Heiß wie Feuer, kalt wie Eis Candace Schuler
Eine heiße Nacht voll Lust und sinnlicher Erfüllung, ein ernstgemeinter He...
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Heiß wie Feuer, kalt wie Eis Candace Schuler
Eine heiße Nacht voll Lust und sinnlicher Erfüllung, ein ernstgemeinter Heiratsantrag und das alles von einem Mann, der nicht toller sein könnte. Warum um alles in der Welt sagt Susannah nein? Ganz einfach: Sie ist überzeugt, daß der smarte Staatsanwalt Malt Ryan nicht der Richtige für sie ist. Denn sie ist eine echte Rebellin, deren Herz den Armen, vom Leben Benachteiligten gehört, während Matt eine erfolgreiche Zukunft in der Politik vor sich hat. Also heißt es, auf ihren Traummann zu verzichten – wenn es bloß nicht so schwer wäre…
1994 by Candace Schuler Originaltitel: „The Personal Touch“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd. Toronto in der Reihe: TEMPTATION Published by arrangement with HAELEQUIN ENTERPRISES B.V. Amsterdam Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY Band 614 (3 1) 1995 by CORA Verlag GmbH, Berlin Übersetzung: Heike Hellmann Foto: WEPEGE © CORA VERLAG GmbH
1. KAPITEL Zum drittenmal sah Matthew Ryan jetzt schon auf seine flache goldene Armbanduhr. Die von der Empfangsdame angekündigten „paar Minuten“ Wartezeit waren bereits mehrfach verstrichen. So allmählich könnte sich die Lady mal blicken lassen, dachte Matt, faltete den „San Francisco Chronicle“ geräuschvoll zu einem ordentlichen schmalen Rechteck und warf ihn auf den Beistelltisch. Mißgelaunt katalogisierte er in Gedanken das edle Mobiliar von den gelben Shantungsesseln über die Kerzenleuchter aus Messing und die frischen Freesien auf dem Kaminsims bis hin zu dem Brüsseler Teppich und der dekorativen Tiffanylampe an der Rezeption. Die Geschäftsräume von „The Personal Touch“ befanden sich im Erdgeschoß einer stattlichen viktorianischen Villa im vornehmen Pacific Heights Distrikt San Franciscos. Die dezente Farbgebung und die elegante Einrichtung wirkten charmant und entspannend – was auch bitter nötig war, wenn die Lady alle Klienten so lange warten ließ… Charmant oder nicht, er hatte in der letzten Viertelstunde genug gesehen. Bis auf die Chefin. Ich gebe ihr noch fünf Minuten, entschied Matt, dann gehe ich. Es schmeckte ihm ohnehin nicht, daß er sich überhaupt hierherbegeben hatte. Und dann auch noch ohne Voranmeldung. Aber, verdammt, er war mit seiner Weisheit am Ende. Seine Mutter trieb ihn noch in den Wahnsinn. Nicht, daß sie es darauf anlegte, nein, sie war eine wundervolle Frau. Eine der besten. Aber sie brauchte dringend eine Ablenkung. Seit sie sich mit ihrem Witwendasein abgefunden hatte, zeigte sie auch wieder Interesse am Leben. Insbesondere an dem ihres einzigen Sohnes… Die junge Orientalin am Empfang schien ihm seine Ungeduld anzumerken. „Jetzt dauert es sicher nicht mehr lange, Mr. Ryan.“ Mit einem sehr langen, leuchtend rot lackierten Fingernagel strich sie sich eine Strähne ihrer glänzenden schwarzen Haare hinters Ohr, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer und der Gebrauchsanweisung zuwandte. Wie schafft sie es nur, mit diesen Mordinstrumenten die richtigen Tasten zu treffen? überlegte Matt. Sie sahen hochgradig gefährlich aus. Die Frau selbst auch. Obwohl sie kaum zwanzig Jahre alt sein konnte, erinnerte sie an einen männermordenden Vamp. Der freche, kinnlange Bobschnitt betonte ihre dunklen, leicht schrägstehenden Augen und das exotische Gesicht. Ihr Makeup war perfekt, wenn auch ein wenig übertrieben. Auch das schlichte, figurbetonte schwarze Kleid wirkte zu kultiviert für ihr Alter. Aus unerfindlichen Gründen kam sie ihm bekannt vor. Vielleicht aus dem Gericht? Oder aus seinem Wahlkampfbüro? Sie hatte ihn jedenfalls gleich mit Namen angesprochen. Was natürlich nicht ungewöhnlich war. Als ebenso engagierter wie angesehener Anwalt mit einer Vielzahl aufsehenerregender Fälle erschien sein Foto regelmäßig in den Zeitungen. Zudem hatte er erst vor zwei Wochen seine Kandidatur für das Amt des Bezirksrichters bekanntgegeben, worüber sowohl die Printmedien als auch lokale TVStationen berichtet hatten – hauptsächlich, weil er damit in die Fußstapfen seines allseits respektierten Vaters trat. „Soll ich Ihnen eine andere Zeitschrift bringen, Mr. Ryan?“ Ihr Lächeln wirkte auf eine eigenwillige Weise verführerisch. „Irgendwo muß hier noch das ,Wall Street Journal’ liegen…“ Die kunstvoll geschnitzte Bürotür öffnete sich, und zwei Frauen traten heraus. „Das müßte soweit alles sein. Oder fällt Ihnen noch etwas ein?“ hörte Matt die ältere der beiden fragen.
Wenigstens sie entsprach genau seinen Vorstellungen. Ganz der großmütterliche Typ. Gütig, verständnisvoll. Das lavendelblaue Kleid spannte ein wenig um die molligen Hüften. Ein heller Cardigan hing ihr locker über die Schultern, ihre Schuhe waren beige, flach und zweckmäßig. Graue Strähnen durchzogen das kurzgeschnittene braune Haar. Unter dem Arm trug sie einige Akten, hinter dem linken Ohr steckte ein Bleistift. Eine richtige altmodische Kupplerin, stellte Matt zufrieden fest. Bestimmt Witwe mit einer Schar flügge gewordener Kinder, die sich mit Vorliebe in anderer Leute Angelegenheiten einmischt und nun auch ganz professionell ihre Aktivitäten auf Beziehungsproblemfälle richtet. Allerdings kam ihm ihre Gesprächspartnerin nicht gerade wie ein Problemfall vor. Im Gegenteil. Sexy wie die Sünde. Eine atemberaubende Mischung aus Verletzlichkeit und knisternder Erotik. Sie war Anfang bis Mitte Dreißig, schlank, ausgesprochen zierlich und besaß die graziöse Haltung einer Ballerina. Ungefähr einsfünfundsechzig, schätzte Matt und verglich sie in Gedanken mit seinen einsdreiundachtzig, obwohl ihm auf Anhieb gleich mehrere Positionen einfielen, in der der Größenunterschied keine Rolle spielte. Ihre unkonventionelle Kleidung harmonierte aufregend mit der ausgesprochen femininen Ausstrahlung. Der Saum ihres knöchellangen nostalgischen Kleides in zarten Pastelltönen umspielte ein Paar elegante, blaßgraue Lederstiefel im Stil der Jahrhundertwende mit schmalem Absatz und einer Reihe schimmernder runder Knöpfe. Der weiße Spitzenkragen ruhte auf dem Revers eines Tweedjacketts in Grau und Blaßgrün. Ein Spitzentuch lugte aus der Brusttasche, und an der Schulter steckte eine Gardenie. Das Männerjackett war einen Hauch zu groß und ließ sie darin ein wenig verloren aussehen. Ihr WaisenkindLook sprach sofort sämtliche Beschützerinstinkte in ihm an. Von seinen wesentlich animalischeren Instinkten, die bei ihrem Anblick erwachten, ganz zu schweigen. Mit leicht geneigtem Kopf lauschte sie den Worten der älteren Frau. Ihr Teint schimmerte wie Elfenbein, feingeschwungene Augenbrauen unterstrichen ihr lebhaftes Mienenspiel, und mit den sinnlichen Lippen und dem kleinen energischen Kinn wirkte sie zugleich ungezähmt und rührend unschuldig. Ein Eindruck, den das lange, wildgelockte Haar noch betonte. Das Sonnenlicht warf goldene Reflexe auf die verführerisch zerzausten kastanienroten Locken – Locken, in die jeder Mann nur zu gern die Hände vergraben würde. Vorzugsweise während einer heißen, leidenschaftlichen Liebesnacht… Während er die Szene bereits in den leuchtendsten Farben vor sich sah, näherte sich die Unterhaltung der beiden Frauen dem Ende, was ihn wieder darauf brachte, weshalb er eigentlich hier war. Und das war ganz sicher nicht, um herauszufinden, warum eine solche Klassefrau die Dienste einer Partnervermittlung in Anspruch nahm. Er wappnete sich innerlich gegen diesen beunruhigenden Zauber, stand auf und steuerte zielstrebig auf die ältere Frau zu. „Miss Bennington?“ „Ja?“ Es war die jüngere der beiden, die sich zu ihm umwandte. Wenn er nicht gerade einer besonders tückischen Bewußtseinstrübung zum Opfer fiel, dann konnte er seinem Kollegen Cal Westlake nur dringend zu einer gründlichen Überprüfung seiner Sehkraft raten. Denn wie die Kupplerin in „Anatevka“ – Cals eigene Worte – sah sie gewiß nicht aus. „Susannah Bennington?“ fragte er, nur um sicherzugehen. „Ja.“ Wärme und Humor schwangen in ihrer Stimme mit. „Kann ich Ihnen helfen, Mr….?“
„Ryan. Matthew Ryan.“ „Oh, natürlich. Mr. Ryan. Ihr Bild ist ja oft genug in der Zeitung.“ „Matt“, verbesserte er sie locker und erwiderte ihren festen Händedruck mit Rücksichtnahme auf ihren zarten Knochenbau nicht ganz so fest. „Matt.“ Ihr Lächeln vertiefte sich. Bezaubernde Grübchen erschienen auf ihren Wangen. „Falls Sie auf Wählerfang sind, kann ich Sie beruhigen. Ich erwäge ernsthaft, Sie kommenden November zu wählen.“ „Ich kann jede Stimme gebrauchen.“ Matt lachte. Es war ein sinnliches, heiseres und sehr männliches Lachen, das Susannah durch und durch Sing. „Dabei dachte ich, auch ohne meine Unterstützung hätten Sie schon mehr als genug Anhänger.“ Mit dem dichten blonden Haar, den nordischen Gesichtszügen und dem jungenhaften Lächeln war er der Inbegriff lässigen Charmes. Selbst in dem konservativen marineblauen Anzug umgab ihn eine Aura von Kraft und Stärke. Seine Haltung verriet Selbstsicherheit und Souveränität. Allein schon wegen seines phantastischen Aussehens würde bestimmt halb San Francisco – der männliche ebenso wie der weibliche Teil – diesen geradezu unverschämt attraktiven Ausbund an Männlichkeit wählen. Und wen dieses Ebenbild männlicher Vollkommenheit, das so unverhofft in ihre Agentur geplatzt war, nicht überzeugte, der kapitulierte vor seiner tiefen, samtigen Stimme. Sie strömte Sinnlichkeit und Autorität gleichermaßen aus. Verband man diese erotische Ausstrahlung mit Matthew Ryans blütenweißer Weste, seinem unaufhaltsamen Aufstieg auf der Karriereleiter und dem Umstand, daß er nur selten einen Fall verlor, hatte man in jedweder politischen Kampagne einen todsicheren Gewinner an der Hand. Was er trotz seines seltsam verletzlich wirkenden Lächelns sicher auch genau wußte. Wie die meisten Traummänner. Leider. „Dann ist dies ein offizieller Wahlkampfbesuch?“ Plötzlich war ihr die Wärme seiner Hand unangenehm. Möglichst unauffällig löste sie sich aus seinem festen Griff. „Nennen wir es eine…“ Bedeutsam schaute er auf ihre beiden Zuhörerinnen. „… Privatsache.“ Eine Privatsache? Susannahs ausdrucksvolle Augenbrauen hoben sich kaum merklich. Normalerweise führte nur eins die Leute zu „The Personal Touch“. Aber warum sollte ausgerechnet Matthew Ryan, angehender Politiker mit einem atemberaubenden Körper, dem Aussehen eines Filmstars und einem blaublütigen Familienhintergrund Hilfe bei der Partnersuche benötigen? Bisher hatte sie immer geglaubt, Männer seines Kalibers müßten die weiblichen Fans gleich scharenweise abwimmeln. „Vielleicht kommen Sie besser in mein Büro.“ „War das soweit alles, Susannah?“ erkundigte sich die ältere Frau. „Was?“ Susannah fuhr herum. „O ja, danke, Helen. Wir gehen die Gästeliste für die Party durch, wenn Sie vom Lunch zurück sind.“ Helen Sanford nickte. Nach einem scharfen Blick auf Matthew eilte sie zu ihrem Schreibtisch am Empfang. Einem Mann mit weniger ausgeprägtem Selbstbewußtsein wären jetzt ernsthafte Zweifel an seiner Existenzberechtigung gekommen. „Verschlingt sie die Männer als Vorspeise, oder habe gerade ich es ihr besonders angetan?“ Eine Kakerlake, die es wagte, unter der Spitze ihrer biederen Schuhe hervorzukriechen, wäre begeisterter empfangen worden. „Keine Angst. Sie meint es nicht persönlich.“ Vor sechs Monaten hatte Helens Mann sie nach fast dreißigjähriger Ehe wegen einer wesentlich Jüngeren verlassen; seitdem mißtraute sie dem männlichen Geschlecht generell. Bislang
war jeder Aufmunterungsversuch fehlgeschlagen. Helen war zerfressen von Bitterkeit und… „Miss Bennington?“ „Entschuldigen Sie. Und nennen Sie mich doch bitte Susannah.“ Mit einer graziösen Bewegung hielt sie ihm die Tür auf. „Sollen wir?“ Ihr einladendes Lächeln und der hinreißende Hüftschwung wirkten auf Matt wie ein Versprechen sinnlicher Freuden. Sein Herzschlag war auf Hochtouren, und statt an Susannah vorbeizugehen, blieb er in der Tür stehen und legte ihr die Hand auf den Arm. Ihre Blicke trafen sich. Er vergaß vollkommen, was er sagen wollte. Ihre Augen waren braun. Kein profanes Allerweltsbraun, nein, ein samtiges Braun; so süß und verlockend wie heißes Karamel, mit dem warmen, goldenen Schimmer kostbaren Brandys. Der Ausdruck war fragend und erwartungsvoll, bereit, ihm jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Wie sie wohl reagieren würde, wenn er seinem drängendsten Wunsch auf der Stelle nachgab? Unwillkürlich beugte er sich zu ihr. Ihr weicher, leicht geöffneter Mund war eine einzige Einladung, und er konnte es kaum erwarten, ihren süßen, betörenden Geschmack zu kosten. Er hat die blauesten Augen, die ich je gesehen habe, dachte Susannah. So silberblau wie das Zentrum einer Flamme oder das Herz eines unerschwinglich teuren Saphirs. Intensiv. Bezwingend. Verführerisch. Verheißungsvoll. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück und stieß dabei prompt gegen den Türpfosten. „Mr. Ryan?“ Sie atmete ein paarmal tief durch. Ihr Verstand schien momentan völlig lahmgelegt zu sein, und sie konnte nur noch an Sex, Lust und Leidenschaft denken. „Hatten Sie eine Frage, Mr. Ryan? Äh… Matt?“ erkundigte sie sich schärfer als beabsichtigt. Matt blinzelte. Nur mit Mühe fand er seine Fassung zurück. Was hatte diese Frau, daß schon ein kurzer Blick dermaßen seine Sinne verwirrte und sein Blut in Wallung versetzte? Zur Hölle, so stark hatte er noch nie auf ein weibliches Wesen reagiert! Allmählich kehrte auch sein sonst so klarer Verstand zurück, und der verrückte Impuls, sie zu küssen, schwand ebenso schnell, wie er gekommen war. Zumindest fast. Wegen der kleinen, aber bedeutsamen Einschränkung schien ihm eine gewisse Distanz zwischen ihm und dieser wandelnden Versuchung am vernünftigsten zu sein. Vielleicht legte sich diese verrückte Anziehungskraft dann ja ganz, ehe er etwas wirklich Dummes anstellte, wie beispielsweise… Schluß damit! Seine Anwesenheit an diesem Ort war ihm ohnehin schon peinlich genug. „Wie ich hörte, soll Ihr Service sehr gut sein. Sehr…“ Er zögerte. „… diskret. Diskretion ist ausgesprochen wichtig für mich.“ Susannah löste sich von der Tür und folgte ihm ins Büro. „Niemand wird je von Ihrem Besuch erfahren. Es sei denn, Sie erwähnen es selbst“, versicherte sie ihm lakonisch. Sie wußte genau, worauf er abzielte. Das war es dann wohl. Wieder um eine Illusion ärmer. Wenigstens hatte sie nun eine plausible Erklärung für seinen intensiven Blick. Ein prüfender Blick aus reiner Vorsicht. Denn welcher aufstrebende Politiker, egal, wo auf dieser Welt, würde schon seinen Besuch in einer Partnervermittlung publik machen wollen? Für die Sensationspresse wäre diese Story ein gefundenes Fressen. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee oder Tee anbieten, ehe wir anfangen? Oder einen Drink?“ Ihr Ton war ganz geschäftsmäßig.
Matt schüttelte den Kopf. „Jetzt, wo ich hier bin, möchte ich die Angelegenheit so schnell wie möglich über die Bühne bringen.“ Demonstrativ sah er auf die Uhr. „Ich habe wirklich keine Zeit zu verschwenden.“ Was, so dachte Susannah, während sie hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm, vermutlich auch der Grund ist, weshalb ein Mann wie er in meinem Büro sitzt. Zeit. Die ständige Geißel des modernen, karrierebesessenen Singles. Zeit war Geld. Für mehr als eine unverbindliche Affäre reichte sie nur selten. Zweifellos war das Leben eines angehenden Politikers noch terminreicher als das der meisten Menschen, besonders wenn der Betreffende so ganz nebenbei noch ein höchst erfolgreicher stellvertretender Bezirksstaatsanwalt war, auf dessen Schreibtisch sich die Fälle türmen dürften. „Dann kommen wir doch direkt zur Sache.“ Sie deutete auf das grüne Samtsofa und zog mit der anderen Hand Block und Bleistift heran. „Wie lauten Ihre Wünsche?“ „Wünsche?“ „Nach was für einem Typ suchen Sie?“ „Vorrangig nach einer sympathischen Begleitperson.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Verblüfft sah sie auf. Erstaunlich. Nach ihrer langjährigen Erfahrung hätte sie eigentlich eine Aufzählung aller körperlichen Attribute seiner Traumfrau erwartet. Damit fingen die meisten Männer an. „Gebildet oder zumindest belesen“, fügte Matt hinzu, da sein Gegenüber schwieg. „Ein Interesse für das Tagesgeschehen sollte vorhanden sein. Die Liebe zu Musik und Literatur. Und zum Ballett. Eine kultivierte Persönlichkeit…“ Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. „… aus guter Familie.“ „Kultiviert mit akzeptablem Hintergrund.“ Kein Wunder, daß seine weibliche Fanriege kein Glück bei ihm hatte. Sucht eine Lady, notierte sie und unterstrich „Lady“ mit einer dicken Linie. „Stellt das ein Problem dar?“ Nur weil es mich als Kandidatin ausschließt… Leicht entnervt warf sie den Stift hin. Sie suchte ja gar keinen Mann. Und erst recht keinen, der seine Partnerin in die eng definierte Rolle einer „Lady“ zwängen wollte. Mochte er auch noch so verführerische himmelblaue Augen haben. „Mit anderen Worten, sie wünschen jemanden, der sich problemlos in die High Society von San Francisco einfügt.“ Energisch verbot sie sich jeden weiteren Gedanken an sein zugegebenermaßen beeindruckendes Äußeres und seine schier unwiderstehliche Anziehungskraft. „Richtig?“ „Ja. Genau.“ Matt war mehr als erleichtert, daß sie ihn so gut verstand. „Hobbys? Irgendwelche speziellen Interessen außer dem Ballett?“ „Oper und die Sinfoniker. Golf. Gartenarbeit.“ Er überlegte kurz. „Kenntnisse über Rosen wären ein zusätzliches Plus.“ „Rosen?“ Dieser gnadenlose Staatsanwalt mit Gartenschere und Blumenkorb? Eine erstaunliche Vorstellung! „Meine Mutter ist begeisterte Rosenzüchterin“, erklärte er. „Ach so.“ Ein umsichtiger Sohn, schrieb sie. Wünscht eine Frau, die sich auch mit seiner Mutter versteht. Könnte bereit zu einer ernsthaften Beziehung sein. Zu schade, daß sie nicht zur Diskussion stand. „Ich nehme an, Sie erwarten ähnliche politische Anschauungen?“ Sie ließ ihren leichten Spott einen Moment nachhallen. „Bloß keine eingeschworenen Liberalen, richtig?“ „Oh, wir Ryans sind allen Herausforderungen gegenüber aufgeschlossen.“ Er lächelte träge, was verheerende Auswirkungen auf ihr inneres Gleichgewicht hatte. Eine feine Röte stieg ihr in die Wangen. Winzige Lachfältchen bildeten sich
um seine Augenwinkel und reizten sie, auf seinen Flirt einzugehen. Aber in diese Falle war sie bereits einmal getappt. Hastig sah sie auf ihren Notizblock. „Wie steht es mit der Religion?“ Du bist nicht interessiert, Susannah Bennington! „Ist das ein wichtiger Punkt?“ „Nun…“ Matt löste den Blick von ihren verlockenden Lippen, rutschte nach vorn und betrachtete seine Schuhspitzen, als seien sie das Faszinierendste der Welt. Hör auf, dir ständig die heißesten Bewegungen für diesen wundervollen Mund auszudenken, und bekomm lieber deine überaktive Libido in den Griff! befahl er sich streng. „Meine Familie gehört der Evangelischen Kirche an, und wir nehmen sonntags meist am Gottesdienst teil, aber, nein…“ Er schüttelte den Kopf. „… besonders wichtig ist das nicht.“ Susannah nickte. Tolerant, fügte sie ihrer Liste hinzu. „Solange Sie nicht von religiösen Fanatikern oder militanten Atheisten reden.“ Innerhalb gewisser Grenzen, korrigierte sie. „Haben Sie spezielle körperliche Vorlieben?“ Selbstverständlich war ihr Interesse an seiner Antwort rein professioneller Natur. „Vorlieben?“ „Größe? Gewicht? Maße? Teint? Haarfarbe? Sie wissen schon…“ Tat er das? Sie riskierte einen schnellen Blick. „Nun…“ Wie sah der Traummann seiner Mutter aus? Sein Vater war eine gepflegte, durchtrainierte Erscheinung mit sandbraunem Haar und blauen Augen gewesen, in die ein leidenschaftliches Glitzern trat, wann immer die Rede auf das Gesetz kam. Das und seine stolze, aufrechte Haltung waren seine charakteristischsten Merkmale gewesen, bis eine Reihe von Schlaganfällen ihn schließlich das Leben gekostet hatten. „Ich benötige keine detaillierte Aufzählung spezifischer Charakteristika“, half Susannah ihm weiter. „Außer natürlich es gäbe einige physische Voraussetzungen, die Sie für unabdingbar halten. Beispielsweise eine gewisse Mindestgröße…“ Ihre Stimme verklang. Nicht, daß ein Mann wie Matthew Ryan gleich seine Idealmaße herunterratterte. Nein, dazu war er zu weltgewandt. Obwohl sie von ihren männlichen Klienten so einiges gewohnt war. „Eine generelle Beschreibung reicht.“ Schreibbereit hielt sie den Stift über ihren gelben Block, um all die kleinen Unverfänglichkeiten zu notieren, die weltgewandte Männer anstelle von „viel Holz vor der Hütte“ benutzten. Worte wie groß, elegant, stattlich, blond… „Durchschnittliche Größe, schätze ich.“ In Gedanken sah Matt seinen Vater vor sich. „Durchschnittliches Gewicht. Nicht dick, auch nicht zu mager. Und ganz bestimmt kein Muskelpaket, das den lieben langen Tag im Fitneßstudio verbringt.“ „Ich verstehe genau, was Sie meinen.“ Unglaublich! Allem Anschein nach war dieser Mann tatsächlich an einer richtigen Frau interessiert! „Sonst noch etwas?“ Er hatte den Blick wieder angelegentlich auf seine Schuhspitze gerichtet, daher entging ihm ihre Bewunderung. „Gepflegt“, antwortete Matt. Seine Mutter war stets untadelig gekleidet und sehr auf ihr Erscheinungsbild bedacht. Außerdem war sie ausgesprochen aktiv für ihr Alter – was ihre vielfältigen gesellschaftlichen Verpflichtungen anging, natürlich. „Und gesund.“ „Heißt das, Sie wären einem AidsTest gegenüber aufgeschlossen?“ Endlich besaß sie seine volle Aufmerksamkeit. „Ein AidsTest?“ Seine Mutter, allseits respektierte Witwe eines Richters des Obersten Gerichtshofs, Mitglied des Gartenbauvereins, Sponsorin des Jugendsinfonieorchesters – seine Mutter sollte sich einem AidsTest unterziehen?
Allein der Gedanke war haarsträubend. „Ein AidsTest ist unnötig“, sagte er
brüsk.
„Vielleicht überlegen Sie es sich noch mal. So ein kleiner gesundheitlicher Check
up läßt noch lange keine negativen Rückschlüsse auf die Moral eines Menschen
oder seine sexuellen Neigungen zu. Heutzutage ist es lediglich eine weise
Vorsichtsmaßnahme, ehe man sich Hals über Kopf in eine… ahm…“
Jetzt aufzusehen war ein fataler Fehler von ihr. Sein anzügliches Lächeln übte
eine verheerende Wirkung auf ihren Verstand aus.
Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich.
Matt bewegte sich unruhig auf dem grünen Samtsofa.
Susannah hielt den Atem an und versuchte verzweifelt, ihre ausufernde
Phantasie unter Kontrolle zu bekommen. Früher oder später führte sie diese
Unterhaltung doch mit den meisten ihrer Klienten. Also kein Grund zur Panik.
Oder Erregung. Warum klopfte ihr Herz dann wie nach einem Marathonlauf?
„Hals über Kopf hineinstürzt in was?“ Erwartungsvoll beugte Matt sich vor. Sein
Körper war angespannt wie ein Bogen, der gleich seinen Pfeil losschoß. Soviel
Aufmerksamkeit bekam sonst nur das ausstehende Urteil in einem Präzedenzfall.
Susannah schluckte. Nein, sie täuschte sich nicht. Hier ging es ganz entschieden
um einen überaus seltenen Fall von Leidenschaft auf den ersten Blick!
„… in eine sexuelle Beziehung“, schloß sie atemlos und sah ihm gebannt in die
Augen. Zwischen ihnen sprang ein Funke über, ein Funke, der ein gieriges,
verzehrendes Feuer entfachte.
Ungezügelte, hungrige Lust traf auf kaum verhüllte Sehnsucht. Lockend und
verlockend. Phantasievoll verführerisch. Ein einziges glutvolles Versprechen.
Für ein leidenschaftliches Intermezzo fehlt dir im Moment die Zeit, ermahnte
Matt sich. Dein Terminkalender platzt jetzt schon aus aus allen Nähten.
Außerdem ist sie nicht mal dein Typ!
Er ist ein Klient, erinnerte sich Susannah. Und es wäre unethisch, Beruf und
Privatleben zu vermischen. Davon abgesehen, ist er überhaupt nicht dein Typ!
Entschieden schauten sie woanders hin.
„Ein AidsTest wird unnötig sein“, wiederholte Matt fest. Er lehnte sich auf der
Couch zurück und zupfte sorgfältig einen nicht existierenden Fussel von seiner
makellosen navyblauen Hose.
Susannah gab sich geschlagen. Aufklärungsarbeit in Sachen Aids war ja auch
wirklich nicht ihre Aufgabe. Besonders nicht bei einem Mann, der zweifellos alt
genug und selbst in der Lage war, auf seine Gesundheit zu achten. „Kommen wir
zur Haarfarbe.“ Sie hielt den Kopf gesenkt, ihr Blick klebte förmlich an dem
gelben Notizblock.
„Solange es weder Pink, Violett oder sonst ein verrückter Ton ist, spielt die Farbe
keine Rolle“, beschied er sie knapp. „Dasselbe gilt für die Augen“ , setzte er in
weiser Voraussicht hinzu. „Ich suche schlicht und ergreifend jemanden, der
vorzeigbar und nett ist.“
„Wie steht es mit Nikotingenuß?“
„Nichtraucher, ganz entschieden.“
„Alkohol?“
„In Maßen.“
„Altersgruppe?“
„Hmm… fünfundfünfzig bis fünfundsechzig.“ Seine Mutter war achtundfünfzig;
sein Vater war bei seinem Tod zweiundsechzig gewesen.
Susannah fiel der Bleistift aus der Hand. „Fünfundfünfzig bis fünfundsechzig?“
Bestimmt hatte sie ihn falsch verstanden.
„Vielleicht auch siebzig. Solange er ein wirklich junggebliebener Siebzigjähriger
ist.“
„Siebzig?“ hakte sie äußerst ungläubig nach. Erst da traf sie die Wucht der
Erkenntnis. Ihre Augen weiteten sich. Hatte Matthew Ryan wirklich „er“ gesagt?
