander. Der Nächste zeigte die Stelle, an der sie den Legionsadler verloren hatten. Germanicus hörte mit ernstem Gesicht alle an, die etwas zu berichten wussten. Langsam zogen sie weiter. Jetzt überstürzten sich die Eindrücke. Die Veteranen berichteten, alle sichtlich bewegt. Germanicus ließ wieder aufsitzen. Der Ort, an dem Varus sich in sein eigenes Schwert gestürzt hatte, wurde ihm gezeigt und der Hügel, von dem Arminius zu seinen Leuten gesprochen und die römischen Adler verspottet hatte. Sogar die Reste von Altären fanden sie noch, auf denen römische Soldaten den germanischen Göttern geopfert worden waren. Germanicus bedeckte sein Gesicht und blieb einige Augenblicke schweigend stehen. Kurz entschlossen ließ er sich dann ein Schanzwerkzeug geben, hackte ein großes Stück aus dem Boden und brach es um. Er sprach der kleinen Gruppe sein Mitgefühl aus und befahl, einen Grabhügel anzulegen. Die Legionäre der Varusschlacht sollten endlich ihre Ruhe finden, die Spuren der Niederlage sollten getilgt werden.
IX.
Germanische Dickschädel! Heftiger Streit um Inguiomer, der den sofortigen Angriff verlangt hatte. Sie, die Römer, schwelgten jetzt in Erinnerungen, die Gelegenheit wäre günstig – Knochen zu Knochen! Doch Arminius hatte sich durchgesetzt, die Übermacht der Römer war zu deutlich. Abzug der Truppen in unwegsames Gelände, lautete sein Befehl. Wolfhart teilte die ortskundigen Führer ein. Die Bestattung der Gebeine auf dem Varusschlachtfeld ergab Zeit, neue Truppen zusammenzuziehen und sie in Stellung zu bringen. Arminius verteilte die Truppen – Adgandester sollte mit der Hauptmacht im Waldgebirge verborgen bleiben, und Arminius selbst und Inguiomer wollten sich mit einem geringen Teil der Truppen dem Feinde zeigen und sich dann bei dessen Annäherung in den Wald zurückziehen. Dann rief er Ansgar zu sich. Eine Idee hatte von ihm Besitz ergriffen. Er wollte die Bäche von den Hängen ableiten und auf das Römerlager lenken. Die Römer ersäufen wie eine lästige Plage! Das Glück musste man notfalls zwingen! Jetzt war es an der Zeit zu handeln! Wo blieb Ansgar nur? Er hätte den Plan gerne selbst durchgeführt, war aber schließlich als Führer unabkömmlich. Wenn einer von seinen Leuten diesen Plan ausführen konnte, dann war es Ansgar. Als dieser herankam, erklärte er ihm leise flüsternd den Plan, vermied es jedoch, in Ansgars Augen zu sehen, als fürchtete er, wieder nur Spott und überlegenes Lächeln zu sehen. Ansgar fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar, er hatte verstanden. Er beauftragte zwei seiner Leute, eine Hundertschaft zusammenzustellen, bestieg sein Pferd, und es
schien, als wolle er den Leuten nachreiten – doch als er sich plötzlich umdrehte, standen Lachfältchen an seinen Augen, er ritt an Arminius heran und rief ihm zu: »Aqua Germanica, trinke, Roma, trinke den kühlen germanischen Trank; mit dem Trank versinke der Legionäre Tatendrang.« Ansgar hatte kaum das letzte Wort gesprochen, da riss Arminius seinen Hengst herum, so dass das Tier vor Schreck laut aufwieherte und sich aufbäumte; wütend blickte er seinen früheren Kampfgefährten und Freund an, der auch jetzt trotz allem noch seine verlässlichste Hilfe war: »Ich weiß schon, Ovid, aber jetzt verschwinde!« Seine Augen glühten vor Zorn, doch Ansgar zeigte sich unbeeindruckt, als er sein Pferd mit einem Lächeln herumriss und den Männern nachritt, um den Auftrag auszuführen.
X.
Intermezzo in Zinn – eine Vorstellung gewinnen von der Masse der Krieger und Legionäre. Streichhölzer in den Rasen stecken, für jeden Menschen eins, die Legionen einstecken, die Germanenkrieger anordnen. Denkbar auch Dominosteine, die, wohlgeordnet aufgestellt, beeindruckend umfallen. Oder besser Zinnsoldaten, ja Zinnsoldaten. Viele tausend. Spielzeug für Kaiser und Könige, plastischer als Streichhölzer, Erbauung für Offiziersanwärter. Ein deutsches Spielzeug – ein internationales Spielzeug. Spielzeug und Sammelobjekt, fern vom blutigen Ernst. Kaiser Maximilian liebte die Figuren, Wilhelm von Preußen »spielte« gegen Zar Nikolaus L, auch Herr Goethe erzählt von Zinnfiguren. Die Schlacht von Issos – drei drei drei bei Issos Keilerei – als Spektakel in Zinn. Dioramen, Schaubilder aus der Antike. Farbigkeit und ausgewogene Komposition, kreative Möglichkeiten im Kriegsspiel. Krieg kreativ. Interdisziplinäres Lernpotenzial – Landschaften, Gebäude, Hintergrund, Waffen- und Kostümkunde. Nur munter drauflos, angeschafft und gesammelt. Jedem Kind seine Zinnarmee, seine Panzer, früh übt sich… Arminius als Zinnherzog, umgeben von Zinnkriegern. Zinn liebt das Heroische, hat den Vorzeige-, den Wandtellercharakter. Also, Arminius auf einem wild sich aufbäumenden Schimmelhengst, bekleidet mit Hose und Ledersandalen. Der Fellumhang, am Hals gehalten, lässt den muskulösen Oberkörper frei, das gelblich-blonde Haar hängt bis auf die Schultern. Das Schwert ist drohend erhoben, die andere Hand, die den Zügel des Pferdes hält, zeigt auf die
Feinde. Seine Fersen sind in die Flanken des Tieres gedrückt. Das Ganze ist mit grünem Filz unterklebt. Kramen wir weiter in der Zinnkiste. Und da, in der Anführerpackung? Varus! Natürlich! Stattlich zu Pferde, mit Muskelpanzer und Feldherrntoga, den Federbuschhelm auf dem Kopf, darunter die kräftige Nase und die vollen Lippen. Die ganze Figur vielleicht nicht so heroisch, der Gesichtsausdruck nicht ganz so optimistisch, ihr fehlt der jugendliche Siegerglanz. Und da, die andere Schachtel. Germanicus auf seinem Rappen, das Gesicht und die Figur nach alten Münzvorbildern liebevoll angefertigt. Der Kopf ohne Helm mit blonden Locken. Auf die abstehenden Ohren wird in Zinn verzichtet. Die kerzengerade sitzende Figur ist vom Feldherrnpurpur umweht. Auch das römische Kurzschwert in der Faust fehlt nicht – Angriff – Attacke schreit die Zinnfigur. Schade, dass es sie noch nicht gibt, man müsste sie anfertigen lassen, dazu viele, viele kleine Legionäre, originalgetreu, Centurionen, Feldzeichenträger, Adlerträger, Signalbläser und der einfache Soldat, der gemeine, der in keiner Armee fehlt – frisch aus der Maschine, pftz klick, die Maschine stanzt, die Legionäre fallen in den Kasten. Eine andere Maschine wirft Krieger aus. Viele Maschinen. Soldaten und Krieger in jeder Bewegungsart, haltend, marschierend, reitend, kämpfend, voller Schwung Frame oder Pilum werfend, tötend, sterbend. Wo soll die Zinnschlacht stattfinden? Im Sandkasten? Gut! Große Sandkästen. Reicht nicht! Wir gehen in die Kies- und Sandgrube! Das Schlachtfeld wird ausgesucht, naturgetreu nachgeformtes Gelände. Varus und seine drei Legionen werden aufgestellt, jede Figur einzeln, was, so viele? Bleib stehen, du…! Schachbrettartig, Schwerbewaffnete, Leichtbewaffnete. In den angedeuteten Wäldern und auf den Hängen ringsherum werden die Germanen verteilt. Germanen
im Angriff mit nacktem Oberkörper, die lange Frame oder das Schwert in den Händen. Was, so viele? Das dauert ja Stunden! Ganz schön anstrengend! Endlich fertig! Schaubild kurz einwirken lassen. Wie einfach von hier oben die Übersicht über die kleinen Figuren ist. Sind Arminius und Varus richtig postiert? O. K. dann los. Wer hilft mit, Germanen heranzuholen und Legionäre umzukippen? Hier und da vielleicht auch einen Germanen umwerfen. Zwanzigtausend Legionäre müssen gekippt werden. Das dauert! Vorsicht, tretet mir nicht auf die Römer! Holt die Germanen heran, stellt möglichst je einen zu einem gekippten Römer oder legt gleich zwei um. Das dauert und dauert! Na, von mir aus, nehmt den Ast! Fertig? Dann zählen. Ach richtig, ein paar sind entkommen, lasst sie raus! Das Zählen dauert. Danach sich vorstellen, alle Umgekippten sind tot, verwundet, liegen im Sterben, sie hinterlassen Angehörige, vielleicht Frauen und Kinder. Farbe holen, rote Farbe. Alle Legionäre und die umgekippten Germanenkrieger blutig markieren! Wo steckt Varus? Ach dort, mit dem Kopf im Sand! Wem’s noch nicht reicht, dem sei ein zweites Schlachtfeld vorgeführt. Wie gehabt, Arminius, Zinnherzog, umgeben von Zinnkriegern. Line Ebene bilden. Eine völlig andere Schlachtsituation. Die Römer unter Germanicus verteilen, Aufstellung genau beachten, Reiterei exakt anordnen. Los gehts! Arminius, Varus & Co. im Saudi. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Unzählige Schlachten sind möglich, denken Sie an das Lernpotenzial. Viele Schlachten bis hin zu Preußens Gloria und weiter. Immer weiter! Nicht verwirren lassen! Kritiker gibt’s immer. Auch Teilschlachten sind möglich zu Hause auf einem Tisch, musikalisch untermalt, nur schön heldisch muss es klingen. Am besten Wagner. Der Feldherr in
Filzpantoffeln, das Glas Bier in Reichweite. Und dieser Überblick sogar im Sitzen, diese schönen Figuren! Nein, wirklich! Doch weg mit dem Zinnkram, was solls? Schluss mit dem Intermezzo in Zinn, zurück in die historische Wirklichkeit.
Germanicus kam, leibhaftig, tatsächlich! Der tatendurstige Eroberer inmitten seiner Prätorianerkohorten! Mit ihm zog das riesige Heer der Römer. Als die vermeintliche Hauptmacht der Germanen in Sichtweite war, gab er voller Elan das Zeichen zum Angriff. Aber was war mit den Germanen los – sie zogen sich jetzt schon zurück! Dann jedoch kurz vor dem Wald setzte eine Gegenbewegung ein. Versteckte Krieger stürmten vor und brachten durch den heftigen und unerwarteten Ansturm die ersten Schlachtreihen der Römer durcheinander. Hatte es das schon jemals gegeben!? Die Römer in den ersten Reihen flohen – so gewaltig war der Ansturm! Durch die eigenen Kameraden, die weiter vorstürmten, wurden sie völlig verwirrt. Chaos in den vorderen Truppenverbänden. Germanicus beobachtete wütend die Szene. Er preschte auf seinem Hengst bis in die vordersten Reihen vor und brüllte die Centurionen und Legionäre an, dass diese vor Schreck ihre Angst vergaßen. Mit übermenschlicher Anstrengung brachte er Ordnung in die vorderen Kohorten. Pausenlos griffen die Germanen weiter an. Viele Legionäre mussten ihr Leben lassen. Weiter warfen die Germanen ihre todbringenden Framen und hieben mit den Langschwertern auf die Römer ein. Arminius beobachtete die Schlacht voller Genugtuung. Auf seinen Befehl hin strömten weitere Germanen aus den Wäldern hervor, warfen sich auf die Flanken des römischen Heeres und schleuderten in wildem Ansturm ihre Wurfspeere. Tote, Verwundete, Stöhnen, Röcheln, beginnende Panik. Der römische Feldherr musste
handeln. Er zog die ersten Kohorten gerade so weit zurück, dass der heftigste Ansturm abgeschwächt wurde. Bald stand die römische Armee wieder wohlgeordnet. Die Wucht des germanischen Angriffs prallte ins Leere. Den ganzen Tag über dauerten die Kämpfe, die mit trotziger Verbissenheit auf beiden Seiten vorangetrieben wurden. Gegen Abend spitzte sich die Situation noch einmal zu. Dem römischen Feldherrn wurden starke Germanentruppen im Rücken des römischen Heeres gemeldet. Arminius hatte es geschafft. Pass auf, Germanicus! Dein Ruf, dein Triumphzug in Rom! Germanicus dachte sofort an die Katastrophe des Varus, ließ zum Rückzug blasen und teilte geschickt das Heer auf. Caecina, der Unterfeldherr, erhielt den Befehl, mit einem Teil der Legionen sich über die »langen Brücken«, von den Römern durch ein Sumpfgelände angelegte Knüppeldämme, zurückzuziehen. Germanicus selbst zog sich in die andere Richtung zurück. Für die Germanenkrieger völlig unbegreiflich ließ Arminius Germanicus unbehelligt und machte sich mit dem Hauptheer an die Verfolgung des Caecina. Als die Römer die »langen Brücken« erreicht hatten, begannen sie sofort mit der Schanzarbeit für ein Lager. Die Germanen beobachteten, dass sie die Knüppeldämme inspizierten. Arminius war ungeduldig. Wo blieb Ansgar nur? Hatte er seinen Auftrag ausgeführt? Aber da! Plötzlich drang Wasser in das Lager der Römer, zuerst ein kleines Rinnsal, dann immer mehr. Arminius lächelte zufrieden. Er feuerte seine Leute an! Mehr Wasser, immer mehr, die schanzenden Legionäre konnten sich kaum noch bewegen. Die Germanen merkten die allgemeine Verwirrung, durchbrachen die Vorpostenkette und überfielen die Schanzarbeiter. Teile der Legionen wurden in das Moor abgedrängt. Die römischen Soldaten waren in Bedrängnis. In dem morastigen Gelände waren sie unbeweglich, viele von
ihnen kamen um, das Wasser färbte sich an einigen Stellen bereits rot. Wasser und Blut. Niemand von den Germanen achtete darauf, nur weiter, weiter, den eigenen Vorteil ausnutzen. Zu dumm, dass es jetzt bald dunkel wurde, unwillig zog Arminius seine Krieger zurück. Beim Morgengrauen hoffte er, die Römer vernichtend schlagen zu können. In der Vorfreude ließ er seine Leute gewähren. Sie zündeten Feuer an, und ihr Lärm und Gesang schallten die ganze Nacht durch das Tal. Als dann endlich der Morgen graute, beobachteten die Germanen gierig den Auszug der Römer. Warum befahl ihr Herzog nicht den sofortigen Angriff? Weshalb zögerte er schon wieder? Die Germanenkrieger witterten leichte Beute, doch ihr Führer rührte sich nicht. Das Gespenst des Varus war seit Tagen umgegangen. Immer wieder hatte er, zuletzt noch in der Nacht, den Kriegern einzureden versucht, dass alles in diesen Kämpfen so wie mit Varus verlaufen würde. Den Sieg über Varus hatte er lauthals heraufbeschworen. Varus, Varus, Varus… »Dieser Prinz ist auch nicht besser, Rom ist nicht besser«, hatte er gesagt. Arminius lauerte auf seine Chance. Als die Legionäre für einen Augenblick fast hilflos im Morast stecken blieben, als der Ausmarsch über die »langen Brücken« ins Stocken geriet, war er der Erste, der die Situation erkannte. Er riss sein Schwert in die Höhe und schrie mit voller Kraft: »Los, los, drauf – auf die Römer! Die gleiche Lage! Varus und seine Legionen, der Sieg ist unser!« Wie ein Strom brachen die Germanen aus dem Stand los, stürzten auf die Römer und zielten wie verabredet hauptsächlich auf die Pferde, die ihre Reiter abwarfen und größte Verwirrung stifteten. Arminius war jedoch nur kurze Zeit zufrieden. Die Habgier seiner Krieger machte sich schon bald wieder
bemerkbar. Jeder plünderte und mordete kurz darauf in dem allgemeinen Durcheinander auf eigene Faust. Arminius war verbittert über die Beutegier seiner Leute und feuerte die Unterführer an, die Männer beisammen zu halten. Kostbare Zeit wurde vertan, und die Legionen konnten sich tatsächlich auf festen Grund vorarbeiten. Caecina, der alte Haudegen, mit 40 Dienstjahren auf dem Buckel, hatte Glück gehabt. In aller Eile legten die Römer ein Lager an, ihre Nerven waren auf das Äußerste gespannt, nur knapp waren sie der vernichtenden Niederlage entronnen. Caecina stand wie ein Holzklotz in dem aufgeregten Ameisenhaufen, feste Waden, muskulöse Unterarme, grauweiße, kurzgeschorene Haare und große Ohren. Aus dem Mannschaftsstand hatte er sich hochgedient. Konnte er seinem Feldherrn Schande machen? Auf einmal unerwartete Bewegung auf ihn zu. Was war das? Ein scheu gewordenes Pferd! Und seine Leute hatten Angst davor? Bei Jupiter…! Da soll doch…! Caecina drohte und fluchte, setzte seine ganze Stimmkraft ein. Panik, Entsetzen, Chaos. Jemand rief: »Die Germanen kommen!« Daraufhin gab es kein Halten mehr. Einige versuchten, durch die Porta decumana, durch die Hintertür des Lagers, zu entfliehen. Caecina setzte seine kräftigen Fäuste ein, hieb auf die Legionäre ein und schrie: »Nur ein Pferd, ihr Hornochsen, bleibt stehen!« Doch nichts half, keine Drohungen, keine Schläge, keine Flüche, kein Bitten. Da warf sich der alte Unterfeldherr kurzerhand vor ihre Füße, und als nun die Soldaten über ihn springen mussten, kamen sie allmählich zu sich, zumal andere bereits wieder zum Tor hereinkamen. Mancher drückte sich verstohlen vorbei. Der Schreck saß allen in den Gliedern. Caecina lag noch immer am Boden, rappelte sich brummend
auf, säuberte seine Tunika und schimpfte: »Hornochsen seid ihr! Ein Pferd, ein Pferd, ein einfaches Pferd macht euch verrückt.« Er schlug sich mit der flachen Hand vor den Kopf. »Euer Feldherr wird sich freuen über solch eine tapfere Armee. Eure Rettung liegt allein in euren Waffen, im Kampf! Jeder an seinen Platz! Wir bleiben innerhalb des Walles! Wenn die Germanen anrücken, dann machen wir auf mein Zeichen einen Ausfall. Wehe dem, der nicht pariert. Durch diesen Ausfall werden wir uns den Weg zum Rhein freikämpfen. Wer auf eigene Faust flieht, wird in den Sümpfen elend umkommen… Los, los… an die Arbeit…!« Caecinas Worte und seine drohenden Blicke brachten die Römer allmählich wieder zur Besinnung. »Wir dachten ja nur…!« »Die Germanen…« »Hätte ja sein können…« »Hornochsen seid ihr, Feiglinge!«, bellte Caecina. »Marsch an die Arbeit!« Legionäre, die zu langsam an ihm vorbeischlichen, schlug er mit dem Rebstock, andere mit der flachen Hand, nachfolgende wurden mit Fußtritten malträtiert. »Nothi damnandi estis… verdammte Bastarde seid ihr… ich werde euch Beine machen!« Caecina bekam die Angelegenheit in den Griff. Die Soldaten schlichen herum wie geprügelte Hunde. Caecinas Gesicht war rot vor Wut, noch nie hatte ein Soldat seine Befehle verweigert! Hinwerfen hatte er sich müssen, um sie zur Besinnung zu bringen! »Pöbel, gemeines Pack! Römer wollt ihr sein?« Feigheit vorm Feind! Römische Soldaten! Elitetruppen! Das hatte er in seiner langjährigen Dienstzeit noch nicht erlebt. »Ihr Hunde, euch werde ich… dezimieren müsste man euch!« Wieder teilte er Schläge aus, doch die Lage entspannte sich.
Die Unterführer kamen zusammen, Caecina gab, immer noch wutschnaubend, seine Befehle aus, das Lager musste unverzüglich weiter ausgebaut werden. Nur durch einen geordneten Rückzug konnten sie den sicheren Rhein erreichen.
XI.
Römer und Germanen beäugten einander wie feindliche Raubtiere. Die Römer schienen in hoffnungsloser Situation. Die Verwirrung im Lager war nicht unbemerkt geblieben, und so glaubten die Germanen, leichtes Spiel mit ihren Gegnern zu haben. Heftiger Streit zwischen Inguiomer und Arminius. Arminius wollte trotz des vermeintlichen Vorteils die Legionen ausrücken lassen, sie dann auf dem nassen und unwegsamen Gelände umzingeln, um sie vernichtend schlagen zu können. Inguiomers Augen blitzten und er verlor mehr Worte als sonst bei ihm üblich: »Schluss mit dem ewigen Warten! Der Wall wird angegriffen!« Er zeigte auf das römische Lager, und die Krieger blickten gierig in die Richtung, wohin sein Arm wies. »Leichte Beute ist uns sicher!« Zum Zeichen ihrer Bereitschaft schlugen sie die Waffen aneinander. Wer den Befehl zum Angriff gab, war ihnen egal, Beutegier stand in ihren Gesichtern. Warum noch zögern? Arminius knirschte mit den Zähnen, ballte die Faust, drehte sich um, ließ den Onkel stehen. Der Blick, den Inguiomer ihm nachwarf, zeigte unverhohlenen Hass, er würde es seinem jungen Neffen schon zeigen, wer der wirkliche Herzog der Cherusker war. Schließlich war er der Ältere und hatte manchen Kampf und manche Schlacht überstanden.
Schon wurden Reisigbündel gesammelt, Unterholz geschlagen, und die Krieger versuchten, die Gräben des Lagers zuzuwerfen, einige Übereifrige erkletterten bereits den Wall. Keine Reaktion bei den Römern, keine Maßnahmen zur Abwehr. Arminius betrachtete skeptisch Inguiomers Vorbereitungen, seine eigenen Leute hielten sich noch zurück, schauten abwartend auf ihren Anführer, waren unschlüssig. Völlig unvermittelt erschallten die Hörner und Trompeten der Römer, gleichzeitig machten sie einen gut vorbereiteten Ausfall, tauchten an den Palisaden auf, schleuderten ihre Pilen und schlugen mit den Schwertern auf die Germanen ein. Die tollkühnsten germanischen Krieger, die bereits die Palisaden überkletterten, wurden an allen vier Seiten des Lagers leichte Beute für die Legionäre. Waren sie gestern noch mutlos, verzweifelt und schreckhaft gewesen, heute war ihnen davon nichts mehr anzumerken. Caecinas Lektion hatte gewirkt. Der Graukopf kontrollierte persönlich die Wälle, ritt hin und her, beobachtete durch das Lagertor zufrieden die Umzingelung der Germanen in den Gräben und sah mit Genugtuung, wie sie in wenigen Augenblicken niedergemacht wurden. Kaltblütig nutzten die Römer ihren unverhofften Vorteil aus. Die Offiziere gingen streng nach den Anweisungen des Unterfeldherrn vor. Kein einzelner Germane wurde verfolgt, es gab keine Einzelkämpfe. In wohlgeordneten Kohorten kämpften die Legionäre – Schilde hoch, wenn die Framen der Gegner durch die Luft surrten, Schilde gesenkt und Angriff. Ihre Deckung war perfekt. Anders dagegen bei den Germanen, sie boten den Feinden sichere Ziele. Die Disziplin der Römer machte sich bezahlt, eiserne römische Disziplin. Die Centurionen gingen besonders hart mit den Mannschaften um, sie würden ihnen die gestrige Verwirrung schon austreiben. Sie wussten aus Erfahrung, dass
die Legionäre nach solchen Erlebnissen besonders tapfer kämpften, so als wollten sie sich und ihren Offizieren beweisen, dass sie doch ganze Kerle waren. Hatte es jemals eine Krise gegeben? Davon war im Augenblick jedenfalls nichts zu spüren. Den Rhein, den Rhein – ihre sicheren Kastelle mussten sie erreichen, das war die Hauptsache. Sammeln, Ordnen, Aufstellung bliesen die Hornisten der Legion sofort auf Anweisung, als der Ansturm der Germanen schwächer wurde. Caecina befahl den Reiterführer zu sich, und bald darauf erklang der Lituus, unverwechselbar das Signalinstrument der Reiterei. Bei Caecina gab es kein Wenn und Aber. Der Vorteil musste gesichert werden, die Lage gestern war bedrohlich genug gewesen. Die Reiterei hatte die Sicherung des Marsches zu übernehmen. Die Maultierkolonnen waren bereits zusammengefasst, die Tiere schrien unruhig und keilten aus. Verpflegung, Zelte, Reservewaffen, alles war bestens verpackt. Der Tross setzte sich in Bewegung, von den Centurionen immer wieder zur Eile angefeuert. Die Maultierführer hatten alle Mühe, die störrischen Tiere in Bewegung zu setzen. Caecina verschenkte keinen Augenblick. Die Nachhut wurde gebildet. Sicherheit zuerst, bloß dem Feinde keine Schwächen bieten. Er ließ die Feldzeichenträger an sich vorbeiziehen und strich sich zufrieden über das stachlige Kinn. »Feuer unter dem Arsch machen«, dachte er, »das ist alles, was diese Hornochsen brauchen!« Doch schon kam ein stärkerer Angriff der Germanen, der mit zwei Kohorten abgefangen werden musste. Der Ausmarsch wurde dabei allerdings kaum behindert, jeder war auf der Hut, jeder gab sein Bestes. Hunderte von toten Germanen lagen in den Gräben und auf den Wällen. In ständiger Gefechtsbereitschaft zogen die Römer
weiter, die Offiziere zu Pferd trieben die Soldaten zur Eile an. Kaum geschwächt schienen die Römer. Auf der anderen Seite konnte Arminius die Krieger nur schwer wieder sammeln, zumal sie nicht wussten, wer eigentlich das Kommando hatte – Arminius oder Inguiomer. Arminius brüllte und tobte, um die Männer zur Vernunft zu bringen. Mit sicherem Blick bemerkte er währenddessen, dass sie kostbare Zeit verschenkten. Fast unangefochten formierten sich die Römer. Wütend machte Arminius seinem Ärger Luft: Habgierige und Beutegierige wären sie, keine vernünftigen Kämpfer. Doch seine Worte zündeten nicht. Inguiomer wollte offenbar seinen Fehler wiedergutmachen, er kämpfte wie besessen, ohne zu merken, dass er allein mit seinen Gefolgsleuten den Römern nichts anhaben konnte. Arminius setzte sich allmählich bei den Kriegern wieder durch. Wolf hart und Ansgar schickte er mit der Reiterei vor und verteilte das Fußvolk dazwischen. Ganze Hundertschaften aus den einzelnen Gauen griffen jetzt an, um die Römer doch noch aufzuhalten, um sie zu bedrohen, die geschlossenen Abteilungen aufzubrechen. Doch dem Vorstoß fehlte der frühere Schwung, aber immerhin kam nun Bewegung in die Cherusker unter Arminius’ Führung. Hatten sie eben noch gezögert, waren sie eben noch unsicher gewesen, hatten sich auf das Lager stürzen wollen, um Beute zu machen, jetzt zogen sie in keilförmiger Aufstellung drohend auf den Römerzug zu, brüllten in ihre Schilde, stießen Verwünschungen aus und warfen ihre Framen. Allen voran Inguiomer, immer war er im dichtesten Getümmel. Auch Arminius kämpfte mit vollem Einsatz, doch der Zug der Römer rückte unaufhaltsam vor, zu straff war die Organisation, zu diszipliniert die Soldaten. Geschickt wussten die Legionäre ihre Schilde zu gebrauchen und wehrten die
Angriffe von den Flanken ab. Die wahre Überlegenheit der Römer zeigte sich, brachte die Germanen in Rage. Stunde um Stunde verging. Fiel ein Legionär, wurde sofort aufgeschlossen, der römische Drill klappte tadellos. Niemand kümmerte sich um die Toten, nur weiter, nur weiter dem Rhein zu. Wieder preschte Inguiomer vor, hieb mit seinen sehnigen Armen auf die Römer ein, feuerte seine Leute an. Aber dann, mitten im Kampfgetümmel, wurde sein Pferd getroffen, als er sich gerade nach seinen Leuten umdrehte; es stürzte laut aufwiehernd zu Boden und begrub ihn unter sich. Ehe er sich frei machen konnte, hieb ein römischer Legionär auf ihn ein, aber schon waren auch Cherusker zur Stelle. Der Römerzug hielt an, geschlossen machten die Legionäre Front zum Feind, leichte Unruhe kam in die Kohorte direkt vor Inguiomer. Sollten sie einen Ausfall machen? Die Flankendeckung des Zuges hatte die Situation noch im Griff. Die Lage spitzte sich für Inguiomer und seine Cherusker bedrohlich zu. Arminius hatte den Vorfall beobachtet, sprengte heran, zog seine Krieger hinter sich her, kämpfte sich wie ein Berserker den Weg frei, so dass die Römer jetzt doch zwei weitere Kohorten in Bewegung setzten und die Reiterei alarmiert wurde. Im letzten Augenblick hatte Arminius den Onkel erreicht, riss ihn auf sein Pferd und galoppierte mit ihm unter Deckung seiner Gefolgsleute aus der Gefahrenzone, die jetzt nahezu völlig von Römern eingeschlossen war, so dass viele von Arminius’ Leuten niedergemacht wurden. Inzwischen hatte Arminius den stark blutenden Inguiomer in Sicherheit gebracht. Fast unwillig ließ sich der alte Haudegen vom Pferd ziehen. Er blutete aus Wunden an Brust und Schulter, trotzdem
verlangte er sofort ein neues Pferd, um sich wieder in den Kampf stürzen zu können. Kein Dank für Arminius, eher ein verächtlich schmerzverzerrter Blick in den Rücken des Neffen, der sich bereits wieder bis in die vordersten Reihen durchgearbeitet hatte. Warum sollte er ihm auch dankbar sein? Ein ehrenvoller Platz in Walhall wäre ihm sicher gewesen, ihm, dem eigentlichen Führer der Cherusker! Die Krieger mussten ihn mit Gewalt halten, und er verfluchte sie dafür. Die Römer hatten sich längst wieder formiert, die kleine Episode hatte ihre Disziplin nicht erschüttern können. Auch Arminius, der immer wieder anstürmte und schwache Stellen suchte, konnte keine Wende herbeiführen. Den ganzen Tag wurde gekämpft; aber Caecina ließ sich nicht zum offenen Kampf provozieren, Defensive lautete die Parole.
Am Abend hatten die Legionen noch immer keine nennenswerten Ausfälle zu verzeichnen. Als die Germanen sich endlich in der Dunkelheit zurückziehen mussten, ließ Caecina, ohne die Kolonnen auch nur kurzfristig anzuhalten, in knapper Soldatensprache durch die Offiziere den Mannschaften seine Genugtuung ausrichten. Inhalt: »Ihr müsst nur auf mich hören, dann klappt’s auch!« Trotz der Kämpfe, die den ganzen Tag angedauert hatten, trotz mangelnder Verpflegung marschierten die Römer weiter dem Rhein zu, sichtlich bestärkt und voller Zuversicht.
XII.
Als die Legionsverbände wieder zusammenstießen, erhielt Caecina ein formelles Lob vor versammelter Mannschaft. Stramm stand er vor Germanicus, mit großen roten Ohren, ließ das Lob wie eine Pflichtübung über sich ergehen, grüßte militärisch und drehte sich sofort um, als Germanicus anschließend ein Donnerwetter über die Legionäre losließ: »Römische Legionäre benehmen sich wie hergelaufene Söldner! Keine Zucht. Kein Verstand! Hasenfüße! Fugam se conicunt…«, er lachte höhnisch auf, »geben Fersengeld…! Wohin hättet ihr denn fliehen wollen? Leichte Beute für die Germanen wäret ihr geworden! Capita machina detruncanda… die Köpfe müsste man euch mit dem Fallbeil abschlagen! Homines ignavi! Feiglinge!« Die Legionäre hatten bis dahin mit hängenden Köpfen zugehört, bei dem Wort Feiglinge aber ging ein Murren durch die Reihen. Härteste Strafe konnte ihnen ihr Feldherr androhen, aber sie als Feiglinge beschimpfen? Sie waren römische Legionäre, ausgewählte Soldaten. Germanicus unterdrückte das Gemurre mit einer herrischen Geste und rief: »Caecina hat euch das Leben gerettet! Ohne ihn wäret ihr verloren! Hilflos den Germanen ausgeliefert, zum Spott unserer Feinde geworden!« Caecina hatte die ganze Zeit mit grimmiger Miene den Feldherrn angehört. Sein Gesichtsausdruck gab den Groll an die Soldaten weiter. Germanicus hatte sich beruhigt und befahl die Offiziere zu sich. Die Aufteilung für den weiteren Rückmarsch wurde
vorgenommen, da kleinere Verbände einfacher verpflegt werden konnten. Caecinas Truppe wurde entlassen. Wieder grüßte Caecina seinen Oberbefehlshaber, und sein Gesicht drückte Entschlossenheit aus: Auf mich kannst du dich verlassen! Das passiert mir nicht wieder! Auch Germanicus grüßte zum Abschied. Publius Vitellius musste vortreten, ein junger Mann aus patrizischem Geschlecht, der sich freiwillig zu den Truppen des Germanicus gemeldet hatte. Vitellius nahm Haltung an, als der Feldherr mit ihm sprach. Er sollte die zweite und die vierzehnte Legion an der Küste entlang bis zum verabredeten Treffpunkt im Gebiet der Friesen führen. Die versammelten Steuerleute hatten es für zu gefährlich gehalten, alle Soldaten gleichzeitig auf die Flussschiffe zu verladen. Wenig begeistert waren die Legionäre der Zweiten und der Vierzehnten. »Warum gerade wir?«, murrten einige. »Germanicus setzt sich ab, für den steht sein Schiff bereit!« »Lässt uns hier zurück, der Herr Feldherr!« »Wir können sehen, wie wir weiterkommen!« Vitellius ließ die Legionäre in Marschordnung antreten und befahl unverzüglichen Abmarsch. Widerwillig nahmen die Legionäre ihr Gepäck auf, stießen einander, schimpften, doch was blieb ihnen übrig, was konnten sie tun? Befehl und Gehorsam! Zug um Zug schlossen sich die Soldaten an. Der Marsch zur Küste verlief ruhig und geordnet. Es war herbstlich kalt, der Himmel war kaum bewölkt. Publius Vitellius schickte Kundschafter voraus, als das Meer in Sicht kam. Schon hatten die Marschierenden Sand unter den Füßen.