2. KAPITEL Eine Menge chaotischer Gedanken schossen Susannah durch den Kopf. Das kann unmöglich wahr sein! Und selbst wenn, warum sucht er dann einen Partner, der soviel älter ist als er? Er muß verrückt sein. Damit setzt er seine politische Karriere aufs Spiel! Und geradezu wahnsinnig, daß er so arrogant über einen AidsTest hinweggeht! Kein Wunder, daß er mich unter vier Augen sprechen wollte und daß körperliche Vorzüge für ihn eine so untergeordnete Rolle spielen! Ihr plötzliches Schweigen brachte Matt ebensosehr aus dem Konzept wie ihr merkwürdiger Gesichtsausdruck. „Sie halten siebzig für zu alt?“ Du lieber Himmel, wie hatte sie Matthew Ryan nur so vollkommen falsch einschätzen können? Dabei hatte er ihr doch jede Menge Anhaltspunkte gegeben. Und das nicht nur unterschwellig! Da war sein ausgeprägtes Interesse am Ballett und der Oper… Die Bemerkungen über Rosenzucht und Kultiviertheit… Und nicht zuletzt sein Bedürfnis nach äußerster Diskretion. Zudem wich er ständig ihrem Blick aus! Es war alles so offensichtlich. Zumindest jetzt, wo sie klarsah. „Siebzig ist nicht zu alt?“ „Nein, es ist…“ Sie räusperte sich. „Es ist…“ Reiß dich zusammen, Susannah Bennington! Dir sollte doch nichts Menschliches fremd sein! „Ist was?“ Daß sie einfach nur dasaß und ihn anstarrte, als sei ihm ein zweiter Kopf gewachsen, irritierte Matt zunehmend. „Was ist los?“ „Siebzig ist schon in Ordnung. Wenn es das ist, was Sie tatsächlich wünschen.“ „Vollkommen richtig, das ist es.“ Seine Augen schossen Blitze, was er sich sonst nur für besonders unkooperative Zeugen aufhob. „Und jetzt versuchen Sie es mal mit der Wahrheit.“ Susannah öffnete den Mund. Kein Ton kam heraus. Was sollte sie auch sagen? Seine sexuellen Vorlieben gingen sie absolut nichts an. Allerdings mußte sie klarstellen, daß „The Personal Touch“ sich nicht mit der Vermittlung gleichgeschlechtlicher Partner befaßte. Aber wie? In den drei Jahren seit Eröffnung der Agentur war ihr so etwas noch nie passiert. Nicht ein einziges Mal! „Susannah?“ „Ich kann einfach nicht glauben, daß Sie schwul sind“, platzte sie heraus und wurde knallrot. Wie von der Tarantel gestochen, schoß Matt hoch. „Was?“ „Ich meine, natürlich kann ich es glauben.“ Das mußte der peinlichste Augenblick ihres Lebens sein! „Sie sitzen ja vor mir. In Lebensgröße. Es ist nur so, daß ich es mir bei unserem Kennenlernen nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte.“ War diese Ausdrucksweise politisch korrekt? „Das soll keine versteckte Kritik sein, denn schließlich sind es viele Menschen. Homosexuell, meine ich. So ungewöhnlich ist das ja nun auch wieder nicht“, wiegelte sie ab und beging gleich den nächsten Fauxpas. „Nur hatte ich angenommen… Sie sind so attraktiv…“ Nein, das klang jetzt aber wirklich rückständig! Als ob das Aussehen ein Indiz für sexuelle Neigungen wäre! „Sie stehen so oft in der Zeitung, und bislang gab es nie Gerüchte. Und dann, wie Sie mich vorhin angesehen haben. Besser gesagt“, korrigierte sie sich schnell, „wie ich dachte, daß Sie mich angesehen hätten.“ O verflixt! Ihre übereifrige Zunge brachte sie noch in Teufels Küche! Sie rang sich ein Lächeln ab, von dem sie leider sicher war, daß es ihr mißlang. „Ich hatte es Ihnen einfach nicht zugetraut. Tut mir leid, daß ich Sie in Verlegenheit gebracht habe.“ Und mich gleich mit, dachte sie und wand sich innerlich bei der Erinnerung an die Art, wie sie ihn… nun ja, angeschmachtet hatte, wo er doch offensichtlich nicht angeschmachtet werden wollte. Zumindest
nicht von einer Frau. „Schwul?“ Nie zuvor hatte jemand seine sexuelle Orientierung in Frage gestellt. Und jetzt das! Und dann auch noch von einer Frau, auf die er praktisch auf Anhieb einen schnell eskalierenden erotischen Heißhunger entwickelt hatte. Das war ja fast schon lachhaft. Aber eben nur fast. Sein erster Instinkt befahl ihm, über den Schreibtisch zu hechten und ihr das Gegenteil zu beweisen. Auf die unmißverständlichste Weise. Leider folgte er nur selten dem ersten Instinkt; sein analytisches Anwaltsgehirn war zu diszipliniert für derart impulsive Aktionen. Dennoch, der Drang, zu seiner Verteidigung irgendeinen überwältigenden MachoAkt zu begehen, war unleugbar vorhanden. Seine Miene verriet vermutlich nichts von dem Aufruhr der Gefühle, die in ihm tobten; weder die verletzte Eitelkeit noch den aufkeimenden Wunsch, schallend zu lachen. Entspannt lehnte er sich zurück. Bei jedem Kronzeugen im Kreuzverhör hätten sich jetzt die Nackenhärchen aufgerichtet: Matt Ryan startete zum Frontalangriff! „Und was genau bringt Sie zu dieser Annahme?“ wollte er ohne Umschweife wissen. „Nun, um die Wahrheit zu sagen, anfangs dachte ich doch tatsächlich, Sie sprächen von einer Frau, was mir überaus peinlich ist, Ihnen einzugestehen.“ Daran ließen ihre hochroten Wangen keinen Zweifel. „Bis Sie dann sagten, es sei Ihnen egal, wie alt ,er’ sei, solange es sich bei ,ihm’ um einen junggebliebenen Siebzigjährigen handle.“ Trotz ihres Bemühens, sich abgeklärt zu geben, was alternative Lebensstile anging, wirkte Susannah Bennigton leicht pikiert. Seine Mundwinkel zuckten. „Leider erkannte ich nicht, daß Sie Ihren Idealmann beschrieben.“ Ein leiser Vorwurf schwang in ihren Worten mit. Jetzt unterstellte sie ihm auch noch absichtliche Irreführung! Mit einem erstickten Laut, der zwischen Stöhnen und Lachen lag, gab sich seine empörte Männlichkeit von der Absurdität der Situation geschlagen. Das Komische daran ist, dachte Matt, daß sie vollkommen recht hat. Er hatte tatsächlich den idealen Mann beschrieben. „Für meine Mutter.“ Die Frau, die unschuldigerweise sein Ego beträchtlich angekratzt hatte, starrte ihn entgeistert an. „Ihre Mutter?“ „Sie ist Witwe, und ich suche einen Begleiter für sie.“ Allmählich dämmerte es Susannah. Eine verräterische Röte stieg ihr in die Wangen, was ihr in den letzten Sekunden erschreckend häufig passiert war. „Ihre Mutter!“ Er war hier wegen seiner Mutter, und sie hatte ihn beschuldigt… Erschüttert vergrub sie das Gesicht in den Händen und wäre am liebsten in den Erdboden versunken. „Ach du lieber Himmel!“ „Ja, ich denke, das drückt es so ungefähr aus.“ Sie spreizte die Finger und wagte einen vorsichtigen Blick. Mit allem möglichen hatte sie nach diesem Fiasko gerechnet: einem Wutanfall, einer Retourkutsche, einem schweigenden Abgang, unter Umständen sogar eine Verleumdungsklage. Aber Matt Ryan grinste frech! Seine Augen funkelten übermütig, während er sich an ihrer Verlegenheit weidete. Sofort nahm sie die Hände herunter. „Sie sind nicht wütend?“ Unglaublich! Die meisten Männer ihres Bekanntenkreises wären bei einer solchen Unterstellung explodiert! „Ich bin am Boden zerstört. Mein Ego erholt sich vielleicht nie wieder von diesem Schlag.“ Ein kleines Lächeln umspielte Susannahs Lippen. „Irgendwie bezweifle ich, daß selbst ein ShermanPanzer Ihrem Ego etwas anhaben könnte. Nichtsdestotrotz tut mir dieses Mißverständnis aufrichtig leid.“ Daß sie zudem enorm erleichtert
war, verschwieg sie lieber. Außerdem war Angriff immer noch die beste Verteidigung. „Obwohl meine Klienten mich normalerweise mit eindeutigen Absichten aufsuchen…“ Hoppla! Wenn sie so weitermachte, schlitterte sie gleich in die nächste Katastrophe. „Das heißt, sie suchen einen Partner für sich selbst. Also war es eine ganz natürliche Schlußfolgerung, unter den gegebenen Umständen.“ „Oh, ganz natürlich“, pflichtete Matt ihr immer noch schmunzelnd bei. „Und als Sie dann ,er’ sagten, nun…“ Sie hob die Schultern. „Was soll ich sagen? Ich habe einen offensichtlich falschen Rückschluß gezogen.“ „Noch vor einer Minute hielten Sie ihn für ganz und gar nicht offensichtlich.“ Diese Bemerkung konnte Matt sich einfach nicht verkneifen. Und wie er es erhofft und erwartet hatte, errötete sie erneut so bezaubernd. Der rosige Ton zog sich nicht nur über ihre Wangen und den schlanken Hals, sondern breitete sich bis unter den weißen Spitzenkragen ihres Kleides aus. Unter halb gesenkten Lidern betrachtete er sie und stellte sich ihre zart gerundeten Brüste unter all der Spitze vor. Doch was als kleine Rache gedacht war, ging eindeutig nach hinten los. Er war prompt erregt. „Tja, nun…“ Entschieden reckte Susannah das Kinn vor, auch wenn ihr die Sinnlichkeit des Augenblicks sehr zu schaffen machte. Sie glühte wie im Fieber, das Herz hämmerte gegen ihre Rippen, und ein seltsames Flattern machte sich in ihrer Magengrube breit. „Sollen wir noch mal von vorn anfangen?“ Alles, wenn dadurch nur diese peinliche Episode aus der Welt wäre. „Mit meinen bisherigen Notizen kommen wir nicht weit.“ „Ich muß Sie warnen, Matt, UndercoverKuppelei ist nicht mein Stil“, verkündete Susannah fünfzehn Minuten später, nachdem sie die wichtigsten Fakten über Millicent Ryan kannte. „Ich habe noch nie zwei Menschen zusammengebracht, ohne vorher mit beiden Betroffenen zu sprechen. Für mich ist die Vermittlung eines Partners mehr als lediglich die Verbindung möglichst vieler ähnlicher Vorlieben und Abneigungen.“ Sie deutete auf ihre Notizen. „Ich verlasse mich ebenso stark auf meinen persönlichen Eindruck und meine Intuition.“ „Intuition, ja?“ Nach der kleinen Kostprobe von vorhin war Matt auf das Schlimmste gefaßt. „Weibliche Intuition?“ „Gefühl. Instinkt. Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Wie immer Sie es nennen wollen“, umschiffte Susannah geschickt die Klippe. „Der springende Punkt ist: Auf dem Papier können zwei Menschen so perfekt füreinander erscheinen wie zwei Erbsen im Topf, dennoch funkt es nicht zwischen ihnen. Genau wie Gegensätze sich oft ganz unerwartet anziehen.“ Rein hypothetisch gesprochen. Ihre Reaktion auf ihr viel zu attraktives Gegenüber lag allein an ihrer schwachen Tagesform. „Gerade einige meiner glücklichsten Paare weisen auf den ersten Blick keinerlei Gemeinsamkeiten auf. Liebe läßt sich eben nicht programmieren.“ „Ich verlasse mich da ganz auf Ihre Erfahrung.“ „Selbst wenn ich einen geeigneten Kandidaten fände, wie soll ich ihn Ihrer Mutter vorstellen, ohne daß sie von meiner Aufgabe erfährt?“ „Machen Sie sich darüber keine Sorgen. Sie finden den richtigen Mann. Das Ränkeschmieden ist dann mein Ressort.“ „Und Sie haben dieses Ressort bereits gründlich organisiert, stimmt’s?“ „Selbstverständlich.“ Matt war der Inbegriff männlichen Siegesbewußtseins. „Das reinste Kinderspiel. Ein ‚zufälliges Treffen’ während meines nächsten Wahlkampfauftritts, ein ,alter Bekannter’ auf der einen oder anderen Wohltätigkeitsveranstaltung. Solange sich unser Kandidat diskret verhält, schöpft sie nicht den leisesten Verdacht.“
„Warum haben Sie es dann nicht schon früher gemacht?“ „Eine Partnervermittlung eingeschaltet?“ „Sie verkuppelt. Sie kennen doch bestimmt eine Unmenge begehrter Junggesellen. Anwälte, Richter, Industriekapitäne. Lauter hohe Tiere.“ Ihr Ton war spöttisch. „Die Creme der Gesellschaft.“ Snobs. Reich, konservativ und todlangweilig. „Glauben Sie mir, ich habe es versucht. Aber alle passenden Männer, die ich kenne, kennt sie ebenfalls. Und das schon seit Jahren. Die meisten von ihnen waren entweder Kollegen meines Vaters, oder es sind enge Freunde der Familie. Falls sie auch nur an einem von ihnen das geringste Interesse zeigte, hätte sich das Problem inzwischen ganz von selbst gelöst. Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß, wann ich an die Grenzen meiner Möglichkeiten stoße.“ Verschwörerisch lächelte er sie an. „Und wann es Zeit ist, einen Profi einzuschalten.“ „Nun, als Profi kann ich Ihnen nur raten, Ihre Mutter von Ihrem Vorhaben in Kenntnis zu setzen. Diese ganze Aktion hinter ihrem Rücken erscheint mir so… unaufrichtig. Besonders, falls sie sich tatsächlich für einen unserer Kandidaten entscheiden sollte. Eine Beziehung auf einer Lüge aufzubauen, halte ich für keine besonders gute Idee.“ „Hey, es ist ja nur eine winzigkleine Lüge und für einen guten Zweck. In dem Fall heiligt der Zweck die Mittel. Davon abgesehen geht meine Mutter nur so wirklich unvoreingenommen an eine neue Beziehung heran.“ „Aber…“ „Kommen Sie, Susannah. Ich habe sie schon unzählige Male darauf angesprochen, aber sie behauptet, sie sei zu alt für diesen ganzen Unsinn. Vermutlich ist ihr eine private Verabredung mit einem von Dads alten Freunden einfach unangenehm.“ „Oder sie trauert immer noch um Ihren Vater“, gab Susannah zu bedenken. „Zwei Jahre sind keine sehr lange Zeit.“ Matt seufzte. „Ein Teil von ihr wird ihn niemals vergessen – kurz vor seinem ersten Schlaganfall feierten sie ihren siebenunddreißigsten Hochzeitstag –, doch alle Anzeichen sprechen dafür, daß sie über das Schlimmste hinweg ist. Sie nimmt wieder regen Anteil am Leben.“ Ganz besonders an seinem Leben. „Sie ist bereit für den nächsten Schritt, wie immer der auch aussehen mag.“ Ein mutwilliges Glitzern trat in seine blauen Augen. „Jedenfalls bin ich bereit, dem notfalls auch ein wenig nachzuhelfen, sonst wäre ich nicht hier.“ „Ich tue mein Bestes, aber ich kann Ihnen natürlich nicht versprechen…“ Das Telefon schrillte. Susannah wartete, ob das entsprechende Lämpchen anzeigte, daß eine ihrer beiden Vorzimmerdamen das Gespräch annahm. Da sich jedoch nichts tat, entschuldigte sie sich bei Matt und griff nach dem Hörer. „’The Personal Touch’. Womit kann ich Ihnen helfen?“ Sie lauschte einen Moment. „Tut mir leid, Sir, telefonisch arrangieren wir keine Verabredungen. Sie müßten sich schon einen Termin für ein persönliches Gespräch…“ Eine steile Furche erschien zwischen ihren ausdrucksvollen Augenbrauen, als der Anrufer seine Forderung bekräftigte. „Sie haben sich offenbar verwählt. Für einen derartigen Service sind wir nicht zuständig. Nein“, unterbrach sie ihn eisig. „Ich habe nichts falsch verstanden. Dies hier ist eine seriöse Partnervermittlung und kein halbseidener Hostessenservice mit stundenweiser Bezahlung.“ Geräuschvoll knallte sie den Hörer auf. „Für einige Männer sind diese beiden Begriffe anscheinend Synonyme.“ Bei ihren Worten ging Matt ein Licht auf. „Ihre Empfangsdame.“ Plötzlich sah er
die verführerische junge Orientalin in einer ganz anderen Umgebung vor sich. „Bitte?“ „Ich wußte doch, daß ich sie von irgendwoher kenne. Beruflich, um genau zu sein. Wobei ich meinen Beruf meine, nicht ihren. Ist Ihnen eigentlich klar, daß sie eine Prostituierte ist?“ „ExProstituierte“, stellte Susannah gelassen klar. „Judy geht schon seit fast einem Jahr nicht mehr auf den Strich.“ Automatisch stellte er als Anwalt die nächste Frage. „Sind Sie da sicher?“ „Vollkommen. Seit Judy ihre frühere Arbeit aufgegeben hat, arbeitet sie halbtags in meiner Agentur. Ihr Bewährungshelfer ist ein alter Freund von mir.“ „Nur halbtags?“ „Während der restlichen Zeit besucht sie eine SekretärinnenSchule“, entgegnete Susannah schneidend. „Und ich weise Ihre Unterstellung entschieden zurück.“ Matt ignorierte die Zurechtweisung und sah sie herausfordernd an. „Wenn ich mich recht erinnere, hat sie eine ganze Serie von Festnahmen hinter sich. Und nicht nur wegen Prostitution. Sie hat ebenfalls verschiedene Vorstrafen wegen Drogenbesitzes und Bagatelldiebstählen, soweit ich weiß.“ „Das ist mir bekannt. Worauf wollen Sie hinaus?“ Er machte eine Kopfbewegung Richtung Telefon. „Sie glauben nicht, daß sie damit zu tun hat?“ „Das halte ich für ausgeschlossen.“ „Sollten Sie diese Möglichkeit nicht wenigstens in Betracht ziehen? ‚The Personal Touch’ erhält derartige Anrufe praktisch seit dem Tag unserer Eröffnung.“ Susannahs Stimme klang jetzt fast so eisig wie eben bei dem aufdringlichen Anrufer. „Lange bevor Judy ihre Tätigkeit hier aufnahm. Wie ich bereits sagte, halten manche Männer die Begriffe Partnervermittlung und Callgirlagentur für austauschbar.“ Damit war für sie die Unterhaltung beendet. Sie stand auf. Matt blieb sitzen. „Wenn Sie mich fragen, dann ist die Teilzeittätigkeit in einer Partnervermittlung die ideale Tarnung für andere, sagen wir, weitaus pikantere Aktivitäten.“ Wie konnte sie diesen arroganten, anmaßenden Moralapostel nur jemals für anziehend gehalten haben, ganz zu schweigen davon, daß sie tatsächlich erwogen hatte, ihn zu wählen? Dieser Mann war ein hartgesottener, hartherziger Hardliner ohne auch nur die geringste Unze Mitgefühl oder Verständnis in seinem ganzen atemberaubenden Körper! „Ist es nicht sehr schwierig, mit all diesem Mißtrauen belastet durchs Leben zu gehen?“ „Ich bin Staatsanwalt. Berechtigtes Mißtrauen gehört zu meinem Job.“ „Und Selbstgerechtigkeit? Ist sie ebenfalls Teil Ihres Jobs?“ Diesmal fiel Matt die Gelassenheit entschieden schwerer. Wieso ging ihm eine relativ milde Kritik nur derart unter die Haut? Im Lauf seiner Karriere war ihm schon weitaus Schlimmeres unterstellt worden, und er hatte jede Beleidigung mit einem unbekümmerten Schulterzucken abgetan. Diese Frau hatte anscheinend das seltene Talent, ihn in Rage zu versetzen. „Ich würde es lieber als gesunden Menschenverstand bezeichnen. Gewohnheitskriminelle verwandeln sich nur äußerst selten in gesetzestreue Vorzeigebürger. Besonders nicht über Nacht.“ „Judy Sukura ist keine Kriminelle, weder gewohnheitsmäßig noch sonstwie!“ verteidigte Susannah ihre Mitarbeiterin hitzig. „Sie ist eine junge Frau, die es im Leben nie leicht hatte. Sowohl zu Hause als auch auf der Straße war sie wiederholt den schlimmsten Mißhandlungen ausgesetzt. Trotzdem ist sie damit fertig geworden. Sie hat überlebt. Vielleicht nicht mit Stil, aber der bleibt in der harten Realität leicht auf der Strecke. Und zu Ihrer Information, Herr Staatsanwalt…“ Es klang, als habe er damit eine besonders tückische Krankheit.
„… so hat bei Judy keine wunderbare Verwandlung stattgefunden. Es hat sie Monate der Therapie und eine unglaubliche Selbstdisziplin gekostet, bis sie dahin gelangte, wo sie heute ist. Und davon wird noch viel mehr nötig sein, ehe sie die Wunden der Vergangenheit endgültig überwunden hat. Einschließlich jener, die ihr, wie ich vielleicht hinzufügen sollte, durch dieses dornenreiche, undurchdringliche Dickicht zugefügt wurden, das wir als Rechtsstaat bezeichnen. Ein System, das mißhandelte Frauen wie gefährliche Kriminelle behandelt, statt ihnen die Unterstützung und das Verständnis entgegenzubringen, die sie so dringend benötigen.“ Vergeblich bemühte sich Susannah, ihre Wut wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Nehmen Sie also Ihre gemeinen kleinen Verdächtigungen, Ihre widerliche Arroganz und Ihre ignorante Selbstgefälligkeit, und scheren Sie sich zum Teufel, Mr. Ryan! Und zwar sofort!“ Ihr Blick traf ihn wie ein giftiger Pfeil. „Ich habe nämlich weder die Zeit, noch verspüre ich das Bedürfnis, mich mit einem kaltschnäuzigen, karrierebesessenen Assistenzbezirksstaatsanwalt auseinanderzusetzen, der mehr berufliche Ambitionen als Mitgefühl hat.“ Fünf Sekunden Schweigen folgten. „Ehemalige Sozialarbeiterin, richtig?“ Ihr Mund klappte auf. „Was?“ „Dieser aufrüttelnde Abschnitt vom ,dornenreichen, undurchdringlichen Dickicht unseres Rechtsstaates’“, zitierte Matt schroff. Langsam war er es leid, als Anwalt Anlauf stelle für Beschimpfungen aller Art zu sein. Besonders, wenn sie von Leuten kamen, die automatisch alles, was von Seiten der Regierung kam, für suspekt hielten. „Entweder Sie haben innerhalb dieses Systems gearbeitet und sind ausgebrannt, oder Sie fühlen sich davon überrollt. Ich tippe auf ersteres.“ Sie kam ihm jedenfalls nicht wie jemand vor, der in den Mühlen der Bürokratie untergegangen war, aber man wußte ja nie. In ihr schwelte genug Zorn, daß sie auch ein Opfer der langatmigen, nicht immer sehr feinfühligen Sozialpolitik sein könnte. „Staat, County oder Stadt?“ „DistriktSozialamt“, rutschte es Susannah heraus. Also hatte er recht gehabt. „Wie lange?“ „Fast fünf Jahre. Fünf frustrierende, nervtötende Jahre.“ Bevor er nachhaken konnte, setzte Susannah hinzu: „Und ja, ich war ausgebrannt, wie Sie es so nett umschrieben haben.“ Es war immer noch ihr wunder Punkt, daß ihr offenbar das nötige Durchhaltevermögen gefehlt hatte. „Irgendwann konnte ich es nicht länger ertragen und kündigte.“ Ihr Tonfall warnte ihn, weiter zu bohren. „Es?“ „Die unüberwindbaren bürokratischen Hürden, der nie enden wollende Schreibkram, die ewigen Überstunden, der Mangel an Mitgefühl für die Unterpriviligierten. Es ist die reinste Sisyphusarbeit. Wieder und wieder müht man sich ab und kommt doch keinen Schritt weiter.“ „Und nun sind Sie sicher außen vor und glauben, das ganze System stinkt.“ „Die meisten Menschen, die im sozialen Bereich arbeiten, setzen sich voller Energie und Enthusiasmus ein. Mit den besten Intentionen und den engagiertesten Erwartungen…“ Wenigstens zu Anfang. Bevor die Hoffnunglosigkeit ihres Tuns sie zermürbt und auf den Boden der Tatsachen zurückwirft. „Sie geben ihr Bestes. Aber das System…“ Sie wollte ihn nicht beleidigen. Andererseits war sein Klischee der ausgebrannten Sozialarbeiterin auch nicht besonders charmant. Außerdem ging es hier um ihre Überzeugung. „Ganz entschieden, ja.“ Sie nickte bekräftigend. „Unser Rechtssystem stinkt, und zwar sehr. Es gibt viel zu viele Gesetzeslücken, und es
läßt viel zu viele Menschen durch die Löcher des sozialen Netzes fallen. Menschen wie Judy. Oder die Obdachlosen. Und die jugendlichen Ausreißer.“ Sie wurde immer lauter. „Mißhandelte Frauen und Kinder. AidsPatienten. Kriegsveteranen. Unsere verarmten älteren Mitbürger…“ „Und was unternehmen Sie, um deren Lage zu verbessern?“ Noch so eine dieser pseudoemphatischen Liberalen, die zwar ständig über die schlechte Situation jammerten, selbst jedoch nicht einen Finger rührten! „Was?“ „Sie stehen da und beklagen mit wutbebender Stimme all die Schwächen unseres Sozialstaats. Statt sich wenigstens um Verbesserungen zu bemühen, sind Sie vom sinkenden Schiff gesprungen. Ich möchte gern wissen, was Sie persönlich gegen die zugegebenermaßen vorhandenen Mißstände unternehmen.“ „Ich dachte daran, Sie zu wählen. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher!“ Regelrecht geschockt von ihrem gegenseitigen Sarkasmus, starrten sie sich an. Die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. „Du liebe Güte.“ Susannah faßte sich an die Kehle, in dem vergeblichen Versuch, ihren davongalloppierenden Pulsschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Wie konnten wir uns nur so in diesen Disput hineinsteigern? Nein, sagen Sie nichts“, wehrte sie ab. „Ich will es gar nicht wissen.“ „Gut. Denn da müßte ich auch passen. Es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten…“ Matt fühlte sich so unbehaglich wie ein gehemmter Schuljunge, der mit seiner Sitznachbarin einen dummen Streit vom Zaun gebrochen hat, nur damit sie ihn endlich zur Kenntnis nimmt, und der dann nicht weiß, was er mit der ganzen Aufmerksamkeit anfangen soll. „Normalerweise lasse ich mich nicht so leicht provozieren.“ „Nein, ich auch nicht.“ Was nicht hieß, daß sie ihre Meinung sonst nicht vertrat. „Nun…“ Susannah trommelte mit dem Stift auf ihren Schreibblock und zermarterte sich den Kopf nach den richtigen Worten. „Damit wäre unser Gespräch wohl beendet. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich einen geeigneten Kandidaten gefunden habe. Vorausgesetzt…“ Sie zögerte. Nur zu deutlich erinnerte sie sich an die wenig schmeichelhaften Vorwürfe der ,widerlichen Arroganz’ und ,ignoranten Selbstgefälligkeit’. „… Sie haben Ihre Absicht inzwischen nicht geändert.“ Eine Sekunde lang zog Matt einen strategischen Rückzug ernsthaft in Erwägung. Klüger wäre es. Diesmal allerdings schlug er den Rat der Vernunft in den Wind. „Kontroversen sind die Würze meines Alltags. Der Job gehört Ihnen“, bekräftigte er mit einem kurzen Nicken. „Gut“, sagte Susannah betont fröhlich. „Ich rufe Sie in den nächsten Tagen an.“ Sie ging um den Schreibtisch herum und zur Tür. Als Matt aufstand und ihr folgte, beschleunigte sie das Tempo. „Dann können wir immer noch besprechen, wie wir ein Treffen der beiden arrangieren.“ Sie faßte nach dem altmodischen Messingknauf. Doch bevor sie ihren Besuch aus dem Büro komplimentieren konnte, legte Matt ihr seine Hand auf ihre. Sie erstarrte. „Nur eins noch.“ Flucht, war ihr erster Gedanke. Denn sie wußte haargenau, wovon er sprach. Leider besaß ihr Körper in diesem ungünstigsten Moment einen eigenen Willen und rührte sich nicht vom Fleck. „Ich werde wahrscheinlich erst frühestens nächste Woche einen Kandidaten für Sie haben“, meinte sie ihn informieren zu müssen, als habe er nichts gesagt. Dabei starrte sie wie gebannt auf seine Hand. Eine ausgesprochen schöne Männerhand. Die Finger waren lang und schmal, die Nägel leicht poliert, das Handgelenk wirkte aufregend kraftvoll unter der
schneeweißen Manschette. Abgesehen von den ordentlich manikürten Nägeln hätte es auch die Hand eines Arbeiters sein können. Groß und gebräunt, zupackend, mit goldblonden Flaumhärchen auf dem Handrücken. „Üblicherweise dauert die Suche nach einem passenden Partner mindestens eine Woche. In Ihrem Fall vielleicht auch länger, da ich…“ Sein Griff wurde fester. „… da ich Ihre Mutter nicht kenne…“ In seinen Augen züngelten kleine Flammen der Leidenschaft, ein verzehrendes Feuer, das ihre eigenen Sehnsüchte widerspiegelte. „… persönlich zumindest…“ Sein Kuß war wesentlich stürmischer, als ein erster Kuß es sein sollte, und ließ keinen Platz für Protest oder Verweigerung. Geschickt, erfahren und sehr nachdrücklich brachte Matt sein drängendes Verlangen zum Ausdruck und riß sie in einen Strudel wilder Lust. Spontan stellte Susannah sich auf die Zehenspitzen, umfaßte die Revers seines dunkelblauen Jacketts, schmiegte sich an ihn und spürte das rasende Pochen seines Herzens. Ein Pochen, das sich an einer wesentlich tieferen Stelle wiederholte. Der Kuß hatte eine ebenso schnelle und starke Wirkung auf ihn wie auf sie. Als Matt dann den Kopf hob, rangen sie beide nach Atem, und sie versuchten beide, sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Ein unbändiges Zittern lief durch Susannahs Körper, und ihre Knie waren wie Pudding. Trotzdem erkundigte sie sich mit einer Gelassenheit, die oscarverdächtig war: „Gab es dafür einen bestimmten Grund?“ Matt drückte sie noch einmal fest an sich. Hart und heiß spürte sie den untrüglichen Beweis seiner Erregung. „Nur für den Fall, daß du noch Zweifel hattest.“ Dann ließ er sie los und verließ fast fluchtartig das Büro. Ehe er noch etwas wirklich Verrücktes tat. Zum Beispiel, Susannah die Kleider herunterzureißen und gleich hier und jetzt über sie herzufallen.
3. KAPITEL „Das war jetzt schon die dritte Niete!“ „Keiner dieser Männer ist eine Niete“, widersprach Susannah und schnitt dem Telefonhörer eine Grimasse. „Alle drei sind sehr nette, gebildete, konservative, wohlerzogene Gentlemen. Deinen Worten nach genau der Typ deiner Mutter.“ „Aha. Deshalb hat sie dann auch einen deiner Blindgänger nach dem anderen eiskalt abblitzen lassen, ja?“ beschwerte sich Matt. „Bis jetzt ist sie noch nicht mal eine Verabredung eingegangen.“ „Und wessen Schuld ist das? Ich habe dich gewarnt, Matt. Wie soll ich einen Partner für deine Mutter finden, wo ich sie überhaupt nicht kenne? Es gibt einfach Dinge, die man nur persönlich über einen Menschen herausfinden kann. Genau deshalb nenne ich meine Agentur ja auch ,The Personal Touch’. Denn erst das persönliche Engagement macht erfolgreiche Ehestiftung aus.“ Am anderen Ende der Leitung folgte eine längere Pause. „Na schön.“ Matt seufzte laut. „Ich stelle euch einander vor.“ „Oh, das ist gut.“ Endlich zeigte er sich vernünftigen Argumenten zugänglich! „Je eher, desto besser. Laß mich mal sehen…“ Susannah blätterte ihren Terminkalender durch. „Wie war’s morgen zum Lunch? Sie kann herkommen, oder wir treffen uns im Restaurant. Es sei denn, ein Gespräch im privaten Rahmen fiele ihr leichter. Üblicherweise suche ich meine Klienten zwar nicht zu Hause auf, aber…“ „Nein.“ „Nicht morgen?“ Sie blätterte weiter. „Der Rest der Woche ist soweit ausgebucht.“ „Nein“, stellte Matt brüsk klar. „Ich meine damit, daß du sie nicht interviewen wirst.“ „Gerade sagtest du…“ „Daß du sie kennenlernen könntest. Richtig. Nur muß sie bei der Gelegenheit ja nicht gleich erfahren, daß ich dich angeheuert habe, hinter ihrem Rücken auf Männerfang zu gehen.“ Susannah verdrehte genervt die Augen. „Deine Mutter wird mir kaum ohne jede Veranlassung ihr Herz ausschütten. Es sei denn, sie ist in Wahrheit ganz anders, als du sie beschrieben hast.“ Was durchaus möglich wäre, denn sonst hätte sie sich wie eine Schneekönigin über die drei Auserwählten freuen müssen. Aber vermutlich sah Matt in seiner Mutter nur das, was er sehen wollte. „Soll ich vielleicht einfach auf sie zugehen und sagen: Hallo, Mrs. Ryan, es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Verraten Sie mir doch mal, welche Werte Sie in einem Mann besonders schätzen.“ Ein Frontalangriff war immer noch besser als jedes Versteckspiel. „Warum sagst du ihr nicht einfach, was du vorhast, Matt? Man kann nie wissen. Falls sie sich wirklich so einsam fühlt, gefällt ihr die Idee vielleicht sogar.“ „Nein.“ In diesem Punkt blieb Matt unnachgiebig. „Meine Mutter ist eine Frau der alten Schule, sehr förmlich und würdevoll. In ihrer Welt werden die Dinge auf eine bestimmte Weise getan, oder sie werden überhaupt nicht gemacht.“ „Na gut.“ Ihre Mutter war genauso. Auf ihre Ankündigung hin, einen Teil des sorgsam gehorteten Familiengeldes in etwas so Gewöhnliches wie eine Partnervermittlung zu investieren, hatte Audrey Stanhope Bennington Harper königlich die Nase gerümpft und mied seitdem das Thema wie die Pest. „Also, wann und wo soll ich sie treffen?“ Sie würde schon einen Weg finden, Millicent Ryan die erforderlichen Informationen zu entlocken. Takt war schließlich ihre Stärke.
„Hast du heute abend Zeit?“ „Heute abend? Mal sehen…“ Sie zögerte. Keine Frau, die halbwegs bei Verstand war, enthüllte einem Mann vom Kaliber Matt Ryans, wie deprimierend leer ihre Abende waren. Lauter als nötig blätterte sie erneut ihren Kalender durch und stellte sicher, daß er das Knistern der Seiten hörte. „Ja, heute wäre ich frei.“ Es klang nach einem enormen Glücksfall. Dabei saß sie, abgesehen von den regelmäßigen KennenlernPartys in ihrer Agentur und den gelegentlichen Verabredungen mit ehemaligen Kollegen vom Sozialamt, fast jeden Abend allein zu Hause. „Gut. Ich hole dich um halb sieben ab.“ „Das ist nicht nötig. Sag mir nur, wo wir uns treffen, dann…“ „Nichts da. Diesmal fahren wir schweres Geschütz auf. Meine Mutter gibt heute eine kleine Cocktailparty, bevor sie gemeinsam mit ihren Freunden ein Konzert in der Davies Hall besucht. Der ideale Rahmen, dich als meine Dinnerverabredung vorzustellen.“ Ihrem Magen ging es plötzlich gar nicht gut. „Verabredung?“ Ihre letzte Verabredung lag mindestens ein Jahr zurück. Vielleicht auch länger. Und nie war sie mit einem Mann ausgegangen, der sie schon mit einem einzigen Blick zum Erröten bringen konnte. „Du möchtest sie doch persönlich treffen, oder? Sie näher kennenlernen, nicht wahr?“ „Schon, aber…“ Jede Sekunde in der Nähe dieses Mannes war Gift für ihr seelisches Gleichgewicht. Und jetzt sollte sie einen ganzen Abend lang seine angebliche Freundin spielen. Damit forderte sie den Ärger nur so heraus! Riesenärger! Es war schon ewig her, daß ein Kuß sie derart auf Touren gebracht hatte. Niemals, um ehrlich zu sein. Sie war ja förmlich Wachs in seinen Armen gewesen! „Dann ist es abgemacht. Als meine Begleiterin bekommst du ausreichend Zeit für ein ausgiebiges Gespräch. Um ihren Charakter zu ergründen, oder wie immer du es ausdrücken willst. Und um das zu gewährleisten, werden wir eben ein wenig früher eintreffen als die übrigen Gäste.“ „Aber…“ „Gut.“ Matt zögerte. „Bei solchen Gelegenheiten legt meine Mutter Wert auf eine passende Garderobe. Nichts Formelles, kein langes Kleid oder so. Eines dieser…“ Wie nannten Frauen die Dinger nur? „… Cocktailkleider eben. Schick, aber nicht zu aufgetakelt.“ Und keinesfalls so ein unkonventionelles Outfit wie vorige Woche in ihrem Büro! „Verstehst du, was ich meine?“ Susannah schwankte zwischen Belustigung und Entrüstung, ließ ihm die Bemerkung aber durchgehen. Schließlich war der arme Mann das Produkt einer Umgebung, in der perfekt gebügelte Anzüge und auf Hochglanz polierte Schuhe als das Nonplusultra modischer Torheit galten. „Keine Angst, ich bringe dich schon nicht in tödliche Verlegenheit.“ Diesen kleinen Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen, dabei besaß sie sogar das perfekte Kleid für diesen Anlaß. Es war eine ExtraAnschaffung anläßlich einer jener High Society Parties, zu der ihre Mutter sie gelegentlich überredete. „Du hast mich mißverstanden“, sagte Matt aalglatt und so aufrichtig wie ein Politiker, der Wahlkampfversprechen abgab – oder ein Mann, der eine Frau mit schmeichelnden Worten einlullen wollte. „Meine Mutter hat nun mal altmodische Vorstellungen über Etikette. Es geht sogar soweit, daß sie sich zu Hause zum Dinner umzieht, auch wenn sie allein ißt. Niemals würde ich deinen modischen Geschmack kritisieren, Susannah. Ich bin sicher, nichts, was du je tragen würdest, könnte irgend jemanden in Verlegenheit bringen“, setzte er galant
hinzu. Er konnte nur hoffen, daß das auch stimmte. „Darauf würde ich mich an deiner Stelle nicht verlassen.“ Schließlich hatte sie ihre Mutter schon xmal in Verlegenheit gebracht. Manchmal sogar absichtlich. „Wie bitte?“ „Ach, nichts. Wir sehen uns dann um halb sieben.“ Noch lange, nachdem er aufgelegt hatte, starrte Matt aufs Telefon. Vor seinem geistigen Auge sah er Susannah in allen möglichen – und auch unmöglichen – Outfits vor sich. Und ohne. Hatte er denn jetzt völlig den Verstand verloren? Bereits gut zwei Wochen lief seine Phantasie auf Hochtouren, und seine Hormone spielten verrückt, sobald er an Susannah Bennington dachte. Selbst dieses Treffen zwischen ihr und seiner Mutter diente nur als Vorwand. Er mußte sie einfach wiedersehen und hatte schon intensiv nach einer Ausrede gesucht, seit sie seine animalischsten Instinkte geweckt hatte und er mit einem höllischen Ziehen in der Lendengegend und ihrem süßen Geschmack auf den Lippen aus ihrem Büro gestürmt war. Oh, in einigen klaren Momenten, wenn sein analytischer Anwaltsverstand sich einschaltete, erinnerte er sich daran, daß sie nicht der kühle, zurückhaltende Typ war, den er normalerweise bevorzugte. Zudem war eine ernste Beziehung ein Luxus, den er sich momentan schon aus Zeitgründen nicht leisten konnte. In seiner Verzweiflung hatte er sich sogar den Wutanfall seines Wahlkampfmanagers vorgestellt. Aber glücklicherweise ahnte der gute Harry nicht, daß sein Schützling statt vom Richteramt plötzlich nur noch von den heißesten Bettszenen träumte. Wenn er dann noch erführe, daß Susannah eine Partnervermittlung leitete und eine ExNutte als Empfangsdame beschäftigte, bekäme der arme alte Harry sicher genau den Herzinfarkt, mit dem er allen ständig drohte. Fatalerweise funktionierte keine seiner geistigen Gymnastikübungen. Im Gegenteil. Trotz der ellenlangen Auflistung von Gegenargumenten beherrschte Susannah Bennington seine Gedanken. Gleichgültig, was auf der Tagesordnung stand. Ein absolutes Novum, wo er sonst nur seine Karriere im Auge hatte. Eine erschreckende Schwäche in seiner schon legendären Konzentrationsfähigkeit. So hatte er sich bereits dabei ertappt, wie er mit verträumtem Lächeln einen wichtigen Schriftsatz durchblätterte und nur an Susannahs leidenschaftlichen Kuß dachte. Während ein Kollege ihm von seinem brillanten Schlußplädoyer vorschwärmte, ließ er in seinen Tagträumen genüßlich die Daumen über Susannahs aufgerichtete Brustknospen kreisen. Harrys neueste Wahlkampfstrategie rauschte ungehört an ihm vorbei, weil er sich ausmalte, wie er Susannah ein Kleidungsstück nach dem anderen abstreifte, bis sie nichts mehr trug als diese verflixt verführerischen hochhackigen Stiefel und ihre bezaubernde Röte. Ob sie ihm zornbebend ins Gesicht schlagen würde? Oder würde sie ihm bebend vor Sehnsucht und Verlangen in die Arme sinken? So brennend vor Begierde wie er selbst? Würde sie sich ebenso leidenschaftlich an seine nackten Schultern klammern, wie sie es an die Ärmel seines Jacketts getan hatte? Sich ihm entgegendrängen und ihm ihren Körper so hingebungsvoll bieten wie ihre Lippen? Wüßte er das bereits, könnte er sich jetzt zumindest an ihre Glut und Weichheit erinnern, statt sich ständig zu fragen, wie es wäre, sie mit harten, festen Stößen zur Ekstase zu treiben. Seine erotischen Phantasien kannten keine Grenzen, und der Wunsch, sie mit Susannah auszuleben, war schon zur Besessenheit geworden. Und die konnte er sich nicht leisten. Kein Politiker konnte das. Dennoch saß er jetzt hier und wollte nur sie. Und zur Hölle mit den Auswirkungen
auf seine Karriere! Nein, das meine ich nicht wirklich, dachte Matt in einem Anflug von Schuldgefühl. Die Kampagne war wichtig. Sein Vater hatte den Posten des Bezirksrichters drei Legislaturperioden innegehabt, bevor er an Kaliforniens Obersten Gerichtshof berufen worden war. Dieser Richterstuhl war sein Erbe. Seine Bestimmung. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich für das Jurastudium entschieden. Die große Chance war nun früher als erwartet gekommen, aber so lief das eben in der Politik. Wie Harry immer sagte: Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Aus diesem Grund war jede Ablenkung eine Gefahr. Und ganz besonders diese Frau, die nicht einmal sein Typ war. Deshalb blieb ihm keine Wahl. Ein Wiedersehen mußte sein. Ein romantisches Dinner. Ein flüchtiges Abenteuer. Mehr war nicht drin. Keine Versprechungen. Keine Komplikationen. Keine Reue. Wenn alles gutging, war er anschließend von dieser lächerlichen Besessenheit kuriert. Wenn nicht, war wenigstens der Reiz des Unbekannten fort. Mit etwas Glück ließ sich Susannah dann lange genug aus seinen Gedanken verbannen, daß er sich zumindest ansatzweise wieder auf die Kampagne konzentrieren konnte. „Ich mache heute früher Schluß.“ Besorgt sah Helen von ihrem Schreibtisch auf. „Fühlen Sie sich nicht wohl, Susannah?“ „Doch, doch.“ Ich habe Hitzewallungen und Herzklopfen, Dutzende von Schmetterlinge tummeln sich in meinem Magen, höchstwahrscheinlich werde ich irre, aber ansonsten geht es mir prima, dachte Susannah. „Ich besuche eine Klientin und möchte mich noch schnell frischmachen. Ist Judy schon weg?“ Der Computerkurs ihrer Empfangsdame begann freitags erst um sechs, und normalerweise ging sie direkt vom Büro aus dorthin. Jetzt war es nicht einmal fünf. „Ich habe sie in die Konditorei geschickt. Sie hat schon wieder während der Mittagspause für einen Test geübt und wollte auch das Abendessen ausfallen lassen.“ Die Prämissen der jungen Frau schienen für Helen ein absolutes Mysterium zu sein. „In naher Zukunft klappt das Mädchen noch vor Hunger zusammen. Hier in diesem Büro. Wahrscheinlich auch noch direkt vor einem Klienten! Einen schönen Eindruck würde das machen“, grummelte sie. „Klienten regen sich auf, wenn Leute vor ihren Augen ohnmächtig werden. Und das wäre schlecht fürs Geschäft.“ Susannah unterdrückte ein Lächeln. „Künftig ist sie bestimmt vorsichtiger.“ Helens Miene nach zu urteilen glaubte sie das erst, wenn sie es mit eigenen Augen sah. „Wollten Sie etwas Bestimmtes?“ „Nein. Ich hatte nur laut nachgedacht.“ Susannah trat ans Fenster und zupfte die Spitzengardinen zurecht. Plötzlich erstarrte sie mitten in der Bewegung. „Moment mal! Ist das nicht Eddie Devine?“ „Wer?“ „Eddie Devine. Er steht vor dem ,Tea Cozy’.“ „Wer ist Eddie Devine?“ „Oh, richtig. Sie kennen ihn ja gar nicht.“ Susannah zögerte, denn sie wollte nicht zuviel von Judys unrühmlicher Vergangenheit enthüllen. Es war allein Judys Sache, wieviel – oder wie wenig – die Leute über ihr Leben erfahren sollten. „Judy hat früher für ihn gearbeitet.“ „Sie meinen, er war ihr Zuhälter?“ „Sie wissen davon?“ „Auszugsweise.“ Helen stand auf und trat zu ihr. Mit einem Ausdruck, der so säuerlich war, als habe sie gerade auf eine Zitrone gebissen, blickte sie auf die
Straße. „In diesem geschmacklosen Seidenhemd und den Goldkettchen sieht er haargenau aus wie einer dieser schleimigen Gangster im Fernsehen.“ Sie schnaubte verächtlich. „Ich wette, er benutzt Haargel.“ Für Helen war ein Mann mit Haargel das Allerletzte. Ihr Ehemann war auf Gel verfallen, kurz bevor er sie wegen einer Jüngeren verließ. „Was mag er nur wollen?“ „Nichts Gutes, soviel ist sicher.“ Susannah überlegte. „Vielleicht sollte ich mal ein Wörtchen mit ihm reden, bevor Judy die Konditorei verläßt. Bestimmt gerät sie in Panik, wenn sie ihn dort stehen sieht.“ Zu spät. Gerade kam Judy aus dem pastellfarbenen Viktorianischen Gebäude. In Gedanken versunken spielte sie mit dem Gurt ihrer Umhängetasche. Sie lief geradewegs in Eddie Devine hinein. Ihr Gesicht wurde leichenblaß unter dem sorgfältig aufgetragenen Makeup. Brutal packte ihr früherer Zuhälter sie am Arm. Judy zuckte angewidert zurück und versuchte, ihm auszuweichen. Eddie blockierte ihr den Weg und redete unaufhörlich auf sie ein. Energisch schüttelte sie den Kopf und blickte hilfesuchend zum Eingang der Partnervermittlung. Als ob sie eine Zuflucht brauchte. Oder Mut sammeln wollte. Eddie zerrte sie herum und verlangte gewaltsam ihre Aufmerksamkeit. „Nein!“ Deutlich formten ihre Lippen das Wort. Und dann riß sie sich los und rauschte hocherhobenen Hauptes an ihm vorbei. Eine Mischung aus Wut und Frustration verzerrte Eddies Gesicht. Fluchend eilte er zu einem im Halteverbot geparkten schwarzen TransAm. Dann heulte laut der Motor auf, und Eddie schoß mit quietschenden Reifen davon. „Übler Charakter!“ „Stimmt.“ Susannah drehte sich zu Helen. „Nur ist er glücklicherweise nicht annähernd so durchtrieben, wie er glaubt. Er ist ein kleines Licht. Ein MöchtegernGangster, der mit Vorliebe ängstliche junge Mädchen einschüchtert. Und das nicht einmal sonderlich erfolgreich“, fügte sie in Erinnerung an Judys standhaftes Auftreten zufrieden hinzu. „Sollten wir nicht besser die Polizei oder ihren Bewährungshelfer verständigen? Vielleicht versucht dieser Fiesling ja, sie wieder in seine Mädchenriege einzureihen.“ „Darauf möchte ich fast wetten. Aber nein, lassen wir die Sache vorerst auf sich beruhen. Heute ist Judy in ihrer persönlichen Entwicklung einen großen Schritt vorangekommen. In dieser Konfrontation hat sie eindeutig die Oberhand behalten. Ohne Hilfe von außen. Gönnen wir ihr diesen Sieg. Falls Eddie zu hartnäckig wird, können wir es immer noch melden.“ Zwar verstieß Susannah damit gegen geltende Vorschriften, denn offiziell war jeder Kontakt zwischen einem Vorbestraften oder früheren Bekannten aus der kriminellen Szene strengstens untersagt. Allerdings gab es gute Gründe, die starren Regeln gelegentlich zu beugen. Und dies war ein solcher Grund. „Vergessen wir den Vorfall. Judy soll nicht glauben, daß wir ihr nachspionieren. Oder ihr mißtrauen.“ Sie faßte Helen kurz um die Schulter. „Okay?“ Nachdenklich sah Helen auf die Straße hinunter. „Okay.“ „Du siehst aus wie Mamis Liebling auf dem Weg zu einer Beerdigung“, murmelte Susannah. Stirnrunzelnd musterte sie sich im Spiegel. Das konservative, knielange Crepekleid war schwarz. Die schmale Unterarmtasche war schwarz. Die Lederpumps mit den winzigen Schleifen an den Hacken waren es ebenfalls. Die Perlenohrstecker und die einreihige Perlenkette waren Geschenke ihrer Mutter zum High SchoolAbschluß. Die schmale goldene Armbanduhr war das Geschenk
ihres überarbeiteten Vaters zu demselben Anlaß. Das süßliche Blütenparfüm hatte sie vor drei Jahren von einem netten, langweiligen Mann bekommen, den ihre Mutter immer noch für die perfekte Partie hielt. Ihr Makeup war so dezent, daß es praktisch nicht vorhanden war. Das Haar hatte sie nach hinten gekämmt und im Nacken mit einer schwarzen Schleife und einer Handvoll Nadeln gebändigt. Ihr Vater hätte jetzt abwesend gelächelt und sie als perfekte kleine Lady bezeichnet. Ihre Mutter würde ihr die letzte aufmüpfige rote Locke zurückstreichen und fragen, warum sie sich nicht öfter so hübsch zurechtmachte. Und diese ganze Maskerade war nur für eine Verabredung mit Matthew Ryan! Halt! Auch wenn Matt sie von zu Hause abholte, so war das noch lange keine Verabredung, sondern lediglich ein geschäftlicher Termin. Und im Geschäftsleben war Auftreten der größte Bonus. Warum sonst zwängte sich die halbe Männerwelt Tag für Tag in gestärkte Hemden, dreiteilige Anzüge und Krawatten, wenn nicht um des kommerziellen Erfolgs willen? Energisch schob Susannah jeden Gedanken an einen privateren Anstrich ihrer PseudoVerabredung mit diesem umwerfenden Mann beiseite, holte einen noblen Blazermantel aus dem Schrank und eilte die Treppe hinunter. Sie würde draußen auf Matt warten. Je unpersönlicher dieses geschäftliche Treffen war, desto besser. „Mom, das ist Susannah Bennington, eine Freundin.“ Matts Mutter war eine aristokratische, distinguierte Frau mit perfekt frisiertem blonden Haar, majestätischem Gebahren und einem klassischen Modegeschmack. Ihre Augen waren so blau wie die ihres Sohnes, ihr Lächeln war warm und herzlich. Trotzdem konnte Susannah sich nur knapp daran hindern, aufmüpfig einen Hofknicks zu machen. „Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Ryan.“ „Matthew, mein Junge“, bat sie, ohne Susannahs Hand freizugeben. „Nachdem du Miss Benningtons Mantel aufgehängt hast, geh doch bitte in die Küche und sag Gertie, sie könne jetzt die Hors d’oeuvres servieren. Inzwischen machen wir beide uns miteinander bekannt.“ Damit zog sie sie auch schon in den Salon und deutete auf ein burgunderfarbenes Brokatsofa. „Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Anmutig sank sie in den gegenüberliegenden Sessel, schlug graziös die Beine übereinander, zupfte den Rock ihres eleganten Chanelkostüms zurecht und faltete manierlich die Hände im Schoß. „Kennen Sie Matthew schon lange, Miss Bennington?“ Susannah beschloß, möglichst wahrheitsgetreu zu antworten. „Ein paar Wochen.“ „Dann müssen Sie neu im Rathaus sein.“ „Rathaus? Oh, ich verstehe. Nein, ich arbeite nicht für die Stadtverwaltung.“ „Engagieren Sie sich in Matthews Wahlkampf?“ „Auch das nicht. Ehrlich gesagt würde diese erzkonservative Herrenriege der Schlag treffen. Ich bin nämlich VollblutDemokratin. Obwohl ich diesmal für Matt stimmen werde.“ „Ja, er kann sehr überzeugend sein“, erwiderte Millicent leicht belustigt, kam aber sofort wieder zu ihrem eigentlichen Thema. „Also, wie haben Sie sich denn kennengelernt?“ „Wie bitte?“ „Sie und Matthew. Ich möchte Sie nicht aushorchen, meine Liebe. Aber mein Sohn bringt so selten weiblichen Besuch mit nach Hause, da bin ich natürlich neugierig.“ „Es ist wirklich kein großes Geheimnis.“ Unwillkürlich wanderte Susannahs Blick durch den Türbogen ins Foyer. Himmel, was trieb dieser Mann so lange in der Küche? Unglücklicherweise hatte sie nämlich vergessen, sich vorher mit ihm
abzusprechen. Wer weiß, welche Geschichte er seiner Mutter aufgetischt hatte.
„Matt und ich, wir sind nicht… ich meine, ich bin nicht wirklich seine Freundin.
Wir sind lediglich… Freunde. Das ist alles.“
„Ich verstehe.“ Interessiert beugte Millicent sich vor. „Und kennengelernt haben
Sie sich wie?“
Diese Frau hätte eine verteufelt gute Staatsanwältin abgegeben! „Nun, Matt kam
vor einigen Wochen in mein Büro, um…“
„Susannah engagiert sich im sozialen Bereich, Mom.“ Na endlich! Vorsichtig
balancierte ihr Retter ein rundes Silbertablett. „Ich wollte mich bei ihr nach
einem Resozialisierungsprogramm für eine ehemalige Prostituierte erkundigen.“
Schwungvoll bot er ihr die Appetithäppchen an. „Hors d’oeuvres?“
„Ja, danke.“ Ohne hinzusehen, bediente sie sich und steckte sich mit
undamenhafter Eile eine Pastete in den Mund. Schließlich konnte niemand von ihr
erwarten, daß sie sich gleichzeitig in geziemender Weise den Hors d’oevres
widmete und sich diesem Verhör dritten Grades stellte.
„Mom?“
„Nein danke, mein Junge. Aber auf dem Sideboard steht eine Flasche Sherry.
Schenk Miss Bennington bitte auch einen ein. Diese Anchovipastete ist
gewöhnungsbedürftig“, bemerkte sie und hatte Susannahs Gesichtsausdruck
ganz richtig gedeutet. „Aber ich habe einfach nicht das Herz, der armen Gertie
sämtliche Illusionen zu rauben. Sie glaubt nämlich, weil meine Vorfahren aus
Schweden stammen, gehöre Fisch zu meinen Grundnahrungsmitteln.“ Sie
lächelte wehmütig. „Mein verstorbener Mann war der einzige, der diese
scheußlichen Dinger aß. Er liebte sie regelrecht.“
„Dein Sherry, Mom.“
„Danke, mein Junge.“
Matt reichte Susannah ihren Drink und nahm neben ihr auf dem Sofa Platz.
„Exzellenter Sherry, nicht wahr?“ Millicent zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Susannahs Augen funkelten übermütig. „Wirklich exzellent.“ Vor allem, da er den
entsetzlichen Geschmack der Anchovis von ihrer Zunge wusch. Nach einem
weiteren Schluck stellte sie das Glas ab. Es war Zeit, zum Geschäftlichen
überzugehen. „Wie Matt mir erzählte, unterstützen Sie das
Jugendsinfonieorchester. Geben die Junioren heute abend das Konzert in der
Davies Hall?“
Millicent schüttelte den sorgfältig frisierten Kopf. „Nein, die heutige Vorstellung
fällt in den Rahmen der SommerPopSerie. Die Temptations singen gemeinsam
mit den Sinfonikern. Darauf freue ich mich schon lange.“
„Sie sind TemptationsFan?“
„O ja. Ich liebe jede Art von Musik.“
„Heavy Metal? Rap?“
„Zum Teil“, erwiderte Millicent ernst. „Diese junge Schwarze – Queen Latifah
heißt sie, glaube ich – finde ich einfach großartig. Sie vermittelt jungen Frauen
eine überaus positive Botschaft.“
Matts Verblüffung wirkte fast komisch. „Wo, um alles in der Welt, hast du Queen
Latifah gehört?“
„Hier im Haus. Gerties Enkelin ist begeistert von ihr. Außerdem schwärmt sie für
jemanden namens Doggysonstwas. Der allerdings ist weniger mein Fall.“ Leicht
pikiert krauste sie die Nase.
„Du läßt sie diesen Kram hören?“
„Die moderne Musik wird kaum schlimmer sein als das, was du in ihrem Alter
gehört hast. Jimi Hendrix. Die Rolling Stones. The Who. Pink Floyd.“
„Du warst Pink Floyd Fan?“
„Jeder weiß doch, daß Teenager keinerlei Geschmack haben“, versuchte Matt sich zu verteidigen. „Nun, mir jedenfalls gefiel das meiste davon. Obwohl…“ Millicent lachte leise. „Sein Vater schimpfte immer, Matt solle die Stereoanlage leiser stellen, bevor uns allen das Trommelfell platzt. Francis begeisterte sich mehr für die leiseren Töne.“ „Und, hat er es getan?“ Susannah gefiel es, ihren sichtlich verlegenen Begleiter zu necken. „Aber natürlich. Matt war so ein guter Junge. Und ein wundervoller Sohn. Ich wüßte nicht, was ich in diesen letzten beiden Jahren ohne ihn getan hätte.“ „Der Verlust Ihres Mannes muß Sie sehr schwer getroffen haben.“ „O ja, das hat er.“ Millicent seufzte. „Lange Zeit fühlte ich mich richtiggehend verloren.“ „Das tut mir leid.“ Susannah bedauerte, daß sie das Thema überhaupt zur Sprache gebracht hatte. „Ich hätte nicht davon anfangen sollen.“ „Oh, nein, meine Liebe, es ist schon in Ordnung. Es dauerte zwar eine Weile, heute jedoch kann ich mit meinem…“ Liebevoll lächelte sie ihren Sohn an. „… unserem Verlust umgehen. Es war eine Tragödie, und ich werde Francis immer vermissen, aber das Leben geht weiter. Wir sind es unseren Lieben schuldig, das Beste aus dem zu machen, was uns verbleibt.“ Wenig später kündigte die Türklingel die Ankunft von Millicents Gästen an, und Susannah ertappte sich dabei, daß sie automatisch in ihre alte Rolle schlüpfte und startbereit für höfliche Konversation mit der Creme von San Franciscos Society war. Es kam, wie es kommen mußte. Unausweichlich steuerte eine vornehme alte Matrone auf sie zu. „Na so was, Susannah Bennington! Wir haben uns nicht mehr gesehen, seit… ja, es muß bei Meryls Hochzeit gewesen sein.“ Mit einem zunehmend angestrengteren Lächeln ließ Susannah Mrs. Barbara Filberts Monolog über sich ergehen. „Arbeiten Sie immer noch für diese Leute vom Sozialamt?“ „Nein, schon eine Weile nicht mehr. Ich besitze jetzt eine…“ „Meryl sagte immer, Ihr unermüdlicher Einsatz für dieses kriminelle Pack sei so edel.“ Sie schnaufte theatralisch und bemerkte nicht, daß Susannahs höfliches Lächeln inzwischen vollkommen verblaßt war. „Vor allem, da dieses Gesindel derartige Bemühungen so gar nicht zu schätzen weiß. Diese Leute sind einfach undankbar! Meine arme Tochter kann ein Lied davon singen. Fast kaputt hat sie sich gearbeitet, um in einem dieser Obdachlosenasyle ein Konzert zu veranstalten. Sie wollte ein wenig Kultur in das Leben dieser Menschen bringen, und kaum einer hat es ihr gedankt. Können Sie sich das vorstellen?“ Da Hochnäsigkeit und Scheinheiligkeit schon in der Schule Meryl Filberts hervorstechendste Eigenschaften gewesen waren, gelang Susannah das mühelos. „Bitte entschuldige mich, Barbara“, mischte sich glücklicherweise Millicent Ryan in das Gespräch, bevor Susannah Gefahr lief, ihre hartumkämpfte Gelassenheit zu verlieren. „Ich muß dir Susannah leider entführen. Sie und Matt wollen gleich gehen, und ich möchte sie vorher noch kurz sprechen.“ Froh über die Störung, verabschiedete sich Susannah von ihrer Gesprächspartnerin und brachte, wenn auch zähneknirschend, ein paar freundliche Abschiedsworte zustande. Ein anscheinend unvergängliches Überbleibsel der guten Manieren, die ihr schon in frühester Jugend eingetrichtert worden waren.
„Dieser Zwischenfall tut mir sehr leid.“ Millicent hakte sich bei ihr ein und führte
sie ins Foyer. „Diese Frau ist ein hoffnungsloser Snob und hat nicht den
blassesten Schimmer, was in der Welt vor sich geht. Aber sie ist einer der
Hauptsponsoren der Sinfoniker, ganz zu schweigen von Matts politischer
Kampagne, daher…“ Vielsagend zuckte sie die Schultern.
„Danke, daß Sie mich gerettet haben“, flüsterte Susannah. „Ich wäre nämlich
sonst in Kürze explodiert.“
„Gern geschehen, Liebes.“ Millicent lachte hell auf. „Allerdings habe nicht ich,
sondern Matt den Qualm bemerkt, der aus Ihren Ohren rauchte. Hier ist sie,
mein Junge“, rief sie Matt zu, der in der Eingangshalle wartete. „Wohlbehalten,
ohne sichtbare Blessuren.“
Nachdenklich beobachtete Millicent, wie fürsorglich ihr Sohn Susannah in den
Mantel half. Dann umarmte sie die davon überraschte Susannah liebevoll. „Es
war sehr nett, Sie kennenzulernen. Bitte besuchen Sie mich bald wieder.“
Auffordernd hielt sie ihrem Sohn die Wange für einen Abschiedskuß hin.
„Amüsiert euch gut beim Dinner, ihr beiden.“
„Dinner?“ Susannah schlug den Mantelkragen hoch, denn Mitte Juni konnten die
Abende an der Bucht empfindlich kühl werden, und folgte ihrem schweigsamen
Begleiter in den aufsteigenden Nebel.
„Wir brauchten schließlich ein Alibi für unseren vorzeitigen Abgang.“
„Oh.“ Seine Erklärung klang logisch.
Er schloß das schmiedeeiserne Gartentor, und gemeinsam gingen sie auf die am
Bordstein geparkte Luxuslimousine zu. „Ich kenne da einen kleinen Italiener in
North Beach. Ein echter Geheimtip.“ Einladend hielt er ihr die Wagentür auf.
„Falls du noch nicht gegessen hast…“
„Nein, aber…“ Ihre Gedanken überschlugen sich. Ein intimes Dinner zu zweit.
Irgendwo in einem lauschigen Restaurant. In angenehmer Gesellschaft die Zeit
und alle Bedenken vergessen…
„Irgendwas mußt du heute abend schließlich essen.“
„Das ist wahr.“
„Wir könnten uns dabei über deine neuesten Erkenntnisse in Sachen ,Operation
Cupido’ unterhalten.“
„Ein reines Geschäftsessen, also?“
Matt nickte. Wenn sie es so nennen wollte, bitte.
„Einverstanden.“ Susannah schlug alle Vorsicht und den letzten Rest ihres klaren
Verstandes in den Wind und stieg ein. „Pasta ist nämlich meine große
Schwäche.“
4. KAPITEL Sie parkten in einer schlecht beleuchteten Seitengasse in North Beach. Das
schlaglochübersäte Pflaster diente Matt als idealer Vorwand, Susannah erst am
Ellbogen zu fassen und ihr dann umgehend die Hand um die Taille zu schieben.
Geschicktes Manöver, dachte Susannah und genoß den seltenen Luxus eines
privaten Bodyguards, auch wenn ein Handtaschenraub das Schlimmste war, was
ihr auf der belebten Strandpromenade von North Beach passieren konnte.
Viel zu früh erreichten sie die kleine Trattoria. Der Ober führte sie an einen
abgelegenen Zweiertisch. Schon beim ersten Blick in die Speisekarte wurde
Susannah der Mund wässrig.
„Was hältst du von Chianti?“
Sie sah kaum von den Beschreibungen der italienischen Delikatessen auf.
„Chianti wäre prima.“
„Wir nehmen die Hausmarke. Dazu Bruschetta“, orderte Matt und reichte dem
Ober die ledergebundene Weinkarte. „Oder stört dich der Knoblauch?“
„In italienischem Essen?“
„Dann also Bruschetta als Vorspeise. Danach nehme ich Aubergine ,Parmigiana’.
Und du, Susannah?“
Kampflos gab sie der Versuchung nach. „Lasagne mit Bechamelsauce.“
Insgeheim versprach sie sich, nur die Hälfte davon zu essen.
„Sehr gut“, billigte der Ober ihre Wahl und entschwand mit den drei Karten unter
dem Arm.
Es wurde sehr still an dem hübsch gedeckten Tisch.
Zu still.
Entnervend still.
Ein wahrer Hort der Stille in dem gut besuchten kleinen Restaurant.
Unsicher lächelten sie sich über das flackernde Kerzenlicht an.
Susannah schob den Löffel einen Millimeter näher an das Messer und suchte
fieberhaft nach einem Gesprächsthema für sie.
Matt rückte den Salzstreuer präzise in die Tischmitte. Sein Kopf war wie
leergefegt. Wo, zum Teufel, steckte seine übliche Wortgewandtheit, gerade jetzt,
wo er sie dringend brauchte? So gehemmt war er seit seiner Grundschulzeit nicht
mehr gewesen. Er war Anwalt, zum Kuckuck! Der geschickte Umgang mit der
Sprache war sein Kapital. Und jetzt war er nicht mal zu höflicher Konversation
fähig! Allmählich kam er sich vor wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wasser! Das
war’s!
Sie griffen beide gleichzeitig nach ihren Wassergläsern, stellten sie gleichzeitig
wieder ab und warfen sich einen weiteren flüchtigen Blick zu, ein weiteres
nervöses Lächeln.
Susannah breitete die Serviette auf ihrem Schoß aus.
Matt nahm sich eine Brotstange aus dem Krug, brach sie entzwei und reichte
Susannah eine Hälfte. „Grissini?“ Matt Ryan, du bist ein kompletter Idiot!
„Ja, danke.“ Endlich! Ein Rettungsanker!
Schweigend knabberten sie an dem Gebäck.
„Gute Grissini.“
„Ja, köstlich.“
„Wie hast du…“
„Wie kommt es…“
Volle fünf Sekunden starrten sie sich an, dann brachen sie in schallendes
Gelächter aus.
„Fang du an.“
„Ladies first.“
„Ich wollte nur fragen, wie deine Kampagne läuft.“
„Laut dem ‚Examiner’ liege ich in den Meinungsumfragen vorn. Dem ,Chronicle’
nach liege ich hinten. Was nur bedeutet, daß es für Voraussagen noch viel zu
früh ist. Besonders da mehr als die Hälfte der Befragten überhaupt keine Ahnung
hat, wer ich bin. Für das Amt des Bezirksrichters interessieren sich nur die
wenigsten.“
„Wie beurteilt denn dein Wahlkampfmanager die Chancen für einen Sieg?“
„Harry glaubt, wenn ich jetzt ordentlich die Werbetrommel rühre, bin ich im
kommenden November der sichere Gewinner. Vorausgesetzt, ich mache in der
Zwischenzeit keine Fehler.“
„Du bist anderer Meinung?“
„Oh, ich beurteile meine Chancen durchaus positiv. Nur gefällt mir diese
Vorstellung nicht sonderlich.“
„Welche Vorstellung?“ Susannahs feingeschwungene Augenbrauen schossen
hoch. „In die Fußstapfen deines Vaters zu treten?“
Matts Blick sagte ihr, daß sie das eigentlich besser wissen sollte. „Die
Werbetrommel zu rühren.“
„Und du nennst dich Politiker“, spottete sie.
„Ich nenne mich Staatsanwalt. Und ich kann nicht gleichzeitig Verbrecher hinter
Gitter bringen und meine Kampagne führen, so wie Harry das von mir erwartet.“
„Warum kandidierst du dann überhaupt? Du mußtest doch wissen, auf was du
dich einläßt.“
„Das sollte man meinen.“
„Wie darf ich das denn verstehen?“
„Oh, auf einer grundlegenden Ebene ahnte ich es schon. Nur hatte ich nicht
erwartet, daß der ganze Prozeß dermaßen…“ Matt verstummte, da der Ober
ihnen den Wein und die Vorspeise servierte. „… allumfassend sein würde“, schloß
er, sobald der junge Mann wieder außer Hörweite war.
„Inwiefern?“
„So ein Wahlkampf greift auf dein ganzes Leben über. Wenn du nicht gehörig
aufpaßt, wird er leicht zum FulltimeJob. Das wiederum kann ich mir nicht
leisten. Mein Terminkalender ist bereits jetzt vollgepackt mit Gerichtsterminen,
die sich bis Weihnachten hinziehen. Die Verhandlung des DelaneyMordes ist für
August angesetzt, und meine Kronzeugin widerruft in schöner Regelmäßigkeit
ihre Aussage. Im MendozaDrogenurteil hat die Gegenpartei Berufung eingelegt.“
Schulterzuckend winkte Matt ab. „Trotz Harrys ständigem Drängen fehlt mir
einfach die Zeit, publicitywirksam zu jedem Pfannkuchenfrühstück oder Rotary
ClubTreffen zu hetzen. Ich habe Wichtigeres…“
Er stockte, weil ihm plötzlich auffiel, daß Susannah, das Kinn in die Hand
gestützt, jedem seiner Worte aufmerksam lauschte. „So also bringst du deine
Klienten dazu, dir ihr Herz auszuschütten. Sehr gerissen.“ Normalerweise war er
nämlich eher verschlossen, was seine eigenen Probleme anging.
Susannah ignorierte die Bemerkung. „Wie ich das sehe, bist du nicht annähernd
so überzeugt bei der Sache, wie du mir einreden willst. Bist du dir vollkommen
sicher“, fragte sie ernst, „daß du Richter werden willst?“
Er war ehrlich verblüfft. So direkt hatte ihn das noch niemand gefragt. Nicht
einmal er sich selbst. „Natürlich will ich Richter werden“, verkündete er leichthin.
„Das habe ich mein Leben lang gewollt.“
Nur jetzt noch nicht…
Schnell schob er den verräterischen Gedanken beiseite. Das Für und Wider einer
politischen Karriere zu diesem Zeitpunkt stand jetzt nicht zur Debatte! Er hob
sein Weinglas und toastete Susannah zu. „Auf stürmische Romanzen.“ Susannah stockte der Atem. „Romanzen?“ „Die meiner Mutter.“ Unschuldig lächelte er sie über den Rand seines Glases hinweg an. Wie er zufrieden feststellte, war er endlich wieder Herr der Situation. All seine Nervosität war verschwunden. Auch die leisen Zweifel an seiner vorzeitigen Kandidatur verschob er auf einen anderen Zeitpunkt. „Sobald wir ihr ihren Traummann präsentieren.“ „Oh. Richtig.“ Millicent Ryan! Ihr Job! Genau das war ja auch der Grund, warum sie mit Matt Ryan jetzt ein Dinner einnahm. „Auf stürmische Romanzen.“ Susannah trank einen Schluck Wein. „Übrigens habe ich bereits den perfekten Kandidaten ins Auge gefaßt.“ Matt legte ihr eine dünne Scheibe Bruschetta auf den Teller, bevor er sich selbst bediente. „Wen?“ „Du wirst ihn nicht kennen. Er lebt erst seit kurzem in Kalifornien.“ Vorsichtig balancierte sie die Köstlichkeit zwischen zwei Fingern. „Sagt dir der Name Carlisle Elliott etwas?“ Matt verneinte. „Er ist Witwer. Vierundsechzig. Durchschnittliche Größe, durchschnittliches Gewicht. Ziemlich attraktiv. Er sieht aus wie Cesar Romero, nur kleiner. Wie auch immer, vor einem halben Jahr verkaufte er seine Gärtnerei in Iowa, weil es ihn ans Meer zog.“ Susannah probierte einen Bissen des überbackenen Knoblauchbrotes und ließ genüßlich die aromatische Mischung aus Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch, Kapern und Kräutern auf der Zunge zergehen. „Er lebt in Sausalito. Auf einem Hausboot.“ Ihre rosige Zungenspitze schnellte hervor, um einen Klecks Tomatensauce vom Finger zu lecken. Matts Überlegenheitsgefühl verließ ihn schlagartig. Erregung schoß wie ein Blitz durch seine Schenkel. Nur mit Mühe erinnerte er sich an Susannahs letzte Worte. „Auf einem Hausboot?“ „Sei kein Snob, Matt“, tadelte Susannah ihn, die den erstickten Unterton völlig fehlinterpretierte. „Nimm dir ein Beispiel an deiner Mutter. Für einen Queen LatifahFan ist ein unkonventioneller Aussteiger genau der Richtige.“ „Deine Großmutter hat dir also das Haus und ein Treuhandvermögen vermacht. Das erklärt aber immer noch nicht, wie du von einer Sozialarbeiterin zur Ehestifterin wurdest.“ Matt reichte Susannah eine Extragabel, damit sie sein Dessert teilen konnte. Obwohl sie im Hinblick auf ihre makellose Figur eine Nachspeise entschieden abgelehnt hatte, betrachtete sie seine Cannoli so sehnsüchtig, als handle es sich um eine Kombination aus dem Heiligen Gral und dem Hope Diamanten. „Meiner bisherigen Einschätzung nach hätte ich eher mit der Einrichtung einer Notunterkunft oder eines Frauenhauses gerechnet.“ Bingo! Kein Wunder, daß er ein so überragender Staatsanwalt war. Zwei kurze Begegnungen, und schon kannte er sie in und auswendig. „Dein Urteilsvermögen ist erstaunlich. Und, ja, ich zog es tatsächlich in Erwägung. Doch bei so einer Nobelgegend wie Pacific Heights stellten sich natürlich die Behörden quer. Vielleicht hätte ich eine Sondergenehmigung durchsetzen können… aber, um die Wahrheit zu sagen…“ Das Eingeständnis fiel ihr schwer. Normalerweise war sie keine Frau, die den leichteren Weg wählte. „… reichte mir all das mit meinem Beruf als Sozialarbeiterin verbundene Elend. Ich wollte das Leben der Menschen glücklicher machen, ohne dabei selbst zunehmend unglücklicher zu werden.“ Sie spießte ein winziges Stück Cannoli auf. „Dottie, meine Vorgesetzte, warf mir immer ein zu starkes persönliches Engagement vor.“ „Ach, tatsächlich?“ In Matts Augen tanzte der Schalk.
„Na ja, so eine richtig altmodische Partnervermittlung erschien mir einfach ideal. Ich liebe meinen Job. Und ich bin gut darin. Meine Erfolgsquote ist enorm. Eine der besten in dieser Branche.“ „Trotzdem engagierst du dich weiterhin im sozialen Bereich.“ „Alte Gewohnheiten sterben schwer. Du meinst sicher Judy.“ „Und diese ältere Dame, die du beschäftigst. Die Männerhasserin.“ „Helen Sanford.“ Er nickte. „Helen, ja. Ich gehe jede Wette ein, daß sie sich nicht einfach auf ein Stellenangebot hin bei dir als Sekretärin beworben hat.“ „Nein“, gab Susannah zu und bediente sich erneut von seinem Teller. „Wir lernten uns durch eine Freundin kennen. Sie leitet eine Gesprächsgruppe für Berufsrückkehrer. Meist Hausfrauen, die sich plötzlich ohne jede Ausbildung oder Berufserfahrung dem Arbeitsmarkt stellen müssen.“ Sorgfältig leckte sie die Schlagsahne von jedem einzelnen Gabelzinken. Matts Herz setzte einen Schlag lang aus, und wildes Verlangen packte ihn. „Ja, ich weiß. Allerdings weiß ich auch, daß es Organisationen gibt, die spezielle Wiedereingliederungsprogramme anbieten.“ „Richtig. Solche Programme gibt es, aber längst nicht genügend.“ Um der Versuchung aus dem Weg zu gehen, legte Susannah die Gabel hin. „Davon abgesehen besitzt Helen jede Menge Talente, denn sie hat praktisch fünfundzwanzig Jahre lang den Klempnerbetrieb ihres Mannes von zu Hause aus gemanagt. Doch wie so oft spielt diese Erfahrung in unserer schnellebigen Welt keine sonderlich große Rolle.“ „Also hat dir diese Freundin von der Selbsthilfegruppe Helen aufgeschwatzt.“ „Mir wurde niemand aufgeschwatzt! Da Judy zusätzliche Kurse an der Abendschule belegen wollte, brauchte ich einfach eine Assistentin, die ganztags zur Verfügung steht und…“ „Und Helen war die Beste für den Job.“ Matt war hörbar skeptisch. „Ja“, log Susannah. Ein hintergründiges Funkeln erschien in seinen Augen. „Sie mag ja über die rein praktischen Voraussetzungen verfügen, aber ich bezweifle ernsthaft, daß sie das ausstrahlt, was du im Sinn hattest. Hier…“ Da Susannah dieser Charakterisierung vehement widersprechen wollte, hielt er ihr einfach die gefüllte Gabel vor die Lippen. „… sieh mich nicht so ausgehungert an.“ Susannah mußte entweder den Mund weiter öffnen, oder sie würde sich über und über mit Schlagsahne und gesüßtem Ricottakäse bekleckern. Die Wahl fiel ihr nicht schwer. Gehorsam und mit kaum verhohlener Begeisterung schlossen sich ihre Lippen um das köstliche Dessert. Langsam zog Matt die Gabel zurück und ließ absichtlich die Zinken in einer lockenden Liebkosung über ihre Unterlippe gleiten. „Hmm.“ Flatternd senkten sich ihre Lider, und Susannah seufzte verzückt, als das Dessert langsam auf ihrer Zunge zerging. Fast hätte er ebenfalls hingerissen geseufzt. Ob sie auch die Liebe mit allen Sinnen auskostete? Erbarmungslos bot seine Phantasie ihm die erregendsten Bilder. Dabei sah Susannah heute abend so tugendhaft aus. Diese Frau war der Widerspruch in Person. Das klassische schwarze Kleid betonte noch ihren zarten, hellen Teint. Die damenhaften Perlen schimmerten verführerisch auf ihrer samtweichen Haut. Winzige Löckchen hatten sich aus dem strengen Chignon gelöst, und er konnte kaum an sich halten, ihre rotbraune Mähne nicht aus den Nadeln zu befreien. Keine Frage, hinter dem kultivierten, vornehmen Äußeren steckte eine warmherzige, leidenschaftliche, lebenssprühende Frau – dieselbe Frau, die in
seinen Armen dahingeschmolzen war wie Schnee in der Sonne. „Du ahnst nicht, wie sehr ich dich begehre“, murmelte er rauh. Susannah riß die Augen auf. „Wie bitte?“ „Du hast mich genau verstanden.“ Seine Direktheit ließ keinen Raum für Ausweichmanöver. „Okay, Herr Anwalt. Spielen wir mit offenen Karten. So verrückt es auch sein mag, dieses Gefühl basiert auf Gegenseitigkeit.“ „Lädst du mich noch auf eine Tasse Kaffee ein?“ Matt bog in die schmale Auffahrt und parkte vor der Garage. Susannah knabberte auf unbewußt erotische Weise an ihrer Unterlippe. „Besser nicht.“ „Eine kluge Entscheidung.“ Noch nie hatte er eine Frau so sehr gewollt, und er war überzeugt, daß Susannah sich ihm trotz ihrer Bedenken bereitwillig hingeben würde – falls er es darauf anlegte. Lässig legte er den Arm über die Rückenlehne ihres Sitzes. „Und was sagt dir dein Gefühl?“ Sie sah stur geradeaus, und wie beiläufig zupfte er an einer Haarlocke, die ihr ins Gesicht fiel. „Na schön. Aber wirklich nur auf einen Kaffee.“ Unendlich sanft strich Matt mit dem Fingerrücken ihre Wange hinunter und die zarte Linie ihres Halses entlang. Eine Welle der Erregung durchrieselte Susannah, und sofort bedauerte sie ihre Einladung. „Ich habe es vorhin ernst gemeint, Matt. Ich begehre dich, aber damit steht noch lange nicht fest, ob ich diesem Gefühl nachgebe.“ „Wann“, verbesserte er sie schmunzelnd. „Bitte?“ „Du sagtest, ob du diesem Gefühl nachgibst. Sei ehrlich, Susannah. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ „Also gut. Wann.“ Aufrichtig, sehr ernst und verführerisch süß sah sie ihn in dem gedämpften Licht an. „Jedenfalls wird es nicht heute nacht sein, auch wenn ich deinen diesbezüglichen Erwartungen nur ungern einen Dämpfer versetze. Aber wir kennen uns ja kaum.“ Leicht bedauernd hob sie die Hände und verschränkte sie dann in ihrem Schoß. „Und ganz sicher stürze ich mich nicht Hals über Kopf in eine Affäre, von der wir beide noch nicht absehen können, wohin sie uns führt. Um es salopp auszudrücken: Du hast mich eiskalt erwischt. Ich muß erst mal in Ruhe über diese Situation nachdenken.“ „Okay.“ Mannhaft verbarg Matt seine Enttäuschung und besiegelte sein Versprechen mit einem zärtlichen Kuß. „Die heutige Nacht ist hiermit gestrichen.“ Susannahs Haus war ebenso widersprüchlich wie sie selbst. In den Büroräumen im Erdgeschoß war das Ambiente eher gemütlichelegant und beruhigend konventionell. Blaßgelb, Lindgrün und Zartblau waren die vorherrschenden Farben. Das Mobiliar bestand aus französischen und englischen Antiquitäten in hellen Hölzern. Der Computer auf dem Schreibtisch stand unauffällig hinter einem großen Farn. Man mußte kein Genie sein, um die beabsichtigte Wirkung zu erkennen. Das Dekor sollte den Klienten ihre verständliche Nervosität nehmen und diente zugleich als Reminiszens an eine Ära, in der die Menschen ihre künftigen Ehepartner noch bei einer Tasse Tee in Großtantes Salon kennengelernt hatten, statt in der Bar zur Happy Hour. Oben jedoch, in Susannahs Privaträumen, herrschte eine völlig andere Atmosphäre. Oh, es war immer noch überaus geschmackvoll und hoch elegant. Nur eines war es nicht: konventionell. Sobald Matt durch die schwere Eichentür trat, kam er sich vor wie in einem parallel liegenden Universum; alles war
beruhigend vertraut und dennoch bizarr. Die hohen, stuckverzierten Decken glichen denen im Untergeschoß, und auch der Fußboden bestand hier aus wunderschönem polierten Parkett. Hohe schmale Fenster lagen zur Bucht hinaus, und auch der Kamin befand sich an der gleichen Stelle. Der Rest jedoch war bezaubernd anders. Die aufgrund der Größe des Raums weit auseinanderliegenden Wände leuchteten in einem kräftigen Amethystblau, einem Farbton, der noch stärker durch die blendend weißen Zierleisten und die Höhe der Decke zur Geltung kam. Lange, gazeartige Vorhänge unterteilten den Raum und fielen locker bis auf das glänzende Parkett. Drei überdimensionale Sofas im ArtDecoStil standen im Halbkreis vor dem Kamin aus rosa gemasertem Mamor. Unzählige Cocktailkissen in Violett, Amethyst, Pink und einem tiefen, dunklen Aubergine bedeckten einladend die weichen Polster. Sonstige Möbelstücke waren ein wuchtiger, französischer Schrank, an dessen Türgriffen pinkfarbene Seidenquasten baumelten, und ein paar Beistelltische, Reproduktionen des Art Nouveau. Mattglasleuchter, entweder wie Fächer oder wie anmutig fallende Lilien geformt, schenkten ein sanftes Licht. Zwei täuschend realistisch aussehende Leoparden flankierten den Kamin. Der eine trug ein breites Halsband aus funkelndem Straß, der andere eine schwarze Satinfliege und einen kecken Zylinder. Während Matt interessiert jedes Detail in Augenschein nahm, ging Susannah zum erstenmal auf, wieviel ihr Apartment von ihrer Persönlichkeit enthüllte. Und das einem Mann, der sowieso schon in ihr las wie in einem offenen Buch. Diese Einladung war wirklich eine Schnapsidee. Susannah flüchtete ans andere Ende des Raums, wo ein Tresen aus weißem Marmor die Küche abtrennte, und warf den Kamelhaarmantel über einen Barhocker. „Bitte setz dich doch. Der Kaffee dauert nur eine Minute. Ich kann dir aber auch Espresso oder Capuccino anbieten.“ „Espresso klingt gut.“ Als sie den Kühlschrank öffnete, war Matt plötzlich hinter ihr und umfaßte ihre Hüften. Sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Hals. Behutsam schob Matt ein paar wirre Locken beiseite und preßte die Lippen auf ihre samtweiche Haut. „Das ist ein anderes Parfüm als vor zwei Wochen.“ Susannah schrie unterdrückt auf und wirbelte herum. Knallend fiel die Kühlschranktür ins Schloß. „Was?“ Matt nahm ihr ungerührt die Rasche Mineralwasser ab und stellte sie auf die Anrichte. „Dein Parfüm. Willst du mich diesmal mit Orchideenduft betören?“ „Träum weiter, Herr Anwalt.“ So lässig wie möglich schob Susannah ihn beiseite und füllte Wasser in die Espressomaschine. „Es ist ein Geschenk.“ „Dieses oder das andere?“ „Dieses.“ „Wirf es weg.“ Völlig untypisch für ihn, empfand Matt eine rasende Eifersucht auf den Unbekannten, der ihr teure Geschenke machte. „Das bist nicht wirklich du.“ „So?“ Susannah wandte sich zu ihm, was unvorsichtig war, denn mit dem leicht zerzausten blonden Haar, den mutwillig glitzernden silberblauen Augen und dem schwarzen Dinnerjackett, das sich über seine breite Brust spannte, strahlte Matt eine lässige Eleganz aus, die sicher schon unzähligen Frauen den Schlaf geraubt hatte. Der herbe Duft seines Aftershaves stieg ihr in die Nase. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die Espressomaschine, denn für ihren Seelenfrieden sah Matt viel zu männlich aus und stand viel zu verführerisch nah bei ihr. „Dieser süßliche Blütenduft paßt nicht zu dir. Das andere gefiel mir besser.“
„Ich werde versuchen, mich künftig daran zu erinnern.“ Energischer als nötig klappte sie den Deckel zu und reckte sich nach der Kaffeedose. Kaum berührte sie den weißen Keramikknauf des Hängeschranks, schloß sich Matts Hand um ihre. „Kann ich dir helfen?“ erkundigte er sich unschuldig. Nervös sprang sie zurück und stieß prompt an eine Schrankecke. Eine Glanzleistung, Susannah Bennington! zischte sie sich in Gedanken zu. Die Rolle der kühlen, kontrollierten Frau von Welt kannst du jetzt streichen. Aber wie sollte sie nun ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden, wenn dieser Mann sich so ausgesprochen dicht neben ihr befand? Musik, das war die Rettung! „Warum gehst du nicht und legst eine CD auf? Meine Stereoanlage findest du im Schrank.“ Matt fing ihre Hand ein und preßte sie gegen die Anrichte. Mit seinen muskulösen Schenkeln hielt er sie gefangen. „Hast du Angst vor mir, Susannah?“ „Nein, natürlich nicht.“ „Nervös?“ „Nein!“ Langsam rieb er über ihr Handgelenk. Ihr Pulsschlag verriet sie. „Okay, schon möglich.“ Eine viel zu starke Hitze breitete sich viel zu schnell in ihrem ganzen Körper aus. Ob Matt überhaupt ahnte, was er mit seiner Berührung bei ihr anrichtete? Natürlich tat er das! „Aber nur, weil du mich bedrängst.“ Er lachte triumphierend, trat jedoch wenigstens einen kleinen Schritt zurück. „Kein Grund zur Panik.“ Damit führte er ihre Hand an seine Lippen. „Für den Moment zumindest nicht.“ Verführerisch ließ er seine Zungenspitze über die empfindsame Innenfläche kreisen. Eine süße Schwäche überkam sie. Es fehlte nicht viel, und sie wäre ihm in die Arme gesunken. „Heute abend bin ich der Inbegriff der Tugend“, raunte ihr dieser unverschämt aufreizende Mann zu. „Und ich bin Mutter Teresa“, versetzte sie trocken und entzog ihm ihre Hand. „Jetzt geh schon. Kümmere du dich um die Musik, und laß mich den Kaffee machen.“ Er zögerte kurz, und in ihrem Hinterkopf schrillten sämtliche Alarmglocken. Dann seufzte er theatralisch wie ein enttäuschter kleiner Junge und verschwand. Leise vor sich hin lächelnd, gab sie Kaffeepulver in den Edelstahlfilter. Nicht umsonst behauptete man, daß gute Prozeßanwälte auch exzellente Schauspieler abgaben. „Was möchtest du hören?“ rief er aus dem Wohnraum. „Rod Stewart ,Unplugged’? Frank Sinatra ,The Columbia Years’ oder Willie Nelsons größte Hits?“ „Wähl du.“ Sie nahm zwei Espressotassen aus dem Schrank, legte in jede einen Zuckerwürfel und schaltete die Maschine ein. Während der Kaffee zischend in die Tassen floß, drang aus dem Wohnzimmer die schmachtende Stimme von 01’ Blue Eyes, der Lovesongs aus der BigBandÄra zum besten gab. Na großartig! Zunehmend nervöser dekorierte sie die Tassen mit einem Stück Zitronenschale, atmete tief durch und schwebte in den angrenzenden Raum mit soviel Grandezza, wie sie angesichts der lauernden Gefahr aufbringen konnte. Sie hielt ganze zwei Sekunden durch. Denn während sie sich um Matts leibliches Wohlergehen gekümmert hatte, hatte der nichts Besseres zu tun gehabt, als es sich gemütlich zu machen. Zweifellos fühlte er sich bereits ganz wie zu Haus. Im Kamin prasselte ein Feuer, dessen helle Flammen vom Marmorsims reflektiert wurden und Lichtblitze über das Straßhalsband des Leoparden sandten. Zwei Kognakschwenker standen einladend auf dem Couchtisch. Auch den Dimmerschalter hatte dieser Mann entdeckt, so daß das Licht jetzt nur noch schwach von den amethystfarbenen
Wänden schimmerte. Um das Maß voll zu machen, hatte er Krawatte und Jackett abgelegt, was dazu führte, daß sie nun wie gebannt einen erstaunlich muskulösen Brustkorb und Schultern anstarrte, die mindestens einen Meter breit sein mußten. „Warte, ich helfe dir.“ Er sprang auf und nahm ihr das Tablett ab. Die Ärmel des maßgeschneiderten Hemdes hatte er bis zum Ellbogen hochgerollt. Machen Männer das absichtlich? überlegte sie gereizt. Wissen sie, was der Anblick dieses Raums weicher Härchen auf den kräftigen Unterarmen mit den guten Vorsätzen einer Frau anstellt? Jede Wette, daß er auch die oberen beiden Hemdknöpfe mit voller Absicht geöffnet hat, damit ihr ja nicht dieses verführerische Büschel goldener Löckchen entging! „Den nächsten Typen, der es wagt, uns Frauen vorzuwerfen, wir würden gnadenlos unseren SexAppeal einsetzen, um ans Ziel unserer Wünsche zu kommen, schlage ich k.o.“, murmelte sie. „Wie bitte?“ Irgendwie gelang es ihm, zugleich unschuldig, anbetungswürdig, gefährlich und unwiderstehlich sexy auszusehen. Mit anderen Worten: Sie mußte sich schleunigst in den Griff bekommen, ehe die Situation ihr vollends entglitt! Was, zum Teufel, hatte sie sich nur dabei gedacht, diesen Adonis mit hochzunehmen? „Falls wir uns vorhin mißverstanden haben sollten – Kaffee ist alles, was du heute abend von mir bekommst.“ Vielsagend ließ sie den Blick über die romantische kleine Szenerie schweifen. „Der Versuch ist nicht strafbar“, gab Matt sich gespielt gekränkt. „Aber im Ernst, ich würde niemals eine Frau gegen ihren Willen verführen.“ Er blickte sich seine kleine Inszenierung sichtlich zufrieden an. „Auch wenn ich zugegebenermaßen die vage Hoffnung hegte, daß ein bißchen Petting in der Einladung inbegriffen war.“ Als ihr entgeistert der Mund auf und zuklappte, lachte er laut auf. „Entspann dich, Susannah. Du setzt das Limit. Ich richte mich ganz nach deinen Wünschen.“ Welch ein Trost! Jetzt mußte sie sich nur noch davon abhalten, sich freiwillig in seine kraftvollen Arme zu werfen! Sie sank neben ihn aufs Sofa. Als sie ihm dann seinen Espresso reichte, hätte sie den fast verschüttet, weil sie ihn nicht aus den Augen lassen wollte. Dieses teuflische Glitzern war ihr hochgradig suspekt. „Versuch es gar nicht erst.“ Matt grinste frech. „Ich schlafe heute nacht nicht mit dir – selbst wenn du mich anflehst!“ Was Susannah fast getan hätte. Aber nur, weil Matt sie in einem schwachen Moment erwischte. Sie hatten den Espresso ausgetrunken und stießen mit dem Brandy an, da startete er seinen Verführungsangriff. Ohne das Glas abzusetzen, beugte er sich zu ihr. Unerbittlich sah sie seinen sinnlichen Mund näher kommen und schloß erwartungsvoll die Augen. Nein, das war keine gute Idee. Viel zu unüberlegt, zu impulsiv und… Was als eher harmloser Kuß begann, geriet schnell außer Kontrolle. Ungestüm schob Matt die Hand in ihr Haar, bog ihren Kopf zurück und reizte sie mit schnellen Bewegungen seiner Zunge. Und sie ging voller Leidenschaft auf das erregende Duell ein. Wilde, heiße Lust packte Matt, wie er sie selbst in seiner Zeit als liebestoller Teenager nicht erlebt hatte. Er wollte Susannahs warmen, weichen Körper spüren. Jetzt. Ungeduldig drückte er sie tiefer in die Kissen. Erst als er sich des Cognacschwenkers in seiner Hand bewußt wurde, merkte er, daß er dabei war, völlig den Kopf zu verlieren. Die Macht, die diese Frau über seine Sinne ausübte, war beängstigend, ja, fast bedrohlich. Stöhnend löste er sich von ihrem Mund.