Wie weit das Meer weg war! Glatt und eben war die Küste, es ließ sich gut marschieren. Soldaten der Flotte wurden auf die Abteilungen verteilt, sie sollten später am Treffpunkt das geordnete Verladen auf Schiffe überwachen. Dem Meer in der Ferne schenkte niemand besondere Beachtung. Viele mochten an die sanften Fluten des Mittelmeeres denken. Flach, sandig und fest verlief der Untergrund, die Römer waren zufrieden. Als es dunkler wurde und Gewitterwolken aufzogen, hielten alle das für den nahenden Abend und marschierten ruhig weiter. Doch urplötzlich brach das Gewitter los. Legionäre, die eben noch gescherzt hatten, begannen zu zittern. Merklich kalt war es geworden. Der Sturm wühlte das scheinbar so weit entfernte Meer auf. »Bei Mars und Jupiter und allen Göttern… das Wasser kommt!« Erschrocken stoppte der wohlgeordnete Marschzug. Staunen und Entsetzen. Oceanus, der Ozean! Die unwahrscheinlichsten Dinge hatten sie in den Kasernen darüber gehört. Das Wasser kam schnell. Von selbst änderten die Soldaten die Marschrichtung. Weg, nur weg von den unheimlichen Fluten, die eben noch in sicherer Ferne gewesen waren. Von einem Augenblick auf den anderen waren die Römer in eine stürmische Nacht geraten. Es regnete heftiger, Donnergrollen ließ die Soldaten erzittern. Immer mehr Blitze beleuchteten den gespenstigen Zug. Der Sturm türmte die Fluten zu hohen Bergen auf, und in Blitzesschnelle waren die Legionäre, die jetzt im Laufschritt vor dem Wasser flohen, eingeschlossen. Der Boden, der eben noch glatt und fest gewesen war, erwies sich jetzt als morastig und sumpfig – so etwas hatten die Legionäre noch nicht erlebt.
Soldaten stolperten und fielen. Schwarze Finsternis, von Blitzen erhellt, Wasser, Kälte, Entsetzen, nackte Angst. Jeder verlässt sich auf seinen Vordermann. Die Soldaten spüren den eisiger werdenden Wind. Längst laufen sie nicht mehr. Wohin sollen sie sich wenden? Wer gibt ihnen die Richtung an? Das Wasser ist überall! Für die Soldaten waren die anstürmenden Wellen drohende und unheilvolle Harpyien, Meeresungeheuer mit Jungfrauengesichtern, anzusehen wie große unwirkliche Vögel, mit langen garstigen Krallen an den Händen. Sie spucken die Soldaten an und verhöhnen sie. Voller Angst und Grauen ziehen sich die Römer noch dichter zusammen, ducken sich hinter ihre Vordermänner. Kam einer ins Stolpern, stolperten die Nachfolgenden mit, schrien auf vor Furcht, rappelten sich verzweifelt hoch aus dem eiskalten Wasser – nur weiter, nur weiter, weg von den wütenden Meeresungeheuern. Die Panik breitete sich aus. Wieder und wieder riefen die Römer Jupiter, den obersten der Götter an, der auch Gott des Wetters war, flehten ihn an, die Ungeheuer zu bändigen. Viele umfassten ihre Amulette, machten den Göttern Versprechungen, wenn sie nur heil dem Wüten dieser entsetzlichen Gewalten entkämen. Schon rissen die Fluten sie reihenweise um, sie schnappten nach Luft, jappten und jammerten, klapperten vor Kälte und Todesfurcht. Sie riefen Mars an, ihnen beizustehen, laut und weinerlich schrien viele nach Neptun, baten ihn inständig, mit dem Dreizack die verderblichen, jetzt bergehohen Wellen zu glätten. Die Harpyien hatten sie nun völlig umzingelt. Die Götter halfen nicht. Legionäre sahen Kameraden ertrinken und kämpften selbst gegen den nassen Tod. Ausrüstung und Waffen hatten die meisten längst verloren oder weggeworfen, andere klammerten sich nur aus reiner Gewohnheit noch daran.
»Vitellius, wie weit sind wir vom Land?«, riefen sie verzweifelt, suchten Rettung bei ihrem jungen Anführer. Viele waren froh, wenn sie noch den Vordermann sahen, bloß den Anschluss nicht verlieren. Blitz und Donner ließen nicht nach. Mit ungeheurer Schnelligkeit stießen Schlachtreihen von ständig wachsenden Wellenharpyien zu, warfen Hunderte von Soldaten um, nahmen sie mit sich in Neptuns feuchtes Reich, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. »Vitellius, Vitellius, wohin führst du uns?« »Du richtest uns alle zugrunde!« »So tu doch was, sollen wir denn alle ersaufen!« Land war weit und breit nicht mehr zu sehen. Marschierten sie denn geradewegs in den Oceanus hinein? Germanische Hilfskrieger riefen ihre Asen an, beschworen die Riesen der Finsternis, doch nichts half. Hatten sie die falschen Götter angerufen? Die Vorzeichen für den Kriegszug waren doch günstig gewesen! Hatte Jupiter denn vergessen, was Arminius ihnen, den Römern, angetan hatte? War dieser Kriegszug nicht gerecht, ein bellum iustum et pium? Einige begannen, auch nach Augustus zu jammern, ihrem vergöttlichten Kaiser, andere riefen Tiberius an. Vitellius hatte völlig den Kopf verloren, auch die Centurionen waren ratlos. Flüche auf Vitellius, Flüche auf alle Anführer, Flüche auf Arminius und dieses verdammte Germanien. Die Legionäre wateten, ruderten und stapften herum, viele klagten nur, froren und hatten schon jede Hoffnung aufgegeben. Immer noch war der Boden weich und schwammig, und sie steckten jetzt bereits bis zur Brust in eisigem Wasser. Manche Soldaten konnten sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien. Jeder Blitz schien zusätzlich Soldaten zu fällen. Starker Nordwind verstärkte die eisige Kälte.
Zwischen den Abteilungen schwammen Leichen und Gepäckstücke. »Erbarmen, Jupiter!« »Gnade, Neptun!« »Zu deinen Ehren, Mars! Zu deinem Ruhme! Hilf uns! Die Beute des nächsten Kriegszuges sei dein!« Vitellius schien sich gefasst zu haben, die Verantwortung, die Germanicus ihm übergeben hatte, belastete ihn sehr. Wie viele Männer hatte er von den zwei Legionen schon verloren? Er schickte Freiwillige vor, die sicheren Grund ausfindig machen sollten, ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Den anderen versuchte er Mut zu machen: »Das kann nicht ewig dauern! Bald wird sich das Wasser zurückziehen!« Die Legionäre hörten kaum hin, auch kam seine Stimme gegen das Unwetter nicht an. Die Seesoldaten beteuerten immer wieder, dass sie derart wütenden Seegang an der Küste nie zuvor beobachtet hätten, auch sie glaubten an die Ungnade germanischer Götter. Die germanischen Hilfskrieger wurden beschworen: »Besänftigt eure Götter!« »Versprecht ihnen Opfer!« »Tut doch endlich was!« »Nie wieder kommen wir in ihr Reich!« Das Unglaubliche geschah. Endlich, nach einer hoffnungslosen Ewigkeit, arbeiteten sich Freiwillige durch Sturm und Regen, Blitz und Donner zu Vitellius zurück: »Land! Wir haben Land entdeckt! Sicheres Land!« »Den Göttern sei Dank, wir sind gerettet!« Die Überlebenden hielten sich an den Armen, um von den mit immer noch heftiger Wucht anrollenden Fluten nicht umgerissen zu werden; sprangen gemeinsam mit den Wellen hoch, schluckten Wasser. Land! Land! Land! Die Rettung!
Ohne zu zögern, folgten alle den Freiwilligen, sprangen in kleinen Sätzen, holten tief Luft, ließen die Wellen über sich ergehen. »Schneller! Haltet euch an den Armen!« »Lass liegen, schmeiß weg!« »Wenn wir nur unser Leben retten!« »Los, los, voran! Ketten bilden! Gleich haben wir es geschafft!« »Jupiter hat uns errettet, Dank sei dir, Mars!«
Frierend, hungernd, total erschöpft erreichten die Legionäre eine höher gelegene Stelle. Ohne alle Vorräte, ohne Waffen waren sie, nur das nackte Leben hatten sie gerettet. Keiner wusste, wie viele umgekommen waren. Fast jeder vermisste einen Kameraden aus seiner Centurie, den Nebenmann aus seiner Einheit. Erschöpft ließen sie sich auf den Boden fallen. Vitellius, selbst erschöpft und ausgepumpt, hatte sich wieder gefangen. Im Morgengrauen unternahm er nur mit einigen Kundschaftern einen ersten Orientierungsgang, ehe die kläglichen Überreste der zwei Legionen – in respektvollem Abstand vom Meer – sich auf den Weitermarsch machten.
XIII.
Vom Rhein her sah das Römerkastell Moguntiacum∗, am linken Rheinufer gegenüber der Mainmündung gelegen, wie eine uneinnehmbare Festung aus; gebaut nach dem Prinzip jedes Römerlagers, jeder Römerstadt in den Provinzen, quadratisch, geometrisch; einfallslos, sagten spätere Kritiker, mit geraden Straßen, die sich kreuzten, ein reiner Zweckbau, eine militärische Anlage, eine riesige Kaserne. Ordnung muss sein, alles überschaubar angeordnet, kein Platz für Individualität, communis, stabilis, idem – gemeinsam, standhaft, gleich. Händler, von Wachtposten kontrolliert, zogen aus und ein – der Versorgungsbedarf war unermesslich. Überall Exerzierplätze, Kommandos schallten, Signale waren zu hören, viele tausend Legionäre waren in der Ausbildung, wurden auf neue Kämpfe vorbereitet. Der Winterschlaf war vorbei, das wurde den Soldaten von den Centurionen immer wieder eingehämmert. Von wegen Winterschlaf, dachten die Legionäre. Den ganzen Winter über hatten sie geputzt, gehämmert, neue Waffen hergestellt, die Ausrüstung instand gesetzt, die Pferde und Maultiere versorgt, die Trosswagen erneuert, die Unterkünfte ausgebessert – der riesige Selbstversorgungsbetrieb der Legionen ließ einfach keinen Winterschlaf zu – immer gab es etwas zu tun. Die Soldaten wurden abgelenkt, als ihr Feldherr Germanicus erschien, Oberbefehlshaber der Rheinarmee, nur mit schlichter ∗
Mainz
Tunika und einem Muskelpanzer bekleidet. Doch noch mehr lenkte sie das kleine Söhnchen ihres Kommandeurs ab, das sie zärtlich Caligula nannten, das kleine Soldatenstiefelchen, zu drollig, wie er mit seinen viel zu großen Stiefeln an der Hand des Vaters dahertrippelte. Was für ein Liebling! Sie nannten ihn Sternchen, unser Kleiner oder auch einfach Kindchen und erfanden immer neue Kosenamen. Germanicus ließ es lächelnd geschehen und strich dem Söhnchen Gaius Caesar über die blonden Locken. Eine Kohorte zog im Marschtritt vorbei und grüßte den Feldherrn durch Kopfdrehen auf Kommando. Der Centurio war nachsichtig, als einige dem kleinen Caligula Kosenamen zuwarfen. Germanicus ging weiter, zog den Sohn hinter sich her, der den Soldaten nachschaute und dabei fröhlich plapperte. Von den Kasernenhöfen drangen Kommandos, überall war das vertraute Geräusch marschierender Soldatenstiefel zu hören. Geistesabwesend erwiderte Germanicus die respektvollen Grüße der Legionäre und sah ihnen beim Training zu, gab hin und wieder eine Anweisung oder ließ einen Centurio zu sich kommen. Sie gingen weiter zu einem Übungsplatz für Gefechtsausbildung. Caligula befreite sich von der Hand des Vaters. Ein Rekrut, ausgerüstet mit einem Holzschwert, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Das Kind kreischte vor Vergnügen. Mit Holzschwert und geflochtenem Schild stand der Legionär da und stieß Löcher in die Luft. Dann wurde er vom Ausbilder auf einen mannshohen Pfahl zu beordert, gegen den er gezielte Hau- und Stoßübungen durchführen musste. Caligula kam ihm in die Quere, sein Vater versuchte ihn aufzuhalten, doch der Kleine war schneller.
Der Rekrut war völlig verunsichert, stand da, wagte nicht, dem Kind das Übungsschwert zu entziehen, nach dem es grapschte. Caligula riss an dem Schwert, der Centurio stand mit Blick auf seinen Oberbefehlshaber abwartend stramm. Germanicus lächelte, erwiderte den Gruß des Ausbilders und ließ ihn rühren. Der Kleine hatte inzwischen das Holzschwert ergattert, das der Soldat ihm zögernd überließ, und schlug damit auf den Pfahl ein. Die anderen Legionäre kamen herbei, lachten und scherzten, klatschten Beifall und konnten sich nicht bremsen in ihrer Begeisterung: »Schlag zu, Kleiner!« »Ein Germane, der Pfahl!« »Hau ihn!« »Recht so!« »Ein großer Feldherr wird er!« »Ganz der Vater!« »Unser Sternchen!« »Unser Liebling!« Sie klatschten wieder begeistert, als Caligula den Pfahl getroffen hatte, und Germanicus strahlte. Der kleine Gaius Caesar Caligula steigerte sich, hatte wohl den Soldaten manches abgeguckt, hieb und stach auf den Pfosten ein, lachte, strahlte und quietschte dabei voller Vergnügen. Der Vater fand, dass es genug war, nahm ihm vorsichtig das Schwert ab, wollte es dem Legionär zurückgeben, doch Caligula wollte nicht, hatte Gefallen an seinem Spiel gefunden, stemmte sich gegen den Vater, verzog das Gesicht vor Anstrengung, weinte, schimpfte, trat dem Vater vors Schienbein und war einfach nicht von der Stelle zu bewegen.
Mit sanfter Gewalt setzte sich Germanicus durch, gab dem Soldaten das Schwert zurück und befahl dem Centurio: »Weitermachen!« Der Legionär zielte wieder mit seinem Holzschwert, andere warfen wieder Pilen auf Pfähle, wieder andere nahmen auf Kommando Aufstellung und entfernten sich im Gleichschritt. Verstohlen blickten einige zurück auf ihren Kleinen. Caligula brüllte, wischte sich mit den kleinen Händchen über Nase und Augen, kratzte den Vater und versuchte, ihn zu treten. Germanicus wollte ihn ablenken, zeigte auf einen Legionär, der in voller Ausrüstung Auf- und Absitzen auf ein Pferd üben musste, während ein anderer es am Zügel hielt. »Schau mal, ein Pferd!« Caligula ließ sich nicht beeindrucken, ein Fußtritt traf den Vater. Eine marschierende Kolonne, die Vater und Sohn entgegenkam, machte »Augen rechts«, und die Soldaten blickten freundlich grinsend auf den kleinen Prinzensohn. »Ach, was hat er denn?« »Unser Kleiner!« »Nicht weinen, Söhnchen!« Germanicus zog den schluchzenden Sohn weiter. Er hatte die Stirn in Falten gelegt, schien unzufrieden, der quengelnde Sohn war nicht der einzige Grund. Viele Gedanken gingen durch seinen Kopf. Wieder und wieder hatten sie im vergangenen Winter die Züge gegen die Germanen besprochen, hatten neue Pläne gemacht, wie sie unter Einsatz aller Mittel einen endgültigen Sieg erringen könnten. Unwirsch herrschte er nun den störrischen Jungen an, gab ihm einen kleinen Klaps, doch da schrie Caligula erst recht, heulte los wie eine Sirene.
Germanicus rief einen Legionär, der das strampelnde Söhnchen übernehmen musste und es zum Haus des Feldherrn bringen sollte. Der Legionär nahm Gaius Caligula auf seine kräftigen Arme, doch der Kleine strampelte und brüllte, schlug den Soldaten mit seinen kleinen Fäusten, streckte dem Vater die Zunge raus und spuckte dem Legionär ins Gesicht. Fast entschuldigend blickte dieser seinen Feldherrn an. Germanicus hatte eine steile Falte auf der Stirn, seine Gedanken waren schon wieder bei den Germanen, die ihm so zu schaffen machten, dass sie selbst noch in seinen Träumen auftauchten. Gedankenverloren schaute er den beiden nach, hörte kaum noch das Zetern des Kindes. Die Germanen, die Germanen! Die Ansicht hatte sich längst durchgesetzt, dass man sie in regelrechter, offener Feldschlacht schlagen könnte, ihnen jedoch in den Sümpfen und engen Gebirgstälern unterlegen sein musste. Bei Besprechungen mit seinen Stabsoffizieren hatte er immer wieder darauf hingewiesen, dass ein langer Tross in jedem Fall hinderlich sei. »Beschränkung, Disziplin, Leistung«, musste die Parole heißen. Jeder hatte für den Senat und das römische Volk sein Bestes zu geben. Um jedes Detail hatte er sich gekümmert, hatte tausend neue Schiffe in Auftrag gegeben, um beim nächsten Kriegszug die Truppen schneller und problemloser ins Gebiet der verbündeten Germanenstämme transportieren zu können. Der Bau wurde von seinen erfahrensten Männern, Caecina, Anteius und Silius, überwacht, die ihm über den Fortgang der Arbeiten jeden Tag berichten mussten. Die Werften der gesamten Rheinarmee waren voll ausgelastet. Spezialschiffe, zum Teil nach eigenen Entwürfen, hatte er anfertigen lassen, karthagische Fachleute hatte man zurate gezogen, auch friesische Hilfstruppenführer, die von der Seefahrt etwas verstanden. Der gesamte Nachschub, außerdem
Pferde, Maultiere und Mannschaften, mussten zum Einsatzort bis ins ferne Germanien transportiert werden. Die katastrophale Rückführung der Truppen am Meer entlang hatte allen Verantwortlichen zu denken gegeben. Kundschafter waren ausschließlich mit der Aufgabe beauftragt worden, die Gezeiten zu beobachten und genaue Zeitpläne aufzustellen, denn derartige Unglücksfälle durften sich auf gar keinen Fall wiederholen. Auf Rat der Karthager, die große Erfahrung im Schiffsbau hatten, waren Schiffe mit engem Bug und engem Steven gebaut worden, die nach Meinung der jetzt in römischen Diensten stehenden Fachleute leichter den ungewohnt hohen Wellen widerstehen sollten. Andere Boote mit flachem Kiel hatte man für den Einsatz in seichtem Wasser gebaut. Viele Schiffe wurden an beiden Enden mit Steuerrudern versehen, um mit beiden Enden anlegen zu können. Zusätzlich waren Spezialboote gebaut worden, die besonders zum Übersetzen von Truppen auf den Flussläufen in Germanien eingesetzt werden sollten. Viele Male hatten Seesoldaten mit diesen Booten Pontonbrücken über den Rhein gebaut, viele Male waren Truppen zu Übungszwecken auf das andere Rheinufer übergesetzt worden. Germanicus hatte nichts vergessen. Dieses Mal durfte nichts schiefgehen, er musste Arminius vernichtend schlagen, die Schande des Varus blutig rächen, den Barbaren seinen Namen mit unverlöschlicher Schrift einhämmern für alle Zeiten. Den Schiffen galt sein besonderes Augenmerk, zu lange hatten die Römer die Seefahrt unterschätzt. Er hatte seine Schiffe sogar mit Verdecken versehen lassen, extra Schiffe für den Waffentransport, andere für den Pferde- und notwendigen Gepäcktransport vorgesehen. Germanicus grüßte eine vorbeiziehende Kohorte, verfolgte den exakten Marschtritt der Legionäre und winkte, einem
plötzlichen Entschluss folgend, den Centurio zu sich. Die Kohorte hielt auf dessen Kommando, der Centurio eilte im Laufschritt herbei. Er erhielt den Auftrag, den Befehl zu übermitteln, dass sich alle Unterfeldherren und Stabsoffiziere beim Oberbefehlshaber einzufinden hätten. Unverzüglich. Germanicus selbst eilte mit schnellen Schritten zum Praetorium, entschlossen war sein Gesicht, alle Grübeleien, alles Nachdenken schienen wie abgeschüttelt. Schon kurze Zeit später stand er, der Oberbefehlshaber über die gesamte Rheinarmee, nur mit der Tunika bekleidet vor einer Karte Germaniens im Hauptquartier. Ein Bild von einem Römer, Lockenkopf, Adlerprofil, leider etwas dünne Beine.
Kleine Abschweifung gefällig? Sueton, der unfreiwillige Witzbold, schildert die Gestalt des Germanicus so: »Nur die etwas zu hageren Schenkel stimmten nicht mit seiner übrigen Wohlgestalt (Überein), doch gewannen dieselben allmählich an Kraft und Fülle durch tägliches Reiten nach dem Frühmahl.« Na bitte! Es kommt eben immer darauf an, was man daraus macht. Dünne Beine sind noch lange kein Hindernis für einen Endsieg.
Unter den Offizieren stand mit nachdenklichem Gesicht, verschränkten muskulösen Armen, auf denen sich graue Wolle kräuselte, Aulus Caecina, kein Wort seines Kommandeurs entging ihm. Soldat mit Leib und Seele. Längst war er neben den anderen Unterfeldherren Lucius Apronius und Caius Silius Germanicus’ verlässlichste Stütze geworden. Alle Offiziere
waren in voller Montur erschienen, nur die Helme hatten sie abgenommen und trugen sie unter den Armen. Germanicus war dafür bekannt, dass er stets seine Unterfeldherren und Offiziere um Rat fragte und keine eigenmächtigen Entscheidungen traf, was ihm einige hinter seinem Rücken als Führungsschwäche auslegten. Besonders Caecinas Rat, die Ansichten dieses bullig wirkenden alten Legionärs der alten Schule mit den kurzgeschorenen grauweißen Haaren schien er zu schätzen. Caecina trat gerade dicht an die Karte, zeigte pedantisch genau mit dem Finger den Verlauf der fossa Drusiana∗, verwies auf die Flussmündungen und berichtete von seinen Erfahrungen. Interessiert kamen auch Apronius, Silius und Reiterpräfekt Pedo sowie Stabsoffizier Lucius Stertinius und andere nach vorn und hörten aufmerksam zu, was der erfahrene Aulus Caecina zu sagen hatte. Lagebesprechung im Feldherrnhauptquartier. Diskussion, Anhörung, Meinung, Bericht, Erfahrungsaustausch, Entscheidung, Befehl und Gehorsam. Du bist nichts, dein Volk ist alles. Das Volk und der römische Senat und ein ehrgeiziger Eroberer; beschlossen wurde die Ausrottung eines Volkes, besser mehrerer Stämme, deren Anführer es gewagt hatte, Rom, die Weltmacht, anzugreifen. Niemand in Rom würde auf die Idee kommen, dieses Vorhaben zu kritisieren oder gar zu verurteilen. Warum auch? Die Offiziere meldeten sich nach und nach zu Wort, Rangunterschiede wurden genau beachtet. Der Oberbefehlshaber hörte allen geduldig zu.
∗
Drususkanal, die bei Utrecht vom Rhein abzweigende kanalisierte Vecht, die den Flevo lacus, die damalige Vorstufe der heute viel größeren Zuidersee, mit einem anderen kleinen See verband, der eine schmale Verbindung zur offenen Nordsee hatte.
Der Reiterpräfekt Pedo wies auf die Bedeutung von Pferden und Maultieren hin; da der Tross ja bekanntlich klein gehalten werden sollte, müsste alles Gepäck auf die Tiere gepackt werden. Wenn überhaupt keine Trosswagen mitgenommen würden, außer denen für die Geschütze, reiche die Zahl der vorhandenen Lasttiere nicht aus. Germanicus notierte etwas auf einer Wachstafel, er würde der Sache nachgehen. Der totale Sieg über die Germanen wurde bis ins Detail geplant. Nach einhelliger Meinung der Offiziere standen die Vorzeichen günstig. Alle schmeichelten ihrem Feldherrn, und es war Caecina, der die Hoffnung des Offizierskorps zusammenfasste, indem er auf die Karte verwies: »Germania Magna wird von der Karte verschwinden, wie Gallien wird endlich eine tributpflichtige römische Provinz entstehen, dein Name, Feldherr, wird für alle Zeiten unsterblich sein!« Beifälliges Gemurmel und Applaus der Offiziere. Germanicus hatte sich gesetzt, ließ die Huldigungen über sich ergehen, blickte zuversichtlich in die Runde und erklärte mit seiner hellen, lauten Stimme: »Sobald es das Wetter zulässt, werden wir Truppenkeile von allen Seiten auf den bekannten Einfallswegen zwischen Rhein und Elbe hineintreiben.« Er ging zur Karte und demonstrierte noch einmal die Angriffswege. »Wenn wir einen endgültigen Sieg erringen und Arminius und seine Verschwörer vernichten wollen, müssen wir die Germanen so in die Zange nehmen, dass ihnen die Luft ausgeht!« Seine kräftigen Hände deuteten einen Würgegriff an, dann trat er zur Seite und deutete wieder auf die Karte: »Wir werden getrennt marschieren, aber vereint schlagen! Jupiter und Mars werden und können uns das Kriegsglück nicht versagen, seit Wochen melden die Auguren günstige Vorzeichen!«
Er bat die Offiziere wieder zur Karte, trat selbst dicht heran und sagte: »Hier liegt das Kastell im Taunus∗, das mein Vater Drusus einst angelegt hat. Wir werden es erneuern und einen Straßenkommandanten ernennen, der die Wege zu sichern hat. Nichts darf dem Zufall überlassen bleiben. Zu lange schon, viel zu lange triumphiert Arminius scheinbar über das römische Volk, versetzt er römische Bürger in Angst und Schrecken. Wir müssen diese Gefahr für das Reich ein für alle Mal beseitigen. Ordnung und Sicherheit müssen wiederhergestellt werden!« Er steigerte sich, verlor hörbar seine kühle Distanz, der Hass stieg in ihm hoch: »Wir werden ihn vernichten, diesen germanischen Verräter, der die Großzügigkeit unseres Volkes so schamlos ausgenutzt hat. Nie wieder wird es jemand wagen, Rom anzugreifen! Lang lebe Rom!« »Lang lebe Rom!«, erwiderten die Offiziere mit lauten und kräftigen Stimmen, Begeisterung war ihnen anzusehen. Sie zweifelten nicht im Geringsten daran, dass Arminius diesmal vernichtend geschlagen werden würde. Germanicus erläuterte den Plan weiter, als sich die Offiziere wieder beruhigt hatten. »Caecina wird wie besprochen den Vorstoß vom Norden her führen, ich selbst werde mit der Hauptmacht auf dem schnellsten Wege zur Weser ziehen. Wir werden ihnen eine bittere Lektion erteilen, diesen räudigen Germanen, besonders den Cheruskern, den Feiglingen und Verrätern!« Germanicus lachte und rieb sich die Hände, als freue er sich bereits jetzt auf die zu erwartende Auseinandersetzung. Die Beratungen dauerten noch den ganzen Vormittag. Als Germanicus die Offiziere endlich entließ, ordnete er für den Nachmittag noch eine Inspektion der Truppen an, die er, der ∗
Auf dem Burgberg von Friedberg (nach Tacitus).
Oberbefehlshaber, persönlich leiten würde, und jeder wusste, dass seinen scharfen Augen auch nicht die kleinste Nachlässigkeit entgehen würde.
XIV.
Die Weser floss breit und ruhig dahin. Feuchte Uferwiesen lagen zu beiden Seiten, kaum ein mageres, kleines Rind, kaum Wild waren zu sehen. Erst allmählich stieg das Gelände an beiden Ufern des Flusses an, und dichter undurchdringlicher Wald begann. Von den Germanen als Gottheit verehrt, der Fluss, der in ihren Vorstellungen immer da gewesen war. Niemand konnte sich vorstellen oder verschwendete auch nur einen Gedanken daran, dass die Weser, dass das Wasser an sich einmal aufhören würde zu fließen. Die alten Sagen berichteten von Eindringlingen, die von der Mündung der Weser her vorgedrungen waren, alte Geschichten lebten wieder auf, gewannen durch die Römer an Aktualität. Der Fluss blieb gleichgültig. Die cheruskischen Priester flehten ihn an, die Feinde zu verschlingen, ihre Boote kentern zu lassen, doch der Fluss zog dahin in aller Seelenruhe. Es störte ihn offenbar nicht, dass viele tausend Römer auf der einen Seite und viele tausend verbündete Germanen auf der anderen Seite sich darauf vorbereiteten, einander die Köpfe einzuschlagen, einander zu verwunden, zu töten, voller Erbitterung gegeneinander zu kämpfen. Jeder wusste, worum es ging, Arminius hatte auf Thingversammlungen die Grausamkeiten der Römer in den grellsten Farben gemalt. Sie hatten drei römische Legionen vernichtet, wie konnten sie da Nachsicht der Feinde erwarten. Angriff, Angriff, Angriff, brüllten die germanischen Krieger. Beute und Abwechslung hatten sie im Sinn. Für sie war es ehrenvoll, für ihren Gefolgsherrn zu sterben. Schon kursierten
Gerüchte, dass man sogar die reichen Lager am Rhein angreifen würde, vielleicht gar Rom selbst, hatte man doch gesehen, dass auch die Weltmacht nicht unverwundbar war. Kundschafter der Germanen befuhren mit ihren Booten die Weser, die ruhig und unbeteiligt sich breit ins Land ergoss. Nach der Schlacht würde sie ebenso ruhig und unbeteiligt dahinfließen, die ihr anvertrauten Leichen mitnehmen, das Blut fortspülen.
Ich denke an die lächerlich kurze Zeitspanne des Menschen überhaupt, denke an die durchschnittliche Lebenserwartung der Germanen von 25-30 Jahren; nur jedes dritte Kind erreichte das Frauen- bzw. das Mannesalter, und selbst dann wurden sie selten älter als 50 Jahre. Keiner konnte sich so wichtig nehmen, die germanische Einstellung zum Leben war ohnehin eher gleichgültig.