„Mehr!“ bat Susannah, ungeachtet der Gefahren und so gierig wie ein Kind im Bonbonladen. „Hör nicht auf, Matt!“ Ihre samtigen braunen Augen glühten vor Verlangen, ihre Lippen glänzten feucht und einladend. Seine Entschlußkraft geriet ins Wanken. Er rückte gerade weit genug von ihr weg, um ihr das Brandyglas abzunehmen, und nahm sie dann sofort wieder in die Arme. Diesmal gab er sich damit zufrieden, an ihrer Unterlippe zu knabbern und danach mit der Zungenspitze über die seidige Innenhaut zu streichen. Spielerisch bewegte er seinen Mund über ihrem, forderte nichts, und eben diese Sanftheit war eine süße Qual, die Susannah fast wahnsinnig machte. „Matt…“ Eine Leidenschaft, so intensiv, wie sie sie noch bei keinem Mann empfunden hatte, löschte alles andere aus, außer dem unbändigen Verlangen nach mehr. Noch jedoch war Matt entschlossen, die Oberhand zu behalten. Bisher hatte jedesmal sie ihm die Selbstbeherrschung geraubt, daß er nur noch hatte flüchten können, um Susannah nicht einfach zu nehmen. Aber diesmal sollte es nicht so sein. Ein Kuß ja, aber mehr nicht. Zärtlich liebkoste er ihre Augenlider, ihre Wangen, und als er dann mit sanftem Druck ihre Lippen teilte und langsam Besitz von ihrem Mund ergriff, verlor sich Susannah selbstvergessen in seinem Geschmack, dem erregenden Duft seiner Haut, der Hitze seines muskulösen Körpers. Seine Lippen lockten, verzauberten, verführten sie, und heiß und fest strich seine Zunge durch ihren Mund. Sie griff das wilde, sinnlich süße Spiel begierig auf. Wie im Rausch fuhr sie durch sein dichtes blondes Haar, streichelte rastlos seinen Rücken und rieb ebenso sehnsüchtig wie fordernd ihren Schoß an seinen Hüften. Matt atmete tief ein. Er begehrte sie wahnsinnig. Er mußte sie haben. Jetzt. Auf der Stelle. Wider jede Vernunft. Trotz aller Versprechen. Hastig löste er ihre kastanienrote Lockenmähne aus dem Chignon, bis sie ihr in aufregender Unordnung über die Schultern fiel, und preßte die Lippen auf ihren pochenden Puls. Mit fliegenden Fingern tastete er nach dem Verschluß des Kleides. Um ihm die Suche zu erleichtern, schob Susannah ihr Haar beiseite und lehnte den Kopf an seine Brust. Ihre Bedenken waren, vergessen. Was spielte Vorsicht für eine Rolle, wenn schon das leise Sirren des Reißverschlusses sie vor Erwartung erbeben ließ? Matt schob ihr das Kleid von den Schultern. Ein kühler Luftzug strich über ihren nackten Rücken. Nur noch ein zarter violetter SpitzenBH bedeckte ihre weichen Rundungen. Unter Matts glühendem Blick schien ihre Haut zu brennen, und die Knospen stachen rosig und fest durch den Hauch von BH. In dem sanften Licht sah sie wunderschön aus. Hingerissen preßte Matt einen Kuß auf ihr Dekollete. „O Matt, das ist der reinste Irrsinn…“ Die Worte ernüchterten ihn schlagartig. Noch eine Sekunde länger, und es gäbe für ihn kein Halten mehr. Und sie würde es nicht anders wollen. Jetzt nicht mehr. Sie stand in Flammen. Sie war heiß vor Leidenschaft. Bis später. Bis ihr aufginge, wozu sie sich in der Hitze des Augenblicks hatte hinreißen lassen. Natürlich war sie fair genug, ihm nicht die alleinige Schuld zuzuschreiben. Aber sie könnte es bedauern. Und, verdammt, er hatte es ihr versprochen! Er schloß die Augen. Seine zitternden Finger krallten sich in den zarten Kleiderstoff. „Matt?“
„Gib mir eine Minute.“ Er atmete tief durch und zog ihr das Kleid wieder
ordentlich über die Schultern. Nie hatte etwas ihn größere Selbstbeherrschung
gekostet. Blieb nur zu hoffen, daß sie seine Rücksichtnahme zu schätzen wußte.
Wie konnte er einfach aufhören? War das Ganze für ihn nur ein Spiel? Ein kleiner
Test? Susannah wollte schreien, flehen. Doch dann gelang es ihr, wenn sie auch
nicht wußte, wie, ihre chaotischen Gefühle zu ordnen und von ihm wegzurücken.
„Danke.“
Matt zog gerade den Reißverschluß wieder hoch, da ging quietschend die
Eingangstür auf.
„Erwartest du Besuch?“
„Nein, ich…“
„Suse?“ Schwere Schritte erklangen auf der Treppe. „Bist du noch wach?“
Entsetzt tastete Susannah nach ihrer leicht aus der Fasson geratenen Frisur. „Ach
du liebe Güte! Das ist Heather.“
„Heather?“
„Heather Lloyd. Sie wohnt zur Zeit bei mir. In dem Einliegerapartment unten.“
„Suse?“ Es klopfte leise.
„Ja, ich bin noch auf. Komm ruhig herein.“
Ein schlanker Teenager im GrungeLook erschien im Türrahmen: zerrissene
Jeans, ein überdimensionaler Pullover unter einer abgetragenen Lederjacke,
schwere, schwarze Motorradstiefel und kurzes blondes Haar, das aussah, als
habe das Mädchen sie sich eigenhändig mit der Zackenschere verpaßt.
Sichtlich fassungslos blieb sie auf der Schwelle stehen und nahm die Szene in
sich auf. „Entschuldigung, Suse. Ich wußte nicht, daß du Gesellschaft hast.“
„Nein, warte.“ Susannahs Fröhlichkeit war zwar gespielt, löste aber die
Spannung. „Matt wollte sowieso gerade gehen.“ Mit hochroten Wangen und ohne
ihn eines Blickes zu würdigen, sammelte sie sein Jackett und seine Krawatte ein.
„Stimmt’s, Matt?“
Selbst einem Bewußtlosen wäre dieser glatte Hinauswurf nicht entgangen.
„Offenkundig, ja.“ Zähneknirschend stand er auf, zog das Jackett über und
steckte die Krawatte in die Jackentasche. Obwohl Heather ihm mit wachsendem
Interesse zusah, hob er behutsam Susannahs Kinn an. „Darüber reden wir noch.“
Das samtige Timbre seiner dunklen Stimme sandte Susannah köstliche Schauer
über den Rücken, und in seinen Augen entdeckte sie eine Glut, die ihren Puls
sofort wieder zum Rasen brachte.
„Und das ist ein weiteres Versprechen, auf das du zählen kannst.“ So. Damit
wären wir vorerst quitt, dachte Matt und ging zur Tür.
„Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“ bot Heather ihm hoffnungsvoll an.
„Nein, danke. Mein Wagen steht direkt vorm Haus.“
„Aber das ist kein marineblauer Lincoln, oder?“
„Doch, genau der ist es.“
Heather zog den Kopf ein und versank fast in der schwarzen Lederjacke. Sie
konnte kaum älter als sechzehn sein. Was trieb sich ein Kind ihres Alters um
diese Uhrzeit überhaupt noch draußen herum? Und warum überkam ihn das
unbestimmte, aber sichere Gefühl, daß er gleich etwas hören mußte, das ihm
nicht gefiel? „Wieso fragst du?“
Trotzig reckte sie das Kinn vor, wobei eine Unmenge Ohrringe leise klirrten. „Ich,
ahm, also… Na ja, ich habe da diesen Sticker gegen illegales Parken auf Ihre
Windschutzscheibe geklebt.“ Ihre drohende Haltung warnte ihn, aus der Haut zu
fahren.
5. KAPITEL „Deine dreiste Vandalin schuldet mir fünfzehn Dollar“, informierte Matt Susannah am nächsten Nachmittag telefonisch. Tatsächlich war es sogar wesentlich teurer gewesen, den mit einer Speziallösung getränkten „Sie parken hier illegal“ Sticker von seiner Windschutzscheibe entfernen zu lassen. Den Rabatt bekam Heather für ihre gute Absicht, denn anscheinend blockierten immer wieder Fremde Susannahs Zufahrt. Außerdem hatte sie zumindest ein Quentchen Verstand bewiesen und das verflixte Ding auf die Beifahrerseite geklebt. Und wenn er mehr als fünfzehn Dollar verlangte, übernahm bestimmt Susannah die Rechnung, und das war nicht Sinn der Sache. „Heather tut das Ganze wirklich sehr leid.“ Matt schnaubte. „Reue“ war für dieses freche Gör ein Fremdwort. Ihrer Meinung nach war das Versehen ohnehin seine eigene Schuld. Am Ende hatte sie ihn fast so weit, daß er sich für seine Unbedachtheit entschuldigte. „Nein, wirklich. Deine Gardinenpredigt hat ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt.“ Heute morgen hatte eine verblüffend kleinlaute Heather demonstrativ sämtliche Sticker in den Abfalleimer geworfen. Er lächelte grimmig. Diese schmuddelige kleine Vandalin war kreidebleich geworden, als er ihr erklärte, irgendein hitzköpfiger RamboVerschnitt könne die Verunstaltung seines Eigentums vielleicht übelnehmen und sein Mißfallen an dem Haus oder seinen Bewohnern auslassen. Hoffentlich hatte sie ihre Lektion gelernt und dachte das nächstemal nach, ehe sie loszog und Terminator spielte. „Das ist übrigens nicht der einzige Grund für meinen Anruf.“ Matt war das Thema „Heather Lloyd“ jetzt leid. Jeden Tag begegnete er Leuten wie ihr – problembeladen, bis zum Hals in Problemen steckend, schlicht und ergreifend ein wandelndes Problem. „Falls dein Mr. Elliott an einem Treffen mit meiner Mutter interessiert ist, könnten wir uns Samstag zum Dinner im MarkHopkinsHotel treffen. Ich muß eine Rede vor meinen Sponsoren halten und ein paar Hände schütteln. Aber es wird schon nicht so schlimm werden. Außerdem ist die Küche dort phantastisch. Du und Mr. Elliott, ihr seid natürlich meine Gäste.“ „Ich?“ Susannahs Herzschlag verfiel in einen beängstigend schnellen Rhythmus. „Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Anwesenheit bei einer spießigen Wahlkampfveranstaltung Teil unseres Deals ist.“ „Neuer Deal. Ich brauche dich als gute Fee. Irgendwer muß schließlich Elliott meiner Mutter vorstellen.“ „Was ist mit deiner todsicheren Strategie passiert? ,Ein Kinderspiel’ nanntest du es, wenn ich mich recht erinnere.“ „Theoretisch ist sie ausgereift, nur mit der Praxis hapert es noch ein wenig.“ „Also gut. Ich rufe ihn gleich an und melde mich dann wieder bei dir.“ Dieser Übereifer war vollkommen untypisch für sie und hatte ganz sicher nichts mit Matt zu tun. Was für ein Unsinn! Er hatte ausschließlich mit Matt zu tun. Normalerweise hätten weder zehn Pferde noch eine vorgehaltene Pistole sie auf ein spießiges Sponsorendinner gebracht. „Meine nächste Verhandlung beginnt gleich. Warum hinterläßt du nicht einfach eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter?“ Matt gab ihr die Nummer. „Und, Susannah?“ „Hmm.“ Gedankenverloren zeichnete sie Herzen um die sieben Zahlen. „Auch wenn Elliott Samstag keine Zeit hat, die Einladung an dich steht.“ Seine Stimme bekam wieder dieses verführerisch dunkle Timbre. „Du schuldest mir noch Revanche.“ Ihr fiel der Stift aus der Hand. „Ich glaube kaum, daß ein Sponsorendinner dafür
der passende Ort ist“, beschied sie ihm kühl und hoffte inständig, daß das
seltsame Flattern in ihrer Magengrube mehr Schock als Vorfreude bedeutete.
„Na, na, Miss Bennington. Wo bleibt denn Ihr Sinn fürs Abenteuer?“
„Wenn Mr. Elliott zurückruft, während ich oben bin, sag mir bitte Bescheid.“ Ohne
eine Blick auf den Empfangstresen zu werfen, steuerte Susannah zielstrebig die
Treppe zu ihren Privaträumen an. „Ich muß schnell etwas überprüfen.“
Beispielsweise ob sie ein passendes Kleid für das formelle Dinner im Peacock
Court des MarkHopkinsHotels besaß.
„Sekunde mal, Suse.“
Susannah fuhr herum. „Heather?“ Was machte sie auf Judys Platz? Sonst kam sie
nie während der Geschäftszeit ins Büro; alle Beteiligten waren darin
übereingekommen, daß ihr PunkLook die Klienten verschrecken würde. Und
wieso hielt sie den Telefonhörer in der Hand? Ihre kommunikativen Talente
waren praktisch nicht vorhanden.
„Ja“, erklärte Heather dem Anrufer. „Schön, daß du mit dem Arrangement
zufrieden bist.“ Sie wandte sich leicht ab und flüsterte in den Hörer: „Wir sehen
uns später. Ich muß jetzt Schluß machen. Bye.“
„Wer war das?“
„Nur ein Freund.“
Susannah ließ das Thema fallen, denn sie wußte, wie empfindlich Teenager auf
Wahrung ihrer Privatsphäre achteten. Wenn Heather sie nicht ins Vertrauen
ziehen wollte, dann eben nicht. „Dann verrat mir wenigstens, wieso du
Telefondienst schiebst.“
„Kurzfristiger Personalmangel“, erwiderte Heather lakonisch. „Judy muß auf dem
Weg ins ,Tea Cozy’ verlorengegangen sein. Eigentlich wollte sie nur rasch diesen
Kram für deine Teeparty bestellen. Helen machte sich Sorgen und hat natürlich
gleich die Kavallerie losgeschickt. Sie müssen aber jeden Moment
zurückkommen.“
„Das erklärt immer noch nicht, was du im Büro machst.“ Susannah musterte sie
forschend. „Warum bist du nicht in der Schule?“ Ein regelmäßiger Schulbesuch
war Teil ihrer Vereinbarung. „Schwänzt du?“
„Freistunde. Bei der Gelegenheit dachte ich, ich komme mal rüber und finde
heraus, ob dein SchmalspurRomeo dir trotz eures Dauergeknutsches inzwischen
verraten hat, wie hoch der Schaden war. Sag mal, ist so eine Couch nicht
ziemlich unbequem in eurem Alter?“
Würdevoll ignorierte Susannah den Seitenhieb auf ihre Aktivitäten des
vergangenen Abends. „Fünfzehn Dollar.“
Prompt fischte Heather eine Handvoll zerknitterter Geldscheine aus der
Jeanstasche und blätterte Susannah eine Zehn und fünf Eindollarnoten hin.
Damit blieben ihr noch knapp sechs Dollar, bis sie am Wochenende wieder an der
Fisherman’s Wharf den Touristen ihren handgefertigten Schmuck verkaufte.
„Die mußt du ihm schon selbst geben. Er holt mich Samstag abend ab.“
„Samstag abend! Oh, komm schon, Suse, da hab’ ich schon was vor.“
„Komm trotzdem. Eigenverantwortung übernehmen heißt auch, seine Fehler
persönlich einzugestehen.“
„Könnte ich ihm das Geld nicht einfach schicken?“
„Das liegt ganz bei dir. Obwohl das natürlich ein feiger Ausweg wäre.“
„Dann also Samstag abend.“ Murrend stopfte Heather die Banknoten wieder in
die Tasche. „Welche Zeit?“
„Zwischen sieben und halb acht.“
„Okay. Ich werde hiersein.“ Sie winkte Susannah zu und eilte zur Haustür.
„Warte.“
Heather seufzte übertrieben in Erwartung der nächsten Standpauke. „Ich muß zur Schule.“ „Hast du was gegessen? Ich könnte dir schnell ein Sandwich machen.“ Heathers Lächeln war unerwartet süß. „‘Nein, danke, Suse“, wehrte sie hörbar gerührt ab. „Ich hole mir unterwegs einen Big Mac.“ Mit kritischem Blick ging Susannah den Inhalt ihres Kleiderschranks durch. Ihr Verkleidungsrepgrtoire hatte sie gestern mit dem altjüngferlichen Nonnengewand so ziemlich ausgeschöpft, auch wenn Matt davon ja sehr angetan zu sein schien. Sollte sie losziehen und sich etwas Ähnliches für dieses Sponsorendinner kaufen? Nein, mit der Scharade war jetzt Schluß! Wenn ihre Beziehung – oder wie immer man ihr Verhältnis auch nennen wollte – wirklich eine Chance haben sollte, dann mußte sie auf totaler Aufrichtigkeit basieren. Und ein langes, formelles, todlangweiliges Abendkleid aus irgendeiner SchickimickiBoutique am Union Square wäre unaufrichtig. Allerdings gab es da noch dieses zartrosa Chiffonkleid im Stil der zwanziger Jahre, das sie sich letzten Februar zum Geburtstag geschenkt hatte… Susannah nahm es aus dem Schrank und schüttelte es leicht. Das Sonnenlicht glitzerte auf der perlenbestickten Korsage. In der frischen Meeresbrise, die durch das offene Fenster wehte, bauschte sich das Kleid in einem flirrenden Tanz. Ja, es war einfach perfekt! Wenn Matthew Ryan bei ihrem Anblick nicht flach auf die Nase fiel, dann war er nicht der richtige Mann für sie! „Sie sind früh dran“, spottete Heather, als sie Matt um Viertel vor sieben die Tür öffnete. „Überschießende Hormone, was?“ Ihr anzügliches Lächeln war sichtlich dazu gedacht, ihm unter die Haut zu gehen. „Es ist mir ebenfalls eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Lloyd“, begrüßte Matt sie übertrieben höflich und ignorierte die Provokation. Eine einzige Begegnung hatte ihm gereicht, um zu wissen, womit er sie am meisten ärgern konnte. Alles an ihrer Aufmachung war wohlkalkuliert im Hinblick auf den Schockwert; von ihrem Stoppelhaar über die Sturmtruppenboots bis hin zu der Kollektion silberner Pentagramme und Kreuze an den Ohren. Heute trug sie einen ausgefransten Pullover in tristem Olivgrün zu abgeschnittenen Jeansshorts, die sie aus der Lumpensammlung gefischt haben mußte. Der Pullover war mindestens zwei Nummern zu groß; die Shorts eine Nummer zu klein. „Ist Susannah oben?“ „Klaro.“ Krachend ließ Heather die Tür ins Schloß fallen. „Ich soll Sie hochbringen und Ihnen ein Glas Champagner anbieten.“ Hüftschwingend trottete sie die Treppe hinauf. Bei jedem Schritt dröhnten ihre schweren Stiefel auf den Stufen, was Matt an eine Kombination aus Marilyn Monroe in einer Szene aus „Manche mögen’s heiß“ und Frankensteins Monster, das blindlings durch die Wälder stolperte, erinnerte. Ob sie das absichtlich machte, oder war dies ihr natürlicher Gang? Kokett wirbelte sie herum und klimperte unschuldig mit den Wimpern. „Sehen Sie etwas, das Ihnen gefällt?“ Den lasziven Schmollmund hätte selbst Drew Barrymore nicht besser hinbekommen. „Warte noch zehn, fünfzehn Jahre, Kleine.“ Sein Ton wirkte bewußt gönnerhaft, und er setzte eine gelangweilte Miene auf. „Dann hast du vielleicht genug Erfahrung, um es interessant zu machen.“ Verblüffenderweise umspielte den Schmollmund ein fröhliches Lächeln, bevor Heather ihren Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle bekam und das Apartment betrat. „Hey, Suse. Dein Rechtsverdreher ist hier.“ Großzügig sah er über die Verunglimpfung seines Berufsstandes hinweg, und da sich im Schlafzimmer nichts rührte, folgte er Heather in den Küchenbereich.
„Möchten Sie nun Champagner?“ „Kommt drauf an, wie.“ Auffordernd krümmte er den Zeigefinger. „Her damit.“ „Ich kann…“ Kurz entschlossen beugte er sich über den Tresen und nahm ihr die Champagnerflasche ab. „Nicht, daß ich dir nicht traue…“ Heather grinste und streckte die Hand nach der Silberfolie aus. Matt schenkte gerade den Champagner ein, als Susannah das Schlafzimmer verließ und unsicher im Türrahmen stehenblieb. Matt stockte der Atem. Seine Reaktion warf ihn fast selbst um. Fassungslos starrte er die feenhafte Erscheinung an. Weiche Korkenzieherlocken umrahmten das blasse Oval ihres Gesichts und fielen wie eine Kaskade über ihre Schultern, ein glänzendes Mahagonirot gegen den seidigcremigen Teint ihrer nackten Haut. Das Kleid war ein Traum aus unzähligen Lagen zartrosa Chiffons mit schmalen Trägern, einer perlenbesetzten Korsage und einem Ausschnitt, der auch den Standfestesten auf dumme Gedanken gebracht hätte. „Nun sagen Sie ihr schon, wie toll sie aussieht“, zischte Heather, während ihm der eiskalte Champagner über die Finger rann und auf den Boden tropfte. Schnell riß er die Flasche hoch und stellte sie zusammen mit dem überlaufenden Sektkelch klirrend auf die Anrichte. „Du siehst unglaublich aus, Susannah.“ Benommen schüttelte er den Kopf. „Absolut umwerfend.“ Langsam durchquerte Susannah den Raum. Knisternde Erotik lag in der Luft. Die hauchdünnen Absätze ihrer Pumps klapperten auf dem Parkett. Der gezackte, unregelmäßige Spitzensaum des Kleides umspielte ihre Knöchel. Bei jedem Schritt glitzerte die hüftlange, bestickte Korsage, als sei ihr schlanker Oberkörper von Sternenstaub umhüllt. Zudem umwehte sie ein exotischer, orientalischer Duft, der sein Blut in Wallung versetzte. Sie blieb vor ihm stehen, reckte sich und richtete seine schwarze Fliege. „Du auch. Absolut umwerfend, meine ich.“ Und das tat er wirklich. Die meisten Männer fühlten sich offenkundig unwohl im Smoking, Matt war wie geboren dafür, ihn zu tragen. Groß, blond, breitschultrig, so elegant und lässig wie ein skandinavischer Prinz und ebenso distinguiert stand er vor ihr. Bis er lächelte und ihre Hände an seine Lippen führte. Als er mit dem Mund über ihre empfindsamen Handflächen glitt, brannte in seinen Augen ein Feuer, das Gletscher zum Schmelzen bringen konnte – oder das dumme Herz einer Frau. Heathers leiser Pfiff brach den Zauber. „Hey, ihr beide seht aus wie Cinderella und Prinz Charming.“ Susannah lachte leicht zittrig und entzog Matt ihre Hände. Sie mußte dringend ihr seelisches Gleichgewicht wiedergewinnen. „Haben wir noch Zeit für ein Glas Champagner?“ Sie nahm einen der zarten Kelche vom Tresen. Fragend sah sie über die Schulter. „Matt?“ Seine Antwort bestand aus einer erstickten Silbe, die verdächtig nach einem Fluch klang. Heather kicherte. Susannah hob eine feingeschwungene Augenbraue. „Guter Gott, Weib. Willst du einen Aufruhr anzetteln?“ „Wie bitte?“ Dabei wußte sie haargenau, wovon er sprach. Der Rückenausschnitt ihres Kleides reichte entschieden tiefer als vorn und endete erst knapp unter der Taille, nur gehalten von drei schmalen Perlenbändern. Matt stieß einen weiteren unartikulierten Laut aus und deutete wild gestikulierend auf ihren Rücken.
Susannah zuckte die Achseln, wodurch die Perlen auf ihrer Haut schimmerten.
„Findest du, es ist zu viel?“ fragte sie unschuldig und zwinkerte Heather
verschwörerisch zu.
„Ich finde, es ist… zu wenig! Du fängst dir noch eine Lungenentzündung ein,
wenn du in diesem Ding ins Freie gehst.“
„Dafür habe ich ja mein Abendcape.“ Sie lächelte. Ein herausforderndes,
unendlich feminines Lächeln, das den Unerschütterlichsten bezaubert hätte.
„Champagner?“
Matt erkannte, daß Susannah Bennington ihn in die Knie zwingen konnte, wenn
sie wollte. Nicht gerade ein willkommener Gedanke. Hin und her gerissen
zwischen dem Impuls ihr den Hals umzudrehen oder sie besinnungslos zu
küssen, starrte er sie an. Da momentan beides keine besonders gute Idee war,
nahm er das Glas und leerte es in einem Schluck. „Wir gehen besser, sonst
kommen wir noch zu spät.“
„Heather? Wolltest du Matt nicht noch etwas sagen?“
Heather zupfte am Saum ihres Sweaters, als hätte sie nichts Dringenderes zu
tun.
Nach einem scharfen Blick und einer vielsagenden Geste ging Susannah ihr Cape
holen.
„Suse denkt, ich sollte…“ Heather schaute zu Boden. „… na ja, sie hält eine
Entschuldigung für angebracht.“
„Und was denkst du?“
Heather zuckte die Schultern.
Matt wartete.
Seufzend fischte sie ein Bündel Geldscheine aus ihren Shorts. „Hier.“ Ihre
nächsten Worte konnten mit viel Phantasie als „es tut mir leid“ gedeutet werden.
Matt strich die Banknoten glatt und überlegte, ob er auf einer anständigen
Entschuldigung beharren sollte, beschloß dann aber, Gnade vor Recht walten zu
lassen. Zumindest diesmal. „Danke.“
Susannah kam mit ihrem Cape über dem Arm aus dem Schlafzimmer. „Alles okay
hier drinnen?“
Heather sah Matt an. Der nickte.
„Hat sie dich auf diese Rechtssache angesprochen?“
„Suse!“
„Was für eine Rechtssache?“ Sofort wurde Matt mißtrauisch. Die Schwierigkeiten,
in die ein Teenager heutzutage geraten konnte, waren nicht von Pappe.
Insbesondere bei einer aufmüpfigen Sechzehnjährigen mit einer solchen
Abwehrhaltung und ohne jeden erkennbaren elterlichen Einfluß.
„Ich komme schon klar“, wehrte Heather ab. „Die Leute von ,Legal Aid’ hatten
mir schon einen Anwalt zugeteilt. Ich habe bloß vergessen, dir davon zu
erzählen, das ist alles.“
„Ein Anwalt?“ bemerkte Susannah trocken. „Vermutlich ein Jurastudent im ersten
Semester.“
„Zweites. Aber er muß sowieso nur ein paar blöde Papiere ausfüllen. Keine große
Sache.“
„Was für Papiere?“ Bei Matts befehlsgewohntem Tonfall drehten beide Frauen die
Köpfe um.
„Für einen Antrag auf vorzeitige Mündigkeit“, murmelte Heather.
„Mit ein paar Papieren ausfüllen, ist es da aber nicht getan“
„Na ja…“ tat Heather das Thema ab.
Matt seufzte. „Schau, im Moment fehlt mir leider die Zeit. Aber wie wär’s, wenn
wir drei uns Mitte der Woche mal zusammensetzen und darüber reden?“
„Was gibt es da noch groß zu bereden?“ „Bevor ich dir helfen kann, muß ich wissen, wobei ich dir helfen soll. Du beantwortest mir ein paar Fragen, und ich überprüfe die Sache und sehe, was sich machen läßt. Vielleicht reicht es ja, wenn ich deinem Anwalt von der Prozeßkostenhilfe Feuer unterm Hintern mache. Aber nur, wenn dein Fall es wirklich rechtfertigt.“ Matt wollte keine falschen Hoffnungen wecken. „Das Gericht gewährt eine vorgezogene Mündigkeitserklärung nur äußerst selten, und ich werde einem bereits hoffnungslos überlasteten Rechtssystem keine zusätzliche Arbeit aufbürden, nur weil du mit deinen Eltern im Clinch liegst. Ist das klar?“ „Sicher.“ Trotzdem regten sich leise Freude und Zuversicht in Heather. Das Gesuch um die Anerkennung als uneingeschränkt rechtsfähige Minderjährige war ihr enorm wichtig, mochte sie es auch noch so sehr abstreiten. Schon mit zwölf Jahren war sie das erstemal von zu Hause weggelaufen, weil sie den körperlichen Mißbrauch durch ihren Vater – und das stumme Tolerieren ihrer unterdrückten Mutter – nicht länger ertrug. Jedesmal war sie wieder aufgegriffen und von den Behörden zu ihren Eltern zurückgeschickt worden, bis sie schließlich mit Selbstmord gedroht hatte und Susannah überstellt würde. Heathers einzige Alternative war das Heim oder eine Pflegefamilie. Doch es war fraglich, ob sie problemlos die Autorität eines anderen Menschen akzeptieren würde, nachdem sie so lange auf sich allein gestellt lebte. Sie hatte schon erneut ausreißen wollen, als Susannah ihr von der Möglichkeit einer vorgezogenen Mündigkeitserklärung erzählte. Die Chance, das dieses Gesuch durchkam, war so ziemlich das einzige, was Heather von einer weiteren Flucht abhielt. Erwartungsvoll sah Matt zu Susannah. Doch statt seine Warnung zu bekräftigen, strahlte sie ihn an, als sei er JungSiegfried, der antrat, den Drachen zu bezwingen. Matt seufzte. Er wußte, wann er geschlagen war. „Komm, Cinderella.“ Er nahm das burgunderfarbene Cape und legte es ihr vorsichtig über die Schultern. „Der Ball wartet auf uns.“
6. KAPITEL Ein glutäugiger Mann mit Stirnglatze und einem gewinnenden Lächeln stürmte auf sie zu, sobald sie den Peacock Court des Hotels betraten. Genauer gesagt auf Matt. Susannah bemerkte er überhaupt nicht. „Wo, zum Teufel, steckst du? Kein Wunder, daß ich dauernd haarscharf am Rand eines Herzinfarkts stehe! Stadtrat Leeland hat schon nach dir gefragt, und Mr. Hoi Lung Kwong möchte mit dir über die zunehmende illegale Einwanderung aus China sprechen. Teuflische Sache, wenn der Mann der Stunde zu spät kommt.“ „Susannah, dieser außerordentlich unhöfliche Mensch ist Harry Gasparini, mein Wahlkampfmanager“, ging Matt ungerührt über das drohende gesundheitliche Schicksal des älteren Mannes hinweg. „Harry, das ist Susannah Bennington, meine Begleiterin. Und wir sind nicht zu spät.“ Demonstrativ sah er auf die Uhr. „Es ist nicht einmal halb acht.“ „Deine Begleiterin?“ Harrys Gesichtsausdruck wurde immer mißbilligender. Susannah lächelte süßlich und zeigte zwei Reihen perfekter weißer Zähne. „Bennington?“ Offenbar bereitete es Harry erhebliche Schwierigkeiten, die Frau vor sich mit dem berühmten Namen in Einklang zu bringen. „Von Bennington Plastik?“ „Mein Vater ist Roger Bennington, ja.“ „Dann muß Ihre Mutter Audrey Stanhope Bennington Harper sein.“ „Ja.“ Nicht vielen Leuten gelang es, so schnell die Verbindung herzustellen. „Darauf wäre ich nie gekommen.“ Er taxierte sie in ihrem unkonventionellen Outfit vom Scheitel bis zur Sohle. „Danke.“ Susannahs Sarkasmus war verschwendet. Harrys Aufmerksamkeit galt schon wieder der Hauptperson des heutigen Abends. „Komm mit, und begrüß den Stadtrat. Er möchte dir einige Bekannte vorstellen.“ „Geh ruhig.“ Susannah merkte Matt das Widerstreben an, sie in einem Raum voller fremder Menschen allein zu lassen. „Inzwischen hole ich mir ein Glas Champagner und mische mich unter die Gäste. Vielleicht sehe ich ja meine Mutter oder Mr. Elliott.“ „Würdest du nicht gern den Stadtrat kennenlernen?“ Sie nahm ein Glas Champagner vom Tablett eines vorbeieilenden Obers. „Oh, wir kennen uns bereits.“ Vor einigen Jahren war sie Mitglied eines Kommittees gewesen, das das Büro dieses starrsinnigen MegaMachos belagert hatte, um so eine bessere finanzielle Unterstützung für Frauenhäuser und ein spezielles Training von Polizisten in Fällen häuslicher Gewaltanwendung durchzusetzen. Die Petition war natürlich abgeschmettert worden. Aber von ihren gelegentlichen politischen Eskapaden würde Matt sicher noch früh genug erfahren, darum sagte sie jetzt nur: „Leeland und ich, wir hatten mal eine kleine Meinungsverschiedenheit.“ Sie trank einen Schluck Champagner. „Kümmere du dich ruhig um deine politischen Pflichten. Ich treffe dich dann zum Dinner.“ In der nächsten halben Stunde schlenderte Susannah durch den Saal. Wie immer auf derartigen Zusammenkünften hatten sich kleinere Gesprächsgruppen gebildet. Die jeweiligen Diskussionen befaßten sich mit den unterschiedlichsten Themen, von der Lage der Nation über die neuesten Schlagzeilen, In Restaurants, Erfolgsfilme, die Rechte der Homosexuellen, Affären der Freunde und San Franciscos wachsende Obdachlosenziffer. „Auf jeden Fall sollte man diese Bagage vom Union Square fernhalten“, schimpfte eine schrille Stimme, die Susannah mühelos als Mrs. Barbara Filberts identifizierte. „Diese schrecklichen Menschen schaden dem Tourismus. Außerdem wird das Shopping dadurch so unerfreulich.“
Dumme Kuh, dachte Susannah und wandte sich ab, bevor Mrs. Filbert sie erkennen, wodurch sie vom Regen in die Traufe geraten würde. „Meine Güte, Susannah. Bist du’s wirklich?“ „Hallo Mutter.“ Sie bot ihr die Wange für den obligatorischen Kuß. „Wie geht es dir?“ „Sehr gut.“ Was du wissen würdest, wenn du mich häufiger besuchen kämst, schwang deutlich in ihrem Tonfall mit. „Du siehst phantastisch aus.“ Ihre Mutter war tatsächlich eine sehr schöne Frau. „Besonders dein Haar. Die neue Farbe schmeichelt dir.“ Audrey strich ihrer Tochter eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. „Vielleicht solltest du es auch einmal versuchen. Allerdings…“ Mißbilligend betrachtete sie das unkonventionelle Kleid. „Wenn du nicht ständig derart auffällige Sachen tragen würdest, würde deine Haarfarbe auch nicht so stark ins Auge stechen. Es hat schon seinen Grund, weshalb Rothaarige kein Rosa tragen sollten.“ „Was macht Brian?“ Brian war Audreys zweiter Ehemann. „Ist er auch hier?“ „O ja, sicher redet er gerade über Geschäfte. Er liebt solche Veranstaltungen. Obwohl ich nie gedacht hätte, daß du der Typ dafür bist.“ „Da hast du recht. Ich begleite auch nur einen Freund.“ „Ach? Jemanden, den ich kenne?“ Was soviel heißen soll, wie: Jemand, der es wert ist, daß ich ihn kenne? dachte Susannah ironisch. „Nein, ich glaube nicht, Mutter. Auch wenn du vermutlich von seiner Familie gehört hast. Er ist…“ Eine Hand legte sich auf die nackte Haut unmittelbar über ihrer Taille. Susannah lächelte, sie wußte genau, wer hinter ihr stand. „In wenigen Minuten wird das Dinner serviert, Darling“, raunte Matt ihr ins Ohr. „Wir sollten unseren Tisch suchen.“ Susannah schwankte zwischen Dankbarkeit über die Rettung und purem Entsetzen, denn ihr umwerfend aussehender Begleiter mußte Audreys Standards nach alle Kriterien für den perfekten Ehekandidaten ihrer sträflich emanzipierten Tochter erfüllen: Reichtum, Status und Attraktivität. Sicher hielt sie ihn sogar für einen noch besseren Fang als diesen Snob, den sie ihr vor drei Jahren aufschwatzen wollte. Nicht, daß sie ihr das zum Vorwurf machen konnte. Matt war ein phantastischer Fang. Nur war sie nicht auf Männerjagd! „Möchtest du uns beide nicht vorstellen, Susannah?“ „Ja, natürlich. Mutter, das ist Matthew Ryan. Matt, meine Mutter, Audrey Stanhope Bennington Harper.“ Anders als die meisten wiederverheirateten Frauen legte Audrey Wert auf den Nachnamen ihres ExMannes. Angeblich weil dadurch ein Band zu ihrer einzigen Tochter blieb. In Wahrheit wollte sie nur sicherstellen, daß niemand ihre Verbindung zu BenningtonPlastik übersehen konnte. Nach einem kurzen Austausch von Höflichkeiten führte Matt Susannah an ihren Tisch. „Jetzt weiß ich, wen du neulich imitieren wolltest.“ „Imitieren?“ „Das dezente Kleine Schwarze. Der Chignon. Die Perlen. Du hast Verkleiden mit den Sachen deiner Mutter gespielt.“ Erwischt! „Also wirklich! Dabei sollte mein NobHillGrandeDameOutfit lediglich deiner Mutter die Befangenheit nehmen!“ „Es war eine Verkleidung“, blieb Matt ungerührt. „Noch ein Punkt, über den wir uns später unterhalten sollten.“ Er legte Susannah die Hände auf die Schultern und steuerte sie durch die dichtgedrängte Menschenmenge zu einem Tisch unmittelbar am Podium.
„Oh, Susannah, was sehen Sie entzückend aus!“ rief Millicent Ryan statt einer Begrüßung. „Ein atemberaubendes Kleid.“ Sie sah zu ihrem Sohn auf. „Findest du nicht auch, daß sie atemberaubend aussieht, Matthew?“ Verstohlen ließ Matt den Finger über Susannahs Wirbelsäule gleiten. „Atemberaubend.“ Susannah ignorierte ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Millicents Tischnachbarn. „Mr. Elliott. Schön, daß Sie kommen konnten.“ „Sie beide kennen sich?“ war Millicent leicht überrascht. „Ich traf diese bezaubernde junge Dame, kurz nachdem ich von Iowa hierherzog.“ Carlisle Elliott zwinkerte Susannah verschwörerisch zu. Matt musterte den Mann abschätzend. Er ähnelte wirklich ein wenig Cesar Romero. Sein Haar war dicht und schlohweiß, der Teint wettergegerbt und tief gebräunt. Sein Smoking sah maßgeschneidert aus, und auch die buntgemusterte Fliege und der Kummerbund hatten Designerqualität. „Susannah half mir beim Einleben in meiner neuen Heimatstadt. Sie stellte mich einigen Freunden vor. Leider scheint sie ein wenig vergeßlich zu sein, denn ich bat sie immer wieder, sie solle mich Carly nennen.“ „Carly“, wiederholte Susannah gehorsam. „Wie ich sehe, haben Sie beide sich bereits bekannt gemacht.“ „O ja.“ Millicents Augen leuchteten verräterisch. „Carly ist ein so angenehmer Gesellschafter. Wir haben in den vergangenen Minuten herrlich geplaudert. Carly besaß eine Gärtnerei in Iowa“, wandte sie sich erklärend an ihren Sohn. „Und du errätst nie, was seine Spezialität war. Rosen! Ist das zu glauben!“ „Klingt, als hättet ihr beide eine Menge Gemeinsamkeiten.“ Matt beschloß, als allererstes morgen früh seine Informanten auf diesen Charmeur anzusetzen. „Ich bin übrigens Matt Ryan. Millicents Sohn.“ Anschließend wandte sich das Gespräch allgemeineren Themen zu. Mit ihnen saßen noch acht weitere Gäste am Tisch, hauptsächlich Industriekapitäne und hochrangige Politiker. Einer von ihnen war Stadtrat Leeland, doch der saß weit von Susannah entfernt, womit eine Unterhaltung glücklicherweise ausgeschlossen war. Nach dem köstlichen Dinner wandte man sich dem eigentlichen Anlaß der heutigen Zusammenkunft zu. Das Werben um Sponsoren. Stadtrat Leeland betrat das Podium. Nachdem er den Gästen für ihr Kommen gedankt und zunächst ausführlich seine eigenen Verdienste hervorgehoben hatte, folgte ein kleiner Exkurs über Matts hochgeschätzten Vater. Eine geschlagene Viertelstunde später steuerte er endlich die anstehende Wahl des Bezirksrichters an. Matts hervorragende akademische Laufbahn fand ebenso Erwähnung wie seine weitere Karriere: die Anfänge bei der Bezirksstaatsanwaltschaft, sein rapider Aufstieg und die vielen Erfolge bis hin zu den aktuellsten Prozessen. Leeland hob Matts ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hervor, seine Integrität und seinen unermüdlichen Einsatz, was die strafrechtliche Verfolgung von Kriminellen anging. In all diesen Eigenschaften gleiche er seinem Vater, der als strenger, aber fairer Richter bekannt gewesen sei. Während Susannah Leelands Lobeshymnen lauschte, fragte sie sich, ob dieser Kreuzritter für Wahrheit und Gerechtigkeit derselbe Mann sein konnte, der neben ihr saß und unter dem Tisch mit ihren Fingern spielte. Schließlich bat der Stadtrat Matt in einer Woge rauschenden Applauses auf die Bühne. Matt drückte ihre Hand, stand auf und trat mit festen Schritten seinem Schicksal entgegen. Seine Rede war kurz und präzise. Falls er gewählt werde, so versprach er, sein Bestes zu geben, um dem Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde, und seiner Verantwortung in aller menschenmöglichen Fairneß und
Unparteilichkeit gerecht zu werden. Dann dankte er seinen Sponsoren für ihre Unterstützung und verließ das Podium. Auch wenn die Zuhörer ein wenig verblüfft über die Kürze seiner Rede waren, zweifelte niemand an Matts Aufrichtigkeit. Und sie betrachteten es als zusätzlichen Bonus, auf diese Weise ein wenig früher nach Hause gehen zu können. Dennoch dauerte es gut eine Dreiviertelstunde, bis der Saal sich schließlich geleert hatte. Jeder wollte noch ein Wort mit dem Kandidaten wechseln. Obwohl Matt durchweg höflich und aufmerksam blieb, spürte Susannah seine wachsende Unruhe. Ob diese Anspannung nur an dem überfüllten Saal lag, oder steckte ein tieferer Grund dahinter? Die Last der in ihn gesetzten Erwartungen? Vielleicht auch das übermächtige Erbe seines Vaters? Trotz seiner prägnanten Rede war sie immer noch nicht restlos überzeugt, daß Matt auch wirklich Richter werden wollte. Ein sanfter Rippenstoß riß sie aus ihren Überlegungen. „Können wir gehen?“ Susannah sah sich um. Der Saal war leer, bis auf einige Hotelangestellte, die geschäftig Tische abräumten und Stühle zusammenstellten. „Wo ist denn deine Mutter abgeblieben?“ Matt schmunzelte. „Dein HausbootCasanova bringt sie nach Hause.“ Schelmisch lächelte sie zurück. „Siehst du, was ein kleines TeteáTete im privaten Rahmen so alles bewirkt.“ Matt verschränkte seine Finger mit ihren. „Holen wir dein Cape.“ Er war in Gedanken bei einem ganz anderen TeteáTete, das mit etwas Glück anschließend in seinem Apartment stattfinden würde. Die Garderobe war nicht besetzt, was für ein Nobelhotel wie das MarkHopkins ungewöhnlich war. Nachdem sie eine Weile gewartet hatten, ergriff Matt die Initiative. „Paß auf, ob jemand kommt, ich gehe hinein.“ Susannah wartete und wartete und wartete. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten. Himmel, was dauerte das so lange? Wie schwierig konnte die Suche nach einem auffälligen Samtcape schon sein? Besonders wenn die Garderobe so gut wie leer sein mußte. Sie beugte sich über den Tresen und versuchte einen Blick in den dahinterliegenden Raum zu erhaschen. „Matt?“ „Welche Farbe hatte es?“ „Ein dunkles Weinrot.“ „Du kommst besser her und schaust selber nach.“ Männer! Sie alle litten unter einer gewissen geschlechtsspezifischen Blindheit, wenn es um Dinge ging, die unmittelbar vor ihrer Nase lagen! Natürlich entdeckte sie das Cape auf Anhieb. „Also wirklich, Matt, es hängt doch…“ Ihr leichter Tadel wurde abrupt abgeschnitten. Ungestüm riß Matt sie in die Arme und preßte fordernd und besitzergreifend die Lippen auf ihren Mund. Sie ließ Cape Cape sein und schlang die Arme um seinen Hals. Verzückt ergab sie sich ihren köstlichen Empfindungen und erwiderte seinen Kuß mit einer Leidenschaft, die seiner in nichts nachstand. „Das wollte ich schon den ganzen Abend tun.“ Schwer atmend hob er den Kopf. „Noch eine Sekunde länger, und ich wäre vor Sehnsucht nach dir vergangen.“ „Lauter leeres Gerede.“ Sie zog seinen Kopf wieder zu sich hinab. „Küß mich!“ Und er küßte sie. Und dann wieder und wieder. Intim eroberte er ihren Mund, tauchte wie ein Ertrinkender mit der Zunge hinein. Als er dann noch ihre schwellenden Brüste in die Hände nahm und sanfte Kreise um die rosigen Knospen beschrieb, bis sie sich steil aufrichteten, wurde ihr fast schwindlig. Sein Streicheln löste ein so intensives Prickeln in den empfindlichen Spitzen aus, daß sie fürchtete, vor Sehnsucht und Wonne zu zerfließen.
„Matt, bitte…“ Er glitt mit den Fingern über ihre bestickte Korsage und hinterließ eine heiße, erregende Spur auf ihrer Haut. Sekundenlang sah er in ihre Augen, dann schob er ihr vorsichtig die dünnen, perlenbesetzten Träger über die Schultern. Das Oberteil fiel herab. Matt stockte der Atem. Sie trug keinen BH. Eigentlich nicht verwunderlich angesichts des tiefen Ausschnitts. Trotzdem war es ihm nicht in den Sinn gekommen, daß sie unter all den Perlen nackt sein könnte. Zum Glück. Denn sonst wäre diese glanzvolle Stunde zu einem der peinlichsten Augenblicke seines Lebens geworden. Nicht auszudenken, wenn sich bei seiner Rede die Aufmerksamkeit der Zuhörer ausschließlich auf die Region unterhalb seiner Gürtellinie konzentriert hätte! Stöhnend drängte er sich zwischen Susannahs Schenkel und ließ sie sein Verlangen spüren. In katzenhafter Geschmeidigkeit schmiegte sie sich an ihn, strich mit der Hand zielstrebig an ihm hinunter und reizte den verlockenden Beweis seiner Erregung. Er war zu keinem Gedanken mehr fähig. Mit den festen, reibenden Bewegungen ihrer Finger trieb sie ihn an den Rand des Wahnsinns. In wildem Begehren packte er sie um die Hüften und schob sie gegen die Wand. Er fuhr unter ihr Kleid, ertastete ein spitzenbesetztes Strumpfband und hätte fast laut aufgestöhnt, so hingerissen war er, als er die glatte nackte Haut ihres Schenkels erreichte. „Laß uns ein Hotelzimmer mieten.“ Seine Stimme war rauh vor brennender Sehnsucht. „Ich kann nicht warten!“ Wieder eroberte er ihre Lippen und zeichnete zugleich mit den Fingerspitzen die Kontur ihres Seidenslips nach, der ihre weiblichsten Geheimnisse verbarg. Susannah zuckte am ganzen Körper. Die wilde Gier seines Mundes bildete einen so aufregenden Kontrast zu der schmetterlingszarten Berührung seiner Hand. Leidenschaft und Zärtlichkeit. Zügellosigkeit und Raffinesse. Es war erotischer als alles, was sie je erlebt hatte. „O Matt, ich brauche dich. Jetzt. Sofort…“ „Er sträubt sich zwar noch ein wenig gegen unseren Schlachtplan, aber wen wundert… Heiliges Kanonenrohr!“ Harry Gasparinis Fluch hallte von den Wänden der Garderobe wider. „Was, zur Hölle, ist denn hier los?“ Eine rein rhetorische Frage. Jeder verdammte Narr konnte sehen, was da los war! Erschüttert versteckte Susannah das hochrote Gesicht an Matts Schulter. Der schirmte sie, so gut es ging, vor den neugierigen Blicken ab. „Gib uns bitte eine Minute, okay, Harry?“ bat er ruhig, obwohl seine Nerven zum Zerreißen gespannt waren und ein schmerzlich vertrautes Feuer in seinen Lenden brannte. So leicht ließ sich ein ausgebuffter Medienmensch aber nicht davonschicken. „Du hast mir einen gottverdammten Schrecken eingejagt! Was, zum Teufel, denkt ihr beide euch dabei.“ „Sofort, Harry!“ Matts Stimme duldete keinen Widerspruch. Als er dann das gedämpfte Geräusch sich entfernender Schritte hörte, lockerte er seinen festen Griff um Susannah. „Er war nicht allein“, murmelte sie. Matt hob fragend eine Augenbraue. „Stadtrat Leeland.“ „Es hätte schlimmer kommen können.“ Matt schob ihre Perlenträger wieder hoch. Auf Susannahs skeptischen Blick hin erklärte er: „Es hätte ja auch meine Mutter sein können. Oder deine. Oder… Barbara Filbert.“ „Das ist nicht komisch!“ Trotzdem mußte Susannah kichern. „Oh, nein, wie kann ich nur. Dazu ist die Sache viel zu ernst. Deine Karriere. Deine Kampagne. Die
Presse wird einen Freudentanz veranstalten.“
„Weswegen? Ich bin nicht verheiratet. Du ebensowenig. Man hat mich hier
drinnen nicht mit einem Mann erwischt. Und auch nicht ganz allein.“ Eine Szene,
die Susannah sich lieber nicht ausmalte, denn sonst wäre es vollends um ihre
Fassung geschehen.
„Was also können sie sagen? Stellvertretender Bezirksstaatsanwalt Matthew Ryan
wurde in leidenschaftlicher Umarmung mit einer phantastischen Frau ertappt?
Okay, Zeit und Ort sind kritikwürdig. Falls sie davon wüßten. Was sie aber nicht
werden, denn Harry wird keinen Ton verlauten lassen. Dasselbe gilt für Leeland.
Negative Publicity wäre nicht besonders gut für die Kampagne.“
„Habt ihr eure Mäntel endlich gefunden?“ ertönte unüberhörbar Harrys Stimme
aus dem Foyer.
„Die Garderobiere ist gerade zurückgekehrt. Ja, ich habe sie“, rief Matt und nahm
Susannahs Cape vom Haken.
Wie aufs Stichwort erschien die Garderobiere dann auch tatsächlich. „Bitte
entschuldigen Sie, Mr. Ryan. Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Unannehmlichkeiten
bereitet.“
„Unannehmlichkeiten?“ Matt legte Susannah lächelnd das Cape über die
Schultern. Zärtlich hob er ihr Haar aus dem Kragen und verknotete die
Samtbänder unter dem Kinn. „Ganz im Gegenteil.“
Beim Verlassen der Garderobe zog er ein Bündel Geldscheine aus der
Hosentasche und ließ der Garderobiere fünfzehn Dollar in die Trinkgeldschale
fallen. Ein kleiner Dank für diese paar Minuten hitziger Intimität.
Matt legte den Sicherheitsgurt an und drehte den Schlüssel im Zündschloß.
„Kommst du noch mit zu mir?“
„Besser nicht.“
„Du könntest recht haben.“
„Du weißt doch, wie es so schön heißt: Die Politik macht seltsame Bettgesellen.
Wir wären verrückt, wenn wir diese… erotische Eskapade noch einen Schritt
weitertrieben. Vollkommen verrückt.“
„Höchstwahrscheinlich.“
„Ich bin gegen die Todesstrafe.“
„Das dachte ich mir bereits.“
„Ich bin liberale Demokratin“, erklärte Susannah entschieden, falls Matt ihrem
Gedankengang nicht gefolgt sein sollte. „Sehr liberal.“
„Und ich bin gemäßigter Republikaner. Und? Unsere politischen Diskussionen
könnten ein wenig laut werden, aber Romeo und Julia hatten größere Probleme.“
„Ich unterstütze strengere Waffenkontrollgesetze.“
„Innerhalb vernünftiger Grenzen.“
„Ich glaube nicht, daß ein Mensch grundsätzlich schlecht ist.“
„Ein wenig naiv, aber lobenswert.“
„Ferner finde ich, für die meisten öffentlichen Ämter sollte die Zahl der möglichen
Legislaturperioden limitiert werden, damit Männer wie Stadtrat Leeland den
Fortschritt nicht jahrzehntelang blockieren.“
„Bewilligt.“ Matt wartete auf das nächste Argument. „Sonst noch was?“
„Homosexuelle verdienen dieselben Rechte wie heterosexuelle Paare. Und Frauen
müssen ihre eigenen Entscheidungen treffen dürfen, ohne daß sie ständig der
gesellschaftlichen Kritik ausgesetzt sind. Außerdem sollte der Terminus ,Familie’
für alle Arten von Beziehungen gelten, nicht nur für die traditionelle MamaPapa
undzweiKinderKonstellation. Ich glaube an den wirtschaftlichen Aufschwung.
Und ich bin überzeugt, Bush wußte von der IranContraAffäre!“ Aus den
Augenwinkeln wagte Susannah einen vorsichtigen Blick. „Und jeder Staat sollte
sowohl durch einen männlichen als auch einen weiblichen Senator vertreten werden.“ Eine steile Furche bildete sich auf Matts Nasenwurzel. „Gesetzlich festgelegt?“ „Wenn wir nur dadurch fair repräsentiert werden, ja.“ „Nun, ich gebe zu, über den letzten Punkt könnten wir streiten. Aber sonst… Ist das alles, was du vorzubringen hast?“ Susannah dachte einen Augenblick nach. „So in etwa. Aber selbst wenn es uns auf wundersame Weise trotz gegenseitiger gesellschaftlicher Anschauungen gelänge, eine private Beziehung aufzubauen, so würde sie sicherlich nicht halten.“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Ich wäre ein ständiges Risiko für deine politische Karriere. Nicht nur wegen dieses… Techtelmechtels eben in der Garderobe. Eine solche Leidenschaft brennt ohnehin früher oder später ganz von selbst aus.“ Sie winkte ab, als Matt zum Protest ansetzte. „Zumindest auf lange Sicht gesehen. Ich bin kein willenloses Dekorationsstück. Ich bin nicht unterwürfig. Oder bescheiden. Ich sitze nicht einfach da und halte den Mund, wenn irgendein Idiot haarsträubenden Unsinn von sich gibt. Nicht lange, jedenfalls. Und wenn mich jemand nach meiner Meinung fragt, sage ich sie ihm, selbst wenn sie sich von deiner unterscheiden sollte. Ich bleibe nicht brav im Hintergrund, weil ich das nämlich nicht will. Schon meine Mutter hat versucht, mich zu einem pflegeleichten Societymäuschen hinzubiegen – und du siehst ja, wie gut das funktioniert hat.“ Matts Mundwinkel zuckten. „Glaub mir, Sweetheart, für ein Mauerblümchen wärst du die absolute Fehlbesetzung.“ „Da hast du es! Es würde nie mit uns klappen!“ Sein eindringlicher Blick zielte bis auf den Grund ihrer Seele. „Kommst du jetzt mit mir nach Hause?“ „Ja, aber nur für eine Weile.“
7. KAPITEL Matts Apartment lag nur wenige Blocks vom Hotel entfernt in einer der engen Gassen des Russian Hill. Die Fassade war eine bezaubernde Mischung der traditionellen kolonialen Architektur, mit großen Fenstern zur Bucht und moderner Rotholzverkleidung. Grau und Chrom waren die vorherrschenden Farben seines Apartments. Die Möbel wirkten bequem, und gelegentliche Akzente in Blautönen lockerten den strengen Stil auf. Unzählige Gemälde zierten die Wände. Die Auswahl war auffallend vielfältig, dennoch paßte alles zusammen: moderne Malerei – die reinsten Farborgien –, romantische Renoirs, Ansichten San Franciscos, die von hiesigen Künstlern stammten, und zarte japanische Aquarelle. „Du sammelst Kunst?“ Fasziniert schlenderte Susannah von einem Werk zum nächsten. Diese neue Seite von Matts Persönlichkeit war wirklich eine Überraschung für sie. „Nicht ernsthaft. Ich kaufe, was mir gefällt, und hänge es dann an die Wand.“ Auf dezent beleuchteten Podesten standen abstrakte Metallplastiken, die förmlich zur Berührung einluden. Besonders die Nachbildung einer herabstürzenden Welle in seeblauem Glas zog Susannah an. Vorsichtig zeichnete sie die Kontur der schäumenden Gischt mit ihrem Finger nach. Heftige Begierde flammte in Matt auf. Wußte sie eigentlich, was dieses sanfte Tasten bei ihm anrichtete? Verdammt, es fehlte nicht viel, und er wurde noch eifersüchtig auf ein verflixtes Stück Glas! Nur die Ruhe, Junge, ermahnte er sich. Wir haben noch die ganze Nacht. „Möchtest du einen Brandy?“ Sie drehte den Kopf. Schon beim leichtesten Atemzug schimmerte ihre perlenbesetzte Korsage. „Nein, danke.“ „Kaffee?“ „Gar nichts, wirklich.“ Er konnte nicht länger warten. „Würdest du gern mit mir schlafen?“ Mit leuchtenden Augen und einer graziösen Bewegung wirbelte Susannah herum. Ihre Blicke senkten sich ineinander, und für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen. Nie zuvor hatte Matt sich einem anderen Menschen so nah gefühlt. Es war eine Nähe von tiefer Intensität und noch viel intimer als während ihres hitzigen Liebesspiels in der Garderobe. „Ja, bitte.“ Vertrauensvoll ergriff Susannah seine ausgestreckte Hand und folgte Matt einen kurzen Flur entlang die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. Wie auch der Wohnraum war es elegant, wenn auch eher spärlich möbiliert. Das riesige Bett auf einer Plattform war das dominierende Möbelstück. Daneben gab es nur noch eine Teakholzkommode und einen schmalen Holzstuhl in skandinavischem Design. Eine ganze Wand bestand vom Boden bis zur Decke aus Regalen. Die langen Bücherreihen wurden von gerahmten Fotografien, kleineren Kunstobjekten und einer umfangreichen Stereoanlage unterbrochen. Eine breite Fensterfront bildete eine andere Wand und fast ein Drittel der schrägen Decke. Der Ausblick war traumhaft schön. Direkt hinter dem Haus lag ein kleines Wäldchen, eine der versteckten Oasen, wie man sie ganz unerwartet in den Wohngegenden der City fand. Im Hintergrund glitzerten die Lichter San Franciscos und hoben sich scharf von dem mitternachtsschwarzen Wasser der Bucht ab. „Soll ich die Jalousien hinunterlassen?“ Susannahs zierliche Silhouette zeichnete sich in dem blassen Mondlicht ab. Schön und zart wie eine Magnolienknospe. Unzählige Male hatte Matt sie sich hier in seinem Schlafzimmer vorgestellt, eine Ewigkeit auf diesen Moment gewartet, und doch waren seit der Begegnung in
ihrem Büro weniger als drei Wochen vergangen. Unglaublich, daß sie nun tatsächlich hier war. Unmöglich, die Dinge langsam angehen zu lassen. „Bei diesem märchenhaften Ausblick? Das wäre ja ein Verbrechen!“ Gut, daß sie seine Gedanken nicht erriet, denn die waren jetzt auch alles andere als moralisch. Allen guten Vorsätzen zum Trotz hätte er ihr am liebsten sofort das hauchzarte Kleid abgestreift, sie aufs Bett geworfen und sich ganz in ihr verloren. „Wie wär’s mit Musik?“ Ohne auf ihre Antwort zu warten oder auch nur einen Blick auf den Titel zu verschwenden, legte er eine CD auf. Weiche, volle Saxophonklänge füllten den Raum. „Tanz mit mir, Susannah.“ Engelsgleich schwebte sie in seine ausgebreiteten Arme. Sie war so zart wie eine Fee und so verführerisch wie Eva am Anbeginn der Zeit. Sie in den Armen zu halten war Himmel und Hölle zugleich. Er wollte in dieser Nacht jede einzelne Sekunde genießen. Wollte mit allen Sinnen den Strom von Empfindungen auskosten und sich mit Susannah auf die elementarste Weise vereinen. Und er wollte in ihr sein, jetzt, heiß und hart, nur getrieben von seinem schwindelerregenden Verlangen, bis die Wogen der Ekstase sie davontrugen. Langsam wiegten sie sich im einschmeichelnden Rhythmus der Musik. Dennoch spürte Susannah Matts mühsam gezähmte Kraft. Seine Armmuskeln zitterten, und sein Herz hämmerte hart gegen seinen breiten Brustkorb, und erst recht seine angespannten Schenkel verrieten ihr seine brodelnde Leidenschaft. Aber er hielt sich zurück. Sie wußte seine Bemühungen zu schätzen, die Romantik, das sanfte Umwerben. Es war süß und rücksichtsvoll von ihm, aber völlig unnötig. Heute nacht brauchte sie die äußeren Insignien der Romantik nicht; sie wollte sie nicht einmal. Sie wollte Matt. In entfesseltem Begehren. Schrankenlos. Mit sanftem Druck preßte sie sich an ihn. Augenblicklich wuchs seine Erregung. Es machte sie keine Spur verlegen, nicht nach ihrem hemmungslosen Zwischenspiel in der Garderobe. „Küß mich!“ Matt stöhnte. „Fordere es nicht heraus, sonst reiße ich dir auf der Stelle dieses hübsche Kleid vom Leib!“ „Dann sollte ich es wohl besser gleich ausziehen, nicht wahr?“ Um Susannahs Lippen spielte ein süßes, verführerisches Lächeln. Evas Lächeln, voller sündiger Versprechen. Feuerströme schossen durch Matts Adern und konzentrierten sich an seinem empfindsamsten Punkt. Anmutig hob Susannah den linken Arm. „Der Reißverschluß ist in der Naht versteckt. Siehst du?“ Seine Finger zitterten, als er vorsichtig das Häkchen hinunterzog. „So weich.“ Er streifte mit dem Knöchel ihre nackte Haut. „Und so warm. Oh, Susannah, deine Haut ist wie Samt und Seide.“ Nie zuvor hatte Susannah sich so sinnlich, so unendlich weiblich gefühlt. Es war ein wundervolles Gefühl! Und sie wollte mehr! Aber diesmal sollten sie das Spiel nach ihren Regeln spielen. Sie legte eine Hand auf ihr Dekollete, damit das Kleid nicht verrutschte, und trat einen Schritt zurück. Provozierend langsam, ohne Matt auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, streifte sie einen Träger nach dem anderen von den Schultern. Nun war es endgültig um seine Ruhe geschehen. Er stürmte vor. Mit einer winzigen Kopfbewegung stoppte sie ihn, ohne zurückzuweichen. Er erstarrte. „Susannah!“ Schweißtropfen glitzerten auf seiner Oberlippe. Ein Muskel zuckte an seinem Kinn, und er ballte die Fäuste. Aber obwohl er sie mühelos hätte überwältigen können, bewegte er sich nicht. Die Erfahrung ihrer Macht sandte ihr ein Prickeln über die Haut. Sie wollte diesen
Moment noch ein wenig auskosten und wartete eine lange Sekunde, bis sie die Träger losließ. Noch ein kleiner Hüftschwung, und wie eine rosarote Wolke schwebte das Kleid zu Boden. Matt schluckte trocken. Seine Augen glühten, während er Susannahs Anblick in den spitzenbesetzten schenkelhohen Seidenstrümpfen, den hochhackigen Pumps und dem winzigen Tanga in sich aufsog. Mit rasendem Herzen spürte Susannah diesen Schwebezustand zwischen Verlangen und Erfüllung. Sie war so gut wie nackt. Die Knospen ihrer Brüste waren spitz und von dunklem Himbeerrot. Ihr ganzer Körper bebte vor Erwartung. Matt dagegen war vollständig bekleidet, und sie berührten sich nicht. Doch seine Hitze war so stark, daß sie sie dennoch fühlte, fühlte, daß er bis ins Innerste aufgewühlt war. Es war ein Moment wilder Erotik, und kein noch so gut geschnittener Smoking hätte seine unbändige Erregung verbergen können. Sie straffte die Schultern, und sie streckte herausfordernd das Kinn vor. „Jetzt!“ Seine Leidenschaft war wie eine entfesselte Naturgewalt. Mit einem tiefen, kehligen Stöhnen war er bei ihr, schwang sie hoch und warf sie auf die dunkelblaue Bettdecke, streichelte fieberhaft ihren halbnackten Körper und küßte ihn in verzehrender Glut. Erschauernd hob sie ihm ihre Brüste entgegen, und als habe er nur darauf gewartet, schloß er seine Lippen um eine Knospe und saugte gierig und knabberte sanft daran. Wie flüssiges Feuer pulsierte es durch ihren Schoß und breitete sich weiter und weiter bis in die Fingerspitzen aus. Ruhelos strich sie über Matts Schultern. Sie wollte ihn nackt, sie wollte es mit einer solchen Intensität, daß sie mit beiden Händen am Kragen seines Smokingjacketts zerrte. Matt schüttelte es ab, wobei es ihn wenig kümmerte, daß es zerknüllt auf dem Boden landete. Susannah faßte nach seinen Manschettenknöpfen, doch in überwältigend drängendem Verlangen fing Matt ihre Handgelenke ein und griff nach den dünnen Bändern ihres Slips. Schon hörte sie das Reißen von Stoff, und Matt schob seine Finger in die dunklen Locken zwischen ihren Schenkeln. Sie keuchte vor Lust und bog sich ekstatisch zurück. Sie war heiß und feucht. Sie verging vor Erregung. Tastend strich Matt weiter und versuchte, nicht daran zu denken, wie es sein würde, wenn er sich ganz in ihr verlor. Er fand ihren sensibelsten, aufregendsten Punkt und reizte und lockte sie, bis Susannah am ganzen Körper bebte und verzückt aufschrie. Ihre Wollust machte ihn nur noch wilder, und er stemmte sich gerade weit genug hoch, um seinen Reißverschluß zu öffnen. Ungeduldig schob er Hose und Slip hinunter und preßte sich hart und zuckend an ihren pulsierenden Schoß. Zerfließend zog sie die Knie an und packte seine nackten Hüften. „Matt, bitte…“ „Gleich, aber…“ Fluchend zog er sich zurück. Er brannte vor Verlangen, ganz zu ihr zu kommen. „Die verdammten Kondome sind im Nachtschrank.“ Sein Versuch, die Schublade zu erreichen, scheiterte, weil sie zu weit unten am Fußende des Bettes lagen. Er schlang zähneknirschend einen Arm um Susannahs Taille und zog sie mit sich, während er auf Händen und Knien zum Nachttisch kroch. Als er dabei mit seiner empfindsamen Spitze das verlockend feuchte Dreieck zwischen ihren Schenkeln streifte, durchzuckte ihn ein so glühender Blitz reiner Lust, daß er sich einen Moment nicht rühren konnte. Nur mühsam hielt er sich unter Kontrolle. „Wir müssen aussehen wie ein Paar sexverrückter Idioten.“ „Bestimmt.“ Susannah rieb sich hingerissen an dem kraftvollsten Beweis seiner Männlichkeit. „Beeil dich!“ Endlich gelangte er an die Schublande und zog sie mit einem Ruck auf.