Arminius hatte erfahren, dass sein Bruder im Heer des Germanicus war, und wollte auf Drängen seiner Mutter versuchen, mit ihm zu sprechen. Er hatte seiner Mutter diesen Wunsch nicht abschlagen können, doch sah man seinem Gesicht an, dass ihm diese Aufgabe nicht leicht fiel. Überhaupt blickte er ständig mürrisch und grimmig drein, er, der früher bei den Römern als lustiger Gefährte bekannt war. Ansgar, Wolfhart und andere Anführer begleiteten ihn. Sie ritten direkt auf die Weser zu, ließen ihre Pferde jedoch bald zurück und gingen durch hohes Gras und Schilf die letzte Strecke auf den Fluss zu. Nichts Besonderes war zu sehen, das römische Lager in der Ferne war allenfalls am Verhalten der Vögel zu erahnen. Raubvögel waren auch in der Nähe, Arminius und seine
Begleiter schauten auf, sahen sie über der Beute rütteln und dann blitzschnell im Sturzflug zustoßen. Ab und zu knackte es im Uferschilf, und Kleinwild, von den Männern aufgescheucht, suchte sein Heil in der Flucht. Reiter am Horizont, Wolf hart streckte den Arm aus. Als sie näher kamen, erkannten die Cherusker eine römische Eskorte. Noch näher! Arminius und seine Männer erblickten mit scharfen Augen einen vorausreitenden Centurio, dazu sechs Mann, zwei und zwei hintereinander. Arminius hielt die Hand über die Augen und spähte zu dem Centurio hinüber. Wo war Flavus, was wollte man ihm mitteilen, hielten die Römer ihn zum Narren? Das Angebot zu diesem Treffen war schließlich von den Römern ausgegangen, ein Bote hatte die Nachricht gebracht, dass Flavus hier beim Heer des Germanicus sei. Was sollte das Ganze? Ein klassischer Fall von divide et impera, teile und herrsche? Wie gut, dass er die Römer kannte, aber immerhin war Flavus sein Bruder. Die Reiter hatten fast den Fluss erreicht. Wieder betrachtete Arminius den Centurio, sah den querstehenden Helmbusch, den Helm, den er selbst getragen hatte, die übliche Ausrüstung, den Muskelpanzer über der Tunika – viele Centurionen dienten im römischen Heer, einer von vielen also. Die Abordnung war jetzt dicht am Ufer. Der Centurio ließ seine Leute anhalten, stieg langsam vom Pferd, kam mit entschlossenen Schritten noch näher, nahm seinen Helm ab, schüttelte langes, rotblondes Haar darunter hervor und strich sich über das Gesicht – ein Schock traf Arminius, sein Bruder, sein eigener Bruder Flavus stand am anderen Ufer, deutlich entstellt das Gesicht, aber kein Zweifel, es war sein Bruder Segister, den die Römer, wie viele andere
auch, in ihrer beschränkten Namengebung Flavus, den Blonden, nannten. Was war mit seinem Auge? Arminius hatte es einen Augenblick die Sprache verschlagen, er drehte sich zu den Begleitern um, befahl ihnen, in der Nähe zu bleiben, und trat selbst noch dichter an den Fluss heran. Arminius hatte nie viel Worte gemacht, glich auch darin seinem Onkel Inguiomer, hatte erst bei den Römern das Reden gelernt, hatte gelernt, wie man Truppen vor dem Kampf anzufeuern hatte, hatte begriffen, wie wichtig Sprache sein konnte, und die eigene, die germanische sprachliche Unbeholfenheit erfahren. Mit wenigen Worten waren sie in ihrer Jugend ausgekommen, das Haus, der Hof, das Vieh, die Jagd – klare, einfache Begriffe, kein Wenn und Aber, die rhetorischen Spitzfindigkeiten der Römer existierten in der cheruskischen Stammessprache nicht. Wie die Unterhaltung beginnen, wo die Kluft zwischen den Brüdern doch deutlich war, breiter als der Fluss, der zwischen ihnen lag, tiefer, entscheidender. Jahrzehnte schien es Arminius zurückzuliegen, dass er selbst in römischen Diensten gestanden hatte, unvorstellbar jetzt, es war, als schüttelte er sich, wie um einen bösen Traum loszuwerden, und gab sich einen Ruck. Er blickte in das entstellte Gesicht des Bruders. »Hast du ein Auge verloren?«, rief er statt einer Begrüßung. Flavus bejahte, nannte ihm sogar Ort und Schlacht, in der er das Auge unter »dem glorreichen Feldherrn Tiberius« verloren hatte. »Welchen Lohn hast du dafür erhalten, welchen Lohn?«, rief Arminius, die Hände an den Mund legend, »nennen sie dich jetzt wenigstens Flavus Codes, Flavus den Einäugigen, zur Unterscheidung?«
Schon lag Spott in seiner Stimme, der Flavus am anderen Ufer nicht entgangen war. Gelassen antwortete er: »Du kennst doch den üblichen Lohn bei solchen Verwundungen, oder hast du alles schon vergessen? Bei Tapferkeit vorm Feind gibt es Solderhöhung, Halskette, Orden und das Übliche!« »Ein armseliger Lohn für ein Auge!«, höhnte Arminius, »wirklich armselig, das sieht den Römern ähnlich!« »Du sprichst noch immer wie mit dem kleinen Bruder«, rief Flavus jetzt lauter, sichtlich gereizt, weil seine Auszeichnungen keinen Eindruck auf den Bruder gemacht hatten, »ich habe es in Rom zu Macht und Ansehen gebracht, du hast Rom nie gesehen und kennst seine Macht und Größe nicht. Du hast dich nur im Lager bei den Hilfstruppen aufgehalten, wie kannst du die Größe und Gerechtigkeit eines römischen Kaisers begreifen, mit denen er Besiegte bestraft und die milde behandelt, die ihre Verblendung einsehen und sich ergeben!« Das war also der Auftrag, den die Römer Flavus zugedacht hatten. »Römische Rhetorik«, rief Arminius ungehalten dazwischen. Doch Flavus ließ sich nicht beirren. »Mit der gleichen Gerechtigkeit werden übrigens Thusnelda und dein Sohn behandelt, es fehlt ihnen an nichts!« Arminius zuckte unwillkürlich zusammen. Sein Sohn! Sein Sohn, den er noch nie gesehen hatte, seine Frau in den Händen der Feinde! Sein Stolz verbot ihm, weitere Fragen zu stellen, den Bruder direkt nach Frau und Sohn zu fragen. Wo mochten sie sich aufhalten, wie hatte sie ihn genannt, seinen Sohn? Alle Fragen mussten unterdrückt werden, Zorn, Hohn und Spott sorgten für Ausgleich, er brauchte ein Ventil für seinen aufgestauten Hass, der Bruder musste herhalten: »Du wirst bei den Römern immer ein Fremder sein, Segister, oder besser
Flavus Codes, mehr als nur ein Auge werden sie von dir verlangen, die römischen Blutsauger, das Geschlecht von beutegierigen Wölfen, das die ganze Welt unterdrückt. Aber du bist ja schon lange zum Verräter geworden, und…!« Bei dem Wort Verräter wurde Flavus am anderen Ufer zornig, griff sogar zu seiner Waffe. Wie konnte der Bruder es wagen! »Ich habe mich immer eindeutig auf die Seite der Römer gestellt, habe den Wunsch unseres Vaters Segimer befolgt, ich habe niemanden verraten wie dein Schwiegervater Segestes. Ich bin nicht schuld daran, dass Thusnelda in Gefangenschaft ist! Hast du vergessen, dass unser Stamm in die römische Freundschaft aufgenommen wurde? Hast du vergessen, mit welcher Begeisterung wir beide in das römische Heer eintraten? Ist dir eigentlich klar, dass du Freunde umgebracht hast, mit denen du zuvor noch gezecht hast, deinen Freund und Gönner Varus, dem du alles verdankst?« Flavus kam ins Husten, schrie aber weiter: »Nur durch deine Hinterlist hast du ihn besiegen können, weil er dir blindlings vertraute! Du bist nicht besser als Segestes, du bist der Verräter. Auf deinen Kopf ist eine Prämie ausgesetzt in Rom, ich werde…!« Der Name Segestes wirkte wie ein rotes Tuch auf Arminius, auch er griff automatisch zur Waffe. Der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Flavus und ihm, zwischen Germanen und Römern wurde ihm wieder klar. Die Verblendung des Bruders brachte ihn zur Raserei. So hatte schon lange keiner mit ihm gesprochen, das hatte nicht einmal Ansgar sich getraut. Man merkte Flavus auf dem gegenüberliegenden Ufer an, dass er noch eine ganze Menge auf dem Herzen hatte, das er dem Bruder ins Gesicht schleudern musste, viel zu lange war er nur der kleine Bruder gewesen. Als Arminius nichts erwiderte, rief er: »Ich habe zwar ein Auge verloren, aber auch Neues hinzugewonnen – die Sprache und die Kultur Roms –, du wirst es erleben, dass eines Tages
alle Germanen lingua Latina∗ sprechen, wir haben Dinge, für die es bei euch nicht einmal Wörter gibt – ihr werdet sie euch ausleihen müssen!« Er lachte hämisch. »Mit Recht nennt man euch Barbaren, Stammler, Ungebildete. Rom ist eine Gemeinschaft, ihr seid nur kleine Einzelstämme, der eine weiß nichts vom anderen. Varus habt ihr gemeinsam überfallen, aber jedermann weiß, dass euer Bündnis bröckelt!« Wieder schallte sein höhnisches Lachen über den Fluss. »Rom wird die Welt beherrschen, und ihr werdet als Provinz einen tüchtigen Verwalter bekommen – ihr werdet euch noch darum bemühen, ihr werdet uns bitten, dass wir euch einen schicken, selbst seid ihr nicht mal in der Lage, eine Provinz zu verwalten! Hast du Gallien vergessen, oder hast du im Lager nie etwas von römischer Geschichte gehört?« Arminius drohte dem Bruder mit der Faust: »Rom wird mich kennen lernen, mich, den Anführer aller Germanen! Unser Bündnis ist fest!« Jetzt war er es, der spottete: »Rom soll auf sich selbst aufpassen! Zu weit schon dehnen sich seine Arme aus, nun könnt ihr nicht mehr alles umfassen, was ihr an euch gerafft habt, die Glieder werden schwach und kraftlos! Die Wölfin ist krank und zu alt, die Zähne werden stumpf und fallen aus! Wir fürchten euch nicht, sag das deinem ehrgeizigen Prinzen, der sich einen Namen zugelegt hat, der ihm nicht zusteht!« Arminius drohte und gestikulierte mit den Fäusten. »Hinter mir stehen die unverbrauchte Macht und die wilde Entschlossenheit meines Volkes, du aber bist nur ein Heimatloser, geblendet vom Wohlleben, verführt und verweichlicht von Reichtum und Laster, die wahren Werte hast ∗
Die lateinische Sprache (eigentlich: mit lateinischer Zunge).
du vergessen, Schande über dich und deine Nachkommen, in Walhall wird…!« Doch Flavus fiel ihm ins Wort und benutzte ebenso wie sein Bruder lateinische Brocken. Beide schrien und schimpften, keiner verstand den anderen. Flavus übertönte den Bruder: »Was habt ihr denn schon vorzuweisen, nichts habt ihr, ihr Ignoranten! Bei der Aufzählung der Provinzen des Römischen Reiches würde man euch übersehen, wir haben Karten in Rom, die euch nicht nennen, auf denen die Grenzen gezogen sind vor euren Sümpfen und Wäldern! Ihr lebt wie das Wild und verschließt eure Augen vor den Errungenschaften und Leistungen der Weltmacht! Wir sind nur hier, um mit euch abzurechnen…!« »Pah, Leistungen, Leistungen, abrechnen, das hat schon mal einer versucht und sich dabei eine blutige Nase geholt«, polterte Arminius los, »sein Haupt haben wir zur Abschreckung durch die Welt geschickt, genauso werden wir es mit deinem Prinzen machen, sag ihm das! Wie verblendet bist du eigentlich, dass du von Leistungen sprichst? Meinst du Untugend, Laster, Gefallsucht, Mode und Glanz? Du redest schon wie ein Römer von vermeintlichen Tugenden! Ist es denn eine Tugend, die ganze Welt zu erobern? Wie weit hast du dich schon von deinen Vätern entfernt! Erkennst du denn nicht deine hoffnungslose Situation, du bist nur Handlanger, bist wie Charivalda, verkaufst dich den Römern! Der Fluss, der uns hier trennt, reicht bis nach Asgard hinauf, du wirst vergeblich bei unseren Göttern…!« »Mir reichen Jupiter und mein Platz in der römischen Welt«, brüllte Flavus zurück, sichtlich in Wut geraten, »wir leben im Zentrum, nicht wie ihr in dunklen Wäldern mit dampfenden Misthaufen und Mief in euren Hütten, scheinbar hast du die
Unterschiede nie gesehen, du verschließt doch deine Augen, du Heuchler…!« Arminius hatte sich umgedreht, blieb jedoch stehen. Flavus am anderen Ufer war so erregt, kam ins Rutschen, wäre beinahe ins Wasser gefallen, stützte sich ab, richtete sich wieder auf und tönte über die gleichgültig plätschernde Weser: »Du würdest doch nur zu gerne Rom angreifen, wenn du es könntest, du träumst doch davon, die Welt zu erobern! Dass ich nicht lache! Dafür bist du einige Nummern zu klein! Komm doch, versucht doch mit deinen Kriegern! Du bist kein Hannibal! Die Legionen hinterrücks zu überfallen, ist keine Leistung, du bist der Verräter, der eigentliche Verräter, du hast das Vertrauen des Varus gebrochen, du hinterhältiger Hund, du…« Flavus geriet vor Erregung ins Husten und keuchte weitere Beschimpfungen hervor. Die Soldaten der Begleiteskorte liefen herbei, versuchten, den Centurio zu beruhigen, doch Flavus schickte sie ärgerlich weg und drohte über den Fluss und geiferte unflätige Verwünschungen über den ruhig ziehenden Strom. Auch Arminius’ Begleiter waren näher herangekommen, drohten zurück, und Ansgar verspottete das Aussehen des Flavus. Arminius stand starr wie eine Säule. Ansgar und Wolfhart blickten ihn abwartend an, Wolfhart wirkte, als erwarte er einen Befehl seines Herzogs, wie immer sagte er kein Wort. Drüben drohte Flavus noch immer, stieß wilde Flüche aus. Er war offenbar so erregt, dass die Legionäre ihn zurückhalten mussten, sicherlich wäre er in den Fluss gesprungen, hätte den Bruder angegriffen. Arminius gab endlich den Männern ein Zeichen. Langsam und schwerfällig ging er zurück, beherrschte sich mühsam,
wenn er auch äußerlich fast gelassen wirkte. Ansgar beobachtete ihn, er kannte ihn zu gut. Jedes Wort der Unterhaltung hatte er verstanden. Er wusste genau, wie es in ihm kochte. Flavus hatte ihn tief getroffen, mehr als er in seinem Zorn vielleicht ahnte. Die feindlichen Brüder, Germanien und Rom, keine Einigung war möglich. Die Erregung hatte sich allen Männern mitgeteilt. Alles schrie förmlich nach Kampf!
XV.
Schon im frühen Morgengrauen begannen die Römer, das Übersetzen ihrer Truppen planmäßig vorzubereiten. Was sie auf dem Rhein viele Male geübt hatten, würde ihnen auf der Weser keine Schwierigkeiten bereiten. Die Pionierabteilungen gingen an die Arbeit. Caecina war mit seinen Truppen rechtzeitig eingetroffen, hatte sogar noch Friesen und Chauken als Hilfstruppenkrieger eingestellt. Auch die Flotte war unversehrt zum Einsatzort gelangt. Alles Kriegsmaterial war vorhanden. Caecina, der Unverwüstliche, überwachte bereits wieder den Brückenschlag. Jedes Risiko wurde vermieden. Der Feldherr, umgeben von Charivalda, dem Anführer der Bataver, und seinen Hilfstruppen, überzeugte sich auch selbst von dem reibungslosen Aufbau der Pontonbrücke. Charivalda, lang und sehnig, mit struppigen Locken, kannte seine Aufgabe genau. Die Bataver standen abrufbereit. Auf einen Wink des Oberbefehlshabers würden sie als Erste mit ihren Pferden die Brücke überqueren und das Übersetzen der römischen Legionen sichern. Die Brücke wuchs planmäßig, von den Germanen war weit und breit, so weit man das andere Ufer einsehen konnte, keine Spur zu sehen. Unberührt schienen die hochbewachsenen Uferwiesen und die anschließenden Wälder. Die Bataver, die sich freiwillig gemeldet hatten, strotzten vor Tatendrang, als könnten sie es kaum erwarten, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen.
Die Brücke nahm schnell Gestalt an. Im Hintergrund erschallten Signale, die unübersehbaren Massen der Legionen rückten wohlgeordnet heran. Endlich! Die Bataver wurden ungeduldig, ihre Pferde kauten nervös auf den Trensen, als wüssten sie, worum es ging. »Nun macht schon!« »Typisch römisch!« »Pioniere waren noch nie die Schnellsten!« Die Bataver schauten auf Germanicus, dann auf ihren Herzog Charivalda. Na endlich, die Pioniere gaben den Steg frei. Germanicus gab das Zeichen. Die batavischen Reiter fassten ihre Pferde eng am Halfter, die Fußsoldaten schlossen sich ihnen an. Hier und da wurden noch ein Sattel zurechtgezurrt, ein Langschwert befestigt oder ein Helm zurechtgerückt. Charivalda zog als Erster sein sich sträubendes Pferd auf die Brücke, die nachfolgenden drängelten, als wollten sie dem römischen Feldherrn ihre Bundestreue beweisen, sich als besonders tapfere Hilfstruppenkrieger auszeichnen. Zielstrebig arbeitete sich Charivalda über den noch schwankenden Steg, sein Pferd folgte ihm vorsichtig, wieherte laut auf, als es einmal bedenklich schwappte. Die Pioniere beobachteten stillschweigend die Bataver und stützten mit langen Balken den letzten Teil der Brücke am anderen Ufer ab. Gelangweilt schauten sie dem Hilfskontingent hinterher und setzten dann unbeirrt ihre Arbeit fort. Schon hatte Charivalda das andere Ufer erreicht, winkte ungeduldig seinen Leuten, erklomm die Uferböschung und zog das Pferd nach sich, das sich mit kräftigen Sätzen hocharbeitete, und spähte nach dem Feind. Darauf hatte Arminius auf der Gegenseite nur gewartet. Als Kenner römischer Taktik konnte er ein grimmiges Lächeln nicht unterdrücken, die Bataver wurden vorgeschickt, um
reguläre römische Truppen zu schonen, wie oft hatte er selbst solche Aufträge ausgeführt und war noch stolz darauf gewesen. Das Gespräch mit Flavus ging ihm nicht aus dem Sinn. Was wusste der schon von römischer Gerechtigkeit! Rom, Rom, Rom, konnte man denn an nichts anderes mehr denken! Aus sicheren Verstecken in den Wäldern sahen die Cherusker die Bataver immer weiter in die Ebene vorrücken. Arminius hielt die ungeduldigsten Reiter zurück. Die Beute durften sich die verbündeten Stämme nicht entgehen lassen, der Feind musste geschwächt werden. Dann, als die Bataver nahe genug heran waren, gab Arminius das verabredete Zeichen – seine Krieger stürmten mit lautem Kriegsgeschrei aus den Wäldern hinter ihm und der Reiterei her, hielten sich, wie sie es gewohnt waren, in den Mähnen der Tiere und waren in Blitzesschnelle schon in Speerwurfnähe. Die Bataver waren nur einen Augenblick geschreckt, nahmen sofort ihre Formation ein, bildeten ein Karree, um sich nach allen Seiten verteidigen zu können. Charivalda spähte zur Weser zurück. Kamen die Römer nicht endlich? Wieder flogen die Framen, klirrten die Schwerter, stöhnten Verwundete, fielen Krieger der Bataver beim ersten Ansturm der Cherusker und ihrer Verbündeten. Pferde wieherten im Todeskampf, fielen röchelnd zur Seite. Arminius hatte befohlen, niemanden zu schonen, Gefangene waren unerwünscht. Die verbündeten Germanenstämme drängten die Bataver vor sich her, schnitten ihnen den Rückweg zur Weser ab. Die batavischen Reiter und Fußsoldaten, in einem immer enger werdenden Karree zusammengepfercht, verteidigten sich tapfer nach allen Seiten gegen die erdrückende Übermacht, doch es schien nur eine Frage der Zeit, wann sie völlig aufgerieben sein würden.
Die Bataverpferde bäumten sich auf im Geschosshagel von Arminius’ Leuten, immer mehr stürzten, Mensch oder Tier, von den gnadenlosen Framen der Angreifer durchbohrt. Charivalda, der seine Leute wie wild anfeuerte, nicht aufzugeben, ließ Hornsignale blasen, Zeichen für die Römer, dass ihre Hilfstruppen in Gefahr waren. Von der Weser kam keine Antwort. Bereits die Hälfte der Bataver war gefallen, doch Charivalda würde niemals aufgeben, die Römer mussten jeden Augenblick kommen. Wieder blies der batavische Hornist. »Helft uns, die Übermacht ist zu groß!« Immer noch keine Spur von den Römern, und die Cherusker und ihre Verbündeten wüteten weiter. Die letzten Bataver warfen sich todesmutig auf ihre Gegner, suchten ihr Heil im Angriff, töteten auch hier und da einen Angreifer, doch gleichzeitig fielen zehn von ihnen. Die Krieger, die ihre Pferde verloren hatten, wehrten sich verzweifelt, doch oft erwischte es sie schon, wenn sie sich unter dem stürzenden Tier hervorarbeiteten. Der Bataverherzog gab dem Hornisten wieder ein Zeichen, doch als dieser das Horn ansetzte, traf ihn eine Frame mitten durch den Hals. Der letzte Ton war ein schauriges Röcheln und ein metallenes Scheppern. Charivalda sprengte wieder vor, hatte Arminius erkannt, schleuderte seinen Speer auf ihn, der ihn jedoch weit verfehlte. Die Antwort waren mehrere Framen gleichzeitig, die das Pferd des Bataverherzogs trafen, das sofort mit den Vorderläufen einknickte und seinen Reiter unter sich begrub. Zwei, drei Germanen waren zur Stelle, die Charivalda, der noch sein Schwert hob, durchbohrten. Hörnersignale von der Weser her! Der Lituus∗, endlich. ∗
Signalinstrument der römischen Reiterei.
Die reguläre römische Reiterei, ohne besondere Eile kam sie heran, doch sie erzielte die beabsichtigte Wirkung, Arminius zog seine Truppen sofort zurück. Der traurige Rest der Bataver wurde vor der sicheren Vernichtung gerettet.
In römischen Heeresberichten würden die Bataver später kaum erwähnt werden. Hilfstruppen zählten nicht, sie waren nützliches Material, das nach Belieben ergänzt werden konnte. Viele Barbaren drängten sich geradezu danach, in das römische Heer aufgenommen zu werden. Die römischen Landser zuckten höchstens die Achseln, hodie tibi, cras mihi, heute dir, morgen mir, was macht das schon. Warum mussten sie sich auch so drängen, die Bataver!
Kostbare Zeit für die Vollendung des Brückenbaus war gewonnen worden. Sicher und fest war sie jetzt. Die römischen Legionen hatten keinen einzigen Mann verloren. Von den Pionierabteilungen war ganze Arbeit geleistet worden. Jetzt konnten die Truppen Einheit für Einheit den Fluss überqueren. Endlose Reihen von Legionären zogen an Land, immer neue Abteilungen, Kohorten, einzelne Manipel und Centurien, genau nach Plan. Eine unübersehbare, wogende Masse von Legionären, Reitern, Gepäcktieren, Geschützwagen – ein geordnetes Gewimmel. Die Reiterei beobachtete das Gelände. Unverständlich, dass Arminius nicht angriff, während die Römer übersetzten. Offenbar hatten sich die Germanen zurückgezogen, und alles blieb ruhig, so dass die Römer wie geplant ein festes Lager anlegen konnten.
XVI.
Wo war der Feind, wo waren die Germanen, die gefürchteten wilden Horden, die Rom das Zittern beigebracht hatten? In aller Ruhe hatten die Römer ihre Truppen übersetzen und ein sicheres Lager aufschlagen können. Warum griffen die Germanen nicht an? Das war gegen alle Regeln der Kriegskunst. Die Römer hatten durch verschiedene Maßnahmen ihren Rückmarsch bereits im Anmarsch systematisch gesichert. Die Reiterei war nach der ersten Feindberührung zurückgezogen worden. Das kleine Missgeschick der Bataver – fast schon vergessen. Warum mussten sie auch so ungeduldig sein, wer hatte sie gedrängt, so voreilig das andere Ufer zu betreten? Hatte nicht Charivalda sich selbst angeboten? Was mochte er sich erhofft haben vom Feldherrn der Römer? Erst waren sie dran, die römischen Veteranen, wenn es um Belohnungen ging. Nützliche Idioten wurden die Hilfstruppen in der rauen Lagersprache genannt, »Haltet die Feinde auf, bis wir kommen!«, rief man ihnen im Spott zu. Vorposten brachten einen Überläufer ins Lager, einen Cherusker, wie es schien. Völlig erschöpft und verwirrt war der Mann, außerdem blutete er stark aus einer Wunde am Bein. Die Legionäre brachten ihn zum Praetorium. Ein Dolmetscher wurde geholt, denn offenbar wollte der Mann etwas sagen, deutete in die Ferne zu den Germanen, dahin, wo sich seine eigenen Leute vermutlich aufhielten. Germanicus ließ ihn durch den Dolmetscher befragen. Nach und nach verständigte sich dieser mit dem Cherusker, hatte aber offenbar Schwierigkeiten, denn der Mann gurgelte und
schäumte, als habe er ein Rauschmittel genommen und sei nicht ganz bei Sinnen. Der Dolmetscher fragte wieder und wieder, der Mann verdrehte die Augen, deutete in die Ferne. Germanicus blickte den Übersetzer fragend an. »Arminius hat bereits einen Kampfplatz ausgesucht«, berichtete dieser, »eine Ebene, dicht am Fluss!« Die verbündeten Stämme seien in Donarheim zusammengekommen, und wahrscheinlich solle in der Nacht das Römerlager gestürmt werden. Germanicus lächelte, sollten sie nur kommen, die Germanen. Das Lager stürmen! Er lachte laut, befahl, den Überläufer in Ketten zu legen, und schickte Aufklärer los, die sich bis dicht an das Lager der Germanen heranarbeiten sollten. Germanicus trat vor das Praetorium. Sein Pferd wurde gerade gebracht, der schwarze, temperamentvolle Hengst, den der Bursche nur schwer halten konnte, als er die Stimme seines Herrn hörte. Der Feldherr streichelte dem Pferd die Nüstern, klopfte ihm den Hals, doch ganz gegen seine Gewohnheit befahl er dann dem Burschen, es wieder in den Stall zu bringen. Im Lager wurde noch emsig gearbeitet, der Ausbau vollzog sich genau nach Plan. Morgen würde es sich entscheiden, dachte Germanicus. Morgen! Was wohl die Legionäre von morgen erwarteten, was dachten sie von ihm, ihrem Feldherrn? Waren sie genauso zuversichtlich wie er? Vertrauten sie ihm? Was sprachen sie untereinander, wenn die Offiziere nicht in der Nähe waren? Germanicus ging zurück ins Feldherrnzelt und spielte in Gedanken versunken mit einem Fell, das auf seinem Lager lag. Wie war die Stimmung in der Truppe? Hatten alle begriffen, dass es diesmal ums Ganze ging? Mochten sie ihn, ihren Oberbefehlshaber? Er legte den Feldherrnpurpur ab, den kostbaren Panzer mit den reliefartigen Verzierungen, die exakt
angepassten Beinschienen, rief den Posten und verlangte die komplette Ausrüstung eines einfachen Legionärs. Der Posten stutzte. Einfacher Legionär? Germanicus wiederholte, ungeduldig, gereizt. Der Posten salutierte und verschwand. Nervös spielte Germanicus mit dem Fell, strich sich über die Haare und betrachtete sich in dem metallenen Handspiegel. Endlich! Der Prätorianer kam wieder mit einem total verdatterten Legionär, blass vor Erregung mit fragenden Augen. Was hatten die mit ihm vor? Germanicus erklärte es ihm. Der Legionär stotterte vor Verlegenheit. Noch nie hatte er den Oberbefehlshaber so nah gesehen. Ahnungslos hatte er das Zelt seines Centurios aufgebaut, da war dieser Prätorianer gekommen. Er zum Feldherrn! Wieder blickte er ungläubig auf Germanicus und nestelte an seinem Panzer. Der nahm ihm die Sachen ab, zog die einfache Tunika an, legte den klappernden und quietschenden Schienenpanzer an, ließ sich von dem Soldaten die Scharniere auf der Schulter und die Riemen im Rücken schließen und stülpte den schmucklosen Helm über. Befriedigt stellte er fest, dass er passte. Lächelnd nahm er die groben caligae, die einfachen Soldatenschuhe mit den Beschlagnägeln, entgegen und verschnürte die Lederschlaufen um seine schlanken Waden. Dann nahm er das Schwert mit Gehänge – fertig! Der Legionär, seiner Kleidung beraubt, unsicher, fast ein wenig ängstlich, musste im Nebenraum des Zeltes warten, durfte sich nicht von der Stelle rühren. Der Feldherr schaute an sich runter. Selbst jetzt noch in der Verkleidung sorgte er sich um sein Äußeres, ordnete die Locken, die unter dem Helm hervorkamen, nahm den Helm wieder ab, bedeckte die abstehenden Ohren. Würde ihn jemand erkennen? Was dachten
die Soldaten von ihm? War er bei ihnen beliebt? Die hundertmal gestellte und auch vielfach positiv beantwortete Frage ließ prickelnde Spannung in ihm aufkommen. Wie oft hatte er sich schon gewünscht, seine Leute zu belauschen, wenn sie über ihn sprachen! Er war verantwortlich für seine Legionäre wie ein Familienvater für seine Kinder; er und sie waren aufeinander angewiesen. Nur mit ihnen zusammen konnte er seine ehrgeizigen Ziele erreichen. Alles hing davon ab, wie sie miteinander auskamen, wie sie morgen funktionierten. Seine Soldaten mussten für ihn durchs Feuer gehen, das war es, was er sich wünschte. Insgeheim hatte er seinen Onkel und Adoptivvater Tiberius immer bewundert. Der war so ein Raubein, der schlief bei seinen Soldaten auf der Erde, wenn es sein musste, trank mit ihnen und hatte doch immer den Abstand, den ein Feldherr haben musste. Vergöttert hatte er ihn, seit er als Kind gesehen hatte, wie Tiberius mit einem Finger einen frischen Apfel durchbohrt und einen ungehorsamen Legionär durch bloßes Fingerschnippen verletzt hatte. Schnips, und der Mann hatte eine blutende Kopfwunde gehabt! Fertig! Ein letzter Blick in den Spiegel. Niemand würde ihn erkennen! Er verließ das Feldherrnzelt durch den hinteren Ausgang und gelangte unbemerkt in die Lagerstraßen. Ein Centurio erblickte ihn: »Heh, du da!« Germanicus drehte sich um, stand stramm. »Welche Einheit?« Er nannte die erste beste Kohorte, die ihm einfiel. »Marsch, ab!«, befahl der Centurio und entfernte sich selbst. Germanicus grüßte lächelnd und schlenderte weiter. Die Verkleidung war perfekt.
Langsam ging er an den Zelten der einfachen Legionäre vorbei; einige fluchten und stritten sich um die besten Plätze im Zelt. Er ging weiter. In einer Gruppe sprachen sie offenbar von der bevorstehenden Schlacht. Germanicus spürte die Erregung der Soldaten. »Wir werden es schaffen!«, sagte einer. »Ich vertraue unserem Feldherrn!«, fügte ein Zweiter hinzu. Ein anderer geriet ins Schwärmen, rühmte die Tapferkeit, die Leutseligkeit, sogar das Aussehen ihres Feldherrn. Germanicus genoss die Brocken, die er aufschnappte. Er tat so, als wolle er die Legionäre etwas fragen, doch sie nahmen keine Notiz von ihm, sondern plauderten weiter. Einer verglich Germanicus mit Arminius, während er die Zeltpflöcke eintrieb, Arminius schnitt dabei sehr schlecht ab: »Dieser Arminius ist ein Barbar, ein Ungebildeter, ein Meuchelmörder«, sagte der Legionär, während er auf den Pflock schlug. Der Feldherr schmunzelte und ging weiter zu den Geschützwagen, wo die Geschütze gefechtsbereit gemacht wurden. Die Soldaten überprüften die Katapulte zum Abschießen von Pfeilen und die Wurfmaschinen zum Schleudern von Steinen, ordneten die dazugehörigen Bolzengeschosse und orangenähnlichen Steinkugeln, kontrollierten die Spannvorrichtungen der gedrehten Sehnen, und Germanicus gefiel die Sorgfalt, mit der sie hantierten. Er hatte die Artillerie besonders gut ausbilden lassen und hoffte, die Geschütze in offener Feldschlacht einsetzen zu können. Als einfacher Legionär mischte er sich unter die Soldaten, doch er fiel überhaupt nicht auf, sie waren viel zu beschäftigt, sprachen ausschließlich von der Schlagkraft der Maschinen und waren voller Eifer bei der Sache. Einer herrschte ihn an, nicht rumzustehen, sondern mit anzufassen. Der
Oberbefehlshaber in Verkleidung tat gelangweilt und ging weiter zum Lagerwall. Plötzlich sah er mehrere Legionäre zusammenlaufen, denen er sich spontan anschloss. »Unverschämtheit!«, sagte jemand zu ihm, »hör dir das an!« Sie hörten die Stimme eines Germanen, der offensichtlich nahe an den Wall herangeritten war. Sein gebrochenes Latein war deutlich zu hören: »Jeder Überläufer erhält eine Frau, Land und Geld – ergebt euch, ihr habt keine Chance…!« Die Stimme entfernte sich, doch sie war noch gut zu hören. »Jeder Überläufer, hundert Sesterzien täglich – keine Chance – denkt an Varus –, ergebt euch…!« Sie konnten den Reiter nicht sehen, aber Germanicus bemerkte mit Genugtuung, dass die Bogenschützen bereits auf ihn zielten. Alle Legionäre, die den Ruf gehört hatten, waren entrüstet, riefen und schrien durcheinander: »Wart’s nur ab!« »Warte bis morgen!« »Die Schlacht wird’s schon zeigen!« »Keine Chance – lächerlich!« »Frauen und Äcker nehmen wir uns schon selbst!« »Du Hundsfott!« »Komm, wir machen Mus aus dir!« »Du wärst gut für die Truppenverpflegung!« »Wir werden euch schon einheizen, ihr Barbaren!« Schimpfend gingen sie wieder an ihre Arbeit, denn die Centurionen trieben sie wieder auseinander. Germanicus entfernte sich unbemerkt. Er freute sich über die Kampfmoral seiner Legionäre und war zufrieden mit dem, was er gehört hatte. Eilig ging er zurück und gelangte wieder in das Feldherrnzelt, vergewisserte sich, dass der Legionär noch da saß, und ließ ihn
den eigenen Panzer öffnen. Der Legionär begriff immer noch nicht so recht, sein Oberbefehlshaber in seiner Rüstung, das würde ihm in den Lagerschenken keiner glauben. Der Feldherr drückte ihm ein Geldstück in die Hand und entließ ihn. Er zog die eigene Tunika wieder an, ordnete die Haare, überlegte. Alles war wohlgeordnet. Starke Nerven würde er brauchen. Die Übersicht musste er behalten, das war alles, tüchtige Unterfeldherren und Offiziere hatte er. Tiberius pflegte sich vor einer Schlacht auch immer hinzulegen, fiel ihm ein, als er bereits auf dem Lager lag. Auf seine Nerven war Verlass, darin stand er dem Onkel in nichts nach, beim ersten Signal würde er wach sein, voll einsatzbereit. Er war sich seiner Sache sehr sicher. Ganz im Bewusstsein, dass sein Handeln rechtmäßig war, dass er einen bellum iustum et pium, einen gerechten und frommen Krieg führte, plante er bereits die Zukunft der Provinz Germania. Die Provinz, dieses ganze Land, würde ihm gehören. Tiberius, der Kaiser, war unbeliebt, man würde sehen. Jeder in Rom musste nach dieser Schlacht, über deren Ausgang es keinen Zweifel gab, seine Leistungen anerkennen. Schließlich tat er alles nur für Volk und Vaterland. Er, Gaius Julius Caesar Germanicus, Sohn des Kaisers! Welches Amt konnten sie ihm nach der völligen Eroberung des riesigen Landes noch verwehren? Nicht, dass ihm Varus besonders sympathisch gewesen war, aber hier galt es, eine nationale Schande wieder wettzumachen und Arminius, den Volksfeind, zu vernichten. Sein Stern würde sie alle überstrahlen, selbst den seines Vorfahren Caesar noch, dessen Eroberung, Gallien, neben einem Germanien vom Rhein bis zur Elbe und weiter klein und erbärmlich wirken würde. Zuversicht lag auf seinem Gesicht, als er endlich in einen leichten Schlummer fiel.