„Mach schneller!“ Sekundenlang sah Susannah zu, wie Matt hektisch an dem Folienpäckchen nestelte, dann nahm sie es ihm kurzerhand ab, riß es mit den Zähnen auf und rollte ihm das hauchzarte Gummi über. Es war einer der erotischsten Akte ihres Lebens. Rasch, fast ein wenig grob, drang Matt in sie ein, und sein triumphierender Schrei mischte sich mit ihrem lustvollen Aufstöhnen. Wellen über Wellen gingen vom Punkt ihrer Vereinigung aus und durchströmten ihren Körper. Aufgelöst vor Erregung, fuhr Susannah über seinen Rücken, krallte die Fingernägel in seinen festen Po und kreiste verlangend mit den Hüften. „Nein, warte…“ Matt hob sich ein wenig an und ließ sich dann langsam wieder sinken. „Matt, bitte!“ Ihre kehligen Seufzer schürten sein Begehren zu fast schmerzhafter Intensität, und er küßte hungrig ihren Hals, flocht die Finger in ihr Haar und bog ihren Kopf zurück. Er preßte seine Lippen auf ihren Mund und vereinte sich auch so mit ihr im sinnlichsten Vergnügen. „Fester.“ Der gedehnte Rhythmus seiner Hüften, das Gleiten seiner glühenden Zunge machten Susannah wahnsinnig vor Lust. „Schneller.“ Matt konnte sich kaum noch kontrollieren. „Los.“ Susannah zog eine Spur winziger, heißer Küsse zu seinem Ohr. „Komm schon, Darling. Halt dich nicht zurück!“ „Zum Donnerwetter, Susannah!“ Als Antwort umspannte sie ihn ganz fest und sog ihn in sich hinein. Er warf den Kopf zurück und stieß ein heiseres Stöhnen aus. Dann drückte er sie tief in die Matratze. „Wenn ich mir einfach nehme, was ich will, wirst du nicht viel davon haben“, knurrte er. Ihr mutwilliges Lächeln war die reinste Verführung. „Wollen wir wetten?“ Provozierend rieb sie ihre bestrumpften Schenkel an seinen Hüften. Da schloß er seine Hände um ihren weichen Po, und in entfesselter Leidenschaft nahm er sie ganz und vollkommen. „Ja. O ja!“ Immer härter, immer heftiger bewegte er sich in ihr. „Ja!“ Susannah verschränkte ihre schlanken Beine hinter seinem Rücken und begegnete Matts wilden Stößen mit der gleichen Hemmungslosigkeit. „Ja, ja, ja, ja…“ Haltsuchend klammerte sie sich an das Kopfende des Bettes. Sie spürte den weichen Stoff seiner Smokinghose an ihren Schenkeln, die Biesen des Hemdes an ihrem Bauch und den Brüsten, sein seidiges Haar an ihrem Hals und den Wangen. Matt hatte jede Kontrolle über sich verloren. Susannahs wilde Hingabe, ihre kleinen Schreie höchster Lust lösten eine Ekstase in ihm aus, die ihn bis ins Innerste erschütterte. Er kam so stark und in ungezügelter Macht, daß es sie beide wegriß und sie in eine Welt jenseits von Zeit und Raum schleuderte. Als die Ekstase dann langsam abebbte, breitete sich ein tiefes Glücksgefühl in Susannah aus. Sie fühlte sich so leicht wie ein Ballon und hätte vor Freude jubeln können. „Bist du okay?“ Unendlich liebevoll strich Matt ihr eine rote Locke aus dem zarten Gesicht. „Okay?“ Ein geheimnisvolles Leuchten stand in Susannahs Augen. „Es war absolut phantastisch!“ „Du bist absolut phantastisch.“ Matt hauchte ihr einen Kuß auf die Nasenspitze und rollte sich auf den Rücken. Sein hellblondes Haar war an den Spitzen feucht. Seine ausgeprägten Wangenknochen in dem markant nordischen Gesicht waren
gerötet. Heftig hob und senkte sich sein breiter Brustkorb unter den Biesen des Hemdes. Die Smokinghose bauschte sich um die Knöchel. Nur weil er im Rausch der Leidenschaft vergessen hatte, die Schuhe auszuziehen, war sie nicht heruntergerutscht. Er grinste verschmitzt. Seine blauen Augen glitzerten vor Zufriedenheit und purem männlichen Triumph. Und einem ganz besonderen Glück, das Matt nie zuvor empfunden hatte. „Sobald ich wieder zu Atem komme, sollten wir das wiederholen.“ Zur Bekräftigung schob er den Finger unter die elastische Spitze und ließ Susannahs Strumpfband schnappen. Sie wiederholten es noch zweimal. Einmal im Bad, obwohl sie eigentlich duschen wollten, und das zweitemal an der Haustür, kurz vor dem Verlassen des Apartments. Matt war nicht ganz sicher, was genau ihm dort vor der Tür die Beherrschung raubte. Vielleicht reichte allein Susannahs hinreißender Anblick in dem schimmernden zartrosa Kleid. Vielleicht war es auch ihr hintergründiges Lächeln, das sie ihm über die Schulter zuwarf, ehe sie nach dem Türknauf griff. Oder lag es daran, daß sie schon gehen wollte? Vielleicht war es aber auch das sichere Wissen, daß sie unter diesem verflixten Kleid splitternackt war. Auf jeden Fall war er im Bruchteil einer Sekunde erneut aufs höchste erregt. Mit zwei Schritten war er bei ihr, wirbelte sie herum und drängte sie gegen die Tür. „Aber, aber, Herr Anwalt!“ Nur zu willig verschränkte Susannah die Hände hinter seinem Nacken und stellte sich auf die Zehenspitzen. „Affekthandlungen sind doch sonst gar nicht Ihr Stil. Was genau haben Sie denn hier an der Wohnungstür vor?“ Seine Antwort war heiß und sexy und überaus anschaulich. Er bedeckte ihre Lippen mit seinen und stieß in einem wilden, verzehrenden Rhythmus wieder und wieder mit der Zunge tief in ihren Mund. Er schob ihr Kleid hoch, streichelte fest ihre Hüften und ihren Po und schob dann sanft die Hand zwischen ihre Schenkel. Susannah stöhnte. Ihre Knie gaben nach, und trunken vor Verlangen sank sie gegen ihn. Matt stützte ihren bebenden Körper, und als er sie mit der Handfläche stimulierte, schrie sie sehnsüchtig auf. Rasch löste sie seinen Gürtel und zog den Reißverschuß seiner khakifarbenen Hose herunter, glitt mit zitternden Fingern hinein und befreite den erregendsten Beweis seines Begehrens. In der nächsten Sekunde hatte Matt sie hochgehoben und leicht an die Tür gelehnt. Susannah schrie auf, als er ihre Schenkel um sich legte und kraftvoll und gleich ganz tief in sie eindrang. Ein Stoß… zwei… drei… vier, und sie vergingen zuckend im Rausch der Ekstase. Das Nachglühen ihrer Leidenschaft dauerte länger als der Akt selbst. Nur langsam wurden sie sich bewußt, wo sie waren. Matt ließ Susannahs Beine sinken, bis ihre Füße den Boden berührten, und sie schmiegte sich erschöpft, aber unendlich zufrieden an ihn. Lange standen sie da und tauschten zärtliche Küsse und süße Seufzer vollkommener Erfüllung. Ihr Gesicht lag an seinem Hals, sein Kinn ruhte auf ihrem Haar. Nähe und Wärme des anderen umhüllten sie wie ein samtiger Kokon. „Susannah?“ „Hm?“ murmelte sie schläfrig und rieb die Wange an seiner Schulter. „Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“ Sofort war Susannah hellwach. „Aber Matt…“ „Nein, denk nicht darüber nach“, unterbrach er sie, ehe sie eine Antwort formulieren konnte. „Ich liebe dich.“ Er legte die Hände um ihren Kopf und sah
ihr eindringlich in die Augen. „Und ich möchte, daß du mich heiratest.“
8. KAPITEL „Nachdem Sie damit fertig sind, Gail, suchen Sie mir bitte alles über ein Mädchen namens Heather Lloyd heraus“, erklärte Matt seiner Assistentin. „Sie ist ungefähr sechzehn. Das Sozialamt besitzt vermutlich eine Akte über sie. Und fragen Sie mal bei ,Legal Aid’ nach. Die beraten sie in einem Sorgerechtsfall. Ich will einen vollständigen Bericht, und zwar sobald wie möglich, okay?“ „Okay.“ Die junge Frau nickte. Wenn Matt Ryan „sobald wie möglich“ sagte, dann bedeutete das gestern, egal, wie höflich er sie dazu aufforderte. „Sonst noch was?“ „Die Informationen über einen gewissen Carlisle Elliott. Er ist vierundsechzig. Besaß früher eine Gärtnerei in Iowa. Die hat er vor knapp einem halben Jahr verkauft und lebt heute auf einem Hausboot in Sausalito. Fährt eine schnittige rote Corvette.“ Matt ratterte die Ziffern des Nummernschildes herunter. „Priorität?“ „Allerhöchste.“ Er warf Gail ein verlegenes Lächeln zu. „Meine Mutter möchte mit ihm ausgehen.“ Schelmisch lächelte Gail zurück. „Und Sie wollen sicherstellen, daß seine Absichten ehrenhaft sind…“ „Erwischt.“ Die Sprechanlage summte. „Matt, Mr. Gasparini ist hier“, informierte ihn die Empfangsdame. „Soll ich ihn hochschicken?“ „Bitte.“ Fragend sah er seine Assistentin an. „War das soweit alles, Gail?“ „Für den Moment, ja.“ Sie deutete auf die Ablage. „Die neueste Aussage unserer ,Starzeugin’ im DelaneyFall liegt obenauf. Sie hat ihre Story schon wieder geändert. Jetzt schon zum drittenmal.“ „Parker soll ihr Druck machen. Vielleicht hilft der drohende Verlust der Immunität ja ihrem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge. Vorher will ich diese Akte nicht wieder auf den Tisch bekommen. Ich erhebe doch keine Anklage, solange meine Hauptbelastungszeugin unter zeitweiligem Gedächtnisschwund leidet!“ Matt reichte Gail den Ordner. „Und schicken Sie Harry herein.“ Gail öffnete die Tür. „Mr. Gasparini?“ Höflich lächelte sie Matts Wahlkampfmanager zu. „Sie werden um vierzehn Uhr fünfzehn wieder im Gericht erwartet“, erinnerte sie ihren Chef wie auch dessen Besucher. Dann verließ sie das Büro. „Also, worum geht’s, Harry?“ fragte Matt, als wüßte er die Antwort nicht schon längst. „Susannah Bennington“, steuerte Harry dann auch prompt und ohne Umschweife das brisante Thema an. „Meine Beziehung zu Susannah Bennington steht nicht zur Debatte.“ „Verdammt, Matt. Du bewirbst dich um ein öffentliches Amt. Dein ganzes Leben steht zur Debatte. Ist es dir ernst mit ihr? Oder sind dir bei diesem kleinen Schäferstündchen in der Garderobe nur die Hormone durchgegangen?“ Seiner Miene nach hoffte er inständig auf letzteres. „Ernst genug für einen Heiratsantrag.“ „Heiliges Kanonenrohr!“ Ernüchtert sank Harry auf den Besucherstuhl. „Heirat! Willst du mir eine Herzattacke verschaffen, oder was?“ „Das war in etwa auch ihre Reaktion.“ „Sie hat dir einen Korb gegeben?“ „Sie hat es nicht so gemeint“, zerstörte Matt den schwachen Hoffnungsschimmer gleich wieder. „Könntest du da ein bißchen deutlicher werden?“ „Wie deutlich hättest du’s denn gern? Ich habe sie gebeten, meine Frau zu
werden. Sie sagte nein. Ich beabsichtige, sie weiterhin zu fragen, bis sie ja sagt.
Ist das deutlich genug für dich?“
„Willst du mir nicht verraten, weshalb?“
„Weshalb was?“
„Weshalb ausgerechnet sie?“
„Zur Hölle, Harry, warum will jemand schon einen anderen Menschen heiraten?
Ich liebe sie, deshalb.“
„Klingt aber nicht so, als ob sie deine Gefühle erwidert.“
„Doch.“ Wenn Matt sich einer Sache hundertprozentig sicher war, dann dieser.
„Sie fürchtet nur, sie könnte meine Karriere ruinieren.“
„Ein kluges Geschöpf. Sie ist nämlich Gift für dich.“
„Sei vorsichtig, Harry. Du sprichst von der Frau, die ich liebe.“
„Ich sage nur die Wahrheit. Wußtest du, daß deine Traumfrau in den Polizeiakten
vermerkt ist? Protestmärsche. Ziviler Ungehorsam. Lauter solche Sachen. Diese
Frau ist eine verdammte Linksaktivistin!“ Das war so ziemlich die schlimmste
Beleidigung in Harrys Repertoire. „Schon auf dem College galt sie als
Unruhestifterin. Und dann auch noch Berkeley! Von ihren unkonventionellen
Methoden als Sozialarbeiterin ganz zu schweigen. Immer wieder zettelt sie
irgendwelche Probleme an. Sie ist eine Systemkritikerin ersten Ranges. Zum
Teufel, sie hat sogar eine Nutte bei sich in der Partnervermittlung arbeiten!“
„ExNutte“, fühlte Matt sich verpflichtet, Judy in Susannahs Abwesenheit zu
verteidigen.
„Und bei ihr lebt eine schlampige Herumtreiberin. Eine harte Nuß, an der sich
schon unzählige Vormundschaftsrichter die Zähne ausgebissen haben.“
Matt grinste. Heather Lloyd war wirklich eine harte Nuß.
„Das ist nicht komisch, Matt. Immerhin reden wir hier über deine politischen
Ambitionen.“
„Nein, wir reden über mein Leben. Und falls die beiden sich nicht miteinander
vereinbaren lassen, sollte ich vielleicht neue Prioritäten setzen.“
Sofort änderte Harry seine Taktik. „Jetzt heißt es nur, die Ruhe zu bewahren.
Triff bloß keine übereilten Entscheidungen! Laß mich erst mal in meiner Trickkiste
wühlen. Irgendwie kann ich sie der Presse bestimmt schmackhaft machen.“
Matts Augen blitzten. „Susannah hat es nicht nötig, sich bei jemandem
einzuschmeicheln. Sie ist, wie sie ist. Ich meine es ernst, Harry“, warnte er ihn
unmißverständlich. „Ich möchte nicht, daß sie aufgeregt wird. Falls mir so etwas
zu Ohren kommen sollte…“ Er spreizte die Hände. „Mein Vater hatte dir aus voller
Überzeugung die Leitung seiner Kampagne anvertraut. Ich vertraue dir ebenfalls.
Aber Susannah ist kein Teil meiner Kampagne. Laß sie da raus!“
Sofort machte Harry einen Rückzieher. „Schon geschehen. Ich werde sie nie
wieder erwähnen.“
„Schön, daß wir uns so gut verstehen. Ich würde dich nämlich nur ungern als
Wahlkampfmanager verlieren.“ Matt stand auf und nahm sein Jackett vom
Haken. „Komm, ich bringe dich nach draußen.“ Er streifte die Anzugjacke über.
„In zwanzig Minuten muß ich im Gericht sein.“
Matt hockte auf Susannahs Schreibtischkante und führte im Kern praktisch die
gleiche Unterhaltung wie am Mittag mit Harry. Der einzige Unterschied bestand
darin, daß eine Diskussion mit Susannah wesentlich angenehmer war als mit
seinem bärbeißigen Wahlkampfmanager. Der Anblick war besser. Und er
brauchte seine Hände nicht mit dem Blättern durch Unterlagen zu beschäftigen.
„Du machst aus einer Mücke einen Elefanten. Siehst Probleme, wo gar keine
sind.“ Nachdrücklich umschlang er ihre Hüften und zog Susannah zwischen seine
leicht gespreizten Schenkel.
„Trotzdem.“ Aufmüpfig reckte Susannah das Kinn vor. Sollte er ruhig seine Überredungskünste spielen lassen, ihr Entschluß stand fest. „Du bist genauso schlimm wie Harry. Was soll auf einem einfachen Picknick zum Unabhängigkeitstag schon groß passieren?“ „Nichts – wenn es nur ein einfaches Picknick wäre. Aber damit wickelst du mich nicht ein. Es ist eine clever getarnte Wahlkampfveranstaltung.“ „Touche. Es ist eine Wahlkampfveranstaltung“, wechselte Matt die Taktik. „Ich werde eine Rede halten, einige Hände schütteln und vielleicht ein paar Babys küssen müssen, und ich will, daß du mich dabei begleitest.“ Ein listiges Leuchten trat in seine blauen Augen. „Übrigens eine günstige Gelegenheit, deinen Standpunkt zu untermauern. Beweis mir, daß ich mich irre und du wirklich nicht in meine Welt paßt.“ Dieser gerissene Kerl! Er sprach ihre kämpferische Ader an, aber ihr Mißtrauen wurde dadurch nicht einen Deut weniger. Irgendwo bei dieser Sache mußte ein Haken sein. Sie wußte nur noch nicht, wo. Bevor ihr ein neues Argument einfiel, klingelte das Telefon. Da niemand an der Rezeption abnahm, beantwortete sie den Anruf selbst. Zwei Minuten später knallte sie den Hörer auf. „In dieser Stadt findet wohl gerade der Internationale VersagerKongreß statt. Das war heute schon der dritte Anruf dieser Art! Der Kerl wollte, ich zitiere: eine langbeinige Rothaarige mit bombastischen Brüsten. Zitat Ende.“ Matt mußte über ihre Entrüstung lachen. „Wenn der arme Knabe wüßte, was ihm da entgangen ist.“ Provozierend langsam ließ er die Hände über ihre Taille aufwärts gleiten. „Sie qualifizieren sich zwar nicht gerade als ,bombastisch’…“ Besitzergreifend umschloß er ihre sanftgerundeten Brüste. „Aber die richtigen Beine hast du. Und dein Haar ist ganz entschieden rot!“ „Du forderst es heraus…“ „Hmmrn.“ Ein genießerisches Lächeln stahl sich auf Matts Lippen, während er die Kontur ihres Mundes nachzog. Spontan schnappte Susannah nach seiner Fingerspitze und sog daran. Matt atmete scharf ein. Seine Augen verdunkelten sich. „Und? Bekomme ich es auch?“ Widerstand war zwecklos, dieser aufregende Mann war einfach zu nah. Sehnsüchtig schob sie die Finger in sein dichtes Haar, und sofort küßte Matt sie so hungrig, daß ihr fast die Sinne schwanden. Sie konnte sich ihm nur noch entgegenbiegen, streichelte hingerissen seinen breiten Rücken und spürte mit den Fingerspitzen den harten Muskeln nach. Noch nie hatte ein Mann eine so starke erotische Wirkung auf sie gehabt. Allerdings hatte bislang auch noch keiner ihrer Besucher sie in ihrem eigenen Büro verführen wollen. „Nun?“ Mit aller Kraft kämpfte Matt gegen das Verlangen an, sie gleich hier auf ihrem Schreibtisch zu nehmen. „Stellen wir uns dem kritischen Blick der Öffentlichkeit?“ „Ein richtiger Test? Kein Versuch, mir das Gewehr auf die Brust zu setzen? Ich kann vollkommen ich selbst sein?“ „Anders würde ich es nicht wollen.“ „Kein Maulkorb? Kein braves kleines Streberoutfit? Kein bloßes Anhängsel des großen Matt Ryan?“ „Solange du nicht um des Effektes willen übertreibst, nein.“ „Okay. Ich bin dabei.“ Und so kam es, daß Susannah entgegen ihrer festen Überzeugung Hand in Hand mit dem designierten Kandidaten für das Amt des Bezirksrichters über den Rasen des Golden Gate Parks schlenderte. Matt trug eine gestärkte Bundfaltenhose – mit einer akkuraten Bügelfalte – und ein hellblaues Polohemd, das seine
imposante Brust betonte und wundervolle Dinge mit seinen silberblauen Augen anstellte. Zu schade, daß sie ihn nicht zu lässigen Jeans hatte überreden können. Matt besaß genau den knackigen kleinen Po, der absolut aufsehenerregend in hautengen Levis wirkte. „Trägst du eigentlich irgendwas da drunter?“ Im Gegenzug musterte Matt ihren knöchellangen, weichfallenden Rock und den weiten Strickpullover. Er verstand zwar nicht ganz, weshalb die Frauen in dieser Saison ihren Körper unter wallenden Gewändern versteckten – besonders wenn die fragliche Frau eine so atemberaubende Figur hatte wie Susannah –, doch sie sah dennoch hinreißend darin aus. Susannah lachte. „Wenn du ein braver Junge bist, darfst du das selbst herausfinden. Später.“ Im stillen beschloß sie, vorher ihren Slip auszuziehen. Rache war süß. Allein die Vorstellung, daß sie den ganzen Tag ohne Unterwäsche herumgelaufen war, würde Matt verrückt machen. Männer! Ein wenig nackte Haut – oder auch nur der Gedanke daran –, und schon ging die Phantasie mit ihnen durch. Das traditionelle Picknick am Stow Lake war bereits in vollem Gang. Der Duft von Barbecuefeuern mischte sich mit dem Geruch von frisch gemähtem Gras, blühenden Rhododendronsträuchern und der milden Seebrise. Aus den Radios wetteiferten die neuesten Baseballergebnisse mit den Songs eines GoldenOldie Senders. Eine junge Frau spielte unter einem schattigen Baum Fangen mit einem Kleinkind; Teenager flirteten ausgelassenen beim Krocket; Schulkinder spielten Fußball; ein Hund hetzte einer blauen Frisbeescheibe nach. Nur eine kleine Gruppe saß ein wenig abseits. Susannah erkannte sie auf Anhieb. Die Händeschüttler. Die hohen Tiere. Die Politiker. Und der Anführer der Gruppe, Stadtrat Leeland, steuerte sogleich mit einem gewinnenden Lächeln auf sie zu. Innerlich stählte sie sich für die unausweichliche Konfrontation. „Ich freue mich, daß Sie es einrichten konnten.“ Matt wurde mit einem herzlichen Händeschütteln begrüßt. „Das gilt auch für Sie, kleine Lady.“ In letzter Sekunde wich sie einem gönnerhaften Wangenkuß aus und streckte ihm statt dessen die Hand hin. Ihr Manöver brachte den Stadtrat zwar kurz aus dem Konzept, er erholte sich jedoch erstaunlich schnell von seiner Verblüffung und begrüßte sie dann ebenso überschwenglich wie vorher Matt. Chauvinistischer alter Bock, dachte sie und warf einen vorsichtigen Blick auf ihren Begleiter. Der grinste nur. „Wieso sind Sie so gegen eine fünftägige Wartezeit?“ Susannah sah sich im Kreis der Männer und Frauen um, die Matts Kampagne unterstützten. „Möglicherweise hindert man dadurch keine Kriminellen an illegalen Waffenkäufen, aber zumindest hätten Leute wie der ReaganAttentäter John Hinckley oder dieser Kerl, der vor einigen Jahren bei McDonald’s Amok lief, keine Pistole in die Hand bekommen. Beide Männer litten unter ernsten seelischen Problemem, die bei einer genaueren Überprüfung auch bemerkt worden wären.“ „Und was ist mit Waffensammlern und Jägern?“ In Stadtrat Leeland brodelte es sichtlich. „Was ist mit einem anständigen, gottesfürchtigen Bürger, der eine Waffe zu seinem eigenen Schutz will?“ „Ja, was ist mit dem? Eine Routineüberprüfung wird ihn lediglich einige durchaus tolerierbare Unannehmlichkeiten kosten. Wenn er weder ein Vorstrafenregister hat noch verhaltensauffällig ist, wird er wohl kaum etwas dagegen einzuwenden haben. Also weshalb nicht?“ „Weil es seine staatsbürgerlichen Rechte verletzt, deshalb! Unsere Verfassung garantiert nämlich jedem Amerikaner das Recht, Waffen zu tragen.“ „Eigentlich“, mischte Matt sich in die Diskussion ein, obwohl seine Meinung in
dieser Sache vermutlich nicht einmal zwei Cents wert war, „garantiert sie einer ordnungsgemäß ernannten Bürgerwehr’ das Recht, Waffen zu tragen. Ich wage ernsthaft zu bezweifeln, daß unsere Vorväter jeden Tom, Dick oder Harry waffenschwingend durch die Gegend rennen sehen wollten.“ Sowohl Stadtrat Leeland als auch Susannah starrten ihn entgeistert an, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. „Warum so überrascht?“ Völlig ungezwungen schlang Matt Susannah den Arm um die Taille. „Ich sagte dir doch, ich bin für vernünftige Schußwaffenkontrolle.“ Den Stadtrat traf fast der Schlag. „Bei nächster Gelegenheit werde ich mit Harry ein ernstes Wörtchen über diese Entwicklung der Dinge reden müssen!“ „Na, war das wirklich so schlimm?“ Hand in Hand schlenderten Matt und Susannah zurück zum Wagen. Das Picknick war vorüber, die Sackhüpfrennen für die Kinder beendet, die obligatorischen Reden waren gehalten, von den üppigen Speisen zeugten nur noch zerknüllte Pappteller. „Eigentlich war es sogar ganz unterhaltsam.“ Übermütig strahlte Susannah ihn an. „Besonders, als du so überaus diplomatisch die Schwachstellen in Stadtrat Leelands dämlichen Argumenten ausgelotet und diesen eingebildeten Wichtigtuer außer Gefecht gesetzt hast.“ „Was mir erspart geblieben wäre, wenn du diese Scharmützel gar nicht erst vom Zaun gebrochen hättest.“ „Ich habe überhaupt nichts vom Zaun gebrochen“, wehrte sich Susannah. „Ich habe ihnen nur ein wenig auf die Sprünge geholfen.“ Sie lächelte schelmisch. „Kein Wunder, daß Harry dich einen Störenfried nennt.“ Das paßt, dachte Susannah. Auch bei einer kleinen Unterhaltung unter vier Augen hatte Matts Wahlkampfmanager aus seiner Abneigung gegen sie keinen Hehl gemacht. „Wann?“ „Als du diesen armen Mann bei eurem hitzigen Disput über die Emanzipation der Frau praktisch in der Luft zerrissen hast. Vielleicht war es aber auch, als du den WongZwillingen gezeigt hast, wie man beim Krocket schummelt.“ „Den gegnerischen Ball in die Büsche zu schlagen ist kein Schummeln!“ Unsanft boxte sie Matt in den Arm. „Man bezeichnet es als Strategie. Die beiden schüchternen kleinen Mädchen hätten sonst nie gewonnen. Dieses Spiel ist offener Krieg.“ „Störenfried!“ Eine Weile spazierten sie schweigend im Schein der Spätnachmittagssonne durch den Golden Gate Park. Der ganze Abend lag noch vor ihnen. Carlisle Elliott hatte sie zum Dinner auf sein Hausboot in Sausalito eingeladen. Den Logenplatz für das Feuerwerk zum Vierten Juli inbegriffen. Matts Mutter würde ebenfalls dort sein; seit zwei Wochen waren die beiden unzertrennlich. „Harry denkt, du hättest das Zeug zum Präsidenten“, sagte Susannah unvermittelt und sah Matt unter halbgesenkten Lidern an. Seine Reaktion entschied vielleicht über ihre Zukunft. „Präsident von was?“ fragte er völlig gelassen. „Den Vereinigten Staaten.“ Verdutzt blieb er stehen. Matt setzte zu einer Antwort an, aber sein Gehirn streikte. „Du mußt ihn mißverstanden haben.“ „Nein. Seiner Ansicht nach könntest du es bis ins Weiße Haus schaffen. Vorausgesetzt, du willst.“ „Ein schlechter Scherz.“ „,So sicher wie Tod und Steuern’“, zitierte Susannah. „Puh.“ Fassungslos schüttelte Matt den Kopf. „Ich schätze, Harry und ich sollten uns mal gründlich über seine Pläne für meine politische Karriere unterhalten.
Präsident ist so ziemlich das letzte, was ich je werden möchte.“ „Wie steht es mit Bürgermeister von San Franciso oder Gouverneur von Kalifornien?“ „Gouverneur, hm?“ spottete Matt, doch Susannah fürchtete stark, daß das, was sie in seinen Augen entdeckte, ein Funken Interesse sein könnte. Matt und Susannah ließen den Wagen auf einem öffentlichen Parkplatz an der Fisherman’s Wharf und nahmen die Fähre nach Sausalito. Sie legte unmittelbar im Zentrum der kleinen Künstlerkommune an. Von dort waren es nur drei Blocks bis zu Hliotts Bootskai. „Unglaublich, daß der neue Schwarm meiner Mutter auf einem Hausboot lebt“, brummte Matt, als sie über den Bridgeway Boulevard schlenderten. „Ich meine, weshalb ausgerechnet ein Hausboot? Es ist ja nicht so, als könne Elliott sich keine anständige Unterkunft leisten.“ Wie seine Nachforschungen ergeben hatten, könnte Carlisle Elliott mit Leichtigkeit das Plaza aufkaufen. Seine „kleine Gärtnerei in Iowa“ war nämlich eine ganze Kette von Gartenbauunternehmen im Mittleren Westen. „Außerdem fährt er eine rote Corvette. Habe ich das schon erwähnt?“ „Ein zweimal.“ „Vergangenen Freitag waren sie tanzen im Pier 23Cafe.“ Freitags war Mambo Nacht in dem Szenelokal. „Dienstag haben sie die Mitternachtsshow in einem dubiosen Club besucht. Schwülstige Bluesmusik!“ polterte er los. „Ich ahnte ja nicht mal, daß sie überhaupt weiß, was Blues ist. Gestern waren sie Drachenfliegen am Ocean Beach. Drachenfliegen! In ihrem Alter!“ „Beruhige dich“, riet Susannah ihm herzlos und betrat den Bootssteg. „Sie hat Spaß. Das wolltest du doch, oder?“ Matt grummelte etwas vor sich hin. „Spaß“ war kein Wort, das er normalerweise mit seiner Mutter in Verbindung brachte. Zumindest nicht die Art Spaß, die sie in einem knallroten Sportflitzer herumsausen ließ und sie bis in die frühen Morgenstunden von zu Hause fernhielt! Seine Mutter war würdevoll, konservativ. Eben seine Mutter. „Lächle, Darling.“ Nachdrücklich stieß Susannah ihn mit dem Ellbogen an und erwiderte Carlys begeistertes Winken. „Willkommen an Bord. Es ist offen“, rief Carly ihnen vom Oberdeck aus zu. Er deutete auf das Tor, das den Pier von seinem Privatkai trennte, und verschwand nach unten. Einen Moment später erschien er sonnengebräunt und vom Wind zerzaust an der Gangway. Seine nackten Füße steckten in einem Paar weißer Segeltuchschuhe, und er trug ein wildgemustertes Hawaiihemd zu einer eleganten, aber leicht zerknitterten Leinenhose. Mit seinem dichten, schlohweißen Haar, dem breiten Lächeln und den charmanten Manieren erinnert er an einen im Ruhestand lebenden Filmstar, fand Susannah. Matts Ansicht nach glich er eher einem alternden Gigolo. „Millicent muß jeden Augenblick kommen.“ Galant half Carly Susannah an Deck. „Sie wäscht sich nur noch schnell die Finger. Wir haben ein wenig gegärtnert.“ „Gegärtnert?“ hakte Matt nach, während sich die Männer zur Begrüßung die Hand schüttelten. „Auf einem Schiff?“ „Ich pflanze Kräuter und Rosen auf dem Oberdeck. Ihre Mutter half mir beim, ahm…“ Matt ließ seine Hand los. „… umtopfen.“ „Matthew!“ Freudestrahlend kam Millicent aus der Steuerbordkabine und bot ihrem Sohn die Wange zu einem Kuß. Ihre Wangen waren gerötet, wie Matt feststellte, und ihre Haut war warm unter seinen Lippen. Das Haar hatte sie mit einem roten Seidenschal zum lockeren
Pferdeschwanz gebunden. Ihr Pullover war ebenfalls rot, nur zwei schmale weiße
Streifen um Bündchen und VAusschnitt akzentuierten den Marinestil.
„Susannah, wie schön, Sie wiederzusehen, meine Liebe.“ Auch die Freundin ihres
Sohnes wurde begeistert in die Arme geschlossen. „Bitte kommt mit, ihr zwei.
Euer Timing könnte nicht besser sein.“ Allen voran stieg sie die schmale
Holztreppe zum Oberdeck hinauf. „Carly hat gerade einen neuen Krug seiner
berühmten Margaritas gemixt.“ Sie strahlte den frohgemuten weißhaarigen Mann
über die Köpfe ihrer Gäste hinweg an.
„Millicent liebt meine Margaritas“, bestätigte Carly.
Margaritas? Und auch noch einen ganzen Krug? Seit wann trank seine Mutter
etwas anderes als Sherry? Und wann war sie auf so grelle Farben verfallen? Und
Nagellack? Selbst ihre Zehennägel…
Und dann entdeckte Matt den Handabdruck auf der Kehrseite ihrer ansonsten
makellos weißen Hose. Ein Fleck, der normalerweise entstand, wenn man die
Finger abwesend am Hosenboden abwischte. Nur daß seine stets untadelige
Mutter nie derart sorglos mit ihrer Kleidung umging. Und ihre Hände waren nicht
annähernd so groß wie dieser Abdruck.
Mehrere Stunden später, nach mehreren Margaritas auf dem Oberdeck,
Meeresfrüchten und Salat, beobachtete Matt seine Mutter mit vor der Brust
verschränkten Armen beim Anschneiden eines Kirschkuchens, den Carly zum
Dessert gebacken hatte.
„Du bist in letzter Zeit sehr viel mit Elliott zusammen“, pirschte er sich vorsichtig
an das heikle Thema heran.
„Das war doch der Zweck der Übung, oder?“
„Zweck?“
„Du wolltest mich schließlich an den Mann bringen.“
Matt fragte sich, warum er überhaupt noch überrascht war. „Du wußtest es?
Woher?“
Ein hintergründiges Lächeln umspielte Millicents Mundwinkel. „Mütter wissen
alles.“
Matt schürzte die Lippen und hob spöttisch eine Augenbraue.
„Daß du mich innerhalb einer Woche drei verschiedenen Männern vorgestellt
hast, machte mich stutzig. Und dann erwähnte jemand – ich habe vergessen,
wer , womit Susannah wirklich ihren Lebensunterhalt verdient. Da war es nicht
mehr besonders schwer, eins und eins zusammenzuzählen.“
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Oh, das hätte ich, wenn es noch länger gegangen wäre.“ Verschwörerisch
blinzelte sie ihm zu. „Oder wenn du mir noch einen dieser entsetzlichen
Langweiler präsentiert hättest.“ Auf Anhieb fand sie die Kuchengabeln, was
eindeutig ihre Vertrautheit mit Carlisle Elliotts Küche verriet. „Aber dann kam
Susannah mit Carly an…“ Ihr Schweigen sprach Bände.
„Du magst ihn sehr, nicht wahr?“
„Ja.“ Millicent schaute zu ihrem Sohn auf, der sie um einiges überragte. „Stört
dich das?“
„Er ist ganz anders als Dad.“
„Das stimmt.“
„Und bei ihm gibst du dich ganz anders.“
Millicent seufzte. „Ich habe deinen Vater sehr geliebt, Matthew. Das weißt du
hoffentlich. Siebenunddreißig Jahre lang war er der Mittelpunkt meiner Welt. So
gut wie jeder Aspekt meines Lebens drehte sich um deinen Vater und seine
Karriere. Ich sage nicht, daß mir das etwas ausmachte. Denn das war die Rolle,
auf die ich von Kindheit an vorbereitet worden war. Mit unserer Heirat ging ich
gewissermaßen auch eine Verpflichtung ein. Und ich tat es gern. Aber man zahlt immer einen Preis, wenn man sein eigenes Leben auf dem Traum eines anderen aufbaut, und als Francis starb, war ich vollkommen verloren. Ich fühlte mich wie ein Schiff ohne Anker. Lange Zeit schien es, als bliebe mir keine Aufgabe mehr.“ Sie legte Matt die Hand auf den Arm. „Verstehst du, was ich damit sagen will?“ Liebevoll drückte Matt ihre schlanken Finger. Ihr Ehering preßte sich gegen seine Handfläche. „Ich denke schon.“ „Eine Weile war ich sogar richtiggehend wütend. Weil er mich verließ. Weil er sich zu Tode gearbeitet hat. Weil er nie Urlaub nahm oder einfach nur ausspannte. Weil er mich allein ließ.“ Ein Moment der Trauer trat in ihre Augen. „Aber auch darüber bin ich hinweg, und als der schlimmste Schmerz endlich nachließ, glaubte ich, mein neues Lebensziel seist du – und deine Karriere. Doch da irrte ich.“ Millicent tätschelte seinen Arm und ließ ihren Sohn dann los. „Das wußte ich bereits, bevor du anfingst, halb San Francisco auf mich anzusetzen.“ „Elliott gibt deinem Leben also einen neuen Sinn?“ „Um Himmels willen, nein!“ Millicent wirkte leicht geschockt. „Damit würde ich ja wieder in die alte Rolle schlüpfen. Inzwischen habe ich nämlich erkannt, daß ich nur dann wirklich glücklich werden kann, wenn ich mein Leben selbst in die Hand nehme. Aber Carly…“ Sie lächelte verträumt. „Carly ist ein wundervoller Spielkamerad.“ „Spielkamerad!“ Das wurde ja immer schlimmer! Matt wurde auffallend blaß. Langsam war er auf alles gefaßt. „Er ist so frei und sorglos. Neuen Ideen und Erfahrungen gegenüber aufgeschlossen. Wenn ich mit ihm zusammen bin, kann ich mich einfach gehenlassen. Carly bringt mir bei, Spaß zu haben und den Augenblick zu genießen. Das habe ich früher nie getan.“ „Dir ist es also nicht weiter ernst mit ihm?“ fragte Matt so lässig wie möglich. „Das kann ich jetzt noch nicht sagen.“ Millicent holte ein Tablett aus dem Schrank. „Vielleicht verwandelt sich unsere Beziehung in etwas Dauerhaftes, vielleicht auch nicht. Zum erstenmal in meinem Leben mache ich mir darüber aber keine Gedanken.“ Das mußte Matt erst verdauen. Es war gar nicht so leicht, seine Mutter plötzlich als eine lebenssprühende, vitale Frau mit eigenen Bedürfnissen zu sehen. „Du paßt doch auf, ja?“ „Aufpassen?“ murmelte Millicent abwesend und stellte Kuchenteller und Besteck auf das Tablett. „Beim, äh…“ Verdammt, war das peinlich! „Sex und alldem.“ Millicent fuhr herum. Ihre Hände erstarrten mitten in der Bewegung, die Servietten flatterten unbeachtet zu Boden. „Matthew Francis Larson Ryan, fragst du mich allen Ernstes, ob ich mit Carly schlafe?“ „Nein. Natürlich nicht.“ Leichte Röte stieg ihm in die Wangen. „Ich wollte dich nur bitten… das heißt…“ Zum Kuckuck, wie hatte er sich nur in diese Unterhaltung manövrieren können? „Ich hoffe, du bist vorsichtig, das ist alles.“ „Sollte ich mich eines Tages entschließen, mein Sexleben wiederaufzunehmen, kannst du sicher sein, daß ich sehr vorsichtig sein werde.“ Auch Millicents Wangen überzog ein zartes Rosa. Rasch hob sie die Servietten auf und begann sie zu falten. „Ich kann dir ebenfalls versichern, daß ich mir vorher bestimmt nicht deine Erlaubnis dazu einhole. Was Carly und mich angeht, nun, alles, was ich über unser Verhältnis sagen werde, ist bereits gesagt. Carly ist gut für mich.“ Damit legte sie die sorgfältig gefalteten Servietten auf das Tablett und drehte kurz entschlossen den Spieß einfach um. „Wahrscheinlich ebensogut, wie Susannah für dich ist. Beide haben ein ganz besonderes Talent, frischen Wind in
unser eingefahrenes Leben zu bringen.“ Carlisle Elliott war plötzlich vergessen, und ihr sonst so zugeknöpfter Sohn wurde überraschend deutlich. „Bei mir war es eher ein Hurrikan. Ich habe sie gebeten, meine Frau zu werden.“ Millicent lächelte. „Oh, Matthew, ich freue mich ja so für euch beide. Allerdings war mir nicht klar, daß die Sache schon so weit gediehen ist.“ Um sie nicht ansehen zu müssen, brach Matt ein Stück Kruste von einem der Kuchenstücke. „Selbst wenn es meiner Karriere schadet?“ Er wußte ebenso wie seine Mutter, daß diese Frage wesentlich tiefer ging und er nicht allein um die Billigung seiner Heiratspläne bat. „Es ist deine Karriere, Matthew. Dein Leben. Deine Wahl. Laß nicht zu, daß irgend jemand deine Entscheidungen für dich trifft.“ „Genau so fühle ich mich, wenn wir zusammen sind.“ Lautlos wie eine Katze trat Matt hinter Susannah an die Reling. Er schlang ihr die Arme um die Taille, zog sie an sich und ließ das Kinn auf ihrem Kopf ruhen. Am tintenschwarzen Himmel über der Bucht von San Francisco explodierte das farbenprächtige Feuerwerk zum Unabhängigkeitstag. Wunderkerzen glitzerten auf dem Wasser wie winzige Lichter, und gelegentlich schoß von einem der anderen Boote zischend eine Rakete oder ein Feuerrad in den Himmel. Susannahs Sehnsucht war unaussprechlich. Unendlich glücklich drehte sie sich in Matts Armen zu ihm. Ihre Blicke senkten sich ineinander, und die Sinnlichkeit des Moments hüllte sie ein wie ein warmer, weicher Nebel. „So möchte ich mich immer fühlen.“ Ein chrysanthemenförmiger Stern teilte sich am Nachthimmel. „Heirate mich, Susannah.“ „O Matt.“ Susannah war so tief bewegt, daß ihre Augen feucht wurden. Etwas, das ihr nur ganz selten passierte. „Matt, wenn du bei mir bist, erlebe ich Feuerwerk, Geburtstagspartys und Heiligabend alles in einem, aber ich…“ „Seht.“ Matt legte ihr den Finger auf die Lippen. „Das ist alles, was ich im Moment hören will. Über die Nebensächlichkeiten reden wir später.“
9. KAPITEL Fröhlich pfeifend und bester Laune, schlenderte Matt am folgenden Morgen durch
das Gerichtsgebäude. Susannah hatte zwar noch nicht definitiv „ja“ gesagt, aber
das war nur eine Frage der Zeit, und er war ein sehr geduldiger Mann. Meistens
jedenfalls. Andererseits konnte ein gewisser zusätzlicher Anreiz nicht schaden.
Vielleicht sollte er in der nächsten Verhandlungspause doch einmal bei „Tiffany’s“
vorbeischauen und einen Verlobungsring kaufen, der unwiderstehlich war.
„Matt? Hey Matt!“
Er fuhr herum. „Cal.“ Freundschaftlich reichte er seinem Kollegen die Hand. Cal
Westlake war derjenige, der ihm „The Personal Touch“ empfohlen hatte. Ob ich
ihn bitten soll, mein Trauzeuge zu werden? überlegte er. „Wie läuft’s denn so?“
„Nicht annähernd so gut wie bei dir.“ In schweigendem Einvernehmen machten
sie sich auf den Weg durch die langen Korridore. „So wie du ausschaust, hast du
den ,Chronicle’ ja bereits gelesen.“
„Nein, noch nicht.“ Normalerweise blätterte Matt die Zeitung beim Morgenkaffee
durch. Heute hatte er Besseres zu tun gehabt. Beispielsweise Susannah noch
einmal äußerst einfallsreich zur Annahme seines Heiratsantrags zu überreden. Er
war nicht einmal im Büro gewesen, sondern von der Agentur aus direkt zum
Gericht gefahren. „Warum?“
„Er enthält einen sehr positiven Kommentar zu deiner Kampagne. Ich dachte,
deshalb wärst du so blendender Stimmung.“
Unerklärlicherweise bekam Matts gute Laune einen kleinen Dämpfer. „Ich werfe
in der Verhandlungspause mal einen Blick hinein.“
Cal zog den gefalteten „Chronicle“ unter dem Arm hervor und reichte ihn ihm.
„Nimm meinen; hier im Haus sind immer alle vergriffen.“
„Danke.“ Matt blieb stehen und deutete auf eine Tür. „Hier muß ich rein.“
„Wir sehen uns dann später im Büro. Oh, fast hätte ich es vergessen. Diese
Partnervermittlung, die ich dir für deine Mutter empfohlen habe, erinnerst du
dich?“
Die Hand auf der Klinke der schweren Gerichtssaaltür, hielt Matt inne. „,The
Personal Touch’.“
„Scheint, als wäre ihr Touch wirklich persönlicher Natur, wenn du verstehst, was
ich meine. Dem Büroklatsch zufolge laufen bereits ernste Ermittlungen gegen die
Agentur.“
„Ermittlungen?“
„Prostitution“, sagte Cal knapp. „Die Chefin soll nebenbei einen schwungvollen
Handel mit jugendlichen Ausreißerinnen betreiben.“
„Du denkst was?!“ Fassungslos sah Susannah Matt über ihren Schreibtisch
hinweg an.
„Du hast mich sehr gut verstanden. Judy Sukura versucht wieder ihre alten
Tricks.“
„Unmöglich!“
„Frag sie!“
„Ich brauche sie nicht zu fragen, denn ich weiß, daß sie so etwas nie tun würde.“
„Wie erklärst du dir dann ihre ständigen Treffen mit Eddie Devine?“
„Treffen? Eddie hat ihr zweimal vor dem Büro aufgelauert. Beim erstenmal
erzählte sie mir gleich am nächsten Tag davon, beim zweitenmal war Helen mit
ihr zusammen und hat Eddie gehörig die Meinung gesagt. Freiwillig würde sich
Judy niemals mit Eddie einlassen. Sie haßt ihn. Er… Moment mal! Woher weißt du
überhaupt davon?“
„Das spielt keine Rolle“, wischte Matt die Frage beiseite. Einzelheiten über eine
Ermittlungssache durften niemals außerhalb der Bezirksstaatsanwaltschaft besprochen werden, bis der Fall vor Gericht ging. „Es zählt allein, daß mehrere Treffen der beiden beobachtet wurden.“ „Himmel noch mal, es waren keine Treffen! Ich habe sie selbst vom Fenster aus gesehen. Beide Male.“ „Hast du zufälligerweise auch mitbekommen, worüber sie gesprochen haben?“ „Das war nicht nötig, denn Judy gab mir ja anschließend eine knappe Zusammenfassung.“ „Zusammenfassung wovon?“ „Von Eddies neuesten Einschüchterungsversuchen. Und daß sie unter keinen Umständen das tun würde, was er von ihr verlangte.“ „Und was war das?“ „Nun…“ Susannah zögerte. „Wieder für ihn arbeiten. Sie sagte es zwar nicht so deutlich, aber was sollte sie sonst meinen?“ „Hörensagen“, bemerkte Matt kühl. „Unzulässig vor Gericht.“ „Wir sind hier aber nicht vor Gericht!“ fauchte Susannah gereizt. „Und ich stehe nicht im Zeugenstand. Und ganz sicher gefällt es mir nicht, daß du deine Fragen auf mich abfeuerst, als sei ich eine der Hauptverdächtigen.“ „Okay. Diejenige, die ein paar Fragen beantworten sollte, sitzt sowieso dort draußen.“ „Wage es ja nicht!“ Mit einem Satz war Susannah um den Schreibtisch herum und stellte sich zwischen Matt und die geschlossene Bürotür. „Du wirst Judy auf keinen Fall durch eine Unmenge unbegründeter Verdächtigungen aufregen! Besonders nicht jetzt, so kurz vor ihren Abschlußprüfungen!“ „Und es stört dich so gar nicht, daß sie deine Agentur für ihre schmutzigen Spielchen benutzt?“ „Was für eine gemeine Unterstellung! Judy spielt weder hier noch sonstwo schmutzige Spielchen.“ „Das kannst du nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.“ „Irrtum, Herr Staatsanwalt. Das Ganze ist allein schon eine Frage der Logik. Um Himmels willen, Matt! Wie sollte sie die Zeit dazu aufbringen? Sie arbeitet den ganzen Vormittag bei mir. Nachmittags und an den meisten Abenden besucht sie die Schule. Und wenn sie keinen Unterricht hat, ist sie bei ihrer Therapeutin.“ „Und du bist sicher, daß sie auch tatsächlich zur Schule geht? Und zur Therapie?“ „Natürlich bin ich das! Es gehört beides zu ihren Bewährungsauflagen.“ „Die Leute verstoßen ständig gegen ihre Bewährungsauflagen, meine Liebe.“ Susannah stieß eine heftige Verwünschung aus. Dieser Mann war schlimmer als die Inquisiton! „Andernfalls würden ihre Lehrer sofort Judys Bewährungshelfer verständigen. Ebenso wie ihre Therapeutin. Glaub mir, Matt, Judy zieht keine Tricks ab.“ „Vielleicht nicht persönlich. Womöglich nehmen Heather und andere Mädchen in ähnlicher Situation ihr die Schmutzarbeit ab.“ Das durfte doch nicht wahr sein! Er hatte Judy doch kennengelernt. Er kannte Heather. Wie konnte er glauben, daß eine der beiden so tief sinken würde? Wie konnte er ihnen sofort das Schlimmste unterstellen? Sah er immer nur alles Schwarz oder Weiß ohne die vielen Nuancen dazwischen? „Sie sind weit über das Ziel hinausgeschossen, Herr Anwalt“, zischte sie eisig. „Judy zieht keine Spielchen ab, und sie hat Heather zu nichts angestiftet. Ende der Diskussion.“ „Verdammt, Susannah, du kannst nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Es gibt schon einen Grund, weshalb gegen deine Agentur polizeiliche Ermittlungen laufen. Und Judy Sukura ist Teil dieses Grundes…“ „Ermittlungen?“ Susannah erstarrte. „Gegen ,The Personal Touch’ läuft ein
Verfahren?“
Matt unterdrückte einen Fluch. Grandios. Jetzt verstieß er auch noch gegen sein
Berufsethos. Schwebende Verfahren galten als tabu, selbst wenn man nicht
persönlich in den betreffenden Fall involviert war. Streng genommen war er
sogar zum Stillschweigen verpflichtet. Aber vielleicht war es so das beste.
Vielleicht zeigte Susannah sich Vernunftgründen gegenüber aufgeschlossener,
wenn er sie vom Ernst der Situation überzeugte.
„Ihr steht unter dem Verdacht der organisierten Prostitution.“
Susannah wurde kreidebleich.
„Ich hatte noch keine Gelegenheit, den Vorwurf auf seine Stichhaltigkeit zu
überprüfen, weil ich den ganzen Tag im Gericht war. Nach allem, was ich bisher
weiß, wirst du gemeinsam mit Eddie Devine verdächtigt, unter dem Deckmantel
deiner Partnervermittlung einen Callgirlring zu betreiben. Angeblich ziehst du
hinter den Kulissen die Fäden, während minderjährige Mädchen – Ausreißerinnen
wie Heather – für Eddie anschaffen gehen.“
„Glaubst du, daß ich das tue?“
„Natürlich nicht!“ Jetzt hielt sie ihn auch noch für einen Vollidioten!
„Aber du denkst, daß so etwas hier in Gang ist und daß Judy damit zu tun hat.“
„Ja“, sagte er ehrlich. „Meiner Ansicht nach steckt Judy bis zum Hals in der
ganzen Sache drin.“
„Und Heather? Traust du ihr das ebenfalls zu?“
Matt zögerte. Heathers aufreizender Hüftschwung und ihr sexy Schmollmund
standen ihm deutlich vor Augen. „Sehen Sie was, das Ihnen gefällt?“ hatte sie
ihn kokett gefragt. „Möglicherweise“, gab er widerstrebend zu.
„Was ist mit Helen?“ forderte Susannah ihn heraus. „Ist sie auch darin
verwickelt?“
„Susannah.“ Beschwichtigend legte er die Hände auf ihre Schultern. „Du bist
aufgeregt, aber…“
Empört riß Susannah sich los. „,Aufgeregt’ trifft es nicht annähernd“, sagte sie
trügerisch sanft. „Ich bin wütend. Fuchsteufelswild.“ Sie stemmte die Hände in
die Hüften. „Ich bin so außer mir, daß ich schreien könnte. Verdammt…“
Zornbebend blinzelte sie die heißen Tränen zurück. „Wie kannst du nur, Matt?
Wie kannst du nur all diesen Schund über Judy und Heather glauben? Wie kannst
du nur denken, ich sei so dumm und merke nicht, was unmittelbar vor meiner
Nase vor sich geht?“
„Nicht dumm. Naiv.“
„Oh, entschuldige bitte. Naiv.“
„Susannah…“
„Es bedarf lediglich eines völlig an den Haaren herbeigezogenen Verdachts auf…
auf… moralisches Fehlverhalten, und sofort wird abgeurteilt. Ohne jede
Möglichkeit der Rechtfertigung. Ohne auch nur den Schatten eines Zweifels.
Schuldig im Sinne der Anklage.“
„Nun mal halblang, Susannah. Ich habe nie behauptet, du hättest dich einer
Straftat schuldig gemacht, aber…“
„Ich war herrlich naiv, ich weiß.“ Was sie anging, so war Naivität nur eine
höfliche Umschreibung für grenzenlose Dummheit. „Wie konnte ich mir auch nur
eine Sekunde lang einbilden, unsere Beziehung hätte eine Chance?“ Blind vor
Wut tastete sie über ihren Schreibtisch, bis sie den Briefbeschwerer aus
schwerem Kristall in die Finger bekam. „Du gehst jetzt besser. Bevor einer von
uns etwas sagt – oder tut –, das er später bedauert…
„Du machst es dir zu leicht, Susannah. Du kannst das Problem nicht einfach
leugnen, in der vagen Hoffnung, daß es auf wundersame Weise verschwindet.
Das wird es nämlich nicht.“ Matt faßte sie fest um die Schultern und drehte sie zu sich herum. „Ich übrigens auch nicht. Also glaub nicht, du könntest unsere diesbezüglichen Differenzen als Entschuldigung benutzen, um unsere Beziehung abzubrechen.“ „Hattest du nicht noch einen wichtigen Termin?“ Verdammt, wann würde diese starrsinnige Frau endlich begreifen, daß sie füreinander bestimmt waren, gleichgültig wie unglücklich die momentanen Umstände auch sein mochten? Sollte er sie schütteln, bis sie zu Verstand kam, oder sie küssen, bis ihr der Kopf schwirrte. Im Augenblick wäre beides außerordentlich befriedigend für ihn. Aber leider hatte sie recht. Er mußte zurück ins Gericht. „Susannah.“ Er schüttelte sie leicht, da sie ihn weiterhin ignorierte. „Sieh mich an.“ Widerwillig tat sie es. „Wir werden diese Diskussion heute abend fortführen, das verspreche ich dir.“ „Pech gehabt. Heute abend gebe ich eine Kennenlernparty für meine Klienten. Ich werde äußerst beschäftigt sein.“ „Na schön, dann eben morgen“, erklärte Matt so übertriebenen geduldig, als habe er es mit einem störrischen Kind zu tun. „Und red in der Zwischenzeit bitte mit niemandem über die Sache. Das gilt besonders für Judy und Heather. Und falls Eddie Devine auftauchen sollte, so fordere ihn, um Himmels willen, nicht zum Duell. Er könnte gefährlich werden. Ist das klar?“ „Sprichst du als besorgter Freund oder als Liebhaber? Oder ist das ein Befehl von allerhöchster Stelle, Herr Staatsanwalt?“ In ihrem figurbetonten Kleid wirkte Susannah ungemein sexy und verführerisch. Das Haar fiel ihr in verschwenderischer Fülle über die Schultern. Beides ruinierte ihre Pose der eiskalten Frau völlig. „Als der Mann, der dich heiraten wird!“ Sein Kuß war hart und besitzergreifend. Dann ging Matt. Susannah schmetterte den Briefbeschwerer gegen die geschlossene Bürotür und brach in Tränen aus. Fünf Stunden später war alles bereit für die Cocktailparty. Der Champagner war kaltgestellt, die Hors d’oeuvres verlockend auf einem Silbertablett angerichtet, alte Frank SinatraSongs luden zum Tanz ein – und Heather Lloyd trug ein Kleid. Es war eines von Susannahs schlichteren Modellen, das sie sich ausgeborgt hatte, da Helen bei der Party wegen Kopfschmerzen ausfiel. Nur die schweren Kampfstiefel trug sie dazu als Zeichen ihrer Unabhängigkeit. Sie hatte sogar ungebeten die Pentagramme und Kreuze entfernt und durch zarte Ohr Stecker nach eigenem Design ersetzt. „Du siehst bezaubernd aus.“ Und tatsächlich. Wenn Heather es darauf anlegte, konnte sie die meisten Sechzehnjährigen weit in den Schatten stellen. „Kein Vergleich zu deiner heißen Aufmachung.“ Mit unverhohlenem Neid musterte sie Susannahs langes violettes Kleid. Durch den hautengen Stretchstoff zeichnete es ihre sanften Kurven von der Schulter bis zur Wadenmitte nach. Dazu trug sie hochhackige Pumps und eine Seidenstrumpfhose in demselben Farbton, so daß eine ungebrochene Linie entstand. Ein paar Ohrringe in Form eines Kristalltropfens und ihre ungebändigten roten Locken waren die einzigen und deshalb um so aufregenderen Kontrastpunkte. „Erwartest du deinen Winkeladvokat, Suse?“ „Nein.“ Allerdings konnte es nie schaden, auf den Fall der Fälle vorbereitet zu sein. „Gelegentlich soll man sich ruhig mal groß herausputzen. Ein gesundes Selbstbewußtsein ist das beste Mittel gegen beginnende Depressionen.“
„Ja, Helen erwähnte euren kleinen Disput. Außerdem ist da eine Delle in der Wand neben deiner Tür. Was hast du nach ihm geworfen?“ „Einen Briefbeschwerer. Leider daneben.“ Das Eintreffen der ersten Gäste unterbrach ihre Unterhaltung. Es dauerte nicht lange, und der Champagner floß in Strömen. Mitreißende BigBandMelodien ersetzten Frank Sinatras Schmachtstimme, und ein putzmunterer Gentleman von einundsiebzig brachte Heather den Swing bei. „Na, wie läuft die Party?“ Judy, die über ihrem üblichen schwarzen Outfit eine schlichte weiße Dienstmädchenschürze trug, brachte Nachschub an Hors d’oeuvres. „Besser als erhofft. Zwischen Teri Bowman und Harold Whitley knistert es sichtlich. Und Sarah Moore hat bereits zwei Dinnereinladungen erhalten.“ Wie erhofft erleichterte die lockere Atmosphäre den zumeist älteren und zurückhaltenderen Herrschaften das Kennenlernen. „Sie brauchte nur einen kleinen Anstoß. Und sieh sie dir jetzt an: der reinste Männerschwarm.“ „Unsere Heather macht ihr aber heftig Konkurrenz.“ Susannah lachte leise. „Ich weiß. Du hättest mich mit einer Feder umhauen können. Diese Wandlungsfähigkeit ist fast unheimlich, stimmt’s? Außerdem ist sie mit jeder Menge Enthusiasmus bei der Sache.“ „Ja, wir haben Glück. Die Party ist ein voller Erfolg.“ Judy eilte weiter. „Ja, ein voller Erfolg“, murmelte Susannah. Wo blieb nur ihre Hochstimmung? Die Party mochte ja alle Erwartungen übertreffen, aber was nützte das, wenn ihre Agentur wegen einer irrwitzigen Beschuldigung geschlossen wurde? Und wenn die Vorwürfe nun doch nicht völlig aus der Luft gegriffen waren? Nachdenklich beobachtete sie Judy, die sich mit dem Silbertablett zwischen den Gästen hindurchschlängelte, um einigen Nachzüglern die Tür zu öffnen. Illegale Prostitution? War sie, die Chefin der Agentur, auf einem Auge blind? Sobald die Party vorüber war, würde sie ein paar unangenehme Fragen stellen müssen. „Susannah?“ Judy erschien sichtlich geschockt im Torbogen. „Könntest du bitte kurz kommen? Da ist… ahm, Besuch für dich.“ „Wer denn?“ „Du schaust wirklich besser selbst nach.“ Susannah, die gerade nach einem besonders anstrengenden Chachacha die Gläser ihrer Gäste nachfüllte, eilte, die Champagnerflasche in der Hand, zur Tür. „Ja?“ „Miss Susannah Bennington?“ „Ja?“ Der Mann auf der Veranda hielt ihr eine Polizeimarke hin. Susannah beschlich eine düstere Vorahnung. „Was ist passiert? Gab es einen Unfall?“ „Nein, Ma’am.“ Die Erkennungsmarke verschwand in der Manteltasche, statt dessen entfaltete ihr Gegenüber mit einer sparsamen, oft geübten Handbewegung einen Bogen Papier. „Ich habe eine offizielle Genehmigung, die Räumlichkeiten zu durchsuchen.“ „Ein Durchsuchungsbefehl also. Aber wieso?“ „Sittendezernat.“ Unaufgefordert trat er ein. Hinter ihm stürmten wie aus dem Nichts ein halbes Dutzend uniformierte Beamte in die Eingangshalle. „Alle Anwesenden stehen unter Arrest.“
10. KAPITEL Das schrille Läuten des Telefons riß Matt aus einem unruhigen Schlaf nach zu vielen Tassen aufgewärmtem Kaffee, zuviel kleingedruckten Paragraphen und jeder Menge frustrierender, erregender Träume von einer schlanken Rothaarigen, die immer knapp außer Reichweite vor ihm in einer Zirkusparade lief. Fluchend rappelte er sich auf der Couch hoch, wobei der Schriftsatz, den er eigentlich hätte lesen sollen, auf den Boden segelte. Bei seiner hastigen Suche nach dem Funktelefon stieß er einen Stapel Aktendeckel vom Beistelltisch. Als er das Gerät dann in die Finger bekam, mußte er dreimal die Sprechtaste drücken, bevor das rote Licht aufleuchtete und das Klingeln endete. „Was ist?“ brüllte er in den Hörer. Wer auch immer so unklug war, ihn zu stören, sollte ihm wenigstens als Ventil für seine schlechte Laune dienen. „Matthew?“ „Mom?“ Schlaftrunken fuhr Matt sich übers Gesicht und durch sein zerzaustes Haar. „Du solltest besser dein Fernsehgerät einschalten. Kanal zwei. Die Spätnachrichten.“ Deutliche Beunruhigung schwang in ihrer Stimme mit. Ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen, schnappte Matt sich die Fernbedienung. Zwei Tastendrücke brachten ihn auf den richtigen Sender. „… gegen San Franciscos frühere Debütantin, Susannah Bennington, Besitzerin der Partnervermittlung ,The Personal Touch’, wird der Vorwurf der organisierten Prostitution erhoben. Insbesondere soll sich ihre Agentur auf die Dienste von Minderjährigen spezialisiert haben. Am Abend wurde Miss Bennington gemeinsam mit zwei ihrer Angestellten, der mehrfach vorbestraften Judy Sukura und einer noch ungenannten Sechzehnjährigen, in ihrem Haus in Pacific Heights verhaftet. Da dort beim Eintreffen der Beamten eine wilde Party in Gang war, konnten zugleich auch mehrere ihrer Kunden in Polizeigewahrsam genommen werden. Wir schalten nun live zum Ort des Geschehens.“ Wie von der Tarantel gestochen, sprang Matt auf. „Was, zum Teufel…“ Schon erschien die betreffende Straße in Pacific Heights auf dem Bildschirm. „Hinter mir, in diesem unauffälligen Viktorianischen Gebäude, in diesem beliebten, vornehmen Stadtteil San Franciscos, operierte vermutlich ein exklusiver Callgirlring unter dem Deckmantel einer harmlosen Partnervermittlung. Die Inhaberin der Agentur, Susannah Bennington, ist die Tochter von Roger Bennington, dem Gründer und Eigentümer von Bennington Plastik, und Audrey Stanhope Bennington Harper, einer der schillerndsten Persönlichkeiten unserer Stadt. Wie Nachbarn sagen, sei Miss Bennington immer ,ein wenig anders’ gewesen und oft seien seltsame Gestalten’ in ihrem Etablissement ein und aus gegangen…“ „Ich habe mir nie etwas dabei gedacht“, sprach einer der Nachbarn in die Kamera. „San Francisco steckt voller eigenartiger Menschen.“ Der Reporter übergab an das vor dem Polizeipräsidium postierte Team, und völlig entgeistert mußte Matt mit ansehen, wie man Susannah vom Rücksitz eines Streifenwagens zog. Sie trug ein hautenges, schulterfreies Kleid, das sofort die Phantasie entzündete, hochhackige Pumps und ein Paar blitzblanker silberner Handschellen aus rostfreiem Stahl. Das Haar fiel ihr verführerisch zerzaust ins Gesicht, was ihr ein wollüstiges Aussehen verlieh. Das Kinn hatte sie stolz vorgereckt, ihre Haltung war so majestätisch wie die einer Königin. Nur zwei hektische rote Flecken auf den Wangenknochen und die weit aufgerissenen braunen Augen in dem blassen Gesicht verrieten ihre wahren Gefühle. Hinter ihr glitt Judy Sukura in einer aufreizenden Dienstmädchenuniform vom
Rücksitz. Unter dem kunstvoll aufgetragenen Makeup war ihr Gesichtsausdruck hart wie Granit. Dagegen wirkte die „noch ungenannte Sechzehnjährige“, die aus einem zweiten Streifenwagen gezogen wurde, lolitahaft kindlich. Alles an Heather spiegelte Trotz wider: von den wütend blitzenden grünen Augen über die verächtlich zusammengepreßten Lippen bis hin zu den schützend hochgezogenen schlanken Schultern. Dadurch klaffte der Ausschnitt ihres Kleides auseinander, was den Kameras einen Großteil ihres Dekolletes enthüllte und sie sexy und unschuldig zugleich aussehen ließ. „Matthew, bist du noch dran?“ „Ja, Mom.“ Wie gefesselt hing sein Blick am Bildschirm. „Weißt du, worum es da geht?“ „Nicht wirklich.“ Diesmal hielt er sämtliche Informationen über die polizeilichen Ermittlungen eisern zurück, auch wenn die anscheinend wesentlich weiter fortgeschritten waren, als er geahnt hatte, da bereits die ersten Festnahmen stattgefunden hatten. Ob Eddie Devine ebenfalls verhaftet worden war? Warum stürzten sich die Reporter dann nicht auf den eigentlichen Drahtzieher? Weil dieses schleimige Wiesel nicht annähernd so photogen ist wie die Frauen, beantwortete er sich die Frage gleich selbst. „Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfuhren, besitzt die Chefin dieses Edel Etablissements hochrangige Freunde. Erst vor wenigen Tagen sah man sie in Begleitung des stellvertretenden Bezirksstaatsanwaltes Matthew Ryan im Mark HopkinsHotel. Ryan, Sohn des verstorbenen Richters am Obersten Gerichtshof, Francis Ryan, bewirbt sich derzeit um das Amt des Bezirksrichters.“ „Ich muß Schluß machen, Mom. Sobald ich Genaueres weiß, melde ich mich.“ Die Kameras folgten weiter dem Geschehen vor dem Polizeirevier. „Ryans Pressesprecher bestritt energisch jede Beziehung zwischen dem Kandidaten und Miss Bennington.“ Plötzlich erschien Harry Gasparini auf dem Bildschirm. Lässig hatte er sich vor einem „Wählt Matthew Ryan zum Bezirksrichter“Plakat aufgebaut. „Susannah Bennington war Gast bei einem offiziellen Sponsorendinner. Sie erstand eine Eintrittskarte, so wie hunderte anderer Leute auch. Soweit ich weiß, saß sie rein zufällig gemeinsam mit Matt Ryan und sieben oder acht weiteren Gästen an einem Tisch. Die Unterstellung, daß die beiden irgendeine Art persönlicher oder gar intimer Beziehung unterhalten, ist also vollkommen unbegründet.“ Kalter Zorn stieg in Matt hoch. Unbeherrscht warf er das Funktelefon auf den Tisch, riß seinen Trenchcoat von der Garderobe und stürmte wie ein Racheengel in die dunkle Nacht. „Ich sagte Ihnen doch bereits“, erklärte Susannah bestimmt schon zum hundertstenmal dem Kriminalbeamten, „ich habe nicht die leiseste Ahnung, worüber Sie sprechen. ,The Personal Touch’ ist kein Deckmantel für illegale Prostitution. Ich leite kein HighSocietyBordell. Es gab keine wilde Sexorgie. Meine Güte, haben Sie sich meine Gäste mal genauer angesehen? Die meisten von ihnen sind weit über Sechzig!“ „Aber Sie bestreiten nicht, daß Judy Sukura für Sie arbeitet?“ „Nein, das bestreite ich nicht. Warum sollte ich auch, wo ich es bereits mehrfach zugegeben habe?“ brauste Susannah verärgert auf und blitzte ihr Gegenüber wütend an. „Judy Sukura ist meine Empfangsdame.“ „Und Heather Lloyd? Was macht das Mädchen für Sie?“ „Heather ,macht’ überhaupt nichts für mich. Sie lebt seit etwas über zwei
Monaten als Gast in meinem Haus.“
„Kommt es häufiger vor, daß Jugendliche bei Ihnen übernachten?“
„Im Erdgeschoß meines Hauses befindet sich ein kleines Apartment, das ich
gelegentlich jemandem, der einen sicheren Platz zum Wohnen benötigt, zur
Verfügung stelle.“
„Und die Teilnahme an Ihren Partys ist eine der Bedingungen, die Sie an die
Bereitstellung dieses Apartments knüpfen?“
„Nein, das ist sie nicht!“ Laß dich bloß nicht von diesen fortgesetzten
Unterstellungen irritieren, befahl Susannah sich, denn genau das ist seine
Strategie.
„Was wollte denn Miss Lloyd auf Ihrer Party?“
„Sie tat mir einen Gefallen.“
„Tut Sie Ihnen derartige ,Gefallen’ häufiger?“
Susannah bedachte Detective Martin mit einem vernichtenden Blick, der schon
ganz andere Männer kleingekriegt hatte.
Leider wirkte dieser nicht im geringsten eingeschüchtert. „Nun, Miss
Bennington?“
„Nein. Dies war das erstemal, daß ich sie um Mithilfe bat.“
„Und aus welchem Grund?“
„Weil meine Assistentin früher nach Hause gehen mußte.“
„Das wäre dann Helen…“ Er sah auf seine Notizen. „… Sanford.“
„Richtig.“
„Und weshalb ging Mrs. Sanford vorzeitig nach Hause?“
„Sie fühlte sich nicht wohl.“
„Wann genau war das?“
„Gegen zwei. Vielleicht auch halb drei.“ Jedenfalls war es kurz nach dem Streit
mit Matt gewesen. Sie hatte vor Wut geschäumt und dabei nicht auf die Uhr
geschaut.
Martin trank einen Schluck Kaffee aus seinem Plastikbecher. „Welcher Art ist Ihre
Beziehung zu Eddie Devine?“
„Ich sagte Ihnen bereits, ich unterhalte überhaupt keine Beziehung zu Eddie
Devine.“
„Wer ist diese Isabel, nach der die Anrufer immer wieder gefragt haben?“
„Ich kenne keine Isabel!“ Susannah stand kurz davor, handgreiflich zu werden.
„Auch das sagte ich Ihnen bereits.“
„Dann sagen Sie es mir eben noch einmal.“
„Verdammt!“ explodierte sie, sprang auf und schlug auf den Tisch. „Das habe ich
gerade getan!“
Martin blieb unbeeindruckt. „Setzen Sie sich, Miss Bennington!“
„Ich bin es leid, hier herumzusitzen. Ich bin Ihre lächerlichen Anschuldigungen
leid. Aber am allermeisten bin ich Sie leid!“
Mit blitzenden Augen fuhr sie zu ihrer Anwältin herum, die schweigend neben ihr
am Tisch saß. Sie war eine Freundin aus ihren Tagen als Sozialarbeiterin. Als
Martin sie gefragt hatte, ob sie bei ihrer Vernehmung einen Rechtsbeistand
wünsche, kam ihr sofort Carole in den Sinn. Nun, nicht gerade sofort, aber der
andere Einfall stand nicht zur Diskussion.
„Carole, wie lange muß ich mir das noch gefallen lassen?“
„Bis ich mit Ihren Antworten zufrieden bin“, mischte sich Martin ungefragt ein.
„Carole!“
„Du kannst dieses Verhör jederzeit abbrechen.“
„Und dann?“
„Dann stecken wir Sie hinter Gitter!“
„Wie lange können sie mich in Haft halten?“
„Bis morgen früh mindestens. Bei erster Gelegenheit würdest du dem Haftrichter
zur Anklageerhebung vorgeführt. Angesichts deiner langjährigen Tätigkeit im
öffentlichen Dienst könnte ich wahrscheinlich Haftaussetzung bewirken.“
„Was ist mit den anderen? Judy, Heather und meinen Gästen?“
„Bei Judys Vorstrafenregister und der Art der Vorwürfe fiele ihre Kaution
vermutlich horrend aus.“
„Darum kümmere ich mich. Was ist mit Heather?“
„Sie wurde bereits dem Jugendamt überstellt. Man wird ihre Familie
benachrichtigen und ihr einen Pflichtverteidiger zuweisen, falls sie nicht schon
einen Anwalt hat.“
Susannah schloß die Augen. Die Benachrichtigung ihrer Familie wäre ein
schwerer Schlag für Heather angesichts ihrer mühsam erlangten Selbständigkeit.
Sie wäre todunglücklich und würde sich fürchten, auch wenn sie das niemals
zugäbe. „Wird man sie zu ihren Eltern zurückschicken?“
„Von Rechts wegen wäre eine Rückübertragung des Sorgerechts möglich, wenn
auch eher unwahrscheinlich im Hinblick auf den erwiesenen fortgesetzten
Mißbrauch. Fürs erste landet sie wohl im Heim.“
Die Aussicht war trist, aber zumindest im Augenblick war Heather in Sicherheit.
„Könnten wir uns endlich wieder dem Thema zuwenden, Ladies?“
Susannah ignorierte Martin. „Und meine Gäste? Was geschieht mit ihnen?“
„Sie kommen frei, sobald sie ihre Aussage gemacht haben“, erklärte Carole. „Die
meisten von ihnen sind übrigens schon gegangen.“
„Ladies.“
Müde setzte Susannah sich wieder.
„In welcher Beziehung stehen Sie zu Eddie Devine?“
„Ich unterhalte keine Beziehung zu Eddie Devine.“
„Ist er nicht Judy Sukuras Zuhälter?“
„Ihr ehemaliger Zuhälter.“
„Wer ist Isa…“
Ein lautes Klopfen unterbrach die Befragung. „Entschuldigen Sie. Detective
Martin, könnte ich Sie kurz sprechen?“
Wortlos stand Martin auf und verließ den Raum.
„Wie geht es jetzt weiter?“ wandte sich Susannah an Carole.
„Schwer zu sagen. Ich habe die Beweise gegen dich noch nicht gesehen, daher…“
„Es gibt keine Beweise, weil es nichts zu beweisen gibt.“
„Dir vielleicht nicht, aber was ist mit Judy?“
„Niemals.“ Was Susannah nur inständig hoffen konnte.
„Judys Vorstrafenregister umfaßt sieben Jahre. Sie ist eine Professionelle.“
„Sie war eine Professionelle.“
„Vielleicht. Vielleicht ist sie das auch noch. Sieh den Tatsachen ins Gesicht,
Susannah. Judy könnte schuldig sein.“
„Das könnte sie eben nicht. Wie sollte sie? Allein die Vorstellung ist absolut
lächerlich. Egal ob mit oder ohne Eddies Hilfe wäre das Aufziehen eines Callgirl
Ringes für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Immerhin beantwortet Helen die
Telefonate ebenso häufig wie Judy. Sogar noch häufiger, da sie mehr Stunden im
Büro verbringt. Auch ich nehme gelegentlich Anrufe entgegen. Selbst Heather hat
es schon getan“, fügte sie in Erinnerung an jenen Nachmittag in ihrem Büro
hinzu, als sie Heather beim Telefonieren erwischt hatte. Mit einem Freund… „Sag
mir bitte, wie könnte Judy unmittelbar vor unseren Augen einen Callgirlring
leiten, ohne daß einer von uns etwas merkt?“
„Vielleicht macht sie es ja nicht allein. Hast du das schon mal in Erwägung
gezogen? Unter Umständen hängt Heather ja doch in der Sache drin. Soweit wir
wissen, fingen die ganzen Schwierigkeiten erst nach ihrem Einzug an. Es wäre
also gut möglich.“
„Nein. Ich weigere mich zu glauben, daß Heather…“ Die Tür des
Vernehmungszimmers öffnete sich.
„Matt!“ Der Schock bei seinem Anblick stand Susannah ins Gesicht geschrieben.
„Susannah! Um Himmels willen!“ In drei großen Schritten hatte er den Raum
durchquert, und ehe sie sich versah, fand sie sich in seinen Armen wieder. „Geht
es dir gut?“
Einen kostbaren Moment lang ließ sie sich einfach gehen. Die Augen geschlossen,
schickte sie ein Dankgebet zum Himmel und krallte sich in die Aufschläge seines
Trenchcoats, als sei Matt ihr einziger Halt in einer völlig aus den Fugen geratenen
Welt.