Im Traum sah er sich beim Opfer, sah deutlich jede Einzelheit. Sein Gewand war vom Blut des Opfertieres befleckt. Das gütig lächelnde Gesicht seiner Großmutter Livia Augusta erschien ihm. Die Großmutter bewegte die Lippen, so als spräche sie zu ihm. Aber Germanicus konnte nicht verstehen, was sie sagte. Doch die Großmutter reichte ihm ein neues, viel schöneres Gewand, und er legte es dankbar an. Schnell, viel zu schnell war der Traum wieder weg. Er lächelte noch, als er aufwachte, sprang erfrischt vom Lager, rief die Wachposten und befahl die Einberufung der Heeresversammlung. Sein persönlicher Diener eilte herbei und half ihm beim Anlegen des Brustpanzers und der Beinschienen, brachte den prachtvollen Helm und den Purpurmantel und prüfte die stattliche Erscheinung des Feldherrn. Germanicus konnte an seinem Gesicht sehen, dass er zufrieden war. Auch er selbst war mit sich zufrieden. Draußen im Lager hörte man die Befehle der Offiziere und spürte die allgemeine Bewegung beim Antreten der Truppen. Caecina, Lucius Apronius, Gaius Silius und andere hohe Offiziere waren als Erste beim Praetorium, es folgten eine stattliche Zahl von Militärtribunen und alle Adlerträger der Legionen, bereit zur Ansprache des Feldherrn. Germanicus grüßte sie strahlend und stellte befriedigt fest, dass die Legionen bereits in Reih und Glied standen, in Erwartung ihres Oberbefehlshabers. Die Legaten nahmen ihren Feldherrn in die Mitte. Voller Stolz schauten sie auf die unzählbar scheinende Menge der Legionäre, auf ein buntes, farbenfrohes Bild fast gleichartiger Wesen. Hoch aufgerichtet, ganz Feldherr, nahm Germanicus von Caecina die formelle Meldung entgegen, dass alle Legionen
zur Ansprache des Feldherrn angetreten seien. Germanicus dankte, betrat das Tribunal, hob die Hand zum Gruß und begann seine Ansprache an die Truppen voller Schwung mit dem Ausruf: »Lang lebe Rom!« Aus vielen tausend Kehlen wurde der Ruf wiederholt, und spontanes Hurrageschrei ertönte. Laut und vernehmlich erschallte die Stimme des Feldherrn, die in regelmäßigen Abständen auf beiden Seiten des Lagers von Ausrufern verstärkt wurde: »Diese Schlacht wird ein Ende bringen! Ein Ende der Kämpfe zwischen Römern und den Barbaren! Rom wird siegen!« Die Legionäre, durch die Centurionen angefeuert, jubelten ihrem Feldherrn zu. Germanicus hob die Hand, brachte die Masse zum Schweigen: »Der römische Legionär wird beweisen, – dass er nicht nur in Ebenen kämpfen kann, – sondern auch in den germanischen Wäldern, – gerade dort, – denn die Barbaren – können ihre langen Speere – dort nicht einsetzen. – Wir aber – haben kurze Wurfspieße, – haben unsere erprobten Schwerter, – haben Rüstungen, – all das haben die Germanen nicht!« Er wurde wieder von Beifall und Hoch-Rufen unterbrochen. »Wir werden immer – auf das Herz zielen, – auf das Herz der Barbaren, – sie Stoß um Stoß vernichten, –
jeder von euch – zum Lob und Ruhme – des römischen Volkes!« Den Rest unterstrich er mit einer kraftvollen Geste und rief in den Beifallssturm: »Die Barbaren haben nicht einmal Panzer, – haben keine Helme, – nicht einmal ordentliche Schilde, – nur dünnes Weidengeflecht. – Wir sind ihnen überlegen, – jeder von euch!« Die Legionäre johlten, der Feldherr kam mehr und mehr in Fahrt: »Nicht mal alle haben Lanzen mit Eisenspitzen, – viele haben nur Holzspeere! – Auch wenn sie euch groß erscheinen, – die Barbaren, – lasst euch nicht täuschen! – Sie sind empfindlich gegen kleinste Verwundungen. – Habt ihr einen getroffen, – läuft er weg…!« Lautes Lachen aus vielen tausend Kehlen. »… sie laufen weg! – Ohne Gefühl für Schande, – ziehen noch andere – aus ihrer Sippschaft mit sich!« Der Oberbefehlshaber legte eine rhetorische Pause ein, um dann verhaltener zu rufen: »Wenn ihr die Märsche – und die Seefahrten satthabt: – Ihr könnt allem – ein Ende setzen! – Jeder Legionär hat seine Chance! –
Die Elbe ist näher als der Rhein, – es gibt kein Zurück, – aber mit Sicherheit auch keinen Krieg mehr!« Er steigerte sich wieder, schrie, dass es durch das riesige Lager hallte: »Diese Schlacht ist das Ende, – das absolute Ende, – die letzte Schlacht, – die wir gegen germanische Verräter führen! – Ich erwarte von jedem, – dass er für den Senat und das römische Volk – sein Bestes gibt! – Rönnische Bürger seid ihr! – Quinten, keine Barbaren!« Ungeheurer Jubel brach los; Hurra-Geschrei kam als Echo zurück. Hoch-Rufe auf Germanicus, ihren Feldherrn. Die Legionäre stimmten ein Siegesgeschrei an und wären sofort auf den Feind losgestürmt, wenn man sie gelassen hätte. Einstimmung. Agitation und Propaganda. Das bevorstehende Ende der Kämpfe und der Strapazen machte den Soldaten neuen Mut. Der Feldherr hatte ihnen sein Wort gegeben! Diesem gottgleichen Prinzen konnten sie nicht widerstehen, Sohn und Enkel eines Kaisers, von dessen Ruhm sie alle zehren würden. Kampf, Kampf, Kampf! Die Stimmung im Heer war leicht einzuschätzen. Germanicus war sehr mit sich zufrieden. Er erwiderte den militärischen Gruß seiner Offiziere, gab letzte Instruktionen und verschwand im Feldherrnzelt.
Gut gemacht, Germanicus! Nur immer den Leuten einreden, was sie glauben wollen sollen. Der Soldat vertraut schließlich seinen Führern. Es ist altes, ehrwürdiges Ausbildungsprinzip, dem Soldaten klarzumachen, dass der Kopf nicht zum Denken da ist, sondern für den Helm. Wie soll einer allein auch aus seiner Froschperspektive die Situation einschätzen können? Wozu sind die Führer da? Also die Barbaren, oder wer auch immer, die sind gar nicht so groß und riesig und stark, wie sie aussehen, leicht verwundbar und auch noch feige sind sie, also los, stellt euch nicht so an. Später, viel später hieß es, das sind gar keine Panzer, nur Attrappen, Kavallerie marsch, mit gezücktem Säbel. Der Glaube kann Berge versetzen! Aber lassen wir die Beispiele ruhig durch die Geschichte hinken, wer lernt schon aus ihr; erzählen wir weiter, cum ira et studio, mit Zorn, mit Eifer.
XVII.
Cum ira et studio∗. Zorn? Eifer? Auf welcher Seite stehe ich? Ich rechne Arminius nicht zu meinen Vorfahren, habe »welsches« Blut in den Adern und bin auch noch stolz auf den Vorfahr, der sich von den Truppen des größten kleinen französischen Eroberers absetzte und in einem kleinen westfälischen Dorf hängen blieb. Deserteur! Zur Belohnung eine dralle Bauernmagd. Aufwelschung. Ego te absolvo∗∗, Vorfahr! Aber zurück zu den Germanen. Waren sie eigentlich besser als die Römer? War es ein aus der Sicht der Germanen notwendiger Abwehrkampf? Oder stand nur römischer Ehrgeiz gegen cheruskischen Ehrgeiz eines Einzelnen, personifiziert in Germanicus und Arminius? Große Männer »machen« Geschichte! Stimmt das wirklich? Wer schreibt die Geschichte der Bauern und Krieger, der Mitläufer, der Unentschlossenen? Wer klärt die Masse auf, wer hat den Mut, gegen den Strom zu schwimmen? Wer überprüft die Denkmäler? Wer hat schon das Recht, als Götze dazustehen! Verdient er das wirklich? Wenn ja, na schön. Denk mal!
∗
Mit Zorn und Eifer, d. h. Parteilichkeit, Abwandlung des taciteischen »sine ira et studio« – ohne Zorn u. Eifer. ∗∗ Lossprechungsformel in der kath. Beichte: Ich spreche dich los, frei von…
Arminius hatte mit der Tatkraft eines Besessenen den gewaltigen Heerbann straff organisiert, hatte das Heer in Hundertschaften zusammengefasst, hatte verhindert, dass die Römer schon beim Übersetzen angegriffen wurden, weil dieser Vorschlag mal wieder von Inguiomer stammte. Er hatte endlich den alleinigen Oberbefehl für sich energisch beansprucht und diese Forderung auch seinem Onkel gegenüber durchgesetzt, der sich schließlich fügen musste. Er schärfte den Germanenfürsten ein, auf strikte Einhaltung der Befehle zu achten, und schilderte am Beispiel der Bataver, wie richtig seine Strategie gewesen sei. Das Idistavisofeld∗, eine Ebene längs der Weser, war von ihm als Schlachtplatz bestimmt worden, weil er die Hauptmacht in den angrenzenden Wäldern zurückhalten wollte und sich Vorteile gegenüber den Römern ausrechnete. Die Römer sollten mit ihrer eigenen Kampfweise geschlagen werden, allen war klar, dass es diesmal nicht um Überrumpelung ging, sondern um offene, reguläre Feldschlacht. Es musste sich jetzt zeigen, ob sich der jahrelange Drill bewährt hatte, ob es sich auszahlte, dass jeder Hundertschaft ein ehemaliger Hilfstruppenkrieger der Römer beigegeben worden war, der sich in römischer Taktik auskannte. Inguiomer, mit brummigem Gesicht, und Adgandester meldeten die Aufstellung aller Verbände. Arminius hatte sie, wie er es bei den Römern gelernt hatte, zu seinen Unterfeldherren gemacht. Alles war bereit zur entscheidenden Schlacht. Arminius ritt spontan auf eine leichte Anhöhe zu, um einen besseren Überblick über die vielen tausend Germanenkrieger zu bekommen, die unter seinem Kommando standen. Er sog das Bild förmlich in sich auf, bemerkte mit Zufriedenheit die ∗
Idistaviso, eigentlich Elfenwiese (nach Jakob Grimm), Ebene östlich der Weser, vielleicht bei Minden.
fast perfekt römische Aufstellung und sah viele tausend Lanzen blitzen. Wilde und entschlossene Gesichter in den vordersten Reihen, starke und kräftige Gestalten mit nacktem Oberkörper, Reiter auf kleinen, zottigen Pferden. Nicht ganz so wohlgeordnet wie ein römisches Heer trotz aller Versuche, aber immerhin zu ordentlichen Kampfeinheiten zusammengefasst. Die Cherusker in den ersten Reihen hatten ihn erkannt und blickten erwartungsvoll. Arminius erhob sich leicht im Sattel, reckte den rechten Arm mit dem Speer und rief: »Nieder mit Rom!« Die Germanen, kaum an Ansprachen gewöhnt, eher an allgemeines Palaver bei ihren Thingveranstaltungen, starrten ihn an; die Hinteren begriffen nicht einmal, dass ihr Anführer zu ihnen sprechen wollte. Warum auch, für sie war der Feind da, alle wussten, worum es ging. Wozu brauchte man da Worte? Wolfhart und Ansgar ritten näher an die Hundertschaften heran, um die Worte des Herzogs zu verstärken. Ansgar bemerkte lächelnd etwas von »Kopie der Römer«, aber Wolf hart hatte wie immer keine Ohren für ihn. Für ihn galt nur das, was Arminius sagte. Arminius schleuderte den Speer in den Boden und legte die Hände trichterförmig an den Mund: »Nieder mit Rom!« Begeistertes Waffengerassel war die Antwort. Er ritt noch näher an die Krieger heran, ein Cherusker aus der ersten Reihe hielt sein Pferd. Hoch erhob er sich im Sattel und brüllte aus Leibeskräften: »Diese Schlacht bringt die Entscheidung! Knechtschaft oder Freiheit! – Das ist doch nur zweite Wahl, – was die Römer uns geschickt haben, – die Feiglinge aus der Varusschlacht!« –
Varus, Varus, den Namen hatten alle verstanden, sie klapperten wieder begeistert mit den Waffen. Arminius rief: »Jetzt kommen sie übers Meer, – weil sie Angst haben, – hier hilft ihnen kein Schiff, – kein Wind, – kämpfen müssen sie, – die römischen Feiglinge!« Arminius, der bei den Römern seine rhetorische Ausbildung erhalten hatte, spürte die begrenzten Möglichkeiten des cheruskischen Dialektes. Ob ihn alle verstanden? Doch die Krieger johlten bereits, brüllten in ihre Schilde. »Denkt an ihre Habsucht, – an ihre Grausamkeit, – an die Schwächlichkeit – dieser römischen Zwerge!« Er zeigte zur Belustigung der Germanen, wie klein die Römer waren. »Wollt ihr euch von denen – versklaven lassen?« Er hob sich wieder im Sattel: »An uns beißen sie sich die Zähne aus, – Augustus, Tiberius oder Varus…!« Wieder Begeisterung bei den Kriegern, Waffengeklirr. Varus, Varus, Varus, der Name zog, machte die vermeintliche Überlegenheit der Germanen über die Römer klar. Arminius schrie wieder: »Und wen schickt man uns jetzt? – Einen bartlosen Jüngling, – einen Jüngling namens Germanicus, – unerfahren, jung, – kaum der Mutterbrust entwöhnt!«
Gelächter der Krieger unterbrach ihn. Die Halsadern des Cheruskerherzogs schwollen bedrohlich an. »Wir werden doch vor diesem Jüngling – nicht weichen! – Niemals, niemals, niemals, – wir werden sie vernichten – zur Ehre Wodans, – sie alle, alle, alle, – keiner darf übrigbleiben, – denkt an Varus! – Nieder mit Rom! – Nieder mit Rom!« Mit heftigen Gesten unterstrich er die letzten Sätze, sein Pferd wurde unruhig, der Cherusker hatte Mühe, es zu halten, immer wieder wieherte es vor Schreck laut. Die Germanen nahmen das als Unterstützung für ihren Herzog auf. Begeisterung und Zustimmung hatten jetzt alle, auch die hintersten Reihen erfasst, sie hatten begriffen, was ihnen ihr Herzog hatte sagen wollen. Sie waren sicher, dass sie mit den Römern leichtes Spiel haben würden. Immer wieder schlugen sie ihre Waffen aneinander, brüllten und johlten, und fast hätten sie ihre mühsam eingedrillte Aufstellung durcheinandergebracht. Sie waren doch schließlich die Sieger, hatten sie nicht Varus und seine drei Legionen vernichtend geschlagen? Muskeln und Schwielen, gewaltige Kraft, viele tausend Kraftnaturen auf einem Haufen. Mit bloßem Oberkörper, mit Frame und Schwert, zu Pferd oder zu Fuß, keiner würde weichen.
Schließlich waren die Römer die Eindringlinge, waren in ihr Gebiet gekommen, hatten ihren Frieden gestört, ihre Götter verletzt. Wodan würde sie strafen, sollten sie nur kommen, die Römer!
XVIII.
Das römische Heer zog heran, unübersehbar, riesig. An der Spitze ritten gallische und germanische Reiter. Schon lange waren keine Römer mehr in der Reiterei, wozu hatte man die Hilfsvölker? Hinter den Reitern marschierten die Bogenschützen, wohlgeordnet, die im Nu einsatzfähig waren und deren Pfeile eine große Reichweite hatten. Doch dann kamen sie, die monolithischen Blöcke, geschlossen, gut formiert, wie aus einem Guss – vier Legionen in Reih und Glied, die allein schon die gesamte Ebene auszufüllen schienen, so breit marschierten sie auf. Gleich danach, von Elite-Kohorten der Prätorianer umgeben, der Feldherr selbst, dazu besonders ausgesuchte und schwer bewaffnete Reiter. Wer von den Germanen glaubte, diese riesige Menge sei schon alles gewesen, irrte sich. Noch einmal vier Legionen marschierten in gleicher Breite auf, formierten sich zu schachbrettartigen dreifachen Schlachtreihen, hastati, ∗ ∗∗ principes , triarii , hintereinander, dazu noch velites∗, ∗
Hastati und Principes, Soldaten im besten Mannesalter, trugen zur vollen Rüstung ein Schwert und zwei lange Wurfspieße (pila), einen schweren und einen leichten. Die Hastaten standen in der vordersten Linie, die Principes in der zweiten. ∗∗ Triarii, ausgewählte, altgediente Soldaten, Kerntruppe des Heeres, trugen denselben Panzer wie Hastaten und Principes, aber statt Wurfspießen einen langen Speer. Sie standen im dritten Glied und wurden nur in Notfällen in vorderen Linien eingesetzt. ∗ Veles, Mehrzahl velites, leichtbewaffnete Soldaten, ihre Rüstung bestand
Leichtbewaffnete, reitende Schützen und die restlichen Kohorten der Bundesgenossen. Waffengeglitzer in der gesamten Ebene! Wurfspeere, Helme und Panzer glänzten in der Sonne. Mann für Mann, Schild an Schild, Reihe für Reihe rückten die Römer vor, gut organisiert, übersichtlich gegliedert, gepanzert und gut ausgerüstet, einige mit Tierköpfen über dem Helm, um dem Feind Angst und Schrecken einzujagen. Der einzelne Legionär brauchte keine Angst zu haben, er war gesichert durch den Verband, durch die Kohorte oder durch die gesamte Legion. Die breite, wogende Masse des Heeres bewegte sich mit tödlicher Ruhe, insgesamt war es das größte Heer∗, das jemals in Germanien gegen die Barbaren gekämpft hatte. Der Plan lief. Ein buntes, ein farbenprächtiges, doch ein unheilvolles und todbringendes Bild. Die Feinde kamen in Sicht. Die Germanen. Die Legionäre blieben ruhig. Krieg wurde hingenommen wie ein naturgegebenes Ereignis. Wodan und Jupiter hatten es so gewollt. Die Sieger wurden belohnt, die Unterlegenen bestraft. Schon stürmten die berittenen Germanen vor, und auch in die Legionen kam Bewegung. Teile der römischen Reiterei schwenkten aus und versuchten, die Flanken der Germanen zu erreichen. Stertinius erhielt den Befehl, mit den restlichen Reitergeschwadern in den Rücken der Germanen vorzudringen. Bewegung, Auflockerung, Offensive. Germanicus hatte den Überblick. aus Helm und Schild, ihre Angriffswaffen waren das Schwert und leichte Wurfspieße. ∗ Schätzungsweise 40000 Mann (bei einer Legionsstärke von 3600-6000 Mann).
Die kleine Erhöhung, die er sich mit seinen Prätorianerkohorten ausgesucht hatte, war ideal als Feldherrnhügel. Ganze Schlachtpläne hatte er im Kopf, dieser Feldherr hatte auch von Roms Feinden gelernt und tatsächlich, er beherrschte sein Fach. Hannibals berühmte Taktik bei Cannae stand ihm vor Augen, mit der er die Flügel der Römer attackiert und mit der Kavallerie die Einkreisung vollendet hatte. Germanicus reckte sich im Sattel. Römisches Fußvolk stieß auf die ersten Krieger der Germanen. Da! Ein Signal von den Germanen. Die Hauptmacht war noch in den nahen Wäldern versteckt gewesen und stürzte jetzt in die Ebene. »Zu früh, überstürzt, wirkungslos!«, kommentierten die Taktiker um Germanicus. Die germanischen Krieger brüllten in die Innenseite ihrer Schilde und machten einen Höllenlärm. Dazwischen drängten Reiter ohne Sättel und Steigbügel nach vorn, die Krieger zu Fuß an den Mähnen ihrer Pferde mitschleppten. Nur vorwärts, vorwärts, vorwärts. Rohe Kraft, rauer Mut, doch wenig Planung. Arminius selbst war von den Römern bereits ausgemacht worden. Er ritt einen Fuchs und versuchte, bei den Bogenschützen durchzubrechen. Germanicus hatte befohlen, ihm laufend über Standort und Aktionen des Germanenführers Meldung zu machen, eine hohe Belohnung erwartete den, dem es gelang, den Cheruskerherzog zu fangen. Die Sensation war nicht auszudenken, Arminius als Schauobjekt seines Triumphzuges in Rom! Ein Bote kam geritten und meldete, dass Arminius von einem Pfeil am Oberschenkel getroffen war. Der Feldherr dankte. Die Schlachtreihen der Römer standen wie ein Fels. Wie eine vielarmige Maschine schlugen die Legionäre zu, hoben den
Schild, parierten, drangen vor, stachen zu. Sie ließen den Germanen keinen Spielraum mehr, nachdem sie den ersten Ansturm fast mühelos abgefangen hatten. Die tödliche Maschine drang unaufhaltsam weiter vor, wenn Teile von ihr liegen blieben, wurden sie mühelos, fast automatisch ergänzt, ein regenerationsfähiges Ungeheuer. Der Feldherr beobachtete die kritischen Punkte der Schlacht, er ließ sich von dem Lärm und Krach, von Lanzengeschwirr und Todesgeschrei nicht ablenken. Immer wieder beorderte er Treffen dorthin, wo es gerade erforderlich war, ohne die Ordnung der Legionen durcheinander zu bringen. Arminius massierte seine Truppen, versuchte mit Gewalt durchzubrechen, achtete nicht auf seine Wunde, probierte, einen Keil in die Legionen zu schlagen, sie zu trennen und abzudrängen. Nichts davon entging dem römischen Feldherrn, der mit schmallippigem, verkniffenem Mund fast starr auf seinem Pferd saß. Die Befehle, die er ausspuckte, dirigierten die Einheiten. Ein hervorragender Feldherr, das mussten auch seine Neider anerkennen, die ihn für zu jung hielten, umsichtig und geschickt ging er vor, setzte seine Strategie flexibel durch und ließ sich keinen Vorteil entgehen. Die römischen Offiziere wussten, dass er sich notfalls ohne zu zögern mit seinen Kohorten in das dichteste Kampfgetümmel werfen würde, persönliche Feigheit, die man Augustus vorgeworfen hatte, konnte ihm niemand nachsagen. Doch wichtiger war der Überblick, die Leitung. Signale und Feldzeichen zeigten ihm jede Verschiebung an. Die Ebene war fast ganz zu übersehen, ein ideales Schlachtfeld hatte ihnen ihr Gegner ausgesucht.
Die römischen Legionäre kämpften wie die Löwen. Ihr Feldherr hatte ihnen das Ende der Kämpfe versprochen, und nichts ersehnten sie mehr als das, war doch das Leben in den Garnisonen am Rhein viel gemütlicher als die Kämpfe im rauen Norden. Keinen Fußbreit gaben sie den Germanen nach, gingen planmäßig den Feind an, unterstützt von der Artillerie, von den Geschützen, die Pfeile und Steine auf die Barbaren schleuderten und heillose Verwirrung anrichteten. Die Zeichen Roms standen gut an diesem Tag. Der Platz von Toten und Verwundeten wurde sofort von hinten aufgefüllt, die Centurionen sorgten streng für die Einhaltung aller Befehle, die mit den Hörnern geblasen und von den Feldzeichenträgern angezeigt wurden: Angreifen, Zurückziehen, Ausschwenken. Rückzug hieß immer nur taktischer Rückzug, bereitete neue Manöver vor. Die Zeichen standen schlecht für die Germanen an diesem Tag. Zu groß war das Feldherrngeschick des Germanicus, zu erdrückend die funktionierende Masse des römischen Heeres. Arminius und Inguiomer brachen bei den Hilfstruppen durch, hatten es doch geschafft. Arminius hatte offenbar sein Pferd gewechselt, denn er ritt jetzt einen Schimmelhengst. Sein Gesicht hatte er mit Blut beschmiert, um nicht erkannt zu werden, denn auch er wusste, dass der römische Feldherr eine hohe Belohnung auf seinen Kopf ausgesetzt hatte. Die beiden Cheruskerführer kämpften sich mit den tapfersten Kriegern weiter vor, schlugen eine Bresche und drängten einige Kohorten ab. Doch diese reagierten wie gelenkige Arme einer Maschine, schwenkten aus, nahmen dem Vorstoß die Wucht, machten dabei Platz für den Einsatz der Katapulte, dessen Auswirkungen die Germanen jetzt mit voller Wucht zu spüren bekamen. Ein Hagel von Geschossen traf sie und ihre Pferde, reihenweise brachen sie unter Pfeilen und Steinen zusammen,
und die anderen mussten notgedrungen weichen, ohne dass Arminius ein Zeichen gegeben hätte. Immer neue Kohorten stürmten zu der bedrohten Stelle, und schnell war die Gefahr abgewehrt. Arminius versuchte unbeherrscht, das Letzte aus seinen Leuten herauszuholen, er schimpfte und fluchte, schlug sein Pferd, blickte wütend zu Ansgar herüber, der seiner Meinung nach nicht mit vollem Einsatz kämpfte. Sie waren doch hoffnungslos unterlegen. Hätte man die Schlacht nicht sofort beenden müssen, wenn sie sich nicht zu einer empfindlichen Niederlage auswachsen sollte? Kein Gedanke daran. Hier stand Ruhm auf dem Spiel, Arminius, der Römerbezwinger, konnte nicht einfach vom Schlachtfeld weichen! Er hatte seinen Ruf zu verteidigen! Er feuerte seine Krieger an, die ihre Framen schleuderten und mit den Langschwertern gegen die geschlossen kämpfenden Legionäre wüteten. Geduckt fingen die Römer geschickt die Framen ab, rückten in Reihen gegen Einzelkämpfer vor, ließen sich nicht auseinanderreißen, achteten sorgfältig auf ihre Deckung, mit der sie rohe Kraft und wilden Ansturm zunichte machten. Die Schachbrettaufstellung erwies sich als günstig, immer wieder rückten neue, frische Verbände vor, brachen die Angriffswut der Germanen. Arminius kämpfte wie ein Löwe. Mitten im Kampfrausch schien es ihm sekundenlang so, als trügen alle Legionäre das Gesicht des Varus und grinsten ihn höhnisch an. Sein Traum fiel ihm wieder ein, und er konnte sich nur gewaltsam davon freimachen. Sein blutbeschmiertes Gesicht war verzerrt. Wieder versuchte er, eine Bresche in die Reihen der Römer zu schlagen, und Inguiomer und Ansgar waren direkt hinter ihm. Tatsächlich gelang auch der Durchbruch, und hinter Arminius sprengte Inguiomer in die Lücke, ehe sie von den
nachrückenden Römern geschlossen wurde. Die nachrückenden Germanen unter Ansgars Führung wurden bereits abgedrängt. Inguiomer und Arminius gerieten in eine bedrohliche Lage. Die Legionäre hatten den Germanenführer erkannt und schlossen erbarmungslos den Ring um ihn und seine Krieger, doch den wie die Berserker um sich hauenden Cheruskern gelang mit knapper Not der Rückzug. Jetzt lief Roms Kriegsmaschine auf vollen Touren. Das Bewusstsein schmierte die Militärmaschine. Kein Rädchen tanzte aus der Reihe. Der Drill wurde erkennbar, ganze Schlachtreihen hoben die Pilen auf einmal, schleuderten sie auf die Germanen, wurden dabei unterstützt von den Bogenschützen, von den Katapulten und von der Reiterei. Die Vernichtungsstrategie war fein aufeinander abgestimmt. Alte und erfahrene Legionäre rissen die jüngeren Soldaten mit, die Centurionen feuerten sie zusätzlich an. Unaufhaltsam stürmten die Legionen vor und trieben die Germanen vor sich her. Immer mehr Leichen bedeckten den Boden, immer mehr Tiere fielen und sorgten für Verwirrung. Schließlich sah es auch Arminius ein: Der Rückzug, der nicht vorgesehen war, musste eingeleitet werden. Ansgar war einer der Ersten, der sich mit seinen Hundertschaften aus der Gefahrenzone zurückzog. Unwirsch trieb er seine Männer an, und es schien, als könne er nicht schnell genug das Kampffeld verlassen. Die Legionäre setzten nach. Bald waren die ersten Germanen am Waldsaum angekommen, andere an der Weser. Vor der erdrückenden Übermacht versuchten viele, sich durch den Fluss zu retten, doch die Schwimmer wurden sofort von den Bogenschützen beschossen. Die Leichen trieben stromabwärts. Andere Krieger kletterten in ihrer Not auf die Bäume, wurden
von den Römern verspottet und verhöhnt – auch sie wurden leichte Beute der Bogenschützen. Germanicus hatte seinen Standort längst verlassen, er befahl, Bäume zu fällen, auf denen Germanen saßen, so dass sie zu Boden stürzten und von den Legionären kurzerhand mit Speer oder Schwert erledigt wurden. Immer noch kein Siegesgeschrei der Legionäre, nur planvolles, pedantisches Schlachten. Wen sollten sie denn schonen? Die Verräter etwa? Das Ende der Kämpfe hatte ihnen ihr Feldherr versprochen, mit diesen Barbaren musste man ein für alle Mal aufräumen! Versprengte Trupps der Germanen formierten sich neu, aber sie boten nur lächerlichen Widerstand gegen eine siegreiche Armee. Trotzdem zogen sich die Kämpfe bis in die Abendstunden hin. Die Römer waren gründlich. Leichen lagen überall in der Ebene verstreut, endlich war kein Feind mehr zu sehen. Endlich kamen die lang ersehnten Siegessignale. Victoria, Sieg, Sieg, Sieg! Sieg auf der ganzen Linie. Sieg über die Germanen, Sieg über Arminius, den Verräter, Rache für Varus. Hör dir das an, Arminius, das ist die andere Seite des Sieges. Das ist die Kehrseite der Medaille, das ist die Antwort Roms! Das ist unsere Rache, so ergeht es jedem, der uns verrät, der uns hintergeht! Als die römischen Hornisten zum Sammeln bliesen, feierten die Legionäre ihren Feldherrn, ließen ihn hochleben, und jetzt erst erfüllte unbeschreiblicher Jubel die Ebene. Tiberius wurde als siegreicher Kaiser ausgerufen. Germanicus ließ die erbeuteten Waffen zusammentragen und an Ort und Stelle Siegestrophäen errichten, auf denen Schreiber die Namen aller besiegten Stämme verzeichneten, allen voran den des Arminius und der Cherusker. Der siegreiche Feldherr strahlte, er hatte
seinen Helm abgenommen, wischte sich den Schweiß von der Stirn und gab seine Anweisungen zum Rückzug in das Standlager. Der Sieg der Römer wurde nur dadurch getrübt, dass man unter den Leichen weder Inguiomer noch Arminius fand, so sehr man die Ebene auch absuchte. Doch gerade Arminius hätte er gebraucht, der römische Sieger, den Anführer der Germanen, tot oder lebendig, für seinen Triumphzug in Rom, der der größte und prächtigste Triumphzug aller Zeiten werden sollte. Arminius lebend! Nicht auszudenken die Sensation in Rom! Der Verräter in Ketten! Germanicus’ Name würde unsterblich sein! Tiberius in Rom war weit weg, seine ewigen Appelle an den Sohn, es genug sein zu lassen, schienen lästig, vielleicht neidete ihm der Kaiser den Sieg! Germanicus konnte sich taub stellen, Germanien war weit weg, und diesen überwältigenden Sieg konnte ihm keiner nehmen! Rückzug! Rückzug vom wüsten Schlachtfeld, Leichen und Blut, zerbrochene Waffen und Tierkadaver. Die Legionäre höhnten und verspotteten die toten Germanen und stießen hier und da noch eine Lanze in sie, sammelten ihre eigenen Toten als Pflichtübung, waren guter Dinge und trotz der ungeheuren Strapazen bester Laune. Die Sieger zogen sich zurück. Germanicus ließ alle Instrumente blasen, Cornu, Tuba, Lituus, alle Signalinstrumente erklangen, um den vollständigen Sieg über die Germanen weithin hörbar zu machen.
Militär und Musik. Angriff, Verteidigung, Vormarsch, Rückmarsch, Sieg und Niederlage. Einstimmung, Motivation, Mitreißen, Gleichschritt. Es zittern die morschen Knochen noch im Grabe.
Ein erhebendes Gefühl. Uniform, Gleichschritt. Keine Fragen, Kritik unerwünscht, nur nicht nachdenken. Recht oder Unrecht, wen interessiert das. Die Regeln bestimmt der Sieger! Musik verwischt die Grenzen, übertüncht letzte Zweifel. Marschmusik durch die Jahrhunderte. Bis heute. Symbolisches Schießen auf Holzvögel. Sieg! König! Gleichmäßiges Vorwärtsbewegen von Bürgerbeinen und Bierbäuchen. Ersatzhandlungen. Schützenfestromantik. Kapellmeister ohne Zahl. Viele, zu viele, unzählige, die der Verführung erlagen, erliegen.
XIX.