„Susannah?“ Zärtlich strich er ihre zerzausten Locken zurück. „Alles in Ordnung?“
Da sie ihrer Stimme nicht traute, nickte sie nur.
„Wenn sie dir auch nur ein Härchen gekrümmt haben…“ Behutsam untersuchte er
ihre Handgelenke.
„Sie hat nicht einen einzigen blauen Fleck auf ihrer lilienweißen Haut“, versetzte
Martin sarkastisch. „Bis zu den Gummiknüppeln sind wir noch nicht gekommen.“
Matt ignorierte ihn. Nur ein winziges Zucken an seinem Kinn verriet seinen Zorn.
„Verdammt!“ Bis ins Innerste aufgewühlt, vergrub er das Gesicht in ihrem Haar.
„Warum, zum Teufel, hast du mich nicht angerufen?“
„Deine Kampagne. Die Presse.“ Susannah schob ihn zurück. „Bei unserer
Festnahme wimmelte es von Reportern.“ Nervös sah sie zu Martin, der mit
verschränkten Armen an der Wand lehnte und sie sichtlich interessiert
beobachtete. „Du hättest nicht kommen sollen, Matt.“
„Ich hätte der erste sein sollen, den du benachrichtigst!“ Um seine Mundwinkel
lag ein grimmiger Zug.
Susannah mißverstand ihn absichtlich. „Ich habe einen Anwalt. Carole vertritt
mich.“
Über Susannahs Kopf hinweg sah Matt zu Carole. „Mit allem gebotenen Respekt,
Frau Kollegin, aber ab jetzt übernehme ich den Fall.“
„Susannah?“ Carole wartete auf neue Anweisungen ihrer Freundin.
„Matt, bitte. Du weißt, was das deiner Karriere antun könnte.“
Ein zärtliches Lächeln huschte über seine Lippen. Typisch Susannah. Das Wasser
stand ihr bis zum Hals, trotzdem dachte sie zuerst an die anderen. „Ja, ich habe
eine ziemlich genaue Vorstellung davon.“
„Bislang ist jede Beziehung zwischen uns reine Spekulation. Noch gab es keine
Berichte in den Zeitungen. Keinen Klatsch. Wenn du jetzt gehst, wird es den
wahrscheinlich auch niemals geben.“
„Zu spät, Sweetheart. Zuverlässigen Quellen’ zufolge wurden wir zusammen im
,Mark Hopkins’ gesichtet.“
Susannah stockte der Atem. „In der Garderobe?“
„Beim Dinner.“
„Oh.“ Erleichtert atmete sie auf. „Dann erklär einfach, daß ich wie alle anderen
dort auch deinen Wahlkampf finanziell unterstützen wollte.“
„Als stadtbekannte Liberale?“ In Matts Stimme schwang unterdrücktes Lachen
mit. „Das kauft uns die Presse niemals ab. Außerdem war da noch das Picknick
am Stow Lake. Egal. Was immer ich heute abend auch tue, morgen früh
beherrschen wir die Schlagzeilen in sämtlichen Revolverblättern.“
Susannah schloß die Augen. „Es tut mir so leid, Matt.“
„Unnötig.“ Er küßte sie sacht. „Mir tut es auch nicht leid.“
„Das ist ja alles sehr rührend, Leute“, unterbrach Martin sie schroff, „aber ich
habe eine Vernehmung durchzuführen.“
„Die Vernehmung ist hiermit beendet.“ Beschützend legte Matt Susannah den
Arm um die Schulter. „Ich bringe sie jetzt nach Hause.“
Martin richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Matt stoppte ihn mit einem kühlen Blick. „Die Sache ist bereits mit Ihrem
Vorgesetzten abgesprochen, Detective. Miss Bennington wird meiner
Verantwortung unterstellt, bis diese unleidliche Angelegenheit aufgeklärt ist.“
„Heißt das, ich bin gefeuert?“ wollte Carole lakonisch wissen.
Mit einem eindringlichen Blick riet Susannah Matt zur Vernunft.
„Ich gehe hier nicht ohne dich weg“, stellte Matt eindeutig klar.
„Was ist mit Judy? Und Heather? Ich kann sie doch nicht einfach zurücklassen.“
„Und falls sie schuldig sind?“
„Trotzdem.“
„Na schön. Ich sehe mal, was ich tun kann.“
Susannah warf ihrer Freundin ein entschuldigendes Lächeln zu. „Sorry, Carole,
jetzt bist du gefeuert.“
Matt steckte den Kopf in das Vernehmungszimmer und musterte die beiden
Frauen am Tisch. „Alles bereit?“
Judy schob ihren Kaffeebecher zurück und stand auf. „Mehr als bereit“, sagte sie,
obwohl ihr Gesicht keinerlei Regung zeigte. Ob sie aufgeregt, ängstlich oder
völlig ungerührt war, blieb der Vermutung überlassen.
Bestimmt besitzt sie eine Menge Erfahrung darin, ihre wahren Gefühle hinter
einer Maske der Gleichgültigkeit zu verbergen, dachte Matt. Susannah dagegen
war für ihn wie ein offenes Buch. Jede Empfindung spiegelte sich in ihren
ausdruckvollen Augen wider. Jetzt war sie wütend, verängstigt und entschlossen.
Außerdem fror sie.
„Hier, zieh das über.“ Fürsorglich legte er ihr den Trechcoat über die nackten
Schultern.
Dankbar schlüpfte Susannah in die Ärmel. „Hast du Heather freibekommen?“
Matt nickte. „Ich mußte lediglich ein paar ausstehende Gefälligkeiten einlösen
und ein paar neue versprechen, aber schließlich hat das Jugendamt sie meiner
Fürsorge unterstellt. Carole holt sie gerade ab.“ Matt schlang einen Arm um
Susannahs Taille, faßte Judy unterm Ellbogen und führte sie gemeinsam zur Tür.
„Sie erwartet uns bei meiner Mutter.“
Susannah erstarrte. „Deiner Mutter?“
„Hast du eine bessere Idee? Sowohl vor meinem als auch vor deinem Haus
werden uns die Reporter auflauern.“
„Die paar Schreiberlinge machen mir nichts aus.“ Judy entzog ihm ihren Arm.
„Ich finde schon allein nach Hause.“
„Daran zweifelt niemand. Trotzdem kommen Sie mit uns. Ich beabsichtige
nämlich, ein privates kleines Verhör abzuhalten.“ Seine Miene wirkte hart, ein
Ausdruck den jeder störrische Zeuge auf Anhieb wiedererkennen würde. „Bevor
die Nacht um ist, bin ich der Sache auf den Grund gekommen.“ Beide Frauen fest
im Griff, steuerte er auf die Tür zu. „Wenn wir draußen sind“, warnte er sie, „kein
Wort. Zu niemandem. Nicht einmal ,kein Kommentar’. Ist das klar?“
Susannah und Judy nickten.
„Sollte eine Antwort unvermeidlich sein, übernehme ich das.“ Beschwörend sah
er von einer zur anderen. „Bereit? Okay. Los geht’s.“
Vor dem Polizeipräsidium erwartete sie der reinste Hexenkessel. Sofort wurden
sie von Journalisten und Kameramännern umringt.
„Mr. Ryan, welcher Art ist Ihre Beziehung zu der Beschuldigten?“
„Wie lange läuft die Affäre zwischen Ihnen und Miss Bennington schon?“
„Was bedeutet dieser Eklat für Ihre Karriere?“
„Miss Bennington, wußten Ihre Eltern, womit Sie Ihren Lebensunterhalt
verdienen?“
„Sind die Gerüchte wahr, daß junge Mädchen dazu genötigt wurden, Ihren
älteren Klienten sexuell zu Diensten zu sein?“
„Ziehen Sie sich jetzt von Ihrer Kampagne zurück?“
Stoisch schoben sie sich durch die Menge zu Matts Wagen und ignorierten den
Tumult um sie herum. Matt öffnete die Beifahrertür und half Susannah hinein.
Judy riß die Hintertür auf, stieg schnell ein und verriegelte sie hinter sich.
„Mr. Ryan, war Ihnen bewußt, daß Miss Bennington eine Prostituierte ist, als Sie
sich mit ihr einließen?“
Matt fuhr herum. Wenn Blicke töten könnten, hätte der Reporter auf der Stelle
das Zeitliche gesegnet. „Meine Verlobte…“ Matt machte eine kleine Pause, damit
der Begriff auch jedem tief ins Bewußtsein drang. „… und ich werden der Presse
morgen früh eine Erklärung abgeben.“
11. KAPITEL „So wie ich die Sache sehe, bleibt nur eine Alternative.“ Insgeheim mußte Susannah Matt beipflichten. Auch sie fand keine einleuchtendere Erklärung für die unerfreulichen Vorfälle. „Wiederholen wir noch einmal, was wir bis jetzt wissen.“ Im Salon seiner Mutter sah Matt sich im Kreis der ihn erwartungsvoll ansehenden Frauen um. Heather, Judy, Millicent und Susannah erwiderten seinen Blick mit unterschiedlicher Besorgnis. „Seit erwiesenermaßen zwei Wochen – wenn nicht sogar länger – arrangiert Eddie Devine über ,The Personal Touch’ Verabredungen für seine Mädchen. Das bedeutet, er braucht eine Kontaktperson in der Agentur. Du warst es nicht. Und auch Judy und Heather beteuern ihre Unschuld.“ „Und ich glaube ihnen.“ Aufmunternd lächelte Susannah die beiden an. „Ohne jede Einschränkung.“ „Genau wie ich“, stimmte Matt ihr zu und nickte. Denn mittlerweile tat er das. „Daher bleibt nur eine mögliche Verdächtige.“ „Wow“, sprach Heather aus, was alle dachten. „Wer hätte das von der ach so prüden Helen gedacht?“ „Es ist alles eine Frage der Logik. Außer Helen kommt niemand in Frage. Der Schlüssel ist das Telefon. Helen beantwortet die Anrufe weit häufiger als ihr drei zusammen. ‚Isabel’ muß das Codewort sein. Wenn ihr abhobt, nahmt ihr einfach an, es handle sich um einen Irrtum. Susannah, du hast mir selbst erzählt, daß du seit Eröffnung der Partnervermittlung immer wieder unsittliche Anträge erhältst. Helen hoffte wahrscheinlich, du würdest diese Anrufe in dieselbe Rubrik einordnen.“ „Unglaublich. Und ziemlich naiv, wenn du mich fragst. Früher oder später mußten wir doch mißtrauisch werden.“ „Wärt ihr das tatsächlich geworden? Denk mal darüber nach. Wären weder die laufenden Ermittlungen über Eddie Devines Aktivitäten noch die folgende Razzia bei dir gewesen, hättest du dann jemals Verdacht geschöpft? Oder hättest du nicht weiterhin gedacht, daß sich einfach nur jemand verwählt hat?“ Da war etwas Wahres dran. „Was ich allerdings nicht so ganz verstehe, ist, wie Eddie Devine überhaupt auf diese verrückte Idee kam“, meinte Heather. „Es konnte doch überhaupt nicht funktionieren. Wenn Susannah oder Judy die Anrufe entgegennahmen, legten sie einfach auf. Das mußte seine Kunden doch vergraulen. Es gibt schließlich nicht bloß einen Hostessenservice. Wie konnte dieser Typ nur glauben, so an das große Geld zu kommen?“ „Ganz einfach…“ Verächtlich verzog Judy die Lippen. „… weil er dumm ist. Gemein und brutal, aber strohdumm. Er hielt es für eine goldene Gelegenheit, und die wollte er nutzen.“ Matt nickte zustimmend. „Eine Sonderkommission hat Eddie die letzten beiden Monate beschattet. Bis vor kurzem ließ er lediglich Straßenmädchen für sich arbeiten, jung, aber nicht jung genug, als daß die Behörden ihm besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Die bekam er erst, als er seinen ,Service’ auf Minderjährige ausdehnte. Das war sein erster Fehler. Der zweite war, zu glauben, er könne durch ,The Personal Touch’ sein schmutziges kleines Unternehmen aufwerten.“ „Aufwerten?“ hakte Milllicent ein. „Callgirls verdienen mehr als Straßenmädchen“, sagte Judy rundheraus. „Und je jünger, desto teurer sind sie.“ „Wie lange hat er seine Termine durch meine Agentur arrangieren lassen?“ wollte
Susannah wissen. „Nicht lange. Allerhöchstem einige Wochen. Wie Judy sagte, er ist dumm. So dumm, daß er keinen einzigen Aspekt richtig durchdachte. Auch bei allergrößter Phantasie war sein Plan von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Selbst wenn ihm das Sittendezernat nicht auf die Spur gekommen wäre. Die Logistik und die Infrastruktur waren einfach nicht vorhanden.“ „Eins allerdings verstehe ich immer noch nicht so ganz.“ Alle Blicke richteten sich auf Millicent. „Wieso brauchte er überhaupt eure Telefonleitung? Wäre eine eigene Rufnummer nicht wesentlich bequemer gewesen?“ „Das sollte man meinen. Doch Eddie, der Schlaukopf, dachte, so könnte er sich die Mühe und die Kosten für eine eigene Telefonistin sparen.“ „Aber…“ „Eddie glaubt, alle wären ebenso gierig wie er, Mrs. Ryan“, erklärte Judy. „Besonders Frauen. Und seine Geschäfte über die Agentur laufen zu lassen, das hielt er vermutlich für irre weitsichtig.“ „Aber Helen“, beharrte Heather. „Wie überredete er Helen zur Mithilfe? Sie haßt die Männer. Und überhaupt, wann hätte er mit ihr darüber sprechen sollen?“ „Vor einigen Wochen vor dem ,Tea Cozy. Erinnerst du dich, Susannah, ich habe dir doch davon erzählt. Eddie fing uns beide beim Verlassen der Konditorei ab. Ich bin einfach gegangen, doch Helen wollte ihm noch gehörig die Meinung sagen. Bestimmt hat Eddie sie dabei eingewickelt. Er sah seine Felle davonschwimmen, also disponierte er kurzerhand um und spannte Helen in sein grandioses kleines Vorhaben ein.“ „Weswegen sollte sie so etwas tun?“ „Weswegen tut man normalerweise so etwas?“ Tröstend legte Matt Susannah die Hand auf das Knie. „Für Geld.“ Judy schnaubte wenig damenhaft. „Wenn sie sich einbildete, sie würde Reichtümer anhäufen, indem sie mit Eddie gemeinsame Sache macht, muß sie verrückt sein. Selbst seine Mädchen bekommen von ihm kaum genug für ihren Lebensunterhalt.“ „Glaubt ihr, sie wußte von der Razzia?“ Fragend sah Heather in die Runde. „Immerhin sollte sie ja wie üblich bei der Party aushelfen. Statt dessen ging sie sogar früher nach Hause, weil ihr angeblich übel war.“ In Matt Augen blitzte es auf. „Möglicherweise ist ihr unsere etwas lautstärkere Diskussion ja auf den Magen geschlagen.“ „Du meinst, sie hat unseren Streit über die laufenden polizeilichen Ermittlungen mitbekommen? Arme Helen.“ Matt lachte leise. „Susannah, Sweetheart, sie hat über deine Agentur Sex verkauft. Teenager wie Heather in die Hotelzimmer von Männern geschickt. Wie kannst du da sagen ,arme Helen’?“ Es war nicht wirklich eine Frage. Er kannte den Grund genau. Und, der Himmel möge ihm beistehen, auch dafür liebte er sie. „Wir müssen ihr helfen.“ „Wir besorgen ihr einen Anwalt für die Vernehmung.“ „Die Polizei wird sie festnehmen?“ „Natürlich, Darling. Sie hat sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Oder zumindest einer Straftat Vorschub geleistet. Sobald die zuständigen Beamten das herausfinden, wird man sie verhören wollen.“ „Und wie werden sie es herausfinden?“ Susannah ahnte die Antwort schon. „Indem ich es ihnen sage. Ich bin ein Angestellter des Gerichts“, fügte Matt hinzu, ehe sie protestieren konnte. „Ich habe einen Eid auf die Achtung der Gesetze geschworen. Durch mein Schweigen mache ich mich der Unterschlagung
von Informationen in einer polizeilichen Ermittlung schuldig.“ „Ich bitte dich ja nicht um die Unterschlagung von Informationen“, erwiderte Susannah ernst. „Das würde ich niemals tun. Nur könntest du sie nicht eine kleine Weile… sagen wir, zurückhalten?“ „Definiere ,eine kleine Weile’“, befahl Matt trocken. „Nicht lange. Vielleicht einige Stunden? Gerade lange genug, daß sie sich selbst stellen kann. Die Polizei und auch ihr bei der Staatsanwaltschaft beurteilt eine Selbstanzeige doch positiv, oder?“ „Na schön. Aber wenn sie bis morgen früh neun Uhr nicht im Präsidium ist, schicke ich ihr zwei Beamte.“ Liebevoll drückte Susannah ihm einen Kuß auf die Wange. „Danke, Darling.“ Sie stand auf. Erwartungsvoll sah sie auf ihn hinunter. „Wollen wir irgendwohin?“ Dabei wußte Matt genau, was sie vorhatte. „Helen braucht Freunde, die ihr in dieser Situation beistehen.“ Für Susannah war es die natürlichste Sache der Welt, daß ausgerechnet sie – die Geschädigte der ganzen Affäre – einer dieser Freunde war. „Und einen Anwalt.“ Das kleine Haus im Sunset Distrikt San Franciscos unterschied sich in nichts von den anderen hübschen, pastellfarbenen Reihenhäusern. Bis auf die hell erleuchteten Fenster, durch die, gedämpft von Nebelschwaden, Licht auf die Straße fiel. „Immerhin ist sie noch wach.“ Matt bog in die Auffahrt ein und stellte den Motor des Lincoln ab. „Also weiß sie höchstwahrscheinlich, daß der Deal aufgeflogen ist.“ „Hoffentlich geht es ihr gut“, sagte Susannah besorgt und warf Matt einen Blick zu, als sie dann nebeneinander die Verandastufen hochstiegen. Belustigt schüttelte Matt den Kopf. „Aber Susannah! Mitleid mit einer Frau, die deinem Unternehmen ernsten Schaden zugefügt hat!“ Doch es war nicht wirklich eine Kritik. Susannah brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen und läutete. Keine Reaktion. „Helen? Sind Sie da?“ Sie klopfte an die Tür. „Helen? Hier ist Susannah Bennington.“ „Susannah?“ „Ja. Ich habe Mr. Ryan mitgebracht. Sie werden seine Hilfe brauchen.“ Einen Moment herrschte Stille, dann wurde ein Riegel zurückgezogen und eine Kette abgehängt. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit. „Alles in Ordnung mit Ihnen, Helen? Dürfen wir hereinkommen?“ Helen nickte zögernd und trat widerstrebend zurück. Es war offensichtlich, daß sie geweint hatte. Ihre Augen waren geschwollen, hektische rote Flecken standen auf ihren Wangen, und ihr Teint war fleckig. Sie umklammerte ein sechzig Zentimeter langes Eisenrohr. „Darf ich Ihnen das abnehmen?“ Verständnislos sah sie Matt an. „Ich fürchtete schon, Sie wären dieser schreckliche Eddie Devine.“ Sie machte keine Anstalten, ihre Waffe aus der Hand zu geben. „Ich traue mich schon gar nicht mehr ans Telefon, weil er mir ständig droht, wenn ich kein Stillschweigen über unsere Vereinbarung bewahre, würde ich es bitter bereuen.“ „Der wird eine ganze Weile niemanden mehr bedrohen.“ Kurzerhand nahm Matt ihr das Rohr ab und stellte es in den Schirmständer. „Seit einer Stunde sitzt er hinter Gittern.“ „Hinter Gittern?“ Helen wurde kreidebleich und sank förmlich in sich zusammen. „O Gott! Mich wird man auch ins Gefängnis stecken, nicht wahr? Ich ende als
Knastliebchen. Oh, Susannah, es tut mir alles so leid. Ich wollte nicht, daß das passiert. Ich…“ Tröstend umfaßte Susannah Helens bebende Schultern. „Seht. Es kommt alles in Ordnung. Matt kümmert sich darum.“ Dem blieb nichts anderes übrig, als sich seufzend mit seiner Rolle als edler Ritter abzufinden. Eine Rolle, die er wahrscheinlich für den Rest seines Lebens spielen durfte. Er wartete, bis die ältere Frau sich wieder unter Kontrolle hatte. „Mrs. Sanford, möchten Sie jetzt darüber sprechen?“ „Ja.“ Sie straffte sich und blinzelte die Tränen zurück. „Ja, natürlich. Sie wollen wissen, weshalb ich es tat?“ „Nur, wenn Sie uns den Grund nennen wollen.“ Verständnisvoll drückte Susannah ihr ein Taschentuch in die Hand. „Ich brauchte das Geld“, gestand Helen und tupfte sich die Augen ab. „Es ist so banal und schrecklich zugleich. Jeder denkt, ich hätte nach der Scheidung eine großzügige Abfindung erhalten. Aber leider funktioniert unser Scheidungsrecht nicht mehr so. Trotz unserer langjährigen Ehe und obwohl Donald eindeutig Ehebruch beging, muß er nicht einmal Unterhalt zahlen. Dafür bekam ich das Haus und die Hälfte unserer Ersparnisse. Beziehungsweise die Hälfte von dem, was davon übrig war“, machte Helen deutlich. „Das meiste davon hat er nämlich mit seiner Freundin verpraßt. Außerdem hinterließ er mir jede Menge unbezahlter Kreditkartenrechnungen. Rechnungen, die Donald laut richterlicher Anordnung selbst zahlen sollte, doch er tat es nicht. Also wandten sich die Inkassounternehmen an mich und drohten mit der Pfändung des Hauses. Als Eddie Devine mir dann weismachte, er habe einen todsicheren Trick, um an das ,große Geld’ zu kommen, noch dazu völlig legal, nun da…“ Sie hob die Schultern und wandte sich ab. „… da sagte ich ihm, daß ich statt Judy einsteigen würde.“ Tränen der Scham stiegen ihr in die Augen. „Es tut mir so leid, Susannah. Schon am ersten Tag hätte ich es am liebsten wieder rückgängig gemacht. Eddie explodierte. Selbst als alles schieflief, wollte er weitermachen.“ „Die zuständigen Beamten werden detailliertere Informationen benötigen, aber erst einmal sollten Sie sich selbst stellen“, riet Matt, da Helen verstummte. „Mich selbst stellen?“ „Bei einer Selbstanzeige sind die Behörden nachsichtiger“, erklärte Susannah. „Es ist ohnehin nur eine Formalität.“ „Es ist weit mehr als nur eine Formalität.“ In einem solchen Fall erschien Matt völlige Offenheit die beste Politik. „Die zuständigen Beamten werden Sie verhören. Man wird wissen wollen, wie Ihre Beziehung zu Eddie Devine zustande kam, welcher Art Ihre Absprachen waren, wie es funktionierte und wie lange. Man wird Namen wollen, falls Sie welche haben. Solche Dinge eben. Schon in Ihrem eigenen Interesse sollten Sie sich absolut kooperativ zeigen. Das erleichtert es allen Beteiligten.“ „Oh, das werde ich.“ „Was anschließend geschieht, hängt von Ihren Antworten ab. Die Staatsanwaltschaft besitzt einen gewissen Ermessensspielraum, was die Strafverfolgung anbelangt.“ „Matt sorgt schon dafür, daß Sie nicht ins Gefängnis müssen.“ Beruhigend drückte Susannah Helen die Hand. „Anschließend können Sie gleich wieder nach Hause gehen.“ „Ich werde es zumindest versuchen.“ Matt bedachte Susannah mit einem tadelnden Blick. „Versprechen kann ich nichts. Vieles hängt von Ihrer Aussage ab.“
„Ich verstehe.“
„Holen Sie Ihren Mantel, Mrs. Sanford“, bat Matt sie sanft, „dann können wir
gehen.“
Um Viertel nach fünf Uhr verließ Susannah mit Matt das Polizeipräsidium, und sie
stiegen in den Lincoln. In der Stadt war es still. Der Frühnebel hüllte die fast
verlassenen Straßen ein, als Matt langsam losfuhr.
Susannah lehnte sich entspannt zurück. „Es lief doch ziemlich gut, findest du
nicht?“
„Niemand wird zur Rechenschaft gezogen, wenn du das meinst. Außer Eddie
Devine“, fügte Matt mit grimmiger Befriedigung hinzu. Durch Helens Aussage
verfügte die Staatsanwaltschaft über genug belastendes Material, um Eddie eine
lange Zeit hinter Gitter zu bringen. „Judy hatte vollkommen recht. Diese ganze
Idee war unglaublich dumm von ihm. Es hätte nie im Leben funktioniert. Helens
Aussage zufolge war das Ganze so armselig durchdacht, daß es schon am ersten
Tag die reinste Katastrophe wurde.“
„Was passiert jetzt mit ihr?“
„Durch die Kronzeugenregelung erhält sie Schutz vor Strafverfolgung.“
„Keine Gefängnisstrafe?“
„Keine Gefängnisstrafe“, versicherte Matt. „Nur einige Bewährungsauflagen.“
Susannah berührte seine Hand auf dem Lenkrad. „Habe ich dir eigentlich schon
gesagt, wie wundervoll du warst?“
„Nein.“ Einen Moment löste Matt seinen Blick von der Straße. „Sag es mir jetzt.“
„Du bist ein Ritter in schillernder Rüstung.“ Spitzbübisch sah Susannah ihn an.
„Mein Held. Ich wüßte nicht, was ich ohne dich getan hätte.“
„Heißt das, du wirst mich heiraten?“ Sein Tonfall war spöttisch, die Frage war
ihm jedoch so ernst, wie sie es nur sein konnte.
Susannah lachte leise. „Nach all dem Brimborium willst du mich immer noch
heiraten?“
„Ja“, antwortete Matt knapp. „Immer.“
Susannahs Herz machte einen Satz. Doch rigoros zügelte sie ihre
überschäumende Freude. Einer von ihnen mußte schließlich pragmatisch bleiben.
Die Ironie war nur, daß der Schwarze Peter ausgerechnet bei ihr lag.
„Was ist mit deiner Kampagne? Deiner Familientradition? Den Fußstapfen deines
Vaters, in die du treten sollst? Nichts davon wird möglich sein, wenn du mich
heiratest.“
„Sagt wer?“
„Matt, sei doch vernünftig. Du weißt, daß ich recht habe…“
„Ich bin es leid, immer vernünftig zu sein!“ Wenn Matt seine Ruhe verlor, dann
völlig. „Mein ganzes Leben lang war ich vernünftig. Brav habe ich alle in mich
gesetzten Erwartungen erfüllt. Alles, was erforderlich war. Was sinnvoll war. Aber
dies eine Mal will ich verdammt sein, wenn ich vernünftig bin!“
Er bog in die Auffahrt seines Apartmenthauses ein und bremste so abrupt, daß
Susannahs Sicherheitsgurt einrastete und sie gegen die Sitzlehne warf.
„An meinen Gefühlen für dich ist rein gar nichts Vernünftiges, Susannah.“ Matt
knallte den Gang in die Parkposition und würgte den Motor ab. „Sie sind es nie
gewesen. Verdammt, seit unserer ersten Begegnung hatte ich überhaupt keine
Chance.“ Nacheinander öffnete er erst seinen dann Susannahs Sicherheitsgurt.
„Wenn ich mit dir zusammen bin, bin ich nun mal kein sonderlich
vernunftbegabter Mann.“ Er zog sie in seine Arme. „Oder realistisch. Oder
rational. Zur Hölle, ich weiß dann nicht mal mehr, wie man ,Verstand’ überhaupt
buchstabiert“, knurrte er wütend und preßte den Mund auf ihren.
Es war, als habe man ein brennendes Streichholz an ein Faß Dynamit gehalten.
Susannah warf ihm die Arme um den Hals und küßte ihn mit einer brennenden Leidenschaft, die ihm den Atem nahm. Sein Kuß, seine fordernden Liebkosungen, das erregende Duell ihrer Zungen versetzten Susannah in einen sinnlichen Taumel, dem sie sich nur zu gern hingab. Und sie wollte mehr. Viel mehr. Als sie sich dann kurz voneinander lösten, um atemlos nach Luft zu schnappen, durchlief ein so unbändiges Zittern ihren Körper, daß Susannah glaubte zu zerspringen. „Sag, daß du mich willst!“ Heißhungrig fuhr Matt mit der Zunge über die schlanke Linie ihres Halses. Der fordernde Druck seines harten, männlichen Körpers versetzte sie in schwindelerregenden Aufruhr und machte jeden klaren Gedanken unmöglich. „Ich will dich.“ „Sag, daß du mich liebst.“ „Ich liebe dich.“ Sie keuchte auf, als er den Trenchcoat beiseite schob und in einem unverhohlenen Akt der Inbesitznahme an ihrer nackten Schulter knabberte. „Sag, daß du mich heiratest.“ Matt kämmte mit den Fingern durch ihr Haar. Beschwörend sah er in ihre Augen – und verlor sich in ihren samtbraunen Tiefen. Mit seinem entwaffnenden Lächeln und einem verwegenen Funkeln in den Augen verkörperte Matt eine ursprüngliche Sinnlichkeit, soviel männliche Kraft und Leidenschaft, daß sie sich ihm niemals würde entziehen können. Sie war erfüllt von einer grenzenlosen Sehnsucht und einer Liebe, so tief und stark, daß alle Zweifel unwichtig wurden. Ein Gefühl wahrer Freiheit erfaßte sie, und sie fand den Mut, auf eine gemeinsame Zukunft zu vertrauen. „Ich werde dich heiraten.“ Er lächelte. Und dann lächelte sie auch. Mit einem Kuß besiegelten sie ihr Versprechen. Matt strich mit der Zungenspitze Susannahs weiche volle Lippen nach, saugte sanft an der feuchten Innenseite und ließ seine Zunge zärtlich durch ihren Mund gleiten. Er küßte sie auf diese einmalig erregende Weise, lockend und doch fordernd zugleich. Gemeinsam kosteten sie die Zärtlichkeit dieses Augenblicks aus, genossen den Zauber ihrer Liebe und flüsterten sich leise Worte ihrer wunderbaren Entdeckung zu. „Die Fenster sind beschlagen“, murmelte Susannah, als Matt an ihrer Kehle zu knabbern begann. „Hmm?“ „Die Fenster. Sie sind beschlagen.“ Matt hob den Kopf. „Tatsächlich. Um so besser.“ Er grinste frech. „Das letztemal passierte mir so was auf dem Rücksitz von Dads Wagen mit der umschwärmtesten Cheerleaderin. Ich glaube, sie hieß Cami.“ Spöttisch hob Susannah eine ihrer ausdrucksvollen Augenbrauen. „Würdest du die Erfahrungen deiner wilden Jugend jetzt gern wiederholen und mit mir auf den Rücksitz klettern?“ Matt mußte sich ein wenig verrenken, um einen Blick über die Schulter werfen zu können. „Eine überaus verlockende Vorstellung“, meinte er nach kurzem Überlegen. „Aber ich bin keine Siebzehn mehr – Gott sei Dank –, und im Haus befindet sich ein bequemes Bett.“ Schmollend schob Susannah die Unterlippe vor. „Typisch Politiker. Kein Sinn für Abenteuer.“ „Du willst Abenteuer?“ Susannah lächelte ihr feenhaftes, unergründliches Lächeln.
Einer solchen Herausforderung konnte Matt nicht widerstehen. Blitzschnell klappte er die Rückenlehne hinunter, hielt Susannah unter sich gefangen und tastete suchend nach dem verräterisch feuchten Dreieck zwischen ihren Schenkeln. Susannah fing seine Hand ein, ehe sie ihr Ziel erreichte. „Es ist sechs Uhr morgens, und wir stehen mitten auf deiner Auffahrt! Jemand könnte vorbeikommen. Oder einem übereifrigen Reporter fällt vielleicht noch die eine oder andere Frage ein.“ „Was ist mit deinem wilden Sinn fürs Abenteuer passiert?“ „Also wirklich, Matt Ryan! Einer von uns muß doch vernünftig bleiben.“
Zehn Jahre später Sacramento, Kalifornien „Wir hätten uns keinen schöneren Tag für die Amtseinführung unseres neu gewählten Gouverneurs wünschen können, stimmt’s?“ wandte sich der Reporter an seine CoKommentatorin. Der wolkenlos blaue Himmel, der auf allen Bildschirmen Kaliforniens zu sehen war, bestätigte seine Worte. „Die Temperatur an diesem Wintertag beträgt milde zweiundzwanzig Grad. Eine leichte Brise kommt aus westlicher Richtung. Der designierte Gouverneur Matthew Ryan steht auf dem Podium. Seiner Frau, Susannah Bennington Ryan, wurde soeben die Bibel überreicht, auf die er den Amtseid ablegen soll.“ „Oh, sieh nur“, meldete sich begeistert die CoKommentatorin. „Ihre beiden Kinder werden die Ehre teilen. Ben Ryan ist acht Jahre alt, seine kleine Schwester Milly fast sechs“, informierte sie die Zuschauer, während Susannah ihre Kinder zu sich rief und die Bibel senkte, bis auch die beiden sie erreichen konnten. „Obwohl es noch keine offizielle Verlautbarung gibt, soll Mrs. Ryan im nächsten Sommer ihr drittes Kind erwarten. Zum erstenmal seit vielen Jahren wird nun wieder fröhliches Kinderlachen im Sitz unseres Gouverneurs erschallen…“ „Wie haben sie das schon wieder herausgefunden?“ Mißmutig schaltete Susannah die Abendnachrichten des Konkurrenzsenders ein. „Selbst die Familie weiß noch nichts davon.“ „Sieh es doch mal so.“ Amüsiert grinste Matt seine verstimmte Frau an. „Jetzt bleibt uns die große Ankündigung erspart.“ „… Matthew Ryans erste Kandidatur um ein öffentliches Amt endete mit einem Skandal, da Susannah Bennington, damals noch seine Verlobte, im Zusammenhang mit der Aufdeckung eines Callgirlrings verhaftet wurde.“ Der Nachrichtensprecher gab einen kurzen Abriß der Ereignisse bekannt. Anschließend folgte die Aufzeichnung von Matts Presseerklärung, in der er auch seine Kandidatur um das Amt des Bezirksrichter widerrufen hatte. „Die Anklage wurde später fallengelassen, dennoch…“ „O bitte.“ Erneut wechselte Susannah den Kanal. „Eine Anklage wurde nie erhoben, und es gab auch keinen Skandal. Du hast dich von der Kampagne zurückgezogen, weil du noch nicht auf den Richterstuhl wolltest. Hat denn niemand deiner Rede zugehört?“ „… und sieht Mrs. Ryan nicht entzückend aus? Ihre ungewöhnliche Anstecknadel ist übrigens ein Unikat der jungen kalifornischen Designerin Heather Lloyd. Miss Lloyd ist eine langjährige Freundin der Ryans…“ „Heather wird bereits mit Bestellungen überhäuft“, rief Susannah froh. „Sie soll bloß warten, bis alle diese todschicken Ohrringe gesehen haben, die sie passend zu meinem Inaugurationskleid entworfen hat.“ „Solltest du dieses Inaugurationskleid nicht allmählich anziehen?“ Matt ging ins Bad, um sich zu rasieren. Susannah sah ihm von der Bettkante aus nach. „Erst kurz bevor wir gehen müssen.“ Erneut schaltete sie um. „Ich will doch nicht mit Knitterfalten auf dem Ball erscheinen.“ „… auch während der beiden Legislaturperioden im Stadtrat scheute Matthew Ryan niemals Kontroversen, selbst innerhalb des eigenen Heimes nicht. Als überzeugte Verfechterin von Programmen für Frauen und Kinder, liberalerer Homosexuellenrechte und strengerer Waffenkontrollgesetze äußerte Mrs. Ryan stets freimütig ihre Ansichten, auch wenn diese denen ihres Ehemanns widersprachen. So beispielsweise im Sommer…“
Wahllos drückte Susannah eine neue Taste.
„… die RyanBennington Ehe scheint eine von seltsamen Bettgesellen zu sein…“
„Wen nennt er da seltsam“, schimpfte Susannah und hatte völlig vergessen, daß
sie einmal dasselbe behauptet hatte. „Dich oder mich?“
„Muß dich meinen“, rief ihr liebender Gatte aus dem Bad.
Klick.
„… obwohl eine willensstarke, freimütige Ehefrau Matt Ryans Erfolg bei
weiblichen Wählern kaum geschadet haben dürfte, glauben Experten, auf
nationaler Ebene…“
Klick.
„Ist dir egal, was die Experten über meine Karriere zu sagen haben?“
„Jeder dieser sogenannten Experten behauptet etwas anderes, und bisher haben
sie sich alle geirrt.“
„… der designierte Gouverneur Matthew Ryan hat gerade seine Hand auf die Bibel
gelegt…“
„Wieso schaltest du den Kasten nicht ab?“ Matt kam aus dem Bad. „Du hast dir
die Vereidigung bestimmt schon ein dutzendmal angesehen.“
„Ist ja auch eine wahnsinnig aufregende Zeremonie. Du siehst so nobel aus. So
hingebungsvoll. So gouverneursmäßig.“ Susannahs Blick wanderte über seinen
großen, athletischen Körper. Hoch aufgerichtet und fast nackt stand Matt neben
dem Bett. „Wenn sie dich jetzt sehen könnten.“
„Was ist? Blaue Boxershorts entsprechen nicht deinen Gouverneurstandards?“
„Vielleicht solltest du dir künftig welche mit einen Aufdruck des kalifornischen
Staatssiegels anschaffen.“
„Das Staatssiegel, hm? Also ich weiß nicht…“ Er brach ab, als er das Glitzern in
ihren Augen bemerkte. „Ist da etwas an dem kalifornischen Staatssiegel, das dich
anturnt?“
„Da ist etwas an Kaliforniens Gouverneur, das mich anturnt.“
Ein schneller Ruck, und Susannah fand sich mit Matt auf dem Teppich wieder.
Leidenschaftlich drückte er sie an sich. „Hast du dich je gefragt, wie es wäre, mit
dem frischgebackenen Gouverneur den Boden der Gouverneursvilla
einzuweihen?“
„Jetzt sofort?“ Gespielt schockiert riß Susannah die Augen auf. „Und was ist mit
deinem Inaugurationsball?“
Matts breite Brust hob sich in einem theatralischen Seufzer. „Vielleicht hast du
recht.“ Probeweise lockerte er die Umarmung. „Wir haben sowieso nicht genug
Zeit.“
„Dann werden wir uns die Zeit eben nehmen!“ Susannah schlang Matt die Arme
um den Hals und schenkte ihm ihr unvergleichliches Lächeln, das ihn zugleich
herausforderte wie einlud. „Abenteuer sind die Würze des Lebens. Küß mich,
Gouverneur!“
ENDE