Arminius hatte sich noch einmal durchgesetzt. Niemand hatte geglaubt, dass er nach der empfindlichen Niederlage so schnell wieder Truppen gegen Rom mobilisieren könnte. Wieder bestimmte er das Schlachtfeld, wollte nichts davon hören, dass die Idistavisoebene ein Nachteil für sie gewesen sei. Verbissen und trotzig ging er über jeden Einwand hinweg, nannte alle Feiglinge und Römlinge, die etwas einzuwenden wagten. Ansgar schlug ernsthaft eine ganz andere Taktik vor: keine offenen Kämpfe, keine Schlachtreihen, sondern überfallartige Angriffe und dann zurück in die Wälder. Den Feind schwächen und sich zurückziehen, war seine Devise. Aber Arminius hatte keine Ohren für ihn, für seine »Hirngespinste«. Zurückgezogener war das vorbestimmte Schlachtfeld, das Arminius den Römern aufzwingen wollte. Die enge, feuchte Ebene schien ihm gut geeignet, hier sollte es den Römern unmöglich gemacht werden, ihre Übermacht zu entfalten. Der Fluss grenzte den Kampfplatz an der einen Seite ab, die andere Seite säumten dichte Wälder und ein ausgedehntes Moorgebiet. In diesen Schlauch wollte Arminius die Römer hineinlocken, bis zum Angrivarierwall∗, einem Bollwerk aus Holz und Lehm, mit Palisaden bestückt, das für den Notfall Verschanzung bieten sollte. Niemand erstaunte die Selbstverständlichkeit, mit der Arminius plante, organisierte, befahl und anordnete. Alles ∗
Von den Angrivariern angelegter Erdwall als Grenze zum Gebiet der Cherusker.
bestimmte er allein, so hatte es zu sein, nicht anders. Äußerlich wirkte er trotz schwerer Verwundungen ungebrochen, so, als glaube er fest an einen endgültigen Sieg über die Römer. Keiner durfte von Niederlage sprechen. Alle Stämme schickten die letzten Abordnungen, das letzte Aufgebot, darunter kaum waffenfähige Jünglinge. Jeder wusste, worauf es jetzt ankam, niemand wollte die Schande der Feigheit auf sich nehmen. Nur heimlich wagten sie, Fragen zu stellen. Würden die Römer kommen und ihre Dörfer zerstören, würden sie alle letzten Endes doch noch über die Elbe ausweichen müssen, um sich neues Land zu suchen? Arminius fegte alle Bedenken weg, wo immer er auftauchte, zornig und aufbrausend wurde er, wenn ihm einer zu lange zweifelte, zauderte oder mit seinem Schicksal haderte. Diese letzte Schlacht würde ihnen den Sieg bringen, Wodan und alle Asen würden ihnen beistehen, und dann wehe den Römern! Die längst fälligen Opfer würde man den Göttern bringen, nach dem Sieg. Arminius war überall, wechselte häufig das Pferd, gab knappe Anweisungen, kein überflüssiges Wort kam über seine Lippen, jede Anordnung musste sitzen. Keine Zeit war zu verlieren. Das Fußvolk wurde am Angrivarierwall aufgestellt und die Reiterei in den nahen Wäldern versteckt, um die Legionen vom Rücken her angreifen zu können, wenn sie gegen den Wall stürmten. Es blieb tatsächlich keine Zeit, denn schon kamen die Römer. Späher meldeten Arminius jede Bewegung der feindlichen Truppen. Wieder rückte das römische Heer mit tödlicher Ruhe heran. Die Germanen, unter ihnen viele unerfahrene Krieger, wurden ungeduldig.
Warum befahl Arminius keinen Ausfall? Warum mussten sie so lange warten? Mit welcher Sicherheit die Römer heranzogen! Endlich! Die ersten cheruskischen Reiter kamen aus dem Wald und stießen sofort auf römische Reiterei. Die Legionen stockten unvermittelt, öffneten sich, schwenkten aus, formierten sich neu. Schleudergeschütze wurden in Aufstellung gebracht. Furchtlos drangen die germanischen Krieger vor, verließen den schützenden Wald, jeder wollte dem anderen seinen Mut und seine Tapferkeit beweisen. Was war nur los mit den Legionen? Wollten die Römer etwa fliehen? Die Germanen stürmten vor, Schlachtgebrüll erschallte. Der Hagel von Lanzen und Steinen traf sie unvorbereitet, so als hätten sie die Geschütze der Römer noch nicht kennen gelernt. Danach stürmten die Legionäre wieder vor, hoben ihre Pilen, schleuderten sie gleichzeitig. Germanicus war mitten unter seinen Legionären; er hatte den Helm abgenommen, um besser erkannt zu werden, so als wolle er seine Unverletzbarkeit demonstrieren. Vergebens versuchte er jedoch, sich in die Nähe des Cheruskerherzogs durchzuarbeiten. Arminius wich ihm aus, wusste geschickt dem Feldherrn und seinen Prätorianerkohorten zu entgehen. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit zog er sich zurück, beobachtete, dirigierte. Wieder kamen die Geschütze der Römer zum Einsatz, rissen furchtbare Lücken in den germanischen Heerbann. Was ist los mit dir, Arminius? Warum zögerst du? Siehst du nicht, dass alles verloren ist? Deutlicher als sonst kämpften die Einzelstämme für sich. Die Marser und die Chatten befolgten die Befehle ihrer Anführer. Auch die Brukterer, die Chatuarier,
die Usipeter, die Chasuarier und die Tubanten waren deutlich als einzeln kämpfende Verbände zu erkennen. Gemeinschaftsgeist wollte in dieser Schlacht nicht aufkommen. Arminius, Arminius, noch ist Zeit! Schon wieder ein römischer Geschosshagel aus den Schleudermaschinen, den unheimlichen Katapulten, denen die Germanen nichts als blanken Mut und ungestüme Kraft entgegenzusetzen hatten. Einige Schlachtreihen der Römer ließen sich hinreißen und drangen bis zum Wall vor, verwickelten die Germanen in einen Nahkampf, aber Germanicus erkannte, dass dieser Nahkampf ungünstig war, ließ die Schlachtreihen sofort zurückziehen und befahl das weitere Vorrücken der Schleuderer und Steinwerfer. In wenigen Stunden war die Entscheidung gefallen. Auf dem Höhepunkt der Schlacht wurde Arminius’ Pferd Sleipnir von einem Steingeschoss getroffen und brach zusammen, seinen Reiter unter sich begrabend! Das treue Pferd versuchte noch im Todeskampf, wieder auf die Beine zu kommen, doch vergeblich. Sogleich stürzten sich mehrere Legionäre auf die Stelle und versuchten, den Cheruskerherzog zu fangen, auch Reiter preschten herbei, und die Verwirrung war groß. Direkt vor dem Wall gab es ein Getümmel und Gemetzel, die Lage spitzte sich dramatisch zu. Auch Germanicus schlug sich mit seinen Kohorten zu dem Wirrwarr durch, zu wichtig war ihm die Gefangennahme des Cheruskerherzogs, ihn musste er haben, tot oder lebendig. Die cheruskischen Gefolgsleute kämpften wie Berserker, sie hieben so auf die Römer ein, dass die Schlacht zeitweilig ins Wanken kam. Arminius war schon wieder auf den Beinen, sichtlich benommen und scheinbar ernsthaft verletzt. Immer mehr Römer stürmten herbei, behinderten sich, ganz gegen ihre Erfahrung, gegenseitig und vergrößerten das Chaos. Ein Legionär kam ganz nahe an den Cheruskerführer heran,
holte aus mit dem Schwert – glaubte sich ganz sicher, bis ihn Bruchteile später die tödliche Frame traf. Arminius wurde auf ein Pferd gerissen und über den Wall zurückgeschleppt. Die Cherusker konnten stolz auf sich sein, das Wichtigste, ihr Gefolgsherr, war gerettet. Nun konnte die Schlacht ausgehen, wie sie wollte, sie hatten sich nichts vorzuwerfen, hatten keine Schande auf sich geladen, würden nicht ohne ihn aus dem Kampf zurückkehren. Germanicus war inzwischen am Wall. Mit den Prätorianern erstürmte er das Bollwerk, verbreitete überall Siegesstimmung, ordnete die Schlachtreihen neu und drängte die Germanen in kurzer Zeit über den Wall, in die Wälder und zum Moor hin ab. Nun erwies sich das Schlachtfeld als tückische Falle für die Germanen. Wohin sollten sie zurückweichen, wenn nicht gar fliehen? Sie waren eingeschlossen, vom Moor, den Römern und dem Fluss. Vorwärts, vorwärts hieß die Parole für beide Parteien, denn Rückzug bedeutete Tod und Untergang, es war aussichtslos, dass die Schlacht so ein »vernünftiges« Ende finden würde. Niemals würde Arminius weichen!
Ich schlachte dich, du schlachtest mich, er schlachtet ihn, wir schlachten euch, ihr schlachtet uns, sie schlachten sich gegenseitig.
Die Römer kosteten ihre Überlegenheit weidlich aus. Mut und Tapferkeit der Germanen, was brachten diese Tugenden jetzt noch ein? Ihre langen Framen erwiesen sich in dem Gedränge als hinderlich, hier war kein Platz für wilden Anlauf und Ansturm.
Die Römer aber kämpften auch hier, wie sie es gewohnt waren: den Schild an die Brust gepresst und die Faust am Schwertgriff. Reihenweise wurden die Germanen niedergemetzelt. Wo war Arminius? Der Herzog fehlte überall. Er hatte sie immer angetrieben, hatte die Befehle gegeben. Keiner der anderen Fürsten hatte den Überblick. Sie kämpften auf eigene Faust. Inguiomer war vom Glück verlassen, er musste sich mit seinen Kriegern mehr und mehr zurückziehen, ob er wollte oder nicht. Ansgar und Wolfhart kämpften taktisch klug, zogen ihre Hundertschaften sofort zurück, wenn sie auf eine Übermacht stießen, auf die römische Übermacht, die allgegenwärtig war. Auf ihrem Flügel hielten die Germanen am längsten stand, doch auch hier war nichts mehr zu gewinnen. Die letzte Schlacht artete in ein Blutbad ohnegleichen aus. Der Sieg gehörte den Römern, wenn sie auch eine endgültige Entscheidung nicht erzwingen konnten. Noch einmal spitzte sich die Situation zu, als die germanische Reiterei sich in den Rücken der Römer vorgearbeitet hatte und zum Angriff überging. Aber Germanicus war auf der Hut. Als die Germanen auf ihren kleinen flinken Pferden durchbrachen, traf sie bereits der Gegenstoß der römischen Reiterei und brachte den Ansturm schnell zum Stehen. Ganze Verbände wurden umgedreht und bereinigten die Gefahr in kurzer Zeit. Spät am Tage zog Germanicus eine Legion zurück, um ein Lager anlegen zu lassen; die Germanen boten keine ernsthafte Gefahr mehr. Die Barbaren waren besiegt, Rom konnte aufatmen. Der Kampfplatz war von Leichen übersät, Tote über Tote auf dem Wall, kaum noch eine Spur von dem Gegner. Germanicus nahm den Sieg uneingeschränkt für sich in Anspruch. Sein Triumph überdeckte alle Strapazen des Kampftages, jeder
Legionär fühlte sich mit einbezogen, hatte teil an diesem Sieg, dem endgültigen Sieg, den ihnen ihr Feldherr fest versprochen hatte. Nun war er da. Die Legionäre vergaßen für einen Augenblick den starren Drill und fielen einander vor Freude um den Hals. Selbst noch die Freude steuerte Germanicus. Er befahl Sammeln und lobte beim Appell seine siegreichen Truppen, erinnerte an sein Wort vom Ende der Kämpfe, an das Ende des Germanenkrieges, und ließ aus den erbeuteten Waffen einen Siegeshügel errichten. Dann wurde das Schlachtfeld systematisch abgesucht, jeder wollte sich die hohe Belohnung verdienen, die auf Arminius ausgesetzt war. Möglicherweise fand man ihn ja doch noch unter den Toten! Doch so sehr sie auch suchten, die siegreichen Römer, Toten um Toten wendeten, Arminius fanden sie nicht. Germanicus ließ die offensichtliche Enttäuschung darüber nicht an sich herankommen. Ihm gehörte der Sieg, er hatte alle Germanen vernichtend geschlagen. Was noch niemand vor ihm geschafft hatte, auch sein Onkel Tiberius nicht, der jetzige Kaiser, er, Germanicus, hatte die Barbaren endgültig besiegt, hatte für das Römische Reich eine neue, in den Ausmaßen alles übertreffende Provinz hinzugewonnen! Voller Stolz sprach er davon, dass die Völker zwischen Rhein und Elbe nun endlich niedergerungen seien, dass die Schande des Varus nun wieder wettgemacht sei, dass das römische Volk am Ende doch mit jedem Verräter fertig werde, und dass sie alle stolz darauf sein dürften, daran mitgewirkt zu haben. Den errichteten Siegeshügel weihte er dem Mars, dem Jupiter und erwähnte auch, eher beiläufig, den Namen des Kaisers Tiberius. Danach wurde Abmarsch ins neu errichtete Lager befohlen. Bereits auf dem Rückmarsch gab Germanicus in Siegerlaune
erste Versprechungen für seinen Triumphzug in Rom ab und erließ schon jetzt genaue Anweisungen für den Rücktransport zu den Winterlagern am Rhein. Zurück blieb ein Chaos aus Blut und Leichen. Die wilden Tiere aus den Wäldern Germaniens, vorsichtiger als die Bestie Mensch, wagten sich erst jetzt aus ihren Verstecken hervor, aus ihren Höhlen tief im Innern der Urwälder, und übernahmen ihren Teil im ewigen Kreislauf der Natur.
XX.
Wie ein stolzes Elend umschreiben, das sich wortlos äußert? Wo jeder, der viel Worte macht, misstrauisch, ja feindselig betrachtet wird. Mit den verlorenen Schlachten würden die Germanen fertig werden, auch mit ihren Wunden, auch mit ihren Toten. Aber die Schande der Niederlage! Unter der scheinbar gelassenen und ruhigen Haltung der germanischen Führer gärte und brodelte es. Bald schob einer dem anderen unverhohlen die Schuld an der Niederlage zu. Auch Arminius musste sich Fragen gefallen lassen. Die Römerpartei unter den Cheruskern erhielt wieder Auftrieb, Männer, die sich für Bündnisverträge mit Rom einsetzten, stießen auf Verständnis. Berichte häuften sich, dass bereits jetzt neue römische Steuereintreiber eingesetzt wurden, die härter und rücksichtsloser vorgingen als Varus und unerbittlich ihre Abgaben forderten. Wie sollte Arminius das Scheitern seiner Lebensaufgabe verkraften? Die trotzig-stolze Haltung, die er einnahm, verriet nach außen nichts von seinen wahren Gefühlen. Woher sollte er die Kraft nehmen, neue Truppen gegen Rom aufzustellen? Wer würde ihm noch folgen? Hatte das alles überhaupt noch einen Sinn? Die Rivalität zwischen Inguiomer und Arminius brach wieder auf. Der Onkel setzte sich bei der Thingversammlung sogar für Verhandlungen mit Rom ein, was alle verblüffte und erregte. Grimmig und unberechenbar trat er auf, machte seine Aussage
und sparte dabei nicht mit hämischen Vorwürfen gegen die »junge Führung«, der er Fehler in der Kriegsführung nachwies. Auch der Chattenherzog Adgandester schlug in dieselbe Kerbe, erregte sich bei der Verteilung der wenigen Beutestücke, schimpfte über die Bevorzugung der Cherusker und legte sich mit Ansgar an, dem er jedes Recht absprach, sich überhaupt einzumischen. Er erntete ein spöttisches Lachen von Ansgar dafür und den Hinweis, dass er für einen Zweikampf jederzeit zur Verfügung stehe. Die nächsten Tage und Wochen verliefen voller Spannungen und Auseinandersetzungen. Arminius konnte es nicht verhindern, dass nach dieser Niederlage nun doch einige Sippen aufbrachen, um sich jenseits der Elbe eine neue Heimat zu suchen. Alles schien in Gefahr, alles in Auflösung begriffen. Die mühsam erreichte Gemeinsamkeit der Germanen ging unter der Hand verloren, löste sich auf, so als habe es nie gemeinsame Kämpfe, nie einen gemeinsamen Feind gegeben. Arminius zog sich zurück. Für niemanden war er ansprechbar. Jetzt brauchte er Ansgar wieder, der mit den Leuten redete, Streit schlichten konnte und die trübsinnigen Gedanken verscheuchte. Doch der ging seinem Herzog aus dem Wege. Die Wunde am Arm kümmerte ihn kaum, er fand schon wieder Zeit, den cheruskischen Frauen nachzustellen und ihnen wortreiche, halb ironische, halb ernsthafte Komplimente zu machen. In der allgemeinen Sprachlosigkeit und Niedergeschlagenheit fiel sein Verhalten besonders auf, und Ansgar musste auch manchen bösen Blick hinnehmen, der sein Gemüt aber nicht besonders belastete. Alles war gut, das von der eigenen Niederlage, von der Verzweiflung ablenkte, Ausgleich schaffte. Als bekannt wurde, dass die Chauken fünf Legionäre gefangengenommen hatten, und die Nachricht sich verbreitete,
dass viele der römischen Todfeinde in den Fluten des Meeres umgekommen waren∗, kam neue Hoffnung und auch Schadenfreude auf. Ansgar machte sich sofort auf, um die Gefangenen zu befragen. Die Römer boten einen kläglichen Anblick. Blass, frierend und ängstlich steckten sie in den viel zu großen germanischen Wollhosen, die man ihnen gegeben hatte. Alle waren nass, offenbar hatte man sie, nur so zum Spaß, mit Wasser übergossen. Die Römer und ihre Schiffe! Ansgar lachte laut, als er die Gefangenen sah. Wieder hatte sich die Rückkehr der Römer dramatisch gestaltet. Das Unglück lenkte ab von der eigenen Misere, konnte gar als Teilsieg vereinnahmt werden. Die germanischen Wettergewalten, die Riesen der finsteren Nacht und Wodans Fügung hatten die Eindringlinge am Ende doch noch bestraft. Den gefangenen Legionären konnte man die schrecklichen Tage noch ansehen, die sie durchgemacht hatten, und ganz offenbar waren sie obendrein noch von den Germanen misshandelt worden. Sie wurden höchst unsanft in eine Grube geworfen, doch keiner von ihnen verlor ein Wort. Die Cherusker blieben stehen, verhöhnten die Römer in der Grube und bespuckten sie. Ansgar trat an den Grubenrand und spottete: »Die Henne hat die Kleinen verlassen, nun sind sie nass und frieren!« Die Gefangenen horchten auf, schauten vorsichtig nach oben, sie hatten nicht erwartet, dass einer ihrer Feinde ihre eigene Sprache so fließend beherrschte. Sie hatten ihren sofortigen Tod erwartet und machten sich keine Illusionen. Ansgar brachte sie nach und nach zum Sprechen. Wenn auch zunächst ∗
Fast die gesamte Flotte ging bei dieser Katastrophe, die Tacitus in der Nähe des Nordpols (!) ansiedelt, unter. Trotzdem war Germanicus nicht zu bremsen und bereitete gleich einen neuen Feldzug vor.
stockend und langsam, erzählten sie wenigstens; sie waren viel zu ängstlich, um nicht zu antworten. Nach den Misshandlungen mussten sie das Schlimmste befürchten, niemand von ihnen konnte erwarten, dass Besiegte mit gefangenen Siegern zartfühlend umgehen würden. Wenn sie antworteten und alles über ihr Missgeschick berichteten, hatten sie vielleicht noch eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Jedenfalls sahen sie eine winzige Hoffnung, an die sie sich klammerten. Ein hagerer Legionär mit spitz vorstehendem Adamsapfel fasste sich als Erster und schilderte seine Erlebnisse: »Nach der siegreichen Schlacht…« – er blickte zu Ansgar hoch und erkannte sogleich seinen Fehler, »… nach den Kämpfen wurden wir an der Küste auf die Flotte verladen… Alles war ruhig. Die See war still. Wir hörten bald nur noch den Ruderschlag… waren froh, dass alles hinter uns lag… vertrauten uns dem Geschick der Seeleute und Neptuns Wohlwollen an. Doch plötzlich…« – er steigerte in Erinnerung an die fürchterlichen Ereignisse seine Stimme, »doch plötzlich zogen sich schwarze Wolken zusammen, die niemand vorher am Horizont gesehen hatte! Ein Hagelschauer von großen und harten Kieselsteinen prasselte auf uns nieder! Ungeheurer Wind kam auf, ein Sturm, ein Orkan! Wind und Wellen versetzten uns in Angst und Schrecken, auch den Matrosen verging bald das Lachen, die uns Landratten anfangs noch ausgelacht hatten, sie…« Ein anderer unterbrach ihn: »Es war eiskalt…!« Er schüttelte sich und fror offenbar auch jetzt von dem eiskalten Wasser, das die Chauken über ihn gegossen hatten. Frauen und Kinder umringten inzwischen die Grube, lachten und scherzten, hörten die unverständlichen lateinischen Sätze
und sahen amüsiert zu, wie die Kinder kleine Lehmbrocken und Dung in die Grube warfen. Auf Ansgars Fragen erzählte der Legionär weiter: »Der Wind trieb uns auseinander… Unser Schiff lief auf eine Sandbank. Mit letzter Kraft gelang es uns, unser nacktes Leben zu retten!« Die Todesangst, die er dabei ausgestanden hatte, war ihm jetzt noch anzusehen. Ansgar schaute die anderen Gefangenen fragend an. Ein kleiner Soldat mit nassem Kraushaar und blutender Nase fühlte sich aufgefordert, auch etwas zu erzählen. Er stotterte vor Aufregung. »Unseren Ma-matrosen verging der Spott, als Gezeitenwechsel eintrat…! W-wassermassen schwappten in die Schiffe, wir konnten gar nicht alles ausschöpfen! Mein Schiff wurde von einem anderen gerammt, dadurch entstand ein riesiges Loch in der Bordwand… Pferde, Zugtiere und Marschgepäck, alles wurde über Bord gespült, viele wwarfen sogar ihre Waffen weg!« Er blickte verstohlen zu Ansgar hoch, rieb sich die Nase und flüsterte: »… es war ggrauenvoll, einfach g-grauenvoll!« Ansgar fragte nach Germanicus, ob jemand etwas über den Feldherrn erfahren habe. Ein Legionär mit einer offenen Wunde auf der Wange, der bis jetzt geschwiegen hatte, erklärte zögernd: »Ich! Ich war auf dem Schiff des Feldherrn!« »Prätorianer?«, fragte Ansgar. Der Legionär nickte. »Und?« Keine Antwort. Der Prätorianer schwieg und blickte seine Mitgefangenen vorwurfsvoll an, als wolle er ihnen ihre Geschwätzigkeit zum Vorwurf machen. Ansgar gab zwei Kriegern ein Zeichen, die sofort ihre Framen drohend auf den Römer richteten, doch das schien den Prätorianer nicht besonders zu beeindrucken. Wenn, dann
wolle er freiwillig reden, sagte er selbstbewusst, wie er mit dem größten Feldherrn der Römer an das Gestade der chaukischen Barbaren verschlagen worden sei. Und das tue er auch nur, weil Germanicus längst in Sicherheit sei. Die Germanen sollten es nur nicht wagen, ihm ein Haar zu krümmen, sein Feldherr würde… Geduldig hörte sich Ansgar seine Litanei und seine unverhüllten Drohungen an, bis der Prätorianer endlich wieder zum Thema kam: »Wir wurden mit gewaltiger Kraft an die Küste verschlagen, und wie durch ein Wunder blieb unser prächtiges Schiff, das unser Prinz selbst entworfen hatte, heil und ganz! Alle waren niedergeschlagen und zu Tode geängstigt und am lautesten klagte der Feldherr selbst!« Er machte eine Kunstpause und blinzelte fast verächtlich nach oben. »Aber nicht etwa, dass er sein eigenes Schicksal beklagte, o nein! Er beklagte seine Männer, seine Legionäre, gab sich selbst die Schuld an dem furchtbaren Unglück, das seine Flotte getroffen hatte. In der Eile hatte er es versäumt, die Auguren zu befragen, hatte angenommen, dass die Götter die Sieger begünstigen würden! Aber die Tücken der germanischen Gewalten…« Er brach den Satz ab und fuhr fort: »Nur mit Mühe konnten wir ihn davon abhalten, sich selbst ins Meer zu stürzen! Tage und Nächte suchte er den Strand ab und rettete durch sein vorbildliches Verhalten noch manchem Soldaten das Leben!« Wieder folgte eine Laudatio auf Rom und auf Germanicus, der den prächtigsten Triumphzug aller Zeiten feiern würde. Verängstigt war er nicht, im Gegensatz zu den anderen Gefangenen, das musste man ihm lassen. Ansgar hörte ohne mit der Wimper zu zucken zu. Der Prätorianer gefiel sich in seiner Rolle. »Andere Schiffe stießen zu uns, manche schwer beschädigt, andere mit zerbrochenem Ruderwerk, die meisten hatten die Segel
verloren und stattdessen Decken und Zeltfetzen aufgespannt… Der Feldherr gab den Befehl, sie notdürftig instand zu setzen, damit die Inseln nach weiteren Gestrandeten abgesucht werden konnten!« Der Prätorianer hob die Augen, baute seine Geschichte aus, vergaß ganz seine vornehme Zurückhaltung, beschrieb Wirbelstürme und Seeungeheuer und fügte hinzu, dass er bei der Suche nach Überlebenden von den Chauken gefangen genommen worden war. Der Legionär mit dem vorstehenden Adamsapfel meldete sich wieder zu Wort, stellte dar, dass sie eine Woche lang nur von einem Pferdekadaver auf einer Sandinsel überlebt hätten. Forschend blickte er nach oben, um zu prüfen, welchen Eindruck seine Worte auf Ansgar und die Cherusker machten. Offenbar wollte er seine Erzählung noch ausschmücken, auch der Prätorianer äußerte sich wieder, bot ein hohes Lösegeld an, Germanicus würde ihn sicher nicht… Doch Ansgar hatte genug über die katastrophale Rückführung der römischen Truppen erfahren und hörte schon gar nicht mehr hin. Eilig machte er sich zum Burggehöft des Arminius auf, um ihm zu berichten. Er war ganz sicher, dass die Nachricht vom Unglück der Römer den Cheruskerherzog aufmuntern würde, denn jetzt konnte sich jeder ausrechnen, dass die Römer so schnell nicht wiederkommen könnten.
XXI.
Gespenstische Ruhe auf der Segimer-Burg, Arminius’ Hof, Sitz des Cheruskerherzogs. Kaum jemand bekam den Herzog zu sehen, er ließ nur die engsten Vertrauten zu sich. Nachts wälzte Arminius sich auf seinem Lager, fühlte die Wunden, die den starken Körper geschwächt hatten, träumte im Wundfieber. Trübsinnige Gedanken, sobald er sich hinlegte. Im Kampf waren sie verschwunden, doch jetzt waren sie da, peinigten ihn beständig. War der Schlachtplatz am Angrivarierwall tatsächlich richtig ausgewählt gewesen? Hätte er die beiden Niederlagen vermeiden können? Konnten sie die Römer jetzt noch vertreiben? Würde Wodan ihnen das Kriegsglück wieder zuwenden? Was hatte er falsch gemacht? Was war so anders an den Römern? Eines Nachts sah er das Gespenst des Varus wieder vor sich. Arminius, der keine Angst kannte, geriet ins Schwitzen. Er fürchtete sich doch nicht! Vor wem denn? Varus war längst in der römischen Unterwelt oder sonst wo! Irgendwann geriet er in ein riesiges Spinnennetz. Sofort wollte er nach seinem Schwert greifen, um die Maschen zu zerstören, doch er konnte den Arm nicht bewegen. Auch der andere Arm lag wie gelähmt an seinem Körper. Wie vereiste Blöcke lagen sie neben ihm, seine Arme. Mit den Füßen trat er voller Kraft in die Maschen des Netzes und bemerkte gleichzeitig, wie der riesige Kopf der Spinne unaufhaltsam auf ihn zukam. Dann erkannte er, dass die Spinne einen Wolfskopf trug, einen Wolfskopf, dem ein Auge fehlte, sah die geifernden Lefzen,
das gebleckte Gebiss, das drohend nach seinem Gesicht schnappte. Die Gehöre des Wolfes, dreizackig, wie todbringende Pilen aufgerichtet, die Vorderläufe mit gierigen Krallen – sie mussten ihn jeden Augenblick vernichten, da er sich nicht wehren konnte. Arminius schrie und bäumte sich auf, wie wild trampelte er um sich, die Arme gehorchten ihm immer noch nicht. Doch der Wolfskopf mit dem triefenden Auge war verschwunden, er konnte aufatmen. Aber viel schlimmer noch; urplötzlich war er von Wölfen eingekreist, hörte eine alte Wölfin zum Raub anheulen, und die Luft war voll vom grausigen Geheul der Wolfsmeute. Die Wölfin, mit unzähligen Zitzenpaaren, graugelblich, mit schwarzen Grannen durchsetzt, trug eine sattelartige Zeichnung in der Schultergegend, die Arminius nicht erkennen konnte, die ihm aber vertraut vorkam. Wieder hörte er das schaurige Heulen der Wölfin. Dann wurde das Spinnennetz lebendig, was er für ein Netz gehalten hatte, waren lauter kleine Wölfe, die ganz regelmäßig in immer größerer Zahl heranschnürten und sich um die Zitzen der Wölfin balgten. Gleichzeitig keifte die Alte, gebar ununterbrochen, und ihr Geheul nahm ständig zu, so dass es nicht mehr auszuhalten war. Die jungen Welpen wurden mit atemberaubender Geschwindigkeit größer, bleckten die Zähne und stürzten auf ihn zu, einer stärker und mutiger als der andere, und Arminius hatte nur seine Füße, mit denen er sie mühsam abwehrte. Dazu das immer noch stärker anschwellende Geheul, ohrenbetäubend, aus Tausenden von Wolfskehlen. Die Ohren schmerzten bereits, er wollte sie zuhalten, doch er bekam die Arme nicht hoch.
Auf einmal war der einäugige Wolfsrüde wieder da, so nahe, dass Geifer auf Arminius’ Gesicht tropfte, er den heißen Atem spürte, das Zuschnappen des starken Gebisses hörte und die Vorderläufe auf seinen Schultern fühlte. Jetzt stürzten sich alle anderen Wölfe auf ihn, sein Körper war gespannt bis zum Äußersten… Als er aufwachte, erkannte er Ansgar, der ihn heftig an den Schultern rüttelte. Arminius hatte Mühe, zu sich zu kommen und die Meldung von der Vernichtung der römischen Flotte aufzunehmen, die Ansgar ihm brachte. Doch dann war er hellwach. Er begriff. Die Römer! Auf dem Rückweg in den Fluten des Meeres umgekommen! Er blickte Ansgar an; vielleicht hatten sie doch noch eine Chance, weg mit dem schrecklichen Traum! Vielleicht konnte man die Römer doch noch… Arminius sprang auf und ließ die Anführer zusammenrufen.
XXII.
Wolfhart kam auf Arminius und Ansgar zugestürmt, völlig außer Atem, mit gerötetem Gesicht. Hinter ihm kam Aper angerannt, der hünenhafte cheruskische Krieger, auch er verwirrt und außer Atem. Wolfhart, der nie viel Worte machte, keuchte eine Neuigkeit hervor, eine Nachricht, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, die Arminius traf wie ein Schock. Bei Wodan und allen Asen, hatte ihn das Glück denn ganz und gar verlassen? Wen die Götter vernichten wollen, den strafen sie gründlich! Nahm das Unglück denn überhaupt kein Ende? Selbst Ansgar schwieg betreten, kratzte sich verlegen das Kinn. Diese Meldung wirkte vernichtender als alle Unglücksbotschaften und die Niederlagen zusammen auf Arminius – sein Onkel, sein eigener Onkel Inguiomer war mit allen seinen Leuten zu Marbod, dem Markomannenkönig übergegangen! Sah so das Ende aus? Wortlose Ratlosigkeit, Verzweiflung, Resignation. Keiner sagte ein Wort. Arminius konnte es nicht fassen und lief unruhig hin und her. Sein Onkel Inguiomer! Fast die Hälfte der cheruskischen Truppen befehligte er! Kaum waren die Kämpfe mit den Römern unter gewaltigen Verlusten überstanden, bahnte sich so eine neue Auseinandersetzung an. Sicher, er hatte sich nie gut mit seinem Onkel vertragen, beide waren sie jähzornig, das musste er sich selbst eingestehen, aber dass sich sein Onkel bewusst gegen ihn auf die andere Seite stellen würde, daran hätte er im Traum nicht gedacht.
Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen in den letzten Wochen, aber im Kampf waren sie stets in den vordersten Reihen zu finden gewesen, und fast hatte es den Anschein gehabt, als habe Inguiomer noch verbissener als er selbst gekämpft. Und nun waren sie Feinde! Und Marbod? Arminius hatte sich lange Zeit nicht um ihn gekümmert, hatte ihm wohl das Haupt des Varus als Mahnung und Aufforderung geschickt, aber ihn nie als eine ernsthafte Gefahr angesehen, weil Marbod jenseits der Elbe saß und sich immer neutral verhalten hatte. Die Markomannen hatten sich ihre neue Heimat auch erkämpfen müssen, hatten die Bojer vertrieben und schienen seit der Zeit weder an Kämpfen mit den Germanen noch mit den Römern interessiert. Obwohl, Arminius wusste aus seiner Zeit im römischen Heer, dass Marbod oder Maroboduus, wie die Römer ihn nannten, keiner Herausforderung ausweichen würde. Er war in Rom ausgebildet worden, hatte seine Jugend in Rom verbracht und war mit den römischen Verhältnissen bestens vertraut. Man wusste von ihm, dass er jetzt bestrebt war, sein Volk möglichst aus dem Einflussbereich der Römer herauszuhalten, um so ungestört seine eigene Macht entfalten zu können. Seine Truppen waren nach römischem Vorbild ausgebildet, und seine Stellung bei den Markomannen war unangefochten. König nannte er sich sogar! Welchen Einfluss würde nun Inguiomer, dieser graubärtige Heißsporn, auf ihn nehmen? Marbods Heer war nicht zu unterschätzen, er befehligte siebzigtausend Mann und viertausend gut ausgebildete Reiter. Arminius erinnerte sich an Velleius, der sehr lobend von Marbod gesprochen hatte, ihn für einen Freund des römischen Volkes hielt. Velleius hatte aber auch schon damals gesagt, dass Marbod sich im Falle eines Angriffs mit äußerster Macht
widersetzen würde. Freundschaft hin, Freundschaft her, sollte der Markomannenkönig gesagt haben, ihm sei seine Freiheit lieber. Arminius verglich die Reste der cheruskischen Truppen und das Aufgebot der verbündeten Stämme mit dem Heerbann Marbods. Dass Inguiomer aber auch gerade jetzt, gerade in einem solch ungünstigen Augenblick überlaufen musste! Dieser Verräter! Genau wie sein Schwiegervater Segestes! Die Unterführer kamen zusammen. Auch Mallovendus, der Marserherzog, traf ein und brachte die erfreuliche Nachricht mit, dass die Semnonen und Langobarden von Marbod abgefallen seien. Eine Delegation sei unterwegs, sie wären bereit, mit den Cheruskern, Marsern, Chatten und den anderen Stämmen gegen den Markomannenkönig zu kämpfen. Arminius’ düsterer Blick hellte sich ein wenig auf, als er das hörte, und er schaute sich nach Ansgar um, es war, als suche er das Gespräch mit ihm. Ansgar blieb abwartend stehen. Arminius fand bittere Worte für seinen Onkel, und er verglich ihn mit Flavus, der auch immer noch in fremden Diensten sei. Ansgar, der direkt angesprochen war, entgegnete kein Wort. Arminius fuhr fort, sprach mehr zu sich selbst, man müsse die Krieger jetzt in einer Heeresversammlung davon überzeugen, dass Inguiomer die Markomannen zum Krieg hetzen würde, dem müsse man zuvorkommen, wenn die eigene Lage auch noch so schlecht sei! »Warum keine Verhandlungen?«, fragte Ansgar und blickte Arminius herausfordernd an, »warum immer gleich losschlagen, Marbod ist doch kein Römer!« Die Anführer schauten überrascht. Arminius verdrehte die Augen und erwiderte verächtlich: »Verhandlungen, Verhandlungen! Als wenn das was nützt!«
»Warum nicht!«, sagte Ansgar kühl, »Marbod ist ein gebildeter Mann, er hat politische Erfahrung, er ist kein Haudegen wie Inguiomer!« Bei dem Namen seines Onkels blitzte Arminius ihn nur kurz von der Seite an, so als wolle er sagen, was weißt du schon von meinem Onkel, doch er entgegnete nichts. Auch die andern schwiegen, ihr Herzog musste entscheiden. Ansgar gab nicht auf. »Wir sind mit den Römern noch lange nicht fertig, einen zweiten Feind in unserem Rücken können wir uns einfach nicht leisten. Marbod ist viel zu klug, um uns anzugreifen!« Kein Wort war aus Arminius herauszulocken. Ansgar versuchte es weiter. »Wir sollten wirklich Boten zu Marbod schicken, um zu fragen, ob er an seiner Neutralität festhält!« Jetzt war es Arminius, der spottete. »Vielleicht bitten wir ihn noch um Gnade, verschone uns doch bitte, lieber Marbod, wir haben so viel Schwierigkeiten mit den Römern gehabt, wir brauchen wirklich eine Ruhepause!« Die anderen lachten. Ansgar verlor seine Beherrschung. »Du hast eben von Flavus gesprochen! Ich habe damals jedes Wort gehört, das dein Bruder dir über die Weser zugeschrien hat! Er hat ja recht! Du musst dir endlich klar darüber werden, was du eigentlich willst! Der Weg nach Rom ist dir versperrt, und du weißt das! Oder willst du erst die Markomannen besiegen und dann Rom angreifen? Wäre es da taktisch nicht viel klüger, sich mit den Markomannen zu verbünden? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du eine Chance hast, nach Rom zu ziehen! Die Kimbern und Teutonen suchten neues Land, für sie war der Zug nach Rom eine Notwendigkeit! Wie willst du deine Cherusker und die anderen Stämme bei Laune halten, wie willst du ihnen tagtäglich neue Beute verschaffen? Viele sind müde, wollen nicht mehr
kämpfen! Das Gespenst des Varus hat doch längst seine Zugkraft verloren, die Krieger sprechen von Germanicus! Das ist ein Feldherr! Was willst du ihnen sagen, wie willst du sie anfeuern? Du musst nach Rom, wenn du so weitermachst! Nur so hat doch der Überfall auf die Legionen des Varus einen Sinn! Was willst du also?« Keine Antwort, nur trotziges Schweigen. »Solltest du aber Rom erobern…!« Ansgar unterbrach mit einer Geste, die andeutete, wie unmöglich ihm das schien, »… solltest du aber Rom jemals erobern können, was willst du dann? Willst du etwa Kaiser werden? Kaiser dieser verhassten Weltmacht? Arminius Imperator?« Ansgar stockte, vielleicht war er doch etwas zu weit gegangen, aber immerhin gab es das Gerücht, dass Arminius dem Marbod den Königstitel missgönne. Endlich gab Arminius seine Reserviertheit auf, fragte die anderen Anführer, ohne auf Ansgars Worte einzugehen. Die Anführer wussten keinen Rat. Ansgar versuchte es weiter. »Wir sollten Boten zu Marbod schicken, schon um Zeit zu gewinnen!« Arminius reagierte nicht! Da drehte Ansgar sich um und sagte schon im Weggehen, doch laut und deutlich, für alle vernehmbar: »Bruderkrieg!« Das saß! Arminius wurde zornig. »Schon wieder Bedenken? Verschwinde doch endlich! Du solltest längst dahin gehen, wo du eigentlich hingehörst! Warum gehst du nicht zu den Markomannen!« Ansgar blieb gelassen. Er sah ein, dass es keinen Zweck hatte, mit Arminius zu reden, er würde sich in immer neue Kämpfe verrennen, würde alles mit dem Schwert entscheiden wollen, ihm fehlten politische Begabung, taktische Klugheit. Über die Schulter antwortete er: »Nein, nein, ich habe keine
Bedenken, vielleicht bin ich nur zu feige…« Er brachte es auch jetzt noch fertig zu lächeln: »… doch fort mit dem kleinlichen Zeug, uns kümmern größere Dinge, gestern die Römer, heut die Markomannen, morgen die eigenen Brüder! Nur weiter so! Salve amice!« Jetzt war es vorbei mit Arminius’ Selbstbeherrschung, mit seiner Unentschlossenheit. Ein Zornesausbruch deutete sich an, doch Ansgar entfernte sich schnell, und eine scharfe Reaktion blieb aus, weil gerade die Gesandtschaft der Semnonen und Langobarden ankam. Arminius machte eine unwirsche Bewegung, drohte dem Kampfgefährten hinterher, doch die Zeit war ungünstig für eine Auseinandersetzung. Arminius hatte zu tun. Befehle mussten gegeben werden, jetzt durfte nicht lange gefackelt werden. Ein ganz anderer Arminius empfing die Semnonen und Langobarden, freundlich, selbstbewusst, voller Entschlusskraft.
XXIII.
Inguiomer und Marbod waren ein ungleiches Paar. Der graubärtige Cherusker mit dem grimmigen Gesichtsausdruck und der ledergegerbten Haut, der niemals lachte, und der große, schlanke, alle anderen überragende Mann mit den rotblonden Haaren, König der Markomannen, mit römischer Erziehung und Ausbildung. Kerzengerade seine Haltung, jeder Zoll ein König! Es schien unglaublich, dass Inguiomer es geschafft hatte, diesen stolzen und klugen Mann gegen die verbündeten Germanenstämme aufzuhetzen. Was mochte er im Schilde führen, dieser alte Fuchs? Was hatte er dem Marbod versprochen? Strebte er etwa immer noch den Herzogtitel der Cherusker an, ging das alles letzten Endes gegen Arminius persönlich? Durchschaute Marbod denn das Spiel nicht, sah er nicht, dass hier ein alternder Mann seinen letzten Trumpf ins verlorene Spiel warf? Die beiden musterten die markomannischen Truppen und schienen beide zufrieden mit dem, was sie sahen. Marbod stellte Inguiomer als den Mann vor, der den gesamten Ruhm für die Cherusker erkämpft habe – Arminius selbst habe nur durch Täuschung und Verrat drei Legionen in die Falle gelockt, in Wirklichkeit aber habe Inguiomer mit seinen Leuten die Römer besiegt! Inguiomer stand schweigend dabei, verzog keine Miene, seine Rechte spielte unruhig mit dem Schwertknauf. Marbod prahlte weiter mit der Stärke seines Volkes und dass sie jetzt die Cherusker zum richtigen Zeitpunkt angriffen, weil die von den Römern entscheidend geschwächt, ja sogar besiegt seien!
Die Unterführer wurden zu ihren Hundertschaften geschickt, Antreten in Gefechtsbereitschaft wurde befohlen. Inguiomer und Marbod bestiegen ihre Pferde und nahmen ihre Plätze ein. Kundschafter berichteten, dass Arminius ein Heer aufgestellt hatte, in dem auch die Semnonen und Langobarden waren. Die Heere marschierten auf. Schon die Aufstellung verriet auf beiden Seiten römische Erfahrung: geschlossene Hundertschaften, formierte Schlachtreihen. Eine neue Schlacht begann. Arminius gab seiner Reiterei den Befehl, den rechten Flügel der Markomannen anzugreifen, und sofort krallten sich beide Heere ineinander. Die Reiter der verbündeten Stämme überrannten die Markomannen und fügten ihnen schwere Verluste zu. Ein Reiter kam zu Arminius und meldete, dass die Markomannen ebenfalls den rechten Flügel angriffen. Doch bald geriet die exakte Aufstellung beider Heere durcheinander. Die Krieger zu Fuß rannten mit ihren langen Framen gegeneinander, und man merkte, dass ihnen die Schlachtreihen unsinnig vorkamen, für sie existierte nur der jeweilige Gegner. Es kam zu blutigen Zweikämpfen, Holz splitterte, Pferde wieherten auf, und die ersten Verwundeten und Toten lagen auf dem Boden. Ein Signal ertönte und meldete Arminius den erfolgreichen Durchbruch auf dem rechten Flügel der Markomannen. Aber Marbod schien ihn zu kopieren – kurze Zeit später hatte er den Durchbruch auf dem rechten Flügel der verbündeten Stämme geschafft. Erhebliche Verluste auf beiden Seiten. Freund und Feind waren kaum zu unterscheiden. Wütend stürmte Arminius vor und erspähte seinen Onkel, doch dieser wich ihm ganz offensichtlich aus.
Arminius spornte seine Leute an und hielt ihnen immer wieder Inguiomers Verrat vor. Zwei germanische Heere prallten mit unverminderter Wucht aufeinander, in Rom würde man sich die Hände reiben. Mitten im Kampfgewühl kam plötzlich eine Gruppe von markomannischen Reitern direkt auf Arminius zugeprescht, sie bahnten sich eine blutige Spur. Arminius begriff, dass sie es auf ihn selbst abgesehen hatten, und stürmte mit Wolfhart und Ansgar ihnen entgegen – die Pferde rammten einander –, Ansgar und Wolfhart versuchten, Arminius zu decken, so gut es nur ging. Ein Markomanne, der sein Schwert schon gegen Arminius gezückt hatte, wurde von Ansgar niedergemacht, während Arminius selbst einen anderen abwehrte. Wieder ein anderer schleuderte mit voller Wucht seine Frame gegen Arminius, die dessen Oberarm streifte, er wurde von Wolfhart getroffen und sank tot vom Pferd, hinter Arminius brach ein Cherusker lautlos zusammen – getroffen von der Lanze, die für Arminius bestimmt gewesen war. Die Gefahr schien abgewendet, doch da rückten Cherusker nach vorn, angeführt von Inguiomer. Cherusker gegen Cherusker! Inguiomer kämpfte wie ein tollwütiger Wolf gegen seine eigenen Stammesgenossen, hieb und stach um sich, als wolle er allein die Schlacht entscheiden. Aber Arminius zog geschickt cheruskische Hundertschaften ab und ließ Semnonen und Langobarden an die Stelle vorrücken. Doch die Cherusker ließen sich nicht schnell genug abziehen, einige Hundertschaften widersetzten sich dem Befehl, als wollten sie Inguiomer und seinen Verrätern eine Lehre erteilen. Die Schlacht konzentrierte sich immer mehr auf einen Punkt. Cherusker mit Semnonen und Langobarden gegen Cherusker unter Inguiomer. Die Markomannen waren bereits auf breiter Front zurückgedrängt. Oder war es nur Taktik? Marbod,
markomannischer Fuchs, was hast du vor? Die Römer benutzen dich, du benutzt Inguiomer, strebst nach Arminius’ Kopf. Willst du dich den Römern erkenntlich zeigen? Und Arminius, wieder mal zu hitzig bei der Sache, merkst du nicht, was hier gespielt wird? Die Übermacht wurde für Inguiomer immer erdrückender, mochte er auch toben und fluchen, sich wütend nach den Markomannen umsehen, die Schlacht war für ihn nicht zu gewinnen. Marbod hatte bereits einige Truppenteile zurückziehen lassen und den Befehl gegeben, ein Lager in den Bergen aufzuschlagen. Inguiomer kämpfte weiter. Die Cherusker der Gegenseite hätten ihn wie einen Hund erschlagen, wäre er nicht von seinen eigenen Leuten mit Gewalt vom Kampfplatz gezogen worden. Arminius’ Truppen waren so geschwächt, dass an eine Verfolgung der Markomannen oder gar an einen Sturm auf das Berglager nicht zu denken war. Die Krieger waren enttäuscht und wütend. Wieder hatte eine Schlacht für sie nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Keine Beute war in Aussicht. Ansgar, der sich heldenhaft geschlagen hatte und über und über mit Blut beschmiert war, ritt an Arminius heran und machte ihm bittere Vorwürfe, schrie ihn an, fragte, ob er nun endlich genug habe. Er wies auf das Schlachtfeld und beschuldigte ihn, leichtfertig das Leben seiner Leute aufs Spiel gesetzt zu haben. Schon murmelten einige Cherusker Zustimmung, aber Arminius verscheuchte sie mit einer herrischen Geste, sein Gesicht war schrecklich anzusehen, die Augen blutunterlaufen. Der Befehl zum Sammeln wurde geblasen, und Wolfhart tat sein Bestes, die Krieger zu zerstreuen, während der Konflikt zwischen Arminius und Ansgar sich zuspitzte.
Wolfhart geriet mit Adgandester in Streit, der sich bedrohlich entwickelte, schon hatte Adgandester sein Schwert gezückt, als Mallovendus die beiden trennte, die Marser sammelte und abzog. Missmutig rückten auch die anderen Krieger ab, nachdem sie das Schlachtfeld vergeblich nach Beute abgesucht hatten. Zorn, Spannung und Unmut hingen greifbar in der Luft, und kein Gegner war in der Nähe, an dem man Dampf ablassen konnte.
XXIV.
Ansgar ließ nicht locker mit seinen Vorwürfen, jede Ironie, aller Spott waren von ihm gewichen. Er lächelte nicht nach dieser Schlacht, keine spöttische Bemerkung kam über seine Lippen. Irgendwann im Durcheinander gerieten sie aneinander, Ansgar und Arminius. Keiner wusste zunächst Genaues, doch das Gerücht hatte sich schnell verbreitet, dass man ihn erschlagen hatte, diesen Ansgar, wie einen tollen Hund. Sofort waren einige zur Stelle in den Dörfern der Cherusker, die sagten: »Geschieht ihm ganz recht, dem Ansgar!« Weiber und Kinder, alte Leute und Krieger, die zusammenstanden, schnappten begierig das Gerücht auf. »Warum reizt er Arminius, Segimers Sohn, auch ständig!« Überhaupt, der gehörte eigentlich gar nicht zu ihnen, gehörte nicht zu ihrem Stamm, war viel eher Römer, Cherusker schon gar nicht! Wie der mit den Gefangenen gesprochen hatte! Diese unverständlichen Sprüche, diese Albernheiten! Die Cherusker schüttelten die Köpfe. Ihre Weiber sollte der bloß in Ruhe lassen! Das fehlte gerade noch! Immer sorgte der für Unruhe. Arminius hatte schon recht gehandelt! Außerdem, da konnte ja jeder kommen. Was interessierte sie Varus! Sicher, die Römer hatten komische Sitten. Mann und Frau, Frau und Mann, alles nicht so fest gefügt wie bei ihnen, den Cheruskern. Männer untereinander? Sicher, man hatte schon davon gehört, es war schon mal vorgekommen, man machte ja
schließlich keinen Hehl daraus, aber dass zwei zusammenlebten! Öffentlich! Sie konnten sich keinen Sippenverband vorstellen, in dem das funktionierte. Sicher blieb mal einer unverheiratet! Aber mit einem anderen Mann zusammen? Kriegsgefährten, ja! Auf Gedeih und Verderb, Gefolgsleute, eine Schande war es da, nicht für den anderen einzustehen. In Stücke hauen ließen sie sich für ihren Gefolgsherrn. Aber Zuneigung zeigen, wie man sie Frau und Kindern schenkte? Die Cherusker kicherten. Dieser Ansgar mit seinem losen Maul! Arminius und Varus sollten ein Verhältnis gehabt haben? Ihr Herzog das Liebchen von diesem verdammten säbelbeinigen Römer – das ging zu weit! »Richtig wild war er nach dir, dieser Römer!«, sollte Ansgar unter dem Gelächter der Krieger gesagt haben, »richtig wild, verliebt und ganz von Sinnen! Dein blondes Haar hat ihn gereizt, den alten Lüstling, Rom hatte das nicht zu bieten!« Die Cherusker hatten entsetzt auf Arminius gestarrt. Ließ der sich das gefallen? Das war doch unerhört! »Warum hätte er dir sonst so vertrauen können?«, hatte Ansgar in das bewegungslose Gesicht ihres Herzogs geschrien, »warum, sag, warum?« Die Krieger hatten einander unschlüssig angeschaut. Wie der mit ihrem Herzog redete! Einige stießen sich an. Sollten sie ihn einfach niedermachen, diesen hergelaufenen Hund? Arminius hatte die Reaktion bemerkt, winkte müde ab, gebot den Leuten, sich zurückzuhalten. Ansgar hatte weiter geschrien: »Glaubst du denn, wir im Lager hätten das nicht gewusst? Wie oft bist du bei ihm gewesen, wie oft fragte Varus – wo ist mein Arminius? Ja, ja, Arminius meus, mein Arminius, das waren seine Worte! Besitz, Besitz, typisch für einen Römer, der hatte dich total unterjocht, dich versklavt…!«
Die Krieger hatten zwar nicht alles verstanden, doch aus Ansgars Mimik und Gestik hatten sie genug erraten. Bedrohlich rückten sie auf Ansgar zu. Doch ängstlich war der nun gerade wirklich nicht. »Arminius meus, nun sprich, war’s schön mit diesem Römer?«, hatte er gerufen. »Warum musste er dran glauben, hat er dich gar verschmäht?« Wie konnte Arminius nur so mit sich reden lassen, warum erschlug er ihn nicht einfach? »Ist es schließlich verletzte Eitelkeit, die ihn das Leben gekostet hat?«, höhnte Ansgar wieder. »Nur ein Verrückter kann sich eine Schlacht gegen ein Drei-Legionen-Heer mit einem wilden Haufen ausdenken, oder ein verschmähter Liebhaber…!« Ansgar war wie von Sinnen, immer dichter trat er an Arminius heran, der die Hand um sein Schwert krampfte. »Arminius meus, dein Varus ruft dich! Du…!« Doch weiter kam er nicht. Aper, bärenstark und seinem Herzog treu ergeben, schlug zu, schlug einfach zu, schlug mit der flachen Klinge auf Ansgars Kopf, so dass dieser besinnungslos zu Boden fiel. Die anderen waren sofort über den am Boden Liegenden hergefallen und hatten ihn mit ihren Framen durchbohrt. Arminius hatte keine Hand gerührt, sie davon abzuhalten, hieß es. Alles habe sich sehr schnell zugetragen, in der Hitze nach der Schlacht, ein Wort habe das andere ergeben, alle seien erregt gewesen, so sei es nun mal geschehen, sagten die Cherusker.
XXV.
Die Schlacht gegen die Markomannen hatte neue Wunden geschlagen, den verbündeten Stämmen neue Verluste eingebracht, aber keine Beute. Dieses Mal wurde offen von der Sinnlosigkeit weiterer Kriege gesprochen, die Krieger murrten; wenn sie auch die Markomannen zurückgedrängt hatten – niemand sprach von »Sieg«. Dieses Mal hatte auch Arminius keine Argumente mehr, die seine Krieger überzeugen konnten, auch er konnte ihnen keine Aussicht auf Beute machen. Bevor die Stämme sich in ihre Gebiete zurückzogen, äußerte besonders Adgandester seinen Unmut, er sehe keinen Sinn darin, über die Elbe vorzustoßen, die Markomannen müsse man zu Verbündeten machen, ein weiterer Krieg gegen sie sei sinnlos! Die Stämme zogen ab, unzufrieden, zermürbt vom Kampf, Raubtiere, denen die Beute entgangen war. Arminius war mit Wolfhart allein. Er schaute ihn an, zum ersten Mal seit langer Zeit betrachtete er das halbe Ohr und die vernarbte Wunde, schüttelte den Kopf und grübelte. Jetzt störte es ihn, dass Wolfhart nicht redete, einfach nicht redete. Die Anspannung ließ nach, Gedanken kamen. Hatten sich die Kämpfe und Schlachten überhaupt gelohnt? Würden die Römer wiederkommen? War ihr Angriffs- und Eroberungswille jetzt endlich gebrochen? Würden sie endlich die Rheingrenze einhalten? Konnte er ein eigenes, freies Reich aufbauen? Solche Fragen konnte man mit Wolfhart nicht besprechen! Fast ein wenig ärgerlich schaute er auf den treuen
Kampfgefährten, der ohne zu klagen seine Wunden betrachtete. Ansgar…! Nein, daran wollte er nicht denken. Ansgar war tot. Geschah ihm recht so! Hätte er es verhindern können?
Ein Bote von Inguiomer wurde gemeldet. Von Inguiomer? Arminius sprang auf – der hatte Nerven, nach allem, was vorgefallen war! Ein Bote von einem Verräter? Die erste Reaktion war, den Boten einfach wegzuschicken oder ihn gar in Ketten legen zu lassen. Unwirsch befahl er dann, ihn vorzulassen, und hörte ihn mit grimmigem Gesicht an. Inguiomer wollte eine Unterredung mit ihm an der Grenze des Cheruskerlandes. Sofort! Nachricht von Thusnelda! Das war alles. Arminius war nicht in der Lage, etwas zu erwidern, keine Zusage, keine Absage. Der Name Thusnelda brach alte Wunden wieder auf, machte ihn schwermütig. Unangefochten ließ man den Boten ziehen. Arminius hatte Wolfharts fragenden Blick mit einer müden Geste abgewehrt. Woher hatte Inguiomer Nachricht von Thusnelda? War das eine Falle, ein Köder? Oder hatte der alte Fuchs tatsächlich etwas in Erfahrung gebracht? Thusnelda und sein Sohn als Geiseln in Rom! Wolfhart räusperte sich, fragte, ob er einige Krieger als Begleitmannschaft zusammenstellen sollte. Arminius nickte müde. Konnte er es sich leisten, dieses Angebot auszuschlagen? Auch wenn es eine Falle war? Gab es doch noch eine vage Hoffnung, Thusnelda wiederzusehen? Arminius wusste, aus welchem Holz sein Onkel geschnitzt war, der gab niemals auf! Niemals!
Die Krieger standen bereit, und auch Arminius bestieg sein neues Pferd Gullin, nach Wodans Rieseneber Gullinborsti benannt, ein Pferd, das er nach Sleipnirs Tod besonders liebgewonnen hatte, das ihm Glück bringen sollte im Kampf. Der Hengst wieherte vor Freude auf, doch Arminius fand keine Zeit, die Zuneigung zu erwidern. Seine Gedanken waren weit entfernt. Die Cherusker ritten schweigend durch dichten Wald, bahnten sich mühsam einen Weg, und niemand wusste genau, wo Inguiomer sie erwartete. Nach einiger Zeit hörten sie ein Hornsignal, dem sie folgten. Und wenn sie nun in eine Falle der Markomannen hineinritten? Arminius zuckte die Achseln. Das mussten sie riskieren! Er bot ihnen an, allein weiterzureiten, dachte an Ansgars Worte, dass er leichtfertig das Leben seiner Krieger aufs Spiel gesetzt habe, doch davon wollte keiner etwas wissen. Wie konnten sie ihren Gefolgsherrn allein reiten lassen? Wodans Verachtung würde sie treffen, eine Ehre musste es für sie sein, ihren Herzog zu begleiten! Rache würden sie nehmen an Inguiomer, dem Verräter! Da! Wieder das Hornsignal! Kurz darauf hatten sie den markomannischen Hornbläser erreicht und folgten ihm. Sie verließen den Wald und ritten in eine Ebene. Schon von fern sahen sie Krieger, etwa eine Hundertschaft, schätzte Arminius. Markomannen. Inguiomer, unübersehbar, unter ihnen. Arminius ritt mit seinen Kriegern schweigend heran. Sie umfassten ihre Waffen, bereit, bei jeder verdächtigen Bewegung der Markomannen loszuschlagen. Nervöse Spannung auf beiden Seiten. Arminius hielt sein Pferd Gullin knapp vor dem des Onkels an. Inguiomer zeigte keine Spur von Unsicherheit. Misstrauisch musterte er Arminius’ Gefolge, zog die
Mundwinkel herunter. Reden war nie seine Stärke gewesen. Das, was er zu sagen hatte, stieß er fast unwillig heraus, er habe Verbindung mit Flavus: Thusnelda und Arminius’ Sohn Thumelicus könnten gegen alle römischen Gefangenen ausgetauscht werden, er verlange dazu die gesamte Beute, auch die römischen Legionsadler! Inguiomer schwieg und blickte den Neffen an. Die stechenden Augen unter den buschigen Brauen glichen denen eines Raubvogels. Alle Gefangenen? Alle Adler? Alles umsonst?, dachte Arminius. Die römischen Adler sollten sie zurückgeben? Ein höhnischer Zug trat in sein Gesicht, und er starrte den Onkel mit fast mitleidigem Grinsen an. Die Abzeichen der verhassten römischen Macht sollten sie zurückgeben? Die Symbole der stolzen Legionen 17, 18 und 19, die sie vernichtet hatten und deren Nummern seitdem nicht wieder vergeben worden waren! Seine Empörung wuchs. Er hätte das ahnen müssen, hätte sich nie mit Inguiomer auf Verhandlungen einlassen dürfen. Der verstand nur eine Sprache! Er blickte den Onkel verächtlich an. Die Adler, die sie den germanischen Göttern geweiht hatten, sollten sie jetzt zurückgeben? Dass die ganze Welt sagen würde, Arminius sei besiegt! Dass Germanicus sich mit den begehrten Adlern schmücken könnte? Niemals! Arminius riss sein Pferd herum. Er würde wieder Boten schicken, schrie Inguiomer ihm nach, wenn Flavus ankomme, dies sei seine letzte Chance, Frau und Kind zu sehen! Ärgerlich zogen sie ab. Das hatte sich Inguiomer fein ausgedacht, er hatte gewusst, was Thusnelda für ihn bedeutete. Arminius von Inguiomer und Marbod besiegt, würde es überall heißen. Ganz Rom würde triumphieren! Kalter Hass lag in
seinen Augen, als sie zurückritten, unbehelligt von den Markomannen. Doch sie waren auf der Hut, sie mussten mit allem rechnen. Aber es gab keinen Hinterhalt, Marbod hatte seine Hände im Spiel, daran gab es keinen Zweifel.
XXVI.
Chariomannus, Händler zwischen Germanen und Römern, wandelnde Nachrichtenquelle, erwartete die Cherusker, die müde und enttäuscht zurückkamen. Bleich und eingesunken, von Verwundungen gezeichnet, kam ihm Arminius vor, kaum gönnte er ihm einen Gruß, verriet keine Freude über das Wiedersehen. Früher im Lager der Römer waren sie gute Bekannte gewesen, da hatte er den Hilfstruppenführer Arminius ganz anders kennen gelernt – jung und voller Tatendrang. Der Arminius, den er jetzt wiedersah, war merklich gealtert, sein blondes Haar klebte am Kopf, die Augen lagen tief in den Höhlen, erschöpft, zerschlagen und aufgerieben wirkte der Cheruskerherzog. Chariomannus strich über den weißen Bart, zog ein Stück Pergament aus seinem Umhang hervor und überreichte es Arminius. Der sah ihn fragend an, drehte das Pergament in den Händen – ein Brief. Unschlüssig abwartend blieb Chariomannus stehen. Ein Brief von Velleius Paterculus an den Cheruskerherzog, den Verräter und Staatsfeind, wie die Römer ihn seit der Varuskatastrophe allgemein nannten. Chariomannus hatte gewusst, dass es keine einfache Aufgabe sein würde, diesen Brief zu überbringen, hatte es Velleius auszureden versucht, doch Velleius hatte darauf bestanden, wollte diese Botschaft an Arminius in ein Geschichtswerk aufnehmen, hatte ihm eine fürstliche Belohnung in Aussicht gestellt. Arminius starrte auf das Pergament. Ein Brief von Velleius? Noch einer? Velleius und auch dessen ersten Brief hatte er
völlig vergessen. Die Erinnerung an ihn schien aus einer anderen Welt zu stammen. Die lateinischen Buchstaben verschwammen vor seinen Augen… Warum musste der Brief ausgerechnet jetzt kommen? Was wollte Velleius noch von ihm? Was hatte er ihm noch zu sagen? Er zwang sich zu lesen. Der kurze Brief begann mit seinem Namen, Arminius übersetzte und murmelte vor sich hin: »Arminius, wahre Freunde hast du, mit denen du Rom besiegen wolltest! Segestes und Inguiomerus wechselten vorsorglich die Fronten. Ein treuer Freund auch der Chattenherzog! Adgandestrius heißt die Schlange, die dem römischen Senat anbot, dich durch Gift zu beseitigen! Rom braucht keine Verräter! Kehr um, solange noch Zeit ist! VP.« Arminius starrte auf die Initialen des Velleius Paterculus und las den kurzen Brief noch mal. Chariomannus und Wolfhart schauten ihn fragend an. Adgandester ein Verräter? Der Chattenherzog? Hatten sich denn plötzlich alle gegen ihn verschworen? Wieder las er den Brief: »… Adgandestrius heißt die Schlange… Rom braucht keine Verräter…!« Endlich begriff er. Für Rom war er keine Gefahr mehr! Er kannte römische Taktik zu gut, niemals hätte man einen Giftmord ausgeschlossen, wenn ernsthafte Gefahr für Rom bestanden hätte! Adgandester auch ein Rivale? Sollte er jetzt auch noch gegen die Chatten ziehen? Einen Augenblick lang erwog er ernsthaft den Gedanken, doch dann drängten sich Inguiomer, Marbod und die Markomannen wieder in den Vordergrund. Konnte er
es zu diesem Zeitpunkt riskieren, seine Kräfte aufzuspalten? War er nicht auf die Chatten angewiesen? Adgandester musste ausgeschaltet werden! Er vertraute dem Brief, warum sollte Velleius gelogen haben? Und wenn doch? Bei der Ratsversammlung würde man ja hören, was Adgandester selbst zu der Anschuldigung zu sagen hatte! Er beauftragte Wolfhart, eine Thingversammlung einzuberufen, die Angelegenheit vertrug keinen Aufschub.
XXVII.
Am Tage nach Vollmond wird die Thingstätte abgesteckt. Die Krieger haben Platz genommen. Alle Vollfreien sind geladen, alle haben ihre Waffen dabei. Die Marser, die Chatten, die Brukterer und alle anderen Stämme des Bündnisses, auch die Semnonen und Langobarden sind eingeladen worden. Arminius hatte die Stammesfürsten mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßt, ihnen ehrenvolle Plätze zugewiesen; Adgandester ist unter ihnen. Keiner ahnt etwas, keiner weiß etwas von einem Brief, außer Wolfhart, und auf den ist Verlass, unbedingter Verlass. Die Priester eröffnen die Thingversammlung, sorgen für Ruhe und Ordnung, mahnen die längst fälligen Opfer für die Götter an, die man im Opfermoor versenken muss, Pferdeköpfe, Beutewaffen, auch Menschen, um sie wieder zu versöhnen, um das Kriegsglück zu wenden. Die Führer und Herzöge versprechen es. Arminius gelobt es feierlich, wenn der Krieg mit Marbod beendet sein wird, dann sollen die Götter ihre Opfer haben. Die Thingversammlung soll über den Krieg mit den Markomannen beraten. Der Cheruskerherzog hat das Wort. Längst ist er nicht mehr unangefochten der alleinige Führer. Die Herzöge bleiben reserviert. Doch plötzlich horchen sie auf. Einen Brief liest er vor, der Cherusker, einen Brief von einem Römer. Von wem? Von einem Römer, den Namen haben sie nicht verstanden. Adgandester ein Verräter? Sie blicken den Chattenherzog argwöhnisch an, greifen entrüstet zu ihren Waffen. Adgandester steht furchtlos auf, trotzig blickt er in die Runde, wirft den Fellumhang von der breiten Brust zurück. Eine
Schmährede gegen Arminius hält er, der sie in immer neue, nutzlose Kriege verwickeln würde, die keine Beute einbrächten! Das Kriegsglück habe ihn verlassen, es sei an der Zeit, einen neuen Führer zu wählen! Die Thingleute murren, drücken ihm ihre Missbilligung aus. Erstaunt schauen sie einander an, besprechen sich erregt untereinander, können es kaum fassen. Drohende Rufe werden ausgestoßen, Fäuste ballen sich. Die Priester treten vor, und die Erregung legt sich langsam. Sie sprechen das Urteil über den Verräter, sie erinnern an den Schwur, den auch Adgandester geleistet hat; der Chattenherzog hat den Eid gebrochen, er muss sterben. Es kommt zu einem Tumult, chattische Krieger wollen in den Thingplatz eindringen. Werden sie es wagen, die heilige Stätte zu betreten? Die Priester weisen sie drohend ab. Arminius weiß, dass er sich auf Wolfhart verlassen kann, er steht mit dem cheruskischen Heerbann bereit. Er würde sofort eingreifen, wenn die Chatten es wagen sollten, sich dem Spruch der Thingversammlung zu widersetzen. Arminius erhebt offene Anklage gegen Adgandester. Seine Rede ist kurz, drohend, und es gibt gegen sie keine Einwände. Die Thingmänner schlagen die Framen aneinander, drücken dem Cheruskerherzog ihre Zustimmung aus. Fast alle haben sich von den Plätzen erhoben, nur wenige Freunde hat er in diesem Augenblick, der Chattenherzog. Adgandester wird ergriffen und von Cheruskern abgeführt, Chatten drängen nach, und es kommt zu einem Handgemenge. Wolfhart greift mit seinen Kriegern ein und drängt sie unblutig zurück, sie haben gegen die Übermacht der Cherusker keine Chance. Trotzdem kommt es zu regelrechten Kämpfen. Die Thingleute verlassen den abgesteckten Bezirk… Die Priester beschwören die Götter. Der Widerstand der Chatten
wird gewaltsam gebrochen, das Urteil gegen Adgandester sofort vollstreckt. Da stoßen die Chatten wilde Verwünschungen aus, drohen, ihren Herzog zu rächen. Sie müssen weichen, doch sie entfernen sich nur zögernd, neue Feinde sind sie von nun an. Die Angelegenheit ist noch lange nicht erledigt! Sie werden einen neuen Herzog wählen, einer wird sich finden. Dass Adgandester mit den Römern im Bunde stand, können sie nicht glauben, sie halten das Ganze für ein Komplott der Cherusker. Wolfharts Krieger vertreiben die letzten Chatten. Nach und nach beruhigen sich die Männer und kehren an ihre Plätze zurück. Die Thingordnung ist wiederhergestellt. Nun beginnt die eigentliche Beratung. Einhellig kommen sie zu dem Ergebnis: Der Krieg mit den Markomannen muss fortgesetzt werden, der Verräter Inguiomer muss seine gerechte Strafe erhalten! Verhandlungen werden aber nicht ausgeschlossen, wenn die Markomannen Inguiomer ausliefern. Die Thingversammlung bekräftigt den Schwur und bestätigt Arminius als ihren obersten Gefolgsherrn für die Dauer des Krieges.
XXVIII.
Markomannen im Cheruskerland! Stolze, furchtlose Reiter, eine ganze Hundertschaft. Doch sie kommen in friedlicher Absicht, bieten Verhandlungen an, ein Treffen mit ihrem König. Marbod wolle den Frieden, berichten sie cheruskischen Unterhändlern. Eine Botschaft an Arminius übergeben sie: ein Treffen mit Inguiomer und Flavus, seinem Bruder! Verhandlungen mit Rom über die Freilassung Thusneldas und ihres Sohnes! Freies Geleit werde zugesichert. Marbod halte sein Wort! Selbstbewusst drehen die Reiter um, niemand hatte es gewagt, sie zu bedrohen. Sie bewegen sich frei, als habe es niemals Krieg zwischen Cheruskern und Markomannen gegeben. Die Botschaft wird Arminius sofort überbracht. Der ist unschlüssig, zaudert und zögert. Flavus! Sein Bruder, Inguiomer und Marbod! Er müsse erst den Rat der Thingversammlung einholen! Die habe Verhandlungen nicht ausgeschlossen, erinnert ihn Wolfhart. Wenn, dann ziehe er nur mit dem gesamten Heerbann zu den Markomannen, beharrt Arminius störrisch. Die Stammesfürsten werden benachrichtigt, ihre Antwort fällt mehr als ungnädig aus. Schon wieder ein Heer? Schon wieder ein Kriegszug? Verständlich, dass von den Chatten erst gar keine Nachricht kommt. Auch die Semnonen und Langobarden äußern sich unentschlossen. Die Brukterer, die Chatuarier, die Usipeter, die Chasuarier und auch die Tubanten schicken nur kleine Abordnungen. Mallovendus, der Marserfürst, erscheint,
doch auch er glaubt nicht so recht an einen Erfolg, von Verhandlungen hält er schon gar nichts. Das Aufgebot setzt sich in Bewegung. Gullin, Arminius’ Pferd, ist von den Knechten besonders fein herausgeputzt und mit neuem Zaumzeug versehen worden. Unruhig und nervös tänzelt es, voller Bewegung die Ohren. Arminius gibt sich schwungvoll, spricht den Männern Mut zu, macht ihnen neue Hoffnung. Eine Hundertschaft cheruskischer Krieger wird bestimmt, die sich bis zum Unterredungsplatz durcharbeiten soll, wenn das Heer zurückbleiben muss. Aper wird sie führen. Arminius traut weder Marbod noch Inguiomer und schon gar nicht seinem Bruder Flavus. Der Weg ist bekannt. Wieder werden sie von einem markomannischen Hornbläser geleitet. Als sie ihn erreichen, richtet er eine Botschaft Marbods aus. Das Gefolge muss am Waldrand zurückbleiben, so will es der Markomannenkönig. In der Ebene unter der Eichengruppe werden sie nur auf Inguiomer und Flavus treffen. Nur der Cheruskerherzog und sein Begleiter, das sind die Bedingungen. Marbod selbst werde sie später empfangen. Arminius muss die Bedingungen annehmen, die Möglichkeit, Thusnelda Wiedersehen zu können, darf er sich nicht verbauen. Die Gedanken an den nie gesehenen Sohn lassen sein Herz schneller schlagen. Eine Hundertschaft weiß er zur Sicherheit in seiner Nähe. Wolfhart und Arminius reiten allein weiter, Mallovendus bleibt mit dem gesamten Heerbann zurück. Aper sammelt seine Leute und reitet unauffällig mit ihnen in den Wald zurück. Die Ebene ist völlig leer, Arminius und Wolfhart sehen keinen einzigen markomannischen Krieger. Wo hält sich
Marbod versteckt? Der versteht es, sich geschickt im Hintergrund zu halten! Unter den Eichen sehen sie zwei Reiter. Als sie herankommen, erkennen sie Inguiomer und Flavus. Inguiomer sitzt auf einem temperamentvoll tänzelnden Fuchshengst, Flavus in germanischen Kleidern, das rechte Auge durch eine Binde verdeckt, sitzt auf einem Römerpferd, einem Rappen. Er sitzt aufrecht, den Kopf hoch erhoben; er macht den Eindruck eines stolzen und selbstbewussten Mannes, der weiß, was er will, und der von seinen Zielen kein Stück abweichen wird. Arminius ignorierte Inguiomer und schaute Flavus direkt an, er schien entschlossen, die Angelegenheit schnell hinter sich zu bringen: »Nachricht von Thusnelda?« Flavus nickte mit dem Kopf. »Und?« »Die Bedingungen hat Inguiomer dir genannt!« Inguiomer saß mit finsterer Miene auf seinem Pferd und hörte dem Wortwechsel der feindlichen Brüder zu. »Schickt dich Germanicus?«, fragte Arminius spöttisch, »braucht er noch Geiseln für den Triumphzug, glaubt er etwa tatsächlich, wir seien geschlagen?« Flavus zuckte verächtlich die Achseln. »Was wollt ihr denn noch? Tiberius hat ihn abberufen, weil keine Gegenwehr mehr kam, Germanien gilt als erobert, daran wirst auch du nichts mehr ändern!« Arminius schluckte. Wolfhart an seiner Seite rührte sich nicht. »Kannst du verhindern, dass deine Frau und dein Sohn im Triumphzug mitgeführt werden? Dein Schwiegervater Segestes wird auch dabei sein, natürlich auf einem Ehrenplatz, auf der Tribüne!« »Eure Bedingungen!«, schrie Arminius voller Erregung.
»Bedingungen…«, erwiderte Flavus schroff, »… unsere Bedingungen sind gestellt, Herausgabe der Gefangenen, der Legionsadler, der gesamten Beute der Varusschlacht! Ihr müsst Steuern zahlen, Abgaben leisten, wie andere Provinzen auch! Die Regeln bestimmt der Sieger!« Arminius sprang wutschnaubend vom Pferd. Welche Sicherheit hatte er denn, dass er tatsächlich Thusnelda Wiedersehen würde? Die Pferde wurden unruhig und wieherten vor Schreck laut auf. Auch Flavus war sofort vom Pferd gesprungen, die Hand vorsorglich am Schwertgriff. Voller Wut und Hass schrie Arminius den Bruder an: »Mein eigener Bruder wagt es, mir diese Bedingungen zu nennen?… du Verräter, du ehrloser Lump…!« Flavus wich keinen Schritt zurück, ruhiger als der Bruder erwiderte er brüsk, mit steinernem Gesicht und einer Stimme, in der auch Stolz und Triumph mitklangen: »Rom stellt die Bedingungen! Es sind Roms Forderungen, die ich überbringe!« Arminius brüllte und stürzte auf den Bruder zu, wollte ihn packen, doch Inguiomer drängte die beiden auseinander. Flavus goss jetzt seine ganze Genugtuung aus: »Rom hat dich in deine Schranken verwiesen! Es ist aus! Der große Cheruskerherzog, der die spärliche Sonne Germaniens allein für sich in Anspruch nahm, ist auf sein wahres Maß zurechtgestutzt worden!« Bei den letzten Worten war er unwillkürlich in die lateinische Sprache gefallen, und Arminius stichelte: »Mein eigener Bruder, dem seine Muttersprache schon fremd geworden ist! Warum kommst du eigentlich nicht als römischer Offizier zu mir?« Flavus verlor seine Zurückhaltung, baute sich vor dem Bruder auf, schrie ihm ins Gesicht: »In der Tracht des römischen Offiziers wirst du mich noch früh genug sehen,
denn wir Römer kommen wieder, dann wird es keinen Tiberius mehr geben, der einen siegreichen Feldherrn zurückpfeift!« Seine Augenbinde war ihm vom Gesicht gerutscht, schrecklich war sein Gesicht anzusehen, voller Hass und unverhohlener Wut zischte er: »Zertreten werden wir dich, wie einen Wurm…!« Das war zu viel. Arminius zog sein Schwert, die Brüder hieben aufeinander ein, beide zum Äußersten entschlossen. Wolfhart und Inguiomer machten den Streithähnen Platz, abwartend und kampfbereit beobachteten sie die Kämpfenden, jederzeit bereit, selbst einzugreifen. Wolfhart riss sein Horn an den Mund, Signal für die cheruskische Hundertschaft in der Nähe. Auch Inguiomer gibt mit unerschütterlicher Ruhe ein Signal – Markomannen stürmen vom Waldrand heran. Bald darauf prescht auch Aper mit cheruskischen Kriegern auf die Eichen zu. Die feindlichen Brüder kann niemand trennen, Wolfhart behält Inguiomer fest im Auge. Flavus muss zurückweichen, so ungestüm, so hasserfüllt schlägt Arminius auf ihn ein, doch da – er gibt einen Augenblick nicht acht, stolpert über eine Baumwurzel, fängt sich zwar sofort wieder und wehrt dabei geschickt einen Hieb von Flavus ab, dreht dabei aber für den Bruchteil einer Sekunde Inguiomer den Rücken zu. Während im selben Augenblick Wolfhart vom Pferd gesprungen ist, um seinem Herzog beizustehen, schleudert Inguiomer, die Situation eiskalt ausnutzend, seine Frame mit furchtbarer Kraft in Arminius’ Rücken. Inguiomers Hengst bäumt sich auf, erschreckt durch die heftige Bewegung. Arminius liegt röchelnd am Boden, der Speer des Onkels hat ihn durchbohrt. Flavus blickt den Onkel wütend an, schon scheint es, als wolle er das Schwert gegen ihn erheben, doch da sind schon
alle unter den Eichen, da kämpft bereits Mann gegen Mann. Cherusker und Markomannen schlagen aufeinander ein. Inguiomer, finster und grimmig wie immer, wehrt sich verbissen, Wolfhart achtet nicht auf die Markomannen, beugt sich über Arminius. Dessen Hände krallen sich in den Boden, ein letztes Röcheln, Todesgestöhn – das Gesicht sinkt auf den Boden. Als die Cherusker begreifen, was geschehen ist, werden sie zu wilden Tieren; sie schlagen mit verdoppelter Kraft auf die Markomannen ein und hauen alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt. Die Markomannen sind nicht voll bei der Sache, was geht sie das alles an! Inguiomer und Flavus wehren die Cherusker ab, weichen dabei immer mehr zurück, drehen bald die Pferde und jagen mit den Markomannen in wilder Flucht davon.
Zurück, zurück! Das Ganze noch mal. Helden sterben nicht so einfach! Dunkel, Mythos und Nebel liegen über der Szene, Nibelungen und Siegfried und feuerspeiender Drache, undurchdringliche Wälder – ein ewiges Geheimnis, weit, sehr weit von uns entfernt. Beobachter auf urgeschichtlicher Szene. Meine sensorische Kamera gibt vor Staunen, Schrecken und Verwunderung die Eindrücke nur verzögert wieder. Komische Verrenkungen machen sie, die – »Helden«. Vergrößert, vergröbert, verlangsamt, im Zeitlupentempo: Arminius zieht und zieht das Schwert, Flavus Bruchteile von Sekunden später, extensiver Aufprall der Waffen und zurück, Verdrehen, Hochreißen, Senken von Armen und Beinen. Flavus weicht gemächlich,
Arminius bedächtig folgend und zuschlagend, doch noch in der Langsamkeit sind die Wucht und die Kraft seiner Schläge zu erahnen. Es dauert und dauert, bis Wolfhart sein Horn am Mund hat und aus dem Unterholz schleppend sich Cherusker um ihn scharen. Inguiomer zieht sein Schwert, betulich, bleibt stur im Sattel sitzen, die Frame in der Linken. Flavus, ruckweise, rückt vor, Arminius weicht nicht, pariert, Wut und Verzerrung in beiden Gesichtern, Zug um Zug verzerrter, mechanisch die Bewegungen, gebremst und stockend Zusammenstöße, die Treffer auskostend, lang anhaltend. Vorbereitung zum neuen Schlag im Ansatz erkennbar, Gegenreaktionen einkalkulierbar. Flavus reagiert sichtbar falsch. Replay! Baumwurzel groß im Bild. Arminius’ Stolpern in langen Abschnitten, Drehung des Körpers im Fallen, Abwehrreaktion, Parieren, neue Position. Römischer Drill erkennbar im Nahkampf bei beiden. Fast kreisende Bewegungen des rechten Arms, Schwung holen von hinten, die Spitze drohend auf Flavus und immer noch drohend – ja rennt der denn nicht weg –, endlich, endlich trifft die Spitze den Flavus ganz sanft,
so scheint es, an der Schulter Und Rückstoß und Gegenschlag und Drehungen tropfenweise, fast feierlich. Erneuter Zusammenprall der Schwerter und stufenweiser Rückprall der Waffen und Zug zum eigenen Körper und Ausholen in Abschnitten und Ansatz zum nächsten Schlag. Gestreckt die Vorwärtsbewegung der Waffen, nach geraumer Zeit erst Eintreffen beim Gegner, Arminius im Vorteil – Reaktionen im Zeitlupentempo. Verwundung, Schlag auf Schlag, Flavus verzieht das Gesicht, schrecklich die Narbe im Bild, das fehlende Auge. Kameraschwenk! Reaktionen der Cherusker im Hintergrund – lang anhaltend, zeitraubend und umständlich, grotesk. Das Pferd Inguiomers im Vordergrund bäumt sich auf, sehr ruhig, fast statisch und sanft in Arminius’ Rücken, steigt ständig höher hinauf. Meine Sinne ahnen die Dynamik der Langsamkeit, die Todsicherheit, fast möchte ich schreien – da drüben – bedächtig kommt die Spitze ins Bild, allmählich Inguiomers Arm im Schneckentempo und weiter und weiter, unaufhaltsam kriecht sie heran, entdeckt sie denn keiner, die Frame, die Spitze, drohend zieht sie auf den Rücken,
den breiten, des Helden zu. Wer kann aufhalten die Vernichtung, geschleudert von des Onkels missgünstigem Arm? Flavus dringt vor, synchron, doch fast tranig. Arminius pariert den Vorstoß gemütlich, Zeit hat er, der Befreier Germaniens, zeig’s ihm, dem Römling, Welten zwischen feindlichen Brüdern, brauchten nur wegzuwerfen die Waffen und Frieden zu schließen, so einfach, so scheint es, doch da, da trifft ein die bummelnde Frame, macht Mythos, nährt Sagen, schafft Ballast für Weltgeschichte, das Stück Holz mit dem Eisen, geschmiedet in den Wäldern Germaniens, trifft gründlich und tief, des Oheims Tücke und Neid. Langsam das Fallen und Aufbäumen, die Kraft des mythischen Helden noch sichtbar im Tode – Varus, ich folge dir, in die Heimstatt der Götter, wenn es die gibt – Walhall für Germanen und Römer, dort werden wir jagen, friedlich vereint, und zechen wie einst, denn schließlich waren wir Freunde. Das Zucken der Muskeln, grässlich hautnah und lange,
gestützt noch der Körper, das Schwert ihm entfallen, und Röcheln und Stöhnen und Sinken des Gesichts auf den Boden. Das Abwarten des Mörders, Zurückziehen des Pferdes – Inguiomers und Flavus Abgang ganz schleppend. Ein Auge nur, ganz groß im Bild, Flavus Codes, das Raubtier, verächtlich zuckend und schwerfällig der Blick zum Onkel – was mischst du dich ein, nahmst mir die Beute. Doch der bewegungslos, still, wer legt sich an mit mir, wagt es zu kämpfen? Schwenk auf die Begleiter – wie hätten sie es wagen können einzugreifen, verdutzt und verdattert stehn sie noch immer herum. Slow Motion der Szene, Cheruskerhintergrund jetzt gewaltig trotz Verharrung und Wut und Empörung und dynamischer Kraft, den Gefolgsherrn zu rächen. Herum reißt der Onkel das Pferd, den Kopf des erschrockenen Tieres, ganz nahe auch Flavus, schwingt sich aufs Pferd, gleitet nach oben und sitzt dann im Sattel, als bedrohliche Framen von hinten kommen sachte ins Bild, doch die Bewegung der Pferde, gewaltig die Anstrengung, der Schlag in die Flanken, sie ziehen den Framen, den tödlichen, wenn auch nur knapp, davon. Fast scheint es, dass eine den Schwanz des Pferdes noch träfe, Arme und Beine ruckhaft verzerrt,
Vorbeugen der cheruskischen Krieger, den Flug der Framen verstärkend, da löst sich die Sperre. Die Bewegungen werden schneller, Flüche werden hörbar auf Inguiomer, auf Flavus, auf die ganze Brut, die Hinterläufe der Pferde sind im Nu verschwunden, wie ein Spuk galoppieren sie davon, mit unheimlicher Schnelligkeit von den dunklen Wäldern verschluckt.
Nachspiel
Kaiser Claudius zuckte heftig mit dem Kopf. Er sah blass und abgehärmt aus. Seine weißen Haare umstanden wirr den großen Kopf, die geröteten Augen blickten trostlos drein, der ganze Körper war in sich zusammengesunken. Die ewigen Auseinandersetzungen mit Agrippina, seiner zweiten Frau, regten ihn sehr auf. Seine ohnehin überreizten Nerven waren den permanenten Streitereien nicht länger gewachsen. Man hatte schon sein Schicksal zu tragen, dachte er, und die Frauen erleichterten es auch nicht gerade. Seine erste Frau, Messalina, hatte beseitigt werden müssen, als ihr Ehrgeiz für Rom eine Gefahr wurde, so hatte man ihm jedenfalls gesagt. Wem sollte er glauben? Und nun Agrippina, die schöne, stolze Frau. Ehrgeiz und unstillbarer Machthunger! Diese einzigartige, kluge Frau – Tochter eines Imperators, Schwester eines Kaisers, vielleicht auch sogar noch Mutter eines Kaisers, wenn ihr Sohn Nero, den sie mit in die Ehe gebracht hatte, einmal Kaiser werden würde, denn darauf lief alles hinaus. Schließlich war sie ja auch noch Gattin eines Kaisers, fiel ihm ein, er war ja auch noch da, war ja immerhin Kaiser, was ihm manchmal entfiel. Was wollte sie also, diese Frau? Konnte sie nicht zufrieden sein. Nero hier, Nero da! Immer wollte sie besondere Vorrechte für ihren Sohn! Claudius dachte sehnsüchtig an seine Zeit als Historiker und Schriftsteller zurück – das waren glückliche, unbeschwerte Jahre gewesen!
Ganz gegen seinen Willen hatten die Prätorianer ihn nach Caligulas gewaltsamem Tod zum Kaiser gemacht, warum gerade ihn, den hinkenden, stotternden alten Mann, der dauernd mit dem Kopf zuckte? Claudius seufzte. Er dachte an seinen eigenen Sohn, Britannicus, der von Nero immer mehr verdrängt wurde. Britannicus war viel zu bescheiden und rechtschaffen! Er, Claudius, liebte seinen Sohn, wenn er es ihm auch nie hatte zeigen können. Vielleicht aber war der Kraftprotz Nero genau der Richtige, vielleicht musste er einfach alles nur laufen lassen, um das Kaisertum endgültig unmöglich zu machen, damit die Republik doch noch eine Chance bekäme! Was waren das für grausige Jahre unter Gaius Caligula, niemand war seines Lebens sicher gewesen, er selbst am allerwenigsten. Fast täglich war er dem Spott und den üblen Scherzen des Neffen ausgesetzt gewesen, dem Sohn seines Bruders Germanicus! Claudius wurde aus seinen Tagträumereien gerissen, als ein Prätorianer eintrat. Ärgerlich blickte er den Leibgardisten an. Das Kopfzucken wurde noch heftiger, stotternd fuhr er den Mann an: »Was wi-willst du?« »Du hast Italicus zur Audienz bestellt, Caesar!« »Ne-nenn m-mich nicht immer Caesar, du Idiot! Verschwinde! N-nein – lass ihn rein!« Als Italicus, Sohn des Flavus, Neffe des Arminius erschien, blickten die geröteten Augen des Kaisers verwundert auf die hochgewachsene, kräftige Gestalt des jungen Mannes. Er blinzelte. Stattlich, stattlich, dachte er. Gekleidet wie ein Römer, tadellos! Doch von Statur und Aussehen eindeutig ein Nordländer. Claudius erinnerte sich an Italicus’ Onkel Arminius und an den maßlosen Schrecken, den dieser vor Jahren Rom eingejagt
hatte, als er den Tölpel Varus überfallen hatte. Die nachfolgenden Züge seines Bruders Germanicus hatte er als Historiker mit Interesse verfolgt. Aber das war ja alles lange her, fast vierzig Jahre. Seitdem hatten die Römer kaum etwas von den Germanen gehört, Germanicus, der die Provinz erobert hatte, war auch schon lange tot. Eigenartig, dass die Germanen jetzt von den Römern einen König haben wollten, zwar von ihrem eigenen Blut, doch römisch erzogen! Er kicherte, dachte an Maroboduus, König der einst so stolzen Markomannen, König von Roms Gnaden, der nach allerlei Schwierigkeiten um römisches Asyl nachgesucht hatte. Lange Jahre hatte er in Ravenna gelebt, erst vor einigen Jahren war er friedlich gestorben. Claudius sah eine germanische Leibwache vor sich, das waren starke, verlässliche Kerle! Vielleicht sollte man diesem Italicus einige davon mitgeben! Ein König für die Germanen! Er schmunzelte, Ironie des Schicksals, schon der Name – »Italicus«! Italicus stand abwartend da, noch kein Wort war gefallen. Er hatte die merkwürdigen Blicke des Kaisers bemerkt, sein Kichern gehört und fühlte sich allmählich unbehaglich. Claudius suchte nach einer Ähnlichkeit mit seinem Vater im Gesicht des hochgewachsenen Cheruskers, doch nichts erinnerte ihn an den entsetzlich entstellten, einäugigen Flavus. Italicus hielt den Blicken des Kaisers stand, sein glattes Gesicht zeigte keine Bewegung, nur ein scharfer Beobachter hätte kleine Schweißtröpfchen auf seiner Stirn gesehen. Endlich schien Claudius einen Entschluss gefasst zu haben. Er rief seine Sekretäre. Dann sprach er zu Italicus in seltsam gespreizten und gestelzten Worten, nannte Arminius und Flavus, erinnerte an Tradition und ermunterte ihn, die seinem Hause zukommende Würde entschlossen zu übernehmen. Er, Italicus, sei ja schließlich als erster Germanenfürst in Rom
geboren, habe das Bildungsgut der Weltmacht in sich aufnehmen können und werde nicht etwa als Geisel, sondern als römischer Vollbürger mit allen Rechten und Pflichten zur Regierung eines ausländischen Reiches berufen. Claudius erwähnte die große Ehre, die es bedeute, die Nachfolge seines eigenen Bruders Germanicus anzutreten. Je länger der Kaiser redete, desto mehr fand er Gefallen an dem Cherusker. Er stotterte kaum noch und war in bester Stimmung, so dass er kurz entschlossen seinen Sekretären die Anweisung gab, Italicus ausreichend mit Geld zu versorgen und alles Nötige für ihn bereitzustellen. Dann schenkte er ihm noch eine Kohorte seiner eigenen Leibwache und entließ ihn mit den besten Wünschen, offenbar mit sich selbst sehr zufrieden. Italicus bedankte sich artig, salutierte und verließ den Kaiser mit allen Anzeichen der Genugtuung und Erleichterung – König der Cherusker würde er sein!
Mit Windeseile hatte sich das Gerücht bei den Cheruskern herumgesprochen, dass Italicus, ihr neuer König, bald bei ihnen eintreffen würde. Nur die Alten hatten noch Erinnerungen an Flavus und an Arminius, der inzwischen wie ein Held verehrt wurde. Viele Cherusker wollten Schluss machen mit dem ewigen Hader, den Streitigkeiten, den Kämpfen untereinander. Überall standen in diesen Tagen des Jahres 47 die Cherusker in Gruppen zusammen. Oft fielen die Namen Arminius oder Flavus, doch ohne Gegnerschaft, sie waren Brüder in der Erinnerung, was machte es schon, dass sie auf verschiedenen Seiten gekämpft hatten, die Jüngeren wussten ohnehin nichts davon. Die Zukunft gehörte der Jugend – Italicus, das war ein Name, eine Hoffnung. Was störte es sie, dass er aus Rom kam, na wenn schon, Rom hatte einen guten Ruf, war Weltmacht!
Als Italicus endlich eintraf, staunten die Cherusker nicht schlecht. Waren das Römer oder Germanen? Hemdartige Kleider trugen die, keine Hosen, keine Felle, sondern Stoffe, Metallstücke auf Brust und Rücken, sogar an den Beinen, genau wie die Alten erzählten. Die Cherusker gafften mit offenen Mündern. Diese Helme auf den Köpfen, mit den farbigen Federn! Verwirrt stellten sie fest, dass auch die Begleiter ihres gewünschten Königs Germanen waren. Cheruskischen und chattischen Dialekt hörten sie, blonde Haare sahen sie bei vielen, die jetzt die Helme abnahmen. Schon wurden die ersten Ankömmlinge verstohlen angefasst, die Waffen wurden begutachtet. Die Älteren erinnerten sich noch an die Schlacht gegen Varus, sie prahlten und erzählten ihre Geschichten, die den Jüngeren imponierten. Adler hatten die sogar bei sich gehabt, damals, goldene Adler, Berge von Schwertern und Rüstungen hatten sie, die Cherusker, erbeutet. Die Neuankömmlinge, die das hörten, erwähnten Germanicus und die nachfolgenden Schlachten und die Siege Roms, doch davon wollten die Alten nichts wissen. Die Blicke fielen auf Italicus. Das war also der Neffe des Siegers! Mädchen und junge Frauen kamen heran, konnten vor lauter Neugierde nicht widerstehen, kicherten und glucksten – solch ein Ereignis hatte es schon seit Jahren nicht gegeben. Italicus reckte endlich gebieterisch die Hände, versuchte, sich Gehör zu verschaffen, hielt auch eine kurze Ansprache, wobei er sich mit den cheruskischen Wörtern schwer tat – doch kaum jemand hörte zu. Keiner behielt ein Wort von dem, was er sagte, die Aufregung war viel zu groß, das Staunen nahm kein Ende. Einen König hatten sie jetzt, einen richtigen König!
Ein Jahr später. Die Veteranen der Varusschlacht haben sich versammelt und ihre Anhänger mitgebracht. Alle reden durcheinander, beschwörende Zwischenrufe werden laut. Immer wieder wird verächtlich von Italicus gesprochen. Ein weißhaariger Cherusker soll seine Meinung sagen, man muss ihn drängen, er redet nicht gern. Etwa sechzig Jahre ist er alt, unter Arminius hat er gegen Varus und dessen Legionen gekämpft, alle Feldzüge gegen Germanicus hat er mitgemacht. Immer noch kräftig und aufrecht ist seine Gestalt, Wolfhart ist sein Name, jeder erkennt ihn an seinem abgeschlagenen Ohr. Alle hören zu, was er zu sagen hat. Eine Schande sei er, dieser Italicus, eine Schande für die Cherusker, mit seinen Gastereien und Trinkgelagen. Sie selbst, die Cherusker, hätten es sich zuzuschreiben, dass Rom einen »König« schicke! Die dauernden Rivalitäten und Machtkämpfe, ob sie sich etwa gegenseitig ausrotten wollten? Ob es eigentlich keinen Mann ihres Stammes gäbe, der von allen gewählt werden könne? Ob sie die Feindschaft zwischen Arminius und Flavus vergessen hätten? Italicus’ Verwandtschaft mit Arminius sei nur Vorwand, keiner sei weniger als dieser Römling geeignet, Herzog oder, wie man das jetzt nenne, »König« der Cherusker zu werden. Man müsse sich vor Augen halten, dass sein Vater Flavus vor gar nicht so langer Zeit mit großer Erbitterung gegen seinen eigenen Stamm gekämpft habe und am Tode des Arminius mitschuldig sei. Beifälliges Gemurmel ist zu hören, die Anwesenden sind sich einig, alle geben dem alten Krieger Wolfhart recht – eine Schande ist dieser Italicus für sie, er muss beseitigt werden. Geheime Absprachen werden getroffen, Boten zu den Nachbarstämmen geschickt, die Männer bestimmen Wolfhart zu ihrem Anführer.
Ohne zu zögern, trifft er seine Entscheidungen, kurz und bestimmt, schweigsam wie immer.
Italicus, König der Cherusker von Roms Gnaden, leerte den bronzenen Becher, warf ihn im hohen Bogen von sich und rief mit schwerer Zunge, er sei nicht in das Land seiner Väter eingedrungen, er sei gerufen worden! Er allein habe durch seine Abkunft Vorrang vor allen anderen! Er sei nicht blind, Verschwörungen gegen ihn erkenne er im Ansatz! Undankbarkeit sei der Lohn für die Mühe, die Cherusker wieder zu einen und stark zu machen! Aber man werde ihn noch kennen lernen, er brauche sich seines Vaters und auch seines Oheims nicht zu schämen! Immer weiter redete der König vom »Zug der neuen Zeit«, von »Vaterland«, von Rom und aller Welt, doch kaum jemand hörte ihm zu, kaum jemand nahm ihn für voll, denn alle waren angetrunken. Auch der König schwankte bedenklich, stieß wilde Drohungen aus und verwünschte das Land seiner Väter, sehnte sich nach Rom zurück. Er ließ sich neuen Wein reichen, den sie in Schläuchen aus Rom mitgebracht hatten, trank auf den großmütigen Kaiser Claudius und auf sich selbst, auf den ersten König der Cherusker. Seine Krieger ließen ihn hochleben, immer mehr Neugierige drängten heran, wollten von dem Wein ihres Königs kosten. Im dichten Gedränge kam es zu Streitigkeiten, Waffen wurden ergriffen, Drohrufe ausgestoßen, ein Tumult entstand. Italicus brach in ein irres Lachen aus, verwünschte seine Untertanen, redete allerlei wirres Zeug und zog sein Schwert. Nur mit Mühe konnten ihn die Leibgardisten in sein römisches Feldherrnzelt ziehen, das dem König als vorläufige Unterkunft diente.
Es kam, wie es kommen musste. Germanen gegen Germanen. Unübersichtlich das Schlachtfeld. Auf der einen Seite die Krieger des Italicus, nach römischem Vorbild aufgestellt, kenntlich an ihren Römerhelmen. Allen voran Italicus auf einem Rapphengst, mit unbedecktem Haupt. Auf der anderen Seite Veteranen und trotzig entschlossene Kämpfer, Cherusker und Nachbarstämme, aufgestellt in der traditionellen Formation des Eberkopfes. Hörner werden geblasen, beide Seiten rücken vor, von den Reitereien auf den Flanken unterstützt. Geschickt weicht Italicus mit seiner Kohorte in der Mitte des Treffens der Spitze des mit ungestümer Kraft vorstürmenden Eberkopfes aus, öffnet die Formation, lässt die wild entschlossenen Krieger ins Leere laufen, greift sie von der Seite an und zieht das Fußvolk der nächsten Hundertschaften nach. Aber auch der Eberkopf formiert sich neu, öffnet sich, schwenkt aus, und bald wüten Germanen gegen Germanen auf breiter Front. Viele Krieger des Königs kämpfen mit römischer Bewaffnung, verbergen sich geschickt hinter den hohen Schilden und hauen und stechen mit den Kurzschwertern. Mancher von ihnen fällt den wuchtig geschleuderten Framen zum Opfer. Italicus behält den Überblick; doch, doch, auch er hat einiges gelernt bei den Römern! Seine Leibgardisten reagieren sofort auf die Feldzeichen, sie gehen für ihren König durchs Feuer, sie ahnen, dass von dieser Bewährungsprobe alles für sie abhängt. Hier sind sie Anführer, in Rom dagegen nur germanische Leibwache, die im Palast herumsteht. Signal für die Reiterei des Königs; sofort schwärmen die Reiter aus und greifen die Flanken ihrer feindlichen Brüder an. Schon gerät deren vorderste Reihe ins Wanken, einige Krieger weichen zurück, langsam zwar, kaum merklich, wenige
Schritte nur, fast nur ein Verhalten im Kampf, doch es bleibt den geübten Augen der römisch geschulten Soldaten nicht verborgen und verstärkt ihren Kampfeswillen. Trotzdem scheint die Schlacht an Heftigkeit zuzunehmen. Mit unverminderter Kraft prallen die Framen auf die römischen Schilde, durchschlagen Pilen germanische Weidengeflechte. Schwierigkeiten ergeben sich im Gewühl – Freund und Feind sind nicht immer klar zu erkennen. Wer kämpft auf wessen Seite? Erbitterte Zweikämpfe sind zu sehen, Waffenlärm ist zu hören, Schreie, Hörnerblasen. Italicus hat sich auf eine Anhöhe zurückgezogen, um die Übersicht zu behalten, pausenlos gibt er seine Kommandos, nichts entgeht seinen flinken Augen. Bis zum Abend kämpfen die Germanen. Kurz vor Hereinbrechen der Dunkelheit ist die Schlacht dann entschieden, der König hat den Bruderkampf gewonnen, der Jubel seiner Anhänger kennt keine Grenzen. Italicus will und kann nicht verhindern, dass geplündert und gemordet wird, selbst Verwundete werden nicht geschont. Die ganze Nacht über feiern die siegreichen Truppen mit ihrem König. Vorräte an Bier und Met werden aufgestöbert und ins Lager des Königs gebracht. Die Siegreichen leeren den letzten römischen Wein aus den Schläuchen und planen die Abrechnung mit den Unterlegenen. Der König verkündet, dass die Cherusker jetzt seine »harte Hand« kennen lernen sollen.
Wolfhart ist verwundet. Schwer hat es den alten Kämpfer erwischt, er hat viel Blut verloren. Rückzug heißt die Parole bei den Unterlegenen, sammeln, retten, was noch zu retten ist. Alle Krieger haben sich zurückzuziehen, dem Feind soll keine Gelegenheit gegeben
werden, den letzten Rest zu vernichten. Diese Entscheidung rettet die Gegner des Königs. Wolfharts Streitmacht löst sich in Luft auf. Für die Krieger des Königs sind sie unauffindbar, wie sollen sie feststellen, wer auf wessen Seite gekämpft hat? Was, wir gegen Italicus? Wir sollen gegen unseren gewünschten König gekämpft haben?, fragen sie entrüstet. Wodan ist unser Zeuge! Doch Wodan äußert sich dazu nicht. Alle Spuren sind beseitigt, sollen sie nur suchen, die Krieger des Königs. Italicus’ Hochmut kennt nach diesem Sieg kein Maß. Wer ihn nicht als König anerkennt, wird umgebracht. Eine große Burg will er sich bauen lassen, der Römerkönig, so hört man. Seine Unterführer mahnen ihn bereits zur Vorsicht, doch er fühlt sich sicher, fühlt sich bestätigt. Wer kann es jetzt noch wagen, ihm gegenüberzutreten? Hat er nicht die Weltmacht Rom im Rücken? Doch die Gegenpartei schläft nicht. Wolfhart kommt langsam wieder zu Kräften. Wer hätte gedacht, dass der alte Kämpe sich noch einmal erholen würde! Heimlich schickt er seine Boten aus, größte Vorsicht ist geboten. Seine Männer wissen Freund und Feind genau zu unterscheiden, einen zweiten Fehlschlag können sie sich nicht leisten. Wochen und Monate vergehen. Italicus genießt seine Macht. Einige murren und sind unzufrieden, weil er sich immer nur mit den Leibgardisten aus Rom umgibt und römisch gekleidet einherstolziert – ihr König, König der Cherusker soll er doch sein. Warnungen und gut gemeinte Ratschläge schlägt er in den Wind und fordert seine Abgaben, die ihm als König zustehen. Er ist König, die Cherusker haben ihn gerufen, und er hat ihnen gezeigt, dass mit ihm nicht zu spaßen ist! Sein Onkel Arminius, der allseits verehrte Held, darf stolz auf ihn sein, so tönt es aus seinem Lager.
Auf Wolfharts Gegenschlag ist er nicht vorbereitet. Bei einem Gelage wird er von einer kleinen Gruppe von Kriegern überrumpelt. Es kommt nur zu einem Handgemenge, die Verschworenen haben alles sorgfältig geplant. Als der Stern des Königs sinkt, wächst die Zahl ihrer Anhänger. Italicus ist der Übermacht allein mit seinen Prätorianern nicht mehr gewachsen. Er muss fliehen, die Leibgardisten und wenige cheruskische Krieger mit ihm. Es gelingt Wolfharts Leuten jedoch nicht, ihn zu fangen, um Haaresbreite entgeht er ihnen. Jeder weiß, dass Italicus damit nicht besiegt ist, wen schicken die Römer, wenn nicht ihn? Wer ist der Nächste?
Hier meldet sich (noch mal) der Autor…
Die Antike heute. Warum wühle ich in einem Stoff, der so lange zurückliegt? Fast zweitausend Jahre. Jedes Detail muss rekonstruiert werden. Wie lebten die Römer, beziehungsweise die Germanen damals? Wie sahen ihre Häuser aus? Was aßen sie? Wie kleideten sie sich? Welche Waffen und Werkzeuge hatten sie? Und so weiter und so weiter. Fragen über Fragen. Vordergründige und gestelzte Antworten darauf in den Richtlinien für Geschichtsunterricht, in den Geschichtsbüchern, in dicken Folianten. »Aus dem Vergangenen lernen, um die Gegenwart zu begreifen«, papperlapapp, sagte Hotzenplotz. Her mit dem Lernpotenzial in Pfund oder Kilo für Euro und Cent. Darf’s ‘n bisschen mehr sein, ja bitte, packen Sie’s mir doch bitte ‘n bisschen ein. Dieses Können-wir-aus-der-Geschichte-lernenFrage-und-Antwort-Paket. Problembewusstsein, Konflikte sozialer und politischer Art, Machtverhältnisse damals und heute, alles Kappes angesichts gähnender Langeweile im Geschichtsunterricht. Die Langeweile als übergreifendes historisches Phänomen! Interdisziplinäre Klammer! Lehrer gleich Langweiler. Lehrplanknecht ohne eigene Meinung. Taedium laudamus. Gelobt sei die Langeweile! Hat er mal wieder Langeweile, langt’s ihm schon nach einer Weile. Andererseits Interesse an der Geschichte. Reihenweise. Die Phönizier, die Hethiter, die Etrusker, die Staufer, die Vandalen und wer auch immer. Aber auch das Buch als ungelesenes Schaustück, Möbelfüller. Prost Mahlzeit!
Ich bin wütend, lasst mir mein Recht auf diese Wut. Schulratsgeschwätz. Kind und Geschichte. Bla bla. Aber trotzdem immer nur schön neu motivieren, die fernsehmüde Masse, jeden Morgen neu (»Hast du den gesehen gestern, stark, eh, wa!«). Für viele ist dieses Buch nicht geschrieben. Ich lege keinen Wert auf sie. Basta! Nein, dich meine ich ja nicht, nicht Sie! Aber: Geschichte als Steinbruch! Nehmt euch das, was ihr braucht! Interpretiert es so, wie ihr es braucht! Suum cuique, jedem das Seine. Geschichte und Bildung, Schüleraussage: »Mein Opa konnte die Jahreszahlen aller berühmten Schlachten auswendig.« Geschichte und Kultur, Kunst, Literatur, Religion: Kultur schlechthin. Wer erreicht wen? Nichtwissen erleichtert das Leben. Oder? Kultur kommt von Ackerbau, Pflege des Bodens. Ad fontes, ad fontes, rufen mir die Forscher zu, zu den Quellen, zu den Quellen. Verstaubte Gelehrsamkeit, Kreislauf schwäche, Lesen und Forschen und Schreiben als Lebens- und Liebesersatz. Verdrängte Sexualität. Schluss damit, es artet aus, ich lasse die Fragen im Wesentlichen unbeantwortet. Soll jeder sehen und kritisch beurteilen, sein Verhältnis finden zur Geschichte. »Geschichte ist das Feld wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und politischer Prozesse und Auseinandersetzungen, das zugleich Gegenwart und Vergangenheit umfasst sowie Zukunftsperspektiven enthält«, finde ich in didaktischen Materialien. Kaugummidefinition. Von Adam und Eva bis Einstein. Alles und nichts. Dreh das Zitaten-Karussell, bis es dir vor Augen flimmert. Was ist Geschichte wirklich? Solche Definitionen verwirren eher, sie haben Alibifunktion, seht, wie schlau wir sind, wir haben an alles gedacht – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell, politisch.
Rundumabsicherung. Geschichte als Feld von Auseinandersetzungen! »Der Mensch als nicht naturhaft festgelegtes Wesen ist auf geschichtliche Erfahrung angewiesen.« Aha! »Historische Reflexion kann ihm das Werden des eigenen Selbst, seine Standortgebundenheit in einem geschichtlichen Prozess und die Fülle menschlicher Selbstverwirklichungen jenseits des eigenen Erfahrungshorizontes sichtbar machen.« »Fülle menschlicher Selbstverwirklichungen«, das klingt und riecht nach Tüchtigkeit, Tapferkeit, das Leben meistern, ein Mann, ein Wort, sich regen bringt Segen, dem Tüchtigen gehört die Welt, wer es nicht schafft, hat eben Pech gehabt. Wichtigstes Kriterium für die Auswahl von Stoffen ist »deren Bedeutsamkeit für die Erhellung der Gegenwart«. Nun ja, die Erhellung der Gegenwart! Und die bitte schön auch noch chronologisch, denn für »eine chronologisch geordnete Darbietung des Lehrstoffs« spricht die Tatsache, »dass sich die bewegenden Kräfte der Geschichte mit dem Strom der Ereignisse entfalten und in diesen hineinwirken«. Ich weiß schon, ich habe verfremdet und aus dem Zusammenhang gerissen, ich weiß, ich weiß. Ganz nebenbei sollen im Geschichtsunterricht auch noch »Gegenstände von äußerster Vielschichtigkeit auf die Verstehensebene von Kindern und Jugendlichen« übertragen werden, »ohne damit die geschichtliche Wirklichkeit unangemessen zu vereinfachen«. Geschichtliche Wirklichkeit, wer bestimmt sie? Arminius im Unterricht, Arminius für den geschichts-interessierten Leser. Geschichte und Wahrheit. Sine ira et studio, ohne Eifer und Parteilichkeit, mag schon nicht gelingen, doch komplizierter noch, sagt Adam Schaff, ist »das Problem der ›guten‹ Subjektivität, das heißt derjenigen, die in natürlicher Weise an die aktive Rolle des Subjekts bei der Erkenntnis gebunden ist«.
Was hat das alles mit Arminius und Ansgar, mit Flavus, Segestes und Thusnelda zu tun? Sehr viel. Es ist mir ein Anliegen, es muss einfach mal gesagt werden, ob Geschichtsunterricht oder Roman, der ein geschichtliches Thema behandelt – kein Lehrer, kein Autor hat die Weisheit für sich gepachtet. Keiner kann sagen, so war’s und nicht anders! Da werden Quellen interpretiert, neu interpretiert, uminterpretiert. Gelehrtenstreit, z. B.: »Es ist völlig absurd, wie X ausführt, viel eher wage ich mit Y die These unter Berücksichtigung…« und so weiter, ad infinitum, endlos weiter. Machen wir uns endlich klar, um mit Edward Hallet Carr zu sprechen, dass »die historischen Tatsachen niemals in reiner Form zu uns« gelangen, »da sie in reiner Form weder existieren noch auch existieren können: Sie brechen sich immer in dem Geist des Registrators. Daraus folgt, dass, wenn wir ein historisches Werk zur Hand nehmen, unser erstes Interesse nicht den Tatsachen, die es enthält, gelten sollte, sondern dem Historiker, der das Werk geschrieben hat.« Wohl wahr, wohl wahr. Was also hatte Tacitus im Sinn, als er seine Germania schrieb, das ist z. B. eine Frage, die mich bewegte, bevor ich mich an dieses Buch machte. Motive, Hintergründe, Hass, Liebe, Absichten und Taktik. Und so weiter, was bewegte Arminius tatsächlich zu seiner verwegenen Tat? Kann ich es wirklich zuverlässig rekonstruieren? Oder wenigstens annähernd? Ein anderer Roman über dieses Thema kann ganz anders sein. Was will ich bezwecken damit? Warum gerade Römer und Germanen? Was soll der Zusammenprall dieser zwei Kulturen heute deutlich machen? Vielleicht das, was ich in den Materialien für den Geschichtsunterricht zufällig finde? »Bei der Schilderung des Zusammenpralls von Römern und Germanen sind der militärtechnischen und organisatorischen Überlegenheit der Römer die Verletzung germanischen
Rechtsempfindens durch römische Verwaltungspraxis und Rechtsprechung und der dadurch wachgerufene Freiheitswille gegenüberzustellen. Der dem Freiheitskampf vorausgehende und nach ihm jahrhundertelang fortgesetzte, durch die römischen Grenzbefestigungen nicht behinderte Handels- und Kulturaustausch führte zu nachhaltiger Einwirkung römischer Spätkultur auf die Germanen, die am Lehnwortbestand der deutschen Sprache aufgewiesen werden sollte.« Damit sind wir bei viola, dem Veilchen, angelangt, Teil des römischen Fadens durch deutsche (Sprach-)Geschichte, bei plastrum, dem Pflaster, bei strata, der Straße. Und ich? Ich bin am Ende, denn Verhaltensmaßregeln oder gar Patentrezepte sollte man weder von der Geschichte noch von der Literatur verlangen. Vielleicht aber Anstöße, Verunsicherung, Aufscheuchung (denken Sie ruhig an Hühner) und Impulse zum Nachdenken und Weiterspinnen! So, und jetzt höre ich auf mit dem Spinnen. Keine Bücher, Wörterbücher, Zitate, keine Quellen. Wenn Quelle, dann höchstens Bierquelle. Bewegung, Sonne und Sand, Strand und so weiter. Kreislauf in Schwung bringen. Mens sana in corpore sano, ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Wie sagte noch Augustus: »Letztlich hängt alles von den Nerven ab!« Eben.
Nachwort zur Neuauflage – oder Kalkriese und ein Ende?
Dieser historische Roman wurde nach umfangreichen Quellenstudien geschrieben, die ich vor 25 Jahren veröffentlichte∗; der Roman folgte ein Jahr später unter dem Titel: ›Ein gewisser Arminius‹, 1982. Was hat sich seither »getan«, fragt sich möglicherweise mancher Leser, der sich für das Thema interessiert und von den Ausgrabungen in Kalkriese (nördlich von Osnabrück) gehört hat. Die Historiker und Archäologen blieben nicht untätig, nachdem der britische Offizier und Hobbyarchäologe Tony Clunn 1987 mithilfe moderner Technik eine Anzahl von Münzen gefunden hatte. Geduldige Forschung schloss sich an, Grabungen, Schnitte – zum Teil auch mit dem Bagger, immer unterstützt von Metallsuchgeräten, dann mit Schaufel oder auch mit Spatel und Pinsel – Schicht für Schicht, eher unspektakulär, dafür gründlich. Funde und Befunde wurden dokumentiert. Die Funde in Kalkriese ließen auch Theodor Mommsens Theorie wieder aufleben, der hier den Ort der Varusschlacht vermutete; Mommsen hatte Kenntnis davon gehabt, dass auf Gut Barenau der Familie von Bar (und auf den umliegenden Ländereien) römische Münzen gefunden worden waren. Doch es waren vornehmlich aurei (Goldmünzen) und denarii
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Als die Römer frech geworden… Die Schlacht im Teutoburger Wald, Berlin (Wagenbach) 1981 u. 1984.
(Silbermünzen) gewesen, das »Kleingeld« der einfachen Legionäre, die asses (Kupfermünzen) fehlten noch. Mommsen hatte, unterstützt durch sorgfältige Untersuchung und Auswertung der Münzfunde, schon 1885 geschrieben: »Die Venner Gegend [das Gebiet um Kalkriese] bietet die Vereinigung von Bergen und Mooren, die die Berichte fordern. Dass hier marschierende Truppen Bohlwege zu schlagen hatten, liegt nahe; und noch näher, dass die schließliche Katastrophe hier herbeigeführt ward durch Einkeilung der Armee zwischen Bergen einer- und Mooren andererseits.« Diese These war in Vergessenheit geraten, oder auch wohl verdrängt worden, aber Mommsen hatte auch zwei (mögliche) Marschrouten der Römer vorgeschlagen; die zweite ist die von Minden nach Bramsche, sie entspricht nach Ansicht des großen Historikers allen geforderten Bedingungen: »Insbesondere bei dem Gute Barenau, zwischen Venne und Engter, wo der Kalkrieser Berg in einem Dreieck nach Norden vorspringt, verengt sich der Weg zwischen diesem und dem Moore so, dass ein förmlicher Engpass entsteht…« Ist hier also die Örtlichkeit der Varusschlacht, Ort der clades Variana, der vernichtenden Niederlage der Römer zu suchen? Der Boden gibt auch nach beinahe 2000 Jahren noch Auskunft; interdisziplinäre Zusammenarbeit und geduldige archäologische Grabungen und Forschungen, anschließende Bewertungen der Funde und Befunde (Bodenbeschaffenheit, Verfärbungen etc.) standen am Beginn der systematischen Geländeprospektion. Unspektakuläre Artefakte, Münzen in großer Zahl (darunter nun auch das erwähnte Kupfergeld), Militaria (Waffenteile und Ausrüstungszubehör) wurden geborgen, ausgewertet und dokumentiert: Kleine Nägel und Ziernägel, Phalerae (Orden, die auf dem Brustpanzer getragen wurden), Gürtelschnallen, Ringe, eine
Schanzhacke (dolabra; eine Seite Spitzhacke, eine Seite Axt – duo in unum instrumentum), Knochenheber und andere chirurgische Instrumente, Werkzeuge zur Holzbearbeitung, ein Weinsieb (die Römer liebten Gewürzwein, der vor dem Kredenzen durchgeseiht wurde), Bleilote, Fibeln, Schnallen und Scharniere, sogar Sandalenreste (die mit Nägeln beschlagen waren), Lanzenspitzen, Schleudergeschosse und Hunderte von Münzen. Erst im Sommer 2004 – durchaus eine Sensation – wurden zwei aurei (Goldmünzen) gefunden. Alle Münzen, und das ist entscheidend, »passen« in die fragliche Zeit, d. h. kein Einzelstück aus den Münzfunden in Kalkriese wurde nach 9 n. Chr. geprägt; zudem stammen die Münzen, die den Gegenstempel des Varus, die Kontermarke VAR tragen, mit großer Sicherheit aus der Zeit zwischen 7 und 9 n. Chr. als Varus »Statthalter« in Germanien war. Doch die Münzen allein können den Forscher noch nicht überzeugen; ein sensationeller Fund war den Archäologen aber schon 1990 vergönnt: Ein zunächst unscheinbarer Erd- bzw. Metallklumpen erwies sich unter den analytischen Blicken der Forscher und nach geduldiger Kleinarbeit des Restaurators als eine fein gearbeitete Reitermaske (ursprünglich mit Silberblech belegt), die einem (vermutlich hohen) römischen Reiteroffizier individuell angepasst war, so dass die Züge dieser persona militaris incognita bis heute erkennbar sind. Diese Maske ist inzwischen zu einem Markenzeichen, zu einem Symbol des Museums und des Parks in Kalkriese geworden.
In dem Park Kalkriese, auf dem Schlachtfeld also, hat man die Marschrichtung der Römer mit eisernen Platten markiert, Einzelpavillons sind entstanden, die Teil-Rekonstruktion der
Wallanlage, und vom Turm des Museums kann man sich einen guten Überblick über die Landschaft verschaffen. Wer seiner Phantasie Nahrung geben möchte, sei auf ein Modell (im Nebengebäude), ein Diorama der Varusschlacht, verwiesen; im Roman habe ich mir (so ähnlich) ein »Intermezzo in Zinn« vorgestellt und beschrieben.
Der Schlachtort, besser ein Schlachtort, scheint also endlich gefunden, was den Romanleser nicht beunruhigen muss, wir haben uns das Geschehen nur ca. 100 km nördlicher vorzustellen; die Karte hilft ein wenig bei der Lokalisierung. Sagen wir es deutlicher: Mit hoher Wahrscheinlichkeit, mit einer durch die Forschungsergebnisse der Jahre fundierten Sicherheit, ist also – die zahlreichen Funde, inzwischen mehr als 4000, sprechen dafür – der von Mommsen beschriebene Engpass bei Kalkriese ein Schlachtfeld, ein Ort der Niederlage der Römer; ein Gelände, das ich zuletzt (bei brütender Hitze) im Juli 2006 besucht habe. Die archäologische Leiterin, Dr. Susanne Wilbers-Rost, die die Ausgrabungen seit mehr als 15 Jahren leitet und der ich gebündelte Einsichten und einen beeindruckenden Gesamtüberblick über die Forschungsergebnisse∗ verdanke, zieht ein vorläufiges Fazit, das durch 15 Jahre Forschungsarbeit abgesichert ist: »Funde und Befunde, die zwischen Kalkrieser Berg und Großem Moor zutage gekommen sind, lassen sich immer deutlicher mit dem Ereignis des Jahres 9 n. Chr. in ∗
Ein guter Überblick mit Karten, Zeittafel, Quellen, Münzfunden etc. unter http://www.geschichte.uni-osnabrueck.de/ projekt/2/2b.html (InternetRecherche dank der Hilfe meines Sohnes Henrik, der dem Vater mit Rat und Tat zur Seite stand – von den Söhnen lernen die Väter.).
Verbindung bringen. Die gezielt angelegte Wallanlage auf der Fundstelle »Oberesch«, vor allem aber die hier freigelegten (bislang) acht Knochengruben mit Überresten von Gefallenen der Schlacht (Menschen, Maultiere und Pferde) haben die Aussage, dass in Kalkriese ein Schauplatz der Varusschlacht lokalisiert wurde, belegt; sie wird durch neue Forschungsergebnisse erhärtet. Die Kombination eines weiträumigen Schlachtfeldes mit dem Nachweis von Bestattungen, die erst einige Jahre nach dem Tod der Gefallenen durchgeführt wurden – nach Aussagen der Osteologen liegen zwischen zwei und zehn Jahre zwischen dem Tod und der Deponierung von Knochenresten in den Gruben – lässt sich schlüssig nur mit der Varusschlacht im Jahre 9 und der schriftlich überlieferten Bestattungsaktion des Germanicus im Jahre 25 n. Chr. erklären.« Amorbach, im Juli 2006 Werner Völker
Zeittafel der historisch überlieferten Fakten
19 v. Chr. Kämpfe der germanischen Stämme gegen Rom bis 21 n. Chr. 19 bis 7 v. Chr. Germanische Stämme unternehmen Raubzüge nach Gallien, wobei 16 v. Chr. der gallische Statthalter der Römer, M. Lollius, geschlagen wird. Die Römer verstärken jedoch in den folgenden Jahren die Legionen. Die in Gallien stehenden Heere werden in neu errichtete Lager am Rhein vorverlegt. Die wichtigsten sind Castra Vetera (bei Wesel bzw. Xanten) und Moguntiacum (Mainz). seit 16 v. Chr. Die Römer versuchen, die Elbe als Grenze zu gewinnen. 12 bis 9 v. Chr. Germanenzüge des Drusus (Vater des Germanicus) Germanenzug: Das römische Landheer unterwirft die rechtsrheinischen Usipier sowie Tenkterer und bekämpft die Sugambrer. Die römische Flotte segelt bis zur Nordseeküste und verbündet sich mit den Friesen und Amsivariern. Germanenzug: Drusus dringt bis zu den Cheruskern vor. Auf dem Rückmarsch gerät er in einen Hinterhalt verbündeter Germanenstämme und kann sich nur mit Mühe bis zum Rhein durchkämpfen. Drusus stirbt während des Rückmarsches an den Folgen eines Beinbruches, den er sich beim Sturz vom Pferd zugezogen hatte.
um 6 v. Chr. Marbod begründet das Markomannenreich in Böhmen. 4 bis 7 n. Chr. Germanenzüge des Tiberius Tiberius unterwirft die Kananefaten und Brukterer, er schließt einen Vertrag mit den Cheruskern, Arminius und Flavus treten in römische Dienste. 7 n. Chr. Publius Quinctilius Varus, bisher Statthalter in Syrien und Prokonsul in Afrika, wird Befehlshaber der fünf rheinischen Legionen. 9 n. Chr. Nachwort
Schlacht im »Teutoburger Wald«, Ort siehe
14 n. Chr. 1. Germanenzug des Germanicus Germanicus erneuert die römische Offensive am Rhein. Die Marser werden von ihm überrascht, und ihr Tanfana-Heiligtum wird zerstört. 15 n. Chr. 2. Germanenzug des Germanicus Der Marserfürst Mallovendus unterwirft sich, es kommt zur Spaltung des Stammes. Germanicus verwüstet das Chattenland. Besichtigung des Varusschlachtfeldes und Beisetzung der Gebeine. Unentschiedene Schlacht gegen Arminius, Rückzug des Germanicus. Die Flotte gerät in eine Springflut und hat erhebliche Verluste. 16 n. Chr. 3. Germanenzug des Germanicus Teilsieg des Germanicus über Arminius auf dem Idistavisofeld (wahrscheinlich in der Nähe der Porta Westfalica bei Minden), Arminius entkommt unerkannt und sammelt erneut seine Truppen – es kommt zur unentschiedenen Schlacht am
Angrivarierwall (wahrscheinlich in der Nähe des Dorfes Leese), Rückzug des Germanicus. Durch Stürme in der Nordsee geht der größte Teil der Flotte zugrunde. 17 n. Chr. Entscheidungskampf zwischen Arminius und Marbod. Semnonen und Langobarden gehen von Marbod zu Arminius über, die römerfreundliche Partei der Cherusker unter Inguiomer schlägt sich auf Marbods Seite. 17 n. Chr.
Triumph des Germanicus in Rom
19 bis 21 n. Chr. Ausbruch eines Bürgerkrieges bei den Cheruskern wegen angeblicher Bestrebungen des Arminius, die Königswürde zu erlangen. Der Adel erhebt sich unter Führung Inguiomers. Der Chattenfürst Adgandester bittet den römischen Kaiser um Überlassung von Gift zur Beseitigung des Arminius, was jedoch abgelehnt wird. Arminius fällt (nach Tacitus) im Alter von 37 Jahren »der Heimtücke seiner Verwandten zum Opfer«. Der Bürgerkrieg bei den Cheruskern geht weiter, sie rotten sich gegenseitig aus. Marbod bittet um römisches Asyl (er stirbt erst 18 Jahre später als römischer Pensionär in Ravenna). 47 n. Chr. Die Cherusker wählen nach langen Auseinandersetzungen (s. o.) Italicus, einen Sohn des Flavus, zum König. Tacitus bezeichnet die Cherusker als ein »heruntergekommenes Volk, das sich der Chauken nicht erwehren konnte« (Annalen). In der Germania heißt es über sie: »… nachdem sie einen allzu langen und siechenden Frieden genossen… werden die Cherusker, die einst bieder und gerecht hießen, jetzt dumm und faul gescholten…«
Verzeichnis der historisch belegten Personen
Adgandester, lat. Form Adgandestrius, Anführer der Chatten Agrippina, die Jüngere, Tochter des Germanicus, 15 bis 59 n. Chr. Mutter des Kaisers Nero; von ihrem Bruder Caligula verbannt, von Claudius zurückgerufen, der sie 49 heiratete. Nach Vergiftung des Kaisers ließ sie Nero zum Kaiser ausrufen und versuchte, die Regierung für ihn zu führen; wurde von ihrem Sohn ermordet. Anteius, Stabsoffizier des Germanicus Arminius, fälschlich Hermann der Cherusker genannt, Sohn des Stammeshäuptlings Segimer, geb. 18 oder 16 v. Chr. ermordet 19 oder 21 n. Chr. Sieger der Schlacht im Teutoburger Wald. Asprenas, Neffe des Varus, befehligte die zwei restlichen Legionen seines Onkels. Augustus, der erste römische »Kaiser« (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) Britanniens, Sohn des Kaisers Claudius und der Messalina, wurde nach dem Regierungsantritt des Nero vergiftet. Caecina, Aulus, Unterfeldherr des Germanicus Caedicius, Kommandant von Aliso, einem Römerkastell im Lippegebiet Caelius, Marcus, historische Person, deren Grabstein (Kenotaph) erhalten ist. Er war Centurio der 18. Legion; als er in der Schlacht des Jahres 9 n. Chr. fiel, war er 53 Jahre alt. Caesar, Gaius Julius, römischer Feldherr und Staatsmann (100 – 44 n. Chr. ermordet), Adoptivvater des Augustus Caligula, eigentlich Gaius Julius Caesar Germanicus, Sohn des Germanicus, geb. 12 n. Chr. Kaiser von 37 – 41 n. Chr.; erhielt den Beinamen »Caligula« (Soldatenstiefelchen) in den Lagern
seines Vaters Germanicus, führte ein exzentrisches Leben, war vermutlich geisteskrank. Catumer, lat. Form Catumerus, Anführer der Chatten Ceionius, Unterfeldherr des Varus Charivalda, Anführer der batavischen Hilfstruppen im Heer des Germanicus Claudia Pulchra (die schöne Claudia), Frau des Varus, Großnichte des Augustus Claudius, geb. 10 v. Chr. Historiker und röm. Kaiser von 41 bis 54 n. Chr. Bruder des Germanicus; wurde von Agrippina vergiftet. Drusus, Claudius Nero, Stiefsohn des Augustus, Bruder des Tiberius (38 v. Chr. – 9 v. Chr.) Drusus, Julius Caesar, Sohn des Tiberius (um 15 v. Chr. – 23 n. Chr.) Eggius, Lucius, Unterfeldherr des Varus Flavus (der Blonde), jüngerer Bruder des Arminius, in römischen Diensten Germanicus, Sohn des Drusus Claudius Nero (15 v. Chr. – 19 n. Chr.), wurde auf Verlangen des Augustus von seinem Onkel Tiberius adoptiert. Inguiomer, lat. Form Inguiomerus, Onkel des Arminius Italicus, Sohn des Flavus, wurde im Jahre 47 n. Chr. »König« der Cherusker. Livia Augusta, Frau des Augustus Maecenas, reicher Römer, Kunstförderer Mallovendus, Marserfürst Marbod, lat. Form Maroboduus, König der Markomannen, starb um 36 n. Chr. im römischen Exil in Ravenna. Marius, Konsul des Jahres 107 v. Chr. Heeresreformer, der wegen der Gefahr, die von den Germanen drohte, fünfmal hintereinander wiedergewählt wurde; besiegte die Kimbern und Teutonen.
Messalina, Valeria, um 25 – 48 n. Chr. eine der Frauen des Kaisers Claudius, bekannt durch Ausschweifungen, Intrigen und Habsucht. Nero, geb. 37 n. Chr. röm. Kaiser von 54 bis 68 n. Chr. eigentlich Lucius Domitius Ahenobarbus, 50 n. Chr. von Kaiser Claudius adoptiert, hieß seitdem Nero Claudius Caesar Pedo, Reiterpräfekt im Heer des Germanicus Segestes, Cheruskerfürst, Vater der Thusnelda, Schwiegervater des Arminius Segimer, lat. Form Segimerus, Vater des Arminius (die Quellen nennen auch einen Bruder des Segestes mit gleichem Namen) Segimund, lat. Form Segimundus, Sohn des Segestes Segithank, Neffe des Segestes Silius, Gaius, Unterfeldherr des Germanicus Stertinius, Lucius, Offizier des Germanicus Thallus, Sekretär des Augustus Thumelicus, Sohn der Thusnelda und des Arminius Thusnelda, Tochter des Segestes, Frau des Arminius Tiberius, vor der Adoption durch Augustus: Tiberius Claudius Nero (42 v. Chr. – 37 n. Chr.), römischer »Kaiser« von 14 – 37 n. – Chr. Ucromer, lat. Form Ucromerus, Chattenfürst (vielleicht identisch mit Catumer) Vala Numonius, Reiterpräfekt im Heer des Varus Varus, Publius Quin(c)tilius, römischer Oberbefehlshaber und Statthalter in Germanien (47 v. Chr. – 9 n. Chr.). Nach seiner Niederlage im Teutoburger Wald beging er Selbstmord. Velleius Paterculus, römischer Offizier und Geschichtsschreiber, geb. um 20 v. Chr. verfasste einen zeitgenössischen Bericht über die Schlacht